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German Pages 324 Year 2014
Anna E. Wilkens, Patrick Ramponi, Helge Wendt (Hg.) Inseln und Archipele
Anna E. Wilkens, Patrick Ramponi, Helge Wendt (Hg.)
Inseln und Archipele Kulturelle Figuren des Insularen zwischen Isolation und Entgrenzung
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INHALT Vorwort PATRICK RAMPONI, HELGE WENDT, ANNA E. WILKENS 7 Insulare ZwischenWelten der Literatur. Inseln, Archipele und Atolle aus transarealer Perspektive OTTMAR ETTE 13 Ausstellung zeitgenössischer Kunst:
Inseln – Archipele – Atolle. Figuren des Insularen ANNA E. WILKENS 57 Die Insel als Welt und Text in Raoul Schrotts Roman Tristan da Cunha oder Die Hälfte der Erde SYLVIE GRIMM-HAMEN 99 Die Insel als Proberaum in Arthur Schnitzlers Die Frau des Weisen KATRIN SCHNEIDER 115 Die Entgrenzung Siziliens in der italienischen Literatur Literatur des 20. Jahrhunderts TORSTEN KÖNIG 135 »Das Land war nämlich eine Insel.« Die Insel als Begegnungsraum in ausgewählten Kinderbüchern REGINE ZELLER 153 Inseln auf den Inseln.
Reiise um die Welt Grenzziehungen in Georg Forsters Re ANNE D. PEITER 169
Das Insuläre. Von den Strategien hypermoderner Raumproduktion ELKE KRASNY 187 Isolationen. Von lieblichen Orten und Habitatinseln, oder: der locus conclusus als Paradigma gesellschaftlicher Naturbeziehungen MARCUS TERMEER 209 Inseln und Inselräume. Kontingenz in Grimmelshausens und Dürers Schelmenromanen JAN MOHR 225 Inseln wie wir. Insularität im Blickpunkt zeitgenössischer karibischer Migrationsliteratur DANIEL GRAZIADEI 245 Die Entdeckung der Neuen Welt als Inselarchipel. Literarische Strategien der spanischen Hegemonie in Kolumbus’ Brief aus der Neuen Welt SILVAN WAGNER 265 »Sternen»Sternen-Freundschaft«? Der Archipel als mögliches Denk Denk und Handlungs HandlungsKorrektiv der Europäischen Union CHRISTIAN LUCKSCHEITER 283 Hierarchie der Insel. Über das Schreiben Luigi Nonos und Massimo Cacciaris MICHELE DEL PRETE 303 Autorinnen und Autoren 317
Vorwort PATRICK RAMPONI, HELGE WENDT, ANNA E. WILKENS Inseln sind nicht nur Sehnsuchtsorte, sondern zudem sowohl formund ordnungsstiftende Denkfiguren als auch epistemologische Analyseinstrumente. Als solche bieten sie Anlass, sich im Zuge postkolonialer Kritik und des in letzter Zeit erstarkten Interesses an geographischen und kulturellen Räumen kulturwissenschaftlich mit ihnen zu beschäftigen. Im Anschluss an die Island Studies,1 die die Insel zum zentralen Forschungsgegenstand eines interdisziplinären Feldes erheben, strebte die III. Nachwuchstagung der DoktorandInnen der Philosophischen Fakultät der Universität Mannheim mit ihrem Thema »Inseln – Archipele – Atolle. Ordnungen des Insularen«2 eine produktive Hinterfragung der kulturellen Figur ›Insel‹ jenseits klassischer Dichotomien und Interpretationen an. Tradierte Ordnungskategorien der eurozentrischen Moderne wie kontinental/insular, Land/Meer, Zentrum/Peripherie, Geschlossenheit/Öffnung, Autarkie/Vernetzung werden in dieser Auseinandersetzung mit den Ordnungen des Insularen, verstanden als kulturell und historisch variable Konzepte und Vorstellungen, einer kritischen Revision unterzogen. Der vorliegende Band versammelt die Ergebnisse der Mannheimer Tagung wie auch der intensiven Diskussionen, die während der zwei Tage geführt worden sind. Er vertritt den Anspruch, zum ers-
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Vgl. dazu grundlegend Edmond Rod/Vanessa Smith (Hg.): Islands in History and Representation, London, New York: Routledge 2003; Georges Voisset (Hg.): L’imaginaire de l’archipel, Paris: Karthala 2003; Klaus Dodds/Stephen A. Royle: »The Historical Geography of Islands. Introduction: Rethinking Islands«, in: Journal of Historical Geography 29 (2003) 4, S. 487-498. Vgl. auch das Island Studies Journal, 2005ff. 11. bis 13. September 2008 an der Universität Mannheim. Für die Förderung der Tagung sprechen die OrganisatorInnen der Philosophischen Fakultät der Universität Mannheim ihren herzlichen Dank aus. Ebenfalls gilt der Dank der HerausgeberInnen den Mitorganisatorinnen der Tagung Stefanie Ablaß, Bozena A. Badura, Sandra Beck, Jessica Hamann, Katrin Schneider, Jennifer Steuer und Regine Zeller.
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Patrick Ramponi, Helge Wendt, Anna E. Wilkens ten Mal für den deutschsprachigen Raum Inseln und Archipele als Räume sowie als Gegenstände der Betrachtung und des Wissens zu untersuchen und ihr Auftreten an Fallbeispielen der modernen Diskurs-, Kunst- und Wissensgeschichte zu beleuchten. Gleichzeitig hat der Band Entwurfscharakter, da er nicht zuletzt wegen der unumgänglichen Disparatheit einer Sammelpublikation von mehrheitlich Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern lediglich Impulse und Schlaglichter setzen kann, um dabei Anregungen für eine sich bereits in sporadischen Einzelpublikationen manifestierende Inselforschung auch in Deutschland zu liefern.3 Die hier versammelten Beiträge spannen den Bogen von der Frage nach physisch-realen und imaginären Inseln über Inseln als narrative Strukturmerkmale von Texten bis hin zu den Möglichkeiten, das epistemologische Potenzial insularer Konfigurationen für die kulturwissenschaftliche Analyse sozialer, politischer, literarischer und nicht zuletzt ökologischer Kulturen aufzudecken. Mit der komplexen physikalischen und kulturgeographischen Räumlichkeit von Inseln geht eine seit Jahrtausenden tradierte und variierte Vielfalt von Metaphern, Figurationen und Analogien einher, die unser modernes Verständnis von menschlichen Gesellschaften grundlegend geprägt hat. Inseln sind auch schon als ›Laboratorien‹ für biogeographische, anthropologische und soziale Theorien und Phänomene angesehen worden. In diesem Sinne beziehen die hier publizierten Beiträge ihre Produktivität daraus, dass sie ganz bewusst zwischen dem gleichsam ›buchstäblichen‹ und dem figurativmetaphorischen Erkenntnispotenzial von insularen Räumen hinund herwechseln. Die Beiträge ordnen sich folgendermaßen: An zwei Einleitungsaufsätze schließen zweitens zunächst die Beiträge an, in denen eine einzelne Insel die Grundlage der narrativen Struktur eines Textes
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Auf die Forschungslage wird in den einzelnen Aufsätzen verwiesen. Wichtige Anregungen erhielten die TagungsorganisatorInnen von: Ottmar Ette: »Von Inseln, Grenzen und Vektoren. Versuch über die fraktale Inselwelt der Karibik«, in: Marianne Braig u. a. (Hg.), Grenzen der Macht – Macht der Grenzen. Lateinamerika im globalen Kontext, Frankfurt/Main: Vervuert 2005, S. 135-180; Christian Moser: »Archipele der Erinnerung: Die Insel als Topos der Kulturisation«, in: Hartmut Böhme (Hg.), Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext, Stuttgart, Weimar: Metzler 2005, S. 408-432; Rodolphe Gasché: »Zur Figur des Archipels«, in: Daniel Weidner (Hg.), Figuren des Europäischen. Kulturgeschichtliche Perspektiven, München: Fink 2006, S. 235-245. Die vielversprechende kulturund literaturwissenschaftliche Studie von Volkmar Billig (Inseln. Geschichte einer Faszination, Berlin: Matthes&Seitz 2010) konnte zur Drucklegung dieses Bandes leider nicht mehr ausgewertet werden.
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Vorwort bildet. Im dritten Teil sind dann jene Beiträge zusammengefasst, die mehrere Inseln zum Gegenstand haben und die Idee dieser Vielzahl bis zum Archipel hin entwickeln. Zu Beginn steht der Aufsatz von Ottmar Ette, der die Tagung nicht nur durch seinen Eröffnungsvortrag, sondern auch als Diskutant bereicherte. In seinem Beitrag greift er vorrangig auf Romane aus dem Hispano- und Luso-amerikanischen sowie dem Französischen zurück, um Figuren des Insularen und Beinahe-nicht-mehrInsularen zu verdeutlichen. Mit dem Ziel, ein Verständnis des geographisch und zeitlich Übergreifenden oder »Transarealen« zu entwickeln, skizziert Ette dabei literarische Strategien. Parallel zur genannten Tagung im September 2008 fand eine Ausstellung mit Werken zeitgenössischer Kunst von 17 geladenen Künstlerinnen und Künstlern statt. Anna E. Wilkens stellt in ihrem Beitrag die einzelnen Werke vor und reflektiert über einen möglichen Erkenntnisgewinn in Bezug auf Inseln und gesellschaftliche Inselkonstruktionen durch die Rezeption der Werke. Die Arbeiten aus den Genres Video, Installation, Malerei und Performance verbinden höchst unterschiedliche Aspekte von Inseln und Inselkonstruktionen mit politischen, literarischen, geographischen, gesellschaftlichen und spirituellen Inselphänomenen und -erfahrungen. Sylvie Grimm-Hamen zeigt an Raoul Schrotts Roman Tristan da Cunha oder Die Hälfte der Erde (2003) das poetologische Potenzial insularer Raumfiguren auf: Sie macht deutlich, wie Schrott trotz polyphoner Strategien der Konkretisierung die Insel selbst und die Möglichkeit ihrer Erzählbarkeit immer wieder an Abbrüche und Grenzen geraten lässt. Dadurch werden zeitliche und geographische Ebenen und Zuordnungen ebenso unsicher, wie sie im imaginären Bilderhaushalt von Protagonisten sowie Leserinnen und Lesern verschwimmen. Katrin Schneider analysiert in ihrem Aufsatz die Denkfigur ›Insel als Proberaum‹: Ein potenzielles Liebespaar in der Novelle Die Frau des Weisen von Arthur Schnitzler projiziert klassische Inselklischees auf ›ihre‹ Insel und erhofft sich die Erfüllung ihrer Liebe durch den Besuch auf der Insel – eine Hoffnung, die sich nicht erfüllen kann, da die Insel die Bestätigung der Klischees verwehrt und schließlich keine Heterotopie – keinen Gegenort – darstellt. Torsten König zeigt anhand von Romanen, Erzählungen und literarischen Lexika aus dem 20. Jahrhundert, wie die räumliche Wahrnehmung Siziliens zwischen Abgrenzung und Einbeziehung in ein Italien schwankte. Sizilien wurde, so die These des Aufsatzes, von dem literarischen Zentrum Mailand aus und vor einer globalen Folie immer erneut imaginiert und konstruiert.
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Patrick Ramponi, Helge Wendt, Anna E. Wilkens Die Funktion der Insel(n) in Max Kruses Urmel aus dem Eis, Armin Greders Bilderbuch Die Insel und in Michael Endes Jim KnopfBüchern untersucht Regine Zeller in ihrem Aufsatz Die Insel als Begegnungsraum. Sie kommt dabei zu dem Ergebnis, dass sich in diesen Werken keineswegs lediglich die ›klassischen‹ Inselvorstellungen von Abgeschlossenheit, Begrenztheit und einer andauernden Gegenwart reproduziert finden, sondern die Insel als Raum der Begegnung und der Bewegung inszeniert wird. Anne Peiter hat von La Réunion, der französischen Insel inmitten des Indischen Ozeans, ihren Beitrag über Grenzziehungsakte beigesteuert. In einer postkolonialen Lesart des Berichtes von Georg Forster erhält der Inselstrand eine zentrale Bedeutung, da auf und an ihm koloniale Verhaltensmuster, koloniale Hierarchien und koloniales Denken wie kaum an einem anderen Ort sichtbar werden. In ihrem kunsttheoretisch, konsum- und architektursoziologisch informierten Essay fragt Elke Krasny nach dem Spektakulären der Insel oder dem Insulären als Erfahrungs- und Sinnstiftungsmuster in einer kapitalistischen Spektakel-Gesellschaft. Beispielsweise zeigen die Kunstinseln von Dubai den Anspruch der Machbarkeit und Überschaubarkeit, wobei hier singuläres Begehren und touristische Masse Hand in Hand gehen. Krasny reflektiert die Jetzt-Welt in ihrer formulierten und produzierten Sehnsucht nach der Insel und nach Insularität. Insuläre Raumproduktionen lassen sich als psychodynamische Signatur der Hypermoderne entziffern. Eine auf gängigen Inselkonzeptionen beruhende Inselmetapher untersucht Marcus Termeer in seinem Aufsatz Isolationen. Von lieblichen Orten und Habitatinseln. Termeer zeichnet die abendländische Geschichte der kulturellen Verinselung von bestimmten Flächen auf Kontinenten als Herrschaftsgeschichte nach. Dargestellt wird dabei die Übertragung der Vorstellung von der Überschaubarkeit und Kontrollierbarkeit von Inseln auf inselanalog gedachte Landschaftsausschnitte und ›Natur‹-Areale, gerade zum Zweck der Legitimation ihrer Beherrschung und Kontrolle. Anhand zweier Romane aus dem 17. Jahrhundert verdeutlicht Jan Mohr die narratologische Verbindung von ›aggregativen‹ Episoden und dem in der literaturwissenschaftlichen Erforschung der frühen Neuzeit hervorgehobenen Konzept des ›Inselraums‹. In Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch (1668), beziehungsweise der Continuatio des abentheurlichen Simplicissimi (1669) sowie dem Lauf der Welt und Spiel des Glücks (1668) von Hieronymus Dürer findet sich eine enge Verknüpfung von insularen oder inselähnlichen Orten, dem poetologischen Romanaufbau auf der einen Seite und einer ideengeschichtlichen Thematisierung der frühneuzeitlichen Leitkategorien Providenz und Kontingenz andererseits.
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Vorwort Daniel Graziadei behandelt in seinem Aufsatz über spanisch- und englischsprachige Migrationsliteratur der Karibik das Thema der Insel auf verschiedenen Ebenen: Die Insel ist hier der Herkunftsort der Autorin oder des Autors, sie ist der barrio von New York, die Erinnerung oder das einbrechende Außen der Karibik; die Insel ist der Handlungsort und letztlich der literarische Charakter selbst. Silvan Wagner zeigt in seinem Beitrag auf, wie Christoph Kolumbus in seinem ersten Brief aus der neuen Welt gängige europäische topologisch-politische Ordnungsfiguren auf die neuentdeckte Inselwelt der Karibik projiziert und wie diese in literarischen Darstellungen des 16. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum verbreitet wurden. Wagner erläutert hierzu die theologischen Hintergründe sowie den die spanische Herrschaft begründenden Diskurs, der in verschiedenen Veröffentlichungen des ersten Briefs Kolumbus’ verbreitet wird. Christian Luckscheiter bezieht die Theorie-Figur des Archipels auf Entwicklungsmöglichkeiten der Europäischen Union jenseits von unflexiblen Konstruktionen einer europäischen Identität. Die Konzeption der EU als Archipel verweist auf das Potenzial, das aus der pluralistischen Verbindung von Einzelstaaten heraus erwächst. Im gleichen Maße verdeutlicht die Metapher jedoch die Differenz zwischen dem Streben nach Hegemonie als globaler Macht oder Unions-interner Vormachtstellung und dem Archipel als Ideal eines dezentrierten, machtkritischen Vergesellschaftungsmodells. Im abschließenden Aufsatz geht Michele Del Prete den räumlichen und klanglichen Inseln in Luigi Nonos Werk Prometeo – Tragedia dell’ascolto (Prometeo – Tragödie des Hörens) von 1984/85 nach. Für dieses Werk liegt die Brisanz im Hinblick auf Inseln in der Vernetzung und der Herstellung einer genuinen Relationalität zwischen den Inseln während und durch die Aufführungspraxis, und zwar sowohl in der Komposition selbst wie auch im räumlichen Bereich der Aufführungsarchitektur. Die emphatische Quintessenz ist der hierarchie- und herrschaftslose Archipel.
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Insulare Insulare ZwischenWelten der Literatur. Inseln, Archipele und Atolle aus transarealer Perspektive1 OTTMAR ETTE Das Meer »El mar. Azul. Al principio no. Al principio es más bien amarillo. Cenizo, diría... Aunque tampoco es cenizo. Blanco, quizás. Blanco no quiere decir transparente. Blanco. Pero luego, casi también al principio, se vuelve gris. Gris, por un rato. Y después, oscuro. Lleno de surcos todavía más oscuros. Rajaduras dentro del agua. Quizás sean las olas. O no: sólo espejismos del agua, y el sol. Si fueran olas llegarían a la costa. Es decir, a la arena. Pero no hay olas. Solamente, el agua. Que golpea, casi torpe, la tierra. Pero, no la golpea. Si la golpeara, se oiría algún ruido. Hay silencio. Solamente el agua, tocando la tierra. Sin golpearla. Llega, blanca, no transparente, la toca, torpemente, y se aleja. No es la tierra: es la arena. Cuando el agua sube, sin olas, la arena quizás suelte un ruido. Satisfecha. Desde aquí no oigo nada. El agua sube, pero no se ve bajar. La arena la absorbe. Por debajo vuelve al mar... Y, más allá, ya no es gris, sino pardusco. Muy oscuro. Casi negro. Hasta que al fin, efectivamente, es negro. Pero ya es muy alto. Se une con el cielo. Los dos, por separados, no se pueden distinguir. Así que entonces, mirando fijamente, nunca es azul...«2
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Ich danke der Thyll-Dürr-Stiftung für die großzügige Unterstützung meines Projekts zu »Insularitäten« während der Zeit als Fellow auf der Insel Elba. Reinaldo Arenas: Otra vez el mar, Barcelona: Editorial Argos Vergara 1982, S. 9. (»Das Blaue Meer. Anfänglich aber nicht. Zu Beginn ist es eher gelb. Ich würde sagen, aschfarben... Obwohl es auch nicht aschgrau ist. Vielleicht eher weiß. Nicht, dass es durchsichtig wäre. Aber weiß. Dann aber, noch fast zu Anfang, wird es grau. Kurzzeitig grau. Und danach dunkel. Mit lauter noch viel dunkleren Furchen. Wie Einrisse im Wasser. Vielleicht kommt das von den Wellen. Oder besser: Es sind Spiegelungen des Wassers und der Sonne. Denn wenn es Wellen wären, erreichten sie die Küsten. Genauer: sie erreichten den Sand. Aber es gibt keine Wellen. Nur Wasser.
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In diesem ebenso poetischen wie poetologischen incipit seines Romans Otra vez el mar – der in La Habana zwischen 1966 und 1969, dann zwischen 1969 und 1971 und schließlich zwischen 1971 und 1974 dreimal verfasst wurde, bevor er (nachdem die beiden ersten Fassungen den Nachstellungen der kubanischen Staatssicherheit zum Opfer gefallen waren) zwischen 1980 und 1982 im New Yorker Exil in seiner endgültigen Form entstand und in Spanien veröffentlicht werden konnte – führt Reinaldo Arenas den eigentlichen Protagonisten des dritten Bandes seiner Roman-Pentagonie ein: das Meer. Es ist ein nur auf den ersten Blick ruhiges Meer, das sich gleichwohl in ständiger Bewegung befindet, immer wieder seine Farbe wechselt, sich jeglicher Beschreibung entzieht und nur als eine schillernde, ständig changierende Dynamik beschrieben werden kann. Das Meer ist in den Texten des kubanischen Romanciers stets Rätsel und Faszinosum zugleich. Das Meer kann nicht im eigentlichen Sinne definiert, also in seinen Grenzen und Enden bestimmt werden, verbindet es sich doch mit dem Land, dessen Grenzsaum (jene arena, die gleich mehrfach den Autornamen einblendet) es ebenso in immer neuen Bewegungen durchdringt wie den Himmel, von dem es sich nicht wirklich abgrenzen lässt. Das Meer ist überall, füllt den gesamten Horizont aus. Die unmittelbar nach diesem so gelungenen Romanauftakt buchstäblich »auftauchende« männliche Hauptfigur des Bandes, Héctor, ist wie seine Heimat von allen Seiten vom Meer umgeben. Das Meer prägt und verkörpert jene conditio des Inselbewohners, die in einem der großen Texte der kubanischen Lyrik des 20. Jahrhunderts, dem von Virgilio Piñera verfassten Gedicht La isla en peso, in jenem zutiefst bewegenden Auftaktvers festgehalten wurde:
Es schlägt, ziemlich ungeschickt, das Land. Nein! Es schlägt nicht. Denn wenn es schlagen würde, würde man irgendein Geräusch hören. Es herrscht aber Stille. Es gibt nur Wasser, das das Land berührt. Ohne es zu schlagen. Es kommt an, weiß, nicht durchsichtig, berührt es ungeschickt und entfernt sich. Es ist nicht das Land, sondern der Sand. Wenn das Wasser steigt, wellenlos, entfährt dem Sand vielleicht ein Geräusch. Aus Zufriedenheit. Darüberhinaus höre ich nichts. Das Wasser steigt, aber sinkt ganz unbemerkt. Der Sand saugt es auf. Das Meer kommt von unten her zurück... Und weiter hinten, da ist es schon nicht mehr grau, sondern bräunlich. Sehr dunkel. Fast schwarz. Bis es am äußersten Ende tatsächlich schwarz ist. Dort ist es dann sehr hoch. Es vereinigt sich mit dem Himmel. Man kann die beiden voneinander gar nicht unterscheiden. Wenn man das Meer genau betrachtet, ist es also nie blau...«). Übersetzungen wurden, soweit nicht auf eine deutschsprachige Ausgabe verwiesen wird, von Helge Wendt angefertigt.
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»La maldita circunstancia del agua por todas partes«.3 Das Meer ist einfach überall. Der dem Meer stets verbundene Reinaldo Arenas, der sich eingehend mit dem literarischen Werk seines kubanischen Zeit- und Leidensgenossen auseinandersetzte und ihm in seinem Essay La isla en peso con todas sus cucarachas ein kleines literarisches Denkmal setzte,4 lässt folglich die Hauptfigur seines Romans ebenso auf der Inhaltsebene wie auf der konkreten Ausdrucksebene vom Meer einkreisen. Am Ende des Romans präsentiert ein fast atemloses excipit den als unbeugsamen Widerstand der Phantasie in Szene gesetzten Selbstmord Héctors, wobei nicht umsonst dem Meer in der (wie so oft bei Inseltexten zur Anwendung kommenden) Kreisstruktur des zentralen Romans des Zyklus das letzte Wort gebührt: »Hasta última hora la fantasía y el ritmo... Héctor, Héctor, me digo precipitándome. Desatado, furioso y estallado, como el mar.«5 Nicht umsonst äußerte Arenas in seinem letzten Willen den ihm später erfüllten Wunsch, nach seinem Ableben möge seine Asche im Meer vor Cuba verstreut werden: Otra vez el mar. Die Textinsel, die sich zwischen Meer und Meer, zwischen den Anfangs- und Schlussworten dieses gewaltigen und zugleich gewaltsamen Romans erstreckt, lässt die Grundbedingung der Insel, »el mar por todas partes«, zum alles einschließenden Medium werden. Das Meer ist im gesamten Schreiben des kubanischen Autors zweifellos ein natürlicher Bewegungs-Raum, der für den politisch wie sexuell unterdrückten und verfolgten Menschen jenseits aller Einschließung immer auch ein Raum der Freiheit ist, vermag er sich doch hier zumindest zeitweise der Kontrolle durch die Überwachungsorgane eines allgegenwärtigen autoritären Staates zu entziehen. Doch sorgt das Meer zugleich für jene Isolierung, jenen fundamentalen Modus des Zurückgeworfenseins auf den Raum der Insel, aus dem es – und auch dies ist ein für Arenas’ Schreiben immer wiederkehrendes Leitmotiv – kein Entkommen, kein Entrinnen gibt. Alle Formen des Zusammenlebens werden innerhalb des so eingegrenzten Inselraumes überwacht: Es ist die totalitäre Ordnung eines Inselstaates, für dessen Veranschaulichung Reinaldo Arenas in vielen seiner Schriften immer wieder auf das Raummodell des Konzentrationslagers zurückgegriffen hat. Denn im Zeichen einer unkon3
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Virgilio Piñera: »La isla en peso«, in: ders., Poesía y crítica. Prólogo Antón Arrufat, México, D. F.: Consejo Nacional para la Cultura y las Artes 1995, S. 45. Reinaldo Arenas: »La isla en peso con todas sus cucarachas«, in: Mariel 2 (1983), S. 20-24. R. Arenas: Otra vez el mar, S. 418. (»Bis zuletzt Phantasie und Rhythmus... Héctor, Héctor, sage ich mir in Eile. Entfesselt, wütend und aufgetürmt wie das Meer«).
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trollierten, sich absolut setzenden Ordnung und Macht kann die Insel mehr als nur Gefängnisinsel sein. Ohne an dieser Stelle auf die Tatsache zurückkommen zu wollen, dass Arenas mit seinem auf Mai 1970 in der Zuckerplantage »Manuel Sanguily« datierten und erstmals 1981 im Exil veröffentlichten Gedichtzyklus El Central6 die Strukturen der Zuckerrohrplantage – ohne die für Antonio Benítez Rojo ein Verständnis »des Karibischen« gänzlich unmöglich ist7 – als transhistorische, die gesamte Geschichte Cubas querende Grundstruktur herauspräparierte und mit der totalitären Ordnung des Konzentrationslagers verband,8 sei doch festgehalten, dass die von der Kolonialmacht Spanien im kubanischen Unabhängigkeitskrieg errichteten campos de concentraciones fast zeitgleich mit der Schaffung der berüchtigten concentration camps der Briten in Südafrika die totalitäre Ordnung des »modernen« Lagers mit der Insel Cuba verknüpften. Die im Sinne Giorgio Agambens moderne Dialektik von Einschließung und Ausschließung zeigt sich hier im Inselraum in ihrer menschenverachtenden Form. Doch schon seit der ersten Phase beschleunigter Globalisierung, in der die spanischen Eroberer die indianische Bevölkerung der amerikanischen Inselwelt durch Zwangsarbeit und faktische Versklavung auslöschten, lässt sich das transareale, von Beginn an Europa, Afrika und Amerika miteinander verbindende fraktale Muster einer Lagerstruktur erkennen, das über die Plantagenwirtschaft des 18. und 19. Jahrhunderts mit ihren Sklavenunterkünften (barracones), den entflohenen Sklaven (cimarrones) und ihren Sklavenjägern (rancheadores) zu Ausprägungsformen des univers concentrationnaire führte, wie wir sie auf Cuba am Ende der spanischen Kolonialherrschaft in den campos de concentraciones, während der Kubanischen Revolution in den Umerziehungs- und Arbeitslagern etwa der UMAP oder im von den USA besetzten Guantánamo Bay in den für den ›War on Terror‹ errichteten rechtsfreien Lagerstrukturen von Camp Delta unschwer erkennen können. Auch wenn in den vorliegenden Überlegungen erst später auf die Beziehung zwischen Insel und Macht näher eingegangen werden soll: Kaum eine andere Insel, kaum ein anderer Ort auf unserem Planeten führt wohl ein6 7 8
Vgl. Reinaldo Arenas: El Central (Poema), Barcelona, Caracas, México: Editorial Seix Barral 1981. Antonio Benítez Rojo: La isla que se repite. Edición definitiva, Barcelona: Editorial Casiopea u. a. 1998, S. 243. Vgl. hierzu Ottmar Ette: »Von Inseln, Grenzen und Vektoren. Versuch über die fraktale Inselwelt der Karibik«, in: Marianne Braig/Ottmar Ette/Dieter Ingenschay/Günther Maihold (Hg.), Grenzen der Macht – Macht der Grenzen. Lateinamerika im globalen Kontext, Frankfurt/Main: Vervuert Verlag 2005, S. 167-172.
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drucksvoller vor Augen, in welchem Maße das Lager als »biopolitisches Paradigma der Moderne« im Sinne Giorgio Agambens9 mit der komplexen Geschichte der weltweiten europäischen Expansion verknüpft ist und – wie das Beispiel der Bush-Regierung zeigt – wohl auch verknüpft bleibt. Vor dem Hintergrund dieser Geschichte, deren transarealer, die Analyse einzelner Areas bei weitem übersteigender Grundzug offenkundig ist, verkörpert das Meer als der auf unserem Planeten gewaltigste Raum der anökumene, der sich einer dauerhaften Besiedlung durch den Menschen entzieht, eine in seiner Materialität verankerte semantische Kippfigur. Denn zum einen bildet es die Voraussetzung für jene Abschottung, für jene Isolierung der Insel, die für den Protagonisten von Reinaldo Arenas’ Roman Cuba zu einer Gefängnis-, ja einer Lagerinsel werden lässt, aus der es – sieht man vom in der kubanischen Geschichte so häufigen Selbstmord einmal ab – kein Entrinnen geben wird. Und zum anderen stellt das Meer jenen Raum der Freiheit und mehr noch jenes Medium dar, dank dessen Hilfe Verbindungen mit anderen Inseln und Kontinenten geschaffen und zuvor isolierte Eilande seit der ersten Phase beschleunigter Globalisierung nicht mehr nur in ein lokales oder regionales, sondern in ein die Weltmeere umspannendes Netz von Schiffsverbindungen einbezogen werden können. Auch in diesem Sinne ist das Meer nicht eindeutig definierbar: Abhängig von der jeweiligen Blickrichtung und Beleuchtung zeigt es andere Farben, Formen und Dynamiken. Das Meer, das Wasser bildet (auch und gerade auf der konkreten Textebene) das bewegliche Element, den beweglichen Zwischenraum par excellence, ohne dessen Vieldeutigkeit die noch näher auszuführende viellogische Strukturierung der Insel wie des Insularen wohl kaum verstanden werden kann.
Die InselInsel Bleiben wir noch für ein zweites Beispiel im Bereich des auf vielen Inseln weltweit entstandenen kubanischen Literaturarchipels, bevor wir unser Blickfeld auch auf andere Areas ausweiten. Denn wie wohl kaum eine andere hat die kubanische Literatur einen ungeheuren ästhetischen Mehrwert aus der Tatsache geschlagen, dass Cuba in den bisherigen vier Phasen beschleunigter Globalisierung10 9
Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Aus dem Italienischen von Hubert Thüring, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2003, S. 125. 10 Vgl. zu dieser Einteilung Ottmar Ette: »Wege des Wissens. Fünf Thesen zum Weltbewusstsein und den Literaturen der Welt«, in: Sabine Hofmann/Monika Wehrheim (Hg.), Lateinamerika. Orte und Ordnungen des
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stets eine wichtige Rolle als global player spielte. So lassen sich etwa Anfang und Ende jener Serie von Mikroerzählungen, die Guillermo Cabrera Infante 1974 unter dem Titel Vista del amanecer en el Trópico vereinigte, wie die aus insularer karibischer Sicht dargestellte Geschichte der europäischen Expansion lesen. Im ersten Text dieser »Ansichten der Tropen« tauchen zunächst Inseln und Inselchen aus einem tropischen Ozean auf, die sich Stück für Stück zu einem (kubanischen) Archipel formieren: »Las islas surgieron del océano, primero como islotes aislados, luego los cayos se hicieron montañas y las aguas bajas, valles. Más tarde las islas se reunieron para formar una gran isla que pronto se hizo verde donde no era dorada o rojiza. Siguieron surgiendo al lado las islitas, ahora hechas cayos y la isla se convirtió en un archipiélago: una isla larga junto a una gran isla redonda rodeada de miles de islitas, islotes y hasta otras islas. Pero como la isla larga tenía una forma definida dominaba el conjunto y nadie ha visto el archipiélago, prefiriendo llamar a la isla isla y olvidarse de los miles de cayos, islotes, isletas que bordean la isla grande como coágulos de una larga herida verde. Ahí está la isla todavía surgiendo de entre el océano y el golfo: ahí está.«11
Das incipit dieses Bandes entwirft die Genesis einer sich herausbildenden und in ständiger Veränderung befindlichen Welt unermess-
Wissens. Festschrift für Birgit Scharlau, Tübingen: Gunter Narr Verlag 2004, S. 169-184. Ich habe diese Überlegungen, die ich erstmals in einem Band über Alexander von Humboldt (Weltbewußtsein. Alexander von Humboldt und das unvollendete Projekt einer anderen Moderne, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2002) vorgestellt habe, unter verschiedenen Fragestellungen in einer Reihe von Aufsätzen weiter entfaltet. 11 Guillermo Cabrera Infante: Vista del amanecer en el Trópico, Barcelona: Plaza & Janés Editores 1984, S. 15. (dt.: Ansicht der Tropen im Morgengrauen. Aus dem Spanischen von Wilfried Böhringer, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1995, S. 9: »Anfangs waren es tatsächlich vereinzelte Eilande, dann wurden aus den Eilanden Berge und aus den Untiefen zwischen ihnen Täler. Später vereinen sich die Eilande zu einer großen Insel, die bald grün wurde, wo sie nicht goldbraun oder rötlich war. […]. Die Insel war eigentlich ein Archipel: eine längliche Insel neben einer kleineren runden Insel, die Tausende von Eilanden und Inselchen umgaben und auch noch andere Inseln, die Cayos, die man später Schlüssel zum Ozean nannte. Da die lange, schmale Insel eine charakteristische Form hatte (seltsamerweise die eines Kaimans), verschlang sie geographisch die Gruppe, und niemand sah das Archipel. Er ist immer noch da, aber die Einheimischen ziehen es vor, die Insel einfach nur Die Insel zu nennen, und vergessen die abertausend Cayos, Inselchen und Eilande, Gerinnsel an einer grünen, niemals heilenden Wunde, die die Umfahrung der großen Insel erschweren. // Da ist sie, die Insel, taucht immer noch auf zwischen der offenen See und dem Golf, […]: da ist sie.«).
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lich vieler Inseln und Inselchen, deren Raumstruktur nachträglich erst vom Menschen künstlich zentriert wird: Cuba als die aus dem Meer aufsteigende größte Insel der Großen Antillen. Die so erzeugte Ordnung konzentriert alles auf die eine in ihren Umrissen als Form scheinbar klar bestimmte Insel, die sich doch aus einer Vielzahl unterschiedlichster Inseln gebildet hat, und unterwirft alle anderen Eilande des sich entfaltenden Archipels dieser zentrierten Logik. Damit aber schleicht sich gleichsam von Beginn der Geschichte an ein doppelter Fehler ins System ein: Denn zum einen wird alles an einer dominanten Territorialität ausgerichtet, welche die bewegliche Vielverbundenheit einer verwirrenden Inselwelt in ihrer unabschließbaren Mobilität ausblendet. Eine am Spatialen ausgerichtete Raumgeschichte lässt dergestalt eine am Dynamischen orientierte Bewegungsgeschichte erst gar nicht aufkommen. Zum anderen wird die offene Strukturierung eines Archipels kraft einer stark hierarchisierenden Ordnung zugunsten einer klaren Scheidung zwischen Hauptinsel und vernachlässigbaren Nebeninseln aufgegeben, wodurch auch in Vergessenheit gerät, dass auch die Hauptinsel selbst, die nun wie eine lange grüne Wunde erscheint, sich einst aus den verschiedensten Inseln und Inselchen gebildet hatte. Sie ist daher letztlich auch kein homogenes Territorium, sondern ein Verbundensein verschiedenster insularer Bestandteile, so dass die »Hauptinsel« vielleicht am besten als eine Insel der Inseln, als eine InselInsel (wohlgemerkt mit einem geringeren genealogischen Akzent als im Begriff der »Kindeskinder«) zu begreifen ist. Die mobile, zutiefst heterogene Strukturierung wird jedoch zugunsten einer territorialisierenden Homogenisierung ausgeblendet und zum Verschwinden gebracht. Auf diese Weise wird das sich stets in Bewegung Befindliche, das wie das Meer selbst immer neue Formen und Farben annimmt, auf – die Wunde deutet es an – gewaltsame Weise festgestellt und fixiert: Eine andere, ein für allemal zentrierte Geschichte des Raumes kann beginnen. Es ist, wie Vista del amanecer en el Trópico eindrucksvoll vorführt, die Geschichte stets gewaltsamer Homogenisierungen, deren Dialektik von Einschließung und Ausschließung bereits kurz mit Blick auf Otra vez el mar beleuchtet werden konnte. Dagegen aber stemmt sich Guillermo Cabrera Infantes Text bereits kraft seiner eigenen Strukturierung auf der Ausdrucksebene, ließe sich der Band aus nanophilologischer12 Perspektive doch als eine Abfolge mikronarrativer Text-Inseln beschreiben, die in sich stets wiederum die Gesamtstruktur einer sich nicht zu einer durchgängigen, kontinuierlichen, gleichsam kontinentalen Einheit fort-
12 Vgl. hierzu Ottmar Ette (Hg.): Nanophilologie. Literarische Kurz- und Kürzestformen in der Romania, Tübingen: Max Niemeyer Verlag 2008.
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schreiben. Jede Mikroerzählung programmiert und generiert diese strukturelle Offenheit aufs Neue. In ihrer Abfolge in unterschiedlichste Lesesequenzen und Leserichtungen strukturierbar, konfigurieren sich diese Insel-Texte und Text-Inseln immer wieder anders. Wie sehr im Verlauf unterschiedlichster Mikroerzählungen, die folglich so etwas wie den Text-Archipel dieses Bandes bilden, eine Geschichte an Konturen gewinnt, die eine Geschichte von Gewalt und Unterdrückung, von Ausgrenzung und Vertreibung, von Verfolgung und Ermordung ist, muss in diesem Kontext nicht näher erläutert werden. Hier unterscheiden sich die Geschichtsbilder des (wie Chris Bongie formulieren würde)13 ex-islierten – also von der Insel vertriebenen – Guillermo Cabrera Infante nicht grundlegend von jenen des ebenfalls exilierten Reinaldo Arenas. Beiden bot die Insel keinerlei Spiel- und Bewegungsraum mehr. Vor allem aber wird an den Texten beider Autoren deutlich, dass die von ihnen untersuchte und entfaltete Geschichte letztlich nichts anderes ist als eine Abfolge gescheiterter Versuche des Zusammenlebens in Differenz. In Vista del amanecer en el Trópico wurde zu keinem Zeitpunkt seit dem ersten Auftauchen des ›weißen Mannes‹ – daran lassen die Mikroerzählungen keinen Zweifel – ein Wissen vom Zusammenleben in Frieden und unter Achtung aller ethnischen, kulturellen oder soziopolitischen Differenzen entwickelt. Kein Wunder also, wenn sich die Natur am Ende aller Geschichte(n) wieder des Menschen entledigt und auf die Apokalypse, das Verschwinden des Menschen, eine neue Zeit der Schönheit folgt, die dieses Störenfriedes nicht mehr bedarf. Denn die »traurige, unglückliche und lange Insel« wird sich erst, nachdem sie der letzte Indianer, der letzte Spanier, der letzte Afrikaner, der letzte Amerikaner und schließlich auch der letzte Kubaner verlassen haben, wieder ihrer tropischen Natur erfreuen können: »Y ahí estará [...], sobreviviendo a todos los naufragios y eternamente bañada por la corriente del golfo: bella y verde, imperecedera, eterna.«14 Das excipit des Bandes lässt keinerlei Zweifel bestehen: Nur wenn der Mensch, der sein spärliches ZusammenLebensWissen immer wieder gerne der brutalen, blutigen ›Lösung‹ von Konflikten opfert, die sich an den unterschiedlichsten Differenzen entzünden, am Ende aus dieser Geschichte verschwindet, kann – so führt es dieser kubanische Insel-Text vor – eine glückliche Geschichte ohne jedes Ende beginnen. Reinaldo Arenas und Guillermo Cabrera In13 Vgl. hierzu Chris Bongie: Islands and Exiles. The Creole Identities of Post/Colonial Literature, Stanford: Stanford University Press 1998. 14 G. Cabrera Infante: Vista del amanecer en el Trópico, S. 229. (dt.: Ansicht der Tropen im Morgengrauen, S. 182. »Und das wird sie immer sein: [...] wird jeden Schiffbruch überleben, ewig vom Golfstrom umspült: schön und grün, unsterblich, ewig.«)
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fante durchkreuzen mit Blick auf ›ihre‹ Insel jegliche Bilderwelten glückseliger Inseln, wie sie so gerne vom Abendland aus fernab der Zentren an die vermeintlichen ›Ränder‹ unserer Welt projiziert wurden. Zugleich sind ihre Inseln aus vielen Inseln gebaut und von vielen Inseln aus geschrieben: Ihr Cuba ist eine InselInsel, in der sich viele Inseln überschneiden und miteinander verbinden – auch wenn ihre Insel der Schönheit und Glückseligkeit zumindest im karibischen Raum ohne den Menschen auskommen muss.
Die Projektionsfläche Mit seiner Genesis einer karibischen Inselwelt hat uns Guillermo Cabrera Infante folglich davor gewarnt, eine Insel leichtfertig als homogene Einheit, als eine in sich geschlossene territoriale Entität zu verstehen, wie sehr dies auch immer allein schon die kartographischen Umrisse jedweder Insel nahelegen mögen. Paradox formuliert: Eine Insel ist mehr als eine Insel. Um eine Insel zu verstehen, muss man sie – zumindest potentiell – als InselInsel begreifen und analysieren, als ein Eiland, das in sich mehrere Inseln birgt und auf mobile Art wie auf den unterschiedlichsten (und keineswegs nur verkehrstechnischen) Ebenen mit vielen anderen Inseln verbunden ist. Eine Insel öffnet sich in diesem Sinne immer auf ihre beweglichen Zwischenräume und ZwischenWelten. Dass man vielleicht die gesamte Geschichte der sogenannten ›Entdeckung‹ Amerikas als die Geschichte immer neuer, von Europa aus nach Westen projizierter Inseln und Inselwelten verstehen kann, hat uns Alexander von Humboldt auf beeindruckende Weise in Erinnerung gerufen – oder zumindest doch nachdrücklich nahegelegt. Unter dem nicht gerade griffigen Titel Examen critique de l’histoire de la géographie du Nouveau Continent et des progrès de l’astronomie nautique aux quinzième et seizième siècles ließ der jüngere der beiden Humboldt-Brüder zwischen April 1834 und August 1838 in verschiedenen Lieferungen insgesamt fünf Bände erscheinen, die sich bis weit ins 20. Jahrhundert hinein als die avancierteste Historiographie der Entdeckungsgeschichte verstehen lassen. In diesem ursprünglich nur als Erläuterungsteil für das aufwendige Kartenwerk des Atlas géographique et physique des régions équinoxiales du Nouveau Continent gedachten Werk, das lange Zeit zu Unrecht weitgehend unbeachtet blieb, arbeitete Humboldt die herausragende Bedeutung der jahrhundertelang nach Westen projizierten Insel-Bilder für die transatlantische Expansionsbewegung Europas heraus. Kein Zweifel: auch auf dieser geschichts- und kulturwissenschaftlich akzentuierten Ebene ist eine Insel immer mehr als eine Insel.
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In seiner Analyse der »Elemente dieser mythischen Geographie des vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts«15 vermochte er die phantastischen Inselgebilde, die sich ebenso auf vielen Seekarten wie in den allgemeinen Vorstellungen von dem im Westen gelegenen Mare pigrum fanden, als einen »Widerschein der Überlieferung des klassischen Altertums«16 nachzuweisen, wobei er die sich in wechselnden geschichtlichen Kontexten ständig verändernden Projektionsorte und Projektionsflächen mit großer Gelehrsamkeit und akribischer Detailversessenheit nachzeichnete. Die im zweiten Band des Examen vorgenommene Untersuchung der literarischen wie kartographischen Erfassung der Insel von St. Brendan (span. San Borondón), von Antilia oder der Insel der Sieben Städte erlaubte es Humboldt, die Wege der unterschiedlichen Verortungen dieser Inseln und anderer geographischer Benennungen im weiten Raum zwischen Europa und Asien zu skizzieren. Stets steht bei ihm eine vektoriell gespeicherte Bewegungsgeschichte im Raum. Leidenschaftlich verfolgte er die Zirkulationen des Wissens und die mit ihnen einhergehenden Projektionen: »So verpflanzte sich«, wie Humboldt etwa anmerkte, »die Benennung Brasil von dem asiatischen Archipelagus aus über ein Kap der Insel Terceira nach den Südküsten des Neuen Kontinents.«17 Gewiss nicht nur mit Blick auf die Antillen, deren Name und Mythos sich in Europa lange vor der ›Entdeckung‹ jener Inseln verbreitet hatte, die wir heute gewöhnlich mit dieser Bezeichnung belegen, lässt sich mit guten Gründen die Tatsache betonen, dass wir gleichsam ›unter‹ den topographisch identifizierbaren Inseln immer schon andere Inseln vorfinden, deren Bilder und Vorstellungswelten zum Teil über lange Jahrhunderte und enorme Distanzen hinweg im Raum zirkulierten und an der Findung und Erfindung neuer Inselwelten nicht selten entscheidenden Anteil hatten. So bildeten nicht nur die Meeresströmungen, die bisweilen »den Überrest der Ladung von Schiffen, welche im Meer der Antillen Schiffbruch gelitten«,18 an den Küsten Europas an Land spülten, eine immer wieder neu in Gang ge15 Alexander von Humboldt: Kritische Untersuchung zur historischen Entwicklung der geographischen Kenntnisse von der Neuen Welt und den Fortschritten der nautischen Astronomie im 15. und 16. Jahrhundert. Mit dem Geographischen und physischen Atlas der Äquinoktial-Gegenden des Neuen Kontinents Alexander von Humboldts sowie dem Unsichtbaren Atlas der von ihm untersuchten Kartenwerke. Mit einem vollständigen Namensund Sachregister. Nach der Übersetzung aus dem Französischen von Julius Ludwig Ideler ediert und mit einem Nachwort versehen von Ottmar Ette. 2 Bde., Frankfurt/Main, Leipzig: Insel Verlag 2009, Bd. I, S. 158. 16 Ebd. 17 Ebd., Bd. I, S. 173. 18 Ebd., Bd. I, S. 180.
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setzte Zirkulation des Wissens aus, die gerade für die Darstellungen und Vorstellungen der außereuropäischen Inselwelten von entscheidender Bedeutung waren. Die europäische Entdeckungsgeschichte zeigt es mit aller Klarheit: Unter der einen Insel finden sich stets die Traditionen und Mythen anderer Inseln, und seien sie durch noch so große Distanzen im Raum voneinander getrennt – Une île peut en cacher une autre.19 Erblickte Columbus in Cuba nicht das Cipango Marco Polos? Und inszenierte Bougainville seine Ankunft auf Tahiti nicht wie das Erreichen der ersehnten Liebesinsel, jener Ile de Cythère, deren verdoppelte Vision uns die Kunst eines Antoine Watteau so eindrücklich ins Bildgedächtnis einbrannte? Alexander von Humboldts auch auf vielen anderen Gebieten beobachtbarer Versuch, die »Verbindungen zwischen entfernten Gegenden unter einem gemeinschaftlichen Gesichtspunkt«20 zu erfassen, führte ihn dazu, nicht nur die Meeresströmungen zum gleichsam natürlichen Anlass für die Analyse von Phänomenen der Natur zu nehmen, die man zuvor nie aus einer einzelne Areas überspannenden und wissenschaftlich fundierten Perspektive untersucht hatte, sondern ließ ihn auch auf dem Gebiet der Kultur zu der Einsicht gelangen, dass – ausgehend von einer möglichst genauen Befragung der räumlichen Verhältnisse – die Bewegungen zwischen diesen Räumen ins Zentrum gerückt werden mussten. Dabei kam den Inseln in seinem Denken eine besondere Rolle zu. So heißt es etwa in einer Passage im zweiten Band seines Kosmos, in der Humboldt seinen Begriff des »Weltbewußtseins« entfaltete: »Was aber, wie schon oft bemerkt worden, die geographische Lage des Mittelmeers vor allem wohlthätig in ihrem Einfluß auf den Völkerverkehr und die fortschreitende Erweiterung des Weltbewußtseins gemacht hat, ist die Nähe des in der kleinasiatischen Halbinsel vortretenden östlichen Continents; die Fülle der Inseln des ägäischen Meeres, welche eine Brücke für die übergehende Cultur gewesen sind; die Furche zwischen Arabien, Aegypten und Abyssinien, durch die der große indische Ocean unter der Benennung des arabischen Meerbusens oder des rothen Meeres eindringt, getrennt durch eine schmale Erdenge von dem Nil-Delta und der südöstlichen Küste des inneren Meeres. Durch alle diese räumlichen Verhältnisse offenbarte sich in der anwachsenden Macht der Phönicier und später in der der Hellenen, in der schnellen Erweiterung des Ideenkreises der Völker der Einfluß des Meeres, als des verbindenden Elementes.«21
19 »Eine Insel kann eine andere verdecken.« 20 Ebd., Bd. I, S. 186. 21 Alexander von Humboldt: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung, 5 Bde., Stuttgart, Tübingen: Cotta 1845-1862, hier Bd. II, S. 154.
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In diesem Humboldtschen Entwurf eines sich – nach seinem Verständnis übrigens nicht ohne historische Rückschläge – erweiternden Weltbewusstseins entwickelt sich die Weltgeschichte als ein geschichtlicher Expansionsprozess, der sich in ständig ausgreifenderen Dimensionen des Meeres als des ›verbindenden‹ Elements bedient. Den Inseln zwischen Griechenland und Kleinasien – also dem Archipelagos im ursprünglichen Sinne, wurde der Begriff doch erst seit dem 13. Jahrhundert auf andere Inselgruppen übertragen – kommt in dieser Sicht eine weitere (und nicht weniger mobile und mobilisierende) Funktion im Humboldtschen Denken zu. Denn hier zieht nicht ihre Projektion nach Westen immer neue Erkundungsfahrten in den Atlantik nach sich; hier ist es vielmehr ihre räumliche Anordnung als Insel-Brücke, welche die Zirkulationen von Wissen und ein immer wieder neues Übersetzen zwischen den Kulturen auslöst. In diesem Prozess eines doppelten Über-Setzens bilden die Inseln mobile ZwischenWelten. In beiden von Humboldt untersuchten Fällen aber werden die Inseln zu mobilisierenden Faktoren, die immer neue Bewegungen auslösen und zu Projektions- und Artikulationskanälen eines sich vom Mittelmeerraum aus erweiternden Weltbewusstseins werden. Aus dieser Sicht kann eine Insel nicht für sich alleine stehen: Sie ist im Rahmen einer in Humboldts Schriften sich deutlich abzeichnenden Bewegungsgeschichte stets eingebunden in eine oftmals komplexe Vektorizität, in der die alten Bewegungen gespeichert und in neue Bewegungen überführt werden. Mit anderen Worten: Diese vektorielle Dimension beinhaltet die Speicherung all jener Bewegungsmuster, die eine bestimmte Insel in einer historischen Abfolge querten, wobei deren Speicherung die ›alten‹ Bewegungsmuster immer wieder neu in gegenwärtige und zukünftige Dynamiken einspeist. So ist eine Insel niemals nur ein von Salz- oder Süßwasser umgebener Ort oder Raum, sondern auch auf der hier angesprochenen kulturhistorischen Ebene eine InselInsel: die vektoriell gespeicherte Geschichte ihrer Projektionen und Bewegungen.
Die InselInsel - Welt/Inselwelt Welt/ Inselwelt Die bislang hier entfalteten Überlegungen bedeuten jedoch keineswegs, dass Inseln sich stets unter dem Gesichtspunkt ihrer weitläufigen Vernetzung präsentieren oder ausschließlich aus dieser Perspektive wahrgenommen und analysiert werden müssten. Bereits in Reinaldo Arenas’ Visionen von Cuba war die Insel nicht nur aufgrund ihrer Sklavenhütten, Gefängnisse und Lager als eine Gefängnisinsel erschienen, sondern auch aufgrund der Tatsache, dass die ganze Insel vom Meer umschlossen und folglich insularisiert und
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isoliert wird. Vielmehr lassen sich Inseln als semantische Kippfiguren verstehen, die – in Abhängigkeit von den jeweiligen historischen und kulturellen Kontexten sowie je nach der gesellschaftlichen Position der davon betroffenen Individuen und Gruppen – zwischen zwei Polen oszillieren: dem Pol der Insel-Welt und jenem anderen der Inselwelt. Stellen wir uns – bevor diese Unterscheidung näher erläutert werden kann – der Frage, wie sich eine Insel definieren lässt, so gilt zunächst, dass sie von Wasser umschlossen und daher von einer materiellen und infrastrukturellen Diskontinuität geprägt sein muss, die ihre Besucher zwingt, das Transportmittel zu wechseln. Verlandet eine Insel oder versinkt sie in den Fluten, weil es etwa zu Erhöhungen oder Absenkungen des Wasserspiegels kommt, so hört sie ebenso auf, eine Insel im eigentlichen Sinne zu sein, wie wenn sie über eine Brücke mit dem Festland verbunden wird. So wie Inseln – oder auch ein ganzer Kontinent wie Atlantis – im Meer versinken (oder vom Festland »zurückgewonnen« werden) können, so bilden sich auf natürlichem oder auf anthropogenem, vom Menschen gesteuerten Wege ständig neue Inseln heraus. Eine Insel hört freilich nicht auf, eine Insel zu sein, wenn sich ihre Diskontinuität nicht nur in horizontaler, sondern auch in vertikaler Richtung erstreckt, queren schwimmende Inseln doch die Kulturgeschichte der Menschheit ebenso wie – dies mögen die Imaginationen einer mobilen St. Brendans-Insel22 ebenso zeigen wie José Saramagos Iberien als von Europa losgelöstes »Steinernes Floß«23 – ihre Literaturgeschichte. Ist infrastrukturelle Diskontinuität das entscheidende Kriterium, dann darf bekanntlich mit guten Gründen bezweifelt werden, ob sich Großbritannien nach der Untertunnelung des Ärmelkanals noch immer als Insel begreifen darf. Doch kommen wir nun auf die Unterscheidung von Insel-Welt und Inselwelt zurück. Denn innerhalb der jahrtausendealten Geschichte einer Metaphorologie der Insel im Abendland lassen sich unschwer zumindest zwei verschiedene Grundtypen herausarbeiten, die ein hochkomplexes und tief in der kollektiven Bildwelt verankertes semantisches Netzwerk ausspannen.24 Mit dem Begriff der Insel-Welt wird eine abgeschlossene, in ihren Grenzen fest umrissene und von einer klaren internen Ordnung beherrschte Insel bezeichnet, die in sich und für sich eine von außen abgegrenzte Einheit bildet, ohne dass dies interne Unterteilungen selbstverständlich 22 Vgl. hierzu den reich illustrierten Band von María José Vázquez de Parga y Chueca: San Brandán. Navegación y Visión, Aranjuez: Ediciones Doce Calles 2006. 23 José Saramago: A changada de pedra, Lisboa: Círculo de Leitores 1987. 24 Vgl. hierzu ausführlich O. Ette: Von Inseln, Grenzen und Vektoren, S. 135137.
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ausschlösse. So stellte sich Immanuel Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft das »Land der Wahrheit« als »eine Insel« vor, die »durch die Natur selbst in unveränderliche Grenzen eingeschlossen« sei.25 Diese Insel-Welt steht als vernunftbegründete Ordnung und als eigener Kosmos dem Chaos der »weiten und stürmischen Ozeane, dem eigentlichen Sitze des Scheins, wo manche Nebelbank, und manches bald wegschmelzende Eis neue Länder lügt«,26 kategorisch gegenüber. Mit dem Begriff der Inselwelt wiederum ist das Bewusstsein einer fundamentalen Relationalität verbunden, welche die ›eigene‹ Insel in eine Vielzahl von Bezügen und Beziehungen zu anderen Inseln, Archipelen oder Atollen, aber auch zu Kontinenten integriert. Die Ordnung – die auch eine »natürliche« oder ›zufällige‹ im Sinne der Chaos-Theorie sein kann – stellt sich dabei weniger auf der Ebene der einzelnen Inseln gleichsam intern, sondern vielmehr auf der Ebene einer Vielverbundenheit und damit extern her. Inseln bilden als Bestandteile von Inselwelten ZwischenWelten, die von einer mobilen, dynamischen Relationalität geprägt sind. Anders als die vom Anderen scheinbar radikal abgetrennte Insel-Welt, die innerhalb ihrer Grenzen eine Ordnung etabliert, die ihr eigenes Anderes – ebenso auf der Ebene von Teilräumen und Landschaften wie auf jener von Bevölkerungsgruppen oder Gemeinschaften – zu schaffen vermag, stellt die Inselwelt ein hochdynamisches Multiparametersystem dar, in dessen mobiler Netzwerkstruktur auch unterschiedliche Logiken nicht nur toleriert (und dies heißt »geduldet«), sondern in wechselseitiger Bezüglichkeit weiterentwickelt werden. Guillermo Cabrera Infante hat in seinem tropischen Inselmodell die Wirkungsweise einer im Sinne einer Insel-Welt zentrierenden Logik vorgeführt, wobei eine mobile Diversität durch eine klare Hierarchisierung zum Verschwinden gebracht wird. Der intellektuelle ›Sündenfall‹ besteht in der Erklärung einer Insel zur Hauptinsel, der alle anderen Inseln und Inselchen zu- und untergeordnet werden, wodurch eine starre Hierarchie errichtet wird. Der Autor von Tres tristes tigres hätte als ein weiteres Beispiel für einen solchen Prozess der Durchsetzung einer vernunftgestützten – wenn auch nicht immer vernünftigen – Ordnung die »gran isla redonda rodeada de miles de islitas, islotes y hasta otras islas«27 nennen können. Denn die runde Isla de Pinos oder – wie sie seit der Revolution Fidel Castros heißt (der in jungen Jahren im dortigen Gefängnis des vor ihm 25 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Bd. 1. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel (Werkausgabe Bd. III), Frankfurt/Main: Suhrkamp 1974, S. 267 (B 294, 295/A 236). 26 Ebd. 27 G. Cabrera Infante: Vista del amanecer en el Trópico, S. 15.
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herrschenden Fulgencio Batista einsaß) – Isla de la Juventud diente wohl einst Thomas Morus als Bezugspunkt für seinen Entwurf einer Insel Utopia, in der sich eine vernunftgegründete Logik zumindest philosophisch-literarisch territorialisierte. Vista del amanecer en el Trópico zeigt zugleich auf, dass auch ein Archipel – wenn man es als »inselreiche Meergegend« unter Einschluss der zugehörigen Meeresfläche28 begreift – nicht notwendigerweise eine im vollen Wortsinn verstandene viellogische Inselwelt darstellen muss, sondern als Inselgruppe (mit Blick auf den Wortbestandteil archi etymologisch im Übrigen durchaus nachvollziehbar) ebenfalls einer einzigen, autoritären oder totalitären Logik unterworfen sein kann. Dass der Begriff des Archipelagos mit Blick auf das komplexe univers concentrationnaire der Gefangenen-, Arbeits- und Konzentrationslager in der Sowjetunion für den »Archipel Gulag« herangezogen wurde, mag diesen Aspekt belegen. Gleichwohl ist in der Vielgestaltigkeit und Diskontinuität unterschiedlichster Inselformen, die einen gemeinsamen Archipel bilden, stets zumindest in Latenz eine multilogische Strukturierung enthalten: Die diskontinuierliche Anlage enthält immer auch eine Landschaft der Theorie,29 die in ihren ebenso ästhetischen und poetologischen wie kulturtheoretischen oder politischen Dimensionen abgerufen und entfaltet werden kann. Insofern bildet ein im herkömmlichen Sinne als Inselgruppe verstandener Archipel eine Inselwelt, die allein schon kartographischtopographisch durch das interne Aufeinanderbezogensein ihrer Inseln und Inselchen in unterschiedlicher Weise intern strukturiert ist. Zugleich bildet der Archipel wiederum gegenüber Inselwelten, die sich – wie etwa die Inseln im außereuropäisch frankophonen Raum zwischen Karibik, Südsee und Indischem Ozean – im weltweiten Maßstab zu offenen Relationalitäten entwickelt haben, relativ leicht abgrenzbare und weniger durch externe Strukturierungen geprägte Gefüge. In welchem Maße ein Archipel als diskontinuierliche Konstellation mosaikartig zusammengesetzter und voneinander unterschiedener Inseln auf andere Archipele bezogen sein und somit weniger auf der Ebene einzelner Inseln als auf jener von Inselgruppen weltweite Beziehungen herstellen kann, mag das nachfolgende Beispiel demonstrieren, das eine seit dem 16. Jahrhundert sich entfaltende inter- und transarchipelische Beziehung – wie wir diese aus Sicht der TransArea Studies bezeichnen könnten – beleuchtet. Denn aus der hier gewählten transarealen Perspektive er28 So die sich an herkömmlichen Bestimmungen orientierende Definition in Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Archipel. 29 Vgl. zu diesem Begriff Ottmar Ette: Literatur in Bewegung. Raum und Dynamik grenzüberschreitenden Schreibens in Europa und Amerika, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2001, S. 531-538.
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scheint es als sinnvoll, vorab zwischen den Begriffen multiarchipelisch (also dem Nebeneinander verschiedener, voneinander getrennter oder kaum miteinander kommunizierender Archipele), intraarchipelisch (folglich den Beziehungen, die sich zwischen den verschiedenen Inseln desselben Archipels entfalten), interarchipelisch (also der dialogischen Beziehung und Kommunikation zwischen verschiedenen Archipelen, ohne dass sich dadurch grundlegende wechselseitige Veränderungen ergäben) und transarchipelisch (verstanden als Querung und Durchdringung von Beziehungen zwischen verschiedenen Archipelen, die in einen wechselseitigen Transformationsprozess eingetreten sind) zu unterscheiden.
Der Bewegungsraum In seiner Studie über die Globalisierung im 16. Jahrhundert hat Serge Gruzinski die Tatsache in Erinnerung gerufen, dass Spanien mit der Eroberung der Philippinen die Schaffung eines Reiches abschloss, dessen einzelne Teile nicht nur prioritär an Spanien zurückgebunden waren, sondern sich auch im Rahmen der von der Kolonialmacht gegebenen und überwachten Möglichkeiten intern vernetzten. So wuchs insbesondere Neu-Spanien noch im 16. Jahrhundert in eine geostrategisch wie ökonomisch bedeutsame Rolle, insofern von der Hauptstadt des Vizekönigreiches aus über die Häfen Veracruz und Acapulco die transatlantischen mit den transpazifischen Verbindungen verknüpft werden konnten. Denn 1566 wurde im Rahmen der Expedition von Miguel de Legazpi eine Route gefunden, die von den Philippinen nach Neu-Spanien zurückführte, so dass ab diesem Zeitpunkt keine Verschiffung von Menschen oder Waren über asiatische Häfen mehr notwendig war, sondern – wie Gruzinski formulierte – Asien in Amerika ankam.30 Damit waren weniger als ein halbes Jahrhundert nach der ersten Weltumsegelung Magellans bzw. Elcanos im Auftrag Spaniens die nautischen und infrastrukturellen Grundlagen für eine den gesamten Erdball umspannende Wirtschaft gelegt. Mit der Vereinigung der Kronen Spaniens und Portugals regierte die bereits wenige Jahre später unter Philipp II. entstandene iberische Dynastie nicht nur über einen Teil Europas und einen gewaltigen Teil des amerikanischen Doppelkontinents, sondern auch über weite Küstengebiete Afrikas, über Goa, Macao und die Philippinen.31 In den Werken spanischer Kosmographen zeichnen sich die Silhou-
30 Vgl. Serge Gruzinski: Les quatre parties du monde. Histoire d’une mondialisation, Paris: Editions de La Martinière 2006, S. 131. 31 Vgl. ebd., S. 30.
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etten eines Weltreiches ab, das in der Tat erstmals wahrhaft weltumspannende Dimensionen besitzt. Die an dieser frühen Globalisierung politisch oder ökonomisch beteiligten Machteliten Europas verliehen daher nicht von ungefähr ihren Banketten und Festen rasch den Charakter eleganter, vor allem aber sichtbarer Weltläufigkeit. So wurde bei der Hochzeit von Alessandro Farnese mit Maria, der Enkelin des portugiesischen Königs Manoel, nicht nur aus chinesischem Porzellangeschirr gespeist. Vielmehr werden indische Köche mit der Zubereitung der Speisen betraut, und den Gästen wird das Wasser des Ganges, des Indus, der großen Ströme Afrikas und von den Molukken gereicht.32 Der europäische Bewegungsraum war im Kontext je eigener, regional differenzierter Interessen und Machtpolitiken längst zu einem globalen geworden: Mit dem Beginn der ersten Phase beschleunigter Globalisierung war eine transareale Archipel-Struktur im Aufbau begriffen, die auch auf der Ebene eines ostentativen Konsums ins Bewusstsein der Zeitgenossen trat. Doch nicht nur in den Zentren Europas machten sich die Folgen der ersten Phase beschleunigter Globalisierung und deren Fortgang in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts bemerkbar. Gerade NeuSpanien, in der Schnittachse zwischen atlantischer und pazifischer Welt einerseits und dem Norden und Süden Amerikas andererseits gelegen, verwandelte sich in ein Zentrum der Zirkulation von Waren und Wissen, von Schreibern und Söldnern, von Krämern und Kapital. Mit der Einrichtung regelmäßiger Schiffsverbindungen zwischen Manila und Acapulco eröffnet sich für das künftige Mexico ein Zugang zur asiatischen Gegenküste, die von den Philippinen aus leicht erreichbar ist. Es gibt gewiss gute Gründe dafür zu behaupten, dass die Philippinen erst mit dieser Einbindung in globalisierte Warenund Wissensströme in einen Teil Asiens verwandelt wurden33 und die Hispanisierung so paradoxerweise zu einer Asiatisierung führte.34
32 Vgl. ebd., S. 53. 33 Vgl. hierzu Eugenio Matibag: »Las islas que se repiten. La hispanización como factor de unificación filipina«. Vortrag im Rahmen der Tagung Culturas fragmentadas, culturas unitarias: de la isla al archipiélago en el mundo hispánico (siglos XIX – XXI) in der Casa de Velázquez in Madrid am 18. Januar 2007 (Tagungsakten veröffentlicht als: Françoise Moulin Civil/ Consuelo Naranjo Orovio/Xavier Huetz de Lemps (Hg.): De la isla al archipiélago en el mundo hispano, Madrid: Consejo Superior Investigationes 2009. 34 Vgl. zu dieser These die Arbeit von Nick Joaquin: Culture and history. Occasional notes on the process of Philippine becoming, Pasig City (Philippines): Anvig Publishing 2004.
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Daher verwundert es nicht, dass José Joaquín Fernández de Lizardi, der Schöpfer des ersten von einem Hispanoamerikaner in Hispanoamerika verfassten Romans, im protonationalen Spannungsfeld eines Neu-Spanien, das im Kontext seiner Unabhängigkeitsbestrebungen im Begriff stand, sich in das moderne, postkoloniale Mexico des 19. Jahrhunderts zu verwandeln, in seinem Roman El Periquillo Sarniento (1816) seine Utopie nicht mehr in den von Mexico aus gesehenen Oriente (also die Karibik, wohin die Europäer stets ihre Utopien projiziert hatten), sondern in den Oriente, also in den pazifischen Raum verlegte. Freilich weist die von ihm erfundene Insel weit draußen im Südpazifik, von wo aus die gesellschaftlichen Verhältnisse im Vizekönigreich effizienter unter Feuer genommen werden konnten, gerade mit Blick auf die hier herrschende Ordnung noch viele jener Leitprinzipien vernunftbestimmter Ordnung auf, die Thomas Morus in seiner Utopia gattungsbestimmend eingeführt hatte. Der karibische Archipel mit seinen Zuckerrohrplantagen, mit seiner auf der Ausbeutung von Sklaven basierenden Wirtschaft und seiner – sehen wir von der erfolgreichen haitianischen Revolution einmal ab – völligen Abhängigkeit von unterschiedlichen europäischen Kolonialmächten konnte zu diesem Zeitpunkt für einen in Mexico schreibenden Autor keine Projektionsfläche für utopische Vorstellungen und konkrete Utopien mehr sein. Mit dem Zusammenbruch des kontinentalen Kolonialreichs Spaniens in Amerika wurden gerade mit Blick auf die Beziehungen zwischen den Philippinen und Mexico viele der über Jahrhunderte entstandenen Fäden im globalen Webmuster der iberischen Mächte durchtrennt. Doch sorgte die Tatsache, dass neben den Philippinen auch Cuba, Puerto Rico und zumindest zeitweise der westliche Teil Hispaniolas im spanischen Kolonialreich verblieben, nicht nur – bei allen insbesondere kulturellen Differenzen und Gegensätzen – für eine Vielzahl struktureller Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen, sondern auch für verstärkte inter- und transarchipelische Beziehungen zwischen der philippinischen Inselwelt und der (spanischen) Karibik. Als Beleg für dieses Faktum mögen Leben und Werk des am 6. Juli 1861 in Calamba auf den Philippinen geborenen und am 30. Dezember 1896 als Vordenker der Revolution von spanischen Soldaten hingerichteten José Rizal gelten. Nicht zu Unrecht wurde er – etwa von dem mexikanischen Philosophen Leopoldo Zea – mit dem 1853 in Havanna geborenen und 1895 als führender Kopf im Kampf gegen spanische Truppen gefallenen Kubaner José Martí in Verbindung gebracht, dessen bewegtes Leben und weitgespanntes Werk gewiss nicht weniger rastlos und vielgestaltig war als das des Autors von Filipinas dentro de cien años. Hatte der Verfasser von
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Nuestra América lange Jahre seines Lebens in Verbannung und Exil verbracht, die ihn u. a. nach Spanien, Frankreich und Mexico, nach Guatemala, Venezuela und die Vereinigten Staaten sowie in die karibische Inselwelt und weitere mittelamerikanische Länder führten, so hielt sich José Rizal u. a. ebenfalls in Spanien, Frankreich und den USA, aber auch in Deutschland, Österreich und der Schweiz, in Hongkong, Japan, England und Belgien auf, bevor er 1895 vergeblich beantragte, als Arzt die nach Cuba verlegten spanischen Truppen begleiten zu dürfen. Hier zeichnen sich Parallelen zwischen Lebenswegen und Schreibbedingungen ab, die weder aus nur nationalliterarischer noch aus allgemein weltliterarischer Perspektive adäquat erfasst werden können, sondern einer bewusst transareal ausgerichteten Methodologie, welche Dynamik und Vektorizität dieser Prozesse ins Zentrum rückt, bedürfen. Denn Martí und Rizal verkörpern als herausragende Repräsentanten ihrer Archipele jene Entwicklungen, die im Zeichen des ersten nicht-europäischen global players, im Zeichen mithin der USA, der dritten Phase beschleunigter Globalisierung zugerechnet werden dürfen. Das sicherlich bis heute berühmteste Werk José Rizals ist sein 1887 in Berlin veröffentlichter Roman Noli me tangere, wobei die Tatsache, dass Martís einziger Roman Amistad funesta (wenn auch postum 1911 im zehnten Band der Werkausgabe von Quesada y Aróstegui) ebenfalls in Berlin erstmals in Buchform erschien, zwar auf ähnlich problematische Verlagsstrukturen aufmerksam macht, aber doch eher anekdotischer Natur ist. In weit mehr als nur biographischer Hinsicht aber darf das Werk des philippinischen Autors einer Literatur ohne festen Wohnsitz zugerechnet werden, der man mit – so hoffe ich – guten Argumenten die kubanische Nationalliteratur insgesamt (und gewiss auch José Martí) zuordnen darf.35 Nicht umsonst hatte José Rizal, der auch in deutscher, französischer, englischer und lateinischer Sprache zu lesen und sich auszudrücken wusste, neben seiner Muttersprache, dem Tagalog, in seiner Kindheit ein höchst unvollkommenes Spanisch erlernt, was ihn dazu zwang, anders als ein das Spanische muttersprachlich beherrschender Autor ständig vor einem vielsprachigen Hintergrund an seinen Ausdrucksmöglichkeiten zu arbeiten. Nicht ohne Grund stellte Leopoldo Zea diesen Kampf Rizals um die Sprache seiner Literatur in den geschichtlichen Kontext eines Archipels, das sich nach der Niederlage der spanischen Flotte vor Manila vom Spanischen, der Sprache der kolonialen Unterdrücker, ab- und dem Englischen zuwenden sollte. Es ist, als hätte der philippinische Autor,
35 Vgl. hierzu Ottmar Ette: »Una literatura sin residencia fija. Insularidad, historia y dinámica sociocultural en la Cuba del siglo XX«, in: Revista de Indias (Madrid) LXV, 235 (2005), S. 729-753.
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der sein Lebenswerk in einem translingualen Kontext entfaltete, mit dem Verlust seines Lebens auf den Philippinen zugleich seinen sprachlichen Wohnsitz verloren: »Ahora, las palabras, los escritos de Rizal, máximo héroe de Filipinas, no están al alcance de su pueblo. No están a su alcance en la lengua con que se expresó.«36 Dass Martí 1895 und Rizal 1896 ihr Leben im Kampf gegen eine marode spanische Kolonialherrschaft lassen mussten, deren technologisch weit unterlegene Flotte wenige Jahre später, im Sommer 1898, von der hochgerüsteten Feuerkraft der US-Panzerkreuzer vor Santiago de Cuba und vor Manila erbarmungslos versenkt wurde, soll in diesem Kontext gegenüber der Tatsache zurücktreten, dass sich weder Martí noch Rizal trotz ihres rast- und ruhelosen Kampfes für ihre Heimat auf eine Beschäftigung mit ›ihrem‹ karibischen bzw. philippinischen Archipel beschränkten. Der Spiel- und Bewegungsraum ihres Denkens wie ihrer Reisen war ein unverkennbar transarealer, insofern sie auf ihren Wegen wie in ihrem Denken – um mit dem excipit von Martís Nuestra América zu sprechen – »las islas dolorosas del mar«37 stets mit einer globalen Dimension verwoben. Ihren Archipelen kam dabei – in ihren politischen wie vor allem in ihren literarischen Texten – die Funktion mobiler ZwischenWelten zu. Keineswegs zufällig setzt das erste von 63 Kapiteln des in der Hauptstadt Deutschlands auf Spanisch veröffentlichten, auf den Philippinen rasch bekannt gewordenen und alsbald von der spanischen Kolonialverwaltung nach behördlicher sowie akademischer Prüfung verbotenen Romans mit der Darstellung eines großen Abendessens ein. Dieses ist mit viel couleur locale gewürzt und will dem direkt angesprochenen Leser vor Augen führen, wie derartige Formen der Soziabilität in der »Perla del Oriente«38 abzulaufen pflegten. In diesem zweifellos kostumbristischen Auftakt von Noli me tangere wird von Beginn an in die nur kurz evozierte tropische Flusslandschaft und ihre erst rudimentär entwickelte Stadtlandschaft (cityscape) sehr bewusst mit den »cordes de la orquesta« und dem
36 Leopoldo Zea: »Prólogo«, in: José Rizal, Noli me tangere. Edición y cronología Margara Russotto, Caracas: Biblioteca Ayacucho 1976, S. xxix. (»Derzeit sind die Worte und die Schriften von Rizal, dem bedeutendsten Helden der Philippinen, seinem eignen Volk nicht zugänglich. Es kann ihn nicht in der Sprache lesen, welche er benutzte.«) 37 José Martí: »Nuestra América«, in: ders., Obras Completas. Bd. 6, La Habana: Editorial de Ciencias Sociales 1975, S. 23. 38 José Rizal: Noli me tangere. Prólogo Leopoldo Zea. Edición y cronología Margara Russotto, Caracas: Biblioteca Ayacucho 1976, S. 8.
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»significativo clin-clan de la vajilla y de los cubiertos«39 eine Klanglandschaft, ein soundscape integriert, der wiederum durch eine Landschaft unterschiedlichster Düfte, einen spezifischen smellscape, ergänzt wird. Die Gastfreundschaft steht – ganz wie im oben genannten Beispiel aus Italien – von Beginn an im Zeichen der Orchestrierung globalisierter Sinnesreize und Tischsitten, so dass die lokale Einfärbung vor dem Hintergrund einer weltweiten Zirkulation von Gütern und Gewohnheiten gleichsam translokalisiert wird: Die Philippinen werden literarisch innerhalb weltweiter Verbindungen sinnlich erfahrbar gemacht. Nicht umsonst stellt sich im zweiten Kapitel die Hauptfigur des Romans, der blonde und weitgereiste Crisóstomo Ibarra, kurzerhand selbst der anwesenden Damenwelt – »unas cuantas jóvenes entre filipinas y españolas«40 – wie den Militärs, Klerikern und anderen Vertretern der Kolonialgesellschaft mit folgenden Worten vor: »─¡Señores! ─dijo─, hay en Alemania una costumbre, cuando un desconocido viene a una reunión y no halla quién le presente a los demás, él mismo dice su nombre y se presenta [...].«41 Gesagt, getan: Formen deutscher Soziabilität werden von einem Spanier auf den Philippinen für ein spanisches und philippinisches Publikum adaptiert. Wie auf der Ebene der Gastronomie oder der Umgangsformen bleibt die gelungene literarische Inszenierung von Geselligkeit auf den Philippinen keineswegs auf den Archipel oder allein auf die Beziehungen zwischen der asiatischen Inselwelt und der iberischen Halbinsel beschränkt. Denn jenseits der Tatsache, dass der Roman in spanischer Sprache abgefasst ist und vom ersten Kapitel an die peninsulare Variante mit einer von Philippinismen durchsetzten Sprache unterschiedlicher sozialer Kontexte kontrastiert, was auch beinhaltet, dass kürzere Einschübe und Passagen in Tagalog eingefügt werden, greift Noli me tangere bereits im Titel mit seinem Zitat aus dem Lukas-Evangelium auf das Lateinische zurück, während dem Roman – ebenfalls im paratextuellen Bereich – als Motto ein Zitat aus Friedrich Schillers Shakespeares Schatten in deutscher Sprache vorausgeht. Daneben finden sich aber auch Einsprengsel und Hinweise auf das Französische, Englische und Italienische, was nicht nur angesichts der Vielzahl an Sprachen, die José Rizal sprach, sondern auch mit Blick auf den in der Welt weit herumge39 Ebd. (»Akkorde des Orchesters« und dem »vielbedeutenden Klirren von Geschirr und Besteck«). 40 Ebd., S. 9 (»einigen jungen Mädchen, die sowohl von den Philippinen wie aus Spanien stammten«). 41 Ebd., S. 18. (»Meine Herren – sagte er – in Deutschland gibt es den Brauch, wenn ein Unbekannter neu in eine Runde kommt und niemand findet sich, der ihn den anderen vorstellt, dann nennt er folglich selbst seinen Namen und stellt sich vor [...].«)
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kommenen Crisóstomo Ibarra y Magsalin nicht verwundert, antwortet dieser doch einem spanischen Mönch, der sich länger in Hongkong aufhielt und daher »Pidgin-English«42 spricht, er liebe die Länder des freien Europa (»Europa libre«) und spreche mehrere seiner Sprachen.43 Diese sehr bewusst in Szene gesetzte Vielsprachigkeit ist programmatischer Natur. Denn José Rizals Roman führt in seiner eigenen sprachlichen Gestaltung einen weltweiten Archipel der Sprachen vor, wobei er auch auf diesem Gebiet die unübersehbaren Zeichen einer Literatur ohne festen Wohnsitz setzt. Ohne an dieser Stelle im Kontext der hier behandelten Fragen eine ausführlichere Analyse von Noli me tangere vorlegen zu können, sei doch zumindest betont, welch enorme Rolle von Beginn an dem Haus als fraktalem Muster, als fractal pattern,44 zukommt. Wie die ganze Persönlichkeit des Gastgebers, Don Santiago de los Santos alias Capitán Tiago, in jenem Ölgemälde an der Wand zum Ausdruck kommt, das einen »hombre bonito, de frac, tieso, recto, simétrico como el bastón de borlas que lleva entre sus rígidos dedos cubiertos de anillos«45 zeigt, so konzentriert auch das Haus mit seinem Intérieur, seinen weithin berühmten Gelagen, dem ostentativen Konsum seines Besitzers und den sich hier begegnenden Menschen wie in einem Brennspiegel die spannungsvolle Welt der kolonialspanischen Philippinen. Die fraktale, eine höchst heterogene Totalität in sich wie in einem modèle réduit (Lévi-Strauss) vereinigende Struktur dieses Hauses leuchtet schon in dessen erster Schilderung auf: »La casa a que aludimos es algo baja y de líneas no muy correctas: que el arquitecto que la haya construido no viera bien o que esto fuese efecto de los terremotos y huracanes, nadie puede decirlo con seguridad. Una ancha escalera de verdes balaustres y alfombrada a trechos conduce desde el zaguán o portal, enlosado de azulejos, al piso principal, entre macetas y tiestos de flores sobre pedestales de losa china de abigarrados colores y fantásticos dibujos.«46 42 Ebd., S. 22. 43 Ebd. 44 Vgl. zum fraktalen Muster des Insel-Hauses Ottmar Ette: Von Inseln, Grenzen und Vektoren, S. 161-167. 45 J. Rizal: Noli me tangere, S. 9 (…das einen »hübschen Mann im Frack, steif, aufgerichtet, ebenso symmetrisch wie der mit Quasten versehene Stock, den er in seinen steifen und mit Ringen übersäten Fingern hält«). 46 Ebd., S. 8 (»Das Haus, das wir meinten, ist ziemlich niedrig und seine Gestalt nicht ganz korrekt. Als ob der Architekt, der es gebaut hat, nicht richtig sehen würde oder als ob dies die Folge von Erdbeben und Hurrikans wäre. Aber niemand konnte eine sichere Antwort darauf geben. Eine breite Treppe mit einer grünen Balustrade, teilweise mit einem Teppich belegt, führt von der gefliesten Vorhalle oder dem Eingang, in den ersten Stock,
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Auf diese Weise bündelt dieses Haus auf den Philippinen, das sich von seiner Umgebung wie eine Insel abhebt, bereits im ersten Kapitel von Rizals Roman wie in einer fraktalen mise en abyme jenen weltweiten kolonialen und – in der Figur des in seinem Namen nicht zuletzt die spanische und philippinische Herkunft vereinigenden Ibarra y Magsalin – zumindest perspektivisch postkolonialen Bewegungsraum der Kulturen, der sich im Archipel und mehr noch in der weltweit vernetzten Inselwelt der Philippinen ausdrückt. Gleichviel, ob es der (koloniale) Architekt oder die Erschütterungen und Wirbelstürme der Zeit waren, welche die Geradlinigkeit dieses Hauses in Frage stellten: Der Archipel der Philippinen steht wie der Archipel der spanischen Karibik am Ausgang des 19. Jahrhunderts vor dem Zusammenbruch einer Kolonialgesellschaft, die im Zeichen der dritten Phase beschleunigter Globalisierung von den gut gebauten Panzerkreuzern der USA nur wenige Jahre später hinweggefegt werden sollte. Mehr noch: Im Scheitern der positiv gezeichneten Hauptfiguren des Romans wird auf der individuellen wie auf der kollektiven Ebene der epochale Schiffbruch des Desastre erkennbar, zu dessen Zuschauer uns der Roman von seiner ersten Zeile an macht, ein Schiffbruch, der nicht nur den Untergang der letzten Reste des spanischen Kolonialreichs auf beiden Archipelen, sondern auch des Spanischen auf den Philippinen mit sich bringen wird. Eine neue Zeitrechnung deutet sich an, die – auch wenn sie sich noch einmal den alten Kräften, die auch Rizal selbst ermorden werden, unterwerfen muss – bald all das historisch und dysfunktional werden lässt, was auf beiden Archipelen noch als in sich abgeschlossene und nur auf sich bezogene Insel-Welt geblieben ist. Die Situation der Philippinen ist mit jener Cubas auf dieser Ebene durchaus vergleichbar. Kein anderer Schriftsteller und Philosoph hat den Zusammenbruch jedweden selbstbezogenen, provinziellen Denkens angesichts einer sich beschleunigenden, alles mit sich fortreißenden Globalisierung eindrucksvoller formuliert als José Martí im incipit seines sicherlich berühmtesten Essays: »Cree el aldeano vanidoso que el mundo entero es su aldea, y con tal que él quede de alcalde, o le mortifiquen al rival que le quitó la novia, o le crezcan en la alcancía los ahorros, ya da por bueno el orden universal, sin saber de los gigantes que llevan siete leguas en las botas, y le pueden poner la bota encima, ni de la pelea de los cometas en el cielo, que van por el aire dormido[s] engullendo mundos. Lo que quede de aldea en América ha de despertar. Estos tiempos no son para acostarse con el pañuelo a la cabeza, sino con las armas de almohada, como los varones de Juan de Castellanos: las armas del juicio,
hindurch zwischen Pflanzenkübeln und Blumentöpfen auf chinesischen Steinsockeln, die buntfarbig gescheckt und phantastisch bemalt sind.«).
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Ottmar Ette que vencen a las otras. Trincheras de ideas, valen más que trincheras de piedras.«47
Die alten Bewegungsräume des ›Dörflerischen‹ und der Selbstbezogenheit des Lokalen sind – so zeigen es die Worte Martís zu Beginn seines erstmals am 1. Januar 1891 in New York erschienenen Essays auf – fortan einer ungeheuren Beschleunigung ausgesetzt, der sich nichts und niemand mehr entziehen können wird. Im Zeichen einer auch lebensweltlich spürbaren Acceleration, die Martí von seinem New Yorker Exil weitaus besser als anderswo beobachten und begreifen konnte, wird erkennbar, in welchem Maße sich aus Insel-Welten transareale Inselwelten bilden mussten, wollten Kubaner und filipinos Richtung und Geschwindigkeit innerhalb dieses Bewegungsraumes eigenständig mitbestimmen. Die Beschleunigung kam allzu rasch, so dass beide Intellektuelle und Schriftsteller noch der alten Kolonialmacht zum Opfer fielen, während sich in deren Rücken längst eine neue weltpolitische Situation abzeichnete. Rizals und Martís Schreiben hat vieles von dem einer ästhetischen Erfahrung zugänglich gemacht, was sie auf politischer Ebene noch nicht in Gang zu setzen vermochten. Ihr literarisches Schaffen aber lässt eine Umwandlung von multi- in transarchipelische Strukturen erkennen, wie sie im Grunde erst im 20. Jahrhundert entfaltet werden konnte. Die Zeit für die Verwirklichung eines solchen Denkens war zu ihren Lebzeiten noch nicht gekommen.
Die Zeit Im Blickpunkt des von Umberto Eco im Jahre 1994 veröffentlichten und in vierzig Kapitel untergliederten Romans L’isola del giorno prima steht – und der Titel kündigt es mit aller Deutlichkeit an – die
47 José Martí: Nuestra América. Edición crítica. Investigación, presentación y notas Cintio Vitier, La Habana: Centro de Estudios Martianos – Casa de las Américas 1991, S. 13. (»Der eitle Dörfler glaubt, dass sein Dorf die ganze Welt sei. Und sobald er Bürgermeister wird, der Nebenbuhler bestraft wird oder sein Erspartes anwächst, dann hält er dies für die gerechte Weltordnung, ohne von den Riesen zu wissen, die Sieben-Meilen-Stiefel tragen und ihn mit dem Absatz zerquetschen können. Auch weiß er nichts von den Kämpfen der Himmelskörper, welche durch die verschlafene Luft fahren und Welten verschlingen. Die noch übrig gebliebenen Dörfer Amerikas müssen aufwachen. Es ist nicht an der Zeit sich mit einer Nachtmütze schlafen zu legen, sondern mit einer Waffe unter dem Kopfkissen. So wie es die Männer des Juan de Castellanos taten: Die Waffen der Urteilskraft besiegen die anderen. Der Schützengraben aus Ideen ist viel wertvoller als einer aus Steinen.«)
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Verbindung von Raum und Zeit. In seinem mit allen Ingredienzien der Literaturgeschichte des abendländischen Romans – von der Herausgeberfiktion in bester cervantinischer Manier bis zum borgesianisch verdichteten intertextuellen Brennspiegel von Bezügen zu anderen Romanen wie Romantheorien, von der Selbstreflexivität barocker Prosaformen bis zum ludischen Rückgriff auf unterschiedlichste Subgattungen wie den historischen Roman, den Bildungsroman, den Abenteuer- oder Liebesroman – ausgestatteten Werk entfaltete der italienische Zeichentheoretiker und Zeichenpraktiker die im 17. Jahrhundert angesiedelte Geschichte des Roberto de la Grive, der sich in Ecos mit einer Vielzahl von Fakten angereicherten Fiktion in französischem Auftrag wider Willen auf die Suche nach dem von allen europäischen Kolonialmächten fieberhaft verfolgten punto fijo der Längenbestimmung machen muss. Was aber ist unter diesem ominösen Punkt zu verstehen? Als mit dem ersten im modernen Sinne globalen Projekt des Europäers Columbus alias Colombo alias Colón der Weg nach Osten, zu den Reichtümern Asiens, über den Weg nach Westen gesucht, aber der Kontinent Amerika gefunden wurde, begannen die seefahrenden europäischen Mächte, von der zur ›Alten‹ gewordenen Welt aus ihre Kartennetze über die Erdkugel auszuwerfen. Mit Blick auf diese rasanten Entwicklungen, die am Ausgang des 15. und in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts die erste Phase beschleunigter Globalisierung beherrschten und bei vielen Zeitgenossen ein neues Zeit- und Raumgefühl hervorbrachten, ließe sich formulieren, dass neben die Erfindung der Zentralperspektive in der Malerei48 eine nicht weniger kunstvolle (und ebenfalls arabische Einflüsse weiterführende) Erfindung trat: die Zentrierung der Welt entlang und mit Hilfe der Äquatoriallinie. Das für uns noch immer gegenwärtige abendländische Bild von unserer Erde entstand. Die berühmte Weltkarte von Juan de la Cosa entwarf bereits im Jahre 1500 nicht allein ein erstaunlich präzises Bild der heute als Karibik bezeichneten Inselwelt im Zentrum der Neuen Welt, einer Welt aus kolonialer Sicht eng miteinander verzahnter Inseln, die aus geostrategischer Sicht für die Spanier zum militärischen Ausgangspunkt ihrer raschen Eroberungen auf dem amerikanischen Kontinent wurde.49 Die im Museo Naval zu Madrid aufbewahrte erste Karte Amerikas, ja erste Weltkarte im eigentlichen Sinne zeichnete neben den soeben von den in spanischem Auftrag ›entdeckten‹ Gebieten darüber hinaus auch zum ersten Mal die korrekte geogra48 Vgl. hierzu Hans Belting: Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks, München: Beck 2008. 49 Vgl. die Wiedergabe dieser bis heute faszinierenden Weltkarte in Ricardo Cerezo Martínez: La Cartografía Náutica Española de los Siglos XIV, XV y XVI, Madrid: Centro Superior de Investigaciones Científicas 1994, S. 82f.
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phische Position der Äquinoktiallinie sowie des Wendekreises des Krebses ein und vergaß darüber nicht, eine Vielzahl europäischer Bildvorstellungen in das zu seiner Entstehungszeit bei weitem fortgeschrittenste Kartenbild der Erde zu projizieren. Kartographische Bildwelten und Weltbilder verschränken sich zu Beginn der frühen Neuzeit unauflöslich miteinander, eine Tatsache, die sich Umberto Eco in L’isola del giorno prima in vielfacher Weise ingeniös zunutze macht. Denn in seinem Roman, dessen zentraler Handlungsstrang in den Jahren 1642 oder 1643 angesiedelt ist und ebenso auf die Erfahrungen und Bildwelten des beginnenden 16. Jahrhunderts wie auf die Entdeckungsfahrten der Cook und Bougainville im 18. Jahrhundert (gewiss anachronistisch) zurückgreift, entsteht ein komplexes Bild des europäischen Wissens über unseren Planeten, das sich ebenso aus naturwissenschaftlichen und kartographischen wie aus mythologischen, philosophischen und literarischen Quellen speist. Folglich ließe sich der Titel des Romans neben der in der Folge entfalteten Bedeutung durchaus auch so verstehen, dass hier mit der Insel unsere Welt und zwar – um es in anderem Sinne mit Stefan Zweig zu sagen – ›Die Welt von gestern‹ gemeint ist, die in nicht geringem Maße noch immer unser Denken bestimmt. Verzeichnete die Karte des Juan de la Cosa, der als Steuermann und Navigator nicht nur an Columbus’ erster Reise beteiligt war, sondern bis zu seinem tragischen Tod in maßgeblicher Funktion weitere Entdeckungsfahrten entlang der Küstenlinien des Südteils des amerikanischen Doppelkontinents durchführte, mit beeindruckender Genauigkeit die geographische Breite der im Horizont des europäischen Wissens sich abzeichnenden Welt, so fehlte diese kartographische Präzision mit Blick auf die geographische Länge. Auch wenn es in der Folge sehr wohl zu Verfeinerungen der von Cristóbal Colón, Vicente Yáñez Pinzón, Juan de la Cosa oder Amerigo Vespucci benutzten Verfahren zur Längenbestimmung kam, blieb die präzise Ermittlung der Länge zumindest bis ins letzte Drittel des 18. Jahrhunderts ein gewaltiges Problem. Ohne eine genaue Längenbestimmung aber war es gerade in jenen Weltgegenden, die sich in weitester Entfernung von Europa befinden, so dass sich hier auch die größten Abweichungen und Fehleinschätzungen ergaben, nur schwer möglich, einmal ›entdeckte‹ Inseln mit großer Sicherheit wiederzufinden. Eine koloniale Kontrolle insbesondere der südpazifischen Inseln und Atolle durch die europäischen Mächte war unter diesen Umständen nur schwer möglich. Es gab daher ein handfestes Interesse an der Bestimmung eines festen Punktes, von dem aus die Koordinaten dieser Meeresstriche genau berechnet werden konnten.
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Das von Europa aus über die als perfekte Kugel gedachte Welt ausgeworfene Kartennetz ermöglichte es, die von unterschiedlichen altweltlichen Nullmeridianen ausgehenden 360-Grad-Einteilungen mit der Zeiteinteilung einer vierundzwanzigstündigen Erdumdrehung zu korrelieren, so dass es – wie man seit langem wusste – theoretisch möglich war, die räumliche Distanz von Europa genau anhand der zeitlichen Differenz zu berechnen. Dass die mangelnde Präzision und hohe Anfälligkeit der von den Europäern mitgeführten Chronometer und Seeuhren auch über die Reisen James Cooks hinaus gravierende Probleme aufwarf, mag für unsere Überlegungen von geringerem Interesse sein als die Tatsache, dass es die von den Europäern mitgeführte und damit gleichsam globalisierte Zeit war, aus deren Ablauf man den Raum lesen konnte. Raum und Zeit erscheinen folglich auch aus nautischer bzw. kartographischer Sicht unauflöslich miteinander verwoben. L’isola del giorno prima spielt auf den unterschiedlichsten historischen und theoretischen Ebenen diese Verknüpfung durch, wobei es den verschiedenen Erzählinstanzen gelingt, die Paradoxa einer derartigen Raumzeit und ihres Zeitraumes vorzuführen. Ohne uns näher mit den inhaltlichen Elementen der chronotopischen Reflexionen in Ecos Romanhandlung beschäftigen zu können, vermag eine Analyse der sich aus der Kombinatorik von Raum und Zeit ergebenden Bewegungsstruktur doch nachzuweisen, inwiefern die in dieser Roman-Welt entfaltete »Pluralità dei Mondi«50 sich aus einer inselhaften, diskontinuierlichen Verzahnung von Raum und Zeit ergibt. Diese an den Raum gebundene temporale Diskontinuität führt bereits der im Titel des Romans markierte Zeitsprung der Datumsgrenze auf unserem Planeten vor. Als schiffbrüchiger Nichtschwimmer zusammen mit dem Jesuitenpater Caspar Wanderdrossel auf der »Daphne« – einem Schiff und vielleicht mehr noch einer schwimmenden Insel, die als Heterotopie, als Ort ohne Ort,51 zwischen zwei festen Inseln just auf der Datumsgrenze des 180. Längengrades ankert – gefangen, gibt es für Roberto de la Grive keinen Weg zu jener »Insel des vorigen Tages«, die jenseits des Zeitsprunges liegt. In diesem Zusammenhang soll uns weniger die realhistorische Lage der Fidji-Inseln als vielmehr der für unsere Fragestellung weit aufschlussreichere Aspekt interessieren, dass die »Insel des vorigen Tages« für Roberto nicht nur räumlich, sondern vor allem zeitlich 50 Umberto Eco: L’isola del giorno prima, Milano: RCS Libri 2006, S. 392. (dt.: Die Insel des vorigen Tages. Übersetzt von Burkhart Kroeber, München, Wien: Carl Hanser 1994, S. 421: »Vielzahl der Welten«). 51 Vgl. hierzu Michel Foucault: »Andere Räume«, in: Barck, Karlheinz u. a. (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig: Reclam 72002, S. 34-46.
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unerreichbar ist. Der Blick des männlichen Protagonisten, auf dessen Roman im Roman die Herausgeberfiktion ineinander verschachtelter Fiktionen aufbaut, geht einmal mehr zur Insel und zeigt diese raumzeitliche Problematik deutlich auf: »Anzi, siccome la vedeva non solo lontana nello spazio, ma anche (e a ritroso) nel tempo, da questo momento ogni volta che menziona quella lontananza Roberto pare confondere spazio e tempo, e scrive ›la baia è ahimè troppo ieri‹, e ›com’è difficile arrivare laggiù che è così presto‹; oppure ›quanto mare mi separa dal giorno appena trascorso‹, e persino ›stammo provenendo nembi minacciosi dall’Isola, mentre qui è già sereno...‹«52
Da der Roman des Romans im Roman selbst schon – wie der Erzähler-Herausgeber gleich zu Beginn des Kapitels »Monologo sulla Pluralità dei Mondi« betont – von einer Pluralität seiner Erzählwelten (und Erzählzeiten) geprägt ist, »perché Roberto aveva preso dai romanzieri del suo secolo l’abitudine a raccontare tante storie insieme che a un certo punto è difficile riprenderne le fila«,53 gilt diese Problematik auch für die Vervielfachung der Raumzeiten und Zeiträume in einem vom literarischen Demiurgen Roberto – und vielleicht auch von jedem anderen Weltenschöpfer – nicht mehr wirklich überblickbaren Universum: »Il vuoto e lo spazio erano come il tempo, o il tempo come il vuoto e lo spazio; e non era dunque pensabile che, come esistono spazi siderali dove la nostra terra appare come una formica, e spazi come i mondi del corallo (formiche del nostro universo) – eppure tutti l’uno dentro l’altro – così non vi fossero universi sottomessi a tempi diversi? Non si è detto che su Giove un giorno dura un anno? Debbono dunque esistere universi che vivono e muoiono nello spazio di un istante, o sopravvivono al di là di ogni nostra capacità di calcolare e le dinastie chinesi e il tempo del Diluvio. Universi dove tutti i movimenti e la risposta ai movimenti non prendano i tempi delle ore e dei minuti ma quello dei millenni, altri dove i pianeti nascano e muoiano in un battito di ciglio«.54
52 U. Eco: L’isola del giorno prima, S. 336. (dt.: Die Insel des vorigen Tages, S. 363: »Mehr noch, da er sie nicht nur im Raum sah, sondern auch [und zurückblickend] in der Zeit, scheint Roberto von diesem Moment an jedes Mal, wenn er ihr Fernsein erwähnt, Raum und Zeit zu verwechseln, schreibt er doch: ›die Bucht ist leider zu gestern‹, und: ›wie schwierig es ist, an jene Küste zu gelangen, die doch so bald ist‹; oder auch: ›wie viel Meer mich trennt vom gerade vergangenen Tag‹, und sogar: ›von der Insel kommen drohende Gewitterwolken herüber, während es hier schon heiter ist ...‹«) 53 Ebd., S. 392. 54 Ebd., S. 401f. (dt.: Die Insel des vorigen Tages, S. 431. »Die Leere und der Raum waren wie die Zeit, oder die Zeit war wie die Leere und der Raum; war es dann also nicht denkbar, daß es so, wie es Sternenräume gibt, in denen unsere Erde wie eine Ameise erscheint, und winzige Räume wie die
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Dass als Bezugstexte für diese Reflexionen über die Pluralität der Welten weniger die Entretiens sur la pluralité des mondes (1686) von Bernard le Bovier de Fontenelle als die Schriften von Cyrano de Bergerac – neben Theoremen von Blaise Pascal oder Pierre Gassendi – gelten dürfen,55 ist gewiss nicht weniger aufschlussreich als die Tatsache, dass Robertos Bezugsgegenstand ein Stückchen Koralle ist. Die Koralle aber steht – l’uno dentro l’altro – stellvertretend für die Präsenz fraktaler Strukturen im Sinne jener posteuklidischen, fraktalen Geometrie der Natur, deren theoretische Fundierung auf Benoît B. Mandelbrot zurückgeht,56 und zugleich für jene Selbstähnlichkeit der Welten in Welten in Welten, die auf inhaltlicher wie struktureller Ebene in Umberto Ecos Roman abgehandelt werden. Romanmodell und Weltmodell spiegeln sich wechselseitig. Aus den fraktalen, sich unendlich vervielfachenden Strukturen der Korallen sind aber zugleich auch jene fraktalen Muster all der Inseln und Atolle im Südpazifik aufgebaut, deren Allgegenwart L’isola del giorno prima durchzieht. Die fundamental-komplexe Raumzeitlichkeit dieser Inselstrukturen macht eben nicht allein auf die räumliche, sondern auch auf die zeitliche Diskontinuität aufmerksam, die jede Insel charakterisiert. Dieser nicht allein spatiale, sondern auch temporale Eigen-Sinn von Inseln tritt in seiner EigenZeitlichkeit in vielen Passagen von Umberto Ecos Roman hervor. Dieser Eigen-Sinn zeigt sich in besonderem Maße am Beispiel jener Abfolge, jener Konfiguration von jeweils mit eigener Kultur, Ordnung und Logik ausgestatteten Inseln und Atollen, die Robertos Doppelgänger Ferrante auf seinem Doppelgängerschiff, der »Tweede Daphne«, von den Inseln der Lebenden bis zu den Inseln der Toten durchsegelt. Auf einer Klippe im Meer etwa stößt Ferrante auf Judas, der 1610 Jahre nach seinem Verrat an Christus nicht nur »in-
Welt der Korallen [Ameisen unseres Universums] – die jedoch alle ineinander verschränkt sind –, daß es dann auch Universen mit verschiedenen Zeitmaßen gibt? Ist nicht gesagt worden, daß auf Jupiter ein Tag so lang dauert wie ein Jahr? Also muß es Universen geben, die im Zeitraum eines Augenblicks leben und sterben, und andere, die länger leben, als alle unsere Berechnungskapazitäten reichen, länger als die chinesischen Dynastien und die Zeit der Sintflut. Universen, in denen alle Bewegungen und die Reaktion auf die Bewegungen nicht die Zeit von Stunden und Minuten einnehmen, sondern von Jahrtausenden, und andere, in denen die Planten während der Dauer eines Lidschlages entstehen und vergehen«). 55 Vgl. hierzu die Erläuterungen von Günter Berger: Annäherungen an die Insel. Lektüren der Insel des vorigen Tages von Umberto Eco, Bielefeld: Aisthesis Verlag 1999, S. 108. 56 Vgl. Benoît B. Mandelbrot: Die fraktale Geometrie der Natur. Aus dem Englischen übersetzt von Reinhilt Zähle und Ulrich Zähle, Basel, Boston, Berlin: Birkhäuser Verlag 1991.
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catenato su uno scoglio in mezzo al mare«57 leben muss, sondern für den die Zeit seit seinem Verbrechen immer langsamer abgelaufen ist, so dass er sich noch immer am Karfreitag in der neunten Stunde befindet. So erläutert er dem staunenden, mit Zeitsprüngen offenkundig nicht vertrauten Ferrante: »›Ahi, uomo ingenuo,‹ rispondeva Giuda, ›è certamente mille e seicento e dieci dei vostri anni che io fui messo su questo scoglio, ma non è ancora e non sarà mai un giorno dei miei. Tu non sai che, entrando nel mare che circonda questa mia isola, sei penetrato in un altro universo che scorre accanto e dentro al vostro, e qui il sole gira intorno alla terra come una testuggine che a ogni passo va più lenta di prima. Così in questo mio mondo il mio giorno all’inizio durava due dei vostri, e dopo tre, e via sempre di più, sino a ora, che dopo milleseicento e dieci dei vostri anni io sono sempre e ancor all’ora nona. E tra poco il tempo sarà ancora più lento, e poi ancora di più, e io vivrò sempre l’ora nona dell’anno trentatré dalla notte di Betlemme...‹«58
So ist die vom Meer umgebene Klippe für Judas auf göttlichen Ratschluss zu einer Gefängnisinsel geworden, in der er nicht nur mit seinen Ketten (auf fast überflüssige Weise) an den Felsen, an den Raum gefesselt ist, sondern weit mehr noch in der sich stetig verlangsamenden Eigen-Zeitlichkeit seiner Insel ein Gefangener der Zeit, seiner Zeit, bleibt. Seine Insel eines vorigen Tages, der für ihn nie mehr vorübergehen wird, führt in radikaler Weise vor Augen, in welchem Maße die räumliche Diskontinuität einer Insel-Welt in ihrem raumzeitlichen Verwobensein eine Eigen-Zeitlichkeit entfaltet, aus der es – zumindest dann, wenn man die Insel physisch nicht zu verlassen vermag – kein Entrinnen mehr zu geben scheint. Umberto Ecos Roman führt uns am Dialog zwischen Ferrante und Judas über diese der Relativität der Zeit geschuldete Pluralität der Welten eindrucksvoll vor Augen, wie sehr ein jeder, der eine Insel für eine 57 U. Eco: L’isola del giorno prima, S. 422. (dt.: Die Insel des vorigen Tages, S. 452: »der an eine Klippe im Meer gekettet war«). 58 Ebd., S. 422f. (dt.: Die Insel des vorigen Tages, S. 453: »›Ach, du einfältiger Mensch‹, erwiderte Judas, ›gewiß ist es eintausendsechshundertzehn eurer Jahre her, daß ich an diese Klippe gekettet ward, aber es ist noch nicht und wird niemals einen meiner Tage hersein. Du weißt es nicht, aber als es dich in dieses Meer verschlug, das diese meine Insel umgibt, bist du in ein anderes Universum gelangt, das neben und in dem euren verläuft, und hier umkreist die Sonne die Erde wie eine Schildkröte, die bei jedem Schritt langsamer wird. So hatte in dieser meiner Welt ein Tag zuerst zwei der euren gedauert, dann drei und dann immer mehr, bis jetzt, da ich nach tausendsechshundertzehn eurer Jahre immer noch in derselben neunten Stunde bin, und bald wird die Zeit noch langsamer vergehen und dann noch langsamer, und ich werde ewig in derselben neunten Stunde des dreiunddreißigsten Jahres seit der Nacht von Bethlehem leben ...‹«)
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bloß räumlich zu definierende, also in ihren spatialen Grenzen und Enden bestimmbare Einheit hält, letztlich ein uomo ingenuo ist. Wird es einem solchen Menschen je möglich sein, seine Insel des vorigen Tages, die er für die Welt hält, zu verlassen? Doch es gibt noch andere Mächte, die Menschen am Verlassen ihrer Insel hindern.
Die Macht Vor diesem Hintergrund eigenzeitlicher Zeit-Räume wird verständlich, warum sich literarische Darstellungen von Reisen in der Zeit mit so großer Häufigkeit insularer Strukturen bedienen und warum beim Umschlagen der U-Topie in die U-Chronie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Insularitäten als Raummuster keineswegs verschwinden. Es wäre daher ein Leichtes, aus dem reichen Traditionsschatz der Literaturen der Welt jene raumzeitlichen Diskontinuitäten herauszugreifen, die sich seit dem Gilgamesch-Epos59 des Motivs der Überfahrt, des Über-Setzens versicherten, um eine bisweilen radikal andere Zeitlichkeit zu verräumlichen – und sei es die jener Ewigkeit und Unsterblichkeit, auf deren mühevolle Suche sich König Gilgamesch gemacht hat, ohne zu ahnen, dass ihm jene Unsterblichkeit just in jenem Moment entgleiten sollte, in dem er sich ihrer bemächtigt zu haben glaubte. Wie auch immer die raumzeitliche Diskontinuität der Insel in Szene gesetzt sein mag: Sie ist stets verbunden mit der Frage nach der Macht, gleichviel, ob diese im jeweiligen Falle göttlichen und/oder menschlichen Ursprungs ist. Oder anders formuliert: Wer die Frage nach der Insel stellt, stellt immer auch die Frage nach der Macht. Das Beispiel, das im Folgenden in der gebotenen Kürze besprochen werden soll, führt uns zurück in die Insel-Welt der spanischsprachigen Karibik. In seinem im Jahre 2000 erschienenen Roman La Fiesta del Chivo60 entwirft der in Peru geborene Autor Mario Vargas Llosa eine Vision jener blutigen Trujillo-Diktatur, die über drei Jahrzehnte lang die Dominikanische Republik einer brutalen Gewaltherrschaft unterwarf. Vargas Llosa entfaltet in diesem in der Bibliothek des Ibero-Amerikanischen Instituts zu Berlin recherchierten Roman eine Vision, die einen wichtigen Bestandteil jener
59 Vgl. hierzu die neue deutschsprachige Ausgabe: Das Gilgamesch-Epos. Neu übersetzt und kommentiert von Stefan M. Maul, München: Verlag C. H. Beck 2005. 60 Dt.: Das Fest des Ziegenbocks. Übersetzt von Elke Wehr, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002.
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hemisphärischen Konstruktion der Amerikas bildet, die nach den an Lima und an Peru ausgerichteten frühen Erzähltexten des peruanischen Autors vor allem seit der Veröffentlichung des Romans La guerra del fin del mundo im Jahre 198161 (über die von Euclides da Cunha in Os sertoes (1902)62 dargestellten blutigen Ereignisse an den Randbereichen eines sich modernisierenden Brasilien) immer wieder neue Räume des amerikanischen Doppelkontinents literarisch erschlossen hat. Der in vierundzwanzig römisch durchnummerierte Kapitel gegliederte Erzähltext, der sich mit mancherlei intertextuellem Augenzwinkern in die lange Tradition des lateinamerikanischen Diktatorenromans einschreibt, setzt nicht zufällig mit dem Warten der Protagonistin im neunten Stockwerk des Hotels Jaragua in Santo Domingo, dem ehemaligen Ciudad Trujillo, ein. Urania wartet auf das Erscheinen des Meeres, das endlich in den ersten Reflexen der aufgehenden Sonne aus der Dunkelheit auftaucht: »La superficie azul oscura del mar, sobrecogida por manchas de espuma, va a encontrarse con un cielo plomizo en la remota línea del horizonte, y, aquí, en la costa, rompe en olas sonoras y espumosas contra el Malecón, del que divisa pedazos de calzada entre las palmeras y almendros que lo bordean.«63
Das frühmorgendliche und sich rasch – wenn auch nicht mit so schillernder Offenheit wie in Reinaldo Arenas’ Otra vez el mar – verändernde Farbenspiel des Meeres, dessen Wellen sich an der Uferstraße brechen, eröffnet jenen Raum des Romans, dessen Kreisstruktur sich auf der letzten Seite in der Nacht am selben Hotel mit der Klangwelt des Meeres und »la espuma de las olas«64 wieder schließt. Mit diesem perfekten narrativen Zirkel, der für Vargas Llosas Romankunst charakteristisch ist, schließt sich zugleich der Rundgang um eine mit dem Verweis auf Haiti von Beginn an als zweigeteilt dargestellte Insel, deren Geschichte im Verlauf dieses vom Meer begrenzten Textes nicht nur aus der Perspektive Uranias,
61 Dt.: Der Krieg am Ende der Welt. Übersetzung von Anneliese Botond, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1985. 62 Dt.: Krieg im Sertaõ. Übersetzung von Berthold Zilly, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1994. 63 Mario Vargas Llosa: La Fiesta del Chivo, Madrid: Alfaguara 2000, S. 11f. (dt.: Das Fest des Ziegenbocks, S, 9: »Die dunkelblaue Oberfläche des Meeres, aufgeraut durch Schaumflecken, wird an der fernen Linie des Horizonts auf einen bleifarbenen Himmel treffen und bricht sich geräuschvoll in schaumigen Wellen an der Uferpromenade, deren Bürgersteig sie durch die Palmen und Mandelbäume, die sie säumen, hier und da erkennen kann.«) 64 Ebd., S. 518.
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sondern aus vielen Blickwinkeln historischer wie erfundener Figuren vorgeführt wird. Die in der Dominikanischen Republik geborene Urania hat für einen spontan gebuchten Kurzurlaub ihre andere ›Insel‹, das mit Brücken vielfach mit der gesamten Stadtlandschaft New Yorks vernetzte Manhattan, verlassen, um für kurze Zeit auf jene Karibikinsel zurückzukehren, die sie in ihrem Leben nie mehr hatte betreten wollen. Doch die Überwindung der räumlichen Distanz bringt von Beginn an eine Konfrontation mit der zeitlichen Differenz mit sich, tauchen doch in rascher Abfolge aus dem Meer der Erinnerung jene insularen, fraktalen Elemente einer kollektiven und individuellen (Lebens-)Geschichte wieder auf, die in ihrer EigenZeitlichkeit ihren Eigen-Sinn einfordern. Das auf der Insel gelebte Leben fordert das in den USA (dank der beruflichen Karriere geradezu mustergültig) geführte Leben heraus. Urania begibt sich auf die Suche nach der Insel des vorigen Tages. Diese Insel aber ist eine Insel der Macht und der Morde, der Erpressung und Erniedrigung. Urania hat als Anwältin und Juristin der Weltbank in den USA keineswegs die Geschichte ihrer Herkunftsinsel verdrängt. Ihr Schlafzimmer, das sie mit keinem Liebespartner je geteilt hat, ist voller Bücher über die dominikanische Geschichte, deren Windungen und Wendungen sie wie im Schlaf aufzuzählen versteht. So erläutert sie ihrem durch einen Hirnschlag gelähmten Vater, dessen Spitzname »Cerebrito« auf seine Funktion als Vordenker diktatorischer Machtstrukturen, aber auch auf sein späteres Ende verweist, als sie ihn in seinem Haus – im Haus ihrer Kindheit – besucht: » – Mi departamento de Manhattan está lleno de libros – retoma Urania–. Como esta casa, cuando era niña. De derecho, de economía, de historia. Pero, en mi dormitorio, sólo dominicanos. Testimonios, ensayos, memorias, muchos libros de historia. ¿Adivinas de qué época? La Era de Trujillo, cuál iba a ser. Lo más importante que nos pasó en quinientos años. Lo decías con tanta convicción. Es cierto, papá. En estos treinta y un años cristalizó todo lo malo que arrastrábamos, desde la conquista. En algunos de esos libros apareces tú, como un personaje. Secretario de Estado, senador, presidente del Partido Dominicano. ¿Hay algo que no fuiste, papá? Me he convertido en una experta en Trujillo.«65
65 Ebd., S. 66 (dt.: Das Fest des Ziegenbocks, S. 67: »›Meine Wohnung in Manhattan ist voller Bücher‹, erzählt Urania weiter. ›Wie dieses Haus, als ich ein kleines Mädchen war. Über Recht, Wirtschaft, Geschichte. Aber in meinem Schlafzimmer nur dominikanische Autoren. Zeugnisse, Essays, Memoiren, viele Geschichtsbücher. Ahnst du, zu welcher Epoche? Zur Ära Trujillo, was sonst. Das Wichtigste, das uns in fünfhundert Jahren widerfahren ist. Das sagtest du mit tiefster Überzeugung. Es stimmt, Papa. In diesen einund-
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Und doch ist der Tochter von »Schlauköpfchen« Cabral, einer der Galionsfiguren der Trujillo-Diktatur, trotz ihres historiographischen, soziologischen, ökonomischen oder politologischen Wissens rätselhaft geblieben, wie ihr Vater sich mit dieser menschenverachtenden Diktatur hatte einlassen können. Noch unerklärlicher aber ist ihr, wie ihr eigener Vater dazu fähig werden konnte, dem in die Jahre gekommenen Diktator die noch minderjährige und stets vergötterte Tochter zur Entjungferung anzudienen, geleitet allein von dem Ziel, aus einer momentan erlittenen Ungnade, in die er ohne jeden erkennbaren Grund gefallen war, wieder erlöst zu werden. La Fiesta del Chivo liefert uns die Autopsie einer vergangenen und doch nie vergehenden Macht. Denn Urania will verstehen: Wie war es möglich, dass ihr Vater, dass ihre Familie, dass ihr ganzes Land sich mit dem Diktator und seinen Helfershelfern arrangierten, die Bestialität des Trujillo-Clans nicht nur ertrugen, sondern förderten, ja nicht einmal den Mördern des Tyrannen bei ihrer Flucht Hilfe anboten? Wie hatte es zu diesem Zusammenleben mit diesem gewiss lange Zeit von den USA unterstützten und erst am Ende fallengelassenen Massenmörder kommen können? Und wie funktionieren die Mikrostrukturen einer Macht, die auch die intimsten Bindungen durchdringt und pervertiert? Um dieses Rätsel zu lösen, um dieses Geheimnis zu lüften, ist Urania auf die Insel zurückgekehrt, die ihr gleichsam zum Laboratorium mit Eigenversuch wird. Ihr Vater, mit dem sie nach ihrer von US-amerikanischen Nonnen organisierten Flucht in die Vereinigten Staaten ebenso jegliche Verbindung abgebrochen hatte wie mit ihrer Familie insgesamt, kann ihr nicht mehr antworten: Der durch Trujillos Ungnade und seinen Hirnschlag in ein menschliches Wrack verwandelte Mann kann ihr allenfalls noch mit aufgerissenen Augen zuhören. Der einstmals stattliche Vater ist buchstäblich geschrumpft und zum Schatten seiner selbst, zum Schatten (s)einer Macht des vorigen Tages, geworden. Doch noch bevor das Schweigen ihres Vaters auf alle ihre Fragen folgt, hat das Haus ihrer Kindheit mit der Beantwortung jener Fragen und jener Rätsel begonnen, die ihr kein Geschichtsbuch je hatte lösen können. Nicht nur wegen des morgendlichen Joggings pocht ihr das Herz, als sie zum ersten Mal wieder das Haus erblickt, in dem sie so wohlbehütet aufgewachsen war.66 Scheint ihr zunächst noch alles vertraut, so bemerkt sie in der Folge mehr und dreißig Jahren hat sich das ganze Übel kristallisiert, das wir seit der Konquista mitgeschleppt haben. In einigen dieser Bücher kommst du vor, wie eine Romanfigur. Minister, Senator, Präsident der Dominikanischen Partei. Gibt es etwas, das du nicht warst, Papa? Ich bin zu einer Trujillo-Expertin geworden.‹«). 66 Ebd., S. 23.
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mehr, wie sehr alles geschrumpft und gealtert erscheint: Was sie einst als Kind beeindruckt hatte. Alles ist bis zur Unkenntlichkeit heruntergekommen: »Examina una vez más la ruindad que la rodea. Además de deteriorarse la pintura de las paredes, el tablero de la mesa, el lavador, el armario, todo parece encogido y descentrado. ¿Eran los mismo muebles? No reconocía nada.«67 Die alte Macht und deren Geschichte ist aus den Fugen. Die Zeit ist weder die ihrer Kindheit noch die der hektischen Insel Manhattan, ist weder stehengeblieben noch einfach weitergelaufen: Die Insel besitzt ihre eigene Zeitlichkeit. Urania sitzt an jenem Tisch, an dem ihr ihr Vater einst mitteilte, Trujillo höchstpersönlich werde sie abends in seiner »Casa de Caoba« empfangen. Er sprach von der Ehre und nicht von der Entehrung: Sie hatte nichts verstanden. Doch nun ist Urania zurück. Bevor sie die Treppe hinaufsteigt, die sie noch von ihrem Vater trennt, beginnt sie zu begreifen, in welchem Maße sich die Eigen-Zeitlichkeit der Geschichte dieser Insel, die sie vom Transitraum ihres Hotels aus noch als etwas gänzlich Abstraktes wahrgenommen hatte, im Haus ihrer Familie, ihres Vaters konzentriert und inkarniert. Das Haus wird zu jener fraktalen Struktur, die es ihr erlaubt, die Totalität einer anderen, ihr verborgen gebliebenen Zeitlichkeit sinnlich zu erleben und damit jenseits abstrakter Diskurse der Lösung ihres Rätsels, der Frage nach den Mikrostrukturen der Macht, näherzukommen. Die literarische Inszenierung des ersten Wiedersehens zwischen Tochter und Vater führt im Krankenzimmer des Patienten das fraktale Muster des Hauses – gerade auch in der augenblicklichen Blendung der Tochter – vor Augen: »La recibe una luz viva, que irrumpe por la ventana abierta de par en par. La resolana la ciega unos segundos; después, va delineándose la cama cubierta con una colcha gris, la cómoda antigua con su espejo ovalado, las fotografías de las paredes – ¿cómo conseguiría la foto de su graduación en Harvard? – y, por último, en el viejo sillón de cuero de respaldar y brazos anchos, el anciano embutido en un pijama azul y pantuflas. Parece perdido en el asiento. Se ha apergaminado y encogido, igual que la casa. La distrae un objeto blanco, a los pies de su padre: una bacinilla, medio llena de orina. Entonces tenía sus cabellos negros, salvo unas elegantes canas en las sienes; ahora, los ralos mechones de su calva son amarillentos, sucios. Sus ojos eran grandes, seguros de sí, dueños del mundo (cuando no estaba cerca el Jefe);
67 Ebd., S. 63 (dt.: Das Fest des Ziegenbocks, S. 64: »Sie betrachtet noch einmal die Schäbigkeit, die sie umgibt. Es ist nicht nur die verblichene Farbe der Wände: alles, die Tischplatte, das Abwaschbecken, der Schrank wirkt geschrumpft, fehl am Platz. Waren es dieselben Möbel? Sie erkannte nichts wieder.«).
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Ottmar Ette pero, esas dos ranuras que la miran fijamente son pequeñitas, ratoniles y asustadizas.«68
Das helle, lebendige Licht, das der Szene von Beginn an etwas Erleuchtendes vermittelt, macht die diametral entgegengesetzte Entwicklung zweier Lebensläufe erkennbar, die doch beide noch immer im Schatten des längst durch ein Attentat beseitigten Diktators stehen. Der einst erfolgreich an der Seite des Gewaltherrschers stehende Vater, der vielleicht – wie die Tochter imaginiert – nicht nur Urania, sondern zuvor auch schon seine Ehefrau dem unersättlichen Trujillo überlassen haben könnte, und die auf ihrem Gebiet nicht weniger erfolgreich in Harvard Promovierte, für die der Chivo, der Ziegenbock, der erste und der letzte Mann war, mit dem sie das Bett teilen musste, sind beide – wenn auch auf unterschiedliche Weise – von einer Macht geprägt, die ebenso schranken- wie gnadenlos über die Insel herrschte. Der am Haus, aber auch am Körper von »Cerebrito« Cabral unübersehbare Verfall dieser Macht kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Eigen-Zeitlichkeit der Insel beide noch immer an diese Macht kettet – so wie für Judas in Umberto Ecos Roman die neunte Stunde des Karfreitags niemals mehr endet. Erst die Rückkehr auf die gleichsam aus dem Meer auftauchende Insel und mehr noch das Betreten des väterlichen Hauses vergegenwärtigen eine Vergangenheit, in der Urania, die sehr wohl die Tochter des Jefe sein könnte, nur deshalb nicht von diesem sexuell besessen wurde, weil die Manneskräfte den allmächtigen Diktator just in diesem Augenblick im Stich ließen. Erst das »lebendige Licht«, das die in Manhattan lebende Anwältin im Zimmer ihres Vaters trifft, wird ihr im letzten Kapitel auch den Mut geben, den weiblichen Mitgliedern ihrer Familie, auf deren Briefe sie zuvor nie ge-
68 Ebd., S. 64 (dt.: Das Fest des Ziegenbocks, S. 65: »Starkes Licht empfängt sie, das durch das weit geöffnete Fenster hereinfällt. Der grelle Schein blendet sie einige Sekunden; dann zeichnet sich allmählich das mit einer grauen Decke bedeckte Bett ab, die alte Kommode mit ihrem ovalen Spiegel, die Photographie an den Wänden – wie war er bloß an das Photo gelangt, das sie bei der Verleihung der Doktorwürde in Harvard zeigte? – und, zuletzt, in dem alten Ledersessel mit Rückenlehne und breiten Armstützen, der Alte in einem blauen Pyjama und Hausschuhen. Er wirkt wie verloren in dem Möbel, Er ist verdorrt, eingeschrumpft, genau wie das Haus. Ein weißer Gegenstand zu Füßen ihres Vaters lenkt sie ab: ein Nachttopf, halb mit Urin gefüllt. // Damals hatte er schwarzes Haar, abgesehen von seinen elegant graumelierten Schläfen; jetzt sind die spärlichen Strähnen seiner Kahlheit gelblich, schmutzig. Seine Augen waren groß, selbstsicher, Herren der Welt (wenn nicht der Chef in der Nähe war); die beiden Schlitze, die sie anstarren, sind klein, maushaft, verschreckt.«).
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antwortet hatte, von jenem anderen Haus, von jener »Casa de Caoba« zu erzählen, hinter deren militärisch bestens gesicherten Mauern jene Intérieurs liegen, von deren Mischung aus Kitsch und Macht Urania nur unter Aufbietung all ihrer Kräfte zu erzählen vermag.69 Denn hier bekam sie die intime Dimension der Macht, aber auch deren Ohnmacht am eigenen Leib zu spüren. Das Haus von Cabral und das Landhaus Trujillos, wo dem Ziegenbock mit schöner Regelmäßigkeit unberührte Mädchen geopfert zu werden pflegen, werden erst im letzten Kapitel des Romans auf raffinierte Weise so miteinander verknüpft, dass die patriarchalische Macht des Vaters, die scheinbar unbegrenzte Macht des Diktators und die nach über drei Jahrzehnten blutiger Herrschaft entstandene GegenMacht einiger verzweifelter Attentäter, die den Chivo just auf dessen Weg zur »Casa de Caoba« und damit zu einer weiteren für ihn arrangierten Defloration erschießen, ineinander geblendet werden. Das Haus des Vaters, wo einst der Diktator die Mutter Uranias heimgesucht haben könnte, und die »Casa de Caoba« Trujillos sind letztlich nicht voneinander zu trennen: Une maison peut en cacher une autre.70 Am Ende der unter Mithilfe ihres Vaters so gut eingefädelten ›Verführung‹ Uranias liegt Trujillo, »el Generalísimo, el Benefactor de la Patria, el Padre de la Patria Nueva, el Restaurador de la Independencia Financiera«71 schluchzend mit seinem »pequeño sexo muerto«72 auf seinem Bett in der »Casa de Caoba«: wie Uranias Vater seinem Ende nahe. Die Insel, die sie im Verlauf ihrer dreißigjährigen Herrschaft durch den lange Zeit geleugneten Massenmord an Haitianern (der die zweigeteilte Insel gleichsam von der Landseite her ›isolierte‹), durch die Enteignung oder Beseitigung gefährlicher Konkurrenten, durch die Folterung und Liquidierung Andersdenkender, durch die systematische wirtschaftliche wie sexuelle Ausplünderung ihres Landes wie ihrer Landsleute schufen, die Insel also, die sie sukzessive in eine Gefängnis- und Folterinsel umgewandelt hatten, war die Insel einer Era Trujillo, die mit Ciudad Trujillo nicht nur die geographischen Benennungen auf den Landkarten veränderte, sondern auch eine ›neue‹ Zeitrechnung zu etablieren trachtete. Trujillos Machtfülle in seiner Insel-Welt wäre ohne den Einblick in die auf diese Weise geschaffene diskontinuierliche, in ihrer Eigen-Logik obsessiv in Szene gesetzte insulare Raumzeit der Era Trujillo nicht zu verstehen.
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Ebd., S. 500. »Ein Haus kann ein anderes verdecken.« Ebd., S. 511. Ebd., S. 510f.
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Im Gewand des Diktatorenromans, aber auch mit vielen Verfahren des historischen Romans führt La Fiesta del Chivo vor, wie die Zeitreise Uranias sich gleichsam in den Weg zu einem anderen Planeten verwandelt, über dessen Lebenswelten und Lebenswissen Urania – aber auch uns würde es nicht anders ergehen – weniger als erhofft aus Abhandlungen über Geschichte, Wirtschaft oder Politik erfährt. Sie sucht nach einem anderen, eine lebendige Vieldeutigkeit in Gang setzenden und daher dem Leben sich annähernden Wissen. Kein Zweifel: Es ist die Literatur, die mit ihrer »luz viva«, mit ihrem verlebendigenden Licht ein Wissen zugänglich macht, das sich erst durch Zirkulation und Artikulation von verschiedenartigsten Wissensbereichen herauszubilden vermag. Vielleicht darf man hierin die eigentliche Macht der Literatur – oder besser: ihre lebendige, rebellische Gegen-Macht – erkennen: ihr Vermögen, eine Welt zu erfinden, die weder von dem, was wir gerne so leichthin als »Realität« bezeichnen, getrennt ist noch mit ihr zusammenfällt. Vom Reich der Fiktion schreibt der peruanische Autor: »Gracias a ella somos más y somos otros sin dejar de ser los mismos. En ella nos disolvemos y multiplicamos, viviendo muchas más vidas de la que tenemos y de las que podríamos vivir si permaneciéramos confinados en lo verídico, sin salir de la cárcel de la historia.«73 Dass Literatur diesseits wie jenseits der Insel Utopia eine besondere Sensibilität, ja Leidenschaft für insulare Strukturen entwickelt hat, dürfte sich kaum bestreiten lassen. Dass diese besondere Beziehung zwischen Literatur und Insel etwas damit zu tun hat, dass sich die Literaturen der Welt als interaktives und produktives Speichermedium von Lebenswissen die fundamentale Vieldeutigkeit von Insel-Welten und Inselwelten zunutze zu machen vermögen, scheint mir ebenso evident wie die Tatsache, dass literarische Texte von einer viellogischen Strukturierung und Orchestrierung geprägt sind. Jenseits starrer Gegenüberstellungen von Realität und Fiktion könnte die wechselseitige Durchdringung von Leben und Erfindung – wobei im letztgenannten Begriff nicht nur das Erfundene, die Lüge oder mit Vargas Llosa »die Wahrheit der Lügen«,74 sondern auch die Erfindung in einem technologisch-naturwissenschaftlichen Sinne mitgedacht sind – uns auf weitaus komplexere Weise von Signifi73 Mario Vargas Llosa: Cervantes y la ficción – Cervantes and the Craft of Fiction, Basel: Schwabe & Co. Verlag 2001, S. 19. (»Dank ihr [der Fiktion] sind wir mehr und anders und bleiben doch die gleichen. In ihr lösen wir uns auf und vervielfältigen uns, leben sehr viel mehr Leben als wir eigentlich besitzen und über die wir verfügen könnten, wenn wir im Glaubwürdigen verblieben und nicht aus dem Gefängnis der Geschichte ausbrechen.«). 74 Vgl. Mario Vargas Llosa: La verdad de las mentiras, Barcelona: Seix Barral 1990.
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kanz und Relevanz eines mit den Mitteln der Literatur verdichteten Lebenswissens überzeugen, das ein Wissen vom und im Leben generiert, welches experimentell gerade auch die Grenzen eines solchen Wissens zum Leben, Erleben und Zusammenleben erprobt. Ohne die relative Autonomie des literarischen Feldes oder die Eigengesetzlichkeit ästhetischer Erfahrung in Frage zu stellen, könnten auf neue, zukunftsorientierte Weise Literatur und Leben, Literaturwissenschaft und Lebenswissenschaft miteinander verbunden werden.75 Es erscheint in diesem Zusammenhang nur als folgerichtig, dass sich die stets an Grenzen erprobende Literatur gerade auch dann für Inseln interessiert, wenn diese aufgehört haben, im eigentlichen Sinne Inseln zu sein. Denn von einer derartigen Kippstellung von Insel und Nicht-Insel aus kann ein besonders erhellendes Licht auf Eilande geworfen werden, welche die Grenzen des Insularen erproben, die Verschränkungen von Inselwelt und Insel-Welt analysieren und nach Inseln als transarealen ZwischenWelten fragen, die sich zumindest auf den ersten Blick doch so selbstverständlich in unsere Stadtlandschaften einfügen.
Die Insel, die keine Insel mehr ist und zugleich Insel bleibt Was bleibt, wenn eine Stadt von ihren Bewohnern verlassen wird? Gewiss: ein centre ville als centre vide. Welche Blicke ruhen aber dann auf der menschenleeren Stadt und legen Zeugnis ab von diesen Augenblicken, diesen Zeiträumen der Leere? Die 1936 in Algerien geborene und im Jahr 2006 durch ihre Aufnahme in die Académie Française nach französischer Lesart ›unsterblich‹ gewordene Schriftstellerin Assia Djebar hat sich im Prolog zu ihrem 1997 erschienenen Roman Les Nuits de Strasbourg dieser Frage am Beispiel der elsässischen Hauptstadt gestellt. Denn Strasbourg wurde im September 1939 in Erwartung angreifender deutscher Truppen evakuiert und blieb ganze neun Monate, bis Juni 1940, als dann tatsächlich nationalsozialistische Verbände kampflos in die Stadt einmarschierten, weitestgehend menschenleer. Doch überall zeichnen sich menschliche Silhouetten in der Altstadt ab. Wiederholt verweist die Erzählerstimme auf all jene Sta-
75 Vgl. hierzu Ottmar Ette: »Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft. Eine Programmschrift im Jahr der Geisteswissenschaften«, in: Lendemains XXXII, 125 (2007), S. 7-32; sowie die fortgesetzte Diskussion zu dieser Programmschrift in den Nummern 126-127, 128 und 129 derselben Zeitschrift.
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tuen, die wie die Kirchen und selbst die Brücken über die Ill den aus der Stadt fliehenden Menschen gegenüber indifferent bleiben.76 So ist das Stadtzentrum von Strasbourg rund um die mit Brücken über das Flüsschen Ill verbundene Insel voller Blicke: »Les statues, elles, ont des yeux. Elles regardent. Elles s’étonnent: l’air a changé, imperceptiblement; la lumière qui, chaque jour d’autrefois, scintillait et dansait pour, peu à peu, s’affaiblir et se terrer, la voici métamorphosée: une abstraction, semble-t-il.«77 Rund um die Insel, die so ganz anders als Manhattan ihre Stadtlandschaft prägt, bilden die Blicke der Statuen in einer entvölkerten Stadt optische Verbindungslinien und Blickfelder aus, denen nichts zu entgehen scheint – auch nicht die Migration der Vögel, die Strasbourg, die Stadt der Straßen, Brücken und Schleusen, plötzlich verlassen.78 Die Statuen aber bewegen sich nicht, bleiben vor Ort, als Augenzeugen. Mit ihrem im August 2008 erschienenen Roman L’Ile aux musées hat die zwischen Paris und Berlin pendelnde französische Autorin Cécile Wajsbrot einen Roman vorgelegt, der uns das Leben der Statuen nicht nur von außen, sondern gleichsam von innen zeigt. In der deutschen wie in der französischen Hauptstadt, in deren Herzen sich mit der Ile de la Cité und der Museumsinsel jeweils eine StadtInsel befindet, bilden die Blicke der Statuen Geflechte, die den achtlos unter oder neben ihnen vorbeieilenden Menschen verborgen und unbekannt bleiben. So heißt es schon im ersten Kapitel des Romans: »Nous montons la garde, même si personne ne nous prête attention – et peutêtre est-il plus facile de veiller quand personne ne regarde. Notre destin est étrange. Avant notre venue au monde, nous sommes l’objet de tractations, de décisions, de revirements, de compromissions, vous vous battez pour avoir le droit de nous donner existence mais une fois que nous sommes là, notre présence s’impose et la vôtre s’efface, les rôles s’inversent – vous êtes les prétextes et l’espace nous appartient. [...] Nous sommes là pour des siècles.«79 76 Assia Djebar: Les Nuits de Strasbourg, Roman, Arles: Actes Sud 1997, S. 12. 77 Ebd., S. 16. (Dt.:»Die Statuen haben Augen. Sie schauen. Sie wundern sich, denn die Luft ist unmerklich anders, das Licht, das früher jeden Tag flimmerte und tanzte, um nach und nach schwächer zu werden und sich zu verkriechen, ist nun verwandelt: Eine Abstraktion, wie es scheint.«). 78 Ebd., S. 30. 79 Cécile Wajsbrot: L’Ile aux musées. Roman, Paris: Editions Denoël 2008, S. 10-11. (Dt.: »Wir stellen Wachen auf, selbst wenn niemand uns Beachtung schenkt – und vielleicht ist es sogar viel leichter, zu wachen, wenn niemand schaut. Unser Schicksal ist seltsam. Bevor wir auf die Welt kamen, sind wir Gegenstand von Mauscheleien, Entscheidungen, Unschlüssigkeiten, Zugeständnissen. Ihr kämpft um das Recht, uns ein Dasein zu geben, aber einmal angekommen, drängt sich unsere Anwesenheit auf und eure
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Die Statuen wissen von den Schlössern und Palästen, wissen auch von jenen Prachtbauten, die erbaut und später zerstört wurden, kennen die Geschichte und viele Geschichten, ohne ins Historische abgeschoben zu sein: »Vous êtes dans le présent. Nous sommes dans la présence.«80 Wie in Guillermo Cabrera Infantes Vista del amanecer en el Trópico wird – wenn auch aus gänzlich anderer, steinerner oder bronzener Perspektive – eine Zukunft vorstellbar, aus der die Menschen verschwunden sind, so wie eine Vergangenheit erscheint, in der die Menschen noch nicht gegenwärtig waren: »Avant, il y avait une île, avant encore, des marais, la terre cernée par les eaux«.81 Doch Stück für Stück habe man die Berliner Insel als Gemüsegarten des Königs, dann als Botanischen Garten und schließlich – auf königlichen Befehl von 1797 – mit Brücken verbunden und in der Folge als Museumsinsel genutzt.82 Noch bevor dann im 19. Jahrhundert das erste, das heute so genannte »Alte Museum«, zwischen 1825 und 1830 auf der Berliner Museumsinsel errichtet worden war, hatte die Museumsinsel – so dürfen wir schließen – folglich aufgehört, eine Insel zu sein. Dieser Gedanke, der eher theoretischer oder epistemologischer Natur zu sein scheint, findet sich sehr wohl in Cécile Wajsbrots zwölftem Roman. Eine der namenlos bleibenden Protagonistinnen der nur skizzenhaft angedeuteten Liebesgeschichten, die sich unter den Augen der Statuen in Berlin und Paris über ein Wochenende entspinnen, merkt zur problematischen Insularität der Insel in der Spree an, sie habe Lust gehabt, sich auf eine Insel zu begeben: »mais c’est une île urbaine qui n’a rien d’insulaire, reliée par des ponts où circulent des voitures«.83 In der Tat: Wenn sich eine Insel durch ihre Diskontinuität in der Land-Wasser-Verteilung und folglich auf der infrastrukturellen Ebene dadurch auszeichnet, dass man das Verkehrsmittel wechseln muss, um sie zu erreichen, dann hat die Museumsinsel in Berlin seit mehr als zweihundert Jahren aufgehört, eine Insel zu sein. Denn sie ist als île urbaine zu einer über eine Vielzahl von Brücken erreichbaren Stadt-Insel geworden. Oder eher zu einer Statt-Insel? Die Stimmen der Statuen präsentieren eine andere Logik, beharren trotzig auf der Insularität
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verblasst. Die Rollen verdrehen sich – ihr seid die Vorwände und der Raum gehört uns. [...] Wir bleiben für Jahrhunderte da.«). Ebd., S. 11. Ebd. (»Früher gab es eine Insel, noch früher Sümpfe. Das Land war eingeschlossen von Wassern«). Ebd., S. 12. Ebd., S. 38. (»Aber dies ist eine städtische Insel, die nichts Insulares an sich hat, verbunden mit Brücken, auf welchen Autos fahren«).
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einer Museumsinsel, von der aus weltweite Bezüge zu anderen Inseln hergestellt werden: »Vous êtes sur une île, vous semblez l’oublier – nous savons qu’il y a des îles lointaines coupées de toute terre, des îles sans pont au milieu de la mer et qu’il faut des bateaux et des heures de bateau pour les atteindre, nous savons que certains n’y arrivent jamais, qu’il y a des naufrages. Nous savons que sur certaines habitent d’immenses statues dont nul ne connaît l’origine.«84
Die Statuen, in deren Gedächtnis sich alles eingraviert, entwerfen eine Insel, die keine Insel mehr ist und zugleich Insel bleibt – und damit Teil wird einer Inselwelt, zu der von Statuen unbekannter Herkunft bewohnte Inseln wie die Osterinsel, die heute zu Chile gehörende östlichste der polynesischen Inseln, zählen. So entsteht im Zeichen der Kulturen der Welt eine multi- und interarchipelische Struktur, welche die Museumsinsel in ihrem Eigen-Sinn (und mit ihrer eigenen Geschichte) mit anderen Inseln und Inselgruppen weltweit verbindet. Doch wie in Guillermo Cabrera Infantes literarischen Reflexionen zum kubanischen Archipel stellt sich die Frage, ob es sich in der Stadtlandschaft Berlins um eine oder um viele Inseln handelt und wo sich im letzteren Falle das hierarchische Zentrum befinden könnte: »Notre île fut gagnée sur les marais, comme toute la ville, les fosses d’écoulement furent asséchées, le terrain aplani, puis des ponts furent construits pour relier les différentes parties de la ville, ce qui en paraît aujourd’hui le centre était alors à l’extérieur et ce qui semble aujourd’hui excentré était la ville même. Sur notre île vous avez construit d’autres îles car les musées sont des sortes de cloîtres dans lesquels vous enfermez l’histoire du temps.«85
84 Ebd., S. 83. (»Sie befinden sich auf einer Insel, falls Sie dies vergessen haben sollten – wir sind uns bewusst, dass es Inseln gibt, die weit entfernt und abgeschnitten von allem Land liegen, Inseln ohne Brücke und inmitten des Meeres, wofür man Schiffe und Schiffsstunden benötigt, um sie zu erreichen. Wir wissen, dass einige nie dort ankommen, dass Schiffe verunglücken. Wir wissen, dass auf einigen riesige Statuen leben, von welchen niemand den Ursprung weiß.«). 85 Ebd., S. 84. (»Unsere Insel, wie die ganze Stadt wurde aus Sümpfen gewonnen. Die Abflussgräben wurden ausgetrocknet, das Terrain planiert. Danach wurden Brücken gebaut, um die verschiedenen Teile der Stadt miteinander zu verbinden. Das, was heute wie das Zentrum wirkt, lag damals außerhalb und das, was heute abseitig erscheint, war die Stadt selbst. // Auf unserer Insel haben Sie andere Inseln errichtet, denn die Museen sind wie Klöster, in denen Sie die Geschichte der Zeit einsperren.«).
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So erweist sich die Berliner Museumsinsel in Cécile Wajsbrots fein gesponnenem Erzähltext in einem doppelten Sinne als eine Insel der Inseln, hat sie sich doch historisch aus der Inselwelt des in Entstehung begriffenen Berliner Stadtgebiets herausgebildet und in der Folge als eine Sammlung verschiedener Museen konstituiert, die als Inseln jeweils über ihre eigene Zeitlichkeit verfügen. Und mehr noch: So wie in Alexander von Humboldts Überlegungen zum Weltbewusstsein die Inselwelt der Ägäis, der Archipelagos, »eine Brücke für die übergehende Cultur gewesen« ist,86 so bildet die vom Denken seines Bruders Wilhelm ursprünglich mitgeprägte Museumsinsel eine Kette von Museen aus, die wie eine Inselkette der Kulturen den kulturellen Brückenschlag von Berlin aus zu den Weltkulturen herstellt. Dies ist ein Brückenschlag, der sich von der zum Weltkulturerbe der Menschheit zählenden Museumsinsel durch das derzeit in der entscheidenden Planungsphase befindliche »Humboldt-Forum« auf dem gegenüberliegenden Schlossareal in einem noch umfänglicheren Sinne auf die Kulturen der Welt hin öffnen wird. L’Ile aux musées lässt uns auf subtile Weise die Berliner Museumsinsel, die aufgrund ihrer Brückenanbindung infrastrukturell aufgehört hat, eine Insel im ›eigentlichen‹ Sinne zu sein, als eine Insel begreifen, die jenseits aller Definitionen Insel bleiben will und bleibt. Denn als Inselbrücke der Kulturen, die aus unterschiedlichsten Inseln hervorgegangen ist, mit den verschiedenartigsten Inseln weltweit in Verbindung steht und auf ihrem Boden höchst differente Museums-Inseln mit ihrer Eigen-Zeitlichkeit beherbergt, bildet sie in ihrer Funktion als ZwischenWelt eine geradezu perfekte InselInsel, in der sich unter der einen Insel andere Inseln abzeichnen. Ihre offene, viellogische Strukturierung, die sich in L’Ile aux musées auf ästhetisch wie ethisch beeindruckende Weise verdichtet, bündelt die Welt einer Insel, die nur von Statuen, nicht aber von Menschen dauerhaft bewohnt wird, die mit schmerzhaften Verlusten und Zerstörungen durch die Geschichte der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts gegangen ist und sich vor diesem historischen, städtebaulichen und politischen Hintergrund als eine urbane Insel-Welt und Inselwelt verstehen darf. Denn nichts, so scheint uns der Roman zu suggerieren, geht auf dieser Insel jemals verloren. In Cécile Wajsbrots Ästhetik der Abwesenheit, in der das Vergangene – wie »David« im Titel ihres Romans Caspar-Friedrich-Strasse – gerade durch die Lücke, die Vernichtung, die Abwesenheit präsent wird, sind die nicht sichtbaren Inseln unter den Inseln, sind die verborgenen Städte unter den Städten immer ins Bewusstsein, ins Weltbewusstsein gehoben.
86 A. v. Humboldt: Kosmos, Bd. II, S. 154.
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Nicht nur mit Blick auf die so andere und zugleich doch vielverbundene Ile de la Cité lässt sich von der Museumsinsel in Berlin, die keine Insel und zugleich eine InselInsel ist, sagen: Une île peut en cacher une autre. Die viellogischen Strukturen dieser Insel unter Inseln bilden auf der Ebene ihrer unterschiedlichen Museen die offene Strukturierung eines Archipels aus, durch den sich die Inseln des vorigen Tages mit all ihren Abwesenheiten, mit all ihren Zerstörungen neu konfigurieren. Damit erscheint es nur als folgerichtig, wenn sich die nicht in die simple Gegenwart, sondern in die gegenüber allen Vergangenheiten wie Zukünften geöffnete Präsenz geholten Statuen, deren steinernes Gedächtnis alles aufbewahrt, ihrerseits als Inseln begreifen: »Nous sommes des îles aussi – pour accéder à nous, il faut nous aborder.«87 In einer so verstandenen Insularität aber liegt, so scheint mir, das Wissen der Literatur, für die die Stimmen der Statuen einstehen: ein unterschiedlichste Kulturen, Räume und Zeiten querendes Lebenswissen bereitzuhalten, das sich aus der transarealen Vernetzung vieler Logiken jenen Bewegungsraum erschafft, in dem – fernab jeder starren Musealisierung – ein Zusammenleben der Kulturen ohne eine Hauptinsel, ohne eine hierarchisierende Leitkultur, möglich wird. In eben diesem Sinne will und darf auch die Literatur als eine mobile, immer neue dynamische Zwischenräume, immer neue sich öffnende Spiel- und Bewegungsräume schaffende Insel der Inseln verstanden werden.
87 Ebd., S. 85.
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Ausstellung zeitgenössischer Kunst: Kunst:
Inseln – Archipele – Atolle. Figuren des Insularen ANNA E. WILKENS Zeitgleich mit der interdisziplinären Tagung »Inseln« war in der Universität Mannheim eine Ausstellung mit Werken zeitgenössischer Kunst zu demselben Thema zu sehen. Die Ausstellung wurde in Räumlichkeiten der Universität nahe dem Tagungssaal gezeigt und war zwei Wochen lang, also etwas länger als die Tagung geöffnet, denn sie richtete sich sowohl an die Tagungsteilnehmenden als auch an eine allgemeine Öffentlichkeit. Interdisziplinarität und Internationalität der Tagung aufgreifend gehören die gezeigten Kunstwerke verschiedenen Gattungen an – Malerei, Fotografie, Video, Installation und Performance –, und rund die Hälfte der beteiligten Künstlerinnen und Künstler kam von außerhalb, zwei davon, die in Berlin leben, nicht-deutscher, namentlich koreanischer und US-amerikanischer Herkunft. Die Idee dabei war, um es ganz kurz zu sagen, zu versuchen, zwei ganz unterschiedliche Erkenntnisweisen zu nutzen und womöglich zu integrieren bzw. einen Dialog zwischen den abstrakten und theoretischen Wissenschaften, hauptsächlich Kulturwissenschaften, und der Praxis des Kunst(Kultur-)schaffens zu ermöglichen und zu fördern. In diesem Beitrag wird in einem allgemeinen einleitenden Teil zunächst knapp angerissen, wie es zu dieser Kooperation kam, es folgen Überlegungen zum unterschiedlichen Erkenntnispotential von Wissenschaft einerseits, Kunst andererseits sowie zu Inseln und Insularität im Allgemeinen. Weiterhin werden die Kunstwerke einzeln vorgestellt, das heißt beschrieben, und ein eventuell zugrunde liegendes Insularitätskonzept herausgearbeitet. Dabei werden mögliche Gemeinsamkeiten zu einzelnen Beiträgen der Tagung bezeichnet. Die Vorgehensweise ist dabei eine kulturwissenschaftliche, vor allem literaturwissenschaftlich geprägte; die Bezugspunkte der künstlerischen Auseinandersetzung mit den Inseln sind hier weniger kunst- als vielmehr 57
Anna E. Wilkens literarhistorisch. Diese Methode legitimiert sich durch die Ubiquität bestimmter kulturell geprägter Inselfiguren, auf die schon Gillian Beer für die Zusammenschau von Literatur und (Natur-)Wissenschaft, im Hinblick auf Inseln, hinweist: »[I]t is not only the transformation but the recursiveness of ideas that produces the significant interplay between literature and science.«1
I. Insel und Raum: Kunst Für die Idee einer Kooperation von Kunst und Kulturwissenschaften ist der spatial turn oder die raumkritische Wende von großer Bedeutung; Raum wird nicht länger nur als Behälter für bedeutungsstiftende Handlungen aufgefasst, sondern als in die Sinnstiftung eingebunden. Nicht länger wird Denken als die Umwelt nur beobachtend, sondern die Körperlichkeit von Menschen und ihre Verortung im Raum wird als zentral für jegliche Wahrnehmung und Erkenntnis begriffen. Körper bewegen sich im Raum. Wie jeweils der betreffende Raum beschaffen ist, in dem sich die Menschen als Körper bewegen, wirkt auf die Wahrnehmung: was wahrgenommen wird und in welcher Weise dann darüber gedacht und gesprochen wird – welche Möglichkeiten zur Bezeichnung der Dinge und der geophysischen oder architektonischen Gegebenheiten vorhanden sind, bestimmt in starkem Maße, was überhaupt gedacht werden kann. Inseln nun sind ohne Raum nicht denkbar, ohne topographische und topologische Vorstellungen, selbst die ubiquitäre Inselmetapher – Isolation als mehr oder weniger abstraktes Konzept – beruht auf räumlichen Konzeptionen und reproduziert diese in der Denkfigur Insel. Inseln sind als konkrete Entitäten aufzufassen, mit je spezifischer dreidimensionaler Ausdehnung, Materialität und Verortung. Das macht sie als Gegenstände nicht nur für die abstrakte Beschäftigung in den Wissenschaften, hier: Kulturwissenschaften, sondern – naheliegend – auch für die Kunst zu einem Gegenstand der Beschäftigung; Kunst geht mit Materie unmittelbar um, in den meisten Kunstgattungen; die haptischen, visuellen oder auditiven Qualitäten der Welt und der Materialien sind immer präsent. Darauf basiert das Wirken der Kunst. Schließlich haftet dem Wort Ästhetik seine Etymologie noch an – das (sinnlich) Wahrnehmbare. Auch
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Gillian Beer: »Discourses of the Island«, in: Frederick Amrine (Hg.), Literature and Science as Modes of Expression. Dordrecht/Boston/London: Kluwer 1989, S. 1-27, hier: S. 5 (Hervorhebung im Original).
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Inseln – Archipele – Atolle. Figuren des Insularen hoch abstrakte Konzepte sind in der Kunst Sujets, jedoch ist sie (fast) immer auch dem Konkreten zugehörig. Besonders Gemälde, Skulpturen, Installationen, Objekte, auch Performances befinden und verorten sich im Raum, viele Werke können ohne den Bezug zum konkreten Raum gar nicht existieren. Sie gehen mit dem Raum eine konstitutive Beziehung ein, und Künstlerinnen und Künstler handeln im Raum so, dass der Raum als Raum überhaupt und als je dieser in seiner spezifischen Beschaffenheit erlebbar wird. Inseln sind in besonderem Maße prädestiniert, Raumbezüge anschaulich zu machen, denn Inselfiguren sind allererst Raumfiguren: gedacht als Entitäten mit distinkter dreidimensionaler Ausdehnung. Neben dem spatial turn ist auch der iconic turn, das Bestreben, in den kulturwissenschaftlichen Disziplinen die Bildhaftigkeit vieler kultureller Erscheinungen stärker in den Blick zu nehmen, eine Voraussetzung der Idee einer Kooperation von Ausstellung und wissenschaftlicher Tagung.
II. Kunst und möglicher Erkenntnisgewinn – Kooperation Kunst und Wissenschaft Max Imdahl formuliert, ein Bild sei »eine solche Vermittlung von Sinn, die durch nichts anderes zu ersetzen ist. Über diese Unersetzbarkeit läßt sich nicht abstrakt diskutieren. Um sie zu gewahren und sich ihrer bewußt zu werden, bedarf es der konkreten Anschauung eines Bildes [...].«2 Was hier über Bilder gesagt ist, lässt sich leicht auf Kunstwerke überhaupt anwenden: Kunstwerke stellen eine solche Vermittlung von Sinn dar, die durch nichts anderes zu ersetzen ist. Kunstwerke lassen sich durch Beschreibung niemals vollständig greifen. Kunst ermöglicht eine Erkenntnis, die nichtbegrifflich ist, sondern im weiteren Sinne kognitiv. Mit dem inzwischen unmodern gewordenen Wort »Erlebnis« lässt sich das vielleicht benennen: eine unmittelbare, subjektiv empfundene, selbsterlebte Erfahrung, die von besonderer Relevanz für das erlebende Subjekt ist.3 Von Bedeutung für die Anwendung des Erlebnisbegriffes auf die Kunstrezeption ist dabei die Zusammengehörigkeit aller Aspekte des Erlebens: »Wenn etwas Erlebnis genannt oder als ein Erlebnis gewertet wird, so ist es durch seine Bedeutung zur Einheit
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Max Imdahl: »Ikonik. Bilder und ihre Anschauung«, in: Gottfried Boehm (Hg.), Was ist ein Bild? München 1994, S. 300-324, hier: S. 300. vgl. Birger Brinkmeier: »Erlebnis« in: Peter Prechtl/Franz-Peter Burkard (Hg.), Metzler Philosophie Lexikon. 2., erweiterte und aktualisierte Auflage. Stuttgart und Weimar: Metzler 1999. S. 154f., hier: S. 154.
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Anna E. Wilkens eines Sinnganzen zusammengeschlossen.«4 Diese Einheit ist dabei gerade nicht analytisch in Einzelteile zerlegbar und die Erlebniseinheit als Sinnzusammenhang ist nicht auf abstrakte Begriffe zu reduzieren und zu objektivieren.5 Gerade in der Verweigerung von Versprachlichung liegt die Chance der Ausdehnung, Vermehrung des Sagbaren, in der unendlichen Annäherung an das NichtIdentische, Nicht-Begriffliche, das sich dem Sagen entzieht: »Die Utopie der Erkenntnis wäre, das Begrifflose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen.«6 Im Dienste dieser Utopie ist das Projekt der Kunstrezeption durch wissenschaftlich Arbeitende zu sehen. Umgekehrt scheint im Diskurs der bildenden Kunst stärker noch als in den Kulturwissenschaften ein unreflektierter Geniegedanke präsent: Kunst als Neuschöpfung des Individuums, aus einem nicht kontrollierbaren irgendwie ›Inneren‹ heraus, das sich nicht reinreden lässt. Das greift offenbar auch auf andere Protagonisten des Kunstbetriebes über; im Extremfall führt das zu Dialogen wie dem folgenden (aus einem Interview): Frage: »Haben Sie sich mit Philosophen, Soziologen oder anderen Wissenschaften befasst, die über [das Thema der Ausstellung, A. W.] reflektieren?« Antwort: »Ich werde mich hüten. Ich will doch selber denken und nicht wiederkauen.«7 Der antwortende Kurator verkennt, dass er Teil einer Kultur mit einer Geschichte ist, dass Denken schlechthin ohne ›Wiederkauen‹ unmöglich ist und sein Ausstellungsprojekt sehr wahrscheinlich differenzierter und fruchtbarer wäre, wenn er nicht meinte, alle Entwicklungen der Kulturgeschichte aus sich selbst heraus reproduzieren oder allererst hervorbringen zu müssen. Vor diesem Hintergrund ist die Wissenschaftsrezeption durch die Kunstschaffenden innerhalb der Kooperation zu sehen; die Künstlerinnen und Künstler der Ausstellung waren selbstverständlich eingeladen, an der Tagung teilzunehmen, einige haben diese Möglichkeit wahrgenommen. Am letzten Nachmittag der Tagung fand ein Werkstattgespräch statt, in dem die anwesenden Künstlerinnen und Künstler zunächst vom Podium aus Fragen aus dem Publikum beantworteten. Anschließend wurden die einzelnen Werke in kleinen Gruppen angesehen und besprochen.
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Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen: Mohr 1990 [1960], S. 72. vgl. Gadamer: Wahrheit, S. 72 und 74. Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, S. 21. René Block: Chronos und Kairos, die Götter der Zeit. Eine Gesprächsmontage von Heinz-Norbert Jocks. Kunstforum Bd. 150 (April-Juni 2000) »Zeit. Existenz. Kunst«, S. 347-353, hier: S. 350.
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III. Inseln In Horst Brunners viel zitiertem Grundlagenwerk zu Inseln in der Literatur – Die poetische Insel – steht die Bemerkung, ungeklärt bleibe weiterhin »die Herkunft des ambivalenten Inhalts der Insel für das menschliche Bewußtsein. Gewiß kommen Inseln in der Wirklichkeit vor, aber für das Bewußtsein des erlebenden Menschen werden sie in den seltensten Fällen ›Inseln‹ sein.«8 Diese recht unauffällig formulierte Beobachtung besagt letztlich nichts anderes, als dass a) kulturelle Inselkonzeptionen mit tatsächlichen Inseln nichts zu tun haben müssen und, noch überraschender, dass b) poetische und sonstige kulturelle Inseln ›inselhafter‹ sind als wirkliche Inseln. Was Inseln sind, wird recht konzise definiert: Sie sind »rings von Wasser umgebene Landstücke, jedoch nicht die Kontinente.«9 Die Beliebigkeit der Setzung der Unterscheidung zwischen Insel und Kontinent deutet sich hier an; auch Kontinente sind ›rings von Wasser umgebene Landstücke‹, nur eben größer. Man halte sich vor Augen, dass Australien als der kleinste Kontinent mit einer Fläche von knapp 7,7 Mio. km2 nur etwa dreieinhalb Mal so groß ist wie Grönland, die größte Insel, mit rund 2,16 Mio. km2. Inseln unterscheiden sich diese Basaldefinition betreffend nicht von Kontinenten, was durchaus öfter bemerkt wird, wie etwa wenn Dening Thoreau zitiert, der an Inseln als an kleine Kontinente denkt,10 oder D. H. Lawrence, dessen Erzähler in The Man who loved Islands emphatisch fordert, Inseln müssten so klein sein, dass man sie mit der eigenen Persönlichkeit vollständig ausfüllen könne, andernfalls seien sie nicht besser als Kontinente.11 Auffällig an dieser zufällig ausgewählten Lexikondefinition ist auch, dass das Lemma im Plural steht – »Inseln« –, was durch die gleich auf die Eingangsdefinition folgende Bemerkung unterstützt wird: »Inseln treten meist gesellig auf«.12 Dies steht unmittelbar dem Isolationsmythos entgegen.
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Horst Brunner: Die poetische Insel. Inseln und Inselvorstellungen in der deutschen Literatur. Stuttgart: J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung 1967, S. 244. 9 »Inseln«, in: dtv-Brockhaus-Lexikon, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1986, Bd. 8, S. 301. 10 vgl. Greg Dening: Beach Crossings. Voyaging across times, cultures and self, Melbourne: Melbourne University Press 2004, S. 13 11 vgl. D. H. Lawrence: »The Man who loved Islands«, in: ders., The Complete Short Stories in Three Volumes, Bd. III, London: Heinemann 1966, S. 722746, hier: S. 722. 12 Inseln, S. 301.
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Anna E. Wilkens Wenn ›Insularität‹ als die Gesamtheit kultureller Inselvorstellungen verstanden wird, die üblichen Klischees vereinend – sie sind überschaubar, beherrschbar, sie sind ein distinkter Ort oder sogar der Ort, sie sind abgeschlossen und isoliert und daraus folgend zeitlos, und nicht zuletzt haben sie einen sonnenbeschienenen Palmenstrand –, dann sollte es hilfreich sein, einen grundsätzlichen Unterschied zwischen der Untersuchung von Inseln und der von Insularität zu machen. Wenn ›Insularität‹ als inzwischen stehender Begriff genommen wird, der nahezu synonym mit ›Isolation‹ oder alternativ ›Isolationsphänomene betreffend‹ verwendet wird, dann haben wirkliche geographische Inseln keineswegs zwangsläufig mit dieser Insularität zu tun. Umgekehrt könnte Insularität auch als eine Eigenschaft verstanden werden, die mit dem Insel-Sein einer Insel unmittelbar zu tun hat, aus ihm folgt und an keinem anderen Ort sowie an keinem anders gearteten Ort (also einem, der keine Insel wäre) sein könnte. Was dabei herauszufinden ist, wird nicht auf eine einzige Insularität jemals zu reduzieren sein; man hätte es mit Insularitäten, stets im Plural, zu tun. Die Annäherung an ›wirkliche‹ Inseln sieht sich allerdings mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass die genannten Insularitätskonzepte sich zwar nicht unbedingt von solchen herleiten, aber umgekehrt auf Inseln projiziert werden, und diese Projektion bestimmt, wie die jeweilige Einzelinsel wahrgenommen wird. Dies betrifft freilich auch die Wahrnehmung durch die auf der Insel lebenden Menschen, die mutmaßlich von dominanter Festlandskultur geprägt ist. Vermutlich werden dennoch Bewohnerinnen und Bewohner des sogenannten Festlands (in welchem Wort gleich die Implikation enthalten ist, Inseln seien nicht ›fest‹ – ähnlich im z. B. Englischen: ›mainland‹; dieses Wort impliziert, die Insel sei das Abgeleitete, der ›andere Ort‹ also: die Heterotopie) Inseln anders wahrnehmen als Inselbewohnende. Brunners Beobachtung, die in der wirklichen Welt vorhandenen Inseln seien in den seltensten Fällen ›Inseln‹ für das Bewusstsein, könnte wie folgt modifiziert werden: Wirkliche Inseln sind dann Inseln, wenn sie als Inseln wahrgenommen werden, weil in diesem Fall zusammen mit der Bezeichnung derselben vorgängige Vorstellungen auf sie übertragen werden. Es bleibt dabei stets unbestimmbar, wo die Grenze zwischen der ›Wirklichkeit‹ der betreffenden Insel(n) und dem kulturellen Anteil der Konzeption verläuft. Sich dieser Grenze aber mindestens anzunähern, wird es notwendig sein, sich der eigenen Standpunkte und Vorannahmen bewusst zu werden, etwa die Perspektive betreffend: Ist der Blick von einer auf dieselbe Insel, von einer auf andere Inseln gerichtet, von der Insel zum Kontinent oder umgekehrt? Wel-
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Inseln – Archipele – Atolle. Figuren des Insularen che Aussagen können über die ›Wirklichkeit‹ der Insel zutreffend gemacht werden? Nicht nur die Lage und die Größe der betreffenden Insel, auch die geophysische Verfasstheit, inklusive eventueller vorgelagerter Riffe, die das Anlanden problematisch machen, die klimatischen Bedingungen, die Meeresströmungen und Windverhältnisse sowie schließlich infrastrukturelle Errungenschaften bestimmen, wie Inselleben sich gestaltet. Inseln können in Flüssen und Seen situiert sein oder im Meer, letztere als entweder kontinentale oder ozeanische, welche Unterscheidung vor allem physiogenetische Aspekte betrifft, wie auch, daraus folgend, Flora und Fauna. Die Entfernung vom nächstgelegenen Festland korrespondiert zwar mit der Unterteilung in kontinental und ozeanisch, ergibt sich aber nicht automatisch aus dieser und muss folglich ein eigenes Kriterium bilden, ebenso wie die Entfernung zu eventuell umliegenden anderen Inseln sowie auch deren Anzahl. Kontinentale Vorstellungen von der Begrenztheit und Überschaubarkeit von Inseln basieren auf der Ausdehnung der betreffenden Landmasse, das heißt, der Fokus liegt exklusiv auf dem Land und ignoriert das Meer. Demgegenüber argumentiert etwa der Autor Epeli Hau’ofa von der südpazifischen Insel Tonga, dass die Lebenswelt der Inselbewohnenden des Südpazifik sich immer weit ins Meer hinein erstreckt hat. Dies impliziert ein weiteres Kriterium der Inselkategorisierung: Wie warm oder kalt Luft und Wasser sind, ist entscheidend dafür, wie sehr das umgebende Wasser als Grenze angesehen wird. Hau’ofa schlägt vor, die Konzeption von den »Inseln im fernen Ozean« (»islands in the far sea«) zugunsten derjenigen vom Meer der Inseln (»a sea of islands«) fallenzulassen.13 Die etablierte Vorstellung sieht einzelne kleine Inseln im unermesslichen Ozean, wohingegen die vom »Meer der Inseln« geeignet ist, die Gesamtheit der Beziehungen zwischen Land und Meer und Inseln untereinander mitzudenken. Rod und Smith weisen darauf hin, dass für die nachaufklärerische Figur der Insel in ihrer Begünstigung des Landes unter Vernachlässigung des umgebenden Meeres gilt, dass die Insel zum »emblem of singularity« – zum Zeichen für das Einzelne schlechthin wird.14 Dagegen sollten vielmehr die vektoriellen (Ette) Bewegungen zwischen den Inseln mit in den Blick genommen werden, um sichtbar machen zu können, dass unter anderem durch die Befahrung
13 Hau’Ofa wird zitiert in: Rod Edmond/Vanessa Smith: »Editor’s Introduction«, in: dies. (Hg.), Islands in History and Representation, London: Routledge 2003, S. 1-18, hier: S. 9. 14 ebd. S. 2.
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Anna E. Wilkens des Raumes zwischen den Inseln dieser Raum sich als ein relationaler konstituiert: Das Meer ist das Zwischen, das die nichthierarchische Relationalität der Inseln ermöglicht, in der das Zwischen mit dem, dessen Zwischenraum es ist, eine untrennbare Einheit bildet bzw. das Wandern zwischen den Inseln über das Meer den Raum allererst bildet, wie Del Prete für Nonos Werk Prometeo darstellt (in diesem Band). Wasser wird also nicht zwangsläufig als Grenze erfahren, sondern auch als verbindendes Element. Es ist übrigens nicht nötig, für den Begriff »Meer der Inseln« Europa zu verlassen; in Dänemark, das aus rund 400 Inseln besteht, existiert ein eigenes Wort für ein Areal, in dem viele Inseln durch Wasser getrennt oder verbunden sind: Øhav – Inselmeer. Auch aus Dänemark stammt ein Beispiel für eine Insel, die zum Versammlungsort (der Wikinger) geworden ist, weil sie so zentral liegt: Samsø – die ›Versammlungsinsel‹. Ob eine Insel einen aktiven oder erloschenen Vulkan hat oder sonstiges Gebirge, oder aber ob sie sich nur wenig über den Meeresspiegel erhebt und bei höheren Fluten regelmäßig überspült wird wie die nordfriesischen Halligen zum Beispiel, ob sie ein Atoll ist oder Teil eines solchen, ist für den Charakter der Insel wichtig und schließlich dafür, wie sie erreicht werden kann, wie auf ihr gelebt und wie sie wahrgenommen wird. Die Nähe oder Ferne zu Schifffahrtslinien und die Bedeutung der Insel als möglicher Knotenpunkt von solchen spielt eine Rolle. Aus der Vergegenwärtigung aller inselspezifischen Kategorisierungen ergibt sich die Einsicht in die eklatante Verschiedenheit von Inseln untereinander, die die Überlegung mindestens anregt, ob es eine universale Insularität überhaupt geben kann. Für eine differenzierte Beschäftigung mit Inseln wäre die Erarbeitung eines Insel-Kategoriensystems hilfreich, worauf jeweils Inseln gleicher Kategorie in Vergleichbarkeit hinsichtlich einer spezifischen Insularität betrachtet werden könnten. Eine Einteilung von Inseln könnte etwa nach folgenden Kriterien erfolgen: Größe, Form, Geomorphologie, Klima, Fauna und Flora, Lebensbedingungen für Menschen (etwa das Vorhandensein von Trinkwasser sowie sonstige Ressourcen betreffend), weiterhin die Verortung, die geographische Lage: Beziehungen zum Meer und zu anderen Landmassen, zu einem Festland oder anderen Inseln, hieraus mindestens partiell folgend die Zugänglichkeit und die Infrastruktur. Die Vorstellungen von Inseln sind im Alltagsdenken diffus und außerdem völlig verschieden, wenn an tatsächliche Inseln gedacht wird, nicht zuletzt aufgrund sehr unterschiedlicher Erfahrungen mit besuchten oder bewohnten Inseln. Es gibt isolierte und abgeschlossene Inseln, es gibt Inseln mit Palmenstränden. Es gibt aber auch
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Inseln – Archipele – Atolle. Figuren des Insularen solche, die so riesig sind, dass sie überhaupt nicht als Inseln begriffen werden können, außer auf Landkarten. Insel-Klischees treffen in den meisten Fällen auf einzelne wirkliche Inseln nicht zu. Die Beschäftigung mit einer möglichen Unterscheidung zwischen ›wirklichen‹ Inseln und kulturellen Inselkonstruktionen resp. -klischees ist freilich vor allem wegen der an letztere anknüpfenden bzw. durch sie motivierten Kolonialisierungs- und Okkupationshandlungen notwendig; und es liegt sogar die Vermutung nahe, dass umgekehrt Inselkonstruktionen mindestens zum Teil vor dem Hintergrund kontinentalen Hegemoniestrebens erst entstanden sind.
IV. Figuren des Insularen : Die Kunstwerke in der Ausstellung 15 Die Beschäftigungen mit Inseln oszillieren in Tagung wie Ausstellung zwischen Inseln als Handlungsräumen und kulturell geprägten abstrakten Inselkonzeptionen sowie Projektionen im Sinne der Brunnerschen poetischen Insel. Das so verstandene Inselthema begünstigt die Beschäftigung mit Vorgängen der Be- und Entgrenzung; die Mehrzahl der vertretenen Werke zeigt oder wirkt durch Ein- und Ausschlussphänomene: Grenzen. Nicht alle der in der Ausstellung gezeigten und hier besprochenen Kunstwerke sind mit einer Abbildung illustriert; gerade jene, die in der Zeit stattfinden, einen temporalen Aspekt haben, wie Video, Videoinstallation und Performance, werden durch Abbildungen schlechter repräsentiert als durch Mittel der verbalen Beschreibung. Die Darstellungen der Werke sind freilich nicht als erschöpfende zu verstehen, vor allem nicht die Interpretation. Einige der Arbeiten sind leichter verbal darzustellen als andere, einige verfügen über genau jene begrifflich unfassbare, dem Kunstwerk anhängende Offenheit, Gleichzeitigkeit und Überlagerung mehrerer Ebenen, die es unmöglich machen, das Werk vollständig sprachlich zu erfassen oder auch nur rational zu begreifen.
15 Die Ausstellung fand vom 11.09. bis 24.9.2008 in den Räumen der Universität Mannheim statt, Idee und Konzept von Anna E. Wilkens, Kuratierung und Organisation von Andreas Wolf, Regine Zeller, Bernd Böhlendorf und Anna E. Wilkens. Gefördert wurde die Ausstellung vom Kulturamt der Stadt Mannheim, der Heinrich-Vetter-Stiftung, der Otto-Mann-Stiftung, den LBBWStiftungen und zwei weiteren Sponsoren, die ungenannt bleiben möchten.
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Anna E. Wilkens Da sich in den Kunstwerken die zum Teil korrespondierenden Ebenen der abstrakten Inselkonzepte und der Insel als Handlungsraum wesentlich schlechter trennen lassen als in kulturwissenschaftlichen Aufsätzen, wird hier auf eine andere Ordnung als die alphabetische verzichtet.
DANIELA BUTSCH (BERLIN) Daniela Butsch I: »Balinesisches Maskentanztheater« Maskentanztheater«, 19881988-89
Fotografien: »Penasare«, »Irrigasi«, »Rajah, Batuan«, »Kopfkostüme, schnell« Daniela Butsch hat 1989 ihre Magisterarbeit im Fach Kommunikationswissenschaft über das balinesische Maskentanztheater geschrieben. Auf einem Stehpult lag diese zur Einsicht aus und war Teil des Werkes, im Zusammenhang mit den vier Fotografien zum Maskentanztheater zu sehen. Dieses Exponat mit Elementen verschiedener Genres – Wissenschaft und Kunst, Schrift und Bild, passend zur Kooperation von Tagung und Ausstellung – weist einige Grenzreflexionen und Grenzverwischungen auf, die mit eurozentrischen Kategorienbildungen einerseits, Inseln andererseits zu tun haben, auch mit metaphorischen ›Inseln‹ der Disziplinen folglich. In der Magisterarbeit ging es der Künstlerin darum, die Bedeutung des Theaters für die politische und soziostrukturelle Organisation des Insellebens auf Bali darzustellen: Das Theater bildet die zentrale ordnende Institution der Gesellschaft, und zwar der Inselgesellschaft, mit einer Organisationsform, die einzigartig ist. Im Zusammenhang mit der Ausstellung und Kunst überhaupt ist diese ganz andersartige Bedeutung der Theaterpraxis ein nicht uninteressantes Faktum; wird doch das Theater in der westlichen Welt, in hiesigen Breiten (Mitteleuropa) dem Kunstdiskurs zugezählt, es wird in den kulturwissenschaftlichen Disziplinen untersucht und verhandelt und hat hier nicht unmittelbar mit Politik zu tun, höchstens in der möglichen Wirkung von ›Kultur‹ auf politisches Denken. Für Bali wäre es unzutreffend, das Theater einem inselhaften Kunstdiskurs ausschließlich zuzuordnen; vielmehr ist hier eine Öffnung einschränkender Definitionen in der ganz anderen Prägnanz solcher gesellschaftlicher Praktiken zu sehen, die in der westlichen Welt in der Kunst ein Inseldasein führen. Nicht nur auf Bali, sondern in allen Kulturen, die nicht dem abendländischen Monotheismus und Kapitalismus angehören, sind gesellschaftliche Organisationsformen bekannt, die hiesig streng getrennte Bereiche genuin integrieren, was oft zu Irritationen in der Reflexion darüber führt. Die Fotografien, die einzelne Szenen oder Situationen der Maskentanztheaterpraxis abbilden, sind darüber hinaus weniger dokumentarisch als vielmehr ihrerseits künstlerisch verfremdet, etwa in
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Inseln – Archipele – Atolle. Figuren des Insularen dem Bild mit dem Titel »Kopfkostüme, schnell«, das einen Kopf mit Schminke, Maske und Teilen der Oberkörperbekleidung erkennen lässt, aber schemenhaft, weil in schneller Bewegung aufgenommen. Aus dem Theater-Kunstwerk (nach westlicher Definition) wird ein anderes und ganz anders geartetes Kunstwerk geboren. Die Insel Bali mit ihrer im besten Sinne insularen gesellschaftlichen Organisationsform wird zum Anlass für Kunst, die wiederum den Anlass bildet, über einerseits insulare Lebensformen, andererseits Disziplingrenzen und eigene gesellschaftliche kulturelle Praktiken zu reflektieren. Daniela Butsch II: »Reisterrassen bei Peliatan« Peliatan«, 1988
Fotografie, 68 x 45 cm
Foto: Daniela Butsch Die Fotografie Reisterrassen bei Peliatan zeigt einen Landschaftsausschnitt, in dem eine grafisch anmutende, geometrisch unterteilte kultivierte Fläche von Dschungel umgeben ist. Abgesehen davon, dass diese Kulturlandschaft sich auf einer Insel befindet, ist der Inselbezug eher abstrakt: Flächen und Grenzen, Einschlüsse und Ausschlüsse. Hinzu kommt, dass Reisfelder bekanntlich unter Wasser stehen, es handelt sich also um eine Wasserfläche auf oder in der Insel. Es ist eine von Land umgebene Wasserfläche, damit also
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Anna E. Wilkens eine Umkehrung der Inseldefinition.16 Und schließlich ist noch ein mindestens assoziativer Bezug zu den Hyperbeln der Inselgrenzen vorhanden: Die Potenzierung der Grenzen, die die Insel in Form von Wasser selbst hat, durch die Grenzen, die von Menschen auf Inseln gezogen werden. Daniela Butsch III: »Archipelago« Archipelago«, 2008
Videodokument, 88 min. Für die Ausstellung in Mannheim hat Daniela Butsch in den Monaten davor einen Film gemacht, der eine Bootsfahrt durch den Stockholmer skärgård (Schärenhof oder -garten) abbildet. Während der elfstündigen Fahrt durch die Schären wurden verschiedene Schären bzw. Inseln angelaufen, auch solche, für die Aufenthalte berühmter Kulturschaffender belegt sind, z. B. Hemsö, eine Insel, die August Strindberg als Vorlage seiner Erzählung Die Leute von Hemsö diente; Bullerö, auf der der Maler Bruno Liljefor sowie Charlie Chaplin, Errol Flynn, Mary Pickford und Zarah Leander Urlaub gemacht haben. Von verschiedenen hartnäckigen Inselklischees des kontinentalen Europa war bereits die Rede; ein Vergleich zentraleuropäischer Inselvorstellungen mit solchen aus Nordeuropa würde vermutlich lohnen – die vielzähligen Inselwelten17 bilden für viele in Skandinavien und Finnland lebende Menschen einen integralen Bestandteil des täglichen Lebens, wie sich nicht zuletzt in der Existenz einiger Wörter zur Bezeichnung dieses geographischen Raums zeigt, die in mitteleuropäischen Sprachen keine Entsprechung haben, etwa im Schwedischen: Die Wörter »inomskär« und »utomskär« bezeichnen die Gebiete zwischen den und außerhalb der Schären; das Substantiv »havsband« bezeichnet den Rand, an dem die Schären aufhören, »zwischen den letzten Schären« oder »am offenen Meer«. Eine differenzierte Untersuchung der eventuell anderen Inselkonzeptionen in Skandinavien sollte allerdings der Tatsache eingedenk sein, dass
16 »Seen sind für Fische Inseln.« Titel einer DVD Sammlung mit Fernseharbeiten von Alexander Kluge von 1997-2008, Frankfurt/Main: Zweitausendeins 2009. 17 Es sei hier an Ottmar Ettes Unterscheidung der Begriffe »Insel-Welt«, die als Totalität verstandene Welt einer Insel meinend, und der »Inselwelt« als das Fragmentarische und Mosaikhafte einer Welt vektoriell vernetzter Inseln erinnert. Vgl. Ottmar Ette: »Von Inseln, Grenzen und Vektoren. Versuch über die fraktale Inselwelt der Karibik«, in: Marianne Braig/Ottmar Ette/Dieter Ingenschay/Günther Maihold (Hg.), Grenzen der Macht – Macht der Grenzen. Lateinamerika im globalen Kontext, Frankfurt/Main: Vervuert Verlag 2005, S. 135-180, hier: S. 137.
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Inseln – Archipele – Atolle. Figuren des Insularen die vielzähligen, wie in Stockholms skärgård, der Küste vorgelagerten Schären und Inseln für viele Skandinavier Urlaubsorte sind und als solche wahrgenommen und konzipiert werden; Astrid Lindgrens Ferien auf Saltkrokan etwa stellt die Ferieninsel nicht maßgeblich anders dar als das für vergleichbare kontinentaleuropäische Werke gelten kann, nämlich als idyllischen Flucht- und Gegenort. Im Inselroman der finnlandschwedischen Autorin Tove Jansson Pappan och Havet ist die ganz typische urbane, kontinentale und zivilisationsmüde Inselsehnsucht thematisiert – Insel-Auswanderer, deren verschiedene Erwartungen an die Insel sich zwangsläufig nicht erfüllen, die Insel stellt sich als Ort heraus, der ganz anders ist als die Projektionen. Auf der Insel fühlen sich die Protagonisten denn auch ganz explizit entfernt von und anders als die »inomskärbor«,18 die innerhalb der Schären Wohnenden – trotz der stets präsenten Schärenwelt gibt es folglich auch in Gegenden mit solchen die Imago von der einsamen Insel.
HOLGER ENDRES (MANNHEIM) »Insel« Insel«, 2008
Performance mit Discman und Luftmatratze Die Performance von Holger Endres am Abend der Eröffnung von Ausstellung und Tagung hat einen leicht verbalisierbaren Aufbau: Der Künstler liegt zwei Stunden lang auf einer doppelt-breiten Luftmatratze und hört mit Discman über Kopfhörer Musik. An den Discman ist noch ein zweiter Kopfhörer angeschlossen, und der Künstler liegt so auf der Luftmatratze, dass eine zweite Person sich neben ihn legen kann – zweiter Kopfhörer und Platz auf der Luftmatratze fungieren als Einladung an die Besucherinnen und Besucher der Eröffnungsveranstaltung, sich neben ihn zu legen und ebenfalls Musik zu hören. In dieser Performance schieben sich zwei besonders den Abstraktionsgrad betreffend sehr verschiedene Ebenen möglicher Assoziation und Interpretation übereinander. Da ist einerseits die klar und simpel anmutende Ebene des Settings sowie der Ausstattung, Luftmatratze und Discman sind zwei Utensilien mit (Insel-)UrlaubsInsignien-Charakter. Ergänzt wird diese Ebene durch das entspannte Liegen und die Musikauswahl: Rhythm’n’Blues, Soul-Jazz, mit freundlicher, gleichzeitig beruhigender wie erhebender Stimmung. So weit ist das schlicht ein plakatives Zitat der klischeehaften Urlaubsausstattung. Auf der anderen Seite eröffnet die Performance fundamentale erkenntnistheoretische Fragen sowie solche
18 Tove Jansson: Pappan och havet. Esbo: Schildts Förlag 2004, Nachdruck der Ausgabe von 1970, S. 36.
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Anna E. Wilkens nach Individualität, Individualisierung und Gemeinschaftlichkeit: Wenn zwei Personen physisch nah beieinander das Gleiche tun, tun sie es dann bereits gemeinsam? Wenn zwei Personen dieselbe Musik gleichzeitig hören, hören sie dann dasselbe? Wie ist es um die Gemeinsamkeit bestellt, wenn das Musikhören synchron erfolgt, die Kopfhörer aber gerade die (verbale) Kommunikation unmöglich machen? Ist dann vom Stattfinden einer nonverbalen Kommunikation zwangsläufig auszugehen, oder müssen für diese andere Faktoren hinzukommen? Ist das Setting der Performance eine Wiederholung des erkenntnistheoretischen Paradigmas des Geistes im Gefäß, des multiplizierten immer gleichen Erkenntnissubjekts? Verschiedene Grenzen überlagern sich hier: die Begrenzung der Luftmatratze, die die zwei Personen einschließt, alle anderen ausschließt, aber dadurch permeabel, dass die Luftmatratze nicht im Meer schwimmt, sondern auf dem Boden liegt, folglich problemlos jederzeit überschritten werden kann; die Grenze des Hörraums des einen Kopfhörers, die durchbrochen wird dadurch, dass beide dasselbe hören; die Grenzen der Körper, die durch die Beweglichkeit des Untergrunds – die Luftmatratze bewegt sich, wenn sich eine der Personen bewegt, welche Bewegungen für die andere nicht nur spürbar werden, sondern in gewissem Maße nachzuvollziehen sind – ebenfalls gleichsam aufgeweicht wird; die Grenze der Kommunikation/Grenze des Individuums, für die prototypisch die Inselmetapher gesetzt wird, die durch die geteilte Erfahrung infrage gestellt wird.
BARBARA HINDAHL (MANNHEIM) »Private Island Refuges/Refugees« Refuges/Refugees«, 2008
Video, 15.38 min, ca. 3x4 m Das Video von Barbara Hindahl zeigt den Blick in einen während des Druckvorgangs geöffneten Tintenstrahldrucker (Epson Tintenstrahl-Drucker R 265), zu hören ist das typische Drucker-Geräusch, unterschiedliche kreischende, stets rhythmisch-repetitive Laute. Gedruckt werden Fotos von Insel-Zufluchten und InselFlüchtlingen sowie Textpartikel aus dem Internet von z. B. GoogleListen von Websites zum Verkauf von Privatinseln und Nachrichten über Bootsflüchtlinge. Die Arbeit kreist um die Doppeldeutigkeit von (Inseln als) Zuflucht bzw. zwei diametral entgegengesetzte Arten von Zuflucht und die jeweiligen Gründe für das Anstreben einer solchen. Auf der einen Seite sind es tatsächliche Flüchtlinge, die in ihren Herkunftsländern verfolgt worden sind oder in extremer Armut leben mussten, auf der anderen sind es die überdurchschnittlich Wohlhaben-
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Inseln – Archipele – Atolle. Figuren des Insularen den, die sich einen Aufenthalt in einem Luxury Resort oder gar ein eigenes solches leisten können. Die mindestens unterstellte Motivation für das Aufsuchen der Zuflucht ist die übermäßige Beanspruchung durch die extrem gut bezahlte Arbeit. Die zwei Arten von Zuflucht können sich auf den gleichen Inseln befinden, direkt benachbart. Die Bilder zeigen die Küsten von Malta, Lampedusa,19 Sizilien oder den karibischen Inseln; Menschen befinden sich in Booten. Das sind einerseits die Flüchtlinge, andererseits die Reichen beim Rafting. Die Boote und die Situation des ›Kampfes gegen die Naturgewalten‹ können sehr ähnlich sein, wenn die Urlauber der Luxury Resorts abenteuersuchend den Wassergewalten im Schlauchboot begegnen und Flüchtlinge in einem ganz ähnlichen Schlauchboot die rettende Insel zu erreichen versuchen. Die Ähnlichkeit und das Verschwimmen der Unterschiede werden unterstützt von der Verwischung der Grenzen der Bildgenres und Darstellungsmodi: ist mit dem Urlaubskatalog der Reichen gewöhnlich die Hochglanzoptik assoziiert, mit den Fotos von Flüchtlingen eher die schlechte Bildqualität, verschwommene Schnappschüsse, aus der Ferne aufgenommen, so verändert Hindahl das Bildmaterial in ihrer Arbeit dahingehend, dass die Darstellungsweisen beider Genres ununterscheidbar werden, vor allem in Richtung auf Unschärfe. Die dem Hochglanz zugeordneten Sujets sind ebenso schlecht erkennbar und verschwommen wie die Flüchtlingsbilder. Unschärfe ist ein Mittel der Arbeit nicht nur auf der Ebene der Bildqualität, auch der Film vom Ausdrucken unterstützt diese, denn während des Druckprozesses sind die Fotos meist nur unfertig zu sehen, schieben sich langsam Form annehmend von unten nach oben, dabei rhythmisch vom Druckkopf und dem hell flatternden Druckkopfband verdeckt, um sogleich nach ihrer Fertigstellung zu verschwinden. Einen Rahmen bildet die unbewegliche Druckeröffnung. In der überdimensionalen Vergrößerung des Druckerinneren in der Wandprojektion entsteht auch hier eine Verfremdung: Der häusliche Tintenstrahldrucker erinnert an Maschinen, etwa einen Industriewebstuhl, in welcher auf Assoziation beruhenden Metapher eine universalere Interpretation des im Film Gezeigten impliziert ist – der uralte Topos vom Geschichtenerzählen als Weben von Geschichten. Die allgegenwärtige Bilderproduktion, hier exemplarisch dargestellt, ist Teil der kulturellen ›Erzählungen‹, der gesellschaftlichen Konstruktionsgeflechte.
19 Lampedusa, »wo sich tagtäglich die hässliche Fratze zeigt, die die SterneFlagge verhüllen möchte«, schreibt entsprechend Christian Luckscheiter (in diesem Band).
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Anna E. Wilkens Die in den gesellschaftlichen Erzählungen als abgeschlossen gedachten Inseln werden zum Ort des Ein- und Ausschlusses. Das Skandalon liegt hier in der herrschaftsbedingten Fabrikation der Limitierung, für die die Insel sozusagen zum Anlass wird, die sie aber nicht selbst aufweist. Die gedachte Insel-Grenze wird hyperbolisch potenziert, sie wird zur Perversion. Es ist das gleiche Phänomen der Herstellung einer tatsächlichen Ummauerung der Insel wie in dem von Regine Zeller besprochenen Kinderbuch von Armin Greder. Ähnlichkeiten bestehen ebenso zum Erzeugen von symbolischen Grenzen auf Inseln durch die ›Entdecker‹ um James Cook, wie von Anne Peiter dargestellt, und eine weitere Parallele kann zwischen den (Private) Island-Luxury Resorts und Elke Krasnys Interpretation der Insularität als Medium des Spektakels der Hypermoderne gesehen werden (alle drei genannten Aufsätze in diesem Band).
ALEXANDER HORN (MANNHEIM) »Ferdinandea« Ferdinandea«, 2008
Öl auf Leinwand, 90x150 cm
Foto: Andreas Wolf
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Inseln – Archipele – Atolle. Figuren des Insularen Ausgangspunkt des Gemäldes von Alexander Horn sind die verschiedenartigen Reaktionen, die »politischen wie touristischen Bizarrerien«, wie der Künstler sich ausdrückt, auf die im Juli 1831 südlich von Sizilien aufgetauchte und nach nur fünf Monaten wieder im Meer versunkene Vulkaninsel Ferdinandea. Diese Reaktionen sind einerseits machtpolitischer Art – vier Nationen stritten sich um den Besitz der Insel. Das fortwährend virulente Problem der Hoheitsbereiche in Gewässern ist hier präsent, es geht also nicht nur um den Besitz der Insel, sondern auch um Herrschaft im Meer. Andererseits wurde die Insel Ziel von Ausflügen, bei denen im Schwefeldampf auf Geröllhaufen gepicknickt wurde. Das Bild zeigt ganz nah am oberen Rand eine Horizontlinie, das ist eine Grenze, die das Bild in einen oberen und einen unteren, einen ober- und einen unterirdischen/-seeischen Bereich teilt. Der untere Teil ist dabei ungefähr achtmal so groß wie der obere, und der obere ist der, der das für Menschen eigentlich Sichtbare abbildet. Durch den unteren Teil zieht sich von oben nach unten fast über die gesamte Fläche in vertikaler Richtung ein Element, das als Fahnenmast zu identifizieren ist. Dieser ›steht‹ auf der Horizontlinie, er ist in ihr verankert, aber nach unten weisend, es ist das pervertierte Signum der Inbesitznahme. Die über die Hälfte der Fläche füllende unregelmäßige Schwärze greift das Motiv Lava auf; die sich unerwartet im unteren Teil des Bildes öffnende Landschaft gemahnt an Jules Vernes Reise zum Mittelpunkt der Erde mit unterirdischen/-seeischen Höhlen und ist andererseits die ›Verkehrte Welt‹ mit einer zweiten Horizontlinie und meerblauer Fläche und Sonnenauf- oder -untergang – sofern der rotorangefarbene Fleck links als Sonne interpretiert wird, was keineswegs zwingend ist. Alexander Horns Gemälde erfüllt ideal die Forderungen an ein Bild, stets mehr zu sein als seine Übersetzung in Begriffe, es verweigert sich der Festschreibung und lässt die Betrachtenden mit der unauflösbaren Verwirrung über die verschiedenen Umkehrungen zurück.
THE KOI – JÖRG JANZER (BERLIN) »Out of Discourse«, 2008
Performance In der Performance von Jörg Janzer, deren oberflächlich identifizierbares Thema die Alzheimer-Krankheit war, ging es auf einer Metaebene um die Grenzen und Bedingtheiten einzelner wissen-
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Anna E. Wilkens schaftlicher Diskurse und Disziplinen und ihre Entgrenzung – und Bereicherung – durch die und in der Kunst.20
ARTUR KURKOWSKI (MANNHEIM) »Die Halligen« Halligen«, 2008
Acryl auf Leinwand, 80 x 200 cm und 50 x 125 cm
»DIE HALLIGEN« 1, LANGENESS, 3. JANUAR 1976 Foto: Andreas Wolf Kurkowskis Arbeit besteht aus drei Polyptychen mit Sujets von nordfriesischen Halligen. Zwei davon haben Fotos von der Hallig Langeneß als Vorlage, die bei der Sturmflut vom 3./4. Januar 197621 entstanden sind. So ist der Titel dieser zwei enger zusammengehörigen Polyptychen denn auch Landunter 1976. Das dritte zeigt eine Warft der Hallig Nordstrandischmoor und trägt keinen eigenen Titel. Die Anzahl der Teile der Polyptychen erinnert an die Anzahl der deutschen Halligen: zehn. Die Begrenzung der Leinwand spiegelt die Begrenzung der Insel bzw. Hallig – quer dazu steht die Fragmentierung, wobei die Fragmente ein Ganzes bilden und als Teile (Fragmente) eines noch größeren Gesamtzusammenhangs gedacht werden können. Die Inter-
20 Zur Ausstellung eingeladen worden war The Koi/Jörg Janzer – ehemaliger Leiter einer psychiatrischen Klinik – mit einer Performance mit dem Titel »Welturlaub«. In dieser hätte er psychische Befindlichkeiten Anwesender zunächst diagnostiziert, um in therapeutischer Absicht die Betreffenden dann auf eine der Diagnose korrespondierende Insel zu schicken. Kurzfristig hat er sein Konzept geändert. Mit Inseln hat sein Beitrag zur Ausstellung schließlich nur in metaphorischer und sehr abstrakter Weise zu tun gehabt. 21 Eines der Fotos zeigt Tadenswarft von der Kirchwarft aus (aufgenommen von Gerda Wilkens), eines zeigt den Blick in die Gegenrichtung: die Kirchwarft von Tadenswarft aus (von Günter Clausen).
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Inseln – Archipele – Atolle. Figuren des Insularen konnektivität der zehn deutschen Halligen ist hier repräsentiert, als Inselgruppe, andererseits die Fragilität der stets von Landunter überspülten Halligen, das aus der Hallig ebenso viele kleinere Inseln macht, wie die Hallig Warften hat: ein Warftenarchipel. Die Aufteilung der großen Bildfläche in kleinere Leinwände greift den Insel-Topos von der Beherrschbarkeit der überschaubaren Landfläche auf und ironisiert ihn. Die Zerteilung des (vielleicht vermeintlich) einen Bildes in viele erlaubt auch, genau jene Teile wegzunehmen, aus dem Bild zu entfernen, die das Land abbilden – hierin kann eine Anspielung auf das bevorstehende Verschwinden der Halligen in nicht allzu ferner Zukunft gesehen werden, geschuldet der globalen Erwärmung und dem daraus folgenden Anstieg des Meeresspiegels.22 Im Phänomen des regelmäßigen Überspültwerdens der Halligen ist eine Variante der Auflösung der festen Inselgrenze zu sehen, der angeblichen klaren Definition des Raumes Insel. Auch durch die Landgewinnung an der gesamten nordfriesischen Nordseeküste, also auch auf/an den Halligen an der dem Festland zugewandten Seite, ändert sich die Land-Grenze stetig. Dem gegenüber steht die Schutzkante, die festgefügte Steinkante mit vorgelagerten Wellenbrecher-Pollern oder Geröll, die eine besonders definierte Grenze auf allen der offenen See zugewandten Seiten bildet. Gerade die nordfriesischen Halligen betrifft ein weiteres Moment der Unbestimmbarkeit der Inselgrenzen: sie liegen im Wattenmeer; bei Ebbe umgibt sie das begehbare Watt – Land, und nicht Wasser. Nach der Definition von Inseln als von Wasser umgebenen Landstücken sind sie dann entweder gar keine Inseln mehr oder aber wesentlich größere Inseln. Und schließlich gibt es ein letztes Element, das die Halligen zur Kippfigur macht: sie bilden zusammen mit den nordfriesischen Inseln einen Halligen- und Inselarchipel.
22 Eine unfreiwillige Affirmation erhielt diese Lesart der Vielteiligkeit der Bilder von Artur Kurkowski durch das Verbot, in den Räumen der Universität Löcher in die Wände zu bohren; es wurden zur Kompensation der festen Aufhängung Power-Klebe-Strips verwendet, die besonders an einer Wand nicht hielten. So lösten sich immer wieder Teile der Polyptychen von den Wänden und fielen herab – in einer unberechneten Vorwegnahme dieses Verschwindens der Halligen. Dies betraf zudem besonders die Darstellung einer Warft von Nordstrandischmoor – gerade das einzige der drei Bilder, dessen fotografisches Vorbild nicht bei einer Sturmflut aufgenommen war, außerdem das einzige zeitgenössische Bild.
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Anna E. Wilkens
GABRIELE KÜNNE (MANNHEIM/LUDWIGSHAFEN) Installation in einem Beet im Innenhof der Universität, mit Pflanzen und 57 Keramiken
Foto: Andreas Wolf Gabriele Künnes Arbeit liegt eine gängige Inselmetapher zugrunde: Garten. Die Künstlerin greift, laut eigener Aussage, den Topos des umfriedeten Gartens als soziale Insel auf. Damit behandelt sie künstlerisch das gleiche Insel-affine Themenfeld, wie Marcus Termeer (in diesem Band): die kulturelle Konstruktion von als begrenzt gedachten, von weiterem Land umgebenen Landarealen als Insel. Gabriele Künne hatte sich als Ort ihrer Installation ein vorhandenes Beet auf dem Universitätsgelände ausgesucht. Das Beet hat etwa die Form eines sehr langen und schmalen Vierecks und erstreckt sich über ca. 3x16 Meter. Es ist von einer ca. 15 cm breiten metallenen Einfassung umgeben. In diesem Beet wurden Pflanzen und 57 gebrannte und glasierte Keramikobjekte platziert; letztere von unterschiedlicher Form, kleine Skulpturen, die einerseits amorph wirken, andererseits klar identifizierbare Formen aufweisen – namentlich kegelförmige, bunt bemalte, wie überdimensionierte Spielfiguren. Leicht sind diese Kegel als Menschen im Garten zu interpretieren, den Rezipientinnen und Rezipienten überlassen bleibt jedoch die Entscheidung, diese als Spielzeuge wahrzunehmen. Eine weitere distinkte Form ist ein vielzählig vorkommender, auf der Innenseite blau glasierter Ring (etwa wie ein Tortenring). Mit der
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Inseln – Archipele – Atolle. Figuren des Insularen Häufigkeit dieses Elements innerhalb der Arbeit ist ein deutlicher Schwerpunkt auf die Kreisform gelegt – der Kreis ist die Form, die am augenfälligsten Einschluss und Zusammengehörigkeit symbolisiert, damit aber auch zwangsläufig das Gegenteil dieser: den Ausschluss all dessen, das nicht zum Kreis, in den Kreis gehört. Auf die klassischen Inselklischees bezogen bedeutet der Kreis Dauer und Stagnation in Unveränderlichkeit: »Stillstand oder fortschrittsloses Kreisen«, wie Brunner schreibt,23 die Unmöglichkeit des Ausbrechens, sei es aus dem Kreis der Zeit oder des Raumes. Die Kreise bzw. Ringe Gabriele Künnes befinden sich dabei in dem metallen umgrenzten Beet, das eckig ist. Angesichts dieser Kontrastierung von Rundung und Ecke, handgeformter, stets leicht unregelmäßiger Keramik und hartkantigem Metall ist die Gegenüberstellung von Organischem wie auch Einzigartigem und auf der anderen Seite maschinell Hergestelltem und Technik, Künstlichkeit überhaupt assoziierbar. Die ›Insel‹ Garten erscheint hier als das ›Natürliche‹ in technisierter urbaner Umwelt, gleichzeitig ist es der überschaubare und beherrschbare Landschaftsausschnitt, dessen tatsächliche Künstlichkeit in der kulturellen Konstruktion des inselhaften Naturschönen verborgen wird.
REINER MARIA MATYSIK (BERLIN) »Seestück mit Inseln« Inseln«, 2008
Installation mit sechs Ventilatoren, transparenter, farbloser Kunststofffolie, drei ca. 10 cm hohe 25x25 cm2 große Plattformen auf Rollen, Knetmasse; Format: 10x3 m Sechs Ventilatoren lassen eine zehn Meter lange und etwa drei Meter breite, leichte und transparente Kunststofffolie sich wellenartig flatternd bewegen. Die Ventilatoren stehen an einer der kurzen Seiten der Folie, die an Ständern ca. 80 cm über dem Boden befestigt ist, im Ruhezustand im gesamten mittleren Bereich der Folie auf dem Boden aufliegt, im bewegten Zustand zwischen 10 cm und etwa einem Meter über dem Boden schwebt. Drei aus Knetmasse geformte kleine Inselmodelle stehen in ausgeschnittenen Arealen der Kunststofffolie, der Ausschnitt der Fläche der betreffenden Insel in etwa entsprechend. Die Inseln sind etwas unterschiedlich groß, die kleinste ist ca. 25 cm hoch, und hat einen Durchmesser von 30 cm, die anderen beiden sind entweder höher oder, die andere, von rechteckiger Form, länger. Die Knetmasse ist mit Speisefarbe in terracottafarben, hellgelb und graubraun eingefärbt; die Farben entsprechen denen von mit Flechten überzogenem Gestein.
23 Horst Brunner: Die poetische Insel, S. 239.
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Foto: Andreas Wolf Matysiks Installation bewegt sich thematisch zwischen Kunst, Künstlichkeit, Konstruktion und Wahrheit und greift damit Fragen der Ästhetik auf, die in der Moderne virulent sind. Assoziativer Ausgangspunkt seiner Arbeit ist das künstliche Wasser der Jim Knopf-Bearbeitungen der Augsburger Puppenkiste; es ist damit ein Element kulturellen, visuellen Erlebens vor allem einer bestimmten Generation wiederum innerhalb einer Kulturgemeinschaft – der deutschsprachigen –, das hier aufgegriffen und verarbeitet wird. Die Formulierung des Konzepts des Werkes durch den Künstler ist als Teil des Werkes anzusehen: »Die wirklichste Inselerfahrung ist möglich, wenn die gesamte Insel in einem Blick vor einem liegt. Also aus der Luft oder eine künstliche Insel umgeben von künstlichem Wasser. Das Flugzeug verändert den Standpunkt und nicht das Objekt der interesselosen Betrachtung. Also künstlich. Und die beste der künstlichen Inseln sollte von künstlichem Wasser umgeben sein. Und das beste der künstlichen Wasser ist nun mal das Lummerlandumgebungswasser der Augsburger Puppenkiste. Kleine Inselchen tauchen aus dem Wellenmeer auf, so wie vor Island 1969 eine neue Insel aufgetaucht ist.«
Die Bezeichnung »Objekt der interesselosen Betrachtung« weist auf ein Kunstverständnis, in dem das Kunstwerk als Gegenstand jenseits jeglicher Zweckrationalität begriffen wird, rein zur ästhetischen Betrachtung, undidaktisch, unpolitisch. Was hier ganz schlicht und etwas kokett formuliert ist, erweist sich bei näherem Hinsehen als Fiktion, gleich der Fiktion von Lummerland und der von reiner Vernunft. Menschliches Sein und Denken ist immer unter den Bedingungen von je bestimmter Kultur historisch verortet, ebenso wie Lummerland ein Ort ist, der für eine bestimmte Ge-
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Inseln – Archipele – Atolle. Figuren des Insularen neration in einer bestimmten Kultur eine besondere Bedeutung hat, Teil des kulturellen Gedächtnisses ist und in diesem wiederum Teil eines Generationengedächtnisses. Kulturelles Gedächtnis ist ohne intersubjektive Konstruktionen und diesen zugehörige Wahrheitsansprüche gar nicht existent. Die Installation wird in verschiedenen Graden der Echtheitswahrnehmung oder – im Gegenteil – Augenfälligkeit der Künstlichkeit erfahrbar, je nachdem, an welchem Standpunkt in Bezug auf die Installation die Betrachterin oder der Betrachter steht. An der Querseite, der schmalen Seite, die den Ventilatoren gegenüber ist, also am weitesten von diesen entfernt, ist die Illusion, an einem Strand zu stehen, ein bewegtes Meer mit dazugehörigem Rauschen vor sich zu haben, am stärksten. Urlaubsgefühle, wehmütige und nostalgische Meeres- und Inselsehnsucht wurden als im Rezipieren des Seestücks von einigen Besucherinnen und Besuchern beschrieben; dagegen ist vor allem von der Querseite aus der Untergrund der Inseln – kleine Plattformen auf Rollen – deutlich zu sehen, immer in der Aufwärtsbewegung der Folie, das illusionäre Meer mit Inseln taucht nur in der Abwärtsbewegung der Folie auf. An der anderen Querseite drängen sich die Ventilatoren der Wahrnehmung unmittelbar auf, sowohl als Geräusch wie durch die Einsicht, dass sie die Wellenbewegung erzeugen. Der Eindruck der Künstlichkeit ist hier am stärksten und die Illusion sogar zur Gänze verschwunden. Der Standpunkt, von dem aus die Installation betrachtet wird, bestimmt über ein Erlebnis zwischen den Polen erhabener Landschaftserfahrung und Trash; das Oszillieren der Augenfälligkeit der Konstruktion regt zur Reflexion über gesellschaftliche Konstruktionen überhaupt an, auch hier freilich wieder jene über Inseln als kleine umgrenzte überschaubare beherrschbare Orte etc.
Foto: Andreas Wolf
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Anna E. Wilkens Pinky & Dr. Brown – Chrish Klose Klose und Thomas Richter (Berlin) »Dream Baggage« Baggage«, 2008
Aktion: Verteilung von Multiples – 250 nummerierte Leinenbeutel mit dem Aufdruck: WAS WÜRDEST DU AUF EINE EINSAME INSEL MITNEHMEN? Die ›einsame Insel‹ ist ein sehr verbreitetes Phantasma des zivilisationsmüden Eskapismus, mindestens in kontinentalen westlichen Industrieländern, wahrscheinlich als vornehmlich urbanes Phänomen. Mit der Frage danach, was auf eine solche Fluchtinsel mitgenommen würde, kommt eine weitere Ebene hinzu: Die Frage kann sich schwerpunktmäßig mehr auf den mitzunehmenden Gegenstand als auf die ersehnte Einöde beziehen, entweder als Frage nach dem Gegenstand, der einer Person am wertvollsten ist – hier ist ›das Wesentliche‹ impliziert, die Besinnung auf das wirklich Wichtige im Leben. Oder es ist die nach der entweder idealistisch oder pragmatisch orientierten Haltung der befragten Person: wird eine Lyrikanthologie mitgenommen oder ein Survival-Kit? Beides würde übrigens gewissermaßen Sinn machen; wie sehr das Bild der einsamen Insel jedoch phantasmatischen Charakter hat und am Ende schlicht die Heterotopie des urbanen Ballungsraumes ist, zeigt sich darin, dass viele der als mitzunehmen imaginierten Gegenstände auf einer wirklichen einsamen Insel unsinnig wären. Als Beispiel sei hier die BBC-Sendung Desert Island Records genannt, in der Gäste ihre acht Lieblingsplatten vorstellen können: Wie wären Platten auf einer einsamen Insel abzuspielen, wenn sie tatsächlich das Epitheton ›einsam‹ verdiente, folglich über keinerlei Errungenschaften der Zivilisation verfügen würde, also weder Strom noch Plattenspieler? Pinky & Dr. Brown verstehen ihre Aktion als Intervention in den Alltag: Die verteilten Taschen breiten sich in der Stadt aus (oder auch weltweit, vereinzelt), die Tasche mit der Frage taucht wie ein Slogan an verschiedensten Orten im öffentlichen Raum auf. Die Frage wird folglich in ganz unterschiedlichen Kontexten gestellt und darum immer neu und auf je andere Weise. Erwünschtermaßen bewegt die Tasche Menschen, die den Aufdruck lesen, zum Innehalten und Nachsinnen über die Fragen, was als wesentlicher Gegenstand im eigenen Leben angesehen wird, ob eine wirklich einsame Insel wirklich ein Wunschort ist: Nachdenken also über das Leben im urbanen Raum und den Zivilisationsüberdruss und das sich auf dieses beziehende Phantasma der einsamen Insel als eskapistischen Gegenentwurfes sowie die tatsächliche Lebbarkeit desselben. Für diese Frage ist dabei die Tasche ein idealer Bedeutungsträger: Die Vorstellung liegt nahe, genau das, was in die Tasche passen würde
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Inseln – Archipele – Atolle. Figuren des Insularen wäre mitzunehmen, oder auch: das, was sich zum je gegenwärtigen Moment in der Tasche befindet, ist das Mitzunehmende.
HARALD PRIEM (MANNHEIM) »InselInsel-Begabung« Begabung«, 20042004-2008
Fotodokumentation einer Schiffbauwerkstatt auf der Insel Kalymnos in der Ägäis. Analoge und digitale Fotografie auf Fotopapier, diverse Formate: 20x30 cm, 40x60 cm, 60x90 cm
Foto: Harald Priem Die Serie von insgesamt 37 Fotografien von Harald Priem ist in vier aufeinander folgenden Jahren jeweils im Sommer entstanden. Zu sehen sind auf den Fotos unterschiedliche Situationen beim Holzschiffbau auf der Werft im Ort Lafasi auf der Ägäis-Insel Kalymnos. Es sind Schiffe in unterschiedlichen Graden der Fertigstellung oder Reparatur abgebildet, meist an Land, aber auch zu Wasser, gerade vom Stapel gelassen, oder eine Gruppe von Männern, die soeben im Begriff ist, ein Schiff ins Dock zu ziehen. Auf einigen der Bilder ist Landschaft zu sehen, vor allem Strand- oder Küstenlandschaft, einige sind Nahaufnahmen, die Ausschnitte von Himmel und Schiffsrumpf zeigen, und zwar in solcher Weise, dass sich ein fast abstrakt anmutender Gesamteindruck ergibt. Andere Fotos zeigen Detailaufnahmen von Schablonen und verschiedenen Geräten, Männer beim Vermessen, Sägen, Schleifen, Streichen. Die Fotoserie wird von einer Karte begleitet, auf der die Insel Kalymnos verzeichnet ist, sowie von einem Text mit einer Erklärung und assoziativ aneinandergereihten Wörtern, die sich auf den 81
Anna E. Wilkens Schiffbau auf Kalymnos beziehen: Harald Priem deutet für seine Arbeit den psychologischen Terminus »Inselbegabung« so um, dass er nicht mehr eine Beeinträchtigung, sondern eine Begabung bezeichnet, die – als Hypothese oder Denkfigur – den Bewohnerinnen und Bewohnern von Inseln als inselspezifisch eigen sein könnte. Die Wortliste: »Erfahrung, Speicherung, Erinnerung, Verkapselung, Öffnung, Vernetzung, Abwägung, Begrenzung, Abgrenzung, Autonomie, Unabhängigkeit, Eigenverantwortung, Insel-Begabung« greift den gleichzeitig einschränkenden wie Möglichkeiten eröffnenden Gedanken der Insel-Begabung auf und bezieht sich deutlich erkennbar auf klassische Insel-Topoi. Der Holz-Schiffbau auf der Insel Kalymnos hat eine lange Tradition,24 und die Werft in Lafasi ist eine der zwei letzten griechischen Werften für Skelettbauweise mit Holz. Im Hinblick auf Inseln und die Denkrichtung Priems liegen die Fragen nahe, wieso sich der Schiffbau hier entwickelt hat und auch, warum er sich so lange und heute noch gehalten hat. Ein bemerkenswerter, aporetisch erscheinender Aspekt dabei ist, dass alles Holz für den einzigartigen Holzschiffbau auf der Insel importiert werden muss. Hierzu sind und waren schon immer Schiffe notwendig. Auf der Insel ist also etwas entstanden, das zwingend auf etwas von außen angewiesen ist, und es ist genau das Entstandene, das diese Versorgung von außen ermöglicht.
IRA SCHNEIDER (BERLIN) Ira Schneider I: »Manhattan IIsland sland Boat Ride« Ride«, 1974/2006
Videofilm Der Videofilm Manhattan Island Boat Ride war ursprünglich Teil einer sehr frühen Multikanalvideoinstallation von 1974 mit dem Titel Manhattan is an Island; in der Ausstellung »Figuren des Insularen« wurde der Film auf einem Fernsehmonitor gezeigt und hatte ohne den Kontext der Installation, für die er gedreht worden war, mehr dokumentarischen Charakter, dokumentierend dabei sowohl die Insularität Manhattans wie auch gewissermaßen einen Teil der Videoinstallation.25
24 In der Ilias werden kalydnische Schiffe genannt (2. Gesang, Rhaps. B, Vers 677); Kalymnos ist eine der drei kalydnischen Inseln. Auch bei Herodot werden kalydnische Schiffe erwähnt (Buch 7, Vers 99). 25 Die Installation wurde in »The Kitchen« in New York gezeigt. Sie bestand aus insgesamt 20 Monitoren, die um und in einem auf den Boden gezeichneten Umriss Manhattans angeordnet waren. Um diesen Umriss herum standen sechs Monitore auf hohen Sockeln, auf denen verteilt der Film zu
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Inseln – Archipele – Atolle. Figuren des Insularen Manhattan ist weltweit als der sowohl räumlich wie auch ideell zentrale Teil New Yorks, als der metropolitischste Teil einer der bedeutendsten Metropolen der Welt bekannt. Dass es darüber hinaus auf einer Insel situiert ist bzw. eine ist, steht bei diesem Wissen nicht im Vordergrund oder ist gar nicht im Bewusstsein verankert. Eingedenk der politisch-geographisch bedeutsamen Diskussionen darum, wann eine Insel als Insel zu definieren sei, ob sie ihren Inselstatus verliert, wenn sie durch Brücken und Tunnel mit dem Festland verbunden ist, ist zu fragen, ob Manhattan überhaupt als Insel angesehen werden kann, außerdem, ob New Yorker selbst Manhattan als Insel im eigentlichen Sinne verstehen. Außer Diskussion steht demgegenüber aber der metaphorische Insel-Charakter Manhattans, indem dessen Bewohnerinnen und Bewohner mit arrogantem Stolz ihre »Insel«-Insel nicht zugunsten von etwa Brooklyn verlassen wollen. Es besteht ein deutliches Gefälle zwischen dem Wunsch, aus anderen Teilen New Yorks nach Manhattan die Brücken zu überqueren, und dem, aus Manhattan heraus andere Stadtteile vorübergehend aufzusuchen. Ira Schneiders Film von der vollständigen Umrundung der Insel Manhattan macht die geographische Insularität augenfällig – und wirft die Frage nach der metaphorisch zu begreifenden Insularität des durch menschliches Verhalten abgeschlossenen Raumes auf sowie die auch im Beitrag von Daniel Graziadei behandelte Frage, was Grenzen von Stadtteilen oder Stadtzentren mit den geographischen Grenzen zu tun haben. Eine weitere grundsätzliche Frage zu Inseln thematisiert auch dieses Werk: die nach dem Zustandekommen der Wahrnehmung von Inseln als Inseln. Der Videofilm von der vollständigen Umrundung der Insel Manhattan mit dem Boot hat eine Länge von rund zweieinhalb Stunden; um anhand des Filmes zu sehen, dass Manhattan vollständig umrundbar ist als Insel, wäre also ein entsprechender Zeitaufwand nötig. Niemand hat in der Ausstellung so lange vor dem Monitor ausgeharrt, es ist auch fraglich, ob jemals irgendjemand den Film in vollständiger Länge am Stück gesehen hat (mit Ausnahme des Künstlers selbst). Abgesehen davon, dass davon auszugehen ist, dass vermutlich Tausende oder Hunderttausende von Menschen die Insel Manhattan auf der Sightseeing-Bootsfahrt sehen war, der bei »Figuren des Insularen« in Mannheim gezeigt wurde. Auf den weiteren 14 Monitoren waren Uptown, Midtown und Downtown, Aufnahmen von Spaziergängen Ira Schneiders sowie solche aus öffentlichen Verkehrsmitteln und Pkws und schließlich auf einem Monitor Luftaufnahmen von Manhattan zu sehen. Vgl. Hans Dieter Huber: Laudatio für Ira Schneider anlässlich der Verleihung des Hannah Höch-Preises, 3. November 2006, Berlin. www.hgb-leipzig.de/ARTNINE/huber/aufsaetze/schneider. pdf 11.07.2009.
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Anna E. Wilkens tatsächlich umrundet haben, und so die Insel als Insel erfahren konnten, ist beim Blick auf den Monitor im Vorübergehen eine Großstadt mit Hochhäusern vom Wasser aus zu sehen, kommentiert von einer körperlosen, unverständlich quäkenden Stimme. Dass es sich um einen Ausschnitt der Umrundung Manhattans handelt, dass Manhattan eine Insel und der Kommentar der eines Fremdenführers auf einem Boot ist, ist ein kognitiver Schluss, nicht ein Inhalt des Films. Ira Schneider II: »Islands and Beaches« Beaches«, 2008
Videoinstallation, fünf kleine Monitore in Augenhöhe auf Stahlgestellen Islands and Beaches ist eine Zusammenstellung von an Stränden aufgenommenen Videofilmen aus drei Jahrzehnten von verschiedenen Stränden bzw. Inseln weltweit. Die fünf Filme wurden auf fünf parallelen Monitoren im Abstand von ca. zwei Metern nebeneinander gezeigt; die Filme haben eine Länge von rund zehn bis rund fünfzehn Minuten. Aus den 70er Jahren stammen drei Filme: Hamptons, Long Island von 1977 (14.32 min), Bali, Java, ebenfalls von 1977 (9.04 min), sowie Southern California, 1979 (14.43 min). Aus den 1980ern ist ein Film, der einen Strand der Copacabana (1988; 12.12 min) zeigt, der neueste ist am Cap Verde, Great Barrier Reef, Brasilien aufgenommen (2008; 11.45 min). Die Zusammenstellung von Bildern von Stränden – solchen von Inseln und solchen an den Rändern des Kontinents – greift einen der bekannten Inseltopoi auf, nämlich den von der zwangsläufigen Meinung (von Kontinent-Bewohnerinnen und Bewohnern der sogenannten westlichen Welt jedenfalls), dass die paradiesische Traumund Fluchtinsel unbezweifelbar über Strände verfügen müsse. Der Strand wird hier gleichsam zum Signum von »Insel«. Dem Film vom Strandleben ist nicht anzusehen, ob der Strand den Rand einer Insel oder eines Kontinents bildet. In der Installation kommt ein weiterer Faktor der Unsicherheit dadurch hinzu, dass der Film von Long Island überwiegend Szenen in einem Garten zeigt – New Yorker Sommerfrische der Siebziger – hier ist dem im Film Gezeigten die Insel ebenfalls nicht anzusehen, und dies noch ohne den InselTopos ›Strand‹. Analog dem Wissen um die Insularität Manhattans ist es das Wissen um die Insularität Long Islands (hier im Namen des Ortes: »Island«, gleichsam als Paratext), und der von Bali und Java. Die Strände von Cap Verde, der Copacabana und Südkaliforniens erhalten ihre Insularität genau umgekehrt: über den Topos ›Strand‹, also qua Assoziation und dem Wissen entgegen.
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Inseln – Archipele – Atolle. Figuren des Insularen Hamptons, Long Island, 1977
Videostill: Ira Schneider Greg Dening reflektiert in seinem Buch Beach Crossings über die Bedeutung von Stränden, mehr historisch denn zeitgenössisch, hauptsächlich solcher des pazifischen Inselmeeres, als ZwischenRaum, Grenz- und Übergangsraum, als Zone der Begegnung der Neu-Hinzukommenden mit den Schon-Dagewesenen. Die Vorfahrinnen und Vorfahren der letzteren müssen dabei, das gilt mindestens für Inseln, auch irgendwann den Strand als Neu-Hinzukommende überquert haben. Diese Bedeutung von Stränden als solche Begegnungs- und Verhandlungszonen (sowie Stätten von Massakern und Genoziden) ist – wie Anne Peiter in ihrem Beitrag zeigt – vornehmlich historisch: An Küsten ohne Hafenanlagen konnte nur dort gelandet werden, wo ein Strand das Anlegen ermöglichte. Folglich ist der Strand das erste von Ankömmlingen betretene Land, heute sind es Flug- oder Seehäfen. Es ist außerdem davon auszugehen, dass bei diesen StrandBegegnungen der Entdecker, Okkupanten und Forscher Neuankommende von Schondagewesenen leicht zu unterscheiden waren; das ist heute nicht mehr der Fall, denn nicht zwingend unterscheiden sich Touristen von Einheimischen, so mindestens in den Filmen von Ira Schneider. Strände sind Räume, die Grenzen sind und gleichzeitig zwischen zwei Grenzen liegen: »a double-edged space, in-between; an exit
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Anna E. Wilkens space that is also an entry space; a space where edginess rules.«26 Dening assoziiert mit ihnen Katharsis und Übergang, und er prägt von dieser Überlegung ausgehend den Strand als Metapher für das Leben selbst, diese Metapher dabei abgrenzend gegen die verbreitete vom Leben als Sonnenurlaub. Vielmehr sei menschliches Leben wie der Strand ein Rand-Raum zwischen zwei Unbekannten, dem Vorher und dem Danach; alles Leben sei in diesem Sinne eine Überquerung.27 In dieser temporalen Interpretation ist der Strand – wie das Leben – zwischen Chronos als Voranschreiten von einem Jetzt zum nächsten, vom Nun zum Nun, und Kairos als dem herausgehobenen glücklichen Augenblick oder Moment der Entscheidung angesiedelt. Und in einem großen assoziativen Bogen gerät der Strand damit in symbolische Nähe zur Insel überhaupt, die einerseits als Chronotopos, an dem Ort und Zeit zusammenfallen, weiterhin als Ort ohne Zeit oder eingefrorenes Jetzt und drittens, in einer selteneren Interpretation als Kairos aufgefasst wird. In kultureller Konstruktion besteht eine große Affinität zwischen Stränden und Inseln, weil letztere umstrandet imaginiert werden und sie in symbolisch-metaphorischer Auffassung mindestens Überschneidungsräume, wenn nicht Identität aufweisen.
FRITZ STIER (MANNHEIM) »Inter Islands« Islands«, 2008
Video (Projektionsinstallation), 5 x 1,4 m
Videostill: Fritz Stier
26 G. Dening: Beach Crossings, S. 16. 27 Vgl. G. Dening: Beach Crossings, S. 18.
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Inseln – Archipele – Atolle. Figuren des Insularen Auf eine fünf Meter breite, rechteckige Fläche aus schwarzem Karton wird ein Videoloop von Wellen projiziert. Die Wellen sind dabei eindeutig nicht an einer Küste, einem Strand, sondern mitten im Meer. Zu hören ist Meeresrauschen, gewaltiges Donnern der Wellen. Die Projektion auf schwarzen, nicht weißen, Karton impliziert ein nächtliches Szenario, mit Mondlicht. Der Künstler selbst denkt sich sein Werk als bewegte Malerei. Inter Islands – zwischen den Inseln ist in mehrerlei Hinsicht weit entfernt von den malerischen Traumstränden der Imagination und der Urlaubskataloge. In der gedachten räumlichen Entfernung des Mitten-im-Meer von der Küste, nächtlich dunkel statt sonnenbeschienen und in der steten Bewegung fern von Ruhe des Urlaubsstrandes und der Sicherheit des festen Landes. Stier geht es um die Evokation der archaisch anmutenden Naturgewalt als des Unbeherrschbaren und Bedrohlichen, jenseits menschlicher Ordnung. Es ist das Gegenteil der fest umrissenen, überschaubaren und abgeschlossenen Insel: die Unendlichkeit, die Abwesenheit eines Orientierungspunktes, das Fließende, Dynamische, das Grenzenlose, also etwas diametral Entgegengesetztes, aber dieses grenzenlose Meer ist genau das mit Inseln untrennbar verknüpfte: »On islands, unlike continents, one is always aware of the sea at one’s back«, wie Edmond und Smith das formulieren.28 Das existenzielle Entsetzen angesichts der Unendlichkeit gerade auf einsamen Inseln ist auch literarischer Topos, etwa in D. H. Lawrences The Man who loved Islands, der die Einsamkeit und die Leere des ihn Umgebenden, schließlich die Gewaltigkeit des Universums, nicht aushält auf der ersten der drei von ihm im Verlaufe der Erzählung bewohnten Inseln, auf der dritten und kleinsten lässt sie ihn, in mindestens einer möglichen Interpretation des Textes, verrückt werden.29 Auch in anderer Weise wird die Zusammengehörigkeit von Inseln und Meer thematisiert, etwa in der bereits genannten Beschreibung der pazifischen Inselwelt durch Epeli Hau’ofa als »Meer von Inseln«. Noch prägnanter wird dies vielleicht in einer Formulierung Denings, der konstatiert, dass die Inselwelt des (Südwest-)Pazifik das Meer einschließe,30 das ist mithin eine Umkehrung.
28 R. Edmond/V. Smith: Introduction, S. 2 29 Vgl. D. H. Lawrence: The Man, S. 724 und 743ff. 30 G. Dening: Beach Crossings, S. 2: »For three thousand years this sea people has made a sea of islands their own. Samoa, Tonga and Fiji enclose that sea. The sea people sail the 1000-mile circuit of the sea and its 300mile ocean stages with confidence.«
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Anna E. Wilkens
ALEXANDER C. TOTTER (BARCELONA/BONN) »Projekt Drift: Floating Landmarks, Kantstikkur & Co.« Co.«, seit 2001
Fotografie, Objekte
Foto: Alexander C. Totter Von Alexander Totter war in der Ausstellung eine Serie von Fotos zu sehen, die sein im Jahr 2001 begonnenes Projekt Drift dokumentieren. Dieses Projekt ist schwer in ein Genre einzuordnen, es bewegt sich etwa zwischen Land-Art und Intervention. Der Ort ist Island und zunächst das die Insel umgebende Meer. Eine Reihe von Pfählen erstreckt sich von einem Punkt im Landesinneren bis zum Meeresufer, wo die Pfähle von im Meer schwimmenden Bojen abgelöst werden. Die Pfähle erinnern gleichzeitig an Wegmarkierungen wie an Streichhölzer, gelblich mit rotem Kopf (deshalb Kantstikkur), außerdem greifen sie assoziativ einen historischen (9. Jh. n. Chr.), rechtlich-bedeutsamen Kultgegenstand der erstbesiedelnden Wikinger auf, das sind die Hochpfeiler des in Norwegen verlassenen Hauses des Clanchefs, die bei Sichtung des neu zu besiedelnden Landes – Island – ins Meer geworfen werden, ihr Anlandepunkt den von den Göttern bestimmten Ort der Besiedelung bezeichnend. Die Pfähle landen in der Gegend des von Ingólfur Arnarson gegründeten Reykjavik. In einer zweifachen Umkehrung werden bei Totter diese Pfähle erstens säkularisiert und zweitens zu Wegweisern auf dem Land, nicht im Meer. Der Künstler selbst verortet seine Arbeit Drift innerhalb der Beschäftigung mit Inseln überhaupt, als Studien-Reiseführer seit den 1990er Jahren hat er eine Reihe von Atlantik-Inseln besucht und seither über die verbreitete Insel-Sehnsucht nachzudenken begon-
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Inseln – Archipele – Atolle. Figuren des Insularen nen. Der erste seiner Ansatzpunkte ist die Nähe der Inseln zum Meer: Da Inseln per definitionem von Wasser umgeben sind, sind sie von diesem nicht zu trennen, und ohne das Meer gibt es gar keine Inseln. Daraus folgt, dass nur Menschen, die das Meer lieben, sich Inseln als Urlaubsorte suchen. Die Fortsetzung des Weges auf dem Land, markiert durch die Pfähle, ins Meer hinein, die Bojen, ist eine Überschreitung und Nivellierung der Grenze zwischen Land und Meer. Der Weg geht weiter. Ein weiterer Bezugspunkt der Überlegungen des Künstlers ist die Suche nach Authentizität; Inseln entsprechen – so die durch verbreitete und oftmals gehörte Meinungen leicht nachvollziehbare Überlegung Totters – dem Klischee des unverfälschten Lebens, gern wird die Nähe zur Natur in diesen Inseltopos integriert. Damit wird die Insel in Totters Arbeit zur Metonymie der unerfüllten Wünsche schlechthin. Und schließlich ist es die Meinung, Inseln seien überschaubar, gesellschaftliche und geographische Verhältnisse auf ihnen von geringerer Komplexität und daraus folgend leichterer Verstehbarkeit als entsprechende Verhältnisse auf dem Kontinent. Demgegenüber steht die Instrumentalisierung der Inselklischees durch die Tourismusindustrie, die den eventuell vorhanden gewesenen tatsächlichen Entsprechungen der Klischees zerstörerisch entgegenwirkt: Wenn Millionen von Menschen mit dem Ziel der Identitäts- und Authentizitätssuche auf Inseln Urlaub machen, ist es mit der Ursprünglichkeit und irgendeiner ›Natürlichkeit‹ schließlich nicht mehr weit her, und wenn dies weltweit in gleicher Weise und in einer weltweiten Vernetzung der Tourismusindustrie geschieht, verschwindet die mögliche Einzigartigkeit einer Insel in der Uniformität der überall gleichen Verhältnisse. Als kontrastierendes Prinzip gegen solch zweckrational motivierte Vereinnahmung der Insel durch den Kapitalismus (im weitesten Sinne; Tourismus als ein Auswuchs desselben verstanden) steht das Drift-Element der Arbeit: Sind die Pfähle am Meeresufer angekommen, werden sie zu Bojen, die nicht befestigt sind, keinen Untergrund haben und folglich frei treiben. Totter greift hier die englische Bezeichnung Drifter auf: jemand, der sich treiben lässt, ein Ausdruck, der negativ besetzt ist, denn der Drifter handelt nicht zweckrational wertschöpfend, sondern sich ehrgeizlos dem Zufall überlassend, träumend. Das kreative Potential des Drifters wird in Totters Arbeit beschworen. Wider die stetig zunehmende Geschwindigkeit des Turbokapitalismus enthält Drift ein Moment der Entschleunigung, denn da die Pfähle in unbefahrbarem Gelände stehen, ist langsames Erlaufen des Weges nötig. Die Bojen lassen sich in ihrer Geschwindigkeit und Richtung gar nicht beeinflussen. Noch einmal das Clanpfeiler Motiv aufgreifend, legt die Arbeit nahe, das Sich-treiben-Lassen könne eine Art sein, die Insel – me-
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Anna E. Wilkens tonymisch für die Erfüllung der Wünsche stehend – am Horizont auftauchen zu lassen.
Foto: Alexander C. Totter KONSTANTIN VOIT (MANNHEIM) »Treasure Island« Island«, 2008
Spray auf Leinwand, 60x80 cm
Foto: Konstantin Voit
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Inseln – Archipele – Atolle. Figuren des Insularen Mit aus einem Repertoire von inzwischen über 3000 Schablonen auf Leinwand gesprayten Bildern arbeitet Konstantin Voit an einem langjährigen Projekt, das er selbst Malfabrik nennt. Programm der Malfabrik sind zwei Elemente: »Kunst für alle!« einerseits sowie andererseits die Sujets, die sehr häufig leicht verfremdete und aus dem Zusammenhang gerissene Logos und andere Icon-artige Elemente des Marktes sind, auch Flaggen und Emblem-ähnliche Formen, die aus Kontexten der Vervielfältigung stammen oder sich dafür eignen. Die Bilder sind zwischen Kunst mit Erhabenheits- und Unikat-Anspruch und dem vieltausendfach reproduzierten WegwerfDesign nicht fix einzuordnen. Diesem Malfabrik-Genre gehört auch das Treasure Island betitelte Bild in der Insel-Ausstellung in Mannheim an. Passend zur Kooperation von Kunst und Kulturwissenschaften, mit Schwerpunkt auf Literaturwissenschaften, ist der gleichnamige Roman von Robert Louis Stevenson Ausgangspunkt des Bildes. Bedeutsame Gegenstände aus dem Buch sind als distinkte Formen in Schwarz und Gelb mit etwas Weiß per Schablone auf die magenta- und pinkgrundige Leinwand gesprüht, in der Anordnung einer Schatzkarte ähnlich. Links eine Figur, die als Pirat zu identifizieren ist, Jolly Roger auf dem Dreispitz, Augenklappe, Säbel in der rechten Hand, Pistole in der linken, breiter Gürtel mit eingestecktem Dolch, Patronengürtel kreuzweise über der Brust und Stiefel. Umgeben ist die Piratenfigur von kleinen Kreisen, sogleich als geprägte Münzen zu erkennen, weiterhin sind da eine Hundesilhouette, ein fliegender Papagei, eine zweite, im Maßstab größere Pistole, eine Seemannsoder Schatzkiste, ein Tintenklecks, ein weiterer Säbel, dieser in kleinerem Maßstab, eine Hütte mit Stars and Stripes-Banner (merkwürdigerweise, wieso kein Union Jack?), gestrichelte Linien, die den Weg zum Schatz markieren, ein Segelschiff, Kreuze, die einen Friedhof symbolisieren, eine weitere menschliche Figur und rechts oben im Bild ein recht großer weiterer Jolly Roger, folglich eine Anhäufung von Formen, die als Zeichen allesamt dem (fiktiven) Piratenleben zuzuordnen sind, in ihrer Plakativität die Klischeehaftigkeit ironisierend. Die Piktogrammähnlichkeit der Formensprache wird wohl nirgends deutlicher als im am unteren Rand stehenden Titel des Bildes: Treasure als Wort, direkt dahinter statt des Wortes Island die Silhouette einer flachen kleinen Insel mit drei Palmen. Wie auf einer Landkarte sind die einzelnen Formen inselartig zu einem Archipel angeordnet – das Zusammenhängende erscheint fragmentiert, ein vielleicht ähnliches Phänomen wie die Darstellung von Staaten als Archipele im 16. Jahrhundert, wie von Wagner besprochen (in diesem Band) – und werden durch die narrative Verknüpfung der Betrachterinnen und Betrachter des Bildes zu einer
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Anna E. Wilkens Geschichte zusammengefügt. Es ist dabei nicht nur die Geschichte des Stevensonschen Romans, sondern auch die ›Erzählung‹ von der Schatzinsel und Piraten-Abenteuern schlechthin. Wiederkehrende Motive der Kulturgeschichte fügen sich zu einem gleichzeitig alten und neuen Ganzen, die zeitgenössische Trademark- und Logoflut wird beschworen und durch die US-amerikanische Flagge zu einer impliziten Amerika-Kritik – oder Huldigung? Gleichzeitig ergibt sich eine Parallelsetzung von Trademark oder Piktogramm und literarischem Motiv sowie kulturgeschichtlichem Topos, dessen Ursprung nicht auszumachen ist. Die Ebenen der hohen Kunst, der urheberlosen Volkskultur sowie der vermarktungsorientierten Firmenlogos überschneiden sich in Voits Treasure Island und spielen damit gleichzeitig auf die literarische Tradition der Schatzinsel, die gesellschaftlichen historischen und zeitgenössischen Inselklischees sowie die Vereinnahmung von Inseln durch Kolonisierung, Kapitalismus und schließlich Tourismus an. Ursprung und Wirkung der Zeichen werden ununterscheidbar, sie haben ihre Prägnanz gleichzeitig in ihrem emphatischen Hinweisen auf ihre eigene Zeichenhaftigkeit wie auch in dem, worauf sie als Zeichen hindeuten.
VERONIKA WITTE (BERLIN) »Phu Quoc« Quoc«, 2008
1-Kanal-Videoinstallation, 16,9 min., Loop
Foto: Andreas Wolf
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Inseln – Archipele – Atolle. Figuren des Insularen Während ihres Aufenthalts auf der vietnamesischen Insel Phu Quoc im Sommer 2008 hat Veronika Witte 30 Personen aufgefordert, einen kurzen Fragebogen auszufüllen und eine Landkarte der Insel aus dem Gedächtnis aufzuzeichnen. Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der Umfrage waren sowohl Einheimische wie auch Gäste, der Fragebogen lag auf Englisch und auf Vietnamesisch vor. Die Befragten wurden darum gebeten anzugeben, ob sie auf der Insel geboren sind, und im Falle, dass nicht, ob sie sich dauerhaft dort aufhalten oder vorübergehend, wie lange der gegenwärtige Aufenthalt bereits dauerte und was der Grund ihres Aufenthaltes war, etwa »beruflich« oder »Tourist«, und wie häufig sie die Insel verlassen. Und schließlich wurden sie noch nach ihrer Einschätzung der Zukunft der Insel gefragt, was sie befürchteten oder sich wünschten für die Insel. Danach sollten sie den Umriss der Insel aufzeichnen, wenn möglich mit den kleineren Inseln drumherum und mit für die Befragten besonders wichtigen Landmarken. Die Zeichnung sollte nach den persönlichen Erfahrungen auf der Insel erfolgen, dem individuellen Erleben bestimmter Orte oder Gebiete, wie diese von den Einzelnen erlaufen oder erfahren worden waren. Anschließend hat Veronika Witte die 30 so entstandenen ganz unterschiedlichen Landkarten mit einem Morphingprogramm zu einem Videofilm verknüpft, in dem sich die verschiedenen Inselumrisse auseinander und ineinander entwickeln, und zwar so, dass innerhalb des Films die Bewegung von einfachen Darstellungen zu den komplexen und detailreichen hin und wieder zurück ging. Das Kriterium der Anordnung war also nicht die Dauer der auf der Insel verbrachten Lebensspanne der Zeichnerinnen und Zeichner, auch nicht die Korrektheit der Darstellung, sondern deren Differenziertheit. Es ergibt sich ein volatiles Gebilde, dessen Umrisslinien sich fortwährend verschieben und an einigen Stellen noch nicht einmal solche sind, wenn etwa schraffierte Flächen sich über eine Linie legen, so dass die Grenze sich vollständig aufzulösen scheint, vor allem wenn in der betreffenden zugrunde liegenden Zeichnung auch das Meer ausgemalt ist oder ebenfalls schraffiert. Die ganz verschiedenen Vorstellungen von der Insel werden zu einem Ganzen integriert, das jedoch nicht fix ist, sondern veränderlich und mit ganz unterschiedlichen Aspekten im je gegenwärtigen Bild. Die Arbeit ruft die Konventionalität von Vermessungen und Landkarten ins Gedächtnis und auch, dass verschiedenes Erleben ebenso verschiedene Orte oder Landschaften produziert, die in intersubjektiven Handlungen jedoch zu etwas Gemeinsamen werden.
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Anna E. Wilkens An Probleme, die sich »beim Definieren und Fixieren von Grenzen«31 ergeben, erinnert die Arbeit, z. B. die Unmöglichkeit der Messung von Küstenlinien. Das geloopte Video wurde in einem abgedunkelten hohen Raum von der Decke auf den Fußboden projiziert – das Motiv der BodenFläche aufgreifend – mit einer Anspielung an vietnamesische Landwirtschaft, indem die Fläche, auf die der Film projiziert wurde, mit Reiskörnern mehrere Zentimeter hoch belegt war. Auf einem nebenstehenden Podest war eine Mappe mit den ausgefüllten Fragebögen und den gezeichneten Landkarten ausgelegt, die einzelnen individuellen und fixen Landkarten standen so der fließenden, intersubjektiven gegenüber. Der Ton des Videos ließ in Vietnam heimische Frösche hören, ein eher zirpendes denn quakendes Geräusch, das in dem abgedunkelten Gewölberaum zu einem Eindruck von Geschlossenheit der Installation beitrug.
JAE-HYUN YOO (BERLIN) »Insel« Insel«, 2008
Installation, 250 x 230 x 83 cm
Foto: Andreas Wolf In Jae-Hyun Yoos Arbeit ist das Insel-Motiv von allen Werken in der Ausstellung am deutlichsten mit dem Thema Grenzziehung verknüpft. Die Installation des gebürtigen Koreaners Jae-Hyun Yoo integriert in einem dioramenartigen Modell das geteilte Berlin und das geteilte Ko-
31 O. Ette: Von Inseln, S. 138.
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Inseln – Archipele – Atolle. Figuren des Insularen rea.32 Dieses fiktive Konglomerat ist in Yoos Installation eine Insel, von Wasser umgeben – dargestellt durch die blau angestrichene Platte, auf der das Inselmodell montiert ist. Die Insel hat in etwa die Umrisse der Stadt Berlin. Auf der aus Styropor bestehenden, in unterschiedlichen Grüntönen angemalte Modell-Landschaft sind Linien und Punkte markiert, einerseits durch Lichterketten in entweder rot (kommunistisch) oder blau (demokratisch), andererseits durch kleine Zäune. Die Linien markieren sowohl die Teilungsgrenze(n) zwischen Nord- und Südkorea wie Ost- und Westberlin wie auch Gebiete innerhalb Berlins, die nach dem Zweiten Weltkrieg amerikanischer, britischer und französischer Sektor waren und heute Villenviertel mit CDU-Wählertendenz, Plattenbausiedlungen mit überwiegend einfacher Wohnlage sowie einem hohen Anteil an Migranten sind oder auch Gegenden mit heute saniertem Altbau, Bioläden und Wählertendenz links. Ebenfalls markiert sind zwei Dörfer innerhalb der Demilitarisierten Zone um die eigentliche Grenze in der Mitte Koreas herum: Ein Dorf auf der südlichen Seite der drei bis vier Kilometer breiten DMZ, das im Koreanischen Dorf des großen Erfolgs genannt wird, das die Amerikaner gern Freedom-Village nennen, und ein Dorf auf der nördlichen Seite, das im Koreanischen Friedensdorf genannt wird, das in Südkorea unter dem Namen Propaganda-Dorf bekannt ist, weil von dort über Lautsprecher Propaganda in Richtung Südkorea verbreitet worden ist. Yoos Insel ist gleichzeitig das immer noch geteilte Korea sowie das historisch geteilte Berlin und eben auch noch eine Insel. Auf dieser überlagern sich die verschiedenen Grenzen, politische, soziale, noch bestehende und verschwundene. Westberlin ist metaphorisch eine Insel genannt worden, umgeben vom realsozialistischen ›Wasser‹. Diese Metapher ist hier auf das ganze, aber geteilte Berlin angewandt und beim Wort genommen: Berlin ist hier eine Insel, und diese gleichsam rückprojizierte Metapher steht gleichzeitig und gleichermaßen auch für das geteilte Korea. Dieses Phänomen ist genau der Punkt größter Irritation bei der Rezeption des Werkes. Scheint die Metapher von der Insel eines tatsächlich streng umgrenzten und von feindlicher Umwelt umgebenen Gebietes (Westberlin) unmittelbar einleuchtend – die demoktratische ›Insel‹ im realsozialistischen Ostblock –, so ist die Vorstellung von Gesamtberlin als Insel zunächst recht merkwürdig. Was vollzieht das Kunstwerk durch die Inselhaftigkeit des dargestellten Landes? Die landläufige Inselmetapher bezeichnet die Teilung – in Yoos Modell findet eine Verschiebung zu einem ganz emphatisch visualisierten Zusammengehören statt. Korea ist eine Halbinsel; nur eine Grenze, die zum an Nordkorea grenzenden Festland, müsste durch Wasser ersetzt werden, damit sich eine vollständige Insel ergäbe. Durch die Integration von Berlin und 32 Yoo war in seiner Militärdienstzeit an der innerkoreanischen Grenze stationiert und lebt heute in Berlin.
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Anna E. Wilkens Korea wird dann aber die Brisanz des Ganzen gegenüber dem Geteilten auf letzteres ebenso übertragen. Als partes pro toto scheinen Berlin und Korea so eine Ungeteiltheit der ganzen Welt zu fordern. Quer zu dieser emphatischen Zusammengehörigkeitsforderung in den bezeichenbaren Grenzen der Inselumrisse stehen dann wiederum die im Inselmodell durch Zäune und Lichter markierten politischen und sozialen Grenzen auf der Insel – hier findet sich ein weiteres Mal die Figur der Hyperbel, der Perversion und Übertreibung der Denkfigur Insel als begrenzter Raum durch weitere Grenzen innerhalb des als klar umgrenzt gedachten Raumes. Die sozialen Grenzen sind nicht vollständig mit den ehemals politischen Grenzen identisch, wenngleich es eine Korrespondenz zwischen den Sektoren im Nachkriegsberlin und den heutigen sozialen Schichtungen gibt. Soziale Grenzen sind in der Wirklichkeit nicht physisch markiert und mehr oder weniger unsichtbar, entweder, weil die politischen Grenzen nicht mehr existieren, oder weil sie noch nie andere als soziale waren. In Yoos Insel ergeben sich verschiedenste Interferenzen von der kulturellen Inselfigur zur politischen und sozialen Realität und zurück. Die Installation ist ein schwer fassbares Gebilde.
Schlussbemerkung Das letzte Foto bei Harald Priem zeigt die Insel von Weitem, im Vordergrund einen Teil des Hecks der Fähre, auf der der Fotograf sich von der Insel entfernt.
Kalymnos
Foto: Harald Priem 96
Inseln – Archipele – Atolle. Figuren des Insularen Dieses Bild deutet verschiedene Motive an, die dem Inselthema typischerweise anhängen, und zwar sowohl unmittelbar als auch abstrakt bzw. allgemein. In dem Bild liegt zum einen der Hinweis auf die Notwendigkeit, sich auf die Insel und von der Insel weg mit dem Schiff bewegen zu müssen, eine Betonung also der Umgebenheit von Wasser und des Wassers als Grenze, deren Überschreitung einen Wechsel des Verkehrsmittel notwendig macht. Gleichzeitig gehört die Fähre, auf der der Fotograf steht, genau dem Gegenstandsbereich an, der Thema seiner Arbeit ist: Das Schiff in seiner Notwendigkeit für Inselbewohnerinnen und -bewohner, für den Austausch mit der Außenwelt unabdingbar, und, um noch früher anzusetzen, für die Besiedlung der Insel. Auf einer anderen Ebene ist im Besonderen die Bewegung von der Insel weg Anlass zur Reflexion: Der Fotograf Harald Priem verlässt als Tourist die Insel wieder, was andererseits freilich impliziert, dass er ein Fremder oder mindestens ein Besucher auf der Insel ist (war), kein ständig dort Wohnender. Die Frage, die sich hier eröffnet, ist die nach der Perspektive: Der Blick auf die Insel von außen, von einem Außen, dem bestimmte Konstruktionen angehören, die vor dem Betreten der Insel immer schon da sind und so eventuell die Wahrnehmung der und auf der Insel, wenn nicht gänzlich bestimmen, so doch mindestens beeinflussen. Die Frage ist hier also: Können Kontinent-Bewohnerinnen und -bewohner überhaupt etwas über wirkliche Inseln sagen, oder sind sie so von ihren Vorurteilen – unreflektierten Klischees – eingenommen, dass sie die betreffende Insel stets verfehlen müssen? Sogleich sollte sich die Frage selbst beantworten, indem eingewandt wird, dass es zum Einen die Insel gar nicht gibt, selbst dann, wenn es sich um genau eine bestimmte Insel handelt, weil auch die langjährigen Bewohner sie vollkommen unterschiedlich wahrnehmen und erleben können33 – eine einzige Wahrheit über eine Insel kann es nicht geben, oder: die Insel als Ding an sich muss unerkennbar bleiben. Weiterhin kann eingewandt werden, dass die Inselbewohner, indem sie nämlich nicht in Abgeschlossenheit vom Rest der Welt leben, von den gleichen Konstruktionen, Klischees und Vorurteilen geprägt sind wie die Festlandsbewohnenden, vielleicht etwas modifiziert, das wäre zu untersuchen, aber schließlich gehören sie doch größeren Kulturverbänden an. Es sind immer Konstruktionen schon da, sie sind unhintergehbar und notwendig; es kann stets nur die Bemühung geben, sich ihrer bewusst zu werden, so weit als möglich – und so weit als überhaupt nötig im jeweiligen Zusammenhang.
33 Noch dazu wäre zu fragen, wie sich denn eigentlich definieren sollte, wann jemand lange genug auf einer Insel gelebt hat, um die Legitimation zur Äußerung erlangt zu haben.
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Anna E. Wilkens Eingangs erfolgte die Bemerkung, die Kunstwerke der Ausstellung hätten unterschiedliche Zugänge zu Inseln bzw. Zugänge zu unterschiedlichen Aspekten der Beschäftigung mit Inseln: abstrakte Inselprinzipien resp. -klischees, Inseln im Allgemeinen sowie bestimmte Inseln, und im Hinblick auf diese wiederum einzelne Punkte betreffend. Der wissenschaftliche wie künstlerische Umgang mit Inseln ist jedoch, so das Fazit, nur als ein Zusammenspiel dieser Punkte zu denken. Die eine, geographisch bezeichenbare Insel lässt sich von den abstrakten Inselprinzipien, den Vorstellungen von Inseln nicht trennen. Vielleicht erfahren wir bei der Beschäftigung mit ihnen am Ende mehr über gesellschaftliche Konstruktionsprinzipien als über die Inseln selbst.
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Die Insel als Welt und Text in Raoul Schrotts Roman
Tristan da Cunha oder Die Hälfte der Erde SYLVIE GRIMM-HAMEN Als 2003 Raoul Schrotts Roman Tristan da Cunha oder Die Hälfte der Erde erschien, staunte mancher Rezensent über den »gewaltigen Umfang« dieses über siebenhundert Seiten langen Werkes,1 an dem sich die bereits 1989 von Horst Steinmetz beschworene »Rückkehr des Erzählers«2 beinahe exemplarisch veranschaulichen ließ.3 Anderen Kritikern wiederum stach der Schutzumschlag des Bandes ins Auge, der ein Foto von Edward Weston, Nude on sand, aus dem Jahre 1936 zeigte4 und die Frau zu einem wichtigen Emblem dieses vielschichtigen Romans machte.5
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Siehe u. a. J. Jung: »Die Insel der Frau des Kartographen«, in: Die Zeit Nr. 38, vom 11. September 2003, S. 53. Zur Aufnahme des Romans auch Stephan Höppner: »Ultima Thule im Südmeer. Raoul Schrotts Tristan da Cunha als utopischer Roman (mit einem Seitenblick auf Finis Terrae)«, in: text + kritik. Zeitschrift für Literatur: Raoul Schrott, hg. v. Torsten Hoffmann, München: edition text + kritik 2007, S. 28. Horst Steinmetz: »Die Rückkehr des Erzählers. Seine alte neue Funktion in der modernen Medienwelt«, in: Manfred Schmeling (Hg.), Funktion und Funktionswandel der Literatur im Geistes- und Gesellschaftsleben, (=Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A, Bd. 26), Bern u. a.: Peter Lang 1989, S. 67-82. Vgl. dazu auch Franz Haas: »Den Leser entlässt er mit der Gewissheit, dass heute auch in deutscher Sprache faszinierendes Erzählen möglich ist in einem großartigen Roman.« Franz Haas: »Die Welt als Insel und Vorstellung. Raoul Schrotts grandioser Roman Tristan da Cunha«, in: Neue Zürcher Zeitung, vom 03. September 2003. In den meisten Fällen wurde allerdings die Länge des Romans und die Masse des verarbeiteten Stoffes kritisiert: siehe dazu S. Höppner: Ultima Thule, S. 28. Siehe Rüdiger Görner: »Inseltrauma der Unseligen. Raoul Schrotts Roman Tristan da Cunha«, in: Literatur und Kritik 381/382 (März 2004), S. 90f. So könnte auch die Frau als andere »Hälfte der Welt« gedeutet werden. Diese Lesart wird auch von Raoul Schrotts eigenen Kommentaren zum Roman unterstützt: »Wenn man das so banal sagen könnte, dann war es eine
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Sylvie Grimm-Hamen Über dessen rätselhaften Titel wunderte man sich dagegen kaum. Dabei bildet dieser in seiner Ambivalenz und Paradoxie einen wichtigen Schlüssel zum Roman, da er nicht nur inhaltliche Spuren legt, sondern auch Ausdruck einer Poetologie ist, in der das Räumliche – hier am Beispiel der Insel Tristan da Cunha – eine beinahe unübersichtliche Pluralisierung seiner literarischen Funktionen erfährt. Der Titel stellt Tristan da Cunha in den Mittelpunkt eines Romans, in dem sich die Insel aus einer dichten ›Wirklichkeit‹ von Raumbildern und Raumerlebnissen konstituiert, die zu einer Matrix der Weltbetrachtung und der Schreibarbeit werden. Im Laufe der folgenden Überlegungen gilt es zunächst, den Spuren dieses Romanauftakts nachzugehen und anschließend aufzuzeigen, wie die Insel zugleich als imaginäre Vorstellung, als konkrete Raumerfahrung und als rhetorische Figur Gestalt annimmt, ohne jemals als zusammenhängende Totalität erfasst werden zu können. Dies schafft eine Polyperspektivität aus der her Raoul Schrott einen Roman organisiert, indem er die jahrhundertealte literarische und philosophische Tradition der Inselutopie mit dem mittelalterlichen Tristan-Stoff verknüpft, um sie in eine zeitgemäße Allegorie der Welt und der Schöpfung umzudeuten.
I. Als rezeptionslenkender Vermittler zwischen dem Werk und dem Leser ist der Buchtitel von entscheidender Bedeutung. In seiner 1987 erschienenen literaturtheoretischen Studie Seuils spricht Gérard Genette ihm die Funktion eines »Paratextes« zu, dessen Status gegenüber dem eigentlichen Haupttext dem der Begleittexte wie Vorund Nachworte, Einleitungen, Fußnoten, Kommentare oder Widmungen usw. gleichkomme. So wie letztere übernehme auch der Buchtitel eine sinnstiftende Rolle, liefere Informationen, die die Lektüre des eigentlichen Textes steuern.6 Folgt man diesem Ansatz, so bietet es sich an, den Titel und der Gestaltung der Titelseite von Raoul Schrotts Roman, die gleich zu
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Geschichte der Sehnsucht, die ich schreiben wollte. Sehnsucht nicht allein nach einem Ort, sondern ebenso nach der Frau an sich«, in: Raoul Schrott: Tristan da Cunha – Die Insel als Allegorie dessen, was Welt ist. Ein Gespräch mit Knut Cordsen, April 2003, München, zit. nach www.deutscheautoren.de vom 20. August 2009. Gérard Genette: Seuils, Paris: Ed. du Seuil 1987 (dt. Übersetzung: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt/Main, New York 1989). Nach G. Genette erfüllt der Titel hauptsächlich drei Aufgaben: eine Bezeichnungs– und Identifizierungsfunktion, eine deskriptive Funktion zu Form oder Inhalt und eine Verführungsfunktion. Siehe ebd., S. 80 f.
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Die Insel als Welt und Text Beginn aus unterschiedlichen Blickwinkeln das Hauptaugenmerk auf Tristan da Cunha lenken, für die Analyse heranzuziehen. In seiner Erscheinungsform weist der Haupttitel zwar eine Zweiteilung auf, die an die gängige Gestaltung vieler Titel klassischer Werke erinnert,7 semantisch jedoch wirkt die aufgestellte Gleichung befremdend. Da ist zum einen der Name Tristan da Cunha, hinter dem wohl eine Mehrheit der Leser zunächst weniger eine Insel als einen Menschen – womöglich die Hauptfigur – vermutet, eine dieser historischen Persönlichkeiten, die Raoul Schrott ja immer wieder gerne in Szene setzt.8 Dieser Name wird zum anderen von der geometrisch-abstrakten Bezeichnung »Hälfte der Erde« ergänzt, die den Anschein einer geographischen Bestimmung hat, aber zugleich auch die poetische Umschreibung eines Raumes darstellt, dessen Horizont jenseits der sichtbaren Welt liegt. Wem Tristan da Cunha bereits als kleine, abgelegene Randinsel des Südatlantiks bekannt ist, mag der Spannungsbogen, der durch diesen Titel hergestellt wird, noch größer vorkommen, da erst einmal kaum ersichtlich ist, wie diese abseitige Insel in das Zentrum vordringen kann und sich mit der symbolischen Mittigkeit der »Hälfte der Erde« in Verbindung bringen lässt. Die ›wirkliche‹ Insel liegt nämlich auf der Höhe des Kaps der Guten Hoffnung, sie wurde 1506 vom portugiesischen Admiral Tristaõ da Cunha entdeckt, aber erst von 1816 an dauerhaft besiedelt. Sie gilt mit ihren über sechshundert Meter hohen Klippen, an denen die auf diesen Breitengraden übliche Wucht der Wellen abprallt, als Inbegriff der Unzugänglichkeit.9 Beim Aufschlagen des Romans und vor dem eigentlichen Text stoßen wir auf eine Karte, die als bildliches Pendant diesen Titel um eine dritte Dimension erweitert. Auf ihr werden die Umrisse einer kreisförmigen Insel sichtbar, die allerdings nicht weiter identifizierbar ist. Abgesehen von einem Orientierungspfeil und der Angabe des Südatlantischen Ozeans liefert diese Karte keine Informationen über die genaue Lage des Eilands. Erfasst werden zwar eine Fülle 7
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Vgl. ebd., S. 89. Die »Aufgabenaufteilung« in den klassischen, zweigeteilten Titeln ist laut Genette die, dass der erste Teil den Namen der Hauptfigur bezeichnet, während die zweite Hälfte eine Inhaltsangabe darstellt. In seinem ersten Roman Finis Terrae (1995) wandeln wir z. B auf den Spuren von Pytheas von Massilia, dem Seefahrer und Astronomen, der das mythische Thule erreicht haben soll und in seinen Gedichten versetzt sich das Ich gelegentlich in die Rolle von namhaften Wissenschaftlern, wie z. B. Galileo Galilei, Isaac Newton oder Cleostratos de Tenedos. Vgl. Raoul Schrott: Hotels, Innsbruck: Haymon 1995, S. 89-91; ders.: Tropen. Über das Erhabene, München, Wien: Hanser 1998, S. 151-153. Auch Raoul Schrott gilt Tristan da Cunha als »einsamste Insel der Welt«. Siehe R. Schrott im Gespräch mit K. Cordsen.
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Sylvie Grimm-Hamen an Details über Fläche und Topographie, Ortsnamen und Höhenzahlen, jedoch ist durch das Fehlen der Längen- und Breitengrade keine größere Einordnung der Insel möglich: Der Name der Insel etwa und die zum Archipel Tristan da Cunha gehörenden Inseln Inaccessible und Nightingale (TdC, 319),10 auch der Maßstab des Ganzen bleiben auffällig ausgespart. Die Objektivierung des Raumes durch die Karte verhilft kaum zu einer praktisch-physischen Orientierung. Mehr noch: seine kartographische ›Fixierung‹ auf einer ansonsten leeren Fläche macht aus diesem Flecken Erde zugleich einen unsituierbaren Ort. Das unübersichtliche Kreuz und Quer der Schriften und Zeichen überdeckt die wenigen objektiven Angaben, die zur Identifizierung der Insel beitragen könnten. Erst nach längerer Betrachtung lässt sich diesem dichten Raster aus eng zusammenliegenden Höhenlinien, Flecken und Strichen, Zahlen und Namen entnehmen, dass es sich hier um die Konturen eines zerklüfteten, kaum bewohnten, steilen Vulkanberges handelt, auf dem neben einem einzigen Ort, Settlement of Edinburgh, ein Lavastrom von 1961 eingezeichnet ist. Augenfällig wird die Insel als eine Projektionsfläche wahrgenommen, deren Überladung mit symbolischen Zeichen sie weniger als Landschaft denn als semiotischen Raum, sogar als historisches Palimpsest erscheinen lässt, da einige Namen sich auf geschichtliche Ereignisse beziehen, wie z. B. »The-Ridge-Where-The-Goat-Jump-Off«, »Down-where-the-MinisterLand-his-Things«, »Where-Times-Fall-Off-Gulch«.11 Zu dieser dreifachen Fokussierung auf einen Namen, eine geographische Metapher und eine Karte kommt schließlich noch der Untertitel »Roman« hinzu, der das Werk um eine vierte, ästhetischreflexive Dimension erweitert. Damit führt der Einstieg in das Buch beispielhaft vor, wie Raoul Schrott in diesem Roman verschiedene »Konfigurationen«12 von
10 Die zitierten Stellen aus dem Roman Tristan da Cunha werden im Text in Klammern mit dem Sigel TdC und der Seitenzahl angegeben nach Raoul Schrott: Tristan da Cunha oder Die Hälfte der Erde. Roman, München, Wien: Hanser 2003. 11 Zu der Verbindung zwischen Karte und Text, siehe TdC, 100: »Weltenbeschreiber waren die Kartographen einmal, denn eine Karte zu zeichnen, drin ist ebensoviel Wissenschaft wie Kunst. In ihr verbinden sich Bild und Texte zu einer darstellenden Geometrie von Skalen […]«. 12 Torsten Hoffmann: Konfigurationen des Erhabenen. Zur Produktivität einer ästhetischen Kategorie in der Literatur des ausgehenden 20. Jahrhunderts (Handke, Ransmayr, Schrott und Strauß), Berlin, New York: de Gruyter 2006. Hoffmann spricht auch in Bezug auf Raoul Schrott von »Konfigurationen« des Erhabenen. Der Begriff hat den Vorteil, dass er sowohl in der Physik als auch in der Astronomie verwendet wird, um die Gestalt von Atomen oder Sternen zu bezeichnen. Aus beiden Bereichen übernimmt Raoul Schrott auch Metaphern für die Schriftstellerarbeit.
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Die Insel als Welt und Text Räumlichkeit nebeneinander, miteinander oder auch gegeneinander ausspielt. Mit diesen Leitfäden, die sich zwar spiegelbildlich und scheinbar gleichwertig gegenüberstehen und doch auch wechselseitig aufheben, rückt er von Anfang an die assoziative Verknüpfung der Sprach- und Sinnebenen als strukturbildendes Prinzip des Schreibens und der Weltbetrachtung in den Mittelpunkt des Romans. Dieser versucht die Insel Tristan da Cunha im Schnittpunkt von Wort und Bild, Geschichte und Geographie, Poesie und Wissenschaft ›anschaulich‹, im Bewusstsein jedoch sie durch keinen binären Strukturierungsversuch erfolgreich erfassbar zu machen.13 Die Aufmachung dieser vierspurigen Titelseite suggeriert, dass nach einer Verfahrensweise, die auch ein Anliegen postmoderner Literatur ist, der Roman den Geltungsanspruch dualistischer Denkweisen und logischer »Kausalzusammenhänge in Frage stellt«.14 Sie weist darauf hin, dass eine Darstellung nur jenseits der Dichotomien von Vorlage und Abbild, Realität und Symbol, Fakten und Fiktion möglich ist. Auf diese Weise kommt es zu einem dialektischen Prozess, in dem das Periphere ins Zentrum rücken kann,15 die Materialität der Insel mit ihren Allegorien verschränkt werden kann, ohne dass Hierarchisierungen unter den angegebenen Richtungen vorgenommen werden. Nur im Kreuzfeuer unterschiedlicher Figurations- und Bedeutungsebenen wird die Insel greifbar. Als Bezugspunkt und als Fluchtpunkt zugleich lässt sie sich zu keinem Ganzen fügen. In seinen poetologischen Texten betont Raoul Schrott auch immer wieder, welchen heuristischen Wert er solchen »paradoxen Gleichungen« beimisst, die allein der grundsätzlichen Unfixierbarkeit einer sich ständig verändernden Welt gerecht werden können.16 13 Vgl. dazu auch Wendy Skinner, die im Hinblick auf Raoul Schrotts Darstellung der Wüste als »literarischer Ort« Ähnliches feststellt. Wendy Skinner: »Zwischen parenthesen des sands. Die Wüste als literarischer Ort in den Gedichten Raoul Schrotts«, in: text und kritik, S. 20-21. 14 Vgl. dazu u. a. Andrea Kunne: Postmoderne contre coeur. Stationen des Experimentellen in der österreichischen Literatur, Innsbruck u. a.: StudienVerlag 2005, S. 230, 251. 15 Zu dieser Dialektik und Umkehrung zwischen Zentrum und Peripherie, siehe u. a. Clemens Ruthner: Am Rande: Kanon, Kulturökonomie und die Intertextualität des Marginalen am Beispiel der (österr.) Phantastik im 20. Jahrhundert, Tübingen, Basel: A. Francke Verlag 2004. Vgl. dazu auch A. Kunne: Postmoderne contre coeur, S. 231: »In den Marginalien und an der Peripherie vermag die Postmoderne die Geschichte aufzusuchen […]«. 16 Über dieses Grundprinzip poetischen Sprechens heißt es in seiner Verteidigung der Poesie : »So wie es bei einer Metapher eine schlagartig einleuchtende Hälfte gibt und eine zweite, mit der etwas Unauslotbares beginnt, nicht mehr zu Ende Denkbares, bereits schon Metaphysisches. Darin liegt nun die wahre Leistung des Gedichts, dass es beim Versuch, Welt darzustellen, aufzeigt, dass das Paradoxale bereits dort beginnt, wo – wie in der
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II. Auf diese Weise dringt der Leser in ein Buch ein, in dem die Insel nicht im Sinne einer realistisch-mimetischen Darstellungsweise als festes Gebilde und als Schauplatz ›gegeben‹ ist. Sie findet vorerst nur unter dem bloßen Namen Tristan da Cunha Eingang in den Roman, als versprachlichte Wirklichkeit, über eine fehlgeleitete Bücherkiste, die auf dem Schiff vergessen wurde, das Noomi in die Antarktis führt. Die darin enthaltene kleine Bibliothek, die für das Museum von Tristan da Cunha bestimmt war, bezieht sich über eine ganze Kette von phonetischen oder semantischen Verknüpfungen auf Tristan da Cunha, so dass vor diesem Hintergrund deutlich wird, dass die Insel eigentlich das Grundmaterial zum Roman liefert. Aus dem Bücherfundus stammt nämlich ein Großteil des Rohstoffs, aus dem sich der Text schließlich zusammensetzt.17 Dazu gehört eine erste Gruppe von Büchern, die aus historischen Berichten und Dokumentationen von Reisenden besteht. Die Aufschriften einiger dieser Bände wie z. B. »Rock of Exile«, »Lonely Island«, oder »Crisis in utopia« kündigen bereits die später im Roman vollzogene Umkehr des gängigen Topos der Insel als paradiesischen Rückzugsort18 an. Ein weiterer Packen Bücher enthält fiktionale Texte und Weltliteratur, darunter »Dantes Epos, eine Pleiade-Ausgabe der mittelalterlichen Romanzen um Tristan und Yseut, ein Roman von Euclides da Cunha« (TdC, 22). Alle stellen sie ein Quellenmaterial dar, aus dem mehr oder weniger explizit auf allen Ebenen der Erzählung Erlebnisgehalte, wie das der Liebe und der Sehnsucht,19 Zitate wie aus Euclides da Cunhas Krieg im Sertaõ, oder Erzählmuster, wie die narrative Form des Tagebuchs oder des Briefes als Reisebericht, geschöpft werden. Schließlich gibt es noch einen dritten »mit Wachstuch umhüllten Packen« (TdC, 23), mit dem wir die Ebe-
Metapher – zwei Worte aufeinanderstoßen. Das ist seine Wahrheit: zu zeigen, wo das Widersprüchliche entsteht und wie.« Raoul Schrott: Handbuch der Wolkenputzerei. Gesammelte Essays, Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2007, S. 166. 17 Raoul Schrott spielt auch hier mit einem verbreiteten Topos der Abenteuerromane, da diese Bücherkiste – darin der Schatzkiste in Robert Louis Stevensons Schatzinsel ähnlich – den zukünftigen Roman enthält. 18 Vgl. dazu u. a. Horst Brunner: Die poetische Insel. Inseln und Inselvorstellungen in der deutschen Literatur, Stuttgart: Metzler 1967, S. 30f.; Daniel Reig (Hg.): Île des Merveilles. Mirage, miroir, mythe, Paris: Ed. L’Harmattan 1997. 19 Vgl. dazu Viola Voß: »Aber wir waren zu spät für den Himmel. Die Verarbeitung des Tristan-Stoffes im Roman Tristan da Cunha«, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 140 (2005) H. 140, S. 150-172, auch S. Höppner: Ultima Thule, S. 29.
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Die Insel als Welt und Text ne der fiktiven, aber doch faktisch belegten Literatur verlassen, um die inszenierte Welt des Romans selbst zu betreten. Darin befinden sich ein Bündel Briefentwürfe des Geistlichen Edwin Heron Dodgson an seinen tatsächlichen Bruder Lewis Carroll über seinen von 1881 bis 1886 historisch belegten Aufenthalt auf Tristan da Cunha, ein Buch des Briefmarkensammlers Mark Thomsen und die Aufzeichnungen des Funkers und Landvermessers Christian Reval. Neben Noomi Morholts eigener Erzählung bilden sie die drei weiteren Erzählstränge des Romans. Dieser zu Anfang genannte Überlieferungsfundus wird später im Roman noch erweitert durch die wiederholte explizite Bezugnahme auf große Vorbilder der utopischen Denk- und Schreibtradition wie z. B. Die Insel Felsenburg (17311743) von Johann Gottfried Schnabel, Thomas Morus’ Utopia (1516) oder Shakespeares The Tempest (1611).20 Die zahlreichen intertextuellen Verweise machen deutlich, dass die inszenierten Reisenden des Romans sich ständig im Fahrwasser von Vorläufern bewegen, deren Berichte oder Erzählungen sich nicht nur in ihre eigenen hineinschreiben, sondern sie auch nachhaltig unterwandern. Denn diese zahlreichen Querverweise haben eine ambivalente Funktion: Zum einen verleihen sie den als autobiographisch ausgegebenen Aufzeichnungen der vier Protagonisten eine kulturelle Resonanz, die jede durch den Einzelnen als individuell erlebte und dargestellte Erfahrung als eine Aktualisierung vorgegebener Erlebnismuster und Narrationsschemata erscheinen lässt. Zum anderen machen die vielfachen thematischen, phonetischen und semantischen Verknüpfungen mit früheren literarischen und philosophischen Inselutopien auch deutlich, dass Vergangenes nicht mehr einholbar ist und die Zeit der großen gesellschaftlichen Utopien, die bevorzugt auf Inseln angesiedelt wurden, vorbei ist. Diese im Text deutlich werdenden Reminiszenzen an kulturelle Vorlagen lassen die Insel als eine »mehr oder minder kunstvoll konstruierte Utopie« erscheinen (TdC, 694), in der die Gefühlswerte, die die Erzähler mit der Insel verbinden, eine zeitlose, überindividuelle Dimension21 erhalten und als Teil einer fremdgesteuerten Dramaturgie gekennzeichnet werden. Dazu gehört etwa die Faszinationswirkung der Insel, die durchgängig im Roman mit der Sehnsucht verknüpft wird, aus der Zeit zu fallen, einen Ort ausfindig zu machen, dessen »räumliche Ferne« auch einen Stillstand der Zeit (TdC, 22) und eine Enthebung jeglicher störenden kulturellen Ordnung verspricht.22 In diesen Projektionen wird der durch die jahr20 Vgl. dazu S. Höppner: Ultima Thule, S. 33-37. 21 Darauf weist auch das Zitat aus John Donnes Meditation am Anfang des Romans hin. 22 Dodgson reist z. B. zu der Insel, wie an den Rand der Zivilisation, als könne sie die Rückkehr in eine primordiale Ursprünglichkeit gewähren (TdC, 22).
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Sylvie Grimm-Hamen hundertealte literarische und philosophische Tradition vorgegebene Topos der Insel als Gegenwelt und als Ort der Andersartigkeit und der Ursprünglichkeit wieder belebt. C. Reval etwa hofft als Inselkartograph die Rolle eines objektiven, d. h. vor den Dingen stehenden Betrachters einnehmen zu können, denn auch ihm scheint es einfacher, aus der Zeit herauszufallen als in ihr zu leben. Der Anfang seiner Aufzeichnungen zeugt von seiner Mühe, eine Beziehung zum Hier und Jetzt herzustellen und in einer gewissen Immanenz aufzugehen (TdC, 33). Bei Dodgson wird diese Sehnsucht stärker über Begriffe und Grundmuster ausgedrückt, die aus dem Bereich des Mystischen stammen: er sucht einen Ort der Auflösung und Versöhnung aller Gegensätze des irdischen Lebens. Ihm ist die Insel ein »Sinnbild des Uraktes der Schöpfung«, ein Ort »des unverdorben Natürlichen […], wo sich das Gute im Menschen verwirklichen kann, unverbildet und unbeeinflusst von den Läuften der Zeit«, »ein Symbol der Erlösung und zu erlangender Ewigkeit« (TdC, 474). In dieser Sehnsucht der Erzähler nach einem Außerhalb-derWelt wird zwar wie in den klassischen, idealisierenden Utopien auch die geographische Ferne der Insel zu einem symbolischen Ausnahmezustand überhöht. In unübersehbarem Widerspruch dazu jedoch beansprucht die Sehnsucht der Erzählerfiguren hier keine gesellschaftliche Gültigkeit mehr.23 Es bleiben nach außen hin »Gesten der Sehnsucht« (TdC, 54), die ihre ursprüngliche Funktion eingebüßt haben und individuellen Utopieformen gewichen sind.24 Auch die symbolische Aufladung der Insel als Allegorie für das Feste, Ruhende, Dauerhafte, Abgeschlossene macht trotz aller individuellen Unterschiede und Abweichungen zwischen den vier Protagonisten die Wirkungsmacht der im Text immer wieder explizit werdenden kulturellen Tiefendimension deutlich. Darin spiegelt sich der Topos der Insel als locus conclusus und als Ort der Geborgenheit wider, dessen zeitlose Wirksamkeit dadurch unterstrichen wird, dass die Suche nach Verortung und Verankerung im gesamten Roman von der gleichnamigen Frauenfigur und Insulanerin Marah verkörpert wird.
Auch Reval berichtet, wie im nebligen Dunst die Insel »anders« erscheint, primordialer, als wäre sie gerade aus dem Grau der Zeiten aufgetaucht (TdC, 41). 23 Der Begriff »Utopie« stammt ursprünglich von dem griechischen »ou topos«, das so viel wie »Un-ort«, »Nichtort« bedeutet. Inhaltlich schildert die idealtypische Utopie einen idealen Gesellschaftszustand, der sich gegen bestehende gesellschaftliche Verhältnisse richtet. Vgl. dazu u. a. Wolfgang Biesterfeld: Die literarische Utopie, Stuttgart: Metzler 1974. 24 Vgl. dazu S. Höppner: Ultima Thule, S. 28: »[Schrott] formuliert seine Utopien vom Individuum aus.«
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Die Insel als Welt und Text Ihr werden Werte zugeschrieben, die nicht nur an die Isolde-Figur erinnern,25 sondern auch an die symbolische Funktion der Hestia, der Hüterin des Herdes in der Kultur des antiken Griechenlands.26 Wie Jean-Pierre Vernant schreibt, war Hestia zugleich das Wort für den häuslichen Herd und den Herd der Polis, die kreisförmige Feuerstelle, die den Mittelpunkt des Hauses bildete, den Nabel, um den herum das Haus in der Erde verankert war.27 Die Männer des Romans flüchten zu Marah aus Angst vor dem Wandelbaren der Außenwelt, dem offenen Unvorhersehbaren, der Begegnung mit dem Anderen, die die Werte des Hermes verkörpern. Marahs Auftreten in jeder Erzählung verleiht den einzelnen Geschichten ein ähnliches affektives Fundament und rückt sie in die Sphäre eines universellen Erlebnisses. Bemerkenswert ist hier, wie es Raoul Schrott gelingt, einen zwingenden Zusammenhang herzustellen zwischen diesen utopischen und im Grunde gängigen Inseltopoi und den tatsächlichen topographischen Besonderheiten der ›wirklichen‹ Insel, die alle faktischen Grundlagen einer symbolischen »Geographie der Sehnsucht« (TdC, 99) liefern. Zu wichtigen Bedeutungsträgern werden nicht nur die tatsächliche Abgeschiedenheit der Insel, sondern auch ihre topographischen Eigenschaften und ihre geographische Lage. Da sie einerseits ziemlich genau in der Mitte eines Dreiecks zwischen Südamerika, Südafrika und der Antarktis liegt und in der Nähe andererseits vom atlantischen Graben und vom kartographischen »Nullpunkt der Erde, dem Meridian von Greenwich«, der laut Thomsen die Welt in zwei Hälften teilt (TdC, 120), markiert sie auch mathematisch eine symbolische Mitte der Welt.
III. Durch den allgemeinen intertextuellen Bezug stellt jede Erzählung von der Insel den Erzähler vor den Anspruch, sich Tristan da Cunha ›zu eigen zu machen‹ und durch das Repertoire der Topoi hindurch einen persönlichen Zugang zu ihr zu finden. Als erzählter Raum, der eine Fülle an Wissen aber auch an kollektiven Bildern und Vorstellungen gespeichert hält und somit bereits abgeschritten ist, scheint die Insel kaum noch mit Eigenem besetzt werden zu können. Die Protagonisten machen immer wieder darauf aufmerk25 Ebd., S. 29. 26 Hestia ist eine Figur, die wie der Götterbote Hermes auch Raoul Schrotts Gedichtsammlung Hotels durchzieht. Vgl. u. a. Raoul Schrott: Hotels (1995), München: dtv 1998, S. 6, 19, 23. 27 Jean-Pierre Vernant: Mythe et pensée chez les Grecs. Etudes de psychologie historique (1965), Paris: La Découverte 1996, S. 155f.
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Sylvie Grimm-Hamen sam, dass ihr Zugang zur Insel in Abhängigkeit von denen erfolgt, die sie bereits gedacht, erträumt oder erlebt haben. Jedes Mal steht Dodgson z. B. das Bild des Monte Santo aus Euclides da Cunhas Roman vor Augen, »wenn sein erster Blick beim Aufwachen in Tristan da Cunha durch das Fenster auf die Felsen der Insel fällt« (TdC, 75). Diese Erinnerung an Euclides da Cunha fließt in seine Wahrnehmung hinein und überlagert sie, schreibt sich sogar über längere Zitate in seine eigene hinein (TdC, 82). Auch Reval hat »nur Bilder« im Kopf, insbesondere die Romanze von Tristan und Isolde, als er die Felsspitzen der Insel Gough mit schwarzen und weißen Segeln vergleicht, und in diesen Felsformationen seine ganze unglückliche Liebesgeschichte mit Maria präfiguriert sieht. (TdC, 45) Dass die Erzählungen allesamt als Tagebücher oder als Briefe gestaltet sind, verdeutlicht den Versuch der vier Hauptfiguren, eine fehlende erzählerische Unmittelbarkeit zu erzielen in ihrer Beziehung zu einer Insel, der sie eher zufällig denn gezielt begegnet sind – über einen Fund, eine Wortassoziation, eine Mission – ohne innere Notwendigkeit also.28 Die utopischen Bilder, die von den Erzählern mit der Insel verknüpft werden, werden zwar von der abstrakt-rationalen Darstellung der Kartographen, die die Mittigkeit der Insel und ihre Zentralität in den Vordergrund stellen, unterstützt. Die Bilder »verkümmern« jedoch buchstäblich und sinnbildlich »an den Felsen der Insel« (TdC, 47) und erweisen sich als Trugbilder, die ihre Symbolkraft einbüßen. Als Naturphänomen bleibt die Insel eine fremde Gegenwelt, die keine Erfüllung bringt und keinen Zugang ermöglicht. Sie ist für Reval und Dodgson, die sie als einzige tatsächlich betreten, kein Ort, wo man sein und bleiben kann, sondern eine abweisende, kaum zu greifende Welt, in der sie nie heimisch werden. Dort erfahren sie das Veränderliche, das Vorübergehende, das Aufeinandertreffen dessen, was einander fremd ist und sich nicht in Besitz nehmen lässt. Die Insel ist in ihrer empirisch-konkreten Wirklichkeit kein Ort der Rettung oder der Regeneration, sondern der Inbegriff des Verlusts und des Ungreifbaren.
28 »Zufällig« stößt Mark Thomsen etwa – wie Noomi Morholt – auf die Insel Tristan da Cunha, als er auf der Suche nach Briefmarken ist, die in »Verbindung mit seinem ominösen Vornamen« stehen (TdC, 92). Über eine Wortassoziation muss er an den König Mark aus dem Tristan-Epos denken. Dodgson landet auch per »Zufall« (TdC, 75) und zu »seinem eigenen Erstaunen« (TdC, 68) fast widerwillig als Vikar auf der Insel, da er sich nicht aus freien Stücken für das Amt auf der Insel beworben hat.
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Die Insel als Welt und Text Aussagekräftig für diese Fremdheitsgefühle vor der Natur ist die Metapher der Wüste,29 mit der die Insel mit fast biblischem Pathos beschrieben wird (TdC, 21): Tristan da Cunha wird damit – so die ursprüngliche Bedeutung des Begriffes »wüst« – als »ordnungsloser« Ort erfahren (TdC, 45), als unbewohnbarer Raum, der das prinzipiell Lebensfeindliche, Ungeordnete, Unbearbeitete darstellt. Auch die Leere, mit der diese unwirtliche Insel die Menschen konfrontiert, zeigt in eine ähnliche Richtung.30 »Wüst und leer« ist nach den gängigen Übersetzungen der Bibel alles, bevor es durch Gottes Hand geordnet wurde, ist nicht bewohnt, sogar unbewohnbar und stellt den Gegensatz zum Begriff der Kultur wie auch der Zivilisation dar. Die Geographie der Insel ist nun in umgekehrter Richtung bedeutsam: Die Landschaft steht für die fremde Ordnung des natürlichen Lebens. Die vom Wind zerfetzten Wolken, der stockende Nebel, die Kälte und die Ausbrüche des Vulkans stehen nun im Zeichen einer Entzauberung. Sie verbannen die Insel in ein Anderswo absoluter Unsichtbarkeit und Unerreichbarkeit, auf das sich der Blick für die Herannahenden im konkreten wie im bildlichen Sinne immer nur kurz auftut, bevor sich der Wolken- und Nebelschleier gleich wieder schließt und der Vulkanberg wieder im Nebel verschwindet (TdC, 63). Die »ebenso furchteinflößende wie ehrfurchtgebietende« (TdC, 478) Geographie der Insel verweist hier – wie sonst auch die Natur bei Raoul Schrott – auf das Unabwendbare, auf das metaphysisch Endgültige jeden Lebens hin. In der »unsichtbaren Macht«, die sich in der Gewalt der Elemente manifestiert, begegnet Dodgson zwar für einen Augenblick dem »Majestätischen«, dem seine Sehnsucht gilt (TdC, 478), sie konfrontiert ihn aber auch mit einer existentiellen Leere, mit der Erfahrung von seiner Ohnmacht und »Niedrigkeit« (TdC, 478).31 Für Raoul Schrott ist diese Erfahrung einer für den Menschen unfassbaren Naturgewalt ein wesentlicher Teil der Erfahrung der Erhabenen.32
29 Die Wüste ist auch ein wichtiger literarischer Gegenstand für Raoul Schrott. Siehe die Gedichtsammlung Tropen. Über das Erhabene, München, Wien: Hanser 1998 oder die Novelle: Die Wüste Lop Nor, München, Wien: Hanser 2000. 30 Siehe u. a. TdC, 41: »wir sitzen wieder nebeneinander in der Hütte und sehen ins Leere« (C. Reval). 31 Siehe W. Skinner: Zwischen parenthesen des sands, S. 20, die dies am Beispiel der Wüste ausführt. 32 T. Hoffmann hat aufgezeigt, wie sehr die Erfahrung einer unzugänglichen Natur zu einem neuen Verständnis des Erhabenen gehört. Gerade die Diskrepanz zwischen der Naturerfahrung und den kulturell überlieferten Naturbeschreibungen macht für Raoul Schrott »den Kern des Erhabenen« aus. T. Hoffmann: Konfigurationen des Erhabenen, S. 154.
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Sylvie Grimm-Hamen Kulturell wie geographisch gibt sich die Insel als ein fremder Ort voller unvereinbarer Gegensätze und Widersprüche, in denen sich jede soeben aufgerichtete Ordnung und Vorstellung von der Insel wieder zersetzt. Dies macht die Auseinandersetzung mit ihr zu einer Bewährungsprobe für jeden Protagonisten. In einer erneuten Umkehrung des Blicks macht aber gerade diese Erfahrung der Insel als ein kulturell und geographisch Fernes, das sich dem Einzelnen weitgehend entzieht, es möglich, sich von den Bildern zu befreien. Erst hier bietet sich die Möglichkeit für die Erzähler, sich eine eigene Wahrheit von der Insel zu konstruieren und sie von den vorgegebenen Bildern zurückzuerobern. Denn nur über den Weg dieser Fremdheit, über diese Erfahrung der Unvereinbarkeit der Geographie mit der Allegorie gelingt es den Figuren, in der Insel zu sich selbst zu finden. Und so steht nach und nach die Auseinandersetzung mit dieser fernen, feindlichen Umgebung im Zeichen der Auseinandersetzung dieser Menschen mit sich selbst. Erst die Wucht der Elemente z. B. macht Reval sein eigenes gelähmtes, verfrorenes Inneres bewusst und erzeugt in ihm das höchst paradoxe Gefühl zu existieren. Auch Dodgson, der sich auf der Insel selbst ausgeliefert ist, ja sogar seiner nahen Vernichtung entgegensieht, findet hier zum ersten Mal Halt und Orientierung, nachdem die Inselerfahrung seine privaten Mängel aufgedeckt hat. In den konkreten Details der Landschaft, in topographischen Eigenschaften der Insel erkennt er schließlich Muster und Figuren, die sein wirres Leben zwar nicht erfüllen, aber erklärbar und sinnfällig machen. Damit bietet die Insel zwar nicht die Möglichkeit auszubrechen, aber zu sich selbst zu finden. Sie offenbart sich letztendlich als Funktion des Eigenen, als Teilgeschichte des verdrängten und deshalb fremd gewordenen Eigenen. Diese eigenwillige Dialektik des Fremden und Eigenen wird von Noomi Morholt so beschrieben: »Dieses Ich, das ewig ein anderer ist. Als erführe man es nur im Fortgehen, in einer Trennung und in der Imagination eines anderen Ortes; die Projektion aller Einsamkeit auf das Fremde. Und stets sind es Orte, wo Menschen nicht leben, nur überleben können. […] In ihnen liegt die andere, negative Utopie unserer selbst; dort, wo wir uns nicht mehr an die Natur, sondern in ihr verlieren.« (TdC, 706)
Die geschichtlichen und natürlichen Wirren, die das Inselleben bestimmen, werden somit zu Gleichnissen für die Krisensituation, in der sich die Erzählerfiguren befinden. Die Dunkelheit der Lavablöcke, das Stürmische des Meeres und das Unbeständige des Wetters, die Gewalt der äußeren Elemente machen ihre innere Aufgewühltheit sichtbar (TdC, 95). Aus der bewegten Geschichte der Insel und ihrer »Unklarheit« (TdC, 45) liest Thomsen die eigene Geschich110
Die Insel als Welt und Text te heraus – so dass stellenweise beide Erzählebenen miteinander verschmelzen (TdC, 107). Die Fremdherrschaft auf der Insel oder die Tatsache, dass sie lange unbekannt, unernannt blieb, sind Muster in denen sich die eigenen Entfremdungsgefühle von Thomsen übersetzen lassen. Mit der Rekonstruktion der Geschichte der Insel anhand der Briefmarken nimmt, wie er sagt, »seine eigene Geschichte erst ihren Anfang« (TdC, 124). Die Insel gibt so für jeden auf unterschiedliche Weise einen Orientierungspunkt ab. Konkrete Details der Geographie werden somit – im Sinne Hans Blumenbergs – zu »Daseinsmetaphern«.33 Sie liefern symbolische Formen und Figuren für das psychische Verhalten und die Weltauffassung der Figuren, in denen sich ihre gegenwärtige Lage genauso ablesen lässt wie ihr Unbewusstes: Das Abgeschlossene, fast Uneinnehmbare der Insel verdeutlicht ihre Fixierung auf ein starres, unveränderliches Menschenbild und offenbart somit ihre Marginalisierung und Isolierung. Die rückwärts erzählten Aufzeichnungen von Reval über die Insel machen die regressiven Impulse, die sein Interesse für die Insel motivieren, deutlich. Damit variiert die Funktion der Insel je nach den Lebensentwürfen der wahrnehmenden Figuren. Gleichzeitig gibt sie aber auch in ihren widersprüchlichen Ausprägungen als Ort der Täuschung und als Ort der Wahrheit (TdC, 702) den Umriss für einen Roman ab, der nahezu alle Möglichkeiten von Wirklichkeit, Leben und Geschichte fassen möchte.
IV. IV . An dem Namen, der Form oder der geographischen Lage von Tristan da Cunha orientieren sich schließlich nicht nur die vier Hauptfiguren, sondern auch die Schreibarbeit selbst.34 Dem Prinzip der Gleichsetzung zwischen Form und Funktion entsprechend fungiert die kreisrunde Insel schließlich auch als Keimzelle der narrativen Welt,35 die dem Roman Gefühlswerte und Denkfiguren, symbolische Formen und Erlebnisgehalte liefert, mit denen nicht nur die Welt betrachtet, sondern auch die Schreibarbeit selbst analysiert wird. 33 Vgl. dazu u. a. Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag 1979. 34 In einem Gespräch mit Ursula Bushnell bejaht Raoul Schrott auch den Vergleich der Journalistin, das »Schriftstellerdasein« sei ein »Inseldasein«. »Raoul Schrott im Gespräch mit Ursula Bushnell: Tristan da Cunha«, www.br-online.de/kultur/literatur/lesezeichen/20031102 vom 20. August 2009. 35 Bezeichnenderweise heißt es auch am Anfang des Romans, dass sich anhand der für die Insel bestimmten Bücher »eine ganze Welt rekonstruieren« ließe (TdC, 23).
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Sylvie Grimm-Hamen Raoul Schrotts eigenen Angaben zufolge reizte es ihn, aus »diese[r] winzige[n] Insel einen archimedischen Punkt zu machen, aus dem sich die Erde aushebeln ließe, literarisch«. Sie sei ihm Allegorie und Symbol »für die große weite Welt ebenso wie für die Formen menschlichen Zusammenlebens; für das existentielle Aufbegehren ebenso wie für alle anderen Arten von Begierden, Projektionen und Passionen – und die Geschichte der letzten fünfhundert Jahre, die in ihr einen Mittelpunkt findet«.36 Die Figur der Insel bietet also ein poetologisches Gleichnis für ein Schreiben, das einen Ganzheitsblick anstrebt, das versucht, im Erzählfluss das Leben einzukreisen und gleichzeitig komplexe, widersprüchliche, bruchstückhafte Momente und Sichtweisen über die Insel selbst zu umfassen.37 Als »ein Kreis ohne Anfang und Ende« (TdC, 99) liefert die Topographie der Insel ein wichtiges Ordnungsprinzip des Romans, das sich in narrativen Grundstrukturen niederschlägt wie etwa in dem Kreisen der Erzählstränge um die zentrale Figur Marah oder in den vielfachen phonetischen und semantischen Wiederholungen und Spiegeleffekten zwischen einzelnen Episoden oder Protagonisten,38 oder auch in dem Rückwärtserzählen von Revals Geschichte, in der der Anfang der Narration gleichzeitig das Ende seiner Lebensgeschichte markiert. Das nichtlineare Erzählverfahren kommt diesem Versuch, möglichst viel zu vereinen, auch besonders entgegen. Der Roman geht allen möglichen Spuren und Assoziationen nach, spürt einzelnen Verästelungen hinterher, die im Namen, in der Geschichte und in der Geographie von Tristan da Cunha stecken. Tristan da Cunha steht somit allegorisch für den prometheischen Versuch, alle Richtungen zu bedenken, die idiomatisch, etymologisch, sinnbildlich mit der Insel verbunden sind und den Roman buchstäblich zusammenhalten. Die Insel wird zum Gleichnis für den schöpferischen Akt der Bezeichnung, der Benennung und Sinngebung. Dieser von der Insel verkörperte poetologische Anspruch wird auch an der Bedeutung der Bibel, dem Buch der Bücher, als Vorlage für den Roman deutlich gemacht. Zum einen erinnern die vier Erzählstränge des Romans an die vier Bücher des Neuen Testaments, zum anderen hat der Vortext, der die einzelnen Kapitel des Romans einleitet, auch graphisch die Form eines Bibelspruches. Mit der anfänglichen 36 R. Schrott im Gespräch mit K. Cordsen. 37 Nach einem ähnlichen Analogieprinzip zwischen Geographie und Literatur vergleicht Noomi die weiße Fläche der Antarktis mit dem »Weiß« ihres »Schreibheftes« (TdC, 12). 38 Einige Namen klingen in anderen nach wie Christian in Tristan z. B., Noomis Name »Morholt« ist auch der Name des irischen Königs Mark in der mittelalterlichen Romanze von Tristan und Yseut usw.
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Die Insel als Welt und Text Großschreibung der Buchstaben denkt man etwa an Druckfassungen, die in Bibelausgaben aus dem 17. Jh. zu finden sind. Der Roman scheint so ein Stück Wiederherstellungsarbeit leisten zu wollen: Über den Ort soll das Geschichtenerzählen wieder möglich werden. Damit berührt dieser Roman auch eine der entscheidenden ästhetischen und kulturhistorischen Entwicklungen der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, die den Raum und das Räumliche gleichwertig mit der Zeitlichkeit als zentrales Paradigma der Geschichtsschreibung und der Sozial- und Literaturwissenschaft aufwerteten.39 Gleichzeitig zeigt die Form des Buches auch das Scheitern dieses erzählerischen Totalitätsanspruchs. In der Form bestehen die Aufzeichnungen der vier Hauptprotagonisten aus einzelnen Abschnitten oder losen Bögen, die immer wieder durch Leerzeilen oder Leerseiten voneinander getrennt sind, so dass ihr Zusammenhang, wenn überhaupt, oft nachträglich entsteht und Verwechslungen vorkommen, die das bereits im Romanauftakt angelegte Verwirrspiel auf anderen Ebenen fortführen.40 Die Insel hat auch diesmal eine ambivalente Funktion: als Allegorie der Sinnstiftungsarbeit zeigt sie gleichzeitig die Grenzen der Kenn- und Sagbarkeit auf. Die Insel liefert zwar eine anschauliche Denk- und Schreibfigur, aber sie stellt keinen idealen Endzustand dar. Im Gegensatz zu den utopischen Vorlagen, die den Bezugsrahmen des Romans bilden, verzichtet der Roman auf ein weltanschauliches Denken, auf eine eindeutige Weltanschauung. Die Weltschau bietet sich als eine sogleich wieder zerfallende Einheit dar, da sie uneinheitlich bleibt, verteilt auf vier Erzählerfiguren, die eine Vielzahl von Facetten erscheinen lassen und so ständig einen Wechsel der Standpunkte herbeiführen. Entgegen einer äußerst modernen Auffassung, nach der man ans Ende des Bestehenden kommen sollte, glaubt Raoul Schrott nicht mehr an das Vollendete, tut auch
39 Vgl. u. a. Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München, Wien: Hanser 2003; Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, Frankfurt/Main: Fischer 1992. 40 Aus den »Jänner/Feber 2003« datierten Aufzeichnungen der PolarlichtForscherin Noomi Morholt, die den Roman umrahmen, ergibt sich im Prolog erst nach und nach, dass das Schiff auf dem sie im Südatlantik unterwegs ist, in Richtung Antarktis fährt und nicht – wie zuerst wegen des Titels vorschnell vermutet – nach Tristan da Cunha. Auch im ersten Kapitel (zurückdatiert vom Sommer 1969 bis Frühling 1969), das die letzten Tage von Christian Reval, dem Funker und ersten Kartographen der Insel Tristan da Cunha vor seinem Tod darstellt, bleibt lange Zeit unklar, dass die Insel Gough und nicht Tristan da Cunha gemeint ist, wenn er von der »Insel« berichtet, auf der er sich gerade befindet, ohne sie jemals zu nennen (TdC, 33).
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Sylvie Grimm-Hamen nicht so, als ob die Welt noch zu vollenden wäre und vollendet werden könnte. Im Gespräch mit Knut Cordsen sagt er: »Die Ausdrucksformen – dass es also Briefe sind, Tagebücher, Notate, die ich verwende – haben damit zu tun, das es mir um das möglichst Authentische geht. Dazu gehört auch das Widersprüchliche, Gebrochene, während das Fiktionale einfach nur rund ist, wo alles auf alles Bezug nimmt. Und diese Rundheit will ich tunlichst vermeiden, obwohl sie natürlich Sinn und Zweck des Schreibens ist, das eine in sich geschlossene organische Welt schafft, die in sich einen Kosmos eröffnet.«41
Der Roman hält nur den Schein des Umfassenden und Einheitlichen aufrecht, widersetzt sich aber einem Zu-Ende-Denken und behauptet die Vorläufigkeit der gewonnenen Einsichten und Gewissheiten. Diese poetologische Haltung könnte man mit den Worten zusammenfassen, die Thomsen auf seine Briefmarkensammlung anwendet: »Es ist erstaunlich, welch umfassendes Bild der Welt man erhält, geht man bloß etwas so Zufälligem und scheinbar Eingeschränktem nach, verfolgt es in der Zeit zurück und spürt einzelnen Verästelungen hinterher. Die Geschichte ist nicht kontinuierlich, nein, sie besteht aus einer Unmenge unversöhnlicher Details, bunter Mosaiksteine, die sich nicht zu einem einzigen Bild zusammensetzen lassen, sondern zu vielen möglichen, niemals jedoch ganz vollendbaren Mosaiken« (TdC, 92).
Der Roman endet auch nicht, sondern »bricht nur ab«.42 In einer erneuerten Umwandlung und Überlagerung ihrer Funktion wird die Insel als zentrifugale und als zentripetale Kraft zugleich zu einem Gleichnis für eine »Kultur ohne Zentrum«.43 Eine letzte Wahrheit, so lässt sich diese ästhetische Doppeldeutigkeit der Inselfigur interpretieren, existiert nicht, es gibt immer nur »standortgebunde Aussagen und Sichtweisen«.44
41 Raoul Schrott im Gespräch mit Knut Cordsen. 42 Markus Gasser: Die Postmoderne, Stuttgart: M&P Verlag für Wissenschaft und Forschung 1997, S. 23. 43 Richard Rorty: Eine Kultur ohne Zentrum. Vier philosophische Essays und ein Vorwort, Stuttgart: Reclam 1991. 44 Angela Fitz: »Wir blicken in ein ersonnenes Sehen«: Wirklichkeits- und Selbstkonstruktion in zeitgenössischen Romanen (Sten Nadolny – Christoph Ransmayr – Ulrich Woelk), St. Ingbert: Röhrig 1998, S. 322.
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Die Insel als Proberaum in Arthur Schnitzlers Schnitzlers
Die Frau des Weisen KATRIN SCHNEIDER Arthur Schnitzlers Novelle Die Frau des Weisen von 1897 ist einer seiner frühen Texte, deren Thema die Treue ist. Im Zentrum der Novelle stehen Frau Friederike, ihr Mann und ein namenloser IchErzähler, wobei die Frau – entsprechend klassischer Dreieckskonstellationen – zwischen beiden Männern steht. Die Insel erweist sich im Handlungsverlauf als Entscheidungsort für oder gegen eine gemeinsame Zukunft des Erzählers mit Frau Friederike. Bislang wurde dem kurzen Text in der Forschung noch wenig Aufmerksamkeit zuteil, und so gibt es erst zwei Aufsätze, die sich exklusiv mit der Novelle auseinandersetzen. Ernst-Ullrich Pinkert untersucht die Frau des Weisen als »Reflexe einer Reise nach Dänemark«1 und zeichnet sehr genau die Entstehungsgeschichte der Novelle im Kontext der Tagebücher und Briefe nach.2 Dabei betont er, dass Schnitzlers Ausflug auf die schwedische Insel Hven/Ven während einer Dänemarkreise am 7.8.1896,3 die dem von Schnitzler besuchten dänischen Badeort vorgelagert ist, ein zentrales Moment für die Novelle darstelle. Ernst-Ullrich Pinkert reflektiert in seinem Aufsatz über die Novelle, dass gerade die auf Hven erlebte Abgeschlossenheit und Weltferne Schnitzler »bewogen haben [könnte], der Insel in der Novelle die wichtige Rolle als Schauplatz des Wendepunktes zuzuerkennen.«4 Zumindest äußert sich Schnitzler in diesem Sinne über die Insel in den Briefen an Hofmannsthal vom
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Ernst-Ullrich Pinkert: »Reflexe einer Reise nach Dänemark. Arthur Schnitzlers Novelle ›Die Frau des Weisen‹«, in: Roland Berbig (Hg.), Zeitdiskurse. Reflexionen zum 19. und 20. Jahrhundert als Festschrift für Wulf Wülfing, Heidelberg: Synchron Wissenschaftsverlag der Autoren 2004, S. 261-275. Vgl. Ebd., S. 263-264. Schnitzler hat 1896 zusammen mit Richard Beer-Hofmann und dessen späterer Frau »zwei Wochen im dänischen Badeort Skodsborg verbracht.« (Konstanze Fliedl: Arthur Schnitzler, Stuttgart: Reclam 2005, S. 31.) E.-U. Pinkert: Reflexe einer Reise nach Dänemark, S. 274.
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7.9.1896 und an Marie Reinhard vom 8.9.1896. Über die Novelle fällt in beiden Briefen jedoch kein Wort, so dass Pinkerts biographisch motivierte Interpretation eine, wenn auch sehr wahrscheinliche Vermutung bleibt. G. J. Weinberger beschreibt in A Lover’s Flight5 vor allem die Gründe für die Flucht des Protagonisten. Und er stellt die zentrale Frage danach, warum der Erzähler, um Friederike zu bekommen, ihr nicht alles erzählt, was er weiß.6 Warum aber gerade der Inseltopos eine so entscheidende Rolle im Handlungsverlauf der Novelle einnimmt und wie und als was die Insel dabei bestimmt wird, bleibt in beiden Aufsätzen vernachlässigt und soll hier nun untersucht werden. Die Entstehungsgeschichte des kurzen Textes lässt sich im Tagebuch Schnitzlers detailliert nachvollziehen, allerdings nur in ihren äußeren Eckdaten. Viel mehr als ›heute am Weisen gearbeitet‹ schreibt er selten – das dafür häufig.7 Dennoch kann man einen deutlichen Einschnitt in der Entwicklung feststellen. Nach Schnitzlers Dänemarkreise 1896 erfährt die Novelle bald ihre Fertigstellung. Nach drei Anläufen, in denen der Text mehrfach intensiv umgestaltet worden ist,8 wird er Ende 1896 fertiggestellt und ab 2.1.1897 als Fortsetzungsgeschichte erstmals veröffentlicht.9 Es zeigt sich, dass der historisch belegte Besuch auf der Insel für die Entstehungsgeschichte ein wichtiger Zeitpunkt ist. Denn Schnitzler reflektiert selbst ausführlich über Inseln und Inseldasein in den Briefen und verarbeitet dies in der letzten Fassung seiner Novelle, wenn er die Insel als elementaren Ort für die Probe aufs Exempel für das Liebespaar benutzt.
I. In Schnitzlers Novelle Die Frau des Weisen wird die Tradition der Insel als Proberaum aufgegriffen. Es geht um die mögliche Zukunft eines Liebespaares, das versucht, auf einer kleinen Insel eine als 5 6 7
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G. J. Weinberger: »A Lover’s Flight. Arthur Schnitzler’s ›Die Frau des Weisen‹«, in: Neophilologus 83 (1999), S. 283-290. Ebd., S. 289. Arthur Schnitzler: Tagebuch 1893-1902. Unter Mitwirkung von Peter Michael Braunwarth, hg. von Werner Welzig, Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wisenschaften 1989. Vgl. zum Stil der Arbeitsnotiz etwa 25.6.1895: »Schrieb am ›Weisen‹«; 20.7.: »Vorm. ›Weise‹ gearbeitet.« Schnitzler vermerkt nur, dass er arbeitet, jedoch keinen weiteren Gedanken zu dem, was er arbeitet. Vgl. A. Schnitzler: Tagebuch. 24.9.1896: »›Weisen‹ zum 3. Mal begonnen.« Vgl. Ebd., 5.1.1897: »›Frau des Weisen‹ beginnt in der ›Zeit‹ zu erscheinen. Und E.-U. Pinkert: Reflexe einer Reise nach Dänemark, S. 263-264.
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der Zeit enthoben angestrebte Liebe zu realisieren. Es geht auch um Liebe als Utopie und als Experiment, wofür die Insel den Rahmen bietet. Dieses insulare Experiment scheitert letztlich, weil es von falschen Annahmen ausgeht: die eigene Vergangenheit ist auch auf der Insel präsent und determiniert auch dort die Handlungen – die Freiheit und Ungebundenheit, die sich das Paar auf der Insel erhofft hatte, bleibt aus. Eine Umsetzung der Liebesvorstellung des Erzählers mit Friederike in eine tatsächliche Liebesbeziehung ist nicht möglich. Die Insel betont allerdings bestimmte Handlungselemente deutlicher, als dies auf dem Festland der Fall sein könnte. An der Insel schmilzt die Handlung der Novelle notwendigerweise zu einem einzigen Punkt zusammen. Durch diese Konzentration10 werden die Protagonisten auf sich selbst zurückgeworfen. Sie sind zwar in dem gegenwärtigen Moment auf der Insel gefangen und können ihm nicht entrinnen, sind gleichzeitig aber auch an die Vergangenheit auf dem Festland angebunden. Durch diese Spannung wird eine undeterminierte Gegenwart unmöglich gemacht. Man kann mit Jochen Schmidt von dem »Generaralthema Einsamkeit und Isolation«11 bei Schnitzler sprechen, das sich in der Novelle mit dem Inseltopos verbindet. Durch die Wahl des Schauplatzes wird eine bestimmte Erwartungshaltung auf Seiten des Lesers erzeugt. Denn ebenso wie der Figur wird der Insel stereotyp ihre Einsamkeit in der Tiefe des Meeres und die für Menschen damit einhergehende Isolation auf ihr zugeschrieben. Die Insel kann so als narratives Grundschema der Erzählung ausgemacht werden, die auf einer sinnlich erfassbaren Ebene für das steht, was innerhalb der Figuren an Unerfassbarem geschieht. Die diesem Aufsatz zu Grunde liegende These ist folgende: Es findet auf der Insel eine Prüfung, nämlich das Ausprobieren einer Zukunft, statt. Einem eher utopischem Charakter des Vorhabens beim Aufbruch – die Insel wird als nicht determinierter (Sehnsuchts-)Ort aufgesucht, auf dem sich die stille Reinheit eines zeitlosen Gefühls entfalten soll – steht die dort erfahrene Realität schroff gegenüber. Die Erfahrung, dass die erinnerte Vergangenheit auch auf der Insel präsent ist, löst die Konzentration und Isolation der Insel auf und bindet sie in ein Raum-Zeit-Gefüge ein. Die Insel taugt nicht als Projektionsfläche für zukünftiges Geschehen, weil sie nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich an das Festland ange10 Vgl. zur Insel als Konzentrationspunkt Horst Brunner: Die poetische Insel. Inseln und Inselvorstellungen in der deutschen Literatur, Stuttgart: Metzler 1967, S. 254. 11 Jochen Schmidt: »Der einsame Weg. Vereinsamung und Entgrenzungsdrang als Symptome für die Décadence«, in: Hee-Ju Kim/Günter Saße (Hg.), Arthur Schnitzler. Dramen und Erzählungen, Stuttgart: Reclam 2007, S. 117133, hier: S. 128.
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bunden ist. Denn die Erinnerung, die die Gegenwart beeinflusst und das Gesprächsthema des Paares auf der Insel ist, stammt vom Festland. Mit dem Betreten der Insel ist sie auch dort präsent, und der Sehnsuchtsort, den der Erzähler vom Ufer her idealisiert hat, löst sich auf bzw. zeigt sich als das, was er ist: als unerreichbares Ideal. Dadurch wird aber eine Verbindung von Festland und Insel hergestellt, so dass sich auch dieses zunächst strenge Gegensatzpaar auflöst.
II. Die Insel wird als Ausflugsziel des Paares in der Frau des Weisen an eine exponierte Stelle gesetzt. Gleichzeitig kommt der Erzählung des Ausfluges die Rolle einer Episode zu, was bestimmte insulare Strukturen stärker betont. Horst Brunner stellt in Die poetische Insel vier inhaltliche und formale Merkmale solcher Episodeninseln fest: Zum einen haben sie inhaltlich einen Zwang zur Konzentration und stellen zweitens einen für bestimmte Figuren charakterisierenden Raum dar. Auch strukturell zeigt sich die Konzentration, wenn die Insel drittens als ein Schnittpunkt in der Handlung verstanden wird, an dem »Handlungsstränge enden, Rätsel gelöst und neue Handlungsverläufe eingeleitet werden.«12 Die vierte Funktion von Episodeninseln ist, dass sie weitere Handlung unmöglich machen, die Handlung zum Stillstand bringen. In dieser letzten Funktion sieht Brunner eine enge Verwandtschaft zur flucht-utopischen Funktion der Insel, denn auch dort ist »das ideale ›zeitlose‹ Dasein ohne Tat« das Thema.13 Gleich zu Beginn der Schnitzlerschen Novelle berichtet der IchErzähler über den dänischen Kurort, in dem er seine Ferien verbringt, dass ihm eine Insel vorgelagert sei. Sich am Ufer entlang rudern lassend – also zwischen Festland und Insel treibend – schreibt er: »Auf der schmalen und langgestreckten gelben Insel drüben liegt ihr [der Sonne, K. S.] Abendglanz.« Er sehnt sich unendlich nach der Insel und »möchte wohl einmal hin«, fühlt sich am Ufer aber »seltsam festgehalten« (FdW, 126). Entsprechend erscheint ihm an Land alles »still und unbewegt«. Ernst-Ullrich Pinkert interpretiert dies als ein »Gefühl des Wohlbefindens«, welches der Erzähler »schriftlich fest[halte]«,14 wohingegen Weinberger betont: »As the story opens, the narrator clearly longs for nothing much as stasis.«15
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H. Brunner: Die poetische Insel, S. 255. Ebd., S. 256. E.-U. Pinkert: Reflexe einer Reise nach Dänemark, S. 265. G. J. Weinberger: A Lover’s Flight, S. 285.
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Und eben dies ist der Spannungshorizont des Textes, den die beiden Interpreten jeweils getrennt bemerken. Denn das Wohlgefühl des Erzählers wird gerade durch das Unbewegte, mithin Dekadente, ausgelöst: Es ist die »tiefe Einsamkeit« und das »melancholische«, »müd und gedämpft« klingende Spiel der Kurkapelle, das »Einfache« und zugleich weit Ausgedehnte des Ortes (FdW, 126), was zusammen das Behagen erzeugt. Symptomatisch, dass der Erzähler in dieser Situation nicht selbst rudert, sondern sich einem Steuermann überlässt.16 Selbst aktiv zu werden, kommt ihm nicht in den Sinn. Sein aktiver Aktionsradius ist zudem auf das kleine Örtchen beschränkt. In dieser Stimmung trifft er Frau Friederike wieder. Sie ist die Frau seines ehemaligen Lehrers, dessen Pensionsgast er sieben Jahre zuvor gewesen ist. Am letzten Tag seines Aufenthaltes hat sie dem frischgebackenen Abiturienten ihre Liebe offenbart und ihn nach einem innigen Kuss überstürzt weggeschickt. Seither hat kein Kontakt bestanden. Der Ich-Erzähler war damals äußerst aufgewühlt, weil er Friederikes Mann bei der Beobachtung des Kusses gesehen hat (FdW, 135). Nach der ersten zufälligen Begegnung nun am Strand des dänischen Kurorts folgen rasch weitere lose Treffen, in denen der Erzähler die Frau immer wieder als ›Fremde‹ wahrnimmt (FdW, 130, 132). Irgendwann kommt das Unvermeidliche: Die Wirkung des Kusses flammt wieder auf und der Erzähler hält in impressionistischer Manier fest: »Wir plauderten wieder über so gleichgiltige [sic!] Dinge als das letzte Mal, und doch war alles anders. Hinter unseren Worten glühte die Erinnerung.« (FdW, 131). Durch den Wechsel zwischen Nähe und Distanz wird im Erzähler eine »Sehnsucht wie nach einer unendlich Geliebten« (FdW, 133, Hervorheb. K. S.) ausgelöst. Diese Sehnsucht spiegelt jene nach der Insel wider, wie er sie gleich eingangs verspürt hat: umso weniger erstaunlich, dass sich beides vermischen wird. Aber ebenso unerfüllt wie das Begehren des Erzählers17 bleibt auch der Sehnsuchtsort Insel unerfüllt, wie sich weiterhin zeigen wird. Das Gefühl der ›glühenden Erinnerungen‹ konkretisiert sich schließlich, der Erzähler beschwört die vergangenen Erlebnisse als »wunderbare Verheißung [, die] sich nicht erfüllt h[a]tte« (FdW, 136) und stellt fest, dass er Friederike liebe (ebd.) – was als durchaus überraschende Wendung das Gefühlsleben des Erzählers betreffend 16 Blumenberg betont, dass die »nautische Daseinsmetaphorik« auch das Begreifen dessen, was Leben ist, bestimmt (Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997, S. 9). Sich selbstständig nicht auf dem Meer bewegen zu können, kann als Bild verstanden werden, nicht selbstbestimmt leben zu können. 17 Vgl. G. J. Weinberger: A Lover’s Flight, S. 289.
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verstanden werden kann. Dieser Teil der Konturierung der Ausgangssituation nimmt etwa die Hälfte der Erzählzeit ein, und die Insel tritt nun in voller Wirkkraft auf den Plan, da das weitere Geschehen von ihr bestimmt wird oder auf ihr spielt. Dem Ausflug auf die Insel geht ein nächtliches Treffen am Strand voraus, in dem beide über ihre Situation reflektieren. Zur Rechtfertigung dieses zufälligen Stelldicheins verweist der Erzähler auf die Freiheit des Willens in der Gegenwart: »Wozu über das Vergangene reden, dachte ich. […] Wir sind so leicht, so frei; die Erinnerungen flattern hoch über uns, wie ferne Sommervögel. […] Jetzt sind wir Menschen von heute und streben zueinander.« (FdW, 136) Die Loslösung von der Vergangenheit und der Sprung in die Gegenwart scheint geglückt, worauf das Paar die Segeltour plant: »›Wir wollen morgen früh eine Fahrt mit dem Segelboot machen‹, sagte ich.//›Ja‹, erwiderte sie.//[…]//›Wohin?‹, fragte sie.//›Zu der Insel drüben … wo der Leuchtturm steht, sehen Sie ihn?‹//›Oh ja, das rote Licht. Ist es weit?‹//›Eine Stunde; – wir können sehr bald zurück sein.‹« (FdW, 137) Zur Fahrt am nächsten Morgen verwandelt sich Friederike. Die Mutter eines vierjährigen Knaben, der zur Tour nicht mitkommt, sieht »aus wie ein achtzehnjähriges Mädchen« (FdW, 137) und ist zudem in bräutliches Weiß gekleidet. Die Zeit scheint zurückgedreht und eine Art Neubeginn für das Paar möglich zu sein. Dass es auf der Insel nichts zu besichtigen gibt, ist schnell geklärt; Friederike ist das etwas unangenehm, sie errötet. Der Bootsmann versteht kein Deutsch, und so fühlen sich beide »noch einsamer miteinander […] als früher« (FdW, 137), da sie beim Übersetzen auf die Insel eine abgeschlossene Sprechergemeinschaft bilden. Vom Meer aus sehen sie eine andere Küste, die symbolisch für eine tatsächliche Umsetzung der erträumten Zukunft in eine gelebte verstanden werden kann. Friederike fragt, ob auch das dort eine Insel sei, worauf sich folgender Dialog entspannt: »›Nein […], das ist Schweden, das Festland.‹//›Das wär noch schöner‹, sagte sie.//›Ja‹, erwiderte ich, ›aber dort müßte man bleiben können … lang … immer –‹« (FdW, 138). Der Kontrast Insel – Festland ist an dieser Stelle äußerst scharf und scheint unüberwindbar. Zur Insel kann man übersetzten, aber man muss auch wieder zurück. Könnte man gemeinsam auf das jenseitige Festland gehen, würde das für eine Erfüllung der Sehnsucht sprechen, weshalb das Festland schon vor dem Erreichen der Insel zum neuen Sehnsuchtsort wird. Die erhoffte Erfüllung gibt sich als unerreichbares Ideal zu erkennen: Man kann nach ihr streben und sich nach ihr sehnen, ein Erreichen des Ziels ist aber unmöglich. Es bleibt bei der Sehnsucht. Auf der Insel findet schließlich ein Spaziergang statt, in dessen Verlauf sich herausstellt, dass Friederikes Mann ihr in den vergan-
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genen Jahren nicht mitgeteilt hat, dass er Zeuge jener Kussszene wurde.18 Die sich regelrecht als geoffenbart dargestellte Wahrheit wird für den Erzähler dermaßen bedrückend, dass Friederike ihm vollends entgleitet. Sie wird nun aber nicht einfach zur Fremden, wie es zuvor in dem Wechsel von Nähe und Distanz der Fall war, sondern von etwas Sagenhaften umgeben. Die Weisheit – das Schweigen des Mannes wird als Ausdruck von Weisheit aufgefasst – ihres Ehemanns entrückt auch sie und macht sie zu einem Schatten. Denn in der Weisheit meint der Erzähler die bedingungslose Liebe zu erkennen, wie der Text nahelegt, ohne es auszuformulieren. Das Gefühl des Hingezogenseins zu Friederike erlischt angesichts des Verzeihens ihres Mannes, für dessen Beweis der Erzähler das Kind der beiden anführt (FdW, 131). Vor Schreck vor dieser Erkenntnis flieht der Protagonist weit weg, kaum dass sie an den Urlaubsort zurückgekehrt sind.
III. Die Novelle thematisiert die Insel im Spannungsgeflecht von Raum und Zeit, wobei es gelingt, die Insel als Element »antagonistische[r] Raumkonzepte ihrer Statik zu berauben und zu dynamisieren.«19 Die Insel ist nicht nur eine Episode oder Durchgangsraum. Vielmehr bricht sie die Figurenkonstellation auf und kehrt dabei die 18 Hier sei angemerkt, dass dies eine zentrale Stelle der Erzählung ist. Außer im Titel ist der Mann Friederikes kaum präsent. Sein Schweigen wird mit Weisheit gleichgesetzt. Konstanze Fliedl interpretiert dieses Schweigen als Besitzmarkierung des Ehemanns: »Den männlichen Zweikampf um eine weibliche Trophäe hat der väterliche ›Weise‹ durch das bewahrte Monopol des Schweigens und des Geheimnisses ersetzt, die Ödipus-Idendität des Erzählers bricht zusammen.« (K. Fliedl: Arthur Schnitzler, S. 126.) Es bietet sich natürlich an, einen Schnitzlertext einer psychoanalytischen Lesart zu unterziehen. Man könnte unter diesem Gesichtspunkt allerdings auch die Frage stellen, was es bedeutet, dass auch der Ich-Erzähler schweigt. Denn der Erzähler teilt tatsächlich nur vermeintlich mit Friederike das Geheimnis um den Kuss. In Wirklichkeit besteht das Geheimnis der Mitwisserschaft zwischen ihm und Friederikes Ehemann; die beiden Männer schließen dadurch die ahnungslose Friederike aus und bilden einen exklusiven ZweierBund, weil beide sowohl von dem Ereignis als auch von der Mitwisserschaft des Ehemannes wissen. Weil dieser Aspekt aber mit der Insel nichts zu tun hat, lasse ich ihn im weiteren Fortgang außen vor. 19 Ottmar Ette: »Von Inseln, Grenzen und Vektoren. Versuch über die fraktale Inselwelt der Karibik«, in: Marianne Braig/Ottmar Ette/Dieter Ingenschay/Günther Maihold (Hg.), Grenzen der Macht – Macht der Grenzen. Lateinamerika im globalen Kontext, Frankfurt/Main: Vervuert 2005, S. 135180, hier: S. 158.
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gängigen Inselklischees in ihr Gegenteil um. Von der Erfahrung auf der Insel aus wird das weiter entfernte schwedische Festland der Sehnsuchtsort, schon vor dem Eintreffen auf der Insel – als Vorwegnahme gewissermaßen. Zum Ende der Bewegung auf der Insel wird sie schließlich zum Ausgangsort der Flucht des Erzählers zurück auf das dänische Festland. Die Flucht findet von der Insel zum Festland statt, womit sich abermals inverse Verhältnisse zeigen. Die Trennlinie zwischen den beiden Räumen Festland und Insel wird zunächst scharf gezogen, um dann aufgelöst zu werden. Im Sinne von Lotmans Raumsemantik werden in der Novelle Festland und Insel zunächst als binäres Gegensatzpaar verstanden. Die Überschreitung der sie trennenden Grenze, nämlich der Wasserbarriere, kann in diesem Sinn als Basis für die Interpretation der Novelle begriffen werden. Ein einfacher Ortswechsel für den Ausflug würde nicht dieselbe Bedeutung haben wie das Übersetzen auf die Insel. Denn erst die Überwindung der Barriere Meer – wozu es auf räumlicher Ebene besonderer Maßnahmen bedarf – und schließlich die mentale Verknüpfung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf der Insel auf einer zeitlichen Ebene, lösen das Gegensatzpaar auf, indem sie es verschmelzen. Bemerkenswert ist an dieser Stelle, dass innerhalb der Novelle der Ausgangsort problemlos als Festland beschrieben wird, dem die Insel vorgelagert ist. Es heißt von ihm, er sei ein »Ort zwischen Meer und Wald«. Der Wald »dehnt sich ins Land, weit, leicht ansteigend« (FdW, S. 126). Auf diese Weise wird einerseits auf eine gewisse Ausdehnung des Hinterlandes hingewiesen, aber zugleich wird auch die Unbestimmtheit des Ortes betont. Er liegt nicht zwischen Land und Meer, sondern zwischen einem unendlichen Wald und dem ebenfalls unendlichen Meer. Dadurch ist er zugleich begrenzt und unbestimmt als Punkt in einem Grenzbereich, dem Ufergürtel, zwischen den beiden Elementen Land und Meer. Betrachtet man nun aber eine Karte von Dänemark, zeigt sich, dass die schwedischen Inseln, die von Dänemark aus zu erreichen sind, alle im Öresund vor der dänischen Insel Seeland liegen, nicht jedoch über Jütland, den dänischen Teil des europäischen Kontinents, erreichbar sind. Seeland war zudem vom Festland bis 1988 nur über eine Fährverbindung erreichbar. Davon, dass sich der Kurort auch auf einer Insel befindet, ist in der Novelle keine Rede. Dass es aber so sein muss, darauf verweist die Geographie sowie Schnitzlers Aufenthalt auf Seeland. Auch die Aussage der Figur Friederike, sie wolle in 14 Tagen ihren Mann in Kopenhagen treffen (FdW, 128), das ebenfalls auf Seeland liegt, kann in diesem Zusammenhang ein Indiz sein. Allerdings ist die Geographie in der Novelle stark fiktionalisiert, so dass eine eindeutige Zuordnung des Handlungsortes nicht möglich ist. Namentlich erwähnt werden nur
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die beiden Länder Dänemark und Schweden, und eben Kopenhagen, das aber in unbestimmter Entfernung liegt. Ein weiterer Aspekt für die Raumwahrnehmung in der Novelle ist die Beschreibung des Kurorts. Auch hier ist eine – in diesem Fall metaphorische – Verinselung auszumachen, die sowohl Friederike als auch der Erzähler erkennen. Friederike spricht dies bei der ersten Begegnung aus: »›Hier muß man einander doch immer begegnen.‹« – gemeint ist: auf der kleinen Strandpromenade (FdW, 129). Aber auf diese überschaubare ›Insel‹ des Kurortes hat sich der Erzähler ohne jegliche »Illusion« begeben: Er »hatte nichts Unvollendetes zurückgelassen«, keine Geliebte oder sonstigen Ambitionen (FdW, 127). Als er auf Frau Friederike trifft, erkennt er, dass es in seinem Leben eben doch noch eine unerfüllte Verheißung gibt (FdW, 136): Der Kuss, dem nichts folgte. Das fiktionalisierte Seeland und der auf dieser Insel angesiedelte abgeschottete Kurort stellen eine doppelte Isolation des Erzählers dar. Dem Kurort kommt dabei die ambivalente Rolle als abgeschotteter Insel einerseits und andererseits als Punkt auf der Trennlinie zwischen Land und Meer zu, der als Ausgangspunkt der Fahrt mit Friederike auf die entferntere tatsächliche Insel dient. Diese beiden Inseln, jene des dänischen Kurortes auf dem fiktionalisierten Seeland und die vorgelagerte, unterscheiden sich aber fundamental voneinander – und das nicht nur in der Größe und der Infrastruktur. Denn Seeland mit Kopenhagen ist der zentrale Teil des Landes. Auf Seeland kommt der Erzähler in ruhiger Stimmung, ohne Illusion an. Auf die schwedische Insel im Öresund geht er mit der Illusion über eine Zukunft, in der er und Friederike ein Paar bilden. Der Wunsch, gemeinsam auf das Festland Schweden zu gehen, bleibt natürlich unerfüllt. Er nährt aber die Illusion der Verwirklichbarkeit ihrer Liebe, in die der Erzähler und Frau Friederike sich verstricken. Das Interessante an dieser Feststellung ist, wie heterogen Inseln in der Novelle eingesetzt werden. Einerseits als weltferner, abgegrenzter Ort wie der Kurort und die vorgelagerte Insel. Andererseits als durchaus dem Festland äquivalente Orte, an denen Raum und Zeit sich in gewohnten, kontinentalen Bahnen bewegen. Auch was die stattfindenden Bewegungen betrifft, zeigt sich ein aufschlussreiches Bild: Der Protagonist lässt sich zu Beginn der Novelle am Ufer entlang rudern. Von dort sehnt er sich nach der Insel. Nach dem Treffen mit Friederike wagen die beiden den Ausflug auf die Insel, sich ebenfalls auf dem Wasser befindend sehnen sich beide nach Schweden. Die Insel bringt die Ernüchterung und damit die Flucht von der Insel zurück aufs Festland. Für den IchErzähler geht die Flucht weiter weg von diesem Ort. Friederike
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nimmt jetzt seinen Platz ein und wandelt am Ufer, zumindest in der Vorstellung des Erzählers. Der sich zyklisch wiederholenden Bewegung der Akteure entsprechen weitere Kreisbewegungen innerhalb der Novelle: nicht nur zwischen Festland und Insel, auch auf der Insel findet eine Kreisbewegung statt. Friederike beginnt schon auf dem Weg zur Insel, die Sehnsucht des Erzählers für das Weitentfernte zu übernehmen, denn sie ist es, die das Gespräch auf das neue Ziel des schwedischen Festlandes lenkt. Friederike nimmt auf diese Art den Platz des Erzählers im Kurort zu Beginn der Novelle ein und treibt nun ebenso umgetrieben am Ufer entlang wie jener zu Beginn. Das räumliche Bezugssystem der Novelle weist damit ähnliche Strukturen auf, wie Ette sie für die Karibik festgestellt hat. Dieser Raum »erscheint als ein Speicher von Bewegungen, die nicht mehr allein durch traditionelle Raum-Zeit-Vorstellungen erklärt werden können, sondern zugleich im Sinne fraktaler Muster und quantengeometrisch gebrochener Netzwerke funktionieren.«20 Denn dem Beschreiten bestimmter Land- und Seewege in der Novelle werden auch Handlungsmuster für den Text zugrunde gelegt. Der Urlaubsort bildet daran anknüpfend zunächst eine Grenzzone zwischen dem offenen Meer und dem ebenfalls weiten und offenen Waldgebiet, das sich dahinter erstreckt. Er ist ein Grenzpunkt zwischen zwei scheinbar unendlichen Gebieten. Entsprechend steht der Erzähler auch zwischen zwei Lebensphasen. Er hat vor wenigen Monaten das Studium beendet und steht an der Schwelle zum Berufsleben. Ein Lebensabschnitt ist also beendet, der nächste hat noch nicht begonnen. Dieses Zusammenfallen von zeitlicher und räumlicher Schwelle ist eine besondere Form des Chronotopos, den Bachtin als »[d]en grundlegenden wechselseitigen Zusammenhang der in der Literatur künstlerisch erfaßten Zeit-und-Raum-Beziehungen«21 versteht: »Ein weiterer, von hoher emotional-wertmäßiger Intensität durchdrungener Chronotopos ist die Schwelle. Dieser Chronotopos kann sich auch mit dem Motiv der Begegnung verbinden, seine wesentlichste Ergänzung aber ist der Chronotopos der Krise und des Wendepunkts im Leben. […] In der Literatur ist dieser Chronotopos immer metaphorisch und symbolisch«. 22
In der Schnitzlerschen Novelle ist genau das der Fall. Der Kurort ist der Ort, von dem aus die Probe gestartet wird. Der kurze Ausflug in die Zukunft endet aber in einer Rückwärtsgewandtheit, in der Fluchtbewegung des Erzählers: Er wendet sich von einer möglichen 20 Ebd., S. 159. 21 Michail Bachtin: Chronotopos, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2008, S. 7. 22 Ebd., S. 186 (Hervorhebung im Original).
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Zukunft ab und flieht in die Vergangenheit. Wie auch die Tatsache, dass er betont zu keinem Punkt der Erzählung selbst rudert, verweist dies auf die Handlungsunfähigkeit des Individuums, wie sie die Décadenceliteratur häufig thematisiert.23 Im Rahmen eines »sentimentale[n] Bewußtsein[s]« macht diese Strömung das zum Sujet, »was fehlt: Kraft des Willens, der Nerven«.24 Auch dem Erzähler fehlt es am Willen, die ersehnte Erfüllung des Kusses wahr werden zu lassen. Aber dieses Mal flieht er nicht aus Angst vor der Rache des Ehemanns, sondern vor dem Unheimlichen, das Friederike umgibt: das erdrückende Geheimnis, von dem sie nichts ahnt und das der Erzähler nicht lüftet. Er trifft, wenn überhaupt, eine passive Entscheidung, die Dinge nicht aktiv zu verändern, sondern sie zu belassen, wie sie sind. Er gibt auf und kehrt in sein altes Leben zurück. Die Schwelle zu einer möglichen Zukunft hat er nur probehalber übertreten. Der Ausflug auf die Insel erweist sich unter diesem Aspekt als ein Probehandeln, dem der Wunsch, auf einem Festland anzukommen, gegenübersteht. Man kann das Festland als sichere bürgerliche Existenz verstehen, die dem angehenden Doktor bevorsteht. Er wäre gerne schon dort, wenn nicht die Insel dazwischen läge. Auf die Insel nimmt er in Friederike einen Teil aus dem abgeschlossen geglaubten Leben mit. Und er erkennt, dass dieser Teil doch nicht beendet ist, wie gedacht, woraufhin er auf das diesem Abschnitt zugeordnete Areal zurückkehrt. Der Charakter der Insel als Proberaum für eine zukünftige Handlung zeigt sich also auch auf der topologischen Ebene.25 Dem verminderten Risiko, das der Erzähler bei einem bloßen Versuch hat, entspricht allerdings auch der verminderte Erfolg des Unterfangens. »In der Kunst und Literatur sind alle Zeit- und Raumbestimmungen untrennbar miteinander verbunden und stets emotional-wertmäßig eingefärbt«,26 konstatiert Bachtin. In diesem Sinne soll hier nun neben dem Raum und der Bewegung im Raum die Zeit gesondert betrachtet werden, um beide schließlich zusammenzuführen. Die wenigen Ereignisse auf der Insel sind der Dreh- und Wendepunkt der kurzen Novelle. Pinkert führt dies auf die »Weltferne« und »Abgeschlossenheit« der Insel zurück, wie Schnitzler sein eigenes Erlebnis auf der Insel Hven beschrieb. So wird für Pinkert das Inselhafte der Insel, und damit meint er eben ihre Isolation, zum 23 Vgl. hierzu H. Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer, S. 10. 24 Dieter Borchmeyer: »Décadence«, in: Moderne Literatur in Grundbegriffen, hg. von dems. u. a., Tübingen 1994. S. 69-76, hier: S. 72. 25 Auf die komplexen »Raum-Zeit-Verschachtelungen« in Bezug auf Inseln verweist auch Ette. (O. Ette: Von Inseln, Grenzen und Vektoren, S. 165.) 26 M. Bachtin: Chronotopos, S. 180.
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»Katalysator der novellistischen Zuspitzung des Textes«.27 Dies sind stereotype Zuschreibungsmuster für die Insel, wie sie auch schon Horst Brunner festgestellt hat, als er die »Abgeschlossenheit, Begrenztheit und ›Dauer‹« der Insel zu ihrer Definition als »Gegenbereich zum Draußen, zur ›Welt‹, die durch Weite, Unbegrenztheit und Geschichtlichkeit bestimmt ist«, beschrieben hat. Auch bei Schnitzler ist die Insel zunächst ein der Realität enthobener Gegenort, jedoch spielt die Insel in der Frau des Weisen in wesentlich größerem Maße mit dem Inseltopos: Sie spielt mit ihm im Spannungsfeld von Isolation und Entgrenzung. Keine Frage, dass das Paar auf der Insel isoliert ist, es ist sich selbst überlassen, trifft nicht direkt auf Bewohner, und auch das Kind der Frau ist nicht mit von der Partie. Die empfundene Zeit fließt anders, nachdem aus Friederikes Äußerungen hervorgegangen ist, dass ihr Mann nie mit ihr über das Geschehene gesprochen hat. »Die Möglichkeit, sich im Dialog mit Friederike Klarheit zu verschaffen, wird nicht einmal erwogen.« 28 Was der Erzähler kennt, ist allein seine Interpretation: Es scheint, als habe Friederikes Mann nie etwas gesagt und der Erzähler fragt nicht nach, sondern zieht seine Konsequenzen. Er fragt sich: »Wie lange, wie unendlich lange ist es her, dass wir auf diese Insel gekommen sind?« (FdW, 141), obwohl es kaum eine Stunde sein kann, erlebt er die Zeit deutlich gedehnt. Seine Illusion einer zukünftigen Verbindung mit Friederike ist zerstört, er strebt nicht nach ihrer Wiederherstellung. Er kam mit einer Frau, die er liebte »und jetzt geht eine Fremde an meiner Seite« (ebd.). Die Insel ist der Ort jener Wandlung, was auch den Fluss der Zeit verändert hat. Gedacht zunächst, um die Zukunft zu probieren und um die erotische Liebesversprechung des Kusses der Frau wahr werden zu lassen, wie Weinberger in A Lover’s Flight stark macht. Doch auf der Insel vollzieht sich eine Abwendung von der Gegenwart, die noch die Freiheit, insbesondere die Handlungsfreiheit des Paares ermöglicht hätte, hin zu einer Vergangenheit, die alles determiniert. Die Insel erweist sich nämlich als in gleicher Weise durch Geschichtlichkeit bestimmt wie das Festland. Es zeigt sich, dass der vermeintliche Gegensatz der Räume vor allem zeitlich bedingt war. Denn auf dem Festland dominiert die Vergangenheit. Die Erinnerung ist dort zunächst überstark, scheint dann aber abstreifbar, als sich beide auf dem Weg zur Insel befinden. Der Erzähler reflektiert das, wenn er schreibt: »Wie wir so auf dem Boote hinglitten, … da schien es mir eine festliche Fahrt, wir selbst als ein königliches Paar, und alle früheren Bedingungen
27 E.-U. Pinkert: Reflexe einer Reise nach Dänemark, S. 275. 28 Ebd., S. 266.
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unseres Daseins abgefallen.« (FdW, 138) Vom Festland und noch vom Boot aus wurde die Insel als ein Ort ohne Verbindung zur Vergangenheit ausgemacht. Dort schien es möglich zu sein, eine zukünftige Gegenwart real werden zu lassen. Dass auch der Sohn der Frau nicht mitkommt, unterstreicht dies. Steht er doch für die vergangene und noch anhaltende eheliche Verbindung Friederikes mit ihrem Mann. Die beiden Räume werden daher zu getrennten Orten nicht wegen der Barriere Meer, die sich als leicht überwindbar herausstellt, sondern durch die auf sie projizierten Zeiträume. Auf der Insel stellt sich dann aber heraus, dass dies eine falsche Annahme ist. Denn die Zeit ist in den beiden Vergleichssystemen die gleiche. Der Erzähler ist zunächst irritiert davon und fragt Friederike, als sie versucht, die Vergangenheit auf die Insel zu holen: »›Warum sprechen Sie jetzt davon?‹« (FdW, 140) und erstarrt schließlich innerlich durch die Erkenntnis, dass die Zeit sich nicht verändert (FdW, 141). Die Geschichtlichkeit der Insel ist es, die nicht nur dem Paar, sondern auch der Insel die Isolation nimmt. Eng verbunden mit dem Fluss der Zeit, ist es nur ein Traum des Erzählers, alles Vergangene abzustreifen, um die Freiheit des Moments auf der Insel erleben zu können. Die Isolation der Insel wird als Illusion erkennbar. Es ist die Sehnsucht des Erzählers, die in Gedanken schafft, was nicht ist, und es ist ebenfalls der Erzähler, der erkennt, dass er sich einer Täuschung hingegeben hat. Symptomatisch für den Lauf der Zeit in eine einzige Richtung ist der Weg, den das Paar auf der Insel abschreitet. Denn es ist der einzige Weg, den es dort gibt, was zusätzlich auf das Nichtvorhandensein einer Wahlmöglichkeit schließen lässt sowie auf die vorgeschriebene Richtung der einzigen Handlungsmöglichkeit. »[D]ie Metaphorisierung des Weges ist vielfältig und vielschichtig, doch ihr eigentliches Kernstück ist der Strom der Zeit«,29 schreibt Bachtin. Die Straße versteht er als ein sich historisch herausgebildet habendes Geflecht.30 Weniger wichtig ist zunächst die Form des Weges, denn die Tatsache, dass sie auf der Insel einem vorgeschriebenen, bereits existierenden Weg folgen. Vom Festland aus ist die Insel nur in ihren Umrissen erkennbar und nicht als von Menschen im Laufe der Zeit geprägter Kulturort, mit festen Wegen, worin sie dem Festland gleicht. Erst auf der Insel machen beide die Erfahrung, dass auch hier zwischen Dorf, Leuchtturm und Kirche ein Weg entlangführt, den zu beschreiten eine Einladung an die Vergangenheit darstellt. Der Weg der Erzählung Friederikes führt weg von der Gegenwart, in welcher der Erzähler sich ihr bereits körperlich genähert hat, in die Vergangenheit und die Zeit, die seither verstrichen ist.
29 M. Bachtin: Chronotopos, S. 181. 30 Ebd.
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Nach diesem Abschreiten der vergangenen Zeit bricht der Erzähler den Ausflug ab und nimmt den »steilen Weg, der in wenigen Minuten ins Dorf führen mußte« (FdW, 141). Explizit will er nicht die Kirche erreichen, die nicht mehr passt, da beide kein festliches Paar mehr sind, wie der Erzähler es noch auf dem Boot meinte. Die Kirche als ein Ort einer inszenierten Hochzeitszeremonie, wo der versprochene Kuss eingelöst werden könnte, verliert ihre Bedeutung für den Protagonisten.
IV. Als Strukturraum für die Zukunft laufen auf der Insel alle Zeitknoten der Novelle zusammen und von hier laufen sie auch wieder auseinander. Die Gegenwart ist in diesem Geflecht nur ein singulärer Moment, der sofort aufhört zu existieren. Denn in die Gegenwart wird die Erinnerung transponiert, durch den Erinnernden als Übermittler, noch stärker als Erzeuger seiner eigenen Vergangenheit. Hans Blumenberg schreibt über die Texte des frühen Schnitzler: »Er [der Liebhaber] ist der Demiurg seiner Erinnerung. Aber unweigerlich schafft er nicht nur seine Erinnerungen. Hier kommt die Gleichzeitigkeit ins Spiel, die gleichmacht, aber nicht gleichläßt: Es sind zwei an diesem Punkt vereinigt, und nichts in der Welt kann verhindern, daß ihre Zeitlinien von diesem Punkt her divergieren.«31
Was Blumenberg hier für die durch Eifersucht vergiftete Gegenwart als Motiv bei Schnitzler konstatiert, lässt sich auch für eine unterdrückte Eifersucht des Erzählers in der Frau des Weisen ausmachen. Durch die Entrücktheit der Frau nämlich, die durch die sich unterscheidenden Erinnerungen von Mann und Frau auf der Insel entsteht, zeigen sich zwei verschiedene Vergangenheiten, die zwar an einem Punkt im Raum-Zeit-Kontinuum zusammengefunden haben, nämlich auf der Insel, die aber von dort ganz klar auseinanderstreben müssen. Es ist nicht möglich, die auf die Insel projizierte Zukunft in eine gegenwärtige Realität umzuwandeln. Denn der Versuch eines Ausprobierens einer Zukunft als Paar auf der Insel scheitert, weil die Vergangenheit des Paares angebunden ist an deren Vergangenheit auf dem Festland. Der Ausflug ist damit auch kein isoliertes Phänomen, sondern Teil der gemeinsamen Erlebnis31 Hans Blumenberg: »Gegenwart, vergiftet zwischen Vergangenheit und Zukunft«, in: Park. Zeitschrift für neue Literatur 45/46 (1993), S. 22-27, hier: S. 24 (Hervorhebungen im Original).
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se. Damit verliert die Insel aber jene Zuschreibung als Ort, an dem »der ausnahmehafte Zustand reiner Gegenwart, ohne Vergangenheit und Zukunft, ohne spürbare Veränderung, ein Zustand der Geschichtslosigkeit [ist].«32 Sie ist eingebunden in die Geschichtlichkeit der gemeinsamen Erinnerungen der beiden Akteure. Durch den Verlust der Isolation der Insel ist ein weiterer Aufenthalt auf ihr nicht länger nötig. Die Flucht des Erzählers ist überaus logisch, da die Insel als Ort einer Möglichkeit, als Ort der Sehnsucht zu einem Unort geworden ist, ebenso atopisch wie die Erfüllung einer Vereinigung der verheirateten Mutter und des jungen Mannes. Scheint die Insel also als Fluchtpunkt für eine konkretisierte Gegenwart (in die Zukunft ausgelagert), so verschwindet diese Gegenwart rasch unter dem Druck der abgestreift geglaubten Vergangenheit. Blumenberg stellt in seinem Essay sogar heraus, dass dies für den frühen Schnitzler typisch ist: Liebe ist nur ohne Vergangenheit möglich. »Die Vergangenheit determiniert die Zukunft, als sie dieser keine Chance lässt.«33 Dann ist durch die »Zukunft der Phantasie … [die] Gegenwart vergiftet.«34 Das ist es auch, was mit den Gedanken des Erzählers vor der Bootsfahrt gemeint war: Frei sein im Jetzt – handeln können, wie man fühlt: Das geht nur, ohne die Vergangenheit zu beachten. – Diese Freiheit war für einen Moment auf dem Festland allerdings präsent. Geht man noch einen Schritt weiter, zeigt sich, dass das Problem der Gegenwartslosigkeit ebenfalls ein Phänomen der Décadenceliteratur ist. Jochen Schmidt formuliert dies für Schnitzlers Drama Der einsame Weg von 1903 folgendermaßen: »In dem für die Décadence charakteristischen Gefühl, keine Gegenwart mehr zu haben und nur noch in Erinnerung leben zu können, verdichtet sich der psychisch bedingte Wirklichkeitsverlust. [Man] kultiviert […] die Empfindung, dem Vergangenen verfallen zu sein. Diese Vergangenheit schwächt die Gegenwart und raubt die Zukunft.«35
Und eben dies passiert auch dem Erzähler in der Novelle, die sieben Jahre vor dem Drama fertiggestellt wurde. Die Erinnerung hebt alle Unterschiede zwischen Räumen und Zeiträumen innerhalb der Novelle auf. Was bleibt, sind Impressionen einer erinnerten Vergangenheit. Die Determination der Gefühle und Handlungsmöglichkeiten durch die Erinnerung wird am Ende der Novelle in eine Affektfreiheit des Erzählers überführt. Auf der Insel findet ein für den Prota32 33 34 35
H. Brunner: Die poetische Insel, S. 21. H. Blumenberg: Gegenwart, S. 23. Ebd., S. 23-24. J. Schmidt: Der einsame Weg, S. 119.
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gonisten kathartischer Prozess statt. Zunächst schauert ihm vor dem tiefen Verzeihen, das er in das Schweigen des Ehemannes projiziert. Die konkrete Erfüllung einer von ihm als ideal verstandenen Liebesverbindung – die Ehe Friederikes mit dem Weisen – lässt den jungen Mann zurückweichen, hinterlässt dafür Friederike in seiner Erinnerung als unruhigen Geist (FdW, 142). Dieser ruhelose Schatten, der erfüllt ist von unerfülltem Begehren, steht im schroffen Gegensatz zu jener Seelenruhe, die der Protagonist erlebt. Er weiß auf der Rückfahrt, dass er nicht in der Lage ist, zu segeln. Friederike hatte ihn mit den Worten »›Einmal möchte ich mit Ihnen allein so eine Segelpartie machen, ohne diesen Mann.‹« aufgefordert, gemeinsam einen Schritt weiterzugehen. Er weist sie aber schroff zurück, dass er sich nicht aufs Segeln verstehe (FdW, 142), worauf eine unangenehme Unterbrechung des Gesprächs entsteht. Dieser Wortwechsel kann unproblematisch auf die nicht vollzogene Handlung, auf die Handlungs- und damit auf die Lebensuntüchtigkeit des Erzählers übertragen werden. Hans Blumenberg hat die Seefahrtsmetapher für den Gang des menschlichen Lebens in Schiffbruch mit uschauer umfassend herausgearbeitet. Das Meer in der Frau des Weisen ist dafür umso stärker beruhigt, als beide von der Insel zurückfahren (FdW, 142). Dies ist das typische Bild der Stoa für die Seelenruhe, die Ataraxie. Der Erzähler hat das höchste Glück im Sinne der antiken Lehre erreicht, dass ein Mensch erreichen kann.36 Er hat auf der Insel einen kathartischen Prozess durchlaufen und ist jetzt affektfrei. Friederike ist in weite »Ferne« gerückt (FdW, 142), der Protagonist versichert zweimal, dass er »glücklich« sei und daher nichts sagen könne (FdW, 143). Dieses empfundene Glück des Protagonisten hängt mit seiner Handlungsunfähigkeit zusammen. Denn er ringt mit sich, ob er ihr alles sagen sollte, um das »Unheimliche« von ihr zu nehmen, weist sich aber zurück mit »›ich durfte es nicht.‹« (FdW, 143). Dass diese Entscheidung mit einer akuten Handlungsunfähigkeit verbunden wird, zeigt auch, dass er mit seiner Situation Frieden geschlossen hat. Er lässt den Schatten,37 die unselige Erinnerung am Strand zurück und flüchtet in die Realität des Festlandes. 36 H. Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer, S. 9. 37 Um die Elemente des Inseltopos zu vervollständigen, soll letztlich hier noch auf ein weiteres Merkmal dieser Schnitzlerschen Insel verwiesen werden: das Moment des Wunderbaren. Die greifbare Realität wird auf der Insel ins Mystische entrückt, was die Erfahrungen des Erzählers transzendiert und ein Mysterium schafft: dem Protagonisten schauert vor dem tiefen Verzeihen, das er in das Schweigen des Ehemannes projiziert, und er will zunächst dieses »Unheimliche« von Friederike nehmen, verwirft die Idee jedoch sofort wieder (FdW, 142, 143). Er will, dass sie wieder ein Weib
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V. Das Experiment eines Ausprobierens einer möglichen Zukunft, das die beiden auf der Insel durchführen, scheitert.38 Schnitzler spielt dabei mit dem Topos der Insel als ausgelagertem Proberaum. Aber auch diesen Topos unterläuft Schnitzler, indem er die Insel zunächst ausbettet und zum unerreichbaren Sehnsuchtsort macht, dann näher heranholt – zunächst ist die Insel zwei Stunden entfernt, als er mit Friederike darüber spricht schließlich nur noch eine Stunde – und ihn schließlich auflöst, indem er die Distanz aufhebt. Die Freiheit, die in diesem Kontext ebenfalls mit der Insel assoziiert wird, wird nicht wahrgenommen. Denn bei der Überfahrt wird das Bild eines Hochzeitspaares gezeichnet, das übersetzt in ein neues Leben: Das weiße Kleid und die Verjüngung Friederikes (FdW, 137), die Festlichkeit der Fahrt des »königlich[en] Paar[es]« (FdW, 138), die Kinder, die beide umringen, als sie an der Insel von Bord gehen (ebd.) und das Beschreiten des Weges zur Kirche (FdW, 139), würde als nächsten Schritt eine Vollziehung der Ehe nach sich ziehen. Die Insel wird in diesem Zusammenhang also nicht nur als Ort des prophezeiten Kusses verstanden, sondern kann auch als Metapher für das Bett verstanden werden, in dem das Liebespaar die Hochzeitsnacht vollziehen könnte.39 In der Umkehrformel hat Michel Leiris den Topos der Insel als Bett auf den Punkt gebracht: »Lit Île«.40 Die errötende Friederike scheint zu Beginn der Überfahrt in die Einsamkeit der Insel auch zu erahnen, dass es nun auch um die Frage der sexuellen Selbstentgrenzung und einer Ent-
wird, das heißt ein Mensch aus Fleisch und Blut. Der erlebte Kuss vor sieben Jahren ist im selben Sinn (und das vor der Überfahrt) etwas »Trauriges, beinahe Düsteres« (FdW, 135) und nimmt als Prophezeiung Friederike Entrückung schon vorweg: Sie wird in der Erinnerung des Erzählers selbst zu seinem Schatten und als er die letzten Zeilen aus dem Zugwaggon schreibt, sieht er ihren Schatten am Ufer auf und ab gleiten. Und eben auch dies stellt Brunner als charakteristisch für Episodeninseln fest: Hinter der realen Welt blickt eine zweite, mystische durch. (Brunner: Die poetische Insel, S. 255). In diesem Fall ist es das Mysterium der ehelichen Liebe, die die Gegenwart des Erzählers und Friederikes überschattet. 38 Vgl. zur Insel als Ort eines ausprobierten, aber utopisch bleibenden »privaten Glücks« bei Elisabeth Frenzel: Motive der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte, 5. Bd., überarbeitete und ergänzte Auflage, Stuttgart: Kröner 1999, S. 394. 39 Diesen Hinweis verdanke ich Ottmar Ette in der Diskussion im Anschluss an meinen Vortrag am 15.9.08. 40 Zitiert nach Georges Perec: Espèces d’Espace, Paris: Edition Galilée 1974, S. 26.
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scheidung für oder gegen die eheliche Treue gehen wird.41 Das Abgeschlossene und Intime dieser beiden Räume Bett und Insel wird in der Verbindung von beiden betont. Dass das Liebespaar aber, statt die Gefühle zu befreien, sie besänftigt (Erzähler) bzw. unbefriedigt lässt (Friederike), durchkreuzt allerdings auch diesen Topos von Insel und Bett. Ich möchte hier nun nochmals auf die Eingangsthese zurückkommen, die Insel in der Frau des Weisen als utopische Insel zu begreifen, sie als einen Proberaum für eine ungelebte Zukunft eines Liebespaares zu verstehen. Schließlich ist die Insel in der Novelle ein Utopia, das sich der Erzähler herbeiträumt. Denn er allein ist das Sprachrohr des Textes, er fiktionalisiert das Erlebte in seinen tagebuchähnlichen Aufzeichnungen. Die Insel wird so zu einem hochfiktionalisierten Ort innerhalb der Fiktion. Genau wie der fiktionale Text ist die Insel ein Ort des »›Probehandeln[s] unter vermindertem Risiko‹«.42 Die Verbindung von Insel und Liebeserfüllung sowie die Sehnsucht nach der Insel sowie nach der unendlich Geliebten rücken auch die Liebe in die Nähe der Utopie. Liebe – sei es als Einlösen eines erotischen Versprechens oder als eheliche Bindung – wird in der Novelle insofern ebenfalls zur Utopie, indem sie einerseits auf die Insel ausgelagert stattfinden soll sowie andererseits für den Erzähler unerreichbar ist. Denn die unendlich Geliebte gibt es: Es ist Friederike. Nur der Liebende ist nicht der Protagonist, sondern der weise Ehemann der Frau. Liebe als Utopie betrachtet »würde bedeuten, dass sie [die Figuren eines Textes, K. S.] an die Möglichkeit der Liebe und an deren Existenz glauben, sie aber für sich selbst als unmöglich erachten. Um Liebe zu realisieren, müssten zwei Figuren […] die gleichen Vorstellungen von ihr haben oder diese müssten wenigstens kompatibel sein.«43
41 Vgl. hierzu Reinhard Urbachs Überlegungen zur sexuellen Befreiung der Frau im Werk des frühen Schnitzler anlässlich einer Interpretation des Anatol-Zyklus’: »Selbstbeschränkung oder Selbstentgrenzung, Treue zu üben oder sich treu zu werden, das ist Sache eines jeden, einer jeden Einzelnen.« Denn die Freiheit, Entschlüsse zu fassen und der Handlungsspielraum fielen in den Bereich der Selbstbestimmung der Schnitzlerschen Figuren (Reinhard Urbach: »Schnitzlers Anfänge. Was Anatol werden soll«, in: IASL 33, 1 (2008), S. 113-154, hier S. 149). 42 Horst Thomé: »Vorwort«, in: Arthur Schnitzler, Medizinische Schriften. Zsgest. und mit einem Vorw. von Horst Thomé, Frankfurt/Main: Fischer 1991, S. 46. Thomé reflektiert dabei, dass der literarische Text es dem jungen Schnitzler ermögliche, den wissenschaftlichen Diskurs in einem »Spielraum« auszuprobieren und eine fruchtbare Beeinflussung der beiden Systeme zu erwirken (vgl. ebd.). 43 Florence Feiereisen: »Liebe als Utopie? Von der Unmöglichkeit menschlicher Näheräume in den Kurzgeschichten von Tanja Dünckers, Julia Franck
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Die Frau und der Erzähler teilen aufgrund der divergierenden erinnerten Vergangenheiten ihre Vorstellungen jedoch nicht. Und es fehlt besonders dem Erzähler die Entscheidungskraft, seine Sehnsucht zu verwirklichen.44 Die Vergangenheit wie die mögliche Zukunft haben beide Einfluss auf die reale Gegenwart und bestimmen sie mit. Das Paar befindet sich zwar allein auf einer Insel, ist dort jedoch keinesfalls isoliert, sondern fest eingebunden in die Zeit. Die Utopie entgleitet dem Erzähler. Sobald er den neuen Ort erreicht hat, zeigt sich, dass dort die Wunschvorstellung nicht erfüllbar ist. Die Idealität dieses Ortes muss einer tatsächlichen Realität weichen. Somit erweist sich die Insel als die ideale Metapher für Schnitzlers Figurenkabinett. Sie dient als Projektionsfläche bei der Begegnung mit ihr – und entspricht nicht den Klischees. Das Scheitern der Vorstellung der beiden Protagonisten, ein Paar zu werden, nährt sich aus dem Schweigen des Ehemannes und der Unfähigkeit des Protagonisten, Friederike den Kuss abzuverlangen. Allerdings hofft der Erzähler, dass auf der Insel andere Regeln gelten werden, wenn er sie denn nur aufsuchen könne. Sein Scheitern liegt also auch in falschen Vorstellungen von der Insel als der Zeit enthobenen Gegenortes zum als real erlebten Alltag begründet.
und Judith Hermann«, in: Ilse Nagelschmidt/Lea Müller-Dannhausen/Sandy Feldbacher (Hg.), Zwischen Inszenierung und Botschaft. Zur Literatur deutschsprachiger Autorinnen ab Ende des 20. Jahrhunderts, Berlin: Frank & Timme 2006, S. 179-196, hier S. 193. 44 Ebd., S. 195.
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Die Entgrenzung Siziliens in der italienischen Literatur des 20. Jahrhu Jahrhunderts nderts TORSTEN KÖNIG Der geographische und kulturelle Raum Sizilien ist seit den Anfängen der europäischen Literaturen Projektionsfläche für literarische Fiktionen gewesen. Eines der frühesten Beispiele hierfür ist Homers Odyssee. Dort findet sich im neunten Gesang jene bekannte Passage, welche Odysseus’ Landung auf der hier mit ihrem alten Namen Thrinakia figurierenden Insel schildert. Sie ist die mythische Heimat der riesenhaften Zyklopen und, wie die ihr zugeschriebenen Attribute nahelegen, Sinnbild für Zivilisationslosigkeit und Barbarei. Denn abgesehen davon, dass ihre Bewohner Menschenfresser sind und im Aussehen jedes menschliche Maß übersteigen, kennen sie weder verbindliche Gesetze als Grundlage gesellschaftlichen Zusammenlebens, noch kultivieren sie die Erde, sondern jeder von ihnen legt für seine Familie eine eigene Ordnung fest und man ernährt sich von dem, was die Götter wachsen lassen.1 Solcherart charakterisiert gehört die Insel der Riesen in der topologischen Konfiguration des Epos zu den wilden Orten, denen eine Reihe zivilisierter wie Ithaka, die Heimat des Helden, oder Scheria, die Insel der Phäaken, gegenübersteht. Angesichts der Opposition erscheint die Begründung, die für den barbarischen Zustand Thrinakias gegeben wird, interessant: die Insel ist vollkommen von der übrigen Welt isoliert. Da die Riesen die Kunst des Schiffbaus nicht beherrschen, kommen sie nicht weg von ihrem Eiland und somit nicht in Kontakt mit anderen Kulturen. Aufgrund ihrer Ungastlichkeit kommen andererseits keine Fremden zu ihnen. Damit kann jener Austausch nicht stattfinden, der konstituierend für die Entwicklung von Kultur ist.2 Kontextualisiert man diese Erklärungen in Verbindung mit der skizzierten Topographie historisch, sind sie als Hinweise auf das Selbstverständnis und das kulturelle Sendungsbewusstsein der griechischen Polis in Zeiten ko1 2
Homer: Odyssee. Übersetzt von Roland Hampe, Stuttgart: Reclam 1979, S. 137. (Gesang 9, Verse 106-115) Ebd., S. 138 (Gesang 9, Verse 125-135).
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Torsten König lonialer Expansion lesbar.3 Gegenstand der folgenden Überlegungen soll allerdings nicht das Verhältnis von literarischen Inselfiktionen und Kulturgeschichte in der Antike sein, sondern in der Moderne. Wenn einleitend das Sizilienbild Homers aufgerufen wurde, dann, weil es beispielhaft einen Typus topologischer Fiktion repräsentiert, der auch in den ersten beiden Dritteln des 20. Jahrhunderts, unter anderen kontextuellen Vorzeichen und mit anderen Konnotationen, Konjunktur hat. Er ist charakterisiert durch die Konstruktion der Insel erstens als terra altera zur zivilisierten respektive modernen Welt und zweitens als geschlossener Raum mit hermetischen Grenzen, die einen Austausch mit anderen Räumen verhindern. Im Folgenden sollen in einem ersten Schritt konkrete Ausformungen dieses Typus anhand von signifikanten Beispielen skizziert sowie anschließend seine Funktion in relevanten kulturgeschichtlichen Kontexten aufgezeigt werden. Ein weiterer Argumentationsschritt thematisiert dessen Verschwinden ab dem letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts. Er entwickelt das, was im Titel als »Entgrenzung« der topologischen Fiktion Sizilien angekündigt wird. Schließlich sollen auch hier die textuellen Befunde zu verschiedenen Kontexten in Beziehung gesetzt werden. Da Sizilien aus naheliegenden Gründen v. a. in der italienischen Literatur eine besondere Rolle spielt, konzentriert sich die Untersuchung auf Texte aus dieser. Die Analysen zum Status Siziliens als fiktionalem Raum im Laufe des 20. Jahrhunderts gehen von der Grundannahme aus, dass, wie sich am Beispiel aus der Odyssee schon abzeichnete, die Vorstellungen über die Beschaffenheit von Räumen Ergebnis diskursiver Konstruktionen sind.4 An ihnen lassen sich Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen Diskursbereichen und literarischen Raumfiktionen untersuchen. Sie verstehen sich damit auch als allgemeiner Beitrag zum Verständnis der Mechanismen, die bei der Verfertigung von Räumen wirken.
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Vgl. zur Deutung der insularen Topographie der Odyssee Christian Moser: »Archipele der Erinnerung. Die Insel als Topos der Kulturisation«, in: Hartmut Böhme (Hg.), Topographien der Literatur, Stuttgart, Weimar: Metzler 2005, S. 408-432. Vgl. zur Diskussion der Konstruktivität von Räumen in aktuellen Debatten die »Einleitung« in Robert Stockhammer: TopoGraphien der Moderne. Medien zur Repräsentation und Konstruktion von Räumen, Paderborn: Fink 2005, S. 7-23 sowie Vittoria Borsò: »Topologie als literaturwissenschaftliche Methode. Die Schrift des Raums und der Raum der Schrift«, in: Stephan Günzel (Hg.), Topologie: Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften, Bielefeld: transcript 2007, S. 279-295.
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I . Die Insel und der Kontinent in der Literatur Unter den zahlreichen Fiktionalisierungen Siziliens in der italienischen Literatur der ersten beiden Drittel des letzten Jahrhunderts, in denen die Insel als isolierte terra altera figuriert, sollen diejenigen von zwei Autoren herausgegriffen werden, die das Paradigma in seiner Vielschichtigkeit sehr gut illustrieren. Bei dem ersten handelt es sich um Luigi Pirandello. Im sizilianischen Agrigento geboren und aufgewachsen, verbringt er zwar die meiste Zeit seines Lebens in den großen kulturellen Zentren des italienischen und europäischen Nordens, jedoch spielt die Herkunftsregion Sizilien als Handlungshintergrund in seinem monumentalen Novellenwerk wie auch in einigen seiner Romane und Dramen eine wichtige Rolle. Auch in zahlreichen Essays thematisiert er die Insel.5 Zu den grundlegenden Zügen seines Werkes gehört die Diagnose einer Krise, in der sich nach ihm die italienische bzw. europäische Kultur und Gesellschaft am Beginn des 20. Jahrhunderts befinden.6 Sizilien übernimmt hierbei wiederholt die Funktion eines Raumes, der dem continente als Ort der Krise, an dessen geographischer Peripherie liegend, entgegengesetzt und frei von ihren Symptomen ist.7 Pirandello stellt die Fiktion eines ländlich-agrarischen, archaischen Siziliens, wo ursprüngliche Vitalität sowie ein durch Mythen geprägtes, teilweise irrationales Weltverhältnis der Bewohner ihren Ort haben, als kritisches Gegenbild der modernen, urbanen Welt gegenüber, die charakterisiert ist durch einsinnigen Rationalismus sowie durch Materialismus und kulturelle Überfeinerung, den Ursprüngen bzw. Symptomen der Krise. Äußerst deutlich wird das in der Novelle Ta-
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Zu den Novellen, die als Handlungshintergrund Sizilien bzw. Sizilianer als Protagonisten haben, gehören Tanino e Tanotto (1902), Fuoco alla paglia (1905), La verità (1905), Ciàula scopre la luna (1907) oder La giara (1909). Romane mit sizilianischem Hintergrund sind L’Esclusa (1893/1901) und I vecchi e i giovani (1913). Unter den Dramen des Autors figurieren zur Thematik Lumie di Sicilia (1910), Liolà (1916) und Il beretto a sonagli (1916). Der bekannteste Essay, in dem Pirandello Sizilien thematisiert, ist die Rede zum 80. Geburtstag Vergas Giovanni Verga. Discorso al Teatro Bellini di Catania nell’ottantesimo compleanno dello scrittore (1920). Enzo Lauretta: Pirandello o la crisi, Cinisello Balsamo: San Paolo 1994. Auf diese Opposition verweisen Roberto Alonge: Pirandello tra realismo e mistificazione, Napoli: Guida Ed. 1977, S. 11, Michael Rössner: »Il siciliano nel ruolo del Bon Sauvage nell’opera di Luigi Pirandello«, in: Helene Harth/Heydenreich, Titus (Hg.), Sizilien: Geschichte – Kultur – Aktualität, Tübingen: Stauffenburg-Verlag 1987, S. 151-164, Rosario Contarino: »Il Mezzogiorno et la Sicilia«, in: Alberto Asor Rosa (Hg.), Letteratura italiana. Storia e geografia. Bd. 3: L’età contemporanea, Torino: Einaudi 1989, S. 711-796, hier S. 739ff.
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Torsten König nino e Tanotto von 1902, die hier stellvertretend als Beispiel aufgerufen sei. Sie ist vollkommen auf dem beschriebenen Kontrast von Insel und Kontinent mit den entsprechenden Konnotationen aufgebaut. Der kränkliche und schwache Knabe Tanino, Frucht der gescheiterten Ehe eines sizilianischen Barons mit einer Florentiner Aristokratin wird vom Vater aus der Stadt und dem Umfeld kontinentaler Kultur auf sein sizilianisches Landgut geholt. Dort pflegt ihn die Magd Bertola gesund. Sie ist die neue Geliebte des Barons und hat mit ihm ein kräftiges, vor Vitalität strotzendes Kind, Tanotto genannt. Fortan wachsen die beiden Halbbrüder in der gesunden Atmosphäre des ländlichen Sizilien auf, fernab von allen schwächenden Einflüssen einer dekadenten Zivilisation.8 In dieser Novelle ist der Einfluss lebensphilosophischer und vitalistischer Ideen, die um die Jahrhundertwende virulent waren, ebenso wenig zu verkennen wie in anderen, die – auch dies ein zentrales Thema bei Pirandello – die Rolle der Ratio als die das menschliche Leben bestimmende Kraft radikal in Frage stellen.9 Unter ihnen findet sich eine Reihe, deren Handlungsort Sizilien ist. Ohne dass näher auf sie eingegangen werden kann, seien als Beispiel an dieser Stelle lediglich Fuoco alla paglia (1905) und La giara (1909) erwähnt. Die Insel wird in ihnen als ein Raum entworfen, in dem das mit der Moderne identifizierte Rationalitätsprinzip durch seine irrational motiviert handelnden Bewohner suspendiert ist. Sie befindet sich in raumsemantischer Opposition zum continente als Ort der Moderne. Damit muss sie in den genannten Beispielen, um das Funktionieren der Fiktion zu gewährleisten, als vom Kontinent klar getrennt konzipiert sein. Der Gedanke der Isolation Siziliens als Lanschafts- und Kulturraum wird an anderer Stelle in Pirandellos Werk, in einer Rede, die der Autor zum achtzigsten Geburtstag Giovanni Vergas gehalten hat, explizit. Er führt dort Grundzüge sizilianischer Mentalität, wie er sie sieht, nämlich die Angst über die Grenzen der vertrauten Welt hinauszugehen, die Tendenz, sich in sich zurückzuziehen, und das Misstrauen gegenüber dem Fremden auf die Isolationserfahrung der Inselbewohner zurück. Raumerfah8
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Luigi Pirandello: »Tanino e Tanotto«, in: ders., Novelle per un anno. Donna Mimma, Il vecchio Dio, La giara, hg. v. Nino Borsellino/Luigi Sedita, Milano: Mondadori 1994, S. 148-158. Vgl. zur Rationalismuskritik bei Pirandello: Pasquale Guaragnella: Il matto e il povero: temi e figure in Pirandello, Sbarbaro, Vittorini, Bari: Ed. Dedalo 2000 und Ulrich Schulz-Buschhaus: »Sozialkritik und Rationalitätskritik bei Pirandello – Das Beispiel der Novelle Quand’ero matto«, in: Michael Rössner/Frank-Rutger Hausmann (Hg.), Pirandello und die europäische Erzählliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts. Akten des 4. Pirandello-Kolloquiums in Aachen vom 7. bis 9. Oktober 1988, Bonn: Romanistischer Verlag 1990 (=Abhandlungen zur Sprache und Literatur 30), S. 77-93.
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Die Entgrenzung Siziliens rung wird mit Bewusstseinsstrukturen enggeführt: »Avvertono [die Sizlianer, Anm. d. A.] con diffidenza il contrasto tra il loro animo chiuso e la natura intorno, aperta, chiara di sole, e più si chiudono in sé, perché di quest’aperto, che da ogni parte è il mare che li isola, cioè che li taglia fuori e li fa soli, diffidano, e ognuno è e si fa isola a sé […]«.10 Auch im Roman Il Gattopardo (1958) von Giuseppe Tomasi di Lampedusa, dem zweiten hier ausgewählten Referenzautor, erscheint die Fiktion Sizilien als ein Raum, dessen topographische Isolation mit seiner kulturellen konvergiert. Auch hier übernimmt Sizilien die Funktion eines von den Defiziten der Moderne freien Raumes, der in Opposition zum kontinentalen Italien bzw. Europa als Ort dieser Moderne steht. Anders als im Beispiel Pirandello werden allerdings spezifische Probleme der italienischen National- und Gesellschaftsgeschichte in den Mittelpunkt gerückt, gleichzeitig aber auf deren universelle Dimension verwiesen. Der historische Roman spielt in Sizilien zur Zeit der italienischen nationalstaatlichen Einigung um 1860. Seine zentrale Figur, Fürst Fabrizio Salina, ist Vertreter einer die Insel prägenden feudalaristokratischen Kultur und der mit ihr verbunden Werte. Deren Untergang kündigt sich durch verschiedene Signale an, u. a. in Person des wirtschaftlich erfolgreichen Parvenüs Don Calogero Sedàra, Bürgermeister in Salinas Sommerresidenz Donnafugata. Sedàra wird neben der ökonomischen auch die politische Macht übernehmen und erscheint als Repräsentant einer neuen politischen und gesellschaftlichen Ordnung auf der Grundlage wirtschaftlicher und politischer Emanzipation des Bürgertums. Mit dieser Figur denunziert der Roman Zweckrationalismus und Utilitarismus als wesentliche Triebfedern des historischen Fortschritts, dessen geographischer Ursprung der Norden Italiens als Ausgangspunkt der nationalen Einigung und Europas mit seinen urbanen, industriellen Zentren ist. In seiner fiktionalen Topographie erhebt der Text damit die sizilianische feudalaristokratische Kultur zum Gegenpol der kontinentalen Moderne, die der Erfahrungshorizont seines Publikums ist. Dieser Pol ist gleichwohl ambivalent konnotiert. In einem Schlüsseldialog des Romans erläutert der Fürst dem Gesandten des neuen italienischen Königreichs, Chevalley di Monterzuolo aus dem nördlichen Piemont, das sizilianische Wesen. Es erscheint einerseits mit seiner selbstsicheren Resistenz gegen Neuerungen, dem Hang zur Trägheit und der Neigung zur Flucht ins Imaginäre als subversive Gegenkraft zur
10 Luigi Pirandello: »Giovanni Verga. Discorso al Teatro Bellini di Catania nell’ottantesimo compleanno dello scrittore« (1920), in: ders., Saggi e interventi, hg. v. Ferdinando Taviani, Milano: Mondadori 2006, S. 1013.
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Torsten König Fortschrittsideologie des industriellen Zeitalters.11 Andererseits sind die Überlegungen Salinas zur kulturellen Statik Siziliens und zum Überlegenheitskomplex der Sizilianer an deren Ursprung auch als Kritik am »sicilianismo«, »quell’ideologia autocelebrativa che la classe dirigente isolana ha accampato«, in Form ironischer Selbstreflexion lesbar.12 Unabhängig von der hier nicht weiter zu vertiefenden Frage, welche genauen Konnotationen der Inselraum annimmt, lässt sich festhalten, dass gerade der Dialog zwischen dem Fürsten und Chevalley als Sprachrohr des kontinentalen Selbstverständnisses eine für den Roman exemplarische Opposition der Räume etabliert, denen die Sprecher zuzuordnen sind. Sie dient der Artikulation eines Unbehagens an der Moderne. Die Reihe der italienischen Texte, in denen Sizilien bis zur zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts zur Projektionsfläche für einen Raum wird, welcher der als defizitär empfundenen Moderne enthoben ist, könnte an dieser Stelle fortgesetzt werden. Zu ihnen gehört Elio Vittorinis Roman Conversazione in Sicilia (1941), dessen Protagonist im Moment einer existenziellen Krise den Norden flieht und auf einer Reise durch Sizilien die Insel als Ort erfährt, der ihn auf drängende Daseinsfragen Antwort finden lässt. Auch Vitaliano Brancatis Roman Don Giovanni in Sicilia (1941) baut auf der Opposition von Kontinent als Raum der Moderne und Sizilien als Raum auf, der sich dieser entzieht. Dessen vollkommen von der sicilianità geprägte Held, eine Art sizilianischer Oblomov, versucht im modernen, durch Ordnungs- und Effizienzdenken sowie mondäne Aufgeregtheit geprägten Mailand Fuß zu fassen, scheitert und kehrt am Ende wieder auf die Insel zurück. Schließlich sei noch auf den Lyriker Salvatore Quasimodo hingewiesen, der in seinen frühen Gedichtsammlungen Acque e terre (1930), Oboe sommerso (1932) und Erato e Apollion (1936) die Suche nach einer naturhaften Unver-
11 Giuseppe Tomasi di Lampedusa: Il Gattopardo, Milano: Feltrinelli 2004 [1958], S. 161f. Vgl. zur Skepsis gegenüber dem Fortschritt als Thema des Romans Bernd Weiler: Die Ordnung des Fortschritts. Zum Aufstieg und Fall der Fortschrittsidee in der »jungen« Anthropologie, Bielefeld: transcript 2006, S. 193-195. 12 Vgl. zur Rede Salinas, die als ironische Kritik am ›sicilianismo‹ lesbar ist, und damit eine Deutung des Romans als scheinbar reaktionäre Apotheose feudalaristokratischer Kultur widerlegt, Massimo Onofri: »Sicilia, sicilianismo e sicilitudine nel Gattopardo«, in: Francesco Orlando (Hg.), Giuseppe Tomasi di Lampedusa. Cento anni dalla nascita, quaranta dal Gattopardo, Atti del Convegno 12-14 dicembre 1996 a Palermo, Palermo: Citta di Palermo, Assessorato alla cultura 1999, S. 49-57, hier: S. 56.
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Die Entgrenzung Siziliens sehrtheit des Daseins im Thema der isola-mito verdichtet. Letztere identifiziert er mit Sizilien.13
II. Begrenz Begrenzungen ungen der Insel durch GeschichtsGeschichts - und Kulturgeschichtsschreibung Fragt man nach den Voraussetzungen für den skizzierten Status Siziliens in den literarischen Texten, kann man zunächst einen Blick auf die Wahrnehmung des kulturgeographischen Pendants der fiktionalen Insel in nichtfiktionalen Diskursen werfen. Für das Funktionieren der Fiktion mit den beschriebenen Oppositionsstrukturen ist es wichtig, dass der diskursiv als kulturelle Wirklichkeit perspektivierte Inselraum ebenfalls als isoliert, archaisch und statisch wahrgenommen wird. Eine solche Wahrnehmung lässt sich in der ersten Jahrhunderthälfte neben anderen bei dem Philosophen und Kulturtheoretiker Giovanni Gentile ablesen. Gentile, in Sizilien geboren und in den zwanziger Jahren zum faschistischen Staatsphilosophen avanciert, kann neben Benedetto Croce als einer der wirkmächtigsten italienischen Denker der ersten Jahrhunderthälfte gelten. In seiner einflussreichen Abhandlung Il tramonto della cultura siciliana (1919) entwickelt er die These einer historisch von den europäischen Entwicklungen isolierten, gewissermaßen indigenen, statischen und deshalb überholten Kultur der Insel. Der nationalistische Staatstheoretiker und Geschichtsphilosoph sieht allerdings in der nationalstaatlichen Einigung einen Wendepunkt, insofern die sicilianità sich nun in einer italianità auflöse und damit die Voraussetzung für die Überwindung der Rückständigkeit geschaffen werde – eine These, die besonders den Beifall der Faschisten finden musste.14 Zur Konstruktion der Insel als distinktive kulturelle Einheit trugen vor Gentile mit Intentionen, die der Stoßrichtung seiner Ideen genau entgegengesetzt waren, Vertreter der sogenannten nazione siciliana bei. Unter dem Begriff werden von Sizilien ausgehende politische Autonomiebestrebungen im 19. Jahrhundert zusammengefasst, in deren Rahmen die Insel als identitätsstiftende kultu13 Einen Überblick über das Sizilienbild bei den erwähnten Autoren gibt u. a. Rosario Contarino: Il Mezzogiorno et la Sicilia, S. 756ff. Zu Quasimodo vgl. auch Hans Hinterhäuser: Italienische Lyrik im 20. Jahrhundert, München: Piper 1990, S. 97-126, hier: S. 98. 14 Giovanni Gentile: Il tramonto della cultura siciliana, Firenze: Sansoni ²1963. Daniela Saccà Reuter weist darauf hin, dass eine ganze Reihe politischer Theoretiker in Italien wie Gentile Anfang des Jahrhunderts ein statisches Sizilienbild schufen, um sich dann wirkungsvoll von ihm distanzieren zu können. (Daniela Saccà Reuter: Salvatore Giuliano und die Sicilianità – zwei sizilianische Mythen, Münster u. a.: Waxmann 2005, S. 149f.).
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Torsten König relle Einheit entworfen wurde. Besonders die insulare Geschichtsschreibung mit Vertretern wie Michele Amari wirkte an diesem Bild maßgeblich mit.15 Schließlich kann, um eine weitere Facette dieses Diskurses ins Spiel zu bringen, auf die Studien des Anthropologen Alfredo Niceforo hingewiesen werden. Niceforo, der mit seinen Arbeiten als Initiator eines (pseudo-)wissenschaftlich begründeten Rassismus in Italien gelten kann, trägt zur Etablierung der These von der kulturellen, weil ›rassischen‹ Überlegenheit des Nordens gegenüber dem Mezzogiorno, dem Süden Italiens, der Sizilien mit einschließt, bei. An der Peripherie Europas gelegen erscheinen Sizilien und der Mezzogiorno bei ihm als Räume gesellschaftlicher und kultureller Atavismen.16 Die in diesen Texten entworfenen Bilder spiegeln und schaffen eine Wahrnehmung des Inselraumes, die Voraussetzung für die fiktionalen Projektionen ist. Gleichzeitig erscheinen sie ihrerseits geprägt durch die diskursive Tradition einer spezifisch okzidentalen Vorstellung von Insularität. Seit der Antike werden Inseln gegenüber dem europäischen Festland als Peripherie konzipiert.17 Ihre räumliche Entfernung vom kontinentalen Zentrum sowie die natürliche, unveränderliche Grenze des Meeres, die sie von ihm separieren, haben in dieser Konzeption einen Ausschluss der Insel vom kulturellen und wirtschaftlichen Austausch und damit die Verhinderung historischer Entwicklung zur Folge.18 An den Hinweisen auf die Determinanten für je spezifische Semantisierungen des Inselraumes Sizilien in den diskutierten Beispielen von Homer bis Gentile wird deutlich, dass die scheinbar durch natürliche Gegebenheiten bedingten Attribute der Insel Produkte kultureller Prozesse sind. Auch in nichtfiktionalen Diskursen erweist sich, um mit Henri Lefebvre zu sprechen, die vermeintlich konstative ›Repräsentation des
15 Vgl. dazu Giuseppe Carlo Marino: Il meridionalismo della destra storica e l’inchiesta parlamentare del 1867 su Palermo (cronache e storia), Palermo, Sao Paulo: ILA Palma 1971, S. 11ff. 16 Niceforo entwickelt seine Thesen v. a. in zwei Monographien mit bezeichnenden Titeln: L’Italia barbara contemporanea. Studi sull’Italia del Mezzogiorno, Milano, Palermo: R. Sandron 1898 sowie Italiani del Nord e Italiani del Sud, Torino: F.lli Bocca 1901. Vgl. zur kulturellen Rückständigkeit des Südens in Letzterem S. 4. 17 Vgl. zu den Ursprüngen der diskursiven Opposition von zentralem Festland und periphärer Insel in der griechischen Antike James S. Romm: The Edges of the Earth in Ancient Thought. Geography, Exploration, and Fiction, Princeton: Princeton University Press 1992, S. 9-44. 18 Vgl. zusammenfassend zum westlichen Inseldiskurs Rod Edmond/Vanessa Smith: »Editor’s Introduction«, in: dies. (Hg.), Islands in History and Representation, London, New York: Routledge 2003, S. 1-18.
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Die Entgrenzung Siziliens Raums‹ als ein vielmehr kulturell konstruierter ›Raum der Repräsentation‹.19 Dass es sich beispielsweise bei Gentiles Sizilien um einen ›Raum der Repräsentation‹ handelt, hat ein anderer Kulturtheoretiker und Literat erkannt, der, ebenfalls selbst Sizilianer, Sizilien zum zentralen Thema seines Werkes machte. Es handelt sich um Leonardo Sciascia, der in seinem Essay Sicilia e Sicilitudine von 1969 klarsichtig die ideengeschichtlichen und ideologischen Determinanten für Gentiles Position bestimmt. Der Hegelianer Gentile habe wegen der Unvereinbarkeit des von ihm so empfundenen materialistischen Charakters der sizilianischen Kultur mit seiner idealistischen Geschichtsphilosophie sowie der Unempfänglichkeit der Insel für den italienischen Nationalismus auf deren Beschränktheit, kulturhistorische Abgeschlagenheit und Entwicklungsresistenz geschlossen.20 Das, was an der Peripherie geschieht, ist im Sinne des hegelschen Geschichtsverständnisses irrelevant für den Lauf der Weltgeschichte. Es fällt aus ihm heraus. Diejenigen, welche die Deutungshoheit über diese Weltgeschichte haben, definieren auch Zentrum und Peripherie, Kontinent und Insel.21 Wenn es seit Homer eine okzidentale Tradition gibt, die die Opposition von Zentrum und Peripherie in die geographische Konstellation von zivilisiertem Festland und am äußersten Rand der bekannten Welt, jenseits der Zivilisation liegender Insel übersetzt, dann ist, wie die fiktionalen Beispiele Pirandello und Tomasi di Lampedusa gezeigt haben, in der Moderne eine Umdeutung der Räume dieser Oppositionsfigur hinsichtlich ihres kulturellen Wertes zu beobachten, zumindest in der Literatur. Im Unterschied zu Homers Sizilien erscheint in den spatialen Konfigurationen der vorgestellten fiktionalen Texte der isolierte, insuläre Kulturraum nicht als der problematische. Seine Randständigkeit und Isolation bewahren ihn gerade vor der Kontamination mit jenen Problemen, mit denen andere Räume infiziert sind. Ihnen verdankt er seinen kompensatorischen Charakter. Die Texte greifen ein Muster auf, das seit der Aufklärung fest zum motivischen Inventar von Zivilisationskritik 19 Henri Lefebvre: La production de l’espace, Paris: Ed. Anthropos 42000, S. 42-49. 20 Leonardo Sciascia: »Scilia e Sicilitudine« (1969). In: ders., Opere 19561971, Milano: Bompiani 2000, S. 966. 21 Die Bedeutung, die Hegels Geschichtsphilosophie für die Verfestigung des westlichen Zentrum-Peripherie-Denkens hatte und damit auch für die spezifische Konzeption des insularen Kulturraums als per se statisch und atavistisch, kann an dieser Stelle nicht vertieft werden. Vgl. zum Problem der Peripherie, die aus der Weltgeschichte herausfällt László F. Földényi: Dostojewski liest Hegel in Sibirien und bricht in Tränen aus, Berlin: Matthes & Seitz 2008.
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Torsten König und Evasionsliteratur gehört. Seitdem der zivilisatorische und technologische Fortschritt als Ursprung aller gesellschaftlichen und individuellen Probleme des modernen Menschen suspekt geworden war, lag es nahe, zur Veranschaulichung von Lösungsvorschlägen Räume und ihre Bewohner zu imaginieren, die sich von diesem Fortschritt unberührt, fern und isoliert befinden. Da die Insel die topologischen Voraussetzungen aufs beste erfüllt, ist sie bevorzugter Ort solcher Fiktionen.22 Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang der Umstand, dass Sizilien seit dem Ende des 19. Jahrhunderts verstärkt als Handlungsort von literarischen Fiktionen auftaucht, die über die Grenzen der Insel hinaus oder vielmehr vor allem jenseits dieser Grenzen rezipiert werden.23 Die Eigenheiten der peripheren sizilianischen Kondition konvergieren in ihnen, wie Francesco Orlando mit Blick auf Il Gattopardo herausstreicht, mit der Universalität jeder peripheren Kondition.24 Aus diesem Umstand ist nicht zuletzt der Erfolg von Romanen wie Il Gattopardo oder Conversazione in Sicilia zu erklären.
III. Grenzverschiebungen und Grenzverwischungen Ab dem letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts lassen sich in der literarischen Repräsentation Siziliens, vergleicht man sie mit denen der ersten Jahrhunderthälfte, Tendenzen ausmachen, die einen grundlegenden Wandel in der Konzeption des Raumes anzeigen. Die geschlossene Insel wird zu einer offenen, zu einem mit anderen Räumen kommunizierenden Raum. Die Grenzen dessen, was in kultureller Hinsicht mit »Sizilien« bezeichnet wird, verschieben sich, verwischen oder verschwinden. Bezeichnend für diese Tendenzen ist u. a. das Bild Siziliens, das Leonardo Sciascia im schon erwähnten Essay Sicilia e Sicilitudine
22 Gleichzeitig wird von der Peripherie aus sehr häufig Skepsis gegenüber dem Fortschritt geäußert, wie Bernd Weiler mit Blick auf Autoren wie Tomasi di Lampedusa, Dostojewski oder Gumplowicz hervorhebt. Vgl. Bernd Weiler: Die Ordnung des Fortschritts, S. 195. Wenn, wie Franco Moretti (Atlas des europäischen Romans. Wo die Literatur spielte, Köln: Dumont 1997, S. 51) feststellt, jedes literarische Genre seinen spezifischen Raum und umgekehrt jeder Raum sein Genre hat, könnte an dieser Stelle in einer umfangreicheren Studie systematisch nach dem Zusammenhang zwischen Evasionsliteratur, Modernekritik und Inseln gefragt werden. 23 Neben den bisher erwähnten Autoren tragen hierzu natürlich die Veristen Giovanni Verga und Luigi Capuana am Ursprung der modernen Literarisierung Siziliens bei. 24 Francesco Orlando: L’intimità e la storia. Lettura del »Gattopardo«, Torino: Einaudi 1998, S. 120f.
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Die Entgrenzung Siziliens dem von Giovanni Gentile entworfenen entgegenstellt. Es betont den kulturellen Austausch als prägendes Moment in der wechselvollen Geschichte der Insel. Fernand Braudels einflussreiche Studie La
Méditerranée et le monde méditerranéen à l’époque de Philippe II (1949) dürfte dazu beigetragen haben, Sizilien verstärkt als eine Region wahrzunehmen, die im Laufe ihrer Geschichte wie wenige andere in Europa mit den verschiedensten kulturellen Einflüssen in Kontakt kam.25 Wenn Sciascia nun Sizilien charakterisiert als »aperta e comunicante, di una cultura vivacemente italiana ed europea«,26 die Insel als ein Kreuzungspunkt der Kulturen im Mittelmeer interessant wird und die hiermit verbundenen Austauschverhältnisse thematisiert werden, indiziert das einen Wandel im Siziliendiskurs des 20. Jahrhunderts. Sciascia, der sich als sizilianischer Europäer begreift und seine intellektuelle Rückbindung u. a. in der französischen Aufklärung sieht,27 betont die historische kulturelle Verflochtenheit der Insel mit dem Kontinent v. a. angesichts der Gefahr, sie aufgrund ihrer strukturellen ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Schwächen in der Nachkriegszeit und unter dem nachwirkenden Mezzogiorno-Bild, wie es von Autoren wie Alfredo Niceforo entworfen wurde, als von Europa losgelöst zu betrachten. In Sciascias Analyse dieser Schwächen wird darüber hinaus deutlich, dass für ihn gerade in ihnen verbindende Elemente zwischen den Kulturräumen liegen. Sein berühmt gewordenes Diktum, Sizilien sei eine Metapher für den Zustand der gegenwärtigen Welt, bringt diese Wahrnehmung in konzentrierter Form zum Ausdruck.28 Wenngleich in einer Metapher keine reale Beziehung zwischen Bildspender und Bildempfänger besteht, verweist die Möglichkeit, in Sizilien als Mikrokosmos wesentliche Probleme der universellen Moderne ausmachen
25 Wenngleich ein solches Sizilienbild vor dem genannten Zeitpunkt nicht völlig inexistent war, wie die Arbeiten des Ethnologen und Historikers Giuseppe Pitrè belegen. Vgl. dazu auch Leonardo Sciascia: »Scilia e Sicilitudine« (1969), in: ders., Opere 1956-1971, Milano: Bompiani 2000, S. 966. 26 Ebd., S. 965. 27 Vgl. dazu Helene Harth: »Ordnung und Chaos: Leonardo Sciascias schriftstellerische Identität und die französische Kultur«, in: Dagmar Reichardt (Hg.), L’Europa che comincia e finisce: la Sicilia, Frankfurt/Main u. a.: Lang 2006, S. 146-162. 28 Die Formulierung lautet im Zusammenhang wörtlich: »Sono piuttosto uno scrittore italiano che conosce bene la realtà della Sicilia, e che continua a esser convinto che la Sicilia offre la rappresentazione di tanti problemi, di tante contraddizioni, non solo italiani ma anche europei, al punto da poter costituire la metafora del mondo odierno.« Vgl. Leonardo Sciascia: La Sicilia come metafora. Intervista di Marcelle Padovani, Milano: Mondadori 1979, S. 78.
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Torsten König zu können, auf die Annahme struktureller Parallelen zwischen den Kulturräumen. Ein solches Problem, das eine zentrale Rolle in Sciascias Werk spielt, ist das der Mafia – verstanden nicht als Element südländischer Folklore, wie sie publikumswirksam häufig vermarktet wird, sondern als destruktive gesellschaftliche und mentale Struktur. Der bekannteste Roman Sciascias zu diesem Thema ist Il giorno della civetta von 1961. Er analysiert mit literarischen Mitteln die gesellschaftlichen Voraussetzungen für das Phänomen. Dem Blick des in einem Mafia-Mordfall ermittelnden Kommissars Bellodi und dem des Lesers enthüllt sich ein Netz aus gesellschaftlichen Beziehungen und Abhängigkeiten, das weit über die Grenzen Siziliens hinausreicht und in dem es, vorbei an Recht und Gesetz, um die Ausübung von Macht und die Ausweitung von ökonomischen und politischen Machtsphären geht. Italien und die Welt, schließt ein Freund Bellodis angesichts der Befunde pessimistisch, sind im Begriff sich zu ›sizilianisieren‹: »Forse tutta l’Italia va diventando Sicilia …«.29 Die mit der rhetorischen Übertragung implizierte Auflösung bzw. Verschiebung der kulturellen Grenzen Siziliens wird an dieser Stelle im Text explizit durch die Engführung mit einem geoklimatischen Phänomen zum Ausdruck gebracht. Der Prozess gleiche der stetigen Verschiebung der sogenannten »linea della palma«, d. h. der Grenze der klimatischen Zone, in der Palmen gedeihen, in Richtung Norden.30 Der Vergleich denunziert nicht Sizilien als Ursprung des organisierten Verbrechens, sondern eine universelle gesellschaftliche Entwicklungstendenz in Form der kriminellen Unterwanderung des Gemeinwohls durch Partikularinteressen, die wie unter einem Vergrößerungsglas besonders gut anhand der sizilianischen Verhältnisse studiert werden kann. Während in Sciascias Konzeption der Insel die Verschiebung bzw. Verwischung ihrer kulturgeographischen Grenzen implizit zum Ausdruck kommt, wird die grundsätzliche Frage nach der Möglichkeit ihrer Existenz bei einem weiteren sizilianischen Autor ab den 80er Jahren zum expliziten Thema. Gesualdo Bufalino ist Sizilianer, wie auch die anderen vorangehend besprochenen Autoren. Als Exponent literarischer Postmoderne erregte er nicht nur in Italien, sondern auch international Aufsehen mit seinen Romanen und Erzählungen. 1988 publiziert er den Essayband La luce e il lutto mit Texten zur Kulturgeschichte Siziliens.31 Ausdrücklicher als Sciascia verweist er hier auf die aus historischen Evidenzen erklärbare kul29 Leonardo Sciascia: »Il Giorno della civetta« (1961), in: ders., Opere 19561971, Milano: Bompiani 2000, S. 479. 30 Ebd. 31 Der Band vereinigt Texte aus den Jahren 1982-1987, von denen die meisten schon andernorts publiziert waren.
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Die Entgrenzung Siziliens turelle Hybridität der »isola plurale«, die jeden Versuch, eine essentialistische Formel des sizilianischen Wesens zu erstellen zum Scheitern verurteilt: »[…] veramente, noi siciliani scoraggiamo chiunque voglia racchiudere in una formula univoca la nostra franta, ricca, contradittoria pluralità«.32 Die nachdrückliche Bewusstmachung der Vielfalt an kulturellen Einflüssen auf die Mittelmeerinsel stellt das Konstrukt eines klar begrenzten kulturellen Inselraumes in Frage. Perforiert die diachrone Perspektive Bufalinos gewissermaßen die Grenzen Siziliens, konstatiert sein Blick auf die Gegenwart deren vollständige Auflösung. In einem Prozess wechselseitiger Angleichung von Sicilia und continente werden distinktive Merkmale zwischen ihnen abgeschliffen. Äußerst klarsichtig analysiert der Autor die Dialektik zwischen der Aufweichung und Verschiebung kultureller Grenzen durch die technologiegestützte moderne Kulturkommunikation und den sich verändernden Referenzen zur Selbstbestimmung.33 Die kulturellen Eigenheiten einer geographischen Region, schreibt er, werden durch die energische Raspel der Moden, »la lima energica delle mode«, und die angleichende Bewegung, »l’azione omologante«, abgeschmirgelt, die die in Medien suggerierten Bedürfnisse, Sprechweisen und Kleidungsstile auf jede biologische und historische Diversität ausüben.34 An anderer Stelle heißt es: »Passerà poco (anni, mesi) e sarà impossibile distinguere una coppia di ragazzi che passeggia per un viale del parco di Monza da un’altra che balla allacciata in una discoteca di Canicattì. È un processo d’omologazione reciproca, che produce una perdita d’identità […].«35 Die kulturgeographische Region Sizilien, ihre Partikularität, ist also aus der pessimistischen Sicht Bufalinos im Verschwinden begriffen. Im Vorwort zu Museo d’Ombre aus dem Jahr 1982 skizziert der Autor die Rolle, die er für die Literatur in dem geschilderten Prozess ausmacht. Angesichts einer bevorstehenden »omologazione finale«, einer vollständigen Anpassung unter dem nivellierenden Druck der Medien- und Konsumkultur, sieht er es als Aufgabe der Literatur, das Partikulare und Verschiedene, »il Singolo e l’Alieno« zu bewahren.36 Da der Angleichungsprozess in der kulturellen Wirklichkeit nicht aufzuhalten und nicht umkehrbar ist, wird für ihn die in Lite-
32 Gesualdo Bufalino: »Pro Sicilia« (1988), in: ders., Opere 1981-1988, Milano: Bompiani 1992, S. 1137. 33 Gesualdo Bufalino: »Quella difficile anagrafe« (1988), in: ders., Opere 1981-1988, Milano: Bompiani 1992, S. 1143ff. 34 Ebd. S. 1144. 35 Gesualdo Bufalino: Pro Sicilia, S. 1138. 36 Gesualdo Bufalino: »Museo d’Ombre« (1982), in: ders., Opere 1981-1988, Milano: Bompiani 1992, 154.
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Torsten König ratur sedimentierte Erinnerung der einzige Ort, an dem das Besondere überleben kann. Zu dieser Literatur gehört Museo d’Ombre, eine Sammlung von etwa 130 kurzen Texten, nicht länger als acht bis fünfzehn Zeilen, die in einem Kaleidoskop von Vignetten, charakteristischen Alltagsszenen und Reflexionen ein in der Zeit des Schreibenden längst untergegangenes Sizilien bzw. Comiso, seinen Geburtsort, heraufbeschwören. Bufalino ordnet dieses historische Inventar sizilianischer Alltäglichkeit nach Gruppen, welche die Struktur des schmalen Bändchens vorgeben: er erzählt von verschwundenen Berufen (Mestieri scomparsi), beschreibt Orte, die es nicht mehr gibt (Luoghi d’una volta), oder dokumentiert und kommentiert alte Redewendungen (Antiche locuzioni illustrate). Jede dieser kleinen Geschichten und Betrachtungen ist gezeichnet von der intimen Signatur persönlicher Erinnerungen. Wenngleich die einzelnen Texte in sich abgeschlossen sind, werden sie durch ihre Zusammenstellung im Buch zu Fragmenten, da sie ähnlich wie die Artikel einer Enzyklopädie Bruchstücke und Facetten einer Welt repräsentieren, die allein durch den Kompilator im Textgefüge zu einem Ganzen geformt wird. Nach den eigenen Aussagen des Autors handelt es sich hierbei um die Auseinandersetzung mit verlorengegangenen Identitäten.37 Bufalino, der durch eine große Skepsis hinsichtlich der Erzählbarkeit der Welt geprägt ist, kann seine Selbstbestimmung nur noch in fragmentarischer Form versuchen. Identitäts-Konstruktionen, die die Illusion von Homogenität, Kohärenz und klaren Grenzen vermitteln, sind für ihn obsolet. Auch die Reihe von Autoren und Texten, in denen die Öffnung oder gar das Verschwinden der kulturgeographischen Grenzen Siziliens ab dem letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts thematisiert wird, könnte an dieser Stelle fortgesetzt werden. Zu ihr gehört der Erzähler und Essayist Vincenzo Consolo, der ähnlich wie Bufalino einerseits das Verschwinden des Identifikationsraumes Sizilien konstatiert und andererseits über Möglichkeiten von dessen literarischer Kompensation nachdenkt.38 Auch Andrea Camilleri, dessen 37 »Museo d’Ombre discorre di una Comiso morta, di una Comiso uccisa, ma pagine uguali si potrebbero scrivere, temo, per molti altri paesi, nell’isola e fuori; per tutti i paesi che hanno visto perire la propria identità sotto la duplice usura del tempo e della storia.« (Gesualdo Bufalino im Giornale di Sicilia, 8.9.1981, zit. nach »Note ai testi«, in: Gesualdo Bufalino, Opere 1981-1988, Milano: Bompiani 1992, S. 1345). 38 Vgl. zum ersten Aspekt die Texte Viaggio in Sicilia (1987) und La Sicilia e la cultura araba (1991) (beide in: Vincenzo Consolo: Di qua dal faro, Milano: Mondadori 1999.), zum zweiten Aspekt die Erzählung Le pietre di Pantalica (1988), in: ders., Le pietre di Pantalica, Milano: Mondadori 1988). Besonders im Thema des ungastlichen Exils, als welches die sizilianische Gegen-
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Die Entgrenzung Siziliens umfangreiches literarisches Schaffen jenseits der MontalbanoKrimis hierzulande nur wenigen bekannt ist, reflektiert die Verschiebung kultureller Grenzen mit Blick auf Sizilien.39 Der zur jüngeren Autorengeneration gehörende Giosuè Calaciura wiederum macht das Schicksal von afrikanischen Migranten auf der Insel zum literarischen Thema und spannt damit den Bogen der Bewegung zwischen den Räumen bis zum Kontinent jenseits des Mittelmeeres.40 Die vorangehenden Streiflichter sollen genügen, um Grundtendenzen im Siziliendiskurs in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu veranschaulichen. Zu diesen gehört, dass die Fiktion eines klar umrissenen, isolierten kulturgeographischen Raumes Sizilien, gleich mit welchen Konnotationen, nicht mehr möglich ist bzw. in Frage gestellt wird. Mit der Auflösung von dessen Konturen erscheinen seit dem 18. Jahrhundert tradierte Muster fiktionaler Topographien, wie die semantische Opposition zwischen Inselraum und Kontinent, Peripherie und Zentrum als überholt. Auch die literarische Artikulation von insularen Identitäten wird aufgrund der kulturtopographischen Unbestimmtheit problematisch. Angesichts der skizzierten Entwicklungen stellt sich nun in struktureller Hinsicht die Frage nach dem Verhältnis von kulturhistorischen Kontexten und Inselfiktionen im 20. Jahrhundert. Dazu sollen abschließend einige Überlegungen angefügt werden, die über den konkreten Gegenstand Sizilien hinaus führen.
IV. Deterritorialisierungen und fiktionale Räume Die Beobachtungen, die vorangehend zum Status der Insel Sizilien in literarischen Texten des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts gemacht wurden, scheinen die in den letzten Jahrzehnten in der Medien- und Kommunikationsforschung vielfach geäußerte These vom »Verschwinden des Raums« zu bestätigen.41 Die Bedeutung des wart gegenüber einer als Heimat empfundenen, unwiederbringlichen Vergangenheit entworfen wird (so in Le pietre di Pantalica sowie dem Erzählband L’olivo e l’olivastro, Milano: Mondadori 1994), zeichnet sich die Differenz zum Sizilienbild etwa eines Pirandello oder Quasimodo ab. Die Insel figuriert nicht mehr als bewohnbarer Ausnahmeort in einer sonst unbewohnbaren Welt, sondern ist, räumlich nicht unterscheidbar, Teil von ihr. 39 Vgl. dazu das lange Interview mit dem Autor, dessen Titel auf Sciascia anspielt: Andrea Camilleri: La linea della palma. Saverio Lodato fa raccontare Andrea Camilleri, Milano: Rizzoli 2002. 40 Giosuè Calaciura: Sgobbo, Milano: Baldini & Castoldi 2002. 41 Marshall McLuhan spricht schon 1964 von der »Aufhebung des Raums« (Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. Understanding media, Dresden,
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Torsten König Raums nehme ab, weil sich Entfernungen durch moderne Verkehrsund Kommunikationstechnologien immer müheloser überwinden lassen, weil er für den »grenzenlosen Verkehr von Waren, Daten und Menschen keine Bedeutung mehr habe«.42 Allerdings erweist sich die These in ihrer generalisierenden Tendenz häufig als zu undifferenziert, um spezifische Aspekte der Moderne zu beschreiben. Von einer allgemeinen Aufhebung des Raums als besonderer Signatur der Gegenwart zu sprechen, ist z. B. insofern problematisch, als Kommunikations- und Transporttechnologien, wie ein Blick in die Geschichte zeigt, immer schon als raumverkleinernd angesehen wurden.43 Darüber hinaus stellt die These oft lediglich eine Beschreibung ökonomischer Prozesse dar, die sich als eine der Gesellschaft insgesamt ausgibt. Schließlich ist nicht zu verkennen, dass die erwähnten Entwicklungen Räume nicht einfach abschaffen, sondern auch neue hervorbringen. Deshalb erscheint es als zutreffender, statt von einer Irrelevanz des Raums besser von einer »Krise der bewährten Raumvorstellungen« zu sprechen.44 Diese kann an den Konzeptionen der Insel Sizilien in der italienischen Literatur in besonderer Weise abgelesen und studiert werden. Ursprünglich wird Sizilien als Containerraum aufgefasst. Es handelt sich dabei um eine seit der Antike bekannte Vorstellung von Raum als einer Art Behälter, in den Dinge und Menschen aufgenommen werden können und in dem sie einen festen Platz haben.45 Mit dem Konzept des Behälters ist die Vorstellung einer klaren Begrenzung dieses Raumes verknüpft. Seine geographische De-
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Basel: Verlag der Kunst 1995, S. 150), Jean Baudrillard vom »Ende des Raums« (Jean Baudrillard: Subjekt und Objekt: fraktal, Bern: Benteli 1986, S. 5). Paul Virilio sieht in naher Zukunft »keine Entfernungen mehr«, »die Geschwindigkeit frisst den Raum« (Paul Virilio: »Warum fürchten Sie einen Cyber-Faschismus, Monsieur Virilio? Ein Interview von Jürg Altweg mit Paul Virilio«, in: Frankfurter Allgemeine Magazin 842 vom 19.4.1996, S. 59). Zygmunt Bauman diagnostiziert die »Entwertung des Raumes« und schließt, »die rein logisch postulierte Irrelevanz des Raums« sei noch nicht eingetreten, bilde jedoch den Horizont, auf den die »Entwicklung einer leichten Moderne«, wie er die Gegenwart nennt, sich hinbewege (Zygmunt Bauman: Flüchtige Moderne, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2003, S. 140-142). Vgl. zur kritischen Zusammenfassung der Diskussion Markus Schroer: Räume: Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2006, S.161-173, hier: S. 161. Ebd., S. 163. Ebd., S. 187 und Markus Schroer: »Bringing space back in – Zur Relevanz des Raums als soziologischer Kategorie«, in: Jörg Döring/Tristan Thielmann (Hg.), Spatial Turn: Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld: transcript 2008, S.125-147, hier S. 129-131. Vgl. zum Konzept des »Containerraums« sowie zu dessen Pendant, dem »relationalen Raum«, ebd., S. 135-137.
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Die Entgrenzung Siziliens finition überlagert sich im Fall Sizilien mit der kulturellen und sozialen. Die literarischen Befunde haben gezeigt, dass diese spatiale Ordnung in den Inselbeschreibungen ab der zweiten Jahrhunderthälfte nicht mehr als strukturelle Grundlage ausgemacht werden kann. Der Raum wird hier als eine Größe aufgefasst, die sich über die Beziehungen zwischen Gegenständen bzw. kulturellen Akteuren konstituiert, als ein relationaler Raum. Er zeichnet sich dadurch aus, dass er traditionelle Grenzen kulturell und sozial definierter Territorien obsolet erscheinen lässt. Vor diesem Hintergrund wächst der literarischen Konstruktion von Sizilien bzw. von Inseln allgemein ein besonderes Interesse für das Verständnis dessen zu, was in der kultur- und sozialwissenschaftlichen Theorie seit den 90er Jahren mit dem Begriff der »Deterritorialisierung« umschrieben wird.46 Der mexikanische Anthropologe und Kulturtheoretiker Nestor García Canclini bezeichnet mit ihm Phänomene des globalen kulturellen Wandels in Form einer Auflösung der scheinbar natürlichen Verbindung von Kultur und geographischen bzw. sozialen Territorien. Durch die zunehmende Mobilität von Menschen, Gütern und Informationen überschreiten Kulturen nationale und regionale Grenzen, vermischen sich mit anderen Kulturen bzw. eliminieren diese.47 Der Prozess der Deterritorialisierung kann zur Erklärung der Veränderungen herangezogen werden, die am Sizilienbild beobachtet wurden. Er ist dafür verantwortlich, dass die Insel als kulturtopographische Fiktion mit klaren Grenzen, die in Opposition zu anderen Räumen steht, ab dem letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts problematisch wird. Wenn Deterritorialisierungsprozesse in der Literatur ihren Niederschlag finden, erscheint es angesichts der Befunde umgekehrt naheliegend, fiktionale Raumkonstrukte, speziell die von Inseln, heranzuziehen, um sie besser zu verstehen. Ihr heuristisches Potenzial liegt auf zwei Ebenen. Erstens sind sie räumliche Konfigurationen, an denen die Konstitution von Grenzen und deren Verschiebung besonders deutlich zutage tritt. Zweitens werden anhand der Texte diskursive Ausformungen der Wandlungsprozesse greifbar. Sie können beschrieben, geordnet und auf ihre Paradigmatik hin untersucht werden.
46 Der Begriff »Deterritorialisierung« taucht erstmalig bei Gilles Deleuze und Catherine Parnet 1977 in Dialogues auf und beschreibt dort Bewegungen, die Subjekte in Bezug auf sie orientierende Ordnungen ausführen. In Mille Plateaux (1980) vertiefen Deleuze und Félix Guattari diese Begriffsbestimmung. 47 Vgl. Nestor García Canclini: Culturas híbridas. Estrategias para entrar y salir de la modernidad, Buenos Aires: Ed. Sudamericana 1992, S. 263ff., 288ff.
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Torsten König In historischer Perspektive können anhand einer vertiefenden Analyse der Inselkonstruktionen in literarischen Texten die Deterritorialisierungen auch als Phänomen der Reterritorialisierung gelesen werden. Geht man davon aus, dass Raum im Zuge kultureller Entwicklungen nicht einfach verschwindet, sondern lediglich neu gedacht wird, wäre zu sehen, wie sich die Insel zwischen Containerraum und relationalem Raum in Gegenwart und Zukunft neu definiert. Vor dem Hintergrund einer als Grenzauflösung interpretierten Globalisierung wäre ein verstärkter Bedarf an Grenzziehungen und Grenzbildungen zu erwarten, der auch in der Literatur seinen Niederschlag finden dürfte. Inseln werden sicher traditionell in erster Linie als Orte der Isolation gesehen. Etymologisch sind Insel und Isolation miteinander verwandt. Dass diese Verwandtschaft keine natürliche ist, zeigt schon ein genauerer Blick auf die Etymologie: das lateinische Partizip isolatus bedeutet »zur Insel gemacht«. Inseln werden, wie die vorangehenden Überlegungen zeigen sollten, durch diskursive Verfahren geschaffen. Als geschlossene oder aber offene, multirelationale Räume.
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»Das nsel.« Das Land war nämlich eine IInsel.« Die Insel als Begegnungsraum in ausgewählten Kinderbüchern REGINE ZELLER Inseln gehören seit jeher zu den beliebten Motiven der abendländischen Literatur: von der Odyssee über Shakespeares Der Sturm bis zu Umberto Ecos Insel des vorigen Tages und Raoul Schrotts Tristan da Cunha. Ähnliches gilt für die Kinder- und Jugendliteratur, auch wenn deren Geschichte erst im 18. Jahrhundert beginnt – hier gibt es ebenfalls zahlreiche Texte, die das Leben auf und die Erfahrung mit Inseln thematisieren, darunter Klassiker wie Robert Louis Stevensons Die Schatzinsel, J. M. Barries Peter Pan oder Astrid Lindgrens Ferien auf Saltkrokan. Die internationale Jugendbibliothek in München hat 1995 über 170 Texte zu einer Ausstellung Die Insel als Motiv der Kinder- und Jugendliteratur zusammengetragen und damit die Breite und Heterogenität der Insel-Texte in diesem Bereich eindrucksvoll sichtbar gemacht. In seinem Vorwort zu dem begleitenden Ausstellungskatalog stellt Jochen Weber fest, dass die Rolle der Insel im Kinder- und Jugendbuch zwar sehr vielfältig ist, man aber trotz aller Unterschiede feststellen kann, »daß Inseln sehr häufig in Verbindung mit bestimmten elementaren menschlichen Erfahrungen und Bedürfnissen stehen«, wozu er etwa Heimat und Fremdheit oder »Freiheit und Gefangenschaft« zählt.1 Die Insel gewinnt ihre »Besonderheit« dabei aus »dem Spannungsfeld zum Draußen«, zur Außenwelt, »von der sie sich häufig grundlegend unterscheide[t].«2 Der überschaubare Raum der Insel und die begrenzte Anzahl der handelnden Personen erlauben dabei die Darstellung von Ge1
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Jochen Weber: »Einleitung«, in: Von Robinson bis Lummerland. Die Insel als Motiv in der Kinder- und Jugendliteratur, hg. von der Internationalen Jugendbibliothek, München: Internationale Jugendbibliothek 1995, S. 2-4, hier: S. 4. Ebd. S. 3.
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Regine Zeller sellschaften en miniature, womit dem Kind exemplarische Lebensentwürfe vorgeführt und Empfehlungen für das eigene Handeln – auch im Umgang mit den thematisierten elementaren Erfahrungen – dargestellt werden können. Die Insel erscheint zunächst als ›konzentrierter‹ Raum, der die Möglichkeit verspricht, »komplexe Phänomene zu isolieren, überschaubar und beherrschbar zu machen.«3 Nach Christian Moser ist die Insel in der abendländischen Vorstellung der »Inbegriff eines deutlich markierten Ortes«, der aufgrund seiner (vermeintlich) scharfen Kontur als besonders »greifbar« gilt.4 All diese Eigenschaften scheinen die Insel zum Schauplatz für das Kinderbuch zu prädestinieren, das ja eine deutliche Komplexitätsreduktion erfordert, um dem kindlichen Rezeptionsvermögen gerecht zu werden. Im Folgenden werden drei Kinderbücher, alle für Kinder ab sechs Jahren empfohlen,5 auf die Frage hin untersucht, welche Funktion die Insel als Ort der Handlung jeweils einnimmt: Zunächst soll der Blick auf Max Kruses Urmel aus dem Eis gelenkt werden, der zweite Text ist Armin Greders düstere Bilderbuch-Parabel Die Insel, die 2003 mit dem Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreis ausgezeichnet wurde, und an dritter Stelle steht eine Analyse von Michael Endes Jim Knopf-Büchern. In allen drei Werken ist die Insel Schauplatz für die Auseinandersetzung mit dem Anderen, Fremden. Es ist diese ›elementare menschliche Erfahrung‹, die im Zentrum der Untersuchung stehen soll. Die Insel, so wird zu zeigen sein, ist ein paradigmatischer Ort für die Frage nach der Behandlung des Fremden, nach Integration oder Ausgrenzung des Andersartigen, weil sie sich letztlich eben doch nicht als ›deutlich markierter‹ und isolierter Bereich erweist, sondern als ein Raum präsentiert wird,
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Christian Moser: »Archipele der Erinnerung. Die Insel als Topos der Kulturisation«, in: Hartmut Böhme (Hg.), Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext, Stuttgart, Weimar: Metzler 2005, S. 408-432, hier: S. 410. Ebd., S. 409. Für Greders Text variieren die Alters-Empfehlungen allerdings zum Teil deutlich: Empfiehlt der Verlag das Buch für Leser ab 6 Jahren, so finden sich in den Besprechungen auch die Angaben »ab 14« (»Die besten 7 Bücher für junge Leser«, in: Focus vom 18.04.2002), »ab 10« (»Rezension« in: Libelle. Stadtmagazin für Leute mit Kindern vom 01.05.2005) oder für »Jugendliche – etwa ab 11« (so der Amtliche Schulanzeiger für den Regierungsbezirk Niederbayern vom Mai 2003). Häufig findet sich auch der Hinweis, dass Kinder dieses »hervorragende Bilderbuch […] nicht verpassen, aber besser nicht allein anschauen sollten.« (so Bruno Blume in seiner Rezension, in: 1000 und 1 Buch. Das Magazin für Kinder- und Jugendliteratur, 2 (Mai 2002)). Diese und alle im Folgenden zitierten Rezensionen sind der Pressemappe des Patmos-Verlags zu Die Insel entnommen.
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»Das Land war nämlich eine Insel.« der seine Kontur gerade als Kreuzungspunkt verschiedener Bewegungslinien erhält. Somit geht die Imagination des Insularen in diesen vermeintlich einfach strukturierten Texten deutlich über die simple und geradlinige Umsetzung jener Charakteristika hinaus, die Horst Brunner in den 60er Jahren als konstitutiv für die »poetische Insel« bezeichnet hat. Brunner nennt drei Kriterien: erstens die scharfe Dialektik des ›Drinnen‹ und ›Draußen‹, also die Gegenüberstellung von Insel und restlicher Welt, zweitens die Abgeschlossenheit und Begrenztheit der Insel und drittens die Vorherrschaft der Erfahrung der Zeit als Dauer ohne Trennung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.6 Aber auch wenn sich diese Kriterien als zu starr erweisen, um den komplexen literarischen Schauplatz ›Insel‹ zu fassen, so können sie doch für die Analyse der drei Kinderbücher fruchtbar gemacht werden, indem nämlich gerade auf die Brüche mit diesem Modell hingewiesen wird. Die Insel wird so als ambivalenter Ort sichtbar, der zwar einerseits durch eine gewisse Begrenztheit, andererseits aber auch gerade durch seine Potenz gekennzeichnet ist, als Ort der Begegnung und der Kommunikation zu fungieren. Es sind letztlich Akte der Kommunikation und der Bewegung im Raum, die sich als charakteristisch für die untersuchten literarischen Inseldarstellungen erweisen. Aus diesem Grund kann das zentrale Thema der Fremdheit auf der Insel ganz besonders gut durchgespielt werden; sie ist also keinesfalls nur ein austauschbarer Handlungsort, der genauso gut eine Burg, ein Schloss, oder eine Höhle7 sein könnte, sondern beeinflusst die Struktur der Narration auf entscheidende Weise. In Urmel aus dem Eis lassen sich die Kriterien Horst Brunners für die ›poetische Insel‹ auf den ersten Blick leicht ausmachen. Besonders die Gegenüberstellung von Insel und restlicher Welt scheint für Kruses Text zunächst bestimmend zu sein. Das Buch spielt auf der
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Horst Brunner: Die poetische Insel. Inseln und Inselvorstellungen in der deutschen Literatur, Stuttgart: Metzler 1967, S. 22f. In Webers Kategorisierung der Inselbücher für Kinder und Jugendliche bilden jene Texte, in denen die Insel »als Schauplatz einer spannenden Handlung« leicht durch »andere beliebte Schauplätze« ersetzt werden könnte, eine eigene Gruppe. Zu diesen Werken zählt er etwa Astrid Lindgrens Mio, mein Mio, Karl Mays Die Juweleninsel oder Uwe Timms Der Schatz auf Pagensand. Weber führt aus: »Inseln des hier beschriebenen Typs sind in erster Linie Folie, Kulisse, vor der sich die Handlung abspielt. Dies dürfte auch der Grund dafür sein, daß in Detektiv- und Abenteuerreihen mindestens ein Band auf einer Insel spielt« (Internationale Jugendbibliothek (Hg.), Von Robinson bis Lummerland, S. 54).
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Regine Zeller Insel Titiwu, deren phantastischer Charakter bereits im ersten Kapitel deutlich wird: »Eines schönen Frühlingsmorgens watschelte Ping Pinguin zur Schule. Unterwegs traf er den Waran, der dasselbe Ziel hatte. ›Ausgepflafen?‹, fragte Ping Pinguin. Obwohl er fleißig übte, konnte er das Sch nicht sprechen. Es klang wie ›pf‹. So ging es fast allen Tieren, jedes hatte bestimmte Schwierigkeiten. Zum Beispiel zischte Wawa, der Waran, das Z heraus wie eine Dampflokomotive.« (S. 4)8
Auf Titiwu leben also Tiere, die sprechen können und zur Schule gehen. Das allein muss allerdings noch keinen Gegensatz zur Außenwelt bedeuten, denn wir kennen sprechende Tiere etwa auch aus dem Märchen, dessen zentrales Merkmal ja gerade die Präsentation des Wunderbaren als selbstverständlicher Teil der fiktiven Welt ist. Nicht so bei Urmel aus dem Eis, wie man im zweiten Kapitel erfährt, das den Titel trägt »Weshalb Professor Tibatong auf die Insel Titiwu kam und wen der mitbrachte«. Professor Tibatong hat nämlich, bevor er nach Titiwu zog, zusammen mit seinem Hausschwein Wutz und dem Waisenkind Tim Tintenklecks in der Universitätsstadt Winkelberg gelebt. Dort galt er als Sonderling, und das nicht nur, weil er sein Haus mit einem Schwein teilte: Zunächst hat er versucht, dem Schwein das Sprechen beizubringen, und sich außerdem bei seinen Forscherkollegen mit Theorien über das sagenhafte Urmel oder den unsichtbaren Fisch lächerlich gemacht. Winkelberg, und mit ihm das ganze Land Pumpolonien, ist somit als ›real‹ gekennzeichnet, ist Teil einer Welt, die mit dem alltäglichen Erleben der kindlichen Rezipienten korreliert. Seine Wissenschaftler handeln nach den Regeln der Vernunft, und Universitätsprofessoren, die vorgeben, mit Schweinen reden zu können, werden des Amtes enthoben. Aus erzähltheoretischer Sicht interessant ist bei dieser Gegenüberstellung von Insel und Welt übrigens, dass die Gespräche zwischen Tibatong und Wutz auch für den Leser unverständlich bleiben, solange sie in Winkelberg stattfinden. Ein Zitat mag das kurz illustrieren: »Auf diese Leute [die in das Haus des Professors kamen] wirkte es ziemlich sonderbar, den Professor vor einem Schwein auf dem Teppich knien zu sehen und ›Ö! – ö! – ö! –ö!‹ grunzen zu hören. Als schließlich die Sau – wie die Leute die arme Wutz unfreundlich nannten – ebenfalls ›Ö! – ö! – ö! – ö!‹ erwiderte und sich die beiden auf diese Weise verständigten, war es endgültig um den guten Ruf des Professors geschehen.« (S. 12)
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Max Kruse: Urmel aus dem Eis, Stuttgart, Wien: Thienemann 2005 [1969]. Die Zitate werden im Folgenden direkt im Text durch Angabe der Seitenzahl nachgewiesen.
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»Das Land war nämlich eine Insel.« Tibatong, Tim Tintenklecks und Wutz machen sich auf die Reise, als Tim gegen seinen Willen »zu anständigen Leuten« gegeben werden soll (S. 12), und landen auf einer von Menschen unbewohnten Insel, der sie zunächst – bezeichnenderweise und ganz der Tradition der Inbesitznahme von Inseln gemäß – einen Namen geben, »zum Zeichen, dass es ihre Insel sei.« (S. 14) Der Name lautet Ti-Ti-Wu, nach den Anfangsbuchstaben ihrer Namen Tibatong – Tim – Wutz. Auf Titiwu ist nun alles anders: Die drei leben in Frieden zusammen, die Sprachübungen von Wutz machen Fortschritte, Tibatong eröffnet eine Sprachschule für andere Tiere und auch die Leser und Leserinnen verstehen die Äußerungen der Tiere nun ohne größere Schwierigkeiten (wenn man einmal von den Sprachfehlern absieht), da sie nicht mehr nur als (Grunz-)Laute, sondern in menschlicher Sprache dargestellt werden. Titiwu ist dabei relativ klein und gut überschaubar, ein idealer Ort also für ein Kinderbuch. Die Inselbewohner sind zudem nach dem Modell der Familie organisiert, was die Identifikation mit ihnen ebenfalls erleichtern mag. Abgeschlossenheit, Begrenzung und Gegensatz zur Außenwelt sind somit zunächst genauso gegeben wie die Vorherrschaft der Gegenwart: Tatsächlich passiert auf Titiwu sehr wenig, die erzählte Entwicklung kommt mit der Ankunft auf der Insel zunächst zu einem Halt. Und auch von einem Älterwerden Tim Tintenklecks’ erfahren wir nichts: Die Zeit scheint still zu stehen. Die Einhaltung dieser klassischen Inselvorstellungen ist freilich nur auf den ersten Blick so streng gegeben. Bereits die strikte Abgegrenztheit der Insel wird dadurch aufgelöst, dass auch der Felsen, auf dem der singende See-Elefant lebt, zur phantastischen Welt gehört. Dieser aber ist »so weit entfernt, dass man ihn nur wie einen dunklen Punkt am Horizont erblicken konnte« (S. 8). Wo hört also der Raum auf, in dem Tiere sprechen können und alle in Harmonie miteinander leben, ohne von anderen ihrer Merkwürdigkeiten wegen ausgegrenzt zu werden? Begreift man diesen Raum als die eigentlich relevante ›Insel‹ des Buches, so wird hinter dem Oppositionspaar Insel – Festland ein zweiter Gegensatz sichtbar, der nicht deckungsgleich mit dem ersten ist: Der phantastischen, von Toleranz geprägten Welt der sprechenden Tiere steht die phantasielose, pragmatische Welt Pumpoloniens gegenüber. Die Grenze zwischen diesen Welten ist dabei denkbar vage und entspricht keineswegs der zwischen Land und Meer, so dass von einer messbaren Abgegrenztheit keine Rede sein kann. Neben diesen verschwimmenden Grenzen ist es noch ein zweiter Aspekt, der das Imago der völlig abgeschlossenen Insel bei Kruse in Frage stellt. Damit eine Handlung in Gang gesetzt werden kann, müssen die Insel und ihre Bewohner nämlich, wie es häufig bei literarischen Inseldarstellungen der Fall ist, in Kontakt mit der Außen-
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Regine Zeller welt kommen – und zwar unabhängig davon, ob man als die hier bedeutsame Insel nun Titiwu mit ihren vom Strand gesetzten geographischen Grenzen oder die phantastische Gegenwelt als Ganze begreift. Ein Stillstehen der Zeit herrscht auf dieser Insel nur so lange vor, wie ihre Bewohner keine neuen Impulse von außen verarbeiten können oder müssen. In diesem ersten Band der Urmel-Reihe sind es drei Akte der Begegnung, die eine Geschichte in Gang setzen bzw. in Gang halten:9 Da ist zunächst das Anschwemmen des Urmel-Eies auf der Insel. Zweitens dann die Flaschenpost Tibatongs, in der er seinem Kollegen Zwengelmann, dem Direktor des Naturkundemuseums in Pumpolon, die Existenz des Urmels mitteilt. Drittens schließlich die Ankunft König Pumponells auf Titiwu, der das Urmel jagen und erlegen will, weil ihm seit der Umwandlung Pumpoloniens in eine Demokratie langweilig ist. Es ist somit die Ambivalenz von Isolation auf der einen und Kommunikation auf der anderen Seite, die das Insulare in Urmel aus dem Eis prägt, und es sind die Bewegungen zur Insel hin und von der Insel weg, die die Handlung strukturieren. Mit diesen Bewegungslinien verbunden ist die Konfrontation mit dem Fremden, dem Anderen, der sich die Inselbewohner stellen müssen. Diese Konfrontation verläuft dabei im Falle des Urmels zunächst äußerst harmonisch: Es nimmt ganz selbstverständlich die Rolle des Babys ein, um das sich Wutz kümmern kann, lernt sprechen und fügt sich so – freilich mit einem individuellen Sprachfehler ausgestattet – in die bestehende Struktur der Inselwelt ein. In der Kette der Kommunikations- und Begegnungsakte provoziert seine Ankunft zudem die Nachricht Tibatongs an seinen alten Rivalen mit dem launigen »PS: Ätsch! Sie sind widerlegt! Wir haben ein Urmel, ein lebendiges! Was sagen Sie nun?« (S. 36) Die Grenzen zwischen beiden ›Welten‹ sind also keineswegs starr, sondern permeabel, und zwar in beide Richtungen. So kann der König als Reaktion auf Tibatongs Flaschenpost – die der Berechnung nach durch die Meeresströmungen »in etwa drei Monaten nach Pumpolonien« getrieben wird (S. 37) – zu seinem Jagdausflug aufbrechen. Aber auch diese Konfrontation, die zunächst Urmel-Beschützer und Urmel-Jäger, also Inselbewohner und Fremde, in zwei klar einander gegenüberstehende Gruppen teilt, verläuft letzten Endes friedlich, denn sowohl der König als auch sein Diener Sami werden nach einigen Abenteuern von ihrer Jagdlust befreit und in die Inselgemeinschaft 9
Vgl. dazu auch die Ausführungen Ottmar Ettes zur Insel als »Transit- und Bewegungsraum« in: Ottmar Ette: »Von Inseln, Grenzen und Vektoren. Versuch über die fraktale Inselwelt der Karibik«, in: Marianne Braig/Ottmar Ette/Dieter Ingenschay/Günther Maihold (Hg.), Grenzen der Macht – Macht der Grenzen. Lateinamerika im globalen Kontext, Frankfurt/Main: Vervuert 2005, S. 135-180, hier besonders S. 148-150.
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»Das Land war nämlich eine Insel.« integriert. Dergestalt pazifiziert, erscheinen sie in den folgenden Bänden der Reihe als gute Freunde der Insulaner. Die Insel ist somit in Urmel aus dem Eis nur in zweiter Linie die andere, phantastische, strikt abgegrenzte Welt, zuvorderst ist sie ein Ort der Begegnung, der zufällig – wie beim Urmel – oder ganz gezielt – wie bei König Pumponell – erreicht werden kann, und zwar aus der Luft genauso wie vom Meer aus (der König kommt mit dem Hubschrauber). Diese Form des Insularen ist für das Buch konstitutiv: Kruse braucht zunächst die (wenn auch nur scheinbare) Abgetrenntheit der Insel, um Titiwu und seine Peripherie als phantastischen Gegenort zu Pumpolonien zu etablieren, er braucht aber auf der anderen Seite auch die Begegnung, damit aus dem Leben auf der Insel eine Geschichte wird, die erzählt werden kann – eine Geschichte über die Toleranz gegenüber dem Anderen. Auch Armin Greder nutzt in seinem Bilderbuch Die Insel10 die dem Insularen eingeschriebene Ambivalenz von Isolation und Entgrenzung, um eine Geschichte vom Umgang mit dem Fremden zu erzählen. Aber ganz im Gegensatz zu der heilen Welt auf Titiwu ist dies keine Geschichte von Integration und Freundschaft, sondern von Fremdenfeindlichkeit und Ausgrenzung. Greders Bilder sind sehr düster gehalten: Kreidezeichnungen in Grautönen mit viel Schwarz, nur selten kleine Farbkleckse, die aber das Dunkel nicht aufhellen, sondern eher aggressiv wirken. Jürgen Stahlberg hat in den Zeichnungen »Motive von Barlach, Picasso und Goya« erkannt, Rudolf Wenzel verweist in seiner Rezension auf Ähnlichkeiten zu Bildern von »Munch, Kollwitz oder A. Paul Weber« und Greder selbst betont die Zitate aus Munchs Der Schrei und Johann Heinrich Fuesslis Der Nachtmahr.11 Greders Buch erzählt von einem Mann, der eines Tages an die Küste einer Insel geschwemmt wird: »Am Morgen fanden die Inselbewohner einen Mann am Strand, da wo Meeresströmung und Schicksal sein Floß hingeführt hatten. Er stand auf, als er sie kommen sah. Er war nicht wie sie.« Das zu diesem Text gehörige 10 Armin Greder: Die Insel. Aarau, Frankfurt/Main: Sauerländer 2002. Ohne Paginierung. Zitate werden im laufenden Text deshalb ohne Hinweis auf eine Seitenzahl wiedergegeben. 11 Jürgen Stahlberg: »Bin ich willkommen? Ein sperriges Bilderbuch von Armin Greder«, in: Frankfurter Rundschau vom 13.03.2002. Rudolf Wenzel: »Armin Greder: Die Insel«, in: Der Rote Elefant. Bücher und andere Medien für Kinder und Jugendliche, Heft 20 (2002). Armin Greder: »Zur Entstehung des Buches Die Insel«. Anlässlich der Verleihung des katholischen Kinderund Jugendbuchpreises 2003 am 19. März 2003 in München, in: Pressemappe des Patmos-Verlags zu Die Insel. Greder spricht hier von Fuesslis »Alptraum«, es ist aber offensichtlich der Nachtmahr gemeint.
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Regine Zeller Bild zeigt nur den Fremden und sein Floß – er ist dünn, nackt und kahlköpfig,12 schaut den Betrachter direkt und etwas fragend an. Inwiefern er anders als die Inselbewohner ist, erfahren die Leserinnen und Leser beim Umblättern: Riesig-groß, fast die ganze Seite des Buches einnehmend, werden sie dort gezeigt, bullig und massig, düster gekleidet und mit Mistgabeln bewaffnet. Sie wissen nicht, was sie mit dem Fremden anfangen sollen: »Sie starrten ihn an. Sie wunderten sich. Sie fragten sich, warum er hierher gekommen sei. Was er hier wolle. Was nun zu tun wäre. Einer sagte, es sei wohl am besten, wenn der Mann gleich wieder weggeschickt würde – da wo er hingehöre. ›Und überhaupt‹, sagten sie, ›es wird ihm hier sowieso nicht gefallen. So weit weg von seinen eigenen Leuten.‹«
Die Konfrontation mit dem Fremden wird von Greder hauptsächlich aus der Sicht dieser Inselbewohner dargestellt, und es ist bezeichnend für den Fortgang der Handlung, dass sie ihre Fragen in diesem ersten Bild nicht an den Fremden, sondern an sich selbst richten. Kommunikation zwischen Fremdem und Einheimischen findet so gut wie nicht statt, denn die Inselbewohner sprechen meist über ihn, nicht mit ihm, und der Fremde erhält im Text auch keine eigene Stimme – lediglich ein einziges Mal wird in indirekter Rede davon berichtet, dass er einen Kommunikationsversuch unternimmt. Widerwillig wird der Fremde schließlich aufgenommen, weil der Fischer des Dorfes mahnt, dass ein Zurücktreiben auf das Meer den sicheren Tod des Mannes bedeuten würde. Interessanterweise wird dieser Fischer nie bildlich dargestellt, er bleibt so etwas wie das unsichtbare ›Gewissen‹ der Insel, ein Prinzip eher als eine eindeutig identifizierbare Gestalt. Die Inselbewohner bringen den Fremden zu einem alten Ziegenstall, dessen Tür sie aber hinter ihm vernageln. Als der Mann ausbricht, weil er Hunger leidet, und doch einmal in der Ortschaft erscheint, erschreckt das die Gemeinde. Keiner will ihn aufnehmen, ihm Arbeit geben, alle haben als übertrieben und irrational gezeichnete Ängste, die Greder in einer Bilderreihe anschaulich illustriert, wobei wieder die Vorstellungen der Inselbewohner von dem ihnen ja noch immer gänzlich fremden Mann im Vordergrund stehen. So sieht ihn der Pfarrer als Schreckensbild mit kleinen Teufelshörnchen in seinem Chor singen und schließt sofort aus, dass er dort mitwirken könne, »des Mannes Stimme passe einfach nicht«. Und in 12 Damit evoziert die Darstellung des Mannes durchaus Erinnerungen an die Bilder von Gefangenen in Konzentrationslagern, was der Fremdenfeindlichkeits-Thematik zusätzliche Schärfe verleiht.
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»Das Land war nämlich eine Insel.« der Phantasie des Wachtmeisters erscheint der Fremde mit einem Messer und verschlagenem Gesichtsausdruck: »Ich bin sicher, dass er uns alle umbringen würde, wenn er Gelegenheit dazu hätte«. Schließlich wird der Fremde mit seinem Floß doch wieder auf das Meer hinaus getrieben und seinem Schicksal überlassen. »Dann legten sie [die Inselbewohner] Feuer an das Boot des Fischers, denn er war es gewesen, der sie zur Aufnahme des Mannes bewogen hatte. Zwar dachten einige wie der Fischer, aber die anderen waren lauter. Und die wollten auch nie mehr Fische essen, die aus dem Meer kamen, das ihnen den Fremden gebracht hatte. Und sie bauten eine hohe Mauer um die ganze Insel; mit Türmen, von denen sie Tag und Nacht das Meer überwachen konnten. Und sie schossen vorbeiziehende Möwen und Kormorane ab, damit niemand dort draußen von ihrer Insel erfahren sollte.«
Keine Integration steht hier also am Ende der Geschichte, wie bei Urmel aus dem Eis, sondern die totale Isolation. Die Ambivalenz des Insularen, die zu Beginn der Geschichte noch gegeben ist, wird im Akt der absoluten Abschottung künstlich ausgeschaltet. Die Insel kann fortan nicht mehr als Begegnungsstätte fungieren, da das Überschreiten der doch nur scheinbar strikten Grenze von Land und Meer, das ja nicht nur dem Fremden, sondern auch dem Fischer gelingt, durch die Mauer unmöglich gemacht wird. Greders Insel erscheint somit als Verabsolutierung jenes Inseltypus, für den die Merkmale der Abgeschlossenheit, der Begrenztheit und der Gegenüberstellung von »drinnen« und »dort draußen« tatsächlich uneingeschränkt gelten. Und auch wenn man über das weitere Leben der Inselbewohner nichts erfährt, so ist doch zu vermuten, dass es in Stagnation und ohne nennenswerte Entwicklung weitergehen wird. Greder selbst sieht in dem letzten Bild des Buches – »das Schiff des Fischers, von den Inselbewohnern im Zorn über ihn in Brand gesteckt, treibt in der Ferne auf den Wogen davon« – »eine Vorahnung des bevorstehenden Untergangs der Insel selbst.«13 Von ihrer ›Natur‹ her hätte die Insel also auch hier ein Ort der Kommunikation sein können, ihr Strand ein Ort der Begegnung mit dem Anderen. Dem Leser erscheint sie zu Beginn des Textes genau wie Titiwu als Ort, der seine Relevanz als Knotenpunkt verschiedener Bewegungslinien erhält, deren Zusammentreffen Handlung in Gang setzt. Die vollständige Isolation am Ende des Buches ist dagegen ein künstlicher Akt, ein Eingriff durch den Menschen. Und nicht nur wollen die Menschen auf der Insel von der Welt ›draußen‹ nichts mehr wissen – auch die Welt soll von ihnen nichts erfahren: Der abgeschossene Vogel neben der ummauerten Insel im vorletzten Bild gehört zu den besonders drastischen Manifestationen dieser to13 A. Greder: Zur Entstehung.
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Regine Zeller talen Abschottung. Es ist diese Art der Insel, eine Festung eigentlich, die in Greders Bilderbuch zum Symbol für die Ausgrenzung des Anderen und die künstliche Trennung von Herrschaftsbereichen durch menschliche Grenzziehungsakte wird. Das Bild der Mauer – als unüberschreitbare Grenze – ist es denn auch, das Greder für den Einband des Buches ausgewählt hat: eine Burg, keine Insel. Das Meer ist auf diesem Bild gar nicht mehr zu sehen. In einem Kommentar zur Entstehung des Werkes schreibt Greder, dass seinem Buch zwar viele Erfahrungen mit der Fremdenfeindlichkeit besonders in seinem ursprünglichen Heimatland, der Schweiz, zugrundegelegen haben, »die Sache« aber erst dann »[z]ielbewusst wurde […], als mir die Idee einer Insel einfiel. Mit diesem Symbol für Abgeschiedenheit hatte ich das nötige solide Gerüst, auf welches sich Eindrücke und Überlegungen zu einer Geschichte ordnen konnten.«14 Greder zeigt sich damit überzeugt, dass diese Geschichte an keinem anderen Handlungsort möglich gewesen wäre – er übersieht allerdings, dass es gerade nicht die einseitige Darstellung der Insel als Raum der »Abgeschiedenheit« ist, die diese Geschichte so interessant macht: Vielmehr lässt gerade das Potenzial der Insel, auch als Ort der Begegnung und der Toleranz zu fungieren, das Handeln der Inselbewohner so skandalös wirken. Die Umwandlung der permeablen Land-Meer-Grenze in eine feste, undurchlässige Mauer verneint zudem den Charakter der Insel als Bewegungsraum, wodurch zukünftige Begegnungen mit dem Anderen, Fremden als Impulse für eine Weiterentwicklung ausgeschlossen werden. Erscheint die Insel somit in Urmel aus dem Eis und Die Insel als mindestens doppeldeutiger Schauplatz zwischen Ab- und Entgrenzung, so werden in Michael Endes Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer bzw. Jim Knopf und die Wilde 13 traditionelle Vorstellungen des Insularen noch deutlicher aufgelöst zugunsten eines polyperspektivischen Blicks auf das Phänomen der Insel, das hier ebenfalls als Kreuzungspunkt von Bewegungslinien und damit einhergehend als Ort der Begegnung mit dem Fremden im Zentrum der Handlung steht. Auch für die zwei Jim Knopf-Bücher soll damit begonnen werden, die Insel Lummerland zunächst auf die Merkmale der Abgeschlossenheit, der Begrenztheit und der Abwesenheit von vergehender Zeit zu untersuchen, um danach auf die Brüche in diesem Modell und die Rolle der Insel als Begegnungsraum einzugehen. Lummerland erscheint bei oberflächlicher Betrachtung zunächst in der Tat als paradigmatisches Beispiel jener Form der poetischen Insel, die Brunner beschrieben hat. So ist es zum Beispiel recht
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»Das Land war nämlich eine Insel.« überschaubar, um nicht zu sagen: klein, »sogar ganz außerordentlich klein im Vergleich zu anderen Ländern wie zum Beispiel Deutschland oder Afrika oder China. Es war ungefähr doppelt so groß wie unsere Wohnung und bestand zum größten Teil aus einem Berg mit zwei Gipfeln, einem hohen und einem, der etwas niedriger war.« (Bd. 1, S. 3)15 Diese Begrenztheit ist es, die bald zum handlungsauslösenden Problem werden wird. Mit seinen vier Einwohnern, deren Häusern und den vielen Eisenbahnschienen ist Lummerland nämlich bereits »ziemlich voll. Es passte nicht mehr viel hinein.« (Ebd.) Als das Findelkind Jim Knopf heranwächst, das aufgrund der mangelnden Schreibfertigkeiten der Seeräuberbande »Die Wilde 13« mit einem Postpaket fälschlicherweise nach Lummerland statt nach Kummerland geliefert worden ist, droht der kleinen Insel die »Überbevölkerung«, wie es König Alfons formuliert (Bd. 1, S. 20). Die Begrenztheit des Ortes ist somit ein entscheidendes Strukturmerkmal der gesamten Geschichte, denn das Ziel des ersten Bandes Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer liegt letztlich darin, eine Lösung für dieses Problem der Überbevölkerung zu finden. Zur Begrenztheit gehört die Definition einer Grenze. Diese scheint in Jim Knopf zunächst ebenfalls deutlich vorhanden zu sein, zumal auf den Übergang zwischen Land und Meer vielfach als »Landesgrenze« referiert wird. So heißt es bereits im ersten Kapitel: »Wichtig ist vielleicht noch, dass man sich sehr vorsehen musste die Landesgrenzen [interessanter Weise im Plural!] nicht zu überschreiten, weil man dann sofort nasse Füße bekam. Das Land war nämlich eine Insel.« (Bd. 1, S. 3) An diese Landesgrenze »bumst« dann im zweiten Band eines Nachts der Briefträger mit seinem Postschiff, was die Frage nach der Notwendigkeit eines Leuchtturmes aufkommen lässt. Die Grenze ist als solche also zunächst klar definiert. Sie scheidet hier aber lediglich ›Land‹ und ›Wasser‹ als bewohnbares und nicht-bewohnbares Gebiet, nicht etwa die Welt ›draußen‹ von der Insel ›drinnen‹, wie es bei Urmel aus dem Eis der Fall ist. In den Jim Knopf-Bücher ist nämlich die gesamte erzählte Welt eine Märchenwelt, in der Drachen, Scheinriesen und sprechende Meeresbewohner ohne große Verwunderung zur Kenntnis genommen werden. Der Unterschied zum ›Draußen‹ liegt nicht in der Eigenart der Bewohner Lummerlands, sondern nur in der Be-
15 Die Zitate werden im Folgenden direkt im Text durch Angabe des Bandes (Bd. 1: Michael Ende: Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer, Stuttgart, Wien: Thienemann 2004 [1960]; Bd. 2: Michael Ende: Jim Knopf und die Wilde 13, Stuttgart, Wien: Thienemann 2004 [1962]) und der Seitenzahl nachgewiesen.
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Regine Zeller grenztheit ihres Lebensraumes begründet, etwa im Vergleich zu dem riesigen Land China.16 Neben der Abgeschlossenheit und der Begrenztheit ist es besonders die vorherrschende Zeitform der Dauer, die Lummerland charakterisiert. Es fällt auf, dass die Insel vor der Ankunft Jim Knopfs nur von Erwachsenen bevölkert ist. Wie diese auf die Insel gekommen sind oder wer ihre Eltern waren, wird mit keinem Wort erwähnt – im Gegensatz zu Titiwu ist die Existenz des ›Mikrokosmos Lummerland‹ also nicht logisch erklärbar. Ganz markant zeigt sich der Zustand der Zeitlosigkeit am Namen des Königs: Alfons der Viertel-vor-Zwölfte, »weil er um Viertel vor zwölf geboren worden war« (Bd. 1, S. 6). Die Genealogie wird völlig ausgeblendet, es zählt nur das Jetzt, die Vergangenheit des Herrschergeschlechts ist uninteressant. Auch die Tatsache, dass die Lummerländer selbst kinderlos bleiben, passt in diese Vorstellung einer der Zeit völlig entrückten Welt.17 Dementsprechend ist das Leben auf Lummerland rein zyklisch, und das bedeutet: ohne geschichtlichen Fortschritt, organisiert. Der Tagesablauf wird dadurch strukturiert, dass Lukas seine – an sich völlig zweckfreien18 – Runden um die Insel dreht, »ohne dass sich jemals etwas Nennenswertes ereignete« (S. 6), oder dass der König an Feiertagen um Viertel vor zwölf ans Fenster tritt und seinen Untertanen zuwinkt. Auch auf dieser Insel setzt nun die Handlung mit der Ankunft eines Fremden von ›draußen‹ ein – im Text heißt es: »Es war ein friedliches Leben auf Lummerland, bis eines Tages – ja, und damit beginnt nun unsere eigentliche Geschichte.« (S. 9) Auch hier ist die Insel also auf den Impuls von außen angewiesen, damit etwas geschehen kann. Und auch hier ist die Insel ein Ort der Begegnung – zunächst mit dem Briefträger und mit Jim Knopf, später auch mit dem Kaiser von China, seiner Tochter Li Si oder den Meerwesen Uschaurischuum und Prinzessin Sursulapitschi, was wiederum auf die Permeabilität der Land-Wasser-Grenze und die Konstruktion des Insularen als Treffpunkt unterschiedlicher Bewegungslinien verweist. Aber auch das goldene Telefon von König Alfons ist ein Mittel, die Abgeschiedenheit der Insel zu überwinden – freilich erscheint das Telefonieren vor dem Kontakt mit dem Kaiser von China als 16 In der hier zitierten Ausgabe von 2004 ist »China« freilich bereits zu »Mandala« geworden. Die Diktion folgt hier der Originalausgabe von 1960. 17 Zur Zeitlosigkeit auf Lummerland vgl. auch die Anmerkungen bei Fabian M. Friedrich/Meike Ebbinghaus: Jim Knopf. Über Michael Endes Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer und Jim Knopf und die Wilde 13, Passau: Erster Deutscher Fantasy Club 2004. S. 64. 18 Vgl. dazu Reinbert Tabbert: »Jim Knopf, Michael Ende und die Lust am Funktionieren«, in: ders.: Kinderbuchanalysen: Autoren – Themen – Gattungen, Frankfurt/Main: dipa 1989, S. 22-36, hier besonders S. 25.
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»Das Land war nämlich eine Insel.« ebenso zweckfrei wie die Fahrten von Lukas und seiner Lokomotive Emma. Es sind somit auch hier die Bewegungen von der Insel weg und zu ihr hin, die zentrale Bedeutung für die Struktur der Geschichte gewinnen. Erst sie produzieren die Ambivalenz von Isolation und Kommunikation, die in beiden Jim Knopf-Büchern zum Tragen kommt. Interessant in Bezug auf die Durchlässigkeit der Grenze von Land und Wasser ist auch deren Überwindung beziehungsweise Außer-Kraft-Setzung mit Hilfe der Lokomotive Emma, die auf verschiedene Weise gelingt, wodurch die doch scheinbar deutlich markierte Landesgrenze verschwimmt. Die Lokomotive ist ja gerade ein Fahrzeug, das eigentlich nur auf Schienen und somit an Land fahren kann. In Jim Knopf wird sie aber darüber hinaus – gut kalfatert – als Boot sowie, mit einem magnetischen Ziehwerk ausgestattet, als Flugzeug verwendet, und luftdicht abgeschlossen kann sie auch auf dem Meeresgrund fahren. Die »elementare und mediale Diskontinuität«19 beim Übergang von Land zu Wasser, um eine Formulierung Ettes aufzunehmen, wird somit in diesem Fall spielerisch überwunden, was wiederum die Bedeutung der Grenze, und letztlich diese selbst, auflöst. Bei der Fahrt vom Meeresboden aus hoch auf die Insel, die die Helden auf Grund des Sauerstoffmangels in der Kabine nur halb-halluzinatorisch wahrnehmen, zeigt sich zudem, was Gillian Beer in einem Aufsatz als »double nature of the island« bezeichnet hat: Die Insel ist einerseits eine autonome Form – Lummerland im Meer. Auf der anderen Seite aber ist sie nur die fragmentarische Emporhebung von Land unter der Meeresoberfläche, die Spitze eines unterseeischen Berges sozusagen.20 Ende treibt das Spiel mit dieser multiplen Ordnung des Insularen auf die Spitze, wenn Lummerland am Ende tatsächlich nur die Spitze eines Berges ist, nämlich der oberste Teil des versunkenen Landes Jamballa, das Jim zu Ehren später Jimballa getauft werden wird. Jamballa war vor vielen Jahren im Meer versunken, als der Drache Frau Malzahn an anderer Stelle das »Land, das nicht sein darf« – das Refugium der Piraten – aus den Wellen hat emporsteigen lassen. Neben Lummerland, der Insel, die eigentlich gar keine Insel ist, treten in den Jim Knopf-Büchern noch die schwimmende Insel NeuLummerland, die Magnetberge sowie zahlreiche weitere Orte, die in ihrer Strukturform Inseln vergleichbar sind. Die Magnetberge, die 19 O. Ette: Von Inseln, Grenzen und Vektoren, S. 141. 20 Gillian Beer: »Discourses of the Island«, in: Frederick Amrine (Hg.), Literature and Science as Modes of Expression, Dordrecht, Boston, London: Kluwer Academic Publishers 1989, S. 1-27, hier S. 13. Was die poststrukturalistische Theorie im Zuge des spatial turn forderte, nämlich die Form des Insularen in ihrer Ambivalenz wahrzunehmen, wird von Ende somit bereits um 1960 literarisch vorweggenommen.
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Regine Zeller zu Beginn als unwirtlicher Ort erscheinen, an dem kein Leben möglich ist, dienen bezeichnenderweise zunächst der »Wilden 13« und Frau Malzahn als Treffpunkt – sie bilden somit ebenfalls einen Transit- und Begegnungsraum.21 Im Zuge der Integration des Anderen wird diese Insel später zur Heimat des Halbdrachen Nepomuk, der auf diese Weise sinnvoll in die Gesellschaft eingegliedert wird und als Wächter über das Meeresleuchten eine Funktion erhält. Zu den vielen ›Insel-ähnlichen‹ Orten zählen unter anderem das »Auge des Sturms«, die Festung der Piraten im Inneren einer Windhose, die Oase Herrn Tur Turs in der Wüste »Das Ende der Welt« und die Drachenstadt Kummerland. Sie alle bilden abgeschottete Bereiche in einer andersartigen Umwelt – die Festung im Sturm, die Oase in der Wüste, die Stadt im Land der Vulkane. In gewisser Weise bewegen sich Jim und Lukas immer zwischen solchen Insel-haften Räumen, wobei der Übergang von einem Bereich in den anderen oft mit einer abenteuerlichen Grenzüberschreitung verbunden ist – so beim Durchfahren des »Tals der Dämmerung« oder des »Mundes des Todes«, beim Eintritt in die Drachenstadt oder dem Ausbruch aus dieser. Immer aber ist die Grenzüberschreitung möglich, nie handelt es sich um völlig undurchlässige Grenzen – und wenn ein Weg versperrt ist, wie im zweiten Band der durch das Tal der Dämmerung, dann fliegen die beiden Lokomotivführer mit ihrer Emma einfach über das Gebirge hinweg. Und als wären das noch nicht genug Aspekte des Insularen, die Michael Ende hier durchspielt – die Ambivalenz von Abgeschiedenheit und Ort der Begegnung, von scheinbar fester Grenze und deren Überwindung mit ungewohnten Mitteln und die gänzliche Auflösung der Dichotomie von Insel und Festland dadurch, dass die Insel Lummerland letztlich nur ein Teil des Kontinents Jamballa ist –, erfindet er zusätzlich eine schwimmende Insel, die am Schluss des ersten Bandes das Problem der Überbevölkerung zumindest temporär zu lösen vermag. Mit dem Topos der schwimmenden Insel greift Ende auf eine lange abendländische Tradition zurück, die Christian Moser als »Alternative zur dominanten Konzeption der Insel als einer fixen Lokalität und eines scharf abgegrenzten Raums« beschreibt.22 Die schwimmende Insel ist flüchtig, ihr Einfangen gelingt nur dank der Hilfe des Goldenen Drachen der Weisheit – endlich an Lummerland angedockt, kann sie aber fest verankert werden, indem sie mit Korallenstöcken am Meeresboden festwächst. Das führt zu einer interessanten Konstellation, als sich Jamballa aus dem Meer
21 Ette spricht in Bezug auf die Kolonialisierung Amerikas durch die Spanier von der Wahrnehmung der Insel als »Transit- und Bewegungsraum« (O. Ette: Von Inseln, Grenzen und Vektoren, S. 149). 22 Ch. Moser: Archipele der Erinnerung, S. 412.
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»Das Land war nämlich eine Insel.« erhebt: Die ehemals schwimmende wird zu einer schwebenden Insel, die, nur durch ihre Korallenstöcke gestützt und an einer Stelle mit Lummerland verbunden, jetzt nicht mehr im Wasser, sondern in der Luft liegt. Grenzen sind in Jim Knopf nicht fest und unveränderlich – Lummerland steht damit in deutlichem Gegensatz zu Greders Insel, die im Lauf der Handlung zu einem Ort der Abschottung und einem extremen Beispiel der geschlossenen Inselgesellschaft wird, indem die Grenzen fester gemacht werden, als sie es zu Beginn sind. Michael Ende löst Grenzen auf und schafft dadurch einen Raum der Toleranz. Zwar nehmen die Inselbewohner Jim Knopf freudig auf, doch bringt dies zunächst auf Grund des Platzmangels auf der kleinen Insel Probleme mit sich. Das Überwinden der Grenzen durch die Angliederung von Neu-Lummerland und die Emporhebung Jamballas aus dem Meer öffnen Lummerland hin zu einer Toleranzgesellschaft, in die auch die gesellschaftlichen Außenseiter wie der Scheinriese sinnvoll eingegliedert werden. Jimballa, das »Land der Kinder und Vögel« (Bd. 2, S. 272), wird somit zum Gegenmodell zu Greders namenloser Insel: Es ist eine offene Gesellschaft der Integration und der Toleranz, die hier vorgestellt wird. Zusammenfassend kann man sagen, dass es gerade die Dialektik von Abgeschlossenheit und Begegnung ist, die in den betrachteten Büchern nicht nur die Handlung strukturiert, sondern auch Möglichkeiten des Umgangs mit dem Fremden für die Leserinnen und Leser erfahrbar macht. Wäre vielleicht zu erwarten gewesen, dass gerade Kinderbücher, die ja vermeintlich einfach gestaltet sind, das Insulare in den typischen Topoi von Isolation und fester Form reproduzieren, so konnte die Analyse der drei behandelten Texte zeigen, dass sie ganz im Gegenteil jenes Bewusstsein für das »semantische Oszillieren« des Insel-Motivs erkennen lassen, das Ette für jede Beschäftigung mit dem Insularen fordert.23 Alle drei Inseln erscheinen als Begegnungsräume, als Kreuzungspunkte spezifischer Bewegungslinien, wodurch sie sich für das Thema der Konfrontation mit dem Fremden in exemplarischer Weise anbieten. Alle Inselgesellschaften in den untersuchten Texten werden mit einem Impuls von außen konfrontiert – bei Titiwu und Lummerland erscheint das Fremde zunächst durchaus auch als Bedrohung für die bestehende Gesellschaft, sei es in Form von aggressiver Jagdlust wie bei König Pumponell oder von schlichtem Platzmangel wie bei Jim Knopf. In beiden Fällen aber wird eine Lösung für das Problem gefunden, die das Fremde am Schluss harmonisch in die Inselgesellschaften integriert. Dabei spielen auch die verschiedenen Formen der Grenz-
23 O. Ette: Von Inseln, Grenzen und Vektoren, S. 137.
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Regine Zeller überschreitung und -dekonstruktion eine zentrale Rolle: Die Inselgrenzen, die doch vermeintlich genau auf der Linie zwischen Land und Wasser angesetzt werden können, sind sowohl durchlässig als auch flüchtig. Für Urmel aus dem Eis konnte gezeigt werden, dass die Trennung zwischen ›drinnen‹ und ›draußen‹ keineswegs an der Land/Meer-Grenze verläuft, und die Grenzen bei Jim Knopf – ohnehin offenbar nur dazu da, überschritten zu werden – lösen sich letztlich ganz auf, wie auch die Form Lummerlands als Insel, indem es zunächst als Spitze eines unter der Meeresoberfläche liegenden Berges, später sogar als Teil eines versunkenen Kontinents erscheint. Mit Neu-Lummerland an seiner Seite changiert Lummerland somit zwischen den Formen der Insel, des Archipels und des Kontinents, wobei Lummerland als Staat ja zunächst eine ›politische Insel‹ im Reich Jimballa bleiben wird. Greders Die Insel dagegen zeigt, wie die Insel als Raum möglicher Begegnungen künstlich abgeschottet werden kann, indem die durchlässige Land/MeerGrenze geschlossen wird. Erst dadurch lässt sich diese Grenze genau bemessen: Sie verläuft jetzt entlang der Außenmauer. So wird die Insel zu einem völlig abgetrennten Raum und verliert dabei genau das, was eigentlich ihre Besonderheit als Insel ausgemacht hat. In allen drei Fällen kann das Insulare somit als das prägende Strukturprinzip der Texte gelten: Es ist die Bewegung zur Insel hin und von der Insel weg, es sind die Punkte der Begegnung, die für den Fortgang der jeweiligen Geschichte entscheidend sind, die Akte der Grenzüberschreitung, die den Raum der Insel in seiner Besonderheit konstituieren. Bei Greder bildet folglich die Vertreibung des Fremden das letzte Moment der Handlung – was folgen wird, ist vermutlich Stagnation. Kein Wunder, dass das letzte Bild des Buches dann auch nicht mehr die Insel, sondern allein das Meer zeigt. Über diese Insel gibt es nichts mehr zu erzählen.
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Inseln auf den Inseln. Grenzziehungen in Georg Forsters Reise um die Welt ANNE D. PEITER I. In diesem Artikel soll es um die Bedeutung von Grenzziehungen für den Kontakt zwischen europäischen Reisenden und den Bewohnern unterschiedlicher Inseln im 18. Jahrhundert gehen. Diese Grenzziehung erfolgt, wie wir an unterschiedlichen Beispielen sehen werden, auf oft subtile Weise, gewinnt aber für die Etablierung von Machtstrukturen und die Herstellung einer gewissen Asymmetrie zwischen Einheimischen und Fremden große Bedeutung. Georg Forster, geboren 1754, gestorben 1794, gelangte durch sein Buch Reise um die Welt bereits als junger Mann zu großer Berühmtheit. Als Teilnehmer an Captain Cooks zweiter Weltumsegelung (1772-1775) hatte er die Gelegenheit, neben dem Kap Südafrikas und dem Südpol besonders die Inselwelt des Pazifik kennen zu lernen. Einer der Hauptaufträge Cooks war die Suche nach einem neuen, am Südpol vermuteten Kontinent. Der strapaziöse Versuch, trotz der Kälte immer weiter nach Süden vorzudringen, zeigte jedoch, dass die erwartete paradiesische Welt nicht zu finden war. In diesem Moment wurde ein Ausweichen nach Neuseeland, Tahiti und zu den Gesellschaftsinseln unumgänglich: Eine Pause war notwendig. Die Besatzung der beiden Schiffe konnte sich dort mit vitaminreicher Nahrung versorgen und Vorräte für den zweiten Teil der Reise anlegen, der erneut der Suche nach dem erhofften, unbekannten Territorium galt. Dieser zweite Versuch war so erfolglos wie der erste. Ein weiteres Mal gewann daher die Inselwelt des Pazifik große Bedeutung, denn ohne Früchte und Fleisch hätte die Besatzung die Rückkehr nach Europa nicht leisten können. Bei dieser zweiten Reise zu mehreren Inseln – darunter dieses Mal neben den Gesellschafts- und Freundschaftsinseln auch die Oster- und die
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Anne D. Peiter
Marquesasinseln – kam es zur Wiederbegegnung mit einigen Einheimischen.1 Dieser Kontext ist für die Analyse, die ich im Folgenden dem Kontakt zwischen den Europäern und den Bewohnern verschiedener Inseln widmen möchte, wichtig. Wichtig in zweifacher Hinsicht: Erstens ist zu unterstreichen, dass die Landung auf den Inseln nicht allein der Exploration fremder Welten galt, sondern ganz praktisch der Hoffnung, durch Tausch von Waren zu neuen Vorräten zu gelangen. Und zweitens ist festzuhalten, dass es – bedingt auch durch Cooks erste Reise – auf manchen Inseln bereits regelrechte Traditionen gab, die die Kommunikation zwischen Europäern und Inselbewohnern in bestimmte Bahnen lenkten, dass aber der Modus des Miteinanders, des Austausches, des Kontaktes häufig erst noch festzulegen war.2 Mein Interesse soll im Folgenden besonders dem Austausch unter diesen Bedingungen gelten.
II. II . Der erste Kontakt zwischen zwei Gruppen von Menschen, die unterschiedlichen Kulturen angehören und keine gemeinsame Sprache sprechen, ist zunächst einmal ein Wagnis. Die Europäer erwarten diese Begegnung; die Inselbewohner hingegen haben von der ersten Sichtung der fremden Schiffe bis zu ihrer Ankunft nur wenig Zeit, um sich auf die neue Situation vorzubereiten. Das, was sich bereits in den ersten Minuten abspielt, ist also durch eine Asymmetrie gekennzeichnet: Während die Europäer sich auf Begegnungen einstellen können, werden die Einheimischen plötzlich aus ihrem Alltag herausgerissen. Die Europäer können – nicht zuletzt militärische – Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, die Inselbewohner hingegen leben oft so zerstreut, dass sie ihre Kräfte bei entstehenden Konflikten erst bündeln müssen. Beim Blick auf die Beschreibungen, die Forster der ersten Kontaktaufnahme widmet, fällt jedoch auf, dass es zu Beginn meist zu keiner Gewalt kommt. Das liegt vor allem daran, dass die Europäer das Ungleichgewicht, das zwischen ihnen und den Fremden bezüg1
2
Vgl. zur Reiseroute und den Bedingungen der Reise: Ludwig Uhlig: Georg Forster. Lebensabenteuer eines gelehrten Weltbürgers, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004, besonders Kapitel III und IV. Anja Schwarz unterstreicht in ihrem Aufsatz Linien im Sand, dass der Strand häufig als »kontextlose Urszenen« inszeniert würde, dass aber in Wirklichkeit oft schon Kontakte zwischen Europäern und Inselbewohnern bestanden. Vgl. Anja Schwarz: »Linien im Sand. Der Südseestrand als Begegnungsraum bei James Cook und Georg Forster«, in: Zeitschrift für Kulturwissenschaften 2 (2008), S. 53-64, hier: S. 53.
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Inseln auf den Inseln
lich ihrer jeweiligen Waffensysteme besteht, nicht ausnutzen, sondern bemüht sind, sich den Einheimischen als friedliche Gäste darzustellen. Nachdem das Moment der ersten Unsicherheit überwunden ist, kommt es in einem zweiten Schritt auf beiden Seiten zu dem Versuch, vertraute Kommunikationsformen für die neue Situation zu nutzen. Gleichzeitig herrscht jedoch bei beiden Parteien das Bewusstsein, dass die andere Seite möglicherweise nicht alles verstehen wird. Insofern ist der Versuch, sich gegenseitig kennen zu lernen, ein äußerst komplexer Prozess: Auf der einen Seite haben beide Seiten die Tendenz, so ›natürlich‹ wie möglich (d. h. unter Beibehaltung möglichst vieler vertrauter Verhaltensmuster) auf die fremden Menschen zu reagieren.3 Auf der anderen Seite verschiebt die schnell offenbar werdende Schwierigkeit, sich auf gewohnte Weise verständlich zu machen, die Grenzen dessen, was bis dahin als selbstverständlich gelten mochte. Der Lernprozess, der bei beiden in Gang gesetzt wird, verdankt sich einer permanenten Rückkoppelung zwischen eigenem und fremden Verhalten, einer Rückkoppelung, die jedoch nur so lange funktioniert, wie nicht als fundamental erlebte, unhintergehbare Werte durch das Neue in Frage gestellt werden. Und genau in einem solchen Moment, in dem die Anpassung an den jeweils anderen an eine Grenze stößt, beginnen die eigentlichen Schwierigkeiten der Kommunikation. Die Europäer stehen anfangs in der Erwartung, dass ihnen die Landung auf den Inseln verwehrt werden könnte. Ausgehend von europäischen Begriffen, betrachten sie die Inseln als Musterbeispiele für ein klar abgegrenztes Territorium. Da, wo das Wasser ans Land stößt, beginnen die Besitzansprüche derer, die das Land bewohnen: die Ansprüche einer ›Nation‹. Die Frage, die sich für Kontinente oder ausgedehnte Landstriche stellt, die Frage nämlich, wie das Gebiet in den Augen derer, die es bewohnen, gegliedert ist und wo wessen Besitzansprüche überhaupt beginnen, hat für Inseln keine Relevanz.4 Ihre Überschaubarkeit legitimiert in den Augen der 3
4
Tzvetan Todorov zufolge ist diese Reaktion auch für den Kontakt zwischen Europäern und Kulturen Südamerikas von großer Bedeutung gewesen. Die Azteken seien ihrer traditionellen Symbolik gefolgt, während es die Spanier verstanden hätten, schon frühzeitig neue Verhaltensweisen jenseits ihres rituellen Verständnisses zu entwickeln. Dies hat das machtpolitische Ungleichgewicht erzeugt, aus dem die Zerstörung aztekischer Lebensformen resultierte. Vgl. Tzvetan Todorov: La conquête de l’Amérique. La question de l’autre, Paris: Seuil 1982. Dies ist bereits als kolonialer Diskurs zu kennzeichnen: Das Land, das noch in niemandes Besitz sei, wird als ungenutztes Land betrachtet, das man jederzeit in Besitz nehmen könne. Wie diese Inbesitznahme genau erfolgt, wird im Folgenden gezeigt werden.
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Anne D. Peiter
Europäer die Idee, dass Inseln eine in sich abgeschlossene Einheit bilden und mithin nur ihr eigener, erster Schritt ans Land entscheidend ist: Sobald sie ihren Fuß auf das Land setzen dürfen, haben sie gleichsam keine weiteren Grenzüberschreitungen durchzusetzen, sondern sind da, wo sie sind: auf einer Insel, auf die auch sie Anspruch erheben dürfen. Mit diesen Ansprüchen aber verhält es sich so, dass sie in eben dem Maße wachsen, in dem ihnen keine Grenzen gesetzt werden. Dies wird im Folgenden zu zeigen sein.
III. III . Die Schwierigkeit für die Reisenden unter Cook besteht darin, dass es auf der Insel selbst Orte gibt, die, obwohl zum Territorium der Insel gehörend, den Inselbewohnern als Grenzgebiet gelten. Bestimmte Begräbnisorte, Wohnstätten hochgestellter Personen oder Plätze, an denen – ökonomisch besonders wertvolle – Schweine gehalten werden, sollen den Europäern verschlossen bleiben.5 Immer wieder erweist sich jedoch, dass die Europäer das, was nach ihren eigenen Kategorien überraschend sein müsste – ihr ungehinderter Zugang zu einem Territorium, das sich im Besitz fremder Menschen befindet –, schnell als selbstverständlich wahrnehmen. Aus der Leichtigkeit, mit der ihnen die Landung auf den Inseln im allgemeinen gestattet wird, schließen sie auf ihr Recht, die gesamte Insel in Augenschein zu nehmen. Aus der fehlenden Grenzziehung durch die Inselbewohner folgt also nicht ein besonderer Respekt für die internen Grenzziehungen, die von Seiten der Einheimischen als notwendig betrachtet werden. Im Gegenteil: Legitimiert durch wissenschaftliche Interessen6 und die Notwendigkeit zur Versorgung mit Lebensmitteln, sind es die Ankömmlinge, die ihre eigenen Vorstellungen von ›Grenze‹ durchzusetzen versuchen. Dafür steht beispielhaft die folgende Mahlzeit, die die Europäer auf Tahiti einnehmen: »Nachdem wir etliche Meilen weit gegangen waren, setzten wir uns auf einige große Steine nieder, die vor einer Hütte eine Art von erhöhtem Pflaster ausmachten, und bathen die Einwohner, daß sie uns, gegen baare Zahlung in Co-
5
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Wichtig ist an dieser Stelle, dass bestimmte Orte auch für die Einheimischen mit einem Tabu belegt sind. Das Verbot betrifft also durchaus nicht nur die Europäer. Eine wissenschaftsgeschichtliche Publikation zur Dialektik der Säkularisierung in Georg Forsters Reise um die Welt ist in Vorbereitung. Vgl. Anne D. Peiter: »Entre sciences et merveilles. Les méduses dans le récit ›Voyage autours du monde‹ de Georg Forster«, erscheint voraussichtlich in einem vom Forschungszentrum CRLHOI herausgegebenen Band zum Indischen Ozean.
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Inseln auf den Inseln rallen, etwas Brodfrucht und Coco-Nüsse verschaffen mögten. Sie waren sehr willig dazu, brachten herbey was sie hatten und in der Geschwindigkeit stand das Frühstück aufgetischt vor uns. Um es desto ruhiger zu verzehren, ließen wir den ganzen Haufen unserer Begleiter in einiger Entfernung von uns niedersitzen, damit sie keine Gelegenheit haben mögten, Gewehr oder andre Dinge zu erhaschen, die wir beym Essen von uns legen mussten.«7
Hier werden Mitglieder von Cooks Besatzung auf das Schönste mit Nahrung versorgt. Zwar erfolgt eine Bezahlung für das Frühstück, dennoch trägt die gesamte Szene paradiesische Züge. Das, was an Bezahlung für die Früchte zu entrichten ist, stellt nämlich in den Augen der Europäer keinen wirklichen Wert dar: Sie bezahlen mit Glaskorallen, einem Produkt, das nur dadurch Wert für sie hat, dass die Inselbewohner es als wertvoll betrachten. Während Eisenwerkzeuge und Nägel auch in den Augen der Europäer als nützlich und daher (in gewissen Grenzen) als wertvoll anerkannt werden, sind die Glaskorallen allein aus praktischen Gründen mit auf die Reise genommen worden: Sie sind billig herzustellen und den Inselbewohnern vom Material her unbekannt. Das Neuartige aber sichert das Interesse an ihnen. Außerdem können diese »falschen« Korallen leicht in großen Mengen transportiert werden, ohne das Gewicht der Schiffsladung übermäßig zu steigern. Ein weiterer Vorteil besteht darin, dass sie – darin in der Tat Geldmünzen ähnlich –, in kleinen Einheiten gegen Dienste und fremde Produkte eingetauscht werden können, dass es also keines gleichartigen »Wechselgeldes« bedarf, um etwas zu kaufen. Wenn man nun davon ausgeht, dass sich das wundersam prompt aufgetischte Mahl den Europäern als große Wohltat darstellt, muss auffallen, dass sie dieses zur Ziehung von Grenzen und nicht etwa zu deren Einebnung nutzen: Die Inselbewohner werden nicht mit zu Tisch gebeten, sondern angewiesen, sich in einiger Entfernung von den Essenden niederzusetzen. Elias Canetti vertritt in seiner »poetischen Anthropologie« Masse und Macht die These, dass es stets die Machthaber seien, die versuchten, freien Raum um sich zu schaffen: »Jeder, auch der niedrigste, sucht zu verhindern, dass man ihm zu nahe kommt. Wo immer eine Form des Zusammenlebens sich zwischen Menschen etabliert hat, drückt sie sich in Abständen aus, die ihnen diese unablässige Angst des Gepackt- und Ergriffenwerdens benehmen. [...] Der Machthaber, von
7
Georg Forster: Reise um die Welt, Frankfurt/Main: Insel Verlag 2004, S. 269 (Hervorhebung A. P.).
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Anne D. Peiter dessen Existenz die der übrigen abhängt, erfreut sich des größten, des deutlichsten Abstands [...].«8
Canetti betrachtet das Bedürfnis nach Distanz als eine quasi tierische Verhaltensweise, die mit der Angst, zur Beute der anderen zu werden, zusammenhänge. Und in der Tat spiegelt sich in Georg Forsters Text die Sorge, die Waffen, die die Europäer bei ihren ersten Erkundungen Tahitis stets mit sich führen, könnten in die Hände der Einheimischen gelangen und sich so gegen sie, die Ankömmlinge, wenden. Von der Überlegenheit der europäischen Waffen hängt jedoch die Aufrechterhaltung der Asymmetrie, die auch das Essen dokumentiert, wesentlich ab. Während die Inselbewohner es also zugelassen hatten, dass die Reisenden den freien Raum, der zwischen ihnen lag, immer weiter reduzierten – man könnte sagen, sie rückten den Einheimischen regelrecht ›auf die Pelle‹ –, demonstrieren die Europäer mit ihrer nur scheinbar unscheinbaren Geste ›hier sitzen wir, dort ihr‹, dass sie sich als potentielle Beherrscher der Insel sehen.
IV. IV . Aus einer späteren Situation wird ersichtlich, dass die Distanz zwischen beiden Gruppen regelmäßig ins Werk gesetzt wird, jetzt jedoch mit einer entscheidenden Änderung: »Wir versorgten uns [...] mit einem hinlänglichen Vorrath und mietheten einige Leute um uns das Eingekaufte nachtragen zu lassen. Nachdem wir ohngefähr fünf englische Meilen weit gegangen waren, setzten wir uns auf einen schönen Rasen unter den Bäumen nieder, um Mittag zu halten. Nächst den unterwegens angeschaften Früchten bestand unsre Mahlzeit aus etwas Schweinefleisch und Fischen, welche wir vom Bord mitgenommen hatten. Die Tahitier machten einen Creis um uns her, unsern Wegweisern und Helfern aber gaben wir die Erlaubniß, sich neben uns zu setzen. Sie ließen sich’s herzlich gut schmecken [...].«9
Wieder geht es um Essen, wieder ist die Rede von einer beschaulich-idyllischen Situation, die sich nicht zuletzt der Schönheit der Natur verdankt. Als Wiederholung erscheint auch die räumliche Ordnung, die auf Befehl der Europäer zustande kommt: Während das ›Wir‹ der Europäer ins Zentrum rückt, werden die Tahitier – das ›Ihr‹ – auf eine Weise platziert, dass eine Grenze entsteht. Erneut
8 9
Elias Canetti: Masse und Macht, Frankfurt/Main: Fischer TaschenbuchVerlag 2001, S. 242 (Hervorhebungen A. P.). G. Forster: Reise um die Welt, S. 312 (Hervorhebung A. P.).
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Inseln auf den Inseln
geraten die Einheimischen, die doch bisher die Akteure der Insel waren, in die Rolle von Zuschauern. Das Sitzen im Kreis bedeutet zugleich, dass sie nicht die gleiche räumliche Konzentration aufweisen wie die Reisenden. Diese sitzen zusammen, in körperlichem Kontakt miteinander, könnten sich, wenn der Raum, den sie im wahrsten Sinne des Wortes in Be-Sitz nehmen, mit ihren Waffen verteidigen. Und doch ist die Situation wesentlich von der vorherigen verschieden: Die Trennung von ›Wir‹ und ›Ihr‹ hat an Schärfe verloren. Einige Tahitier werden als zugehörig betrachtet. Sie bleiben zwar diejenigen, die ›gemietet‹ und zeitweilig als ›Besitz‹ betrachtet werden dürfen, doch durch ihre Funktionen werden sie von den Europäern in gewisser Weise als gleichberechtigt anerkannt. Die Gleichberechtigung drückt sich darin aus, dass sie mit den neuen Be-sitzern sitzen dürfen und so von den übrigen Einheimischen abgesondert werden. Indem das Prinzip des divide et impera zur Anwendung kommt, verschärft sich jedoch die Grenzziehung zwischen beiden Gruppen. Die Beobachtung, dass ein Teil der Tahitier die »Fronten wechselt« und mit den Europäern speisen darf, scheint dieser Behauptung entgegenzustehen. Doch ein Vergleich zu der vorhergegangen Situation erweist ihre Berechtigung: Während die Europäer dort allein auf ihre Waffen vertrauen konnten, haben sie hier Verbündete gewonnen, die einen doppelten Schutz für die Grenze bedeuten, die sich zwischen beiden Gruppen etabliert hat. Denn so sehr auch zuzugeben ist, dass sich mit einigen Tahitiern ein reger Austausch entspinnt, so sehr bleibt doch festzuhalten, dass die Europäer diese Kontakte zur Aufrechterhaltung ihrer Dominanz benutzen. Das Zusammensitzen und -speisen mit ausgewählten Inselbewohnern sind von Vorteil für sie: Sie werden genährt, aber zugleich ist es doch, als wären sie selbst es, die nährten. Ohne die Bereitschaft, ausgewählte Fremde im Zentrum, dem Platz der Europäer, zuzulassen, blieben sämtliche Einheimischen in der Rolle der Zuschauer des Mahls. So aber wird Nahrung, wenigstens teilweise, geteilt – die Geste scheinbarer Großzügigkeit geht von den Europäern aus und nicht etwa von denjenigen, die die Nahrung überhaupt besorgten.10 Denn diese Besorgung ist, sobald das Essen beginnt, 10 Hierbei ist allerdings zu bedenken, dass das Dokument, auf das ich mich stütze, von einem Europäer geschrieben ist. Er schildert seine Sichtweise, die zudem eine retrospektive ist: Der Ausgang der Begegnung, eine gewisse Dominanz der Europäer, scheint für ihn klar zutage zu liegen. Und so verwischt Forster vielleicht unbewusst Erlebnisse, die das Gegenteil hätten zeigen können. – Mit dieser Frage hängt auch die Debatte zwischen Marshall Sahlins und Gananath Obeyesekere über die Wahrnehmung Captain Cooks durch die Bevölkerung auf Hawaii und die Umstände seines Todes zusammen. Ist die Vergöttlichung Cooks eine Realität gewesen oder muss
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längst in Vergessenheit geraten. Jetzt zählt nur noch das Essen selbst. Canetti stellt in diesem Zusammenhang die provozierende These einer Ähnlichkeit zum Tierreich auf:11 »Schwer und voller Behagen liegt er da, der am meisten fressen kann, der Meistesser. Es gibt Gruppen von Menschen, die in einem solchen Meistesser ihren Häuptling sehen. Sein immer gestillter Appetit erscheint ihnen als Gewähr dafür, dass sie selber nie lange Hunger leiden werden. Sie verlassen sich auf seinen gefüllten Bauch, als hätte er ihn für sie alle mitgefüllt. Der Zusammenhang von Verdauung und Macht tritt hier klar zutage.«12
Canetti formuliert, was in ähnlicher Weise auch auf das von den Tahitiern zur Verfügung gestellte, von den Europäern verzehrte und nur zum Teil an die Produzenten der Nahrung weitergereichte Mahl zutrifft: Der Umstand, dass nicht alle Tahitier zu essen bekommen, scheint dadurch wettgemacht zu werden, dass es sich die Europäer schmecken lassen. Diese Wahrnehmung ist durchaus nicht nur die man sie als bloßen europäischen Mythos betrachten, wie Obeyesekere in seiner Kritik an der Quelleninterpretation Sahlins das tut? Trug Cook selbst durch sein Fehlverhalten Verantwortung für die Gewalt, die ihn um sein Leben brachte, oder wurde er Opfer eines Ritualmordes? Grundsätzlicher formuliert: Macht Sahlins die Hawaiianer auf eurozentrische Weise zu Marionetten ihrer kulturellen Muster, indem er sie für irrational erklärt, oder unterliegt umgekehrt Obeyesekere der Versuchung, den Hawaiianern eine westliche Rationalität zuzuschreiben und damit selbst ethnozentrisch zu argumentieren? Der Ansatz Sahlins, Kulturkontakte aus der Perspektive der indigenen Bevölkerung des Pazifik zu beschreiben, ist in jedem Fall für die ›Kulturalisierung‹ der Ethnologie von großer Bedeutung gewesen und trifft sich daher mit der kulturwissenschaftlichen Analyse, die ich selbst versuche. Sahlins kritisiert Obeyesekere mit folgendem Argument: »If the underlying argument is that all ›natives‹ are alike, the superimposed argument is that they one and all enjoy a healthy, pragmatic, flexible, rational, and instrumental relation to the empirical realities. Reflecting rationally (and transparently) on sensory experience, they are able to know things as they truly are.« Vgl. die Kritik an Sahlins durch Gananath Obeyesekere: The Apotheosis of Captain Cook. European Mythmaking in the Pacific, Princeton: Princeton UP 1992, sowie in Reaktion darauf: Marshall Sahlins: How »Natives« think. About Captain Cook, for example, Chicago, London: University of Chicago Press 1995, besonders S. 85-117; das obige Zitat auf S. 5. 11 Vgl. dazu: Anne D. Peiter: Komik und Gewalt. Zur literarischen Verarbeitung der beiden Weltkriege und der Shoah, Köln u. a.: Böhlau 2007, besonders Kapitel 8. Außerdem dies.: »Der Mensch als Tier, das Tier als Mensch? Die Bedeutung von Natur für Elias Canettis Analyse der Shoah«, in: Hubert Zapf (Hg.), Kulturökologie und Literatur. Beiträge zu einem transdisziplinären Paradigma der Literaturwissenschaft, (Anglistische Forschungen, Bd. 387), Heidelberg: Winter 2008, S. 229-240. 12 E. Canetti: Masse und Macht, S. 257.
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Wahrnehmung derjenigen, für die das Mahl überhaupt erst gerichtet wurde, nämlich der Europäer. Vielmehr scheinen auch die Tahitier, die zur Teilnahme eingeladen sind, darauf zu vertrauen, dass das Essen der Europäer und das Essen für sie selbst mit einem Essen für alle gleichzusetzen ist. Die Teilhabe an Privilegien ist derart verlockend, dass in Vergessenheit gerät, dass die Inselbewohner ihre Nahrung zuvor nicht zu teilen hatten. Obwohl also vor der Ankunft der Europäer mehr Nahrung vorhanden war als jetzt, wird der Anspruch derselben auf Nahrung als Zeichen ihrer Überlegenheit (und nicht ihrer Abhängigkeit) gewertet.13
V. Wie sehr die Grenzziehung, die durch die Teilung der Kräfte der Einheimischen an Dauerhaftigkeit gewinnt, auf Seiten der Europäer zu einem allgemeinen Prinzip der Kommunikation erhoben wird, geht daraus hervor, dass sie auch auf anderen, weit entfernten Inseln – nämlich den neuen Hebrideninseln – zur Anwendung kommt: »Der Anschein ließ uns eine ganz ruhige Landung hoffen, denn die Zahl der an der Küste befindlichen Einwohner war zu gering, um uns dieselbe streitig zu machen. Sie hatten sich, nicht weit von der See, ins Gras gelagert, und liefen auch würklich fort, als sie uns aus dem Boote steigen sahen; da wir ihnen aber freundlich zuwinkten, so kehrten sie wieder zurück. Von Westen kam ein Haufe von etwa 150 Wilden her, die allesammt, in der einen Hand Waffen, in der andern aber grüne Palmenzweige trugen. Diese überreichten sie uns als Friedenszeichen, und wir beschenkten sie dagegen mit Medaillen, Tahitischem Zeug und Eisenwerk, tauschten auch für dergleichen Waaren etliche Cocosnüsse ein, nachdem es eine ganze Weile gedauert hatte, ehe sie, aus unserem Hindeuten auf die Cocos-Palmen und aus andern Gebehren, begreifen konnten, dass wir von diesen Bäumen die Früchte zu haben wünschten. Hierauf verlangten wir, dass sie sich alle niedersetzen mögten, welches auch zum Theil geschahe, und alsdann ward ihnen angedeutet, dass sie eine in den Sand gezogene Linie nicht überschreiten sollten, womit sie ebenfalls zufrieden waren.«14
Noch einmal geht es um den Beginn einer Kontaktaufnahme. Neu ist an dieser Situation, dass die Bewaffnung von den Inselbewohnern zur Schau gestellt wird. Dass die Europäer ihre eigenen Waffen zurückhalten, sie weder vorzeigen, noch benutzen, verdankt sich 13 Diese Form der »Kollaboration« steht wahrscheinlich im Zusammenhang mit den Machtstrukturen, die auf der Insel selbst herrschten. Die Machttechniken der Europäer könnten also in gewisser Weise als vertraute interpretiert werden. 14 G. Forster: Reise um die Welt, S. 729f. (Hervorhebung A. P.).
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aber offenbar nicht der Entscheidung, prinzipiell Verzicht auf sie zu tun, sondern dem Bewusstsein, dass ihre Überlegenheit ohnehin nicht in Frage steht: Es heißt, die Einwohner könnten aufgrund ihrer geringen Zahl den Ankömmlingen die Insel nicht »streitig machen«. Die Überlegenheit der europäischen Streiter sieht man nicht zuletzt daran, dass, sobald die Nahrungssorgen beseitigt sind, der hinreichend bekannte Versuch unternommen wird, die zu den beiden Gruppen gehörenden Körper auf eine bestimmte Weise im Raum anzuordnen. Anders als zuvor wird die Grenze jedoch nicht mehr nur durch die Körper selbst gekennzeichnet. Vielmehr tritt eine Linie, die in den Sand gezogen wird, hinzu.15 Während Körper beweglich sind und unterschiedliche Positionen im Raum einnehmen können, ist die Grenzlinie von einer gewissen Dauer. Der Umstand, dass die Einwohner sich erst setzen müssen, bevor die Grenze gezogen wird, deutet auf die eingeschränkte Beweglichkeit hin, die den Einheimischen auferlegt werden soll. Wenn sie stünden, könnten sie die Grenzziehung leichter verhindern. Dass nur diejenigen, die die Grenze ziehen, stehen und gehen, der Großteil der Einheimischen hingegen sitzt, verdankt sich also einem strategischen Kalkül: »Eine gewisse Distanz der anderen um einen herum macht mehr aus dem Stehenden. Einer, der allein, durch eine Art von Entfernung getrennt, vielen anderen gegenübersteht, wirkt besonders groß, so als stünde er für sie alle zusammen allein.«16
Gilt die gesteigerte Wahrnehmung von Größe schon für den Stehenden, der Distanz zu den anderen beansprucht – wie viel mehr gilt diese Beobachtung erst, wenn die anderen sitzen, d. h. sich kleiner fühlen müssen, als sie in Wirklichkeit sind. Dass der Eingriff in die Bewegungen der Körper wirkliche machtpolitische Konsequenzen hat, geht aus dem hervor, was der Grenzziehung folgt: »Während dieser Zeit hatten die Soldaten sich in Ordnung gestellt, und die Indianer bezeigten so viel Furcht für ihnen, dass sie, bey der geringsten Bewegung derselben, allemal eine Ecke fortliefen; nur etliche alte Männer waren so herzhaft sich dadurch nicht erschrecken zu lassen. Wir verlangten, dass sie ihre Waffen von sich legen sollten, welcher Forderung, so unbillig sie an sich auch seyn mochte, dennoch von den mehresten Genüge geleistet wurde.«17
15 Vgl. dazu erneut Anja Schwarz, die auf die sprichwörtliche Bedeutung des englischen Ausdrucks »draw a line in the sand« aufmerksam macht: Er bedeute »[to establish] a limit or boundary; [to specify] a level of tolerance or a point beyond which one will not go«. A. Schwarz: Linien im Sand, S. 54. 16 E. Canetti: Masse und Macht, S. 460. 17 G. Forster: Reise um die Welt, S. 730.
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Georg Forster ist selbstkritisch genug, um zuzugeben, dass die Forderung der Europäer unakzeptabel sein musste. Der Erfolg verleitet aber auch ihn dazu, die Sicherung der eigenen Überlegenheit schließlich zu legitimieren. Die Notwendigkeit dieser Maßnahmen wird durch den fehlenden Respekt der Inselbewohner für das Eigentum der Europäer begründet. Bei einem Tauschhandel kommt es nämlich zu einem Konflikt zwischen Captain Cook und einem Inselbewohner. Cook erwartet im Tausch für eine tahitische Kleidung, die er dem anderen bereits ausgehändigt hat, eine Keule, die er aber plötzlich nicht erhält. Daraufhin schießt er dem »Betrüger« eine Ladung Schrot ins Gesicht.18 Der Konflikt eskaliert, trotz der Bemühungen eines alten Inselbewohners, der durch das Angebot von Nahrung zwischen beiden Parteien zu vermitteln versucht. Nachdem die Europäer ihre gefährlichsten Waffen, vor allem die Kanone, zum Einsatz gebracht haben, entscheiden sie sich, ihre Grenzziehung zu verschärfen: »Wir ließen es nunmehro unsre erste Sorge seyn, zu Bedeckung der Arbeitsleute, die See-Soldaten in zwo Linien zu stellen. An beyden Seiten schlug man Pfähle in die Erde, und zog einen Strick dazwischen, so dass die Wasserschöpfer einen Platz von wenigstens 150 Fus breit inne hatten, wo sie ihre Arbeit ohngestört vornehmen konnten. Nach und nach kamen die Einwohner, aus dem Gebüsch, auf den Strand; wir winkten ihnen aber jenseits unsrer Linien zu bleiben, welches sie auch allerseits beobachteten. Der Capitain wiederholte nur seine vorige Zumuthung, dass sie ihre Waffen niederlegen mögten. Der größere Haufen, an der Westseite, kehrte sich nicht daran; die andere Parthey hingegen, die mit dem friedlichen Alten einerley Sinnes zu seyn schien, ließ sich größtentheils dazu bewegen. Diesem Alten, der Pao-vjangom hieß, hatten wir, als Beweis unsers Zutrauens, vorzugsweise die Erlaubniß gegeben, sich innerhalb der abgesteckten Linien aufhalten zu dürfen.«19
Hier sieht man, wie die Grenzziehung immer deutlichere Formen annimmt: Die Linie, die bis dahin, materiell kaum sichtbar, in den Sand gemalt worden war, verliert ihren provisorischen Charakter. Pflöcke und Strick sind nicht verwischbar wie die Linie, nehmen Dauerhaftigkeit für sich in Anspruch. Die Grenze wächst in die Höhe, richtet sich auf: Die horizontale Linie aus Sand wird ergänzt durch vertikale Markierungen, die die Europäer scharf von den 18 Vgl. ebd., S. 733. 19 Ebd., S. 735f. (Hervorhebungen A. P.) – Genau diese Passage in Forsters Reisebericht wird auch von Schwarz interpretiert: »An diesem ersten gemeinsamen Tag am Strand, so scheint es, ist es die Sichtbarkeit und gegenseitige Anerkennung der Linien, welche das offen zur Schau getragene Aggressionspotential beider Seiten in Schach hält. [...] Dank der Markierungen gehen Einheimische und Fremde nun jeweils auf ihrer Seite der Linie dem Tagesgeschäft nach«. A. Schwarz, Linien im Sand, S. 58.
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Einheimischen scheiden. Dass der als friedlich eingestufte Alte die Grenze überschreiten darf, zeigt paradoxerweise, dass sich die Europäer in Schwierigkeiten befinden. Es ist leichter für sie, unter friedlichen Bedingungen Vorräte anzulegen – insbesondere das Schiff mit Wasser zu versorgen –, als unter der Drohung, angegriffen zu werden. Insofern ist die Aufweichung der Grenze als Versuch zu deuten, die Inselbewohner zu einer Rückkehr zur Ausgangssituation zu bewegen. Wie wir gesehen haben, hatten diese bei der Begrüßung der Europäer zwei Gegenstände vorgezeigt: ihre Waffen (als Zeichen ihrer Wehrhaftigkeit) und Palmenzweige (als Zeichen ihrer Bereitschaft zu einem friedlichen Austausch). Wenn jetzt die Waffen dominieren, erweist sich die Strategie der Europäer, nach Überschreitung der Insel-Grenze den anderen unverzüglich Grenzen aufzuerlegen, als falsch. Es wird nämlich deutlich, dass, so sehr auch europäische Linien die Insel überziehen mögen, die Einwohnerschaft ihrerseits klare Vorstellungen von den Grenzen hat, die von Seiten der Europäer nicht überschritten werden dürfen. Der Einsatz von körperlicher Gewalt gehört zu dieser Grenzüberschreitung.20 Sie ist den Bewohnern dieser Insel ebenso unverständlich wie denen der Nachbarinseln, weil offenbar die europäische Konzeption von Besitz (Unterschlagung des Tauschobjektes bei einem Handel) nicht die gleiche ist. Dass die Grenzüberschreitung der Europäer dann jedoch beim Schrot nicht Halt macht, sondern im Gegenteil die Überschreitung durch eine unverhältnismäßige Fortsetzung der Überschreitung noch übertrifft, zeugt von dem Willen der Reisenden, ihren Grenzvorstellungen um jeden Preis zur Durchsetzung zu verhelfen. Der oben angedeutete Konflikt eskaliert auf folgende Weise: »Um sie also, wo möglich, im Voraus davon [einem Angriff nämlich; A. P.] abzuschrecken, ließ Captain Cook eine Flintenkugel über ihre Köpfe hinfeuern. Der unvermuthete Knall brachte auch würklich den ganzen Haufen in Bewegung; so bald aber das erste Erstaunen vorüber war, blieben sie fast alle wieder stehen. Einer, der dicht ans Ufer kam, hatte sogar die Verwegenheit, uns den Hintern zu zeigen und mit der Hand darauf zu klatschen, welches, unter allen Völkern im Süd-Meer, das gewöhnliche Zeichen der Herausforderung ist. Dies Großsprechers wegen ließ der Capitain noch einen Flintenschuss in die Luft thun; und da man dieses auf dem Schiffe für ein Signal hielt, so ward alles grobe Geschütz, welches aus 5 vierpfündigen Kanonen, zwey halbpfündigen DrehBassen, und vier Musketons bestand, mit einem male abgefeuert. Die Kugeln pfiffen über die Indianer weg, und kappten etliche Palmenbäume; dadurch er-
20 Die Grenze ist nicht nur etwas Räumliches, sondern bezieht sich auch auf die Verhaltensweisen der Fremden.
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Inseln auf den Inseln reichten wir unsern Zweck, dass nemlich in wenig Augenblicken nicht ein Mann mehr auf dem Strande zu sehen war.21
Hier steht eine symbolische Waffe (der Hintern) der echten Waffe (der Flinte, gleich darauf den Kanonen und Musketen) gegenüber. Der Zweck, den die Europäer anstreben, wird von Forster als erreicht bezeichnet: Der Strand leert sich im wahrsten Sinne des Wortes ›schlagartig‹. Dem Schlag auf den Hintern, der (wohl auch weil er nah am Ufer erfolgt) als Herausforderung wahrgenommen wird, antwortet der Schlag der Geschosse, die an den Palmen das exerzieren, was, bei einer Fortsetzung des Konflikts, auch den Menschen drohen würde: Die Köpfe der Bäume werden »gekappt«. Durch diese Demonstration der europäischen Übermacht wird also die Grenze zwischen Wasser und Land – der Strand – für die Europäer ›geräumt‹. Und als dann die Inselbewohner zurückkehren, übernehmen die beschriebenen Pfähle und Seile die Aufgabe, daran zu erinnern, dass der Strand ohne weiteres wieder zum alleinigen Territorium der Europäer gemacht werden könnte. Diese neue Grenze verurteilt die Inselbewohner dazu, ihre Bewegungen zu kontrollieren, um nicht in die verbotene Zone einzudringen. Galt den Europäern die Bewegungslosigkeit, zu der die Angegriffenen nach der ersten Flintenkugel fanden, aufgrund des Mutes, von dem sie zeugte, als Provokation, so wird jetzt die Kontrolle über die Bewegungsabläufe als notwendiger Beweis für die Fähigkeit der Europäer gewertet, über die Richtung und Art der Bewegung der Fremden dauerhaft zu bestimmen. Die Grenze ist damit nicht nur etwas, wodurch die Insel selbst gegliedert und aufgeteilt wird, sondern vielmehr etwas, was das Verhältnis, das für die Einheimischen bisher zwischen ihren eigenen Körpern und dem vertrauten Raum bestand, von Grund auf verändert. Dass die Europäer das Hintern-Zeigen mit Musketenschüssen beantworten, das Auf’s-Gesäß-Klopfen mit Kanonendonner, nimmt sich aus wie ein Übermaß an Ernsthaftigkeit. Obwohl das Ungleichgewicht zwischen herausfordernd präsentiertem, doch unbewaffnetem Körper auf der einen und technisch avanciertem Waffenarsenal auf der anderen Seite offen zu tage liegt, muss die Überlegenheit in den Augen der Europäer in die Tat umgesetzt werden. Die Zeichenhaftigkeit der Körper reicht nicht aus, denn sie vermeidet, dass die Körper sich berühren: Der vorgezeigte Hintern schießt nicht, er zeigt sich nur. Die Waffen der Europäer haben hingegen die Eigenschaft, die Körper treffen zu können, ohne deshalb die geforderte Distanz aufgeben zu müssen. Die Distanzen, die allein von den Kugeln überwunden werden, übertreffen alles, was die Waffen der Inselbe-
21 G. Forster: Reise um die Welt, S. 735 (Hervorhebung A. P.).
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wohner zu leisten vermögen. Gerade darum zerstören sie den komischen Aspekt, der der Geste des Einheimischen anhaftete. Die Geste mochte besagen: ›Kommt doch näher, wenn ihr könnt. Ich verlache Euch, statt Euch zu fürchten.‹ Indem die Europäer als Antwort ihre Kugeln schicken, heben sie die Distanz, die der ›Provokateur‹ durch die Komik zwischen sich und den Eindringlingen aufgerichtet hatte, auf. Auf die Distanzierung, die das Lachen leistet, folgt keineswegs der Versuch, die Inselbewohner ihrerseits als lachhaft hinzustellen. Vielmehr beenden die Kugeln den soeben erst begonnenen symbolischen Streit und machen ihn zu einer Sache, in der es allen Ernstes um Leben und Tod geht. In Vergessenheit gerät dabei auf Seiten der Europäer, dass die provozierende Geste des Auf-denHintern-Klatschens eine Antwort auf eine Schrotladung darstellte, die einem anderen Inselbewohner ins Gesicht fuhr.
IV. IV . Die Komik als Verzicht auf direkte Gewalt ist in noch einer Szene greifbar. Sie spielt nach einem von Einheimischen und Europäern gemeinsam unternommenen Ausflug, der durch ein Leck alle in Gefahr gebracht hatte. »Am folgenden Morgen machten sich die Matrosen an die Ausbesserung des Boots, und ließen ihre nassen Kleider in der Sonne trocknen. Die Indianer versammelten sich aus allen Gegenden der Insel in solcher Anzahl um sie her, dass Herr Pickersgill, zu Sicherung der Kleider, für nöthig fand, Linien in den Sand zu ziehen, die keiner von den Wilden überschreiten sollte. Sie begriffen, was diese Verfügung sagen wollte, und ließen sich solche ohne Widerrede oder Widerspenstigkeit gefallen. Und dem ganzen Haufen war nur Einer, der über diese Anstalt mehr Verwunderung, als die übrigen, bezeugte, und eben dieser fieng, nach einer Weile, sehr launigt, an, mit einem Stock einen Kreis um sich herzuziehn, und unter allerhand possierlichen Grimassen den Anwesenden zu verstehen zu geben, daß sie auch ihm vom Leibe bleiben sollten. Bey der sonst gewöhnlichen Ernsthaftigkeit der Einwohner, war dieser humoröse Einfall sonderbar und merkwürdig genug!«22
Wir begegnen hier den schon vertrauten Kommunikationsformen der Europäer. Sie schaffen Distanz, indem sie mit Linien die Grenzen ihres Körpers gleichsam erweitern und den Fremden zu verstehen geben, dass sie eine Annäherung über diese Linie hinaus nicht wünschen. Ihre Körper werden immer platzgreifender. Die Subversion des Mannes, der, anders als die anderen, das Ungeheuerliche dieser Regelung nicht beiseite schieben mag, be-
22 Ebd., S. 855 (Hervorhebungen A. P.).
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steht in der Wiederholung. Er tut nichts anderes, als das, was er beobachtet hat, nachzuahmen.23 Indem er sich also als der eifrigste Schüler der Europäer gebärdet, sorgt er paradoxerweise erst für die Sichtbarkeit dessen, was von den anderen sogleich in eine – wenngleich neuartige – Normalität integriert zu werden drohte: Er zeigt, dass Linien, die zwei Menschengruppen gegeneinander abgrenzen, durchaus nicht selbstverständlich sind. Dass sie nicht selbstverständlich sind, wird dadurch demonstriert, dass er, wie die Europäer, das Recht für sich in Anspruch nimmt, auf der Insel weitere kleine Inseln zu bilden, Inseln, die bestimmten Kategorien von Menschen – nämlich ihm selbst – vorbehalten sind. Die komische Qualität seines Spiels besteht darin, dass er die Tendenz, die der von den Europäern installierten Raumordnung innewohnt, ins Extrem treibt. Die Europäer hatten zwei Gruppen unterschieden: eine, die von den Mitgliedern der europäischen Besatzung gebildet wurde, und eine, die als ›fremd‹ und potentiell feindlich aus dieser ausgegrenzt wurde. Dadurch, dass sich diese Aufteilung bei der Landung auf den verschiedensten Inseln wiederholte, entstand der Eindruck eines Solipsismus. Dieser lebt von übersteigerten Grenzziehungen. Wenn nämlich auf einer Reise das Fremde stets aus dem herausgehalten wird, was (obwohl dem Fremden gehörend) als Territorium des Eigenen beansprucht wird, schwindet der Austausch. Und mit der Einschränkung des Austauschs schwindet zugleich auch die Fähigkeit der Europäer, das Fremde im Wortsinn an sich heranzulassen. Indem der Einheimische nun die Aufsplitterung in Gruppen bis auf die atomare Ebene weiterverfolgt – das einzelne Individuum ist dieses Atom –, stellt er neben den Europäern und den Inselbewohnern eine dritte Kategorie her: eben die Kategorie des Sich-selbst. Dieses Selbst als Entität weist die Selbstverständlichkeit, dass Raum mit anderen zu teilen ist, als Zumutung von sich.24 Durch seine Linien stellt er die Behauptung auf, das verbürgte Recht auf
23 Diese Verhaltensweise ist darum so interessant, weil sie, ähnlich wie bei den von Todorov beschriebenen Azteken, eine individuelle Reaktion auf die neuen Machtkonstellationen darstellt. Der Einheimische versucht, sich unter den neuen Gegebenheiten zurechtzufinden. Er reagiert auf neue Weise – doch ähnlich wie bei den Azteken wird er sich machtpolitisch nicht durchsetzen können. 24 Forsters Blick auf die Komik der Situation gewinnt hier eine wesentliche Ambivalenz. Würde die Konsequenz aus der Absurdität des Kreises gezogen, dann stünde die Dominanz der Europäer selbst in Frage. Indem Forster die Kritik, die der Kreis übermittelt, vernachlässigt, verschafft er sich eine Position, von der aus er den Kreis als komisch abtun und den Ernst der Kritik in Abrede stellen kann. Durch die Zuschreibung des Adjektivs ›komisch‹ verliert der Einheimische jede Chance darauf, gehört zu werden.
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ein eigenes Territorium, eine Insel auf der Insel, zu haben. Jeder, der den Kreis um seine Person überschreitet, wird auf komischgroteske Weise abgewehrt. Dadurch macht er die Unhaltbarkeit der europäischen Verhaltensweise sichtbar. Unhaltbar sind die Inseln auf der Insel, weil weder der Humorist noch die Europäer zu überleben imstande wären, wenn sie die Logik der Abgrenzung konsequent ins Werk setzten. Denn auf einer Insel zu sein, allein, ohne Nebenmenschen, bedeutet eben auch, nicht an dem teilhaben zu können, was dieser andere im Tausch zu bieten hat. Eine Insel, die wie die des Humoristen wenige Schritte Umfang hat, ist dem Tod geweiht, sowohl physisch als auch intellektuell. Ebenso bringen sich die Europäer, die die Inseln nach den Kategorien ›hier‹ und ›dort‹, ›mein‹ und ›dein‹ zergliedern, selbst in Gefahr. Die Gefahr besteht darin, dass sie, wenn sie den anderen den Zutritt zu ›ihrem‹ Gebiet verweigern, umgekehrt auch den Anspruch auf das verlieren, was jenseits der Grenze liegt. In dem Moment, in dem sie die Bewegungsfreiheit der anderen einschränken, schränken sie auch ihre eigene ein. Und dies nicht nur, weil die Grenze für sie selbst bestimmend wird, sondern auch, weil im Falle der Grenzüberschreitung (die man sich selbst problemlos zuerkennen möchte) mit Gegengewalt zu rechnen ist. Grenzen machen folglich das Leben anstrengend, führen zu Auseinandersetzungen zwischen Hintern und Kanone, wie wir sie oben kennen gelernt hatten – Auseinandersetzungen, in denen stets von Neuem zu beweisen ist, dass mit Recht die Grenzziehung nur von der einen Partei ausgeht, während die andere sich ihr zu beugen hat. Interessant an dem Einfall des oben beschriebenen Inselbewohners ist, dass seine Aggressivität sich nicht gegen die Europäer richtet, sondern gegen seine eigenen Leute. Er scheint ihnen auf diese Weise zu bedeuten, dass er mit den Europäern auf der gleichen Stufe steht. Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass er damit den Einheimischen gleicht, die auf den ›Inseln‹ der Europäer zugelassen worden waren. Doch diese ›Privilegierten‹ verdankten ihre Position der europäischen Politik des divide et impera, unterlagen mithin einer Abhängigkeit von denjenigen, die darüber entschieden, ob sie Zugang haben sollten oder nicht. Der Humorist agiert hingegen vollkommen selbständig. Dadurch, dass er seine Insel nicht von der Europäer Gnaden herstellt, sondern spontan und allein, führt er seinen ehemaligen Nachbarn indirekt die Gefahr vor Augen, die darin besteht, den Zusammenhalt der Inselbewohner durch eine Anpassung an die europäischen Kategorien zu schwächen. Dass er die anderen abwehrt, ist also nicht ein Zeichen für seine Distanzierung von ihnen, sondern im Gegenteil ein Plädoyer für größere Nähe. Dadurch, dass das, was er abwehrt, bis dahin zur Normalität gehörte – den Raum mit anderen teilen –, zeigt er indi-
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rekt, was bereits verloren gegangen ist. Und dieses Verlorene wird umso sichtbarer, je lächerlicher der Umfang des Territoriums ist, das zu verteidigen er sich anschickt. Je kleiner also das, was zum Objekt des Gelächters gemacht werden soll, desto größer die Wirkung auf das Publikum. Denn dieses ist die Instanz, die von der Lächerlichkeit der Darstellung auf die Größenordnung dessen schließen soll, was in Wirklichkeit dargestellt werden soll, nämlich die Anmaßung der Europäer, sich selbst als einer höherrangigen Art von Mensch Sonderterritorien zu erobern. So zeigt sich, dass die Inselbewohner, obwohl sie ein kleines, in sich geschlossenes Territorium bewohnen – eine Insel eben –, in Wirklichkeit weiträumiger denken als die Europäer, die ihre Identität über eine Hypertrophie des Insularen definieren. Zugleich stehen aber auch sie in der Gefahr, die Existenz von Sonderterritorien als Normalität anzuerkennen, denn schließlich ist es ein einziger Inselbewohner, der die Komik winziger Kreise in Szene setzt. In dieser Hinsicht stehen sich die Europäer und die Mehrheit der Inselbewohner dann doch wieder nahe und ist es der Humorist allein, der, eingeschlossen auf seiner Insel, auf die Weitung des Raumes hofft.
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Das Insuläre Insuläre.. Von den Strategien hypermoderner Raumproduktion ELKE KRASNY I . Das Spektakuläre und das Insluäre »Das ganze Leben der Gesellschaften, in welchen die modernen Produktionsbedingungen herrschen, erscheint als eine ungeheure Sammlung von Spektakeln. Alles, was unmittelbar erlebt wurde, ist in eine Vorstellung entwichen.«1 Der Künstler und Kapitalismuskritiker Guy Debord beschrieb den genuinen Selbstausdruck wie die Selbsterfahrungsformen von Gesellschaften in der Epoche moderner Produktionsbedingungen als eine Abfolge von Spektakeln. Das Spektakuläre avancierte zur Maßeinheit des Erfahrbaren, entfaltete soziale wie ästhetische Konsequenzen in allen die Gesellschaft durchdringenden Sinnbildungsmustern. Wir können heute die uns umgebende gegenwärtige Gesellschaft unter hypermodernen und turbokapitalistischen Produktionsbedingungen als eine Ansammlung von Inseln beschreiben. Die Insel erscheint als Garant von anziehender Machbarkeit und natürlicher Eigenständigkeit. Mit der Insel taucht die Eigenschaft des Insulären am Erwartungshorizont auf. Das Insuläre beginnt, sich als Erfahrungsgarant und Sinnstiftungsmuster zu etablieren. Es taucht auf. Es schafft eine Situation auf Dauer. Es ist machbar. Es verdichtet die Figuren von Einzigartigkeit, In-Sich-Geschlossenheit, Überschaubarkeit und Begrenztheit als Wunschreservat der Hypermoderne. Indem die Insel zum idyllischen Gegenbild zu Problemen des festen Landes aufsteigt, zeigt sie sich als bewältigbarer Raum. Die Dimensionen des Insulären sind zugleich leicht fasslich und beeindruckend. Inseln betonen ihre verdichtete Vielfalt auf engem Raum, die sich als Erlebnisressource in ihrer Ausschöpfbarkeit bestätigt. Das Insuläre ist bewältigbar. Das trifft den touristischen Nerv in Zeiten von Ressourcenknappheit, Zeitwohlstand und dem Damoklesschwert der Krise. Eskapismus ist insulär. In einer Epoche, in der die Knappheit 1
Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels, Hamburg: Ed. Nautilus 1978.
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von Ressourcen den Ausblick auf die Zukunft bestimmt, zelebrieren künstliche Inseln ihre eigene Möglichkeit als eindeutiges Potenzial der Potenzierung: jeder Zentimeter Strand, der in Dubai gewonnen wird, zählt für die touristischen Nutzer wie die Developer gleichermaßen. Der Singularismus-Globalismus der Gegenwart findet seinen gebauten Ausdruck im selbstbehaupteten Insulären. In der Hypermoderne haben die Bilder das Laufen längst intus, können es getrost hinter sich lassen und blasen sich Richtung Dreidimensionalität als bleibender Still, als gefroren gebaute Momentaufnahme auf. Die Hypermoderne feiert im Insulären die Fortsetzung des Spektakels mit sich ständig übersteigernden Mitteln und bleibt dabei, die Postmoderne umschiffend, immer noch rückgebunden an manche Konfigurationen der Moderne. Fortschrittsgläubigkeit und Rationalität der Massenproduktion gehen Hand in Hand mit dem Wirtschaftsliberalismus. Westliche Stützpfeiler des Wertekatalogs der Moderne wie Autonomie, Emanzipation, Individualismus und Säkularisierung sind zwischen postkolonialer Kritik und polyzentrischer Weltverfasstheit in neue Hybridallianzen eingetreten, in der die Ökonomie die langen Schatten ihrer eigenen Freiheit auf das verbrieft erscheinende Recht auf globalisierte Unterhaltungskultur wirft. In den Inseln erscheinen Zeitfenster des akzelerierten Ausstiegs aus der von Zwiespalt und Dichotomie zerklüfteten Welt zwischen Globalisierungsgewinnern und Globalisierungsverlierern, zwischen Existenzminimum und Existenzmaximum.
II. II . Archaik und Hypermodernität Die Konfiguration der Insel trägt es in sich, das Moment des aus der Perspektive der kolonialen Entdeckung Archaische, Ursprüngliche, Unberührte und In-Sich-Geschlossene mit dem Moment der Affirmation der vertrauensbildenden Wiederfindung der projizierten phantasmatischen Wunschvorstellungen nach genau diesem zu verbinden. Die Lust der Entdeckung, die immer neue Inseln und ihre exploitierbaren Ressourcen am Horizont der Neuzeit auftauchen ließ, machte die Insel zur verheißungsvollen Figur von Versprechen und Paradies, von Verfügbarkeit und Ferne. Die koloniale Expansion Europas mündete in ein Netzwerk von Inseln kolonialer Beziehungen. Aus dieser langen Tradition der Insel als Lieferantin von Bildproduktionen und Raumverheißungen, die ein Territorium zwischen Exotismus und Unterwerfung, zwischen authentischer Erfahrbarkeit von Alterität und zugehöriger Einsamkeit versprechen, zwischen unendlicher Ressource und natürlicher Unbefangenheit, lassen sich die mentalitätsgeschichtlichen Fäden zu den heute entstehenden Inselwelten aufspannen, die die Transformation Dubais
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vom Ölstaat zum Touristenmekka vollziehen. Die Insel beherbergt die Wunschvorstellung von Zeit im Stillstand, von Entdeckung einer anderen, friedvollen Sozietät. Von Paul Gauguin auf Tahiti bis zu Margaret Mead auf Samoa2 hat die Insel als Hort des Ursprünglichen und Authentischen, des Paradiesähnlichen und Perfekten, einen hohen Stellenwert im europäischen Imaginationsreservoir von Alteritätskonstruktion. Um ein Erkennen der anderen in dieser Konstruktion von Alterität ging es nicht, sondern um ein Wiederfinden der eigenen Projektionslüste. Das Insuläre als vorgestellte »bustling international community«, wie es im werbenden Text auf der offiziellen Website von der zweiten Palmeninsel vor Dubai beschrieben wird, hat diese Vorstellung von Projektionsphantasmatik zugleich eingeholt und überholt. Alle sind ihre eigenen möglichen anderen geworden. Das Paradies auf Zeit ist machbar. Die Projektion ist stärker als ihr Schatten.
III. III . Die Tradition der künstlichen Insel Aber die Sehnsucht nach der Erzeugung von künstlichen Inseln selbst kann auf eine lange Vorstellungstradition zurückblicken. Im Akt der Erzeugung heute wird diese Tradition jedoch weder aktiviert noch mit ihr als Referenz gespielt. Ende des 19. Jahrhunderts visionierte Kapitän Nemo in Jules Vernes Roman 20000 Meilen unter dem Meer von schwimmenden Städten, die souverän und frei sein sollten. Sie sollten in Freiheit schwimmen. Das war eine politische Raumvision. Später interessierte mehr die Raumpolitik als die politische Dimension der Konfiguration. Die Freiheit wurde zum Erlebniswert, nicht mehr zur politischen Kategorie. Im Jahr 1975 entstand anlässlich der im Metabolismus schwelgenden Weltausstellung in Osaka die künstliche Insel »Aquapolis«, entworfen von dem Architekten Kiyonori Kikutake. »Aquapolis« existiert bis heute. Einige Jahre zuvor, 1971, hatte eine Gruppe von britischen Architekten und Tragwerksingenieuren an der Vision einer »Seacity« zu arbeiten begonnen. Damals war es nicht die touristische Nutzung, die ebenso leitmotivisch wie pragmatisch die Vision künstlicher Inseln beförderte, sondern es ging vorrangig um die Vorstellung der Überwindung von Raumknappheit auf der Welt. Zwischen Weltraum und Ozean stand, so schien es, alles für die Menschheitsexpansion offen. Die Großstadt auf dem Meer wurde als Zukunftspotenzial ima-
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Im Jahr 1925 forschte die Anthropologin Margaret Mead auf Samoa über die Pubertät heranwachsender Mädchen. Die Resultate wurden unter dem Titel Coming of Age publiziert und wurden rasch zum heftig diskutierten wissenschaftlichen Bestseller.
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giniert, man glaubte, darin eine Lösung für die drohende Bevölkerungsexplosion gefunden zu haben. Betrieben wurde »Sea City« von Pilkington Brothers Limited, zu den Mitgliedern des Pilkington Glass Age Development Committee zählten Ove N. Arup, Geoffrey A. Jellicoe und Edward D. Mills.3 Popularisiert wurden die »Sea City«-Vorstellungen durch das an Kinder gerichtete Comicmagazin TV 21, das im Medienverbund mit Science Fiction-Fernsehserien von Century 21 Productions entstand und die Zukunft als machbaren Ort im kollektiven Gedächtnis vieler britischer Kinder der 1960er und 1970er Jahre verankerte. Es gibt künstliche Inseln an vielen Orten der Welt. Sie befinden sich in Amsterdam und Hong Kong, in Monaco oder Tokyo. In diesem Kontext soll die künstliche Inselerzeugung in Dubai und Abu Dhabi als Referenz figurieren, da diese nachdrücklich aufzeigen lässt, wie traditionelle Denkkonfigurationen und Sehnsuchtsprojektionen der Moderne – Freiheit, Identität, Authentizität – zu einfachen Referenzmomenten gebündelt werden, die ihre komplexe Vieldeutigkeit hinter sich lassen, die Haut der viel sagenden Vergangenheit abstreifen, und einen hyperrealen Inszenierungsgrad zur Selbstverständlichkeit eines Neuvertrauten machen können.
IV. IV . Zeitgeld: Geldzeit Werden flottierend appropriierte (Welt)Bilder in Dubai oder in Abu Dhabi zur imaginären strategischen Raumproduktion, so stellt sich die Frage, wie das ›Insuläre‹ als Denkfigur der hypermodernen Ablöse des ›Spektakulären‹ entworfen werden kann, die in ihrer Hybridität moderneanschlussfähig bleibt. Die Verhältnisse von Natur, Raum, Zeit und Geld sind entscheidend für das Erleben des Insulären. »Bedenke, dass Zeit Geld ist«,4 so formulierte es der Staatsmann und Erfinder Benjamin Franklin an der Schwelle der Moderne für die amerikanischen Siedlerkolonien. Heute gilt es zu bedenken, dass Geld Zeit ist. Die Verfügbarkeit über die Ressource Geld trägt es in sich, Zeit freizusetzen. Aus der Perspektive der künstlichen Inseln, die zur Zeit im Golf entstehen, ist es das Geld, das in Zeit investiert wird, in Aufenthaltszeit, Erlebniszeit, Intensivierungszeit, mithin insluäre Zeit. Die Allianz von Zeit und Geld drückt sich in den insulären Raumpraktiken aus. Um die Zeit zu intensivieren, muss der Raum geordnet, die Zeichen in der Zeit eindeutig begreifbar sein. War die
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http://www.aiai.ed.ac.uk/~bat/sea-city.html vom 20. August 2009. Max Weber: »Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus«, in: ders., Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. I, Tübingen: Mohr 1947, S. 31.
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moderne Architektur in ihrem Anspruch verallgemeinerbar, internationalisierbar, wie auch die Epochenbegrifflichkeit des International Style es anklingen lässt, so korrelierte mit dieser exportierbaren Internationalität das Versprechen einer möglichen Egalität im Raum. Die Zellen und Parzellen, die Transparenz und industrielle Bauweise, sollten eine gleiche Welt für alle – zumindest theoretisch – möglich machen. Die Hypermoderne akzeleriert das Verallgemeinerbare in die Formen, die ihre Schärfe und Kantigkeit verloren haben, und transponiert das Verallgemeinerbare in ein elitäres Versprechen einer Verfügbarkeit auf Zeit für diejenigen, denen die entsprechenden finanziellen Ressourcen im globalen Destinationsjetset zur Verfügung stehen.5
V . Genius Globi im Verhältnis Verhä ltnis zwischen Insel und Museum Ausgehend von der Hypothese, dass das ›Spektakuläre‹ als ›Insuläres‹ seine hypermodernen Triebkräfte entfaltet und das ›Insuläre‹ als dessen hyperreale Weiterentwicklung gedacht werden kann, rücken Raumpraktiken Dubais oder Abu Dhabis in den Fokus, die nicht mehr den Genius Loci, sondern den Genius Globi zelebrieren. In With/Without. Spatial Products, Practices and Politics in the Middle East sprechen die Autoren Shumon Basar, Antonia Carver
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Die Kehrseite der Medaille der gleichen Figur des Insulären sind die Rhetoriken von Sicherheit und Bedrohung, die Investitionen in Grenzanlagen, die Raumpraxis von Flüchtlingsrouten und Lager unter dem Damoklesschwert der Illegalität: die territorialen Anstrengungen, aus Europa eine sichere Insel zu machen, sind ebenso Ausdruck der Strategie des Insulären wie die künstlichen Inseln im Golf, die auf eine Raumerfahrung der Sicherheit und des Destinationsgenusses setzen. Die Inklusionen und Exklusionen der globalisierten Weltordnung verschärfen die Verhältnisse zwischen Zeit und Geld, die sich immer räumlich ausdrücken. Diese Seite des Insulären als Strategie der Vereinzelung, zwischen Isolation und ›Insulation‹, in Zeiten der Globalisierung, als Verdichtungsmaßnahme gegen verflüchtigte und verflüssigende Territorien, gälte es in einem nächsten Untersuchungsschritt zu analysieren. Die Routen, die Insuläres durchbrechen, räumliche Transgressionen als Konnektivität erzeugen, untersucht die Künstlerin und Theoretikerin Ursula Biemann in vielen ihrer kuratorischen und feldforschenden Projekte (www.geobodies.org). Die Kehrseite des Festen, der Solidifizierung durch das Begrenzende des Insulären untersucht der Philosoph und Soziologe Zygmunt Bauman in den ›Figuren der Flüchtigkeit‹: Liquid Life (Cambridge u. a.: Polity Press 2005), Liquid Fear (Cambridge u. a.: Polity Press 2006) sowie Liquid Times: Living in an Age of Uncertainty, Cambridge u. a.: Polity Press 2007.
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und Markus Miessen davon, dass es Dubais Ehrgeiz ist, ein wahrhaft globaler Ort zu werden, der von jeglichem identifzierbaren Lokalismus befreit ist. War der Genius Loci ursprünglich der mythische, übernatürliche, einheimische Geist eines Platzes, so hat sich dieser Geist unter den qua radikaler Appropriation, universeller Zitierbarkeit und den durch Morphing und Rendering Realität zum Greifen nah erscheinen lassenden Visualisierungsbedingungen der Globalisierung in ein geisterhaftes Überall verbreitert. Die Distinktionen des vor Ort Erlebbaren, das im eigenen Durchstreifen als lokalisierbar Identifiziertes erscheint, verdankt sich den zunehmenden Graden von Weltkenntnis in Zeiten der Globalisiertheit. Das Lokale muss erkannt werden können, es setzt ein Vorwissen und ein Wiedererkennen voraus, es entsteht durch Momente der Differenz. Die Erfahrung von Alterität wird in der Erfahrbarkeit von Lokalität vorausgesetzt. Die hypermoderne Raumproduktion des Insulären sucht das Eigene und dessen Schatten, die Alterität als Erfahrbarkeit des Anderen, aufzulösen. Es gibt nur mehr das Eine, das Insuläre, das für alle gleichermaßen funktionierend als Raumerfahrungspotenzial leicht lesbarer Bilder zur Verfügung stehen soll. Die Insel Saadiyat (Island of Happiness) wirbt auf ihrer offiziellen Website mit folgender Verbindung: »A whole new world of opportunities«, »Cosmopolitan Atmosphere« und »Arabian Charme«.6 Auf die Dosierung des Zitierbaren kommt es an. Die kulturellen Zeichensetzungen müssen eingängig, leicht lesbar, ebenso beeindruckend wie einprägsam sein. In globalisierten architektonischen Zeichen sind kulturelle Differenzen scheinbar und gleichzeitig gut aufgehoben. Die identifizierende Rückführung auf nur einen bestimmten Ort als Verweis, als soziales Gedächtnis wäre für die Entfaltung des kulturellen Kapitals eines Ortes störend. An die Stelle dessen treten, wie auf der Museumsinsel in Abu Dhabi, Architektennamen, die globalisierte Kompetenz garantieren: Frank Gehry, Jean Nouvel, Tadao Ando, Zaha Hadid oder Sir Norman Foster. Das kulturelle Reservoir der Welt wird zum System des Franchising. Die Einzigartigkeit wird durch ein System der Proliferation von auf der Welt Vorhandenem gesteigert. Das, was internationale Marken längst erkannt haben, dass ihr Wiedererkennungseffekt die Menschen zu kommunizierenden und konsumierenden Weltbürgern werden lässt, durchdringt zunehmend die Landschaft der Museen. Museen sind Orte, die einen speziellen Umgang mit der Zeit pflegen. In einer europäischen Tradition verfügen Museen über eine Geschichte im mehrfachen Sinn, auf ihre eigene Genese als Geschichte der Entstehung, der Sammlung und der Involviertheit mit der Umgebung. Als Formation der
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www.saadiyat.ae vom 20. August 2009.
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Wissensproduktion zeichnet sich das Museum aus durch Tradition und Kanonisierung. All das bedeutet, Museen brauchen Zeit. Sie sind Inseln der Zeit in ihrer jeweiligen Umgebung, speichern Zeit und verlangsamen die Schritte der Besucher und Besucherinnen, sobald sie über die Schwelle treten. Das Museum lässt sich nicht im Eilschritt passieren. Dieses Verhältnis wird zurzeit in der Neugründung von Museen, wie im Verhältnis des zweiten Louvre zum ersten, umgekehrt. Das, was an anderer Stelle in diese Zeit investiert wurde, kann auf der Museumsinsel Saadyiat aktiviert werden: ein weiterer Ableger des Guggenheim Museums, das von Frank Gehry entworfen wird. Auch ein zweiter Louvre wird geplant, von Jean Nouvel. In diesen Museumsketten oder dem Beginn einer Museumskette, wie im Fall des Louvre, markiert sich der Genius Globi. Das Guggenheim ist eine Marke von globalem Gewicht. Der Louvre ebenso. Schon die Tatsache, dass es den Namen nun an zwei Orten wird geben können, als Destination, zeugt von einem veränderten Verhältnis zwischen Zentren und Peripherien. Die Welt ist polyzentrisch geworden. Dies legt die These nahe, dass es einerseits nicht mehr eindeutig ist, an welchem physischen Ort man sich aufhält, wenn man sagt, man ist im Guggenheim oder im Louvre. Zum anderen wird so die These gestärkt, dass es globalisierbare Formate, wie die des Museums, des Shopping,7 der Hotels, der Resorts geben muss, um einen Genius Globi produzierbar zu machen. Sich orientieren zu können, ohne sich verlieren zu müssen, macht aus den zeitreichen Benjaminschen Flaneuren zeitintensive Weltflaneure. »Der Flaneur ist der Beobachter des Marktes. Sein Wissen steht der Geheimwissenschaft von der Konjunktur nahe. Er ist der in das Reich der Konsumenten ausgeschickte Kundschafter des Kapitalis-
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Die räumlichen Konfigurationen, die das Schauen, das Kaufen und die urbanen Inszenierungsstrategien zusammenbringen, werden in dem umfangreichen Kompendium The Harvard Design School Guide to Shopping. Project on the City (Hg. v. Chuihua Judy Chung/Jeffrey Inaba/Rem Koolhaas, Köln u. a.: Taschen 2001) einem überbordenden Mapping in Buchform unterzogen. Von den Arkaden, die Walter Benjamins Flaneur im Paris des 19. Jahrhunderts als Lust- und Faszinationsraum entdeckte, über die museumsähnlichen Displayformationen der großen Kaufhäuser bis zu den Megamalls werden die Räume der Warenpräsentation in ihrer Vergleichbarkeit und Differenz einer visuellen Recherche unterzogen. Die Ansammlung, Verdichtung und Häufung als durchgängige Strategie von Verkaufspräsentationen in unterschiedlichen Raum- und Displayformation wird von den Strategien des Insulären auf verschiedenen Ebenen aufgegriffen, für die Masterplanung, für die Villen und Resorts, für die Wohnangebote, aber eben auch für die Museums- und Shoppinginszenierungen.
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ten.«8 Fallen die Figuren von Konsument, Tourist, Museumsbesucher als hypermoderne Instantflaneure in eins, so gilt es die Kompetenz des Marktes der Wiedererkennbarkeiten zu stärken. Ob Architekturangebote, Museumsangebote oder Warenangebote, ihre Anziehungskraft liegt in der globalisierten Wiedererkennbarkeit mit dem Surplus einer bemerkenswerten rapid beschleunigten Entstehungsgeschichte, die sich als Ereignis performativ in Szene setzen kann. Diese Strategie der Orientierbarkeit im Spektakulären zeichnet in diesem Zusammenhang die Tempel des Konsums ebenso aus wie die Tempel von Kunst und Kultur. Orte, die alle potenziell wiedererkennen können, verstärken das Gefühl der Orientierungsfähigkeit und Kompetenz der Besucher. Aus den Wissens- und Sammlungszentren der Museen sind seit den 1980er Jahren zunehmend ausstellungsproduzierende Kulturindustrieeinheiten geworden, die sich als Standortattraktoren im Wettbewerb um touristische Besucherzahlen bemühen. Auch historisch gewachsene Städte warten mit Museumsballungen und Kulturkonzentrationen auf.9 Die Museumsinsel als Begriff ist nicht neu. Auch hier ist die Insel in mehrfachem Sinn zu lesen, die Insel als räumliche Verdichtung, die Insel als Ort eines Geschehens mit einem anderen Zeitmaß. »But perhaps the museum is ›not a place, but a history‹ as Jean-Louis Déotte has put it, an ordering that gives rise to the passage as such, to the passing rather than to the past.«10 Die entstehenden Museen auf der Museumsinsel Saadiyat, deren Fertigstellung bis zum Jahr 2018 projektiert ist, bedienen sich der Figur der Zeit. Die Zeit, die in vielen anderen Orten in das 8
Walter Benjamin: »Das Passagenwerk«, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann, Band V.1, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1991, S. 537f. 9 Die Umgestaltung der Museumsinsel Berlin, die bis 2015 projektiert ist, ist ein Beispiel dafür. »Die Museumsinsel als einzigartiges Ensemble einer Bildungslandschaft repräsentiert 100 Jahre Museumsarchitektur in der Mitte Berlins. Die Wiedervereinigung Deutschlands eröffnete die historisch einmalige Chance, die geteilten Sammlungen in Ost und West wieder zusammenzuführen. 1999 stellte die UNESCO die Museumsinsel als Weltkulturerbe unter ihren Schutz.« http://www.museumsinsel-berlin.de vom 20. August 2009. – Das 2001 offiziell eröffnete Museumsquartier in Wien ist ein weiteres Beispiel für die insuläre Verdichtung von Museen und Kultureinrichtungen zum Standort. »Barock trifft Cyperspace. Das MuseumsQuartier Wien ist eines der zehn größten Kulturareale der Welt. Vor allem aber ist es ein zukunftsweisendes, innerstädtisches Kulturviertel mit enormer Signalwirkung. Das MuseumsQuartier vereinigt barocke Gebäude und neue Architektur, kulturelle Einrichtungen aller Grössenordnungen [sic!], verschiedene Kunstsparten und Naherholungseinrichtungen zu einem spektakulären Ganzen.« www.mqw.at vom 20. August 2009. 10 Jean-Luc Nancy: The Muses, Stanford: Stanford University Press 1996, S. 82f.
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Museale als Konfiguration11 investiert worden ist, kann freigesetzt werden, um sich als insuläres Ereignis der Tourismuskulturindustrie zu ereignen. Die Zeit des Gewordenseins, die dem Museum seine Kredibilität verleiht, kann den neu entstehenden Museen als Garant globaler Kompatibilität mit dem System Museum anhaften. Zu dieser Glaubwürdigkeit des Musealen gesellt sich der Reiz der Verdichtung zur künstlich errichteten Museumsinsel, die mit Stararchitektur brillieren wird. Das Maritime Museum wird von Tadao Ando entworfen, das Theaterzentrum von Zaha Hadid und das Sheikh Zayed National Museum von Sir Norman Foster. Wiewohl europäische Museen immer den Spagat zwischen Bildungsauftrag und Tourismustauglichkeit, zwischen kulturellem Erbe und gegenwärtigen Besucherzahlenstatistiken schaffen müssen, waren vor allem deutschsprachige Museumsdirektoren dem Verkaufssystem des Museums als Label gegenüber höchst skeptisch. Sie trafen damit den Nerv der Differenz zwischen dem Museum als ›place‹ und als ›history‹. Ist das Museum ein Ort der Attraktionen, der sich auf die Geschichte aus einem Anderswo verlässt, so ist das eine tiefgreifende Figur der kulturellen Aneignungsstrategie. Die Polyzentrizität der Welt verdreht die Figuren zwischen Kolonialismus und Postkolonialismus. Wessen Geschichte an welchem Ort wie gezeigt wird, kann in genau solchen Fragestellungen virulent werden. Die großen europäischen Sammlungen, vom British Museum in London über das Ägyptische Museum Berlin bis zum Völkerkundemuseum in Wien zeigen Artefakte und Objekte anderer Kulturen, die mit ihrer Geschichte aus dieser gerissen, an einen anderen Ort transferiert wurden. Auf der Museumsinsel Saadiyat bewegt sich die Figur in die andere Richtung. Die Idee, die Konfiguration des Museums wird appropriiert und zur Destinationswerdung eingesetzt. Das brachte die Kritik an der falsch verstandenen, exploitierten, nur auf Tourismuszahlen gerichteten Museumsidee auf. Im deutschsprachigen Kontext hatten die Museumspläne für »Empörung und Ablehnung« gesorgt. »Museen seien nicht zu verkaufen«, wie der damalige Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz Klaus-Dieter Lehmann betonte.12 Im März 2008 fand eine Präsentation der Pläne des Kulturdistrikts und der Museumsinsel Saadiyat in Berliner Hotel Adlon statt. Nun änderte sich die Argu11 Zur Frage von Museen, kultureller Differenz und kulturellem Gedächtnis vgl. Daniel J. Sherman (Hg.): Mueum & Difference, Bloomington: Indiana University Press 2008 sowie Graham Fairclough u. a. (Hg.): The Heritage Reader, New York u. a.: Routledge 2008. 12 Henrike Thomsen: »Rasante Road-Show für die Museumsinsel Saadiyat in Abu Dhabi. Brautschau in Berlin«, in: http://www.artnet.de/magazine/ rasante-roadshow-fur-die-museumsinsel-saadiyat-in-abu-dhabi/ vom 5. März 2008 (18.11.2010).
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mentationsstrategie gegenüber der geplanten Museumsinsel und man meinte erkennen zu können, dass es nicht nur um »Tourismus […], sondern tatsächlich um kulturelle Aufklärung, Bildung, Austausch und Toleranz«13 gehe. Das Interesse, als Player dabei zu sein, stieg. Wie man diese Überzeugungsarbeit geleistet hat, erklärte der Vize-Präsident der Nationalbehörde für Kultur und kulturelles Erbe, Zaki Anwar Nusseibeh: »Es gab verschiedene Missverständnisse, dass wir nur mechanisch und touristisch denken. Für uns war diese Diskussion gut, sie brachte alles auf den Tisch. Wir haben unsere Museumspartner aber zu umfassenden Ausbildungsprogrammen verpflichtet, damit sie arabische Kuratoren, Kunstwissenschaftler und Sammler trainieren. Wir arbeiten mit der Pariser Sorbonne und der New York University zusammen. Das alles hat unsere Partner schließlich überzeugt.«14
Der Erfolg bemisst sich in der PR. Die Museumsinsel Saadiyat ist bereits ein Ort in der Museumswelt, bevor eines der Museen eröffnet hat. Die Verdichtungsstrategie des Insulären übersetzt bestehende räumliche Praktiken von Kulturdistrikten und Museumsinseln, die als eigenständig erkennbare und begrenzte Orte in einem urbanen Kontext bestehen und auch als solche identifzierbar vermarktbar sind, in die Konfiguration des Insulären, bringt diese mit dem etablierten und erprobten Trend der globalisierten Zeichenproduktion der Starchitecture zusammen und lässt dabei qua Ausbildungsprogrammen die Perspektive der traditionellen Verbindungslinien zur etablierten Idee des Museums als Mittler zwischen Sammeln, Forschen und Ausstellen nicht außer Acht.
VI. VI . Palm Trilogy Mehrere Inselgruppen sind vor Dubai konzipiert: die Palmeninseln, »The Palm Jumeirah«, »The Palm Jebel Ali« und »The Palm Deira« sowie die zwei größeren Inselgruppierungen, die im Namen nichts Weniger als das Ganze beanspruchen: »The World« and »The Universe«. »The Palm Jumeirah« ist nach der Chinesischen Mauer nun das zweite Bauwerk, das vom Weltraum aus mit bloßem Auge zu sehen sein wird. Der Palmenstamm ist ungefähr fünf Kilometer lang. Die Küstenlinie von Dubai wird mit »The Palm Jumeirah« um ungefähr 100 Kilometer verlängert. Im November 2006 waren die ersten Apartments auf dem ersten künstlich aufgeschütteten Eiland in Form einer Palme fertig gestellt. Im Jahr 2008 erfolgte die offizielle Eröffnungsfeier. Die Bauarbeiten für »The Palm Jumeirah«, die im 13 Ebd. 14 Ebd.
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Jahr 2001 begonnen worden waren, wurden von der staatseigenen Entwicklungs- und Baugesellschaft Nakheel geleitet. Die Palme, als ikonisches Versprechen touristischer Sehnsuchtsgelüste und Zeiterfahrung lange eingeübt, wurde hier übersetzt in die räumliche Form einer künstlich angelegten Insel. Hinkünftig sollen aber auch wirklich unzählige Palmen hier wachsen. Auf fünf mal fünf Kilometer Palmenterritorium entstanden ungefähr 4 000 Villen und Wohnungen. Europäische, aber vor allem auch arabische Touristen sind die Zielgruppe. Vermarktet wird die gesamte Anlage als achtes Weltwunder.15 2004 bezeichnete der Journalist Roman Hollenstein in der Neuen Zürcher Zeitung die Boomtown Dubai als »futuristisches Märchen aus Tausendundeiner Nacht«. Die hybride Verschmelzung von Tradition und Fortschritt wird als »pittoresk« interpretiert. Für das »Zukunftsland im Wüstensand« und die »Großstadt aus der Retorte«16 und ihre spezifische Raumpraxis müssen die identitätsstiftenden Vokabeln als globalisiertes Beschreibungsinstrumentarium erst gefunden und zugeschrieben werden. Dubai plant in der künstlichen Inselwelt eine räumliche Grammatik, die als globalisierte von überall her gelesen und verstanden werden soll. Neben den Luxusressorts für reiche Ausländer entsteht am Fuß der ersten Palmeninsel »Dubai Marina« für 150 000 Nutzer. Da nicht direkt am Meer liegend, wurde ein künstlicher Meereszugang inklusive Uferpromenade für diese auf der Anlage geschaffen. Weitere Wohnanlagen heißen »Emirates Hills« oder »Arabian Ranches« und lassen das Lokale nur mehr als Akt der Bezeichnung auftauchen. Hypermodernität verweist auf die Zäsur, auf den Riss in der Modernekonstruktion selbst. »This caesura in the narrative of modernity reveals something of what de Certeau has famously described as the non-place from which all historiographical operation starts, the lag which all histories must encounter in order to make a beginning.«17 Die Zeitverzögerung als das Bild des Anfangs einer möglichen Geschichte trifft auf den Eintritt in die Beschreibbarkeit als Erzeugungsakt. Nicht der »non-space«, unbeschreibbar, undefinierbar, nichtssagend und unauffällig, ist der Ausgangspunkt für die mögliche Einsetzung einer Erzählung als Identitätsbegleitkonstruktion entstehender insulärer Orte, sondern eindeutige Auffälligkeit, beschreibbare Definierbarkeit. Die Verzögerung, die Homi K. Bhabha als ursächliche Figur des Beginnens beschreibt, wich der 15 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Palm_Islands vom 20. August 2009. 16 Roman Hollenstein: »Zukunftsland im Wüstensand. Dubai inszeniert sich als Stadt des 21. Jahrhunderts«, in: Neue Zürcher Zeitung vom 7. November 2006. 17 Homi K. Bhabha: The Location of Culture, London, New York: Routledge 2005.
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Akzelerierung des Machbaren. Die Verzögerungen, die sich nun einstellen, sind die der Pragmatik der Baustellen und des Geldflusses, aber die Geschichte ist vorher schon da. Verdichten sich die Zeichen zur ahistorischen Auffälligkeit, dann fällt die Verzögerung der langsamen Bewegung der Historiographie weg. Die Selbstdarstellung auf der Website der Developer, wie der staatseigenen Firma Nakheel, markiert gleichzeitig den Punkt in der Geschichte, der der Anfang der Selbstbeschreibung, der Identitätskonstruktion ist. Die Lust am touristischen Besuch muss durch die Steigerung des Raumbildes zur Dauerperformance erzeugt werden und durch die mediale Verankerung im Luxussegment gesteigert werden. Eine breit angelegte Imagekampagne begleitete die Besiedelung der ersten künstlichen Insel Dubais, »The Palm Jumeirah«. »Zuvor läuft in ganz Europa eine massive Werbekampagne, die am Donnerstag in London mit einem Zeppelin-Flug beginnt. Weitere Aktionen sind in Paris, Mailand, Rom und Kairo geplant.«18 An die Stelle von Geschichte als Akt der Selbstreflexion tritt die Kampagne für ein Image als Akt der Selbstbehauptung. »Envisioned by his Highness Sheikh Mohammed Bin Rashid Al Maktoum, UAE Vice President and Prime Minister and Ruler of Dubai, Palm Jebel Ali is the second of three man-made islands in the shape of a palm tree and consists of two discrete and unconnected islands. The first consists of a trunk leading up from the shore, a spine and sixteen fronds and the second is a crescent surrounding the palm shape formed of five segments in a semicircle linked by bridges.«19
Was aus der Luft wie eine auf dem Wasser treibende Palme aussehen wird, transponiert die Zeichenhaftigkeit gleichermaßen in die Land- und Strandgewinnung wie in Emblem, Logo und Begriff. Fällt alles in eins, dann ist die Rhetorik die der simplifizierenden Verknappung, nicht die der zu bergenden Dichte oder Tiefe. Das, was als globalisierbarer, tourismusdestinationstauglicher und alle gleichermaßen anspruchslos-ansprechender architektonischer Stil entziffert wurde, wird in gebauten Raum übersetzt. Import und Export fallen in eins. Die Zeichen und Bilder für das Gebaute werden gleichzeitig importiert und exportiert. Für diese zweite, nun in Bau befindliche Insel, »The Palm Jebel Ali«, ist die Rede von »private leisure boat berths and private community beaches«, von »signature and garden villas«.20 Das Private ist wichtiger als das Gesellschaftliche. Die territoriale Vereinzelung wird als 18 http://www.spiegel.de/reise/aktuell/0,1518,447012,00.html vom 20. August 2009. 19 http://www.palmjebelali.ae vom 20. August 2009. 20 Ebd.
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Luxus des Individuums gefeiert. Stillstand erzeugt sich als exklusive Zeitoase in der Akzeleration. Diese Raumpraxis ist paradoxerweise eine der Entschleunigung. Sie zielt nicht auf Entwicklung, sondern auf Developer-Logik des Abschließens. Waren die metabolistischen Visionen, wie sie die Weltausstellung 1975 in Osaka prägten, auf den Überraschungseffekt des Noch-Nicht-Dagewesenen gerichtet, auf das Imaginieren möglicher Zukunftslüste, so verkörpern die gebauten Welten der künstlichen Inseln im Golf das Bereits-Da-Gewesene als eindeutig verfügbare immerwährende Gegenwart. Abgekoppelt von Vergangenheit oder Zukunft geht es um den gefrorenen Moment des Jetzt: hier findet die Allianz zwischen dem Spektakulären und dem Insulären statt. Die Übertrumpfung der Zeichen hat begonnen, sie muss nicht auf den Vorschein einer Zukunft, die nie kommen mag, warten. Als globale Destination setzt »The Palm Jumeirah« auf wiedererkennbare internationale Tourismusbezugspunkte: ein japanischer Garten, ein brasilianischer Regenwald, ein Canale Grande in Venedig.21 Im September des Jahres 2008 wurde an der Spitze der Insel das Megahotel Atlantis eröffnet. »Atlantis, The Palm is the flagship resort on The Palm Jumeirah - the first resort to open its doors on Dubai’s revolutionary island. Created by Kerzner International Holdings Limited, a leading international developer and operator of destination resorts, the stunning new 1,539-room resort first welcomed guests in September 2008.«22
Die Marke Atlantis, die bereits einmal existiert, auf den Bahamas, wurde von dem Südafrikaner Solomon Kezner, einem Magnaten der Hotelindustrie und des Glücksspiels, verwirklicht: »With its enviable location atop the crescent of The Palm Jumeirah, the opening of Atlantis, The Palm continues to redefine tourism in Dubai as it is the area’s first truly integrated entertainment resort. Reflecting Executive Chairman Sol Kerzner’s vision to transport guests into a dazzling, imaginative world, the resort encompasses a 46 hectare site with 17 hectares of water themed amusement at AQUAVENTURE, extensive fresh and salt-water pools and lagoon exhibits, an open-air marine habitat, a seemingly endless stretch of beach, luxury boutiques, numerous dining choices including four celebrity chef restaurants, an exciting nightclub, a Spa and Fitness Club, and 5,600m2 of meeting and function space.«23
21 http://de.wikipedia.org/wiki/Palm_Islands#Entwicklung_und_Vermarktung vom 20. August 2009. 22 www.atlantisthepalm.com vom 20. August 2009. 23 Ebd.
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Das narrative und mythische Potenzial des imaginären versunkenen Kontinents Atlantis wird aktiviert, hinter Glas, als Display. Die Lektüre wird einfach gemacht. »The Lost Chambers« heißt die Atlantisinszenierung und setzt auf Räume und Objekte wie Tunnel und Gänge, Wracks und Schätze, im Wasser untergegangene Straßen und Plätze. »Atlantis, The Palm« ist nicht nur ein Hotel, sondern auch ein Attraktor, der andere Gäste als zahlende Besucher anziehen soll. Die Lesart von Atlantis ist insofern bemerkenswert, als sie nur auf die Greifbarkeit, auf die Nähe, auf die Inszenierbarkeit des Untergegangenen, des vielleicht nie existiert habenden Kontinents Atlantis setzt. Mythen, die die Grenze zwischen Hoch- und Massenkultur aufsprengen und überschreiten, untersuchte Roland Barthes in seinen zwischen 1954 und 1956 entstandenen Essays über »Mythen des Alltags«. Dieses Potenzial der Überschreitung und die Suche nach Eindeutigkeit aktiviert Atlantis als lange menschheitsgeschichtliche Suche nach einem untergegangenen reichen Kontinent. Die möglichen Lektüren sind ambivalenter als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Atlantis, als verschwundener Kontinent, nun greifbar als Hotelresortwohnen auf Zeit, auf einer künstlichen Insel, auf der Atlantis in Atlantis als Verschwundenes reinszeniert wird in »The Lost Chambers«. Zugleich ist es das Moment des Untergangs, das fasziniert. Mit größtem Aufwand werden Unmengen an Sand bewegt, um die künstliche Inselwelt entstehen zu lassen. Es wird auf Sand gebaut. Atlantis faszinierte durch seine mythische Existenz ebenso wie durch sein rätselhaftes, plötzliches Verschwinden. Dieses ist gleichzeitig in der Verwendung dieses Narrativs ausgeblendet und präsentisch. Es scheint überwunden. »Auf dieser Insel Atlantis nun bildete sich eine große und staunenswerte Königsmacht aus, der nicht nur die ganze Insel, sondern auch noch viele andere Inseln sowie Teile des Festlandes untertan waren. […] Weiterhin aber brach dann eine Zeit gewaltiger Erdbeben und Überschwemmungen herein, und es kam ein Tag und eine Nacht voll entsetzlicher Schrecken […]. Ebenso tauchte die Insel Atlantis in die Tiefe des Meeres hinab und verschwand.«24
Das mythische Narrativ der Insel Atlantis, die seit Platons Dialogen Timaios und Kritias eine überaus wechselvolle philologische, aber noch viel stärkere populäre Rezeptionsgeschichte erfahren hat, wurde im »Atlantis The Palm« zur doppelten Projektion von Erreichbarkeit im Sinne einer Destination und Erreichbarkeit im Sinne einer imaginären Umschiffung aller forschenden Widrigkeiten qua Inszenierungsstrategie. Der Untergang wird überblendet. Es handelt sich um eine gefrorene Momentaufnahme der aufsuchenden Heran24 Platon: Sämtliche Dialoge, Band VI, Hamburg: Felix Meiner Verlag 1988, S. 41f.
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holung des Verschwundenen, die als Bild zum Raum inszeniert wird. Der Atlantis-Mythos ist im Kern nicht nur eine pädagogische Erzählung über eine ideale Staatsvorstellung, über Macht und Reichtum, sondern auch über ein unerwartetes, unerklärliches Ende, das durch seine Rätselhaftigkeit die Faszination an beidem steigert: der Existenz wie dem Untergang.
VII. VII. Worlds of Discovery: Theming als Strategie Um das Insuläre zu erzeugen und die zweite Palmeninsel zur Megadestination aufzubauen, sollen hier hinkünftig vier Themenparks Besucher anlocken: »Worlds of Discovery« – bestehend aus »Sea World«, »Aquatica«, »Busch Gardens« und »Discovery Cove«.25 Auf den Ansichten von »The Palm Jebel Ali« taucht die zukünftige Themenparkballung bereits als krönender Abschluss der Anlage in Form eines Killerwals auf. »Die Krone« wird dieser Bereich von »The Palm Jebel Ali« genannt. Im Februar 2008 gaben Nakheel und Busch Entertainment Corporation (BEC) im Shamu Stadion der »SeaWorld« in Orlando, Florida, ihre zukünftige Zusammenarbeit bekannt. Der Chief Executive von Nakheel, Chris O’Donnel, äußerte sich dazu folgendermaßen: »Dubai ist heute eine der führenden Tourismus-Destinationen der Welt. Zentraler Teil der Strategie ist es, Entertainment-Marken von Weltformat in das Emirat zu bringen. Zu unseren Partnern zählen bereits so bekannte Marken wie Trump, Cirque du Soleil und Atlantis. Die Partnerschaft mit BEC ist ein weiteres Beispiel dafür, dass Dubai zu einer Stadt von weltweiter Prominenz heranwächst. Wir sind sehr stolz darauf, dass The Palm Jebel Ali der erste Standort einer Worlds of Discovery außerhalb der U.S.A. wird. Dies ist nicht nur für Nakheel, sondern für ganz Dubai ein großer Coup.«26
Globalisierte Standorterzeugung funktioniert durch die Eindeutigkeit von Marken. Die Strategie des Brandings basiert auf der Agglomeration von Marken, auf ihrem einander stärkenden Zusammenspiel. Das Globalisierte schlechthin ist die Marke. Auf der Insel findet sie ihren physischen Ort des Aufenthalts, der Entfaltung. Die
25 »Die Busch Entertainment Corporation (BEC), die mit Familienunterhaltung befasste Sparte des Anheuser-Busch-Konzerns, hat dahingehend eine Übereinkunft mit der Nakheel PJSC, einem der größten Landentwickler der Welt, getroffen. Nakheel wird das für den Bau und den Betrieb notwendige Kapital geben. BEC wird die Lizenz für seine Themenparkmarken an Nakheel vergeben und die Parks im Rahmen eines Managementvertrages betreiben.« http://www.seaworld.com vom 20. August 2009. 26 Ebd.
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Marken branden die Insel. So entsteht das Insuläre aus der gehäuften Dauerinstallation von Spektakeln gemeinsam mit Resorts, Hotels, Apartments und Shopping.
VIII. VIII . The World Dubai Turboinvestorenkapitalismus und demiurgische Weltmachbarkeitsphantasien treffen aufeinander und finden ihre realen Umsetzungen in »The World Dubai«. Die Welt, metaphorisch wie metonymisch, wird als Ansammlung von Inseln in die Welt gesetzt oder besser gesagt ins Wasser, auf Sand gebaut. Die gestaltgebende Form der Anlage der Inseln ist die Weltkarte. Diese Projektion der Welt auf die Erzeugung von insulären Welten soll die exklusivste Tourismusdestination der Welt werden. Von der Arabischen Baufirma Nakheel wurde das weltgrößte Offshore Projekt »The World« fertig gestellt. Insgesamt wurden 34 Millionen Tonnen Fels und 320 Kubikmeter Sand bewegt um die 300 Inseln da zu erschaffen, wo vorher unberührte Küstenlandschaft war. Der letzte Stein wurde am Morgen des 10. Januar 2008 vom Baudirektor Hamza Mustafa persönlich gelegt. Im Jahr 2010 werden 15 Millionen Besucher erwartet.27 Jede Insel soll ein Land der Erde darstellen. Der Vergleich wird sicher machen. Die Bebauung wird nun auf Subdeveloper-Risiko erfolgen. Die fertig gestellten Inseln werden an eigene Subdeveloper übergeben. Die Sehnsuchtsmaschine der eigenen Insel, des eigenen Territoriums, rückt für das Luxussegment der Welt in Machbarkeitsnähe. In dieser Weltformation treffen Raumkonfigurationen von Schaulust und Wettbewerb, Ausstellen und Inszenierungsstrategie aufeinander, die eine lange Ideengeschichte haben. In dieser Ideengeschichte der Raumproduktion findet sich die Formation der Weltausstellung ebenso wie die des abgeschlossenen Themenparks, die in ihrer Geschlossenheit mit Konfigurationen wie Gated Communities korrespondieren. Die Formation Weltausstellung des 19. sowie des 20. Jahrhunderts erzeugt Raumkonfigurationen wie Park, Straße oder Insel.28 Die Überschaubarkeit und Zuordenbarkeit zählt. Die ganze Welt sollte zum internationalen Dorf der Begehbarkeit mutieren. Die Nähen zwischen Warenlogiken, Weltkräftemessen und Schaulust auf einen Blick durchziehen die Verdichtungsstrategien des Insulären und finden sich in vehementer Steigerung in
27 Vgl. http://www.theworld.dubai-city.de vom 20. August 2009. 28 Vgl. Elke Krasny: »Unsere Welt in den Augen der Welt. Identität und Authentizität als Frage der Gestaltung im Medium Weltausstellung«, in: Matthias Götz (Hg.), Villa Paragone. Ausstellen, Basel: Schwabe 2008, S. 253-272.
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dem Projekt »The World«, das Privatinseln, Villenparadiese und Ferienresorts verbinden wird.29 In den Inseln selbst, die nun an Developer für die infrastrukturelle Aufrüstung übergeben werden, wiederholt sich die bewährte Figur des Themenparks als Branding. Ob Insel Venedig, Insel Mount Everest oder Insel Österreich, die Welt wird als dreidimensionale Marketingfolie nach-gebaut. Das Real-Re-Enactment als insuläres Ereignis, abgeschottet von den realen Bedinglichkeiten der Welt, verbindet die Logiken des Theming, wie es aus Weltausstellungen in Themenparks und von dort in Strategien des Urban Theming überging, nun mit dem insulären World-Theming.30
IX. IX . Bildersucht und Raumverhältnisse Geprägt durch die Sucht nach dem Immermehr der beschleunigten Momente des Spektakels und der Lust an der omnipräsenten Verfügbarkeit von Spektakel auf Dauer sind es letztlich immer die Bilder, die für die Vermittlung gesellschaftlicher Verhältnisse zwischen Personen sorgen. Wenn die sozialen Relationen zwischen Personen nicht nur eine räumliche Dimension annehmen, in der sie sich als analysierbare ausdrücken, sondern vielmehr den Raum selbst als gelebte Praxis konstituieren, wie es Henri Lefebvre in den 1970er Jahren argumentierte, so stellt sich die Frage, wie das Verhältnis Bilder – Raum und Personen in hypermodernen Konditionen zu lesen und kontextualisieren ist. Geht man davon aus, dass die zwischenmenschlichen Beziehungen, wie Debord argumentierte, bildgeprägt und die räumlichen Konstellationen sozial konstituiert sind, wie Lefebvre argumentierte, so gilt es das Verhältnis zwischen Bildern, Räumen und Menschen nochmals neu zu überdenken. Ist die Intersubjektivität eine bildkonstituierte, dann ist die räumliche Konstellation als soziale ebenfalls bildkonstituiert. Daraus folgt, dass es die Bilder von Räumen sind, die die Beziehungen als sozialen Raum herstellen und regeln. Die akzelerierte insuläre Raumpro-
29 Vgl. http://www.theworld.dubai-city.de vom 20. August 2009. 30 Zu den Zusammenhängen zwischen Weltausstellung und Theming, Designstrategien und geschlossenen Territorien vergleiche: Robert W. Rydell: World of Fairs: The Century of Progress Expositions, Chicago u. a.: University of Chicago Press 1993; Karal Ann Marling (Hg.): Designing Disney’s Themeparks. The Architecture of Reassurance, Paris u. a.: Flammarion 1997; Edward J. Blakely/Mary Gail Snyder (Hg.): Fortress America. Gated Communities in the United States, Washington: Brookings Institution Press 1997; Annette Baldauf: Entertainment Cities: Stadtentwicklung und Unterhaltungskultur, Wien u. a.: Springer 2008.
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duktion von Dubai wie Abu Dhabi muss sich daher als intersubjektive Bildproduktion affirmieren und konsumierbar machen. Lefebvre setzt für seine Analyse der Produktion von Raum drei Elemente zueinander in Beziehung, »die räumliche Praxis einer Gesellschaft«, die »Raumrepräsentationen« und »die Repräsentationsräume, d. h. der gelebte Raum«.31 Um die räumliche Praxis einer Gesellschaft zu begreifen, braucht es nach Lefebvre den Akt des Lesens, des Entschlüsselns, des Entzifferns. »In der Analyse lässt sich eine räumliche Praxis entdecken, indem man ihren Raum entziffert.«32 Der Prozess der Raumentzifferung zielt ab auf die Analyse von Komplexität, Heterogenität und Dichte, die paradigmatischen Konfigurationen wie Analyseformationen von Urbanität. Aus dem Prozess der Analyse schält sich die Raumpraxis heraus. Die Raumpraxis, die die künstlichen Eilande füllen wird, wird sich erst hinkünftig entziffern lassen, wenn TourismusforscherInnen oder KulturanthropologInnen in der Feldforschung den realen Praxen in der Aneignung nachgehen. Was sich über den »konzipierten Raum«33 der künstlichen Eilande jedoch bereits sagen lässt, ist, dass es sich um eine strategische Vorstellung von Raumerzeugung handelt, in der Developer-Interessen und globalisierte Identitätsproduktion aufeinander treffen. Nicht das Lokale, Spezifische, im Zusammenhang mit touristischer Nutzung als Authentisches Apostrophierte, ist das, was hier gemacht wird, sondern Zeichensetzungen aus dem für alle einfach zu lesenden Überall.
X . Gefrorener Moment statt heterogene Collage: Collage: Absage an die Vieldeutigkeit Waren die räumlichen wie philosophischen Erzählungen der Postmoderne welche, die den großen Erzählungen ihre Absage erteilt hatten, die in frei flottierenden Identitäten und komplexen dekonstruktivistischen Raumlaboratorien experimentierten, so setzt das Insuläre als Narration auf reduktionistische Beeindruckung durch Wiedererkennbares. Es geht um Verfestigung, nicht um Verflüssigung. Sie zielt nicht auf Zukunft, sondern auf immerwährende, momenthafte Gegenwart. Das Augenblickliche, das, was ins Auge fällt und einsichtig wird, ohne Anstrengung der Lektüren, und der an Goethes Faust gemahnende Augenblick, der verweilen möge, fal-
31 Henri Lefebvre: »Die Produktion des Raums«, in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie, Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2006, S. 330-342, hier: S. 336f. 32 Ebd., S. 335. 33 Ebd., S. 336.
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len einander zu und erzeugen die Momentaufnahme als räumliche Dimension. »In retrospect, the postmodern metaphor of collage is a catch-all grab bag, suggesting inclusivity and perhaps a certain unpredictable beauty, but also an element of hazard, confusion, disjuncture, and lack of sense. The other predominant metaphor for the city and culture during the same period – that of the text – allows for an infinite number of perspectives or ›readings‹ of urban and cultural experiences.«34
Hypermoderne Raumproduktion agiert diametral entgegengesetzt. Die Collage als sammelsurische Vielfalt, die im Nebeneinander auf Begegnungen und unerwartete Sinnkonstellationen setzt, auf Abwechslung und auch Durcheinander, wird ersetzt durch Eindeutigkeit, Geordnetheit und Vorhersagbarkeit. Die Zeichen stehen auf Selbstreferentialität. Der Schein verspricht nichts anderes als sich selbst. Die Authentizität der Künstlichkeit hat ihre Echtheit im Gemachten erreicht. Es geht nicht um ein Jenseits oder Diesseits der Mitkonnotation, sondern um einfache und dadurch überzeugende Lesbarkeit im Beeindruckungsgestus: Turbourbanismus. Aus den Konstellationen und Kategorien der Moderne, die in der Postmoderne reflexiv und ad infinitum gegen und mit sich selbst different werdend gewendet wurden, in Falten, Ritzen und Kehren, schreiben sich die Konstellationen von Machbarkeit und Rationalität als einfache Folien weiter, ohne die Tiefe ihrer Gewordenheit zu befragen oder überfrachten. Die Dimension der Zeit, die den Raum überzieht als gemachter Raum, nicht als gewordener, entlastet sich aus der westlich drückenden Geschichtsverpflichtetheit und transferiert sich in einen Globalraum, in dem die Uhren anders ticken. »But the colonial space also stands for the despotic time of the Orient that becomes a great problem for the definition of modernity and its inscription of the history of the colonized from the perspective of the West. Despotic time, as Althusser has brilliantly described it, is ›space without places, time without duration‹. In that double-figure which haunted the moment of enlightenment in its relation to the otherness of the Other, you can see the historical formation of the time-lag of modernity.«35
Im Globalisierungswettlauf des Dauerjetlags ist der »time-lag of modernity« übersprungen, die Figuren der Moderne können sich bedeutungslos in der Hypermoderne verfestigen. Die Verflüssigungen der Postmoderne sind liquidiert. Aus der Collage wurde die Mo-
34 Nan Ellin: Postmodern Urbanism, New York: Princeton Architectural Press 1999, S. 3. 35 H. Bhabha: Location of Culture, S. 353.
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mentaufnahme, das zur dritten Dimension verdichtete Raumbild, in dem sich Rendering und Gebautes täuschend nahe kommen. Die Bedeutungsexplosion der Collage als urbanistische Folie seit den 1960er Jahren wurde abgelöst durch den eingefrorenen Aufnahmemoment, in dem das Eindeutige zählt: die Größe, die Beeindruckung, die prometheischen Machbarkeitsphantasien qua Developer-Interessen. Es geht nicht mehr um Bedeutungsvielfalt oder die Beförderung von explosivem Bedeutungsreichtum, sondern um imageträchtige semantische Reduktion als Branding des Einen: Eine Insel ist eine Insel. Eine Palme ist eine Palme. Entertainment bleibt Entertainment. Die offizielle Website über »Palm Jebel Ali« spricht von »empty desert« und »sea«, welche in eine »bustling international community«, eine »entertainment destination« verwandelt werden. Entziffern ist eine Tätigkeit, die den Raum nicht nur als räumliches Gefüge nahe legt, sondern auch mit der starken Metapher vom Text ein Nahverhältnis hat. Für den postmodernen Urbanismus sind die Lektüreerfahrungen entscheidend. Die Entzifferung ist in dieser Lesart des Städtischen auch das Erzeugungsverfahren von Stadt durch ihre Bewohnerinnen und Bewohner. Die Aneignung ist eine Praxis des Lesens, der unterschiedlichen Lesbarkeit. Die Vieldeutigkeit ist die Qualität urbaner Heterogenität und Dichte, nicht nur im Räumlichen, auch im Semantischen. Diese Akte der städtischen Entzifferung sind vergleichbar mit dem, was Michel Foucault als Praxis der Archäologie bezeichnet. Die Lektüren im urbanen Raum sind Akte der Entzifferung, die ein städtisches Wissen gleichermaßen voraussetzen und produzieren. Im Falle der globalisierten Architektursprache des Turbourbanismus der künstlichen Inseln hat die Entzifferung vor der gelebten räumlichen Praxis stattgefunden. Werden die einfachen Bilder stärker als die Vielschichtigkeit von Assoziationen, dann wird der semantische Raum, den der physisch gebaute Raum erzeugt, bedeutungsflach und ohne jegliche historische Tiefendimension. Die Insel zeichnet sich aus durch Verfestigung und Flachheit, durch Eindeutigkeit und Wiedererkennung, durch Bedeutungsreduktion. Die kritischen Analyseinstrumentarien und theoretischen Vermessungsbegrifflichkeiten für die Raumpraktiken der Hypermoderne, die in der Allianz von Turbokapitalismus und globaler touristischer Destinationenlogik ihr Zusammenspiel finden, müssen in aller Schärfe erst entwickelt werden. Das Insuläre sucht zu bestechen durch die Einzigartigkeit. Unterscheidungsmerkmal wird das übertrumpfende Mehr, Höher, Besser, Weiter, Perfekter. Die Techne der Inszenierung produziert Erfahrungen von Raum in Echtzeit. Echt ist alles, was möglich ist.
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Die delirierende Hyperrealität des Möglichen ist das authentische Globalisierungsformat. Welt-Bilder, ganze Sehnsuchtskartografien, verwandeln sich in Gebautes. Der Drang von der Fläche zum Raum ist groß. Die Imaginationen können sich an diesen gebauten Bildern entzünden. In der Hypermoderne laufen die Bilder gesellschaftlich wie am Fließband und schaffen den Kraftakt des Absprungs in die raumgreifende Dreidimensionalität. Die Hypermoderne kann im Insulären die Steigerung des Spektakels feiern, aber auch die Intensivierung von geschlossener, sicherer, überschaubarer, überwachter Territorialität. »Der Ort als solcher mag seine Wichtigkeit für den Jetset verloren haben, der heute jede menschliche Niederlassung aus einer Distanz betrachten kann, die früher das Privileg der Vögel war.«36 So verwundert es nicht, dass es immer die Vogelperspektive ist, auf der man auf allen Websites die Inseln zuerst zu sehen bekommt. Diese Perspektive im Anflug ist es auch, die eine Destination bereits aus der Luft signifikant als Raumfigur einem Logo gleichmacht. Das Branding beginnt in der Wahrnehmung aus der Ferne, die sich im Anflug erhalten wird. Verlieren Orte an Wichtigkeit, so liegt es an ihnen, sich wieder wichtig zu machen. Die Setzung als Insularität, als Megadestination, erfordert Investment und eine gigantische PRMaschinerie, die mit dem Raum Schritt halten kann. »Doch selbst die globetrottenden Eliten brauchen Pausen vom quälenden und nervenaufreibenden Unterwegssein, brauchen Zeiten, in denen sie die Waffen niederlegen und ausruhen können, um ihre erschöpfte Widerstandsfähigkeit gegen den alltäglichen Druck zu erneuern – und zu diesem Zweck brauchen sie eine sichere Zuflucht.«37 Von Happy Island (Saadiyat) bis zur ganzen Welt (The World) versprechen die Destinationen genau dieses, eine sichere Zuflucht, eine Auszeit. In der Konfiguration des Insulären kann die Welt wieder sicher erscheinen. Nach den Attentaten des 11. September verfolgte das Sicherheitstrauma die Architekturproduktion. Zum Phantasma gesteigert wird es zur Hybris des mit Sicherheit Machbaren. Auf der Insel kann man sich der Welt wieder sicher sein, denn dort war die Welt immer schon eine andere. Auf dem Inselstadtstaat Utopia, den Thomas Morus im Jahr 1516 entwarf, herrschte eine Art Kommunismus. Heutige Inseln lassen das U-Topische hinter sich und landen im Hyperrealen. Dieses ist immer zu buchen.
36 Zygmunt Bauman: Gemeinschaften, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2009, S. 138. 37 Ebd.
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Isolationen. Von lieblichen lieblichen Orten und Habitatinseln, oder: der locus conclusus als Paradigma gesellschaftlicher Naturbeziehungen MARCUS TERMEER In den gesellschaftlichen Naturverhältnissen des ›Abendlandes‹ existiert eine Kontinuität, erwünschte Varianten der ›äußeren Natur‹ als isolierten Raum, als ›Insel‹ zu konstruieren/wahrzunehmen. Die Isolation verleiht der Natur Rahmen, lässt sie so steuer- und handhabbar erscheinen. Innerhalb von ein- und abschließenden Räumen erfüllt sie ästhetische Bedürfnisse und fungiert als soziale und wissenschaftliche Berufungsinstanz. Isolation markiert ein Herrschaftsverhältnis bzw. einen Herrschaftsanspruch. Das Kontinuum unterliegt allerdings den historischen Brüchen, in denen sich die Wahrnehmung von Naturbeherrschung äußert. Dass Inseln real aufgesucht werden, um Natur hier im geschilderten Sinn anzutreffen, ist eine Entwicklung ungefähr seit dem 18. Jahrhundert. In Mythen und Utopien existieren isolierte Räume einer idealen Natur bekanntlich schon sehr viel länger. In den historischen Realitäten des Festlandes in gewisser Weise ebenfalls. Im Folgenden geht es um liebliche Orte und Habitatinseln. Und damit bewege ich mich auch aus dem Meer heraus. Die Imaginationen von Räumen einer idealschönen Natur seit dem antiken Arkadien verorten den locus amoenus als abgegrenzte Insel inmitten der Wildnis des locus terribilis. Die Wildnis ist obligatorisch. Sie muss durchquert, überwunden werden, um zum ›lieblichen Ort‹ zu gelangen. Diese Wildnis kann das Meer sein, häufiger aber ist sie Wald oder Wüste (was in der christlichen Ikonographie des Mittelalters oft synonym ist). Der ›liebliche Ort‹ ist ein hortus conclusus, nicht zuletzt in seiner Realisierung als umfriedeter, ummauerter Garten. Seit dem 19. Jahrhundert, seit der bürgerlichen Entmischung von Landschaft in Genusslandschaft und auszubeutende Konsumlandschaft beerbt das Naturschutzgebiet den Garten.
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Marcus Termeer Zwei jüngere Konsequenzen der fortschreitenden Kolonisierung von Natur seien noch genannt. Zum einen die inzwischen (vorgeblich) kybernetische Regelung natürlicher Prozesse in gigantischen Glashäusern. Zum anderen die Inseltheorie in der Ökologie und der Biogeographie. Seit den späten 1960er Jahren werden hier Habitatinseln innerhalb relativ lebensfeindlicher Kulturlandschaften analog zu isolierten Ökosystemen auf Meeresinseln erforscht. Die genannten Beispiele lassen es anklingen: Zum grundsätzlich oszillierenden Bild der Insel gesellt sich ein weiteres Oszillieren, das der wechselseitigen Entsprechungen des hortus conclusus in seinen maritimen und terrestrischen Varianten. An dieser Stelle muss der Zeit- und Raumraffer genügen. Ich werde auf die genannten Punkte zurückkommen.
Galapagos, Bensalem, Tahiti: Inseln als Medien von Machtpraktiken Vor 150 Jahren wird in London erstmals die Theorie der Evolution durch natürliche Selektion veröffentlicht. Verlesen in der LinnéGesellschaft am 1. Juli und als Artikel gedruckt Ende August. Zwei Autoren – der »Säulenheilige der Evolutionsbiologie« Charles Darwin und sein »Schatten« Alfred Russel Wallace – schildern ihre unabhängig voneinander entstandenen, aber nahezu gleichen Überlegungen.1 1859 schiebt Darwin dann rasch das Buch nach, das seinen Ruhm begründet: The Origin of Species. In der scientific community wird zumindest im 20. Jahrhundert bis in die 80er Jahre bruchlos die Heldenerzählung einer »Darwinschen Revolution« gepflegt. Ihr wesentlicher semantischer Raum sind die GalapagosInseln. Das Archipel im pazifischen Ozean liegt 1000 km vom Festland entfernt und ist geprägt von endemischen Arten und einem Nebeneinander von Tieren kalter und heißer Klima-Zonen. Galapagos wird zwar schon 1535 ›entdeckt‹, ist aber vor Darwin kaum erforscht. Charles Darwin selbst begründet seinen Mythos in seiner Autobiographie. Auf seiner Reise mit der Beagle 1831-36 habe er rein induktiv Fakten gesammelt, ganz im Sinne des Renaissance-Gelehrten Francis Bacon.2 Neben australischen Beuteltieren hätten ihm vor allem Finken und Schildkröten auf Galapagos die Augen geöffnet.3 Dass hier aber real von Induktion keine Rede sein kann, ist inzwi1
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Vgl. Stephen Jay Gould: Der Daumen des Panda. Betrachtungen zur Naturgeschichte, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1989 [Orig. New York 1980], S. 51 u. 63. Vgl. ebd., S. 63. Vgl. ebd., S. 64f.
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Von lieblichen Orten und Habitatinseln schen oft gezeigt worden.4 »Darwin begann seine Reise als Kreationist«5 und entwickelte Gedanken an die Möglichkeit einer Evolution erst im Nachhinein. Die Theorie von Deszendenz und natürlicher Selektion, des struggle for life und survival of the fittest beruht bekanntlich explizit auf der Bevölkerungstheorie von Thomas Malthus und zumindest implizit auf Adam Smiths Ökonomie. Eine solche Naturalisierung kapitalistischer Machtverhältnisse, der Lehren von knappen Ressourcen und egoistischen Ausscheidungswettbewerben, die unter dem Obwalten einer ›unsichtbaren Hand‹ letztlich altruistisch seien, dürfte kaum irgendwo plausibler erscheinen als unter den räumlich begrenzten Bedingungen von Inseln. Der Naturforscher Darwin sucht seine Erkenntnis-Objekte real auf und unterzieht die Natur retrospektiv einer theoretischen Neuordnung. Deren Basis ist ein Bewusstsein grundsätzlicher menschlicher Naturbeherrschung. Bei Darwins Vorbild (bezüglich der Induktion) Francis Bacon zeigt sich aber noch ein inquisitorisches Verhältnis zur Natur; ihre ›Geheimnisse‹ sollen ihr mit Gewalt entrissen werden. Seine ›biotechnologische Science Fiction‹ Nova Atlantis, geschrieben um 1620, nimmt zugleich moderne Reproduktionstechniken vorweg. Die Gesellschaft auf Bacons Insel »Bensalem« ist strikt patriarchal und asketisch-christlich verfasst.6 Sie wird regiert von Wissenschaftlern und Technikern, den »Vätern des Hauses Salomon«.7 Der begrenzte Raum Insel wird zum Labor: Alle »möglichen Tiere und Vögel« werden hier »Sektionen und anatomischen Untersuchungen« oder Gift-Versuchen unterworfen, um so »Aufklärung über den menschlichen Körper« zu liefern.8 Tieren werden neue Körperformen und -größen, neue Farben oder eine andere Fruchtbarkeit künstlich angezüchtet. Unterschiedlichste Arten werden gekreuzt. Reptilien, Insekten, Fische werden »unter Zuhilfenahme von Verwesungsvorgängen« gleich ganz neu kreiert. Vergleichbares geschieht mit Pflanzen. Sie können bezüglich ihrer Arten verwandelt oder als gänzlich neue Arten erzeugt werden. Und durch spezielle Boden-Verfahren entstehen sie nicht mehr aus Samen.9
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Vgl. ebd., S. 65. David L. Hull: »Die Rezeption von Darwins Evolutionstheorie bei britischen Wissenschaftsphilosophen des 19. Jahrhunderts«, in: Eve Marie Engels (Hg.), Die Rezeption von Evolutionstheorien im 19. Jahrhundert, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1995, S. 67-104, hier: S. 84. Vgl. Francis Bacon: Neu Atlantis. Übersetzt von Günther Bugge, hg. von Jürgen Klein, Stuttgart: Reclam 1982, S. 36f. Ebd., S. 56. Ebd., S. 46. Vgl. ebd., S. 46f.
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Marcus Termeer Bacons Utopie einer Herrschaft durch Neuschöpfung lässt das männliche Phantasma eines Neubaus der Natur ›wahr‹ werden.10 »Indem der Mensch die Natur unterwirft, versetzt er nicht nur sich, sondern auch sie in den Stand vor dem Sündenfall und sie verliert ihren weiblich-bedrohlichen Charakter«,11 kommentieren das Kathrin Braun und Elisabeth Kremer. Denn: »Insofern Natur [nun] als Materialisierung des göttlichen Willens begriffen wird, ist sie geordnet und männlich, nicht mehr das undurchschaubare, zu unterwerfende [weiblich konnotierte] Chaos.«12 Zwischen dem Diskurs einer sündhaften Natur bei Bacon und demjenigen einer Natur als Berufungsinstanz bei Darwin liegt eine Entwicklung: Seit dem frühen 18. Jahrhundert wird die existierende Natur zum Werk Gottes erklärt. In der Physikotheologie ist der Mensch zum Nachvollzug der Schöpfungsgedanken berufen, damit auch zur wissenschaftlichen Beherrschung der Natur, die zu seinem – auch ästhetischen – Nutzen geschaffen sei.13 Zum Sinnbild einer neuen und – wie sich weiter unten zeigen wird – widersprüchlichen Harmonie von Wildnis wird dann ebenfalls eine Insel: Tahiti. Südseeinseln, schreibt Thomas Koebner, gelten »spätestens seit der Entdeckung Tahitis […] als Refugium exotistischer Phantasien, die einen Platz auf der Erde von der allgemeinen Verderbnis ausnehmen wollen«.14 Hier kommt nun also das Moment des ›Paradieses‹, des locus amoenus hinzu. Louis-Antoine de Bougainville erreicht Tahiti auf seiner Weltreise 1768 und fühlt sich in »rokokohafte Szenerien vom Goldenen Zeitalter versetzt«,15 in eine Landschaft im Stil Claude Lorrains.16 Er sieht »die schönsten Wiesen, mit den herrlichsten Fruchtbäumen besetzt und von kleinen Flüssen durchschnitten«, glaubt sich im »Garten Eden«, in »elysäischen Felder[n]«,17 zeige die Landschaft doch »diese leichte Unordnung, wel10 Vgl. Marcus Termeer: Verkörperungen des Waldes. Eine Körper-, Geschlechter- und Herrschaftsgeschichte, Bielefeld: transcript 2005, S. 320. 11 Kathrin Braun/Elisabeth Kremer: Asketischer Eros und die Rekonstruktion der Natur zur Maschine, Oldenburg: BIS 1987, S. 17. 12 Ebd. 13 Vgl. M. Termeer: Verkörperungen des Waldes, S. 502f. 14 Thomas Koebner: »Geheimnisse der Wildnis. Zivilisationskritik und Naturexotik im Abenteuerroman«, in: ders./Gerhart Pickerodt (Hg.), Die andere Welt. Studien zum Exotismus, Frankfurt/Main: Athenäum 1987, S. 240266; hier: S. 264. 15 Ebd., S. 240. 16 Vgl. William J. T. Mitchell: »Imperial Landscape«, in: ders. (Hg.), Landscape and Power, Chicago, London: The University of Chicago Press 1994, S. 534, hier: S. 18. 17 Bougainville, Louis-Antoine de: Reise um die Welt welche mit der Fregatte La Boudeuse und dem Fleutschiff L’Etoile in den Jahren 1766, 1767, 1768 und 1769 gemacht worden, Berlin: Rütten und Loening 1980, S. 188.
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Von lieblichen Orten und Habitatinseln che die Kunst nicht nachzuahmen vermag«.18 Tahiti als Landschaftsgarten. Herauszulesen sind hier Rousseaus Maxime »die Natur pflanzt nichts nach der Schnur«19 und die damalige Diskussion um die angemessene imitation de la nature: im geometrischen (›französischen‹) Garten oder eben im (›englischen‹) Landschaftsgarten?20
Räume, Körper, Geschlechter: historische Prozesse wechselseitiger Plausibilisierungen Im Folgenden möchte ich notwendige Überlegungen zum Verhältnis von Körper, Raum und Geschichte anstellen. Nach Richard Sennett nehmen Räume so Gestalt an, wie Menschen ihren eigenen Körper erfahren.21 Das heißt genauer: Räume werden körperlich erfahren, zugleich wirken sie auf den Körper zurück – sie verkörpern also auch etwas: hier gesellschaftliche Naturverhältnisse, Herrschaftsverhältnisse, Geschlechterverhältnisse. Körper und ihre Erfahrungen sind dabei nichts Statisches, sondern unterliegen historischen Prozessen. Somit ist auch – mit Barbara Duden – von der »Geschichtlichkeit des Körperwissens« auszugehen.22 Gunter Gebauer hat den Wandel des Körpers vom ständischen Besitzer zum modernen Repräsentanten von Eigenschaften nachgezeichnet. Der Körper ist bis in die frühe Neuzeit hinein Zeichen sozialer Ungleichheit. Er besitzt unabänderliche, patrilinear vererbte spezifische ›Naturen‹: er ist Adeliger oder Bauer.23 Im frühkapitalistischen Produktionsprozess wird diese körperliche Ungleichheit zunehmend obsolet, seit dem 18. Jahrhundert unhaltbar, steht sie doch dem sozialen Aufstieg der Bourgeoisie im Weg. Der Körper
18 Ebd., S. 190. 19 Zitiert nach Iris Lauterbach: Der französische Garten am Ende des Ancien Régime. »Schöne Ordnung« und »geschmackvolles Ebenmaß«, Worms: Werner 1987, S. 235. 20 Vgl. ebd., S. 236f. 21 Vgl. Richard Sennett: Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997 [Orig. New York 1994], S. 456. 22 Barbara Duden: »Somatisches Wissen, Erfahrungswissen und ›diskursive‹ Gewissheiten. Überlegungen zum Erfahrungsbegriff aus der Sicht der Körperhistorikerin«, in: Maguérite Bos/Bettina Vincenz/Tanja Wirz (Hg.), Erfahrungen. Alles nur Diskurs? Zur Verwendung des Erfahrungsbegriffs in der Geschlechtergeschichte. Beiträge zur 11. Schweizer HistorikerInnentagung 2002, Zürich: Chronos Verlag 2002, S. 25-35, hier: S. 28. 23 Gunter Gebauer: »Ausdruck und Einbildung. Zur symbolischen Funktion des Körpers«, in: Dietmar Kamper/Christoph Wulf (Hg.), Die Wiederkehr des Körpers, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1982, S. 313-329, hier: S. 314f.
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Marcus Termeer wird demokratisiert, damit zugleich aber zum »Ausdrucksmedium« für neue Formen der Ungleichheit.24 Er wird zum »Klassen-Körper«, Distinktionsmittel, das »Geschmacksdistanzen« zwischen den sozialen Schichten errichtet.25 Der Wandel des Körpers bedeutet auch einen Wandel von Wahrnehmung. Vorbürgerlich zeigt sie sich als »parataktisches Verhältnis von Konkretem und Allgemeinem, von KörperlichDinglichem und Abstraktem, von Handeln und Denken«, wie Peter Czerwinski herausgearbeitet hat. So existieren auch vielzählige ›aggregativ‹ angeordnete Bedeutungsräume, sozusagen ›Blöcke‹, in die Figuren augenblicklich hineinspringen oder -fallen können, simultane Wirklichkeiten.26 Die mittelalterliche Literatur ist voll davon. In bürgerlichen Gesellschaften gibt es nur einen, systematisch generativ angeordneten Bedeutungsraum mit »vertikalen, nur mehr reflexiv vermittelten Schichten« von Bedeutungen,27 der so gewissermaßen über Untergründe verfügt (das ›Unterbewusstsein‹). Die jeweiligen Wahrnehmungen bzw. Konstruktionen von NaturRäumen unterliegen der Geschichtlichkeit der Körper-Produktionen. Auch Räume sind historisch prozesshaft. Körper und Natur-Räume plausibilisieren sich wechselseitig. Nach Martina Löw basieren Räume auf der Platzierung »von Lebewesen und sozialen Gütern an Orten«28 – per Handlung und wahrnehmender Verknüpfung. Räume geben zugleich eine soziale Ordnung vor. Sie werden also handelnd bzw. wahrnehmend geschaffen und wirken als räumliche Strukturen auf Handeln und Wahrnehmung zurück.29 Die enge semantische/symbolische Verknüpfung von Landschaft, von Räumen allgemein mit ›Weiblichkeit‹ ist bekannt. Vollzogen wird hier eine Aufspaltung in Wildnis und beherrschte Natur, gemäß des Antagonismus alterisiert – entalterisiert. Dieser Antagonismus folgt in seiner Logik demjenigen von Leib und Körper. Der Leib ist danach das nicht oder noch nicht Beherrschte, Ungeformte, Unbegrenzte, der Körper dagegen das Beherrschte, Formierte, strikt
24 Ebd., S. 318. 25 Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1994 [Orig. Paris 1979], S. 310f. 26 Vgl. Peter Czerwinski: Der Glanz der Abstraktion. Frühe Formen von Reflexivität im Mittelalter. Exempel einer Geschichte der Wahrnehmung I, Frankfurt/Main, New York: Campus 1989, S. 23f. (Hervorhebung im Original). 27 Peter Czerwinski: Gegenwärtigkeit. Simultane Räume und zyklische Zeiten, Formen von Regeneration und Genealogie im Mittelalter. Exempel einer Geschichte der Wahrnehmung II, München: Wilhelm Fink Verlag 1993, S. 86. 28 Vgl. Martina Löw: Raumsoziologie, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001, S. 166. 29 Vgl. ebd., S. 166-187.
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Von lieblichen Orten und Habitatinseln Begrenzte. Es gibt in der v. a. neueren europäischen Geschichte Konstruktionen ›männlicher Körper‹ in der äußeren Natur: Forsten, Soldaten- und Maschinenwälder.30 Als ›weiblicher Körper‹ der ›äußeren Natur‹ wird stets der Garten konstruiert bzw. wahrgenommen. ›Natur‹ und ›Weiblichkeit‹ werden erst vom ›Gärtner‹ zum Körper formiert, gezwungen – ›erhöht‹. Gärten aber können verwildern. Dieser Körper erscheint so stets vom Rückfall in den Leib bedroht. Sabine Schülting zeigt, wie bei den Eroberungsfahrten zur ›Terra incognita‹ seit dem Ende des 15. Jahrhunderts Mobilität und »FortSchritt« männlich besetzt werden als »Überwindung des [passiv besetzten] Weiblichen«, des Raums.31 Für die »semantische Überlagerung von Raum und Frauenkörper«32 stehen etwa die damaligen allegorischen Darstellungen von Ländern und Kontinenten, wie Sebastian Münsters »Europa«.33 Sie zeigen Landschaften, die längst ›in Besitz‹ sind. Auch in den Reiseberichten der europäischen Eroberer überlagern sich Raum und Frauenkörper semantisch. Die Landschaften der ›Neuen Welt‹ aber sollen erst noch in Besitz genommen werden. Und so schildern die Reiseberichte der europäischen Eroberer das Eindringen in den südamerikanischen Dschungel per Schiff auf labyrinthischen Flussläufen immer wieder als ›Deflorationen‹ jungfräulicher Leiber.34 Landnahmen werden zu ›Hochzeiten‹ oder bei Gegnern zu ›Vergewaltigungen‹.35 Zugleich werden die noch ›unbeherrschten‹ amorphen Landschaften personifiziert als nicht beherrschte Frauen: Im Dschungel lauern und herrschen sie noch wild und nackt – Kannibalinnen (als gesteigertes Äquivalent der europäischen ›Hexen‹). Sie bedrohen die männliche und europäische Vorherrschaft mit totaler Inversion. Die Auflösung der männlichen Körper beim Braten wird zum Symbol der Auflösung von Ordnung.36 In Bacons insularer Utopie einer leibfreien »Rekonstruktion der Natur zur Maschine«37 herrscht dieses Bild einer mit Macht zu korrigierenden weiblich verschuldeten natura lapsa noch vor. Ende des 18. Jahrhunderts ist das bereits anders. Obwohl schließlich auch Bougainville von Kannibalismus auf Tahiti erfahren haben will,38 löst das keine Schrecken mehr aus. Tahiti wird damals zum Sehn30 Vgl. M. Termeer: Verkörperungen des Waldes S. 278ff. 31 Sabine Schülting: Wilde Frauen, fremde Welten. Kolonisierungsgeschichten aus Amerika, Reinbek: Rowohlt 1997, S. 35. 32 Ebd., S. 36f. 33 Vgl. ebd., S. 36f. 34 Vgl. M. Termeer: Verkörperungen des Waldes, S. 180f. 35 Vgl. ebd., S. 181f. 36 Vgl. ebd., S. 195f. 37 K. Braun/E. Kremer: Asketischer Eros, im Titel. 38 L. Bougainville: Reise um die Welt, S. 188.
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Marcus Termeer suchtsort (auch deutscher) Intellektueller.39 Auch Bougainville bewundert anfangs die »gute Ordnung« der Rangunterschiede, diktiert von den Gesetzen der »Natur selbst«.40 Die Frauen sind »Nymphen«, meist »nackend« und ›naiv entgegenkommend‹, aber doch von einer »gewissen […] Schamhaftigkeit«.41 Diese Form der Sexualisierung von Frauen und – in der diskursiven Gleichsetzung – von Landschaft im 18. Jahrhundert zielt »weniger auf die Unterwerfung eines weiblichen Objekts denn auf Lust um ihrer selbst Willen«,42 was offenbar mit einem Bewusstsein der gewachsenen Beherrschung der ›äußeren Natur‹ korrespondiert. Deren ›Gefahren‹ aber lauern nun im ›Untergrund‹ – durch ihre ›Promiskuität‹ sind die Tahitianerinnen mit Syphilis infiziert.43 »Die Frau wird zum Symbol und zur Verkörperung der doppelt bewerteten Natur« – ›rein‹ und ›dämonisch‹. »An ihrem Körper und an ihrem Bild vollzieht sich auch der Durchsetzungsprozeß eines neuen Naturbegriffs: Die Natur ist dem Menschen unterworfen, […] zum Objekt wissenschaftlicher Betrachtung und zum Gegenstand des Kunstgenusses geworden.«44 Darwins argumentativ vor allem an Galapagos gebundene Theorie des struggle for life zeigt dann eine weitere Entwicklung. Im Rückgriff auf die Ideen von Malthus und Smith reflektiert sie zwangsläufig die neu entstandenen Klassen-Körper (s. o.). Schon Karl Marx, bekanntlich kein Darwin-Kritiker, bemerkte erstaunt, »wie Darwin unter Bestien und Pflanzen seine englische Gesellschaft« mit ihrer Arbeitsteilung und Marktförmigkeit, ihren Konkurrenzkämpfen wiedererkenne.45
Andere Räume und die Interdependenzen von Entgrenzungen und Begrenzungen In den drei Beispielen Bensalem, Tahiti und Galapagos geht es um Formen der Naturbeherrschung in ein- und abschließenden Räumen. Räume, deren Produktionen je Veränderungen der Körperproduktionen zeigen. Auch das Verhältnis zum Meer unterliegt histori39 Vgl. Gerhart Pickerodt: »Aufklärung und Exotismus«, in: Th. Koebner/G. Pickerodt (Hg.), Die andere Welt, S. 121-136, hier: S. 123. 40 Zitiert nach Sigrid Weigel: »Die nahe Fremde – das Territorium des ›Weiblichen‹. Zum Verhältnis von ›Wilden‹ und ›Frauen‹ im Diskurs der Aufklärung«, in: Th. Koebner/G. Pickerodt (Hg.), Die andere Welt, S. 171-199, hier: S. 174. 41 L. Bougainville: Reise um die Welt, S. 182. 42 S. Schülting: Wilde Frauen, S. 77. 43 Vgl. L. Bougainville: Reise um die Welt, S. 232. 44 S. Weigel: Die nahe Fremde, S. 178f. 45 Zitiert nach S. J. Gould: Der Daumen, S. 70.
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Von lieblichen Orten und Habitatinseln schen Veränderungen. Bis in die frühe Neuzeit ist es immer auch ein »Ort der Angst, des Todes und des Wahnsinns, ein Abgrund, in dem der Satan, die Dämonen und die Ungeheuer hausen«.46 Im Paradies des Gartens Eden gibt es kein Meer. Erst die Sintflut bringt die unfasslich tiefen »Wassermasse[n] ohne Orientierungspunkt«, bringt »universelles Chaos«,47 paraphrasiert Alain Corbin biblische Vorstellungen, die der englische Theoretiker Thomas Burnet noch 1681 bestätigt. Sein Werk wird bis ins 18. Jahrhundert breit rezipiert.48 Um 1750, mit dem »beginnende[n] Ansturm der Kurgäste auf die Meeresküsten«, ändern sich dann derartige Färbungen des »kollektive[n] Imaginäre[n]«; allerdings auch in eine Art Angstlust. Für die »romantische Generation«, so Corbin, sei »Schiffbruch eine Art Zwangsvorstellung«. Bis 1840 sind Schiffs- und andere Meereskatastrophen regelrecht »in Mode«.49 Von einer solchen Mode in der Belletristik spricht Christian Kiening bereits für das laufende 17. Jahrhundert; Eckpunkte sind hier Shakespeares The Tempest und Defoes Robinson Crusoe. Das »[a]ffektive[...] und literarische[...] Potential« speziell des Insularen liege gerade in der »Überlagerung der Bedeutungen«, der Schilderungen von »Kontingenz und Providenz, Ausgrenzung und Auszeichnung, Heilige[m] und Teuflische[m]«.50 Und auch die Schilderungen der Forschungsexpeditionen – von Charles Marie de la Condamines Südamerikareise (173570), über die Reisen James Cooks (und der der Forsters) in den Südpazifik (1763-75), Bougainvilles Weltreise, Humboldts Südamerikaexpedition bis zu den Reisen Darwins und den Fahrten von Wallace nach Amazonien und ins malaiische Archipel (1848-52) – geraten zu »oft tragischen, manchmal idyllischen, stets aber sehr farbenprächtigen […] Heldenepen«, die »zutiefst das Bild der Welt prägen, das uns die Literatur« des 18./19. Jahrhunderts »malen wird«.51 Ein Bild, das allerdings seinerseits europäischen VorBildern gehorcht.
46 Jean Delumeau: Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts, Reinbek: Rowohlt 1989 [Orig. Paris 1978], S. 61f. 47 Alain Corbin: Meereslust. Das Abendland und die Entdeckung der Küste, Berlin: Wagenbach 1990 [Orig. Paris 1988], S. 13f. 48 Vgl. ebd., S. 15. 49 Ebd., S. 309f. 50 Christian Kiening: Das wilde Subjekt. Kleine Poetik der neuen Welt, Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 2006, S. 217f. 51 Jean-Marc Drouin: »Von Linné zu Darwin: Die Forschungsreisen der Naturhistoriker«, in: Michel Serres (Hg.), Elemente einer Geschichte der Wissenschaften, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1998 [Orig. Paris 1989], S. 569-595; hier: S. 575f.
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Marcus Termeer »The real subject«, schreibt William J. Thomas Mitchell, »is not the South Pacific but European imperial ›vision‹, understood as a dialectical movement toward landscape understood as the naturalistic representation of nature.«52 Gerade die Landschaften des Südpazifik erscheinen den Forschern zwischen 1760 und 1840 als vorgeschichtliche Refugien im ›Naturzustand‹, womit sie zur tabula rasa für europäische Kolonial-Phantasien werden, zu Orten, an denen sich per Wahrnehmung augenblicklich europäische Landschaftskonventionen entfalten, die ihrerseits als ›entdeckte‹, ›erforschte‹ ›reale Natur‹ aufgefasst werden.53 Diese Natur als (romantische und/oder wissenschaftliche) Darstellerin ihrer selbst verlangt als tabula rasa zugleich nach ›Zivilisierung‹. Sie scheint somit maßgeschneidert für imperialistische Diskurse.54 Landschaften, so Mitchell, sind Instrumente kultureller Machtpraktiken, Medien der Naturalisierung von Konventionen und Konventionalisierung der Natur, (selbst eigentlich wertlose) Medien, um Werte auszudrücken; damit von ihrer semiotischen Struktur dem Geld bei Marx verwandt.55 Inseln, muss man ergänzen, nehmen hierbei eine besondere Stellung ein. Inseln markieren einen fest umgrenzten Raum, verweisen aber stets auch ins Grenzenlose – sie liegen im entgrenzten Raum. Bereits Urs Bitterli hat darauf hingewiesen: das Bild der Insel oszilliert, vor allem zwischen »Überschaubarkeit und Entrücktheit«.56 In der Frühzeit der europäischen Seefahrt, so Bitterli, wird zwischen Inseln und dem Festland deutlich strikter differenziert als in der Moderne. In den Karten des 15. Jahrhunderts z. B. oft durch andere Farben. Bis ins 18. Jahrhundert gibt es in Italien, vor allem in Venedig, Insularien, also reine Insel-Seekarten. Und in den Verträgen zwischen Regenten und Seefahrern wird explizit zwischen Festland und Inseln unterschieden, das oder die es zu entdecken gelte.57 Inseln sind wegen ihrer relativen Überschaubarkeit ebenso relativ schnell erfassbar, was Form, topographische Struktur, Fauna und Flora, menschliche Besiedlung usw. angeht. Sobald man sie entdeckt hat. Denn bis zur Entwicklung des Marine-Chronometers 1740 ist es kaum möglich, »die Lage der Inseln inmitten des Meeres zu bestimmen«,58 inmitten der Grenzenlosigkeit. Solange die Erd52 53 54 55 56
W. J. T. Mitchell: Imperial Landscape, S. 19. Vgl. ebd., S. 18. Vgl. ebd., S. 17f. Vgl. ebd., S. 14f. Urs Bitterli: »Die exotische Insel«, in: T. Koebner/G. Pickerodt (Hg.), Die andere Welt, S. 11-30, hier: S. 15. 57 Vgl. ebd., S. 12f. 58 Ebd., S. 13.
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Von lieblichen Orten und Habitatinseln karte noch reich an ›weißen Flecken‹ ist, gehören Inseln in den Welten des Unentdeckten sozusagen zum besonders Unentdeckten. Aber, so Sigrid Weigel: »Das ›Unentdeckte‹ enthält schon im Begriff das Ziel der Entdeckung, zur Vorstellung wird es überhaupt erst über deren Antizipation. Zugleich ist es rätselhaft und Ort für die eigenen Projektionen, für die Wünsche und Ängste, die im Begriff vom entdeckten, akzeptierten Territorium oder Selbst keinen Platz haben.«59
Bei Weigel klingt etwas an, das Michel Foucault explizit als »[a]ndere Räume«60 bezeichnet, Heterotopien zu Wasser und zu Land. Die Insel, so Kiening, ist »traditionsgemäß« der gängigste »Typus der Heterotopie«.61 Allerdings braucht es eine weitere Heterotopie, um diese zu erreichen. Foucault selbst hat das Schiff als »Heterotopie schlechthin« bezeichnet, als »schaukelndes Stück Raum«, als »Ort ohne Ort«, völlig »in sich selbst geschlossen« und zugleich in der »Unendlichkeit des Meeres«.62 Heterotopien, so Foucault, setzen stets »ein System von Öffnungen und Schließungen voraus, das sie gleichzeitig isoliert und durchdringlich macht«.63 Und Heterotopien können »mehrere Räume, mehrere Platzierungen«,64 die sich eigentlich ausschließen, an einem Ort zusammenlegen oder übereinander lagern.65 Beides trifft auf Inseln zu, ebenso aber auf Gärten aller Art. Und so erwähnt Foucault (unter Verweis auf den antiken persischen Lustgarten) den Garten als wohl älteste Heterotopie »mit widersprüchlichen Platzierungen«.66 Gärten seit dem frühen Mittelalter sind Bilder dritter Ordnung. Ihr Vor-Bild, dessen Reetablierung ›auf Erden‹ sie anstreben sollen, ist das biblische Paradies. Das wiederum hat zum Vor-Bild den erwähnten altpersischen Herrschafts-Garten (pairidaêza). Abschließend werde ich also zu den isolierten Naturräumen des Festlandes kommen.
59 S. Weigel: Die nahe Fremde, S. 175. 60 Michel Foucault: »Andere Räume«, in: Karlheinz Barck/Peter Gente/Stefan Richter u. a. (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute, oder: Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig: Reclam 1991, S. 34-46, hier: S. 34. 61 Ch. Kiening: Das wilde Subjekt, S. 202. 62 M. Foucault: Andere Räume, S. 46. 63 Ebd., S. 44. 64 Ebd., S. 42. 65 Vgl. ebd. 66 Ebd.
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Marcus Termeer
Die Isolation der Natur zum ›Garten‹ Hortus conclusus: Es gibt keine Gärten ohne Mauern; und seien sie virtuell wie überraschende unsichtbare Wassergräben in den vorgeblichen Entgrenzungen von Landschaftsgärten. Etymologisch geht »Garten« als umfriedeter Platz zurück auf das indogermanische ghordo: Flechtwerk, Zaun, Hürde. Das lateinische hortus ist auch mit Kohorte verwandt. In den slawischen Sprachen zeigt sich die Verbindung zu Festung, Burg, Stadt: russ. górod, pl. Grod, tsch. rhad.67 Im Garteninnern wird die Natur zur Darstellerin ihrer selbst, nicht nur – wie in der ›freien Landschaft‹ – per Wahrnehmung, sondern auch durch bewusste bildnerische Gestaltung. Im Innern herrscht Entmischung. Die geometrischen Rekonstruktionen der Natur im Absolutismus bieten Konstruktionen beherrschten Wassers (Fontänen, Brunnen) und beherrschter Wald-Phänomene (Boskett, Berceau, Lauben, Labyrinthe). Natur ist so nicht mehr Wildnis als das Andere, sondern beherrschtes Eigenes in Form des geometrischen Paradieses. Der Landschaftsgarten wiederum entsteht Anfang des 18. Jahrhunderts explizit als Bildraum. Seine Vor-Bilder sind spätbarocke Bühnenbilder, besonders aber die Landschaftsmalerei, hier vor allem Claude Lorrains Ideallandschaften. Hortus conclusus: Der verschlossene, ummauerte Blumengarten ist ein Prototyp: Er steht für ›unberührte Jungfräulichkeit‹ – im Hohelied Salomo 4,12 ist die Braut »ein verschlossener Garten, ein versiegelter Quell«, in dem sich der Bräutigam ergehen will. In der benediktinischen Marien-Minne ist die Jungfrau Maria als Überwinderin des Bösen der ›verschlossene Garten und sein Brunnen‹; unbefleckte Empfängnis.68 Unzählige Bilder zeigen Maria im Rosenhag, christliche Version des locus amoenus. Der ›liebliche Ort‹ wird seit der Antike als ›weiblicher Körper‹ imaginiert. Auch im Landschaftsgarten: Alexander Pope postuliert die Natur »als bescheidne Schöne« und Hermann Pückler-Muskau will sie »wie eine Geliebte besitzen, sich ihre Schönheit aneignen, sie unter seinen Willen beugen«.69
67 Vgl. Ursula Frühe: Das Paradies ein Garten – der Garten ein Paradies. Studien zur Literatur des Mittelalters unter Berücksichtigung der bildenden Kunst und Architektur, Frankfurt/Main u. a.: Lang 2002, S. 11f. 68 Vgl. Gerlinde Volland: »›O du grünende Lebenskraft …‹. Frauen und Gärten in Mittelalter und früher Neuzeit«, in: Kuhn, Annette/Lundt, Bea (Hg.), Lustgarten und Dämonenpein. Konzepte von Weiblichkeit in Mittelalter und früher Neuzeit, Dortmund: edition ebersbach 1997, S. 154-185, hier: S. 180. 69 Zitiert nach M. Termeer: Verkörperungen des Waldes, S. 601.
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Von lieblichen Orten und Habitatinseln Gärten lassen sich also als Räume einer historisch veränderlichen Körper-Politik untersuchen. Die ›äußere Natur‹ erscheint darin als weiblicher Körper, der wiederum als Bild erscheint. Im Barock, sagt Hartmut Böhme, ist der »Körper ein Produkt numerischen Kalküls, und diese äußerste Artifizierung setzt die männliche Lust frei«. Die »barocke Erotik funktioniert so, dass der ›natürliche Körper‹ nichts ›bedeutet‹, sondern nur der Träger eines ornamental-rhetorischen Kleides ist«.70 Wie in der Mode, so auch im Garten: Bei der imitation de la nature nach Maßgaben des bon goût muss die Kunst, die Gewalt der Axt bei der Material-Bändigung stets sichtbar sein. Im Landschaftsgarten, dessen inszenierte Sprengung des barocken Zwangs-Korsetts eigentlich eine Verlegung des Korsetts nach innen, ein Verbergen des Zwangs ist, bleibt es beim Bild-Sein, die Axt bleibt das wichtigste Instrument, aber sie darf nicht sichtbar sein. Bei Lancelot Capability Browns corriger la nature oder PücklerMuskaus »idealisierte[r] Natur«71 arbeitet der Gartenschöpfer wie ein heutiger Schönheitschirurg, der die weibliche Körperoberfläche ›nach seinem Bilde‹ gestaltet.72 Dies zu einer Zeit, in der ›Paradiese‹ in der ›Neuen Welt‹ entdeckt werden. Nicht von ungefähr prägt Alexander von Humboldt den protoökologischen Begriff des »Totaleindrucks« von Landschaft um 1800. Der Begriff hat neben Gemälden den Landschaftsgarten zum Vorbild.73 Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert ist das Gartenkonzept verlängert ins Naturschutzgebiet. Auch Naturschutzgebiete erscheinen als ›umfriedete‹ Inseln innerhalb der Landschaft. Sie markieren ein paradoxes Umschlagen: In einer komplett geordneten Natur, einer taxonomierten, decodierten und dezimierten Flora und Fauna, soll nun eine auch nostalgisch ›entdeckte‹ bürgerliche ›Genusslandschaft‹ vor der urbanisierten, industrialisierten bürgerlichen ›Konsumlandschaft‹ geschützt werden.74 Als gesteigerte Form dieses Prinzips erscheint die biogeographische »Inseltheorie«. Entwickelt wird sie 1963 von Robert H. Mac-
70 Hartmut Böhme: »Erotische Anatomie. Körperfragmentierung als ästhetisches Verfahren in Renaissance und Barock«, in: Claudia Benthien/Christoph Wulf (Hg.), Körperteile. Eine kulturelle Anatomie, Reinbek: Rowohlt 2001, S. 228-253; hier: S. 242. 71 Zitiert nach M. Termeer: Verkörperungen des Waldes. 72 Vgl. M. Termeer: Verkörperungen des Waldes. 73 Vgl. ebd., S. 198f. 74 Vgl. Marcus Termeer: »Natur unter Kontrolle – Landschaften als Bilder dritter Ordnung«, in: Lorenz Engell/Joseph Vogl/Bernhard Siegert (Hg.), Stadt, Land, Fluss. Medienlandschaften. Archiv für Mediengeschichte 2007, Weimar: Verlag der Bauhaus-Universität 2007, S. 171-179, hier: S. 173.
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Marcus Termeer Arthur und Edward O. Wilson zunächst für Meeresinseln.75 In der Ökologie wird sie seitdem auf terrestrische »Habitatinseln«76 übertragen. Analog zu den Beschreibungen maritimer Inseln werden so Auswirkungen von Landschaftsverinselungen diskutiert: Dabei geht es um »Flächeneffekte« (Schrumpfen der Biotope und Ausdehnung der lebensfeindlichen Umwelt), »Barriereeffekte« (Straßen, Kanäle, Bahntrassen und intensive Bewirtschaftung be- oder verhindern die Mobilität zwischen den Biotopen) und »Randzoneneffekte« (die Grenzen »zwischen Nutz- und Schutzflächen« werden schärfer),77 um »Trittstein-Effekt[e]« (Mini-Inseln fungieren als Etappen auf dem Weg zum nächsten größeren Biotop) und »Arten-Areal-Beziehung[en]« (je kleiner die Biotopfläche ist, desto weniger Arten weist sie auf).78 Diskutiert wird also, ob und wie relativ kleine und vereinzelte »Habitatinseln« innerhalb »der strukturellen Lebensfeindlichkeit«79 großflächiger Agrarsteppen, innerhalb von Forst-Monokulturen und von entgrenzten Industrie- und Verkehrslandschaften überleben können.80 Die lebensfeindlichen Umwelten der »Habitatinseln« übernehmen die Rolle des Meeres, während die neuere Artenschutzstrategie der Biotopverbünde81 sozusagen Archipele schaffen soll. Im Diskurs der Biogeographie schlägt das Bild des Meeres um. Das Entgrenzte wird zur eigentlichen, strikten Grenze: Die Beschäftigung mit der ›unendlichen‹ Weite und Tiefe des Ozeans, mit seinen gefährlichen Strömungen und Wellengängen führen zur Frage: Wie konnte die auf den Inseln vorhandene Fauna und Flora dies überwinden? Und damit schließt sich ein Kreis. Jean-Marc Drouin verweist darauf, dass in Darwins Origin of Species der starke Einfluss der Biogeographie nachweisbar ist, gehe es doch immer wieder um Fragen von »Isolierung, Hindernissen und Wanderungen« bei der »Verbreitung von Floren und Faunen«.82 Grundsätzlich bedeutet Isolation von Natur in der bisherigen Geschichte eine umfangreiche Stillstellung. Stillgestellt werden die Zeit, ›Werden und Vergehen‹ – real in Gärten und Parks, imaginär auf den paradiesischen Inseln seit dem 18. Jahrhundert. Verhindert werden unkontrollierte Eigenregungen, Amorphisierungen, Vermischungen der Elemente. Der mit zunehmender Beherrschung, Kolonisierung von Natur einhergehende Schutz von naturnahen Bio75 Vgl. Eckhard Jedicke: Biotopverbund. Grundlagen und Maßnahmen einer neuen Naturschutzstrategie, Stuttgart: Verlag Eugen Ulmer 1994, S. 51. 76 Ebd., S. 54. 77 Ebd. 78 Ebd., S. 51. 79 Ebd., S. 57. 80 Vgl. ebd., S. 59f. 81 Vgl. ebd., S. 243f. 82 J.-M. Drouin: Von Linné zu Darwin, S. 570.
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Von lieblichen Orten und Habitatinseln topen ist da eigentlich nur eine vermeintliche Aufhebung. Gleiches gilt für die totale Isolation des erwünschten Biotops, die »[t]otale Kolonisierung«83 von Natur in Glashäusern, praktiziert seit dem 16. Jahrhundert an der Schnittstelle von Wissenschaft und Herrschaft. Seit dem 19. Jahrhundert wird die maschinelle »Steuerung natürlicher Prozesse« in Glashäusern stetig verbessert. Die »Vision der totalen Domestizierung«84 und Kontrolle lässt dann die vermeintliche Aufhebung strenger Entmischung und Ordnung zu. Seit 1850 wird zunehmend die künstliche und malerische Schaffung »natürlicher Unordnung«85 gefordert – ›Urwald‹ mit (harmlosen) Tieren, aber auch Menschen. ›Wildnis‹ als Illusion in automatischen Gärten. Hier, mit den Glaswänden, in denen Innen- und Außenraum ineinander übergehen, ist dann auch die Gleichzeitigkeit von verschlossen und offen, innen und außen komplettiert. Heutige Perfektionierungen lassen diese Heterotopie zur Hyperrealität werden. Die vor Jahren eingestellte Biosphere 2 in den USA oder das »Öko-Display«86 Burgers Bush in Arnheim sollen ganz im Sinne der biokybernetischen Logik der »Artificial Life-Forschung« als »komplexe, nichtlineare, chaotische Systeme«87 einer »adaptive[n] Steuerung«88 unterliegen. Und sie inszenieren vorgeblich Evolution. Es wird »ein künstlicher, ›fertiger‹ Zustand hergestellt, der sich dann ›natürlich‹ weiterentwickeln« soll.89 Von »echten Nahrungsketten« und einer guten Fortpflanzung selbst bei »schwierige[n]« Tierarten ist die Rede.90 Vorbild Computer: Pflanzen und Tiere erscheinen ›real‹ als Schnittstellen lebenserhaltender Rechner. Der DisplayBegriff verweist dann auch semantisch auf eine Natur als begehbarer ›Bildschirm‹. Und die virtuell-aktuelle sinnliche Erfahrung des ›Dschungels‹ unter Glas hat für den Besucher meist keinen realen Dschungel als Vorbild, sondern andere Bildschirme, besonders Computerspiele wie Biosys (1998). Simulierte »geschlossene Naturräume«, in denen sich Spieler in »Echtzeit« bewegen und »im Bildraum« aufgehen.91 Auch hier gibt es komplett animierte Ökosysteme
83 Verena Winiwarter: »Vom Glashaus zu Biosphere 2. Überlegungen zu totalen Kolonisierung von Natur«, in: Andreas Dix/Ernst Langthaler (Hg.), Grüne Revolutionen. Agrarsysteme und Umwelt im 19. und 20. Jahrhundert. Jahrbuch für Geschichte des ländlichen Raumes 2006, Innsbruck: Studien Verlag 2006, S. 199-215, hier: S. 201. 84 Ebd., S. 204. 85 Ebd. 86 Zitiert nach M. Termeer: Natur unter Kontrolle, S. 175. 87 V. Winiwarter: Vom Glashaus zur Biosphäre, S. 210. 88 Ebd. 89 Ebd., S. 211. 90 Zitiert nach M. Termeer: Natur unter Kontrolle, S. 177. 91 Zitiert nach ebd., S. 176.
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Marcus Termeer (mit Pflanzen, die wachsen, fruchten, sterben) unter einer riesigen Glaskuppel. Sie müssen technokratisch-ökologisch gemanagt, geschützt werden. Am Ende holen sich die Heterotopien Insel und Garten selbst ein: Die real existierende ›Wildnis‹ wird zu ihrer bloßen Möglichkeit: simuliert und stets gefahrlos konsumierbar. Tiere und Pflanzen werden gemäß ihres Codes gruppiert und ›entfaltet‹ und existieren als Module.92
92 Vgl. ebd., S. 176f.
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Inseln und Inselräume. Kontingenz in Grimmelshausens und Dürers Schelmenromanen JAN MOHR I. Die Insel hat in der europäischen Erzählliteratur erst mit Beginn der Neuzeit Konjunktur – so könnte man mit Blick auf die narrativen Texte des Mittelalters zuspitzen. Allzu viele Inseln gibt es da nicht, etwa das Feenreich, in dem Lanzelot aufwächst, den einsamen Fels im Meer, auf dem Gregorius Buße tut oder die Inseln im Weltmeer, das Brandan der Legende nach zu durchkreuzen hat, um die Wunder Gottes zu sehen und aufzuschreiben. Vor allem aber scheinen diesen Inseln die Qualitäten zu fehlen, die man aus moderner Sicht Inseln zuzuschreiben geneigt ist. Das Irland in Gottfrieds Tristan ist nicht als Insel gekennzeichnet, ebenso wenig wie Brünhilds Reich im Nibelungenlied (von Bedeutung ist lediglich, dass man ein Gewässer als ›Jenseitsschwelle‹ überqueren muss, um dorthin zu gelangen); und Herzog Ernst, der zum Kreuzzug ins Heilige Land aufbricht, wird von einem unbekannten Strand an den nächsten verschlagen – ohne dass die fremden Gestade (mit Ausnahme des Magnetbergs) als Inseln markiert wären.1 Um den Befund analytisch fruchtbar zu machen, bietet es sich an, zu unterscheiden zwischen Inseln als topographischen Orten einer narrativ entfalteten Welt und der semantischen Besetzung dieser erzählten Teilräume. In Anlehnung an das kultursemiotische Modell Jurij M. Lotmans könnte man letztere mit ›Topologie‹ bezeichnen.2
1
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Vgl. zu Inseldarstellungen in mittelalterlichen Erzähltexten im Überblick Horst Brunner: Die poetische Insel. Inseln und Inselvorstellungen in der deutschen Literatur, Stuttgart: Metzler 1967, S. 30-56. Vgl. Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte, München: Fink 1972. Die jüngeren Diskussionen zum ›spatial‹, ›topographical‹ bzw. ›topological turn‹ knüpfen an Lotmans Überlegungen zur räumlichen Codierung kultureller Semantiken nur punktuell an; vgl. etwa Stephan Günzel (Hg.): Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften,
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Jan Mohr Inseln sind räumlich klar umgrenzt und isoliert von einem (Festland) oder mehreren homologen Elementen (Nachbarinseln); aus dieser Topographie ließen sich (nach modernem Verständnis, das in jüngster Zeit seinerseits wiederum in Frage gestellt wird) semantische Kriterien ableiten, die die ›Raumordnung‹ von erzählten Inseln beträfen und die eine topologische Kategorie ›Insularität‹ ausmachen könnten: etwa Isolation, Begrenztheit, Überschaubarkeit, Peripherie.3 In eben dieser Weise sind aber in den Erzähltexten des Mittelalters keineswegs nur topographische Inseln markiert. Im Gegenteil ist ›Insularität‹ der Tendenz nach ubiquitär: Horst Brunner führt eine ganze Reihe von Orten an, die topologische Merkmale von Inseln tragen, ohne welche zu sein.4 Mittelalterliche Texte entwerfen ihre Räume für den modernen Rezipienten stets inselhaft, wie vor allem Peter Czerwinski betont hat: Aus ihren Raumangaben erwachse kein Kontinuum, Teilräume blieben blockhaft-aggregativ aneinandergereiht, ohne dass sich daraus in der Abstraktion eine übergeordnete Systematik rekonstruieren ließe; entsprechend erfolge die Vermittlung zwischen solchen Teilräumen im Modus des
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Bielefeld: transcript 2007; Jörg Döring/Tristan Thielmann (Hg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld: transcript 2008; Hartmut Böhme (Hg.): Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext, Stuttgart: Metzler 2005. In der Erzählforschung wird gelegentlich differenziert zwischen den topologischen Oppositionen, nach denen erzählte Räume organisiert sind, deren Konkretisierung in der topographischen Gestaltung und den mit der Topologie korrelierten nicht-topologischen semantischen Gegensatzpaaren (Matias Martinez/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, München: Beck 72007, S. 140f.). In der Sache ergibt diese genauere Auffächerung keinen analytischen Mehrwert; Lotman selbst ist an einer strikten Trennung zwischen topographischen (›Berg‹ – ›Tal‹) und topologischen (›hoch‹ – ›tief‹) Oppositionen nicht sonderlich interessiert. Dass eine methodisch saubere Trennung zwischen topologischen und nichttopologischen Termen überdies nicht immer möglich ist, deutet sich am folgenden Beispiel zu ›Insel‹ und ›Insularität‹ an. Vgl. Christian Moser: »Archipele der Erinnerung: Die Insel als Topos der Kulturalisation«, in: H. Böhme (Hg.), Topographien der Literatur, S. 408432, bes. S. 408-413. Vgl. H. Brunner: Die poetische Insel, S. 55. Es ist vielleicht bezeichnend für die mittelalterliche Konstitution von Räumen, dass Brunner dabei an einer Stelle (S. 53) von der topologischen Besetzung einer Wildnis auf ihre Topographie rückschließt, wo der überlieferte Text keine eindeutigen Aussagen macht: Der unwirtliche Küstenraum, an den im mittelhochdeutschen Epos Kudrun der Knabe Hagen von einem Greifen verschleppt wird, ist, anders als Brunner schreibt, nicht ausdrücklich als Insel bezeichnet (Kudrun 55113). Für die im Text entwickelten Ordnungen ist das Meer als ›Jenseitsschwelle‹ ausreichend.
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Inseln und Inselräume Sprungs.5 Das mag im Zusammenhang damit stehen, dass mittelalterliches Erzählen von den erzähltechnischen ›Möglichkeiten einer Insel‹ verhältnismäßig selten Gebrauch macht. Noch einmal, etwas fahrlässig zugespitzt: Das Mittelalter hatte Inseln nicht nötig. Dass in »den Kosmographien, den Reiseberichten, den Romanen« der Frühen Neuzeit Inseln »wie Pilze aus dem Boden«6 schießen, mag zunächst ganz trivial mit den großen Expeditionen nach Amerika und in den Indischen Ozean zusammenhängen; mit dem vermehrten Wissen über die Erde verändern sich zugleich aber auch Konzepte und Imaginationen von Inseln. Im Stile eines ›grand récit‹ ließe sich erzählen, wie sich allmählich das uns vertrautere Konzept des ›systematischen Raums‹ gegen das vormoderne des ›Aggregatraums‹ durchsetzt. Diese Entwicklung läuft freilich nicht linear ab, sie ist nicht nur von Verzögerungen und gegenläufigen Bewegungen geprägt, sie ist insbesondere auch von den Traditionsbildungen literarischer Gattungen abhängig und lässt Gleichzeitigkeiten von Ungleichzeitigem beobachten. So ist in vielen jüngeren Erzähltexten ein unabgestimmtes Nebeneinander von solchen ›aggregativen‹ und dem modernen Leser vertrauteren, systematisch organisierten Räumen zu beobachten. In der Frühneuzeitforschung wurde bei der Untersuchung von historischen Raumkonzepten und narrativen Konstruktionen von Räumen der Begriff ›Inselraum‹ vorgeschlagen. Er bezeichnet einen textuell entfalteten Raum, in dem die benannten und beschriebenen Teilräume durch unmarkierte Bereiche getrennt sind, die außerhalb der Aufmerksamkeit liegen bzw. irrelevant sind. Ein solches Raumkonzept wurde etwa an den sogenannten Kaufmannsromanen nachgewiesen, etwa am Fortunatus (1509) oder Georg Wickrams Von guten und bösen Nachbarn (1556), die beide daneben zugleich auch präzise und ›realistische‹ Vorstellungen von der Geographie
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Peter Czerwinski: Gegenwärtigkeit. Simultane Räume und zyklische Zeiten, Formen von Regeneration und Genealogie im Mittelalter, München: Fink 1993, S. 58f., 88f., u. ö. – Einwände in der lebhaft geführten Debatte zu Czerwinskis Arbeit betreffen weniger deren Beobachtungen als vielmehr Präsentation, geschichtsphilosophischen Überbau und die Behauptung einer ontologisch fundierten Alterität mittelalterlicher Literatur; vgl. stellvertretend Peter Strohschneider: »Die Zeichen der Mediävistik. Ein Diskussionsbeitrag zum Mittelalterentwurf in Peter Czerwinskis Gegenwärtigkeit«, in: IASL 20, 2 (1995), S. 173-191. Zur narrativen Raumkonstruktion im Mittelalter vgl. jetzt im Überblick Uta Störmer-Caysa: Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen. Raum und Zeit im höfischen Roman, Berlin u. a.: De Gruyter 2007, besonders S. 34-76. Christian Kiening: Das wilde Subjekt. Kleine Poetik der Neuen Welt, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, S. 217.
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Jan Mohr Europas, der Lage von Städten und ihren Distanzen zueinander entwickeln.7 Beispiele für ›Inselräume‹ liefert auch der europäische Schelmenroman. Die in episodischer Reihung organisierten Erzählungen folgen in vielerlei Hinsicht älteren Erzählmustern, wie sie etwa in Facetien- oder Schwanksammlungen greifbar werden. Dabei wird eine Welt erzählerisch entfaltet, deren Geographie bei allen konkreten, scheinbar ›realistischen‹ Ortsangaben in vielem noch derjenigen mittelalterlicher Erzähltexte ähnelt, und die Bewegungen des Helden erfolgen – nicht immer, aber signifikant oft – weniger prozessual als eben sprunghaft. ›Insularität‹ im genannten Sinne ist aber nicht nur an den im Schelmenroman entworfenen Räumen zu beobachten, sondern auch das seriell-episodische Erzählen selbst ließe sich mit der Metapher vom ›Insularen‹ illustrieren. Gemeint ist damit, dass die Beschreibung der Entwicklung eines Zustands in einen anderen, mithin Erzählen, vor allem innerhalb klar umrissener Episoden – die häufig dem basalen Schwankschema von List und Gegenlist folgen – geleistet wird, dass diese Episoden aber eigentümlich unverbunden aneinandergereiht präsentiert werden, ohne dass sich dabei ein eigentliches Erzählkontinuum entwickelte. Diese Überlegungen sollen im Folgenden an zwei Beispielen entwickelt werden, und zwar den zwei ersten Schelmenromanen der deutschen Literatur, die nicht Übersetzungen romanischer Vorlagen darstellen: Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch (1668) mit seiner ersten Fortsetzung, der Continuatio des abentheurlichen Simplicissimi (1669), und der Roman Lauf der Welt und Spiel des Glücks (1668) des Hamburger Theologen Hieronymus Dürer. In beiden Texten gehen spezifische Konzepte von Insularität mit einem Erzählen einher, in dem thematisch das Spannungsfeld von Providenz und Kontingenz verhandelt wird. Diesem Konnex wird im Folgenden nachzugehen sein. Im Simplicissimus scheint vordergründig der kontingenten Welt mit einer Insel – also einem topographisch exponierten Ort – auch ein topologisch herausgehobener Raum entgegengesetzt zu werden – eine Opposition, die jedoch in komplexer Weise unterlaufen wird. Mit Blick auf Dürers Roman verschiebt sich die Analyseperspektive. In ihm spielen Inseln kaum eine Rolle, der entfaltete Raum kann jedoch in weiten Teilen als ›Inselraum‹ im oben genannten Sinne beschrieben werden. Und weitergehend ist zu zeigen, dass nicht nur die von Dürer entworfene Welt zu insel-
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Vgl. Bernhard Jahn: Raumkonzepte in der Frühen Neuzeit. Zur Konstruktion von Wirklichkeit in Pilgerberichten, Amerikareisebeschreibungen und Prosaerzählungen, Frankfurt/Main u. a.: Peter Lang 1993. Im Kern benennt Jahn damit das Gleiche wie Czerwinski.
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Inseln und Inselräume hafter Ausgliederung tendiert, sondern auch der Modus ihrer Darstellung, also das Erzählen selbst. Man wird beide Texte kaum als ›klassische‹ Schelmenromane bezeichnen dürfen, denn der Simplicissimus übernimmt ebenso wie der Lauf der Welt Motive aus der Tradition des höfisch-heroischen Abenteuerromans.8 Sie folgen aber, wie der europäische Schelmenroman ganz überwiegend, einem narrativen Muster, wonach die Geschichte von einem homodiegetischen Ich-Erzähler in der Rückschau erzählt wird. Konstitutiv ist damit eine Aufspaltung in erzählendes und erzähltes, nämlich erlebendes Ich. Indem das erzählende Ich Rechenschaft über seinen Werdegang ablegt, spannt seine Geschichte prinzipiell einen syntagmatischen Bogen. Im Lazarillo de Tormes (1554), dem Gründungstext der europäischen Pícaro-Tradition, erzählt die Titelfigur ihr Leben, weil sie auf eine Anfrage durch eine nicht näher benannte Persönlichkeit (›Euer Gnaden‹) reagieren muss. Dabei versucht Lazarillo zu erklären, wie er zu dem wurde, der er ist, und wie er in die Lebensumstände kam, in denen er sich befindet. In der Rückschau kann er als Syntagma darstellen, was er im Moment des Erlebens selbst nur als Abfolge von Episoden wahrnehmen konnte. Mit einem der folgenden spanischen Pícaro-Romane, Mateo Alemáns Guzmán de Alfarache (1599-1604), verschiebt sich das, was bei Klein Lazarus ein Rechenschaftsbericht war, hin zur Lebensbeichte eines geläuterten Sünders. Es ist dieses Muster, dem auch Grimmelshausens Simplicissimus und Dürers Lauf der Welt folgen. Die Forschung hat bisher durchweg das autobiographische Moment dieses Erzählmodells privilegiert.9 Teilweise ist man sogar so weit gegangen, im seine Vita darbietenden Ich die Geburt »des modernen Romans überhaupt«10 zu sehen, in dem »Grundprobleme des neuzeitlichen Menschen«11 artikuliert würden. Solche weit reichenden Thesen sind hier nicht zu diskutieren; ein Blick auf das narrative Profil der ausgewählten Texte kann aber immerhin Hin-
Zum Lauf der Welt vgl. Jürgen Mayer: Mischformen barocker Erzählkunst zwischen pikareskem und höfisch-historischem Roman, München: Fink 1970, S. 17-42; zum Simplicissimus zuletzt Rosemarie Zeller: »Verhängnis und Fortuna als Konstruktionsprinzipien des hohen und des niederen Romans. Zur Position des Simplicissimus Teutsch im Gattungssystem des Romans«, in: Simpliciana 29 (2007), S. 177-192. 9 Vgl. die insgesamt sehr konzisen Überlegungen bei Matthias Bauer: Im Fuchsbau der Geschichten. Anatomie des Schelmenromans, Stuttgart: Metzler 1993; dems., Der Schelmenroman, Stuttgart: Metzler 1994, und zuletzt bei Hans Gerd Rötzer: Der europäische Schelmenroman, Stuttgart: Reclam 2009. 10 M. Bauer: Der Schelmenroman, S. 1. 11 Christoph Ehland/Robert Fajen: »Einleitung«, in: dies. (Hg.), Das Paradigma des Pikaresken, Heidelberg: Winter 2007, S. 11-21, hier: S. 13.
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Jan Mohr weise auf ihre Belastbarkeit geben. Denn die Doppelung in erlebendes und erzählendes Ich eröffnet – schon im Lazarillo – den Raum für Ambivalenzen. Ansatzpunkt der folgenden Überlegungen ist die Hypothese, dass ein seriell-episodisches Erzählen die Stabilität des autobiographischen Ich eher zu gefährden und dass eine Verdoppelung der Wahrnehmungsperspektive die Etablierung stabiler Geltungshierarchien gerade zu unterlaufen vermag. Hinzu kommen bei Dürer das nicht-sytematisch organisierte Aggregat des ›Inselraums‹ und ein Erzählmodus, der oben angedeutet wurde und im Folgenden näher zu beschreiben ist. Mit Blick auf den Erzählprozess selbst könnten sich in der Abfolge relativ abgeschlossener Episoden Wahrnehmungen anbieten, die in der Rückschau des erzählenden Ich, also vom Erzählganzen her, marginal erscheinen. Und von hier aus deutet sich vielleicht ein heuristisches Potential für eine ins Narratologische gewendete Kategorie ›Insularität‹ an.
II. Im Zentrum der folgenden Überlegungen steht zunächst Grimmelshausens Continuatio des abentheurlichen Simplicissimi. Ihre erste Partie wird von Simplicius selbst von einer einsamen Insel aus erzählt, an der er gestrandet ist. Auf den ersten Blick scheint diese dem dominanten Muster abendländischer Inselkonzeptionen zu entsprechen: etwa der Erwartung, die literarische Insel sei als isolierter Raum im ›Draußen‹ konzipiert und biete so Gelegenheit, eine Gegenwelt zu entwerfen, oder aber: als begrenzter, überschaubarer Raum bilde die Insel ein dankbares Objekt abendländischer Kolonisierungsphantasmen.12 Isoliert freilich ist die Insel, auf der Simplicius’ Fahrten enden, zudem fruchtbar und frei von natürlichen Gefahren. Auf ihr findet der Held auch, was ihm sein ganzes Leben über verwehrt geblieben ist: einen Ort der Ruhe nämlich. Es genügen einige Stichworte zu Simplicius’ Geschichte: Sein Weg vom ahnungslosen Tölpel, der vom abgeschiedenen elterlichen Hof unversehens in die Wirren des Dreißigjährigen Krieges versetzt wird, zum Hofnarren und ›Hanauer Kalb‹ auf- bzw. absteigt, unter die Landstreicher kommt und als ›Jäger von Soest‹ zu Ruhm und Erfolg gelangt, Pilger wird und sich schließlich von der Welt abwendet – dieser Weg also ist von einem stetigen Auf und Ab geprägt. Keine Sprosse der Erfolgsleiter und kein Ort scheint über den kurzen Moment hinaus Sicherheit zu bieten. Wohin es als nächstes mit einem geht, das ist unabsehbar; die Welt, in der sich Simplicius zu behaupten lernt, steht im Zeichen der Fortuna, sie ist kontingent.
12 Vgl. Ch. Moser: Archipele der Erinnerung.
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Inseln und Inselräume Als ›Jäger von Soest‹, auf dem Höhepunkt seines äußeren Erfolges, sinniert Simplicius – also nicht erst der in der Rückschau erzählende Gestrandete – über diese Wechselfälle: »So wunderlich ist das Glück / und so veränderlich ist die Zeit! Kurtz zuvor tribulierten mich die Läus / und jetzt habe ich den Flöhe-Gott in meinem Gewalt; vor einem halben Jahr dienete ich einem schlechten Dragoner vor einen Jungen; nunmehro aber vermochte ich zween Knecht / die mich Herr hiessen; es war noch kein Jahr vergangen / daß mir die Buben nachlieffen / mich zur Hur zu machen / jetzt wars an dem / daß die Mägdlein selbst auß Liebe sich gegen mir vernarrten: Also wurde ich bey Zeiten gewahr / daß nichts beständigers in der Welt ist / als die Unbeständigkeit selbsten.« (ST 224)13
Der Continuatio dann ist ein Mottogedicht vorangestellt, das den gleichen Gedanken als verallgemeinernde Regel formuliert und ihn mit der höheren Autorität des paratextuell beigegebenen Vorsatzes versieht: »O wunderbares thun! O unbeständigs stehen Wann einer wähnt er steh / so muß er fürter gehen / O schlüpfferigster Standt! dem vor vermeinte Ruh Schnell und zugleich der Fall sich nähert zu Gleich wie der Todt selbst thut; was solch hin flüchtig Wesen Mir habe zugefügt / wird hierinnen gelesen; Worauß zusehen ist daß Unbeständigkeit Allein beständig sey / immer in Freud und Leid.« (ST 467)
In der Welt von Grimmelshausens Simplicianischen Schriften entgeht den Wechselfällen der Fortuna nur, wer sich aus der Welt zurückzuziehen vermag, und den prominentesten Rückzugsort stellt dabei zweifellos die einsame Insel dar, auf die es Simplicius zum Ende der Continuatio mit einem Kameraden verschlägt. Diese »Creutz Jnsul« (ST 573), so benannt nach drei Kreuzen, die er dort errichtet, reiht sich – auch wenn die Passage mit skeptischem Unterton verfasst ist14 – ein in die Tradition der neuzeitlichen Utopien,15 zugleich bietet die Insel-Episode eine Robinsonade avant la 13 Ich zitiere aus Simplicissimus und Continuatio unter Angabe der Sigle ST und Seitenzahl nach der Ausgabe: Der Abentheurliche Simplicissimus Teutsch und Continuatio des abentheurlichen Simplicissimi. 2., durchgesehene und erweiterte Auflage, hg. von Rolf Tarot, Tübingen: Niemeyer 1984. 14 Vgl. etwa Dieter Breuer: »Grimmelshausens Inselutopie«, in: Simpliciana 29 (2007), S. 193-205; Götz Müller: Gegenwelten. Die Utopie in der deutschen Literatur, Stuttgart: Metzler 1989, S. 61-63. 15 Vgl. etwa Horst Albert Glaser: Utopische Inseln. Beiträge zu ihrer Geschichte und Theorie, Frankfurt/Main u. a.: Peter Lang 1996, sowie die Beiträge
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Jan Mohr lettre. Und ähnlich wie später bei Defoe, stellt sich schließlich die Geschichte der Inbesitznahme des Eilands durch Simplicius als veritables Modell von Kulturstiftung dar.16 Utopischer Lebensentwurf und Robinsonade – von den motivgeschichtlichen Traditionsvorgaben her könnte man erwarten, dass die Kreuzinsel als ein Gegenraum in Szene gesetzt wird (tatsächlich hat es anfangs auch den Anschein, als läge sie ›u-topisch‹, nämlich außerhalb des bekannten Raums). Im weiteren Verlauf der Erzählung aber wird diese Markierung abgebaut. Ambivalent wird der Status der Insel vor allem durch den Umstand, dass sie im Abstand von fünfzehn Jahren zweimal, wenn man so will, ›entdeckt‹ wird. Die ersten Entdecker sind Simplicius und sein Kamerad, der Zimmermann Simon Meron, die nach einem Schiffbruch dort an Land getrieben werden; bei Tagesanbruch erweist sich das Land als fruchtbar, ja als »Schlauraffenland« (ST 555) und »Irrdisch Paradeiß« (ST 572). In der folgenden Zeit bringen die beiden Feuer auf die Insel, errichten eine Hütte und bauen Werkzeuge. Sie legen Salinen und ein Fischbecken an, töpfern sich Geschirr, kreieren einen Brotersatz und nähen sich neue Kleider. Der Zimmermann findet sogar einen Weg, aus den Palmen Wein zu gewinnen – und säuft sich in kurzer Zeit zu Tode. Nach anderthalb Jahren ist damit die Konstellation des einsamen Robinson erreicht, der auf seiner Insel fromm wird und dessen Leben in gottesfürchtiger Naturbetrachtung ein utopisches Lebensmodell abgibt, für das in der Welt des Simplicissimus Teutsch sonst kein Ort denkbar ist.17 Im Nirgendwo des Indischen Ozeans scheint Simplicius nunmehr einen Ort der Ruhe gefunden zu haben. Zum vorläufigen Ende seines Berichts nähern sich die Zeiten von erlebendem und erzählendem Ich an, der Einsiedler hat schreibend die eigene Gegenwart erreicht und kann folgerichtig sein Buch abschließen. Sein weiteres Leben würde damit außerhalb jeder dokumentierten Zeit stattfinden.
in: Wilhelm Voßkamp (Hg.): Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, Stuttgart: Metzler 1982, Bd. 2. 16 Vgl. Peter Strohschneider: »Kultur und Text. Drei Kapitel zur Continuatio des abentheuerlichen Simplicissimi, mit systematischen Zwischenstücken«, in: Kathrin Stegbauer/Herfried Vögel/Michael Waltenberger (Hg.), Kulturwissenschaftliche Frühneuzeitforschung. Beiträge zur Identität der Germanistik, Berlin: Schmidt 2004, S. 91-130. 17 Schon zwei Mal zuvor, und vielleicht nicht zufällig die Romanhandlung rahmend, hatte Simplicius auf eine Existenz als Einsiedler gebaut, war aber unfreiwillig wieder in die Welt hinausgetrieben worden: am Anfang des ersten Buchs nach dem Tod jenes Einsiedlers, der den im Wald verirrten Knaben aufgenommen und ihm eine rudimentäre Erziehung vermittelt hatte, und nach der Sauerbrunnen-Episode am Ende des fünften Buchs.
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Inseln und Inselräume Diesem Ende aber schließt sich ein weiterer Bericht an: derjenige des Jean Cornelissen, eines holländischen Seefahrers, der bei der Insel vor Anker geht, um die Besatzung mit Proviant zu versorgen und die Kranken zu pflegen. In seiner »Relation« (ST 570) relativiert sich zunächst der anfängliche Eindruck, die Kreuzinsel liege außerhalb der bekannten Welt – tatsächlich ist dieser Teil des Ozeans durchaus kartographiert, nur ist die Insel auf den Karten nicht erfasst (vgl. ST 571). Und noch in anderer Hinsicht wird die Insel ambivalent: Für die holländische Mannschaft stellt sie sich wesentlich ungastlicher und unheimlicher dar als zuvor für Simplicius und Simon Meron, obwohl sie sich nicht mehr in einem Status reiner Natur befindet, sondern bereits halb kultiviertes Land ist. Die ungebildete Schiffsmannschaft, die »von keiner Discretion nichts weiß« (ST 577), nutzt den Reichtum der Insel nicht für sich, die Seeleute marodieren und drohen, alles kurz und klein zu schlagen. Die Höhle, in die sich Simplicius vor ihnen zurückzieht, können sie nicht erkunden, ja sie verirren sich hoffnungslos in ihr. Und ein großer Teil der Mannschaft wird in kürzester Zeit wahnsinnig: »da stund einer mit ploßem Degen vor einem Baum / fochte mit demselbigen und gab vor / er hätte den allergrösten Risen zubestreiten; [...] hie sasse einer auff einem Wasser-Faß [...] gab demselben die Sporen und wolte es wie ein Pferdt tumlen; dort fischte einer auff trucknem Land mit der Angel / und zeigte den andern was ihm für Fische anbeissen würden.« (ST 574f.)
Die Betroffenen haben von Früchten gegessen, deren Fruchtfleisch wahnsinnig macht, deren Kerne aber, wenn sie gegessen werden, die Krankheit heilen können. Ein vom Einsiedler an dem entsprechenden Baum angebrachter Zettel hätte die Holländer warnen können, aber seine Inschriften – Simplicius hat die gesamte Insel mit frommen Inschriften übersät – sind für die Neuankömmlinge nur »lauter rätherisch und dunckele Oracula« (ST 573). Diese Szene ist auf die biblische Hülle-Kern-Metaphorik bezogen worden, die schon am Anfang der Continuatio (ST 473) prominent gemacht ist, und hat dementsprechend vor allem poetologische Deutungen erfahren.18 Was als Allegorese-Allegorie unproblematisch erscheint, gibt auf der Ebene der Handlungslogik allerdings zu Irritationen Anlass. Denn der Text erzählt nicht, wie zuvor Simplicius selbst von der schlimmen und der heilenden Kraft der Frucht 18 Vgl. v. a. Hubert Gersch: Geheimpoetik. Die Continuatio des abenteurlichen Simplicissimi interpretiert als Grimmelshausens verschlüsselter Kommentar zu seinem Roman, Tübingen: Niemeyer 1973, S. 135-146, mit weiteren Hinweisen; zur Hülle-Kern-Metaphorik allgemein Hans-Jörg Spitz: Die Metaphorik des geistigen Schriftsinns. Ein Beitrag zur allegorischen Bibelauslegung des ersten christlichen Jahrtausends, München: Fink 1972, S. 61-67.
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Jan Mohr erfahren hatte.19 Man mag das seinem überlegenen Verstand zuschreiben; festzuhalten bleibt dennoch, dass zwei Anfänge einer Inbesitznahme der Insel, wenn man so will: einer Kolonisierung des Fremden, erzählt werden, deren einer erfolgreich verläuft, deren anderer aber im Wahnsinn unterzugehen droht. Dass das »Paradeiß« (ST 572) der Insel kein ungefährdetes ist, erleben Simplicius und sein Kamerad bereits am Tag nach ihrer Landung. Denn gleich nach ihnen wird eine bewusstlose Frau an Land gespült, hinter der sich der Teufel verbirgt. Sie weckt im Zimmermann den Plan, Simplicius umzubringen und mit ihr eine Kolonie zu gründen, und löst sich erst unter Gestank in Luft auf, als Simplicius gewohnheitsmäßig über dem Abendessen das Kreuzzeichen schlägt. Die Insel ist also offen auch für providente Einbrüche, man muss sich auf ihr bewähren wie überall auf Erden,20 was dem Zimmermann nicht gelingt. Der utopische Lebensentwurf, den die Romanfortsetzung mit der Insel-Episode anbietet, hat aber nicht nur die moralische Integrität und intellektuelle Überlegenheit des Simplicius zur Voraussetzung, sondern sie ist auch an kontingente Umstände gekoppelt. Auf komplexe Weise miteinander verschränkt, sorgen nämlich göttliche Vorsehung und blinder Zufall dafür, dass Simplicius auf die Insel gelangt.21 Sie kann nicht umstandslos als providenter Ort gelesen werden, wie entschieden auch der erzählende Simplicius ihr im Rückblick diesen Status zuschreibt. Sie ist ja nur die unbeabsichtigte Endstation einer Schiffsreise, die den Pilgerort Santiago de Compostela zum Ziel hatte, wobei schon dieses Ziel für den »Wallbruder« (ST 509) nur eine Notlösung darstellt. Er nimmt freilich »diese weite und gefährliche Raiß umb soviel desto begieriger vor / weil die verwichne auff dem Mittelländischen Meer so glücklich abgangen« (ST 550). So besonders »glücklich abgangen« war diese erste Reise indes nicht: nur knapp hat Simplicius sie überhaupt in Freiheit überstanden. Sie hat Jerusalem zum Ziel und nimmt ihren Ausgang in Genua. Von dort geht es, ohne Zwischenfälle, »welches ich vor ein gut Omen hielte« (ST 545), zunächst nach Alexandrien. Dann aber ist der Landweg in die heilige Stadt wegen eines Krieges versperrt. Deshalb wendet sich der Pilger nach Kairo, wo er sich durchschlägt, indem er Orts19 Ebenso könnte man fragen, warum der in der Höhle Verborgene den Grund für den Wahnsinn der Holländer sogleich richtig einschätzen kann (ST 577), andererseits aber noch unmittelbar zuvor die Eindringlinge mit Verweis auf die »Früchte deß Landts« (ST 576) um Frieden gebeten hatte – ein gefährlicher Rat, wie er doch weiß. 20 Vgl. D. Breuer: Grimmelshausens Inselutopie. 21 Ch. Kiening: Das wilde Subjekt, greift hier m. E. zu kurz, wenn er »im scheinbar Kontingenten die göttliche Providenz [sich] bemerkbar« machen sieht.
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Inseln und Inselräume unkundige zu den Pyramiden führt. Dabei wird er von arabischen Räubern entführt und, weil er mit langem Bart und wirren Haaren ohnehin schon exotisch auf sie wirkt, entkleidet und als angeblicher ›Wilder Mann‹ aus der Wüste auf den Märkten rund um das Rote Meer zur Schau gestellt. Nach Monaten schließlich kann sich Simplicius einer Gruppe von Europäern bemerklich machen und wird aus den Händen der Räuber befreit. Nach dieser Odyssee erst und mit einem Teil des Geldes, das seine Entführer mit ihm eingenommen hatten, macht sich Simplicius nach Santiago de Compostela auf (der Weg nach Jerusalem ist nach wie vor unpassierbar). Die Schiffsreise von Genua aus, »in GOttes Nahmen« (ST 545) begonnen, führt ihn in einer Verkettung kontingenter Umstände aus den Koordinaten des christlichen Abendlandes hinaus und »von der seiten Africæ in das weite Meer gegen Terram Australem incognitam« (ST 551). Indes ist die Reise nicht von vornherein dem Regiment der Fortuna unterworfen, vielmehr scheint an ihrem Anfang doch wieder die Vorsehung Gottes zu stehen. Denn Simplicius’ Entschluss, »auß einem Wald: ein Wallbruder oder Pilger zuwerden« (ST 509), wird ausgelöst durch die Lektüre der AlexiusLegende in einer Sammlung von Heiligenviten. Bezeichnend ist wiederum, wie der gelangweilte Einsiedler zu gerade dieser Lektüre kommt: »Das Leben deß heiligen Alexij kam mir im ersten Grif unter die Augen / als ich das Buch auffschlug [...]« (ST 508). In diesem vom reinen Zufall bestimmten Blättern, dessen Ergebnis dann aber eine unhinterfragbare Handlungsrelevanz enthält, spiegelt sich der alte Brauch des ›Däumelns‹ oder Bibelstechens wieder, bei dem im ›Bibelorakel‹ dem kontingenten Ergebnis ein providenter Sinn unterstellt wird.22 Insofern wären Simplicius’ Pilger- und Irrfahrten von zwei Ereignissen gerahmt, in denen man das Wirken göttlicher Vorsehung sehen könnte: Aufforderung zu gottgefälligem Pilgerdasein und wundersame Rettung aus dem Sturm. So eingerahmt, wären die Wechselfälle unterwegs als Teil des göttlichen Heilsplans zu deuten. Und doch auch wieder nicht: Was Simplicius aus der frommen Erzählung vom römischen Patrizier Alexius, der sich auf Pilgerfahrt begibt, viele Jahre später zurückkehrt und bis zu seinem Tod siebzehn Jahre unerkannt unter einer Treppe des elterlichen Hauses zubringt – was also Simplicius aus dieser Erzählung für sich ableitet, ist zumindest eigenwillig.23
22 Vgl. Hanns Bächtold-Stäubli (Hg.): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. 1, Sp. 1215ff. (Art. »Bibel«); Bd. 5, Sp. 1373ff. (Art. »Los, losen«). 23 Vgl. P. Strohschneider: Kultur und Text, S. 124-126.
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Jan Mohr Die Kreuzinsel ist weder ein utopischer Ort in dem Sinne, dass sie außerhalb von Raum und Zeit liegen würde, noch ist sie im übertragenen Sinne als Gegenraum entworfen, als Ort der Ruhe und Providenz, der den Wirren des Draußen ohne Brüche gegenübergestellt werden könnte. Schließlich bietet sie auch kein bruchloses Modell erfolgreicher Kulturstiftung. Sie nimmt in Grimmelshausens Simplicianischem Zyklus eine narrativ exponierte Stellung ein, insofern sie den Ort der Ruhe abgibt, der Simplicius’ Rückblick in frommer Zerknirschung und sein Erzählen allererst ermöglicht; ein topologisch exklusiver Rang der Kreuzinsel, der dieses Erzählen-Können plausibel machte, ist zwar in des Einsiedlers eigener Darstellung behauptet, erweist sich aber schon in dieser selbst und nicht erst im flankierenden Bericht des Holländers als brüchig.
III. Die Geschichte von Dürers Lauf der Welt und Spiel des Glücks ähnelt mit ihrer in episodischer Reihung gegebenen abenteuerlichen Handlung inhaltlich und der poetischen Faktur nach im Prinzip dem Simplicissimus. Der Roman erzählt die Geschichte des Tychander (ein sprechender Name: Glücks- oder Schicksals- oder eben: FortunaMensch) von seiner Jugend bis zu dem Zeitpunkt, da er die Sinnlosigkeit und Eitelkeit der Welt erkannt und sich aus ihr zurückgezogen hat. Die Handlung setzt in dem Moment ein, als Tychander ins Studentenleben eintritt. Mit einem luxuriösen Lebensstil und diversen Liebesaffären verschleudert er das elterliche Geld und wandert vorübergehend in den Schuldturm, aus dem er aber überraschend wieder ausgelöst wird; er schlägt sich nach Paris durch, findet aber dort keine Anstellung, wird Bettler und Blindenführer. Ihm wird von Gespenstern der Weg zu einem Schatz gewiesen, und mit neuem Kapital ausgestattet, kann er sich als Landsknecht in Frankreich und in der Schweiz verdingen. Wieder aber verprasst er sein Geld, nach einem missglückten Raubüberfall muss er schließlich fliehen. Im dichten Wald trifft er auf eine schöne verfolgte Frau namens Liebmunde, die beiden werden ein Liebespaar, werden aber dann vom Verlobten der Liebmunde verfolgt und aufgespürt. Die Schwangere erleidet vor Aufregung eine Fehlgeburt und stirbt selbst dabei. Tychander, obwohl am Verschwinden der Liebmunde wie an ihrer Schwangerschaft unschuldig, ist so verstört, dass er bei der gerichtlichen Befragung alle Antworten schuldig bleibt. Zum Tode verurteilt, wird er vom Schafott weg begnadigt. Der Schauplatz der folgenden Handlungen ist der Orient: Tychander versucht sein Glück bei der Ostindischen Companie, erleidet
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Inseln und Inselräume aber vor Mosambique Schiffbruch, wird von Eingeborenen versklavt und von einem abessinischen Händler erworben. Er steigt zum Lieblingsdiener des Erbprinzen von Abessinien auf, wird in einem Bürgerkrieg Heerführer und zweiter Mann im Reich, verliebt sich aber just in jene Prinzessin, die als Staatsfeindin gesucht wird. Er organisiert einen Aufstand und wird selbst Herrscher, verhält sich dabei aber ebenso despotisch wie alle Tyrannen vor ihm, wird gestürzt und muss anschließend außer Landes fliehen. Er wird verraten, versklavt und verkauft, befreit und wieder gefangengenommen. Diese Umschläge folgen einander in einer stetig sich steigernden Frequenz, bis Tychander einmal über Bord geworfen und erst im letzten Moment von zwei Fischern gerettet wird. Dabei – und erst dabei – überkommt ihn die Reue über seinen Lebensweg, er wendet sich von der Welt ab und Gott zu, und von dieser nunmehr sicheren Warte des contemptus mundi aus beginnt er, seine Geschichte zu erzählen. Man sieht: Die dargestellte Welt in Dürers Roman ist von ebenso kontingenten Wendungen bestimmt wie diejenige bei Grimmelshausen. Sie ist es insofern sogar noch mehr, als bei Dürer die Unbeständigkeit zum Programm erklärt wird und die Lektüre seines Berichts den Leser zu frommer Weltabkehr bewegen soll. In diesem Sinne kann Tychander sein Erzählen nicht nur mit lehrhafter Absicht, sondern auch mit einem Überbietungsgestus begründen: »Ich weis gar wohl den unverhoften fall des reichen Königes Crœsus; den erbärmlichen untergang des Großen Pompejens; das blutige ende des unüberwindlichen Cœsars [!]; den elenden tod des in allen dingen glücklichen Polykratens: Aber dies alle mit einander haben nur etwan einmahl oder zum höchsten zweymahl in ihrer lebens-comœdie (oder soll ich Tragœdie sagen?) die scenen verändert: ich aber viel öfter.« (LW 2)24
Wenn der geläuterte Tychander mit seiner Erzählung den Leser von allzu großer Weltlust abbringen will, ist aber die Episodizität des Erzählten funktional auf die syntagmatische Rahmung bezogen. Es liegt ganz auf der Linie seines Programms, wenn in der Darstellung des erzählenden Ich das Walten der Fortuna mit ihren Wechselfällen »die scenen verändert« und die Handlung in eine Parataxe in sich abgeschlossener Episoden zergliedert, wenn entsprechend das erzählte Ich sein Leben als Abfolge kontingenter Umschwünge wahrnimmt.
24 Hieronymus Dürer: Lauf der Welt und Spiel des Glücks. Zum Spiegel Menschliches Lebens vorgestellet in der Wunderwürdigen Lebensbeschreibung des Tychanders, Hamburg: Christian Guht 1668 (ND Hildesheim u. a. 1984). Nachweise im Folgenden im Fließtext unter Angabe der Sigle LW und der Seitenzahl.
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Jan Mohr Dem Leser gegenüber verweigert der Roman in seiner derart programmatisch überwölbten Episodizität paradoxerweise Orientierung und Absehbarkeit, obwohl Kontingenz per se erwartbar wird. Die Erzählung von Tychanders Leben führt in keiner Weise notwendig auf ein Ende zu, die Reihe der Ereignisse wäre beliebig erweiterbar. Erzähllogisch scheint das Ende der Geschichte alles in allem ganz unmotiviert. Dass der Held zuletzt, wie in der Forschung argumentiert wird, im Angesicht des Todes zu Gott finde,25 trifft gerade nicht zu, denn in Lebensgefahr hatte Tychander im Verlauf der Geschichte schon mehrmals geschwebt, und er erlebt noch weitere Widerfahrnisse (die freilich nur angedeutet, nicht auserzählt werden). Dass er sich von der Welt abkehrt und der Roman endet, erfolgt ganz unvermittelt: »Ich unterlaße nun anzuführen die wunderlichen fälle / so sich nach diesem ferner mit mir zugetragen / und strenge vielmehr / meine feder an einmahl zum ende solcher erzehlung zu eilen. Nur dieses eintzige will ich noch sagen / daß weil ich nun endlich nach so vielen Sinn- und glückes-wexel die Unbeständigkeit des Glücks / die Ungewisheit Menschlicher Hoffnung / die Betriegligkeit unsrer Anschläge / und die Eitelkeit aller Irdischen Dinge genug und zum öfftern erfahren / und nun wohl sahe daß auf der welt Nichtes beständig als die Unbeständigkeit / und keine wahre ruhe in einigem zeitlichen Gute zu finden: da kam ich erstlich zum erkäntnis und bereute meine thorheit [...]«. (LW 414; die Hervorhebungen hier und im Folgenden im Original).
Das abrupte Ende macht auch deutlich, dass das Prinzip episodischer Reihung sich der Konstruktion des Textes nach nicht nur inhaltlich, also von der Verfasstheit der erzählten Welt her begründet, sondern dass es im Modus von Tychanders Erzählen noch forciert wird. Episodizität im Roman Lauf der Welt ist nicht nur Effekt dessen, was dem Helden zustößt, sondern resultiert auch aus des Helden Erzählungen eben darüber. Die im Text entworfene Welt ließe sich als Inselraum bezeichnen, in dem sich die einzelnen Stationen nicht zu einem Kontinuum zusammenfügen und Bewegungen sprunghaft erfolgen. Als am Anfang des Romans erzählt wird, wie sich Tychander von seinem Heimatort in die namenlose Studentenstadt aufmacht, erscheint die Beschreibung der Reise buchstäblich
25 So Peter Heßelmann: »Picaro und Fortuna. Zur narrativen Technik in Hieronymus Dürers Lauf der Welt Und Spiel des Glücks und Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch«, in: Simpliciana 29 (2007), S. 101-118, hier: S. 105. Dagegen betonte zuletzt Hans Gerd Rötzer das Unvermittelte von Tychanders »bußfertige[r] Erleuchtung« (G. Rötzer: Der europäische Schelmenroman, S. 105).
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Inseln und Inselräume im Wimpernschlag zwischen Abreise und Ankunft ausgeblendet: »Ich reiste fort / gelangte an [...]« (LW 6f.).26 Dass auch der Ablauf der Ereignisse einem gleichen Modus von Diskontinuität unterworfen ist, kann ein kurzer Vergleich mit dem Simplicissimus verdeutlichen (weniger allerdings mit der Continuatio, die »ohne den gewohnten Erzählfluß der übrigen [simplicianischen, J. M.] Schriften«27 konstruiert ist). Dort gibt es Rahmungen, etwa wenn Prophezeiungen ausgesprochen werden, die sich später in überraschender Weise erfüllen, oder indem sich Figuren nach langer Zeit wiederbegegnen. Eine beinahe den ganzen Roman umschließende Klammer bildet Simplicius’ Verhältnis zu jenem Einsiedler, der sich zuletzt als sein leiblicher Vater entpuppt. Bei aller Episodizität des Romans schaffen solche Rückbezüge syntagmatische Verklammerungen, die über die Grundkonstruktion der Lebensbeichte hinaus Zusammenhänge stiften und in der erzählten Welt Kontinuitäten schaffen. Die ungeordnete episodische Abfolge von Ereignissen, mit denen der heranwachsende Simplicius konfrontiert wird, erweist sich in der Rückschau als – wenn auch nicht lückenlos – sinnvoll.28 Dürers Text dagegen hat ein ausgesprochen kurzes Gedächtnis: Wenn eine Episode abgeschlossen ist, dann wird sie und werden die jeweiligen Gegenspieler Tychanders in aller Regel nicht mehr erwähnt, ja sie interessieren schon das erlebende Ich nicht mehr. Dazu nur ein illustratives Beispiel: In einer der Orient-Episoden befindet sich Tychander – man möchte sagen: wieder einmal – in Sklaverei und kann mit Hilfe der Tochter seines Herren fliehen, die sich in ihn verliebt hat. Das Mädchen namens Ulama nun ist hässlich, dumm und reich. Und so schmiedet Tychander, kaum dass sie sich auf einem Schiff und in Sicherheit befinden, ein Komplott mit dem Kapitän, um die lästige Frau loszuwerden und an ihren auf die Flucht mitgenommenen Besitz zu gelangen. Dazu behauptet man, dass auf einer nahegelegenen Insel ein Baum stehe, von dem aus man die Engel singen hören könne. Natürlich wird Ulama neugierig; man setzt also über und führt die Frau zum höchsten Baum. Sie klettert hinauf, und dann soll sie die Augen schließen, um die Engel besser hören zu können: 26 Vgl. zur hier sich abzeichnenden Ökonomie der Zeit bei Dürer Ansgar M. Cordie: Raum und Zeit des Vaganten. Formen der Weltaneignung im deutschen Schelmenroman des 17. Jahrhunderts, Berlin, New York: De Gruyter 2001, S. 208-211. 27 Dieter Breuer: Grimmelshausen-Handbuch, München: Fink 1999, S. 74. 28 R. Zeller: Verhängnis und Fortuna, erkennt im Simplicissimus ein narratives Muster aus der Tradition des höfisch-heroischen Romans: Die Helden haben sich in scheinbar kontingenten Wechselfällen zu bewähren, bevor diese als Organ des Verhängnisses (fatum) zu erkennen sind.
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Jan Mohr »Solches thate diese unsehlige närrin / hatte solches aber so bald nicht verrichtet / als wir heimlich davon wischten / uns wieder in unser schiff begaben und unsern angefangenen weg verfolgten / ließen die Ulama unterdessen lange genug auf der eiche die engel singen höhren / von welcher wie es ihr weiter ergangen / ich nachmahls nichts vernommen habe.« (LW 408)29
Und damit ist Ulama aus der Geschichte ausgeschieden, ebenso schnell, wie auch die Figuren, die Tychander aus dem Schuldturm oder vom Schafott erretten. Schablonenhaft und dabei diskontinuierlich ist auch die Hauptfigur gezeichnet. Dass Tychander sich mit der Zeit Fähigkeiten erwirbt, die ihm später zugutekommen, entspräche den Erwartungen eines modernen Lesers. Entsprechende Hinweise gibt der Text aber auch da nicht, wo sie handlungslogisch zu erwarten wären. Seinen Aufstieg zum Lieblingssklaven und Vertrauten des Kronprinzen von Abessinien begründet Tychander im Rückblick unter anderem mit seiner Kunst zu schmeicheln. Die Differenz, die er dabei aufmacht, ist aber keine, die auf seiner individuellen Vita beruhte, sondern eine kulturelle, die mit einem Klischee vom unverfälschten Wilden spielt (LW 291f.). Ähnlich die Erklärung zu seinem Erfolg während des abessinischen Bürgerkriegs. Da kann unser Held seine Fähigkeiten in der Kriegsführung ausspielen, er weiß die vorhandenen Kanonen besser zu bedienen und versteht sich aufs Minieren. Dass er sich diese Fähigkeiten in seiner Zeit als Landsknecht erworben hat, ist zu vermuten, wird aber, wenn überhaupt, nur ganz knapp angedeutet. Der weitgehende Verzicht auf Rückverweise da, wo sie handlungslogisch erwartbar wären, verstärkt den Eindruck episodischer Reihung. Dadurch und durch die jähen Umschwünge zwischen den einzelnen Episoden bestätigt sich auch im Erzählen selbst die These von der universellen Kontingenz, die das Erzähler-Ich dem Ganzen vorangestellt hat. Insofern das Handlungskontinuum der histoire in Dürers Roman in einer Darstellung entworfen wird, die zwischen den einzelnen Stationen mehr oder weniger ausgedehnte Bereiche von Unbestimmtheit oder Unmarkiertheit bestehen lässt, könnte
29 Es erstaunt beinahe, wie glatt Tychander mit seiner wenig glaubhaften Geschichte die – wenn auch dumme – Ulama zu übertölpeln vermag; doch auch in dieser Episode kann er seine Pläne nicht ohne unvorhergesehene Zwischenfälle verwirklichen, denn kurz nach dem Schelmenstück wird er von Kapitän und Schiffsmannschaft selbst über Bord geworfen. Die Insel, zwar topographisch exponiert, ist kein topologisch herausgehobener Raum, sondern ebenfalls dem überall waltenden Prinzip kontingenter Wechselfälle unterworfen.
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Inseln und Inselräume man beim Lauf der Welt in Anlehnung an das Wort vom ›Inselraum‹ von einem ›inselhaften Erzählen‹ sprechen.
IV. So exotisch die Schauplätze der Handlung im Lauf der Welt werden, so stereotyp bleibt ihre semantische Besetzung. Alle Orte stehen Tychander bei seiner wechselhaften Karriere offen, ohne dass dabei besondere Hindernisse zu überwinden wären: Studentenstadt wie Söldnerlager, Paris wie der Orient, die heiligen Städte der Christenheit ebenso wie Kairo oder der abessinische Königspalast. In topologischer Hinsicht unterscheiden sie sich nicht; sie alle unterstehen dem Prinzip der Fortuna, erlauben zwar List, Kalkül und Planungen, die jedoch jederzeit von Unvorhergesehenem zunichte gemacht werden können. Als ein anders markierter Raum ist der kontingenten Welt einzig jener Ort gegenübergestellt, von dem aus Tychander erzählt: »Hier aber liege ich gantz sicher und scheue keine gefahr; kein toben der Welt / kein wüten des teuffels darf ich hier fürchten: ich verlache das sausen des windes; ich verspotte das rauschen der wellen. Hier stehe ich am ufer und sehe die gefährligkeit der annoch herum irrenden / und wünsche von hertzen / daß sie auch diesen port ereilen möchten.« (LW 5)
Das »ufer«, der »port«, auch »hafen« (LW 4) oder gar »selige[…] anfurt« (ebd.) – der isolierte Inselraum, der als das Andere bei Grimmelshausen topographisch ausgestaltet wird, ist bei Dürer ins Innere des Helden verlegt, ist zur Haltung der Weltabkehr (»Verschmähung der Welt«, ebd.) geworden. Sie erst ermöglicht, vergleichbar der Kreuzinsel auf der Schwelle zwischen bekannter und unbekannter Weltgegend, jene Distanznahme, aus der heraus sich die Wandelbarkeit der Welt erzählen und bewerten lässt.30 Auch in diesen ›Ort‹ ist aber die Ambivalenz eingeschrieben, die an Simplicius’ Kreuzinsel zu beobachten war. Denn der geläuterte Tychander hat nur zu gut erkannt, dass ein Ruhepunkt »auf der welt nicht zu finden« ist; und so »verließ’ ich dieselbige / nicht mit dem leibe / doch mit gedancken / und richtete mein höchstes verlangen / mein gantzes hertze nach dem Himmel« (LW 415). Der vermeintliche archimedische Punkt kann damit aber im Diesseits 30 Nicola Kaminski hat nachgezeichnet, wie die Orte der Erzählinstanzen im Simplicianischen Zyklus stets unverfügbar gehalten werden (»Narrator absconditus oder Der Ich-Erzähler als ›verschwundener Kerl‹. Von der erzählten Utopie zu utopischer Autorschaft in Grimmelshausens Simplicianischen Schrifften«, in: DVjs 74, (2000), S. 367-394).
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Jan Mohr immer nur ein vorläufiger sein, wie der Erzähler schon eingangs einfließen lässt: »Ja hier warte ich nun noch mit sehnlichem verlangen des gewünschten windes / mit welchem ich meinen ancker noch einmahl leichten und die anfurt des wahren Vaterlandes erreichen kan« (LW 5). Ein Ort endgültiger Ruhe kann erst im Jenseits erreicht werden, deshalb steht noch Tychanders Erzählen selbst unter dem Verdacht der Unzuverlässigkeit. So ist es beinahe folgerichtig, wenn bei Grimmelshausen der Held seine Insel in den folgenden Simplicianischen Schriften wieder verlassen wird. Das Postulat einer providenten Enklave erweist sich als trügerisch, und damit auch alles Erzählte und alle Bewertungen, Deutungen, Einordnungen der Erzählinstanzen. Seine Setzung, die handlungslogisch gar nicht einzulösen ist (wie sollte aus dem Jenseits erzählt werden?), legt nur den Finger auf die Wunde der Erfahrung universeller Kontingenz. Seit der christlichen Spätantike wird Kontingenz nicht nur als bedrohlich empfunden, vor allem steht sie dem Versprechen einer sinnvollen, gottgestifteten Weltordnung entgegen. In den Konzepten der Frühen Neuzeit wird sie dem Prinzip der göttlichen Providenz unterstellt und ihre Zumutung so mit Blick auf das eigentlich entscheidende Jenseits eingehegt. Die Wechselfälle des Lebens müssen als Teil der Absichten Gottes erkannt werden, in die sich der Gläubige zu schicken hat.31 Entscheidend, so die neostoizistische Akzentuierung, sei Gleichmut, vor dem dann die Frage nach Kontingenz oder Providenz ihre Relevanz verliert.32 An Grimmelshausens und Dürers Romanen lassen sich die Brüche ablesen, die noch solche Konzepte hinterließen. Die vom Syntagma eines Lebens(entwurfs) überwölbte Episodizität der SchelmenVita ebenso wie die Setzung eines ›anderen‹, sicheren Orts am Rande der kontingenten Welt lassen sich als Momente einer kulturellen Bearbeitung interpretieren, in der Unabgestimmtheiten im Diskurs
31 Zu Fortuna-Konzepten der Frühen Neuzeit vgl. die einschlägigen Beiträge in Walter Haug/Burghart Wachinger (Hg.), Fortuna, Tübingen: Niemeyer 1995, und schon Gottfried Kirchner: Fortuna in Dichtung und Emblematik des Barock. Tradition und Bedeutungswandel eines Motivs, Stuttgart: Metzler 1970; zum frühneuzeitlichen Roman Werner Fricke: Providenz und Kontingenz. Untersuchungen zur Schicksalssemantik im deutschen und europäischen Roman des 17. und 18. Jahrhunderts, Tübingen: Niemeyer 1988; Rudolf Behrens: Umstrittene Theodizee, erzählte Kontingenz. Die Krise teleologischer Weltdeutung und der französische Roman (16701770), Tübingen: Niemeyer 1994. Zum Begriff ›Kontingenz‹ grundlegend: Gerhard von Graevenitz/Odo Marquard (Hg.): Kontingenz, München: Fink 1998. 32 Vgl. Wilfried Barner: »Die gezähmte Fortuna. Stoizistische Modelle nach 1600«, in: W. Haug/B. Wachinger, Fortuna, S. 311-341.
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Inseln und Inselräume über Providenz und Kontingenz in die Irrelevanz verschoben werden. Dass die Markierung eines scheinbar providenten Raums dann auf verschiedene Weise wieder ausgestrichen wird, dass (v. a. bei Dürer) sich nicht nur der erzählte Lebenslauf, sondern noch dessen narrative Entfaltung selbst als diskontinuierlich erweist, ist deren Kehrseite.
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Inseln wie wir. Insularität im Blickpunkt zeitgenössischer karibischer Migrationsliteratur DANIEL GRAZIADEI Inseln sind zwar seit jeher ein »verlockender Untersuchungsgegenstand«,1 doch trifft dies auch auf eine philologische Betrachtung zu? Der vorliegende Beitrag soll eine klare Bejahung dieser Frage darstellen, wenngleich die Betrachtung lebensweltlicher Inseln bloß eine Koordinate literaturwissenschaftlicher Insularität bildet. In einer ersten Lektüre ist die vorliegende textuelle Insularität immer eine papierene Insel. Beruht diese mediumgebundene Erfindung zwar zum einen auf Erfahrung und lässt sie sich zum anderen erfahren,2 so sollten wir dennoch in der Lage sein, der Versuchung einer Ortung von literarischen3 Inseln im mundus sensibilis4 zu widerstehen um stattdessen »Ceci n’est pas une île!«5 zu rufen. 1
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»In der Wissenschaft der Biogeographie ist die Insel die erste Einheit, die man verstandesmäßig auszuwählen und dann zu begreifen vermag.« Robert Mac Arthur/Edward Wilson: Biogeographie der Inseln, München: Goldmann 1971 [1967], S. 11; vgl. auch: Gillian Beer: »Discourses of the Island«, in: Frederick Amrine (Hg.), Literature and Science as Modes of Expression, London u. a.: Kluwer Academic Publishers 1989, S. 1-27. Was die ›Erfindung‹ betrifft, so gilt es auf der kreativen Seite neben dem Werk und seinen intermedialen Verweisen auch die Inszenierung des Autors in der medialen Öffentlichkeit, auf der rezeptiven Seite die reproduzierten und memorisierten Stereotypen des Fremden (Tourismuswerbung etc.) oder aber des Eigenen (Mythos Nation etc.) zu bedenken. »Literaturen werden als vernetzte Räume mit eigenen Kartographien verstanden. Hierbei kommen andere Theorien, Kategorien und Vorstellungen ins Spiel als bei temporalen Modellen«. Hartmut Böhme: »Einleitung: Raum – Bewegung – Topographie«, in: ders. (Hg.), Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext, Stuttgart: Metzler 2005, S. IX. »Wahrnehmungsästhetisch bleiben wir stets geozentrisch, denn das heißt, im mundus sensibilis leben.« ebd., S. XVI. In Anlehnung an den metamedialen Verweis in La trahison des images von René Magritte. Das 59 x 65 cm große Ölbild von 1929 bildet eine Tabaks-
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Ablegesteg der nun folgenden Forschungsfahrt zu den neueren papierenen Inseln aus der Feder karibischer Migranten ist Judith Ortiz Cofers Jugendbuch An Island like You.6 Bereits mit dem Titel dieses Werks stellt sich eine Frage, die für die Insularitätsforschung bislang unerheblich war und es vielleicht auch bleiben mag: Es ist die Frage nach insularen Identitätskonstruktionen, oder anders ausgedrückt, es ist die Frage nach einem Insel-Ich, einem Insel-Du und schlussendlich einem Insel-Wir, welche in den Titel dieses Beitrags einfloss. Was den Untertitel betrifft, so ist dies der Versuch, einer komparativen Untersuchung einen realisierbaren Rahmen zu geben. Doch gilt es zu betonen, dass trotz der Einschränkungen auf »karibisch«, »Migranten«, und »zeitgenössisch«, nur ein minimaler Einblick in die florierende und facettenreiche literarische Produktion gegeben werden kann. Kompass dieser Forschungsfahrt durch die Textströme des ausklingenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts ist der Titel des Panel II der Mannheimer Nachwuchsforschertagung, die Frage nach einer ›Poetik der Insel‹. Doch wie stellt sich diese? Aus den Texten heraus ergibt sich die Frage nach einer alle Interpretationsebenen umschließenden Poetik der Insel. Neben Insellandschaften, Küstenbildern und geopoetischen7 Indizien offenbaren sich merkantilistische, logistische und (raum)wahrnehmungstechnische Versatzstücke in der materiellen Räumlichkeit, kulturelle, sprachliche und psychologische, ja teilweise selbst schöpfungsmythische und philosophische Knotenpunkte in der spirituellen und geistigen Räumlichkeit der histoire,8 also in der erzählten Welt. Diese Fragmente werden in verschiedenster Kombination und Konzentration zur Textualisierung einer geerdeten Inselmetaphorik verwendet. Wie sich zeigen wird, kann eine orchestrierte Poetik der Insel durch die Konzeption insularer Protagonisten im metafiktionalen Spiel mit dem schreibenden Insulaner weiter verstärkt werden. Widmen wir uns nun vollends dem récit, der Art der Erzählung, so kann in unterschiedlicher Graduierung auch eine insulare
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pfeife in traditionellem Design ab, darunter verkündet ein geschwungener Schriftzug »Ceci n’est pas une pipe.« (»Dies ist keine Pfeife.«). Judith Ortiz Cofer: An Island like you. Stories from the barrio, New York: Puffin Books 1996 [1995]. Vgl. Federico Italiano: Tra miele e pietra. Aspetti di geopoetica in Montale e Celan, Milano: Mimensis 2009 [Münchner Dissertation 2008], vgl. auch: Federico Italiano: »Siberiana. Aspetti di geopoetica celaniana«, in: Il Pensiero. Jahrgang XLV, 2 (2006), S.121-135. Wenngleich in der Folge nicht im Sinne des französischen Strukturalismus argumentiert wird, scheint es mir doch dienlich, die Lektüre mit klar unterschiedenen Ebenen der Textualität zu beginnen.
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Räumlichkeit des story tellings vorgefunden werden. Dies kann sich beispielsweise in einer limitierten Räumlichkeit der Erzählung äußern, die aus der Stadt des Neuanfangs eine neue Insel zu machen scheint. Eine Inselkopie, die in einem direkten und indirekten Austausch mit der Ursprungsinsel steht, während der Rest des Kontinents zum Hinterland verkommt. Dass es sich hierbei jedoch nicht um ein insulares Erzählmuster, sondern um eine simple Betonung der Differenzen zwischen einem emotionalen Nahraum und der kulturellen Ferne, jenem von der Existenzphilosophie mit einem Großbuchstaben versehenen Anderen, handelt, dieser Zweifel kann nicht vollständig eliminiert werden. Genauso wenig ist es vollkommen ausgeschlossen, dass eine Kritik, der sich bereits die ethnologische Inselforschung durch die neuere Kulturanthropologie ausgesetzt sah,9 auch auf die hier zu unternehmende Forschungsfahrt zutrifft. Als literaturwissenschaftliche Frage formuliert, würde dies ungefähr so lauten: Können wir uns auf die Schaffung säuberlich limitierter Experimentierfelder durch die Gedankenfigur Insularität verlassen oder lenkt uns ein derartiger Schritt nur von einer Interpretation des Untersuchungsgegenstandes in seinen Bedeutungszusammenhängen ab? Und inwiefern ist das natürliche Ordnungsprinzip des Insularen, dieses Scheiden von Wasser und Land, mit seiner gewaltigen Metaphorik und seinen ausufernden Assoziationen bis hin zu einer beinahe archetypischen Sehnsucht nach der ›einsamen Insel‹,10 welche uns der junge Deleuze aufzeigte, überhaupt noch zielbringend verwendbar? Gegen die destruktive Tendenz der ersten Frage gilt es einzuwenden, dass der untersuchte Kulturraum seine insulare Ordnung eigenhändig und extensiv ausgehandelt sowie verschriftlicht hat. Um den örtlichen Gegebenheiten volle Aufmerksamkeit zu zollen und der Sehnsucht nach der Insel und der Verkürzung von Insularität auf Isolation entgegenzuwirken, wird Insularität in der Folge, wenn als vernetzende Bewegung verstanden, hin zu Archipelik11
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Vgl. Christian Moser, »Archipele der Erinnerung: Die Insel als Topos der Kulturisation«, in: Hartmut Böhme (Hg.), Topographien der Literatur, S. 408-432, hier: S. 411. 10 »Von den Inseln träumen, ob mit Angst oder mit Freude, heißt davon träumen, daß man sich trennt, bereits getrennt ist, fern von den Kontinenten, daß man allein und verloren ist – oder aber träumen, daß man wieder bei Null beginnt, daß man neu erschafft, daß man von vorne anfängt.« Gilles Deleuze/David Lapoujade: Die einsame Insel. Texte und Gespräche von 1953 bis 1974. Übersetzung von Eva Moldenhauer, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2003, S. 11. 11 Unter Archipelik verstehe ich eine transinsulare Tendenz zur Rhizomatik (vgl. Gilles Deleuze/Félix Guattari: Capitalisme et schizophrénie. Mille plateaux, Paris: Éd. de Minuit 1980), welche sich der Erfindung wie der Erfah-
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präzisiert. Verwenden wir Ettes ›Kippfigur der Insularität‹,12 so stellen sich sämtliche Fragen zur Bergung einer Insel-Welt und Inselwelt aus einer multilingualen, archipelaren Medialität allein durch die Definition als »Bewegungs-Ort«13 ständig neu. »Die semantisch wie eine Kippfigur funktionierende Geschichte der Insel umfasst in ihrer abendländischen Tradition folglich zum einen die Insel als InselWelt, in der sich eine Totalität in ihrer Abgeschlossenheit verräumlicht, um sich sogleich innerhalb ihres Binnenraumes in verschiedene landschaftliche, klimatische oder kulturelle Teilräume auszudifferenzieren. Zum anderen zeigt sich die Insel aber auch als Teil einer Inselwelt, die das Fragmentarische, Zersplitterte, Mosaikhafte repräsentiert, das durch vielfältige innere Verbindungen und Konstellationen gekennzeichnet ist. Dabei ist offensichtlich, dass sich eine derartige Inselwelt selbst wieder in eine in sich abgeschlossene Welt von Inseln und damit in eine Insel-Welt verwandeln oder sich als ein Archipel begreifen kann, das mit anderen Räumen kommuniziert. Beide Deutungsmuster können sich folglich auch wechselseitig überlagern und somit die Bedingungen für ein semantisches Oszillieren schaffen, dessen sich jegliche Beschäftigung mit Inseln bewusst sein sollte.«14
Eine Fokussierung auf die rege literarische Produktion jener, die von der Insel kommen und auf dem Festland verweilen und/oder bleiben, eröffnet hierbei die Möglichkeit, an einem entscheidenden Punkt der archipelaren Bewegung zu forschen. Angekommen auf dem Festland befinden sich die ökonomischen und ökologischen Migranten gleich den politischen Exilanten so lange in einer letzten Phase ihrer Archipelik,15 bis die Taue zur Mutterinsel reißen.
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rung bedient und somit auf multiplen Ebenen in unterschiedlicher Graduierung vernetzend wirkt, ohne eine gleichzeitige Isolation auf anderen Ebenen auszuschließen. Der offensichtlichste Unterschied zu den an Massimo Cacciari: L’arcipelago, Milano: Adelphi 1997 angelehnten archipelaren Untersuchungen von Michele del Prete und Christian Luckscheiter liegt in der Hydrosphäre. Die hier dargestellte Vernetzung von Inseln und Landungszonen ist ohne das spezifische Meer der Circum-Karibik nicht denkbar. Ottmar Ette: »Von Inseln, Grenzen und Vektoren. Versuch über die fraktale Inselwelt der Karibik«, in: Marianne Braig/Ottmar Ette/Dieter Ingenschay/ Günther Maihold (Hg.), Grenzen der Macht – Macht der Grenzen. Lateinamerika im globalen Kontext, Frankfurt/Main: Vervuert 2005, S. 135-180, hier: S. 137. »Eine Insel ließe sich damit definieren (und territorialisieren) als ein Bewegungs-Ort, dessen historisch gespeicherte mobile Muster und Vektoren stets abrufbar bleiben.« O. Ette: Von Inseln, Grenzen und Vektoren, S. 148. O. Ette: Von Inseln, Grenzen und Vektoren, S. 137. »Migration has been a fact of Caribbean life – indeed, it is arguably the defining experience of Caribbean ›being‹.« Stewart Brown/Mark McWatt (Hg.): The Oxford Book of Caribbean Verse, Oxford: Oxford UP 2005, S. xxi.
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Dass sich die migrierenden Insulaner dabei selbst an der karibischen Küste unweigerlich verändern, dies formulierte der kubanische Satiriker, Neo-Avantgardist16 und Professor für Moderne Sprachen und Linguistik an der Florida State University, Roberto G. Férnandez, in Raining backwards17 1988 sehr treffend. »Then the ones from the sea drove the land people out and established themselves here and planted it all with palm trees. Little by little, without realizing it, their scales and fins began to fall off, and their children didn’t want to live close to the water nor hunt shrimp, and the old ones began dying of sadness because they could no longer return to the sea even if they wanted to... and at the very end they lost their gills. This was the curse that had been put on them by the ones from the land.«18
Eine Migrantin der ersten Generation – und damit wahrscheinlich im Begriff, ihre ›Schuppen‹ und ›Finnen‹ zu verlieren – ist die gebürtige Puertorikanerin Judith Ortiz Cofer, heute Regents Professor an der University of Georgia. Ortiz Cofer gehört zu der relativ großen Gruppe exotisierter Autoren des US-amerikanischen Buchmarktes, die mit dem intellektuellen Gerüst der gender- und postcolonialForschung aus dem Schatten der Boom-Autoren traten19 und unterschiedliche Minderheitsthematiken zum sujet gemacht haben. Zugleich sind es diese Aspekte ihres Schreibens, die es in die Klappentexte und Vermarktungsstrategien der Verlage schaffen und dadurch das öffentliche Bild der Autoren prägen. Das hier behandelte An Island like you beschäftigt sich semiautobiographisch mit Ortiz Cofers Kindheit zwischen Puerto Rico und Paterson, New Jersey.20 Dieses Jugendbuch unternimmt den Versuch, die Realität der zweiten Immigrationsgeneration exemplarisch vorzustellen21 und allgemein gültige Verhaltensmuster Jugendlicher im Generationenkon16 Für eine Analyse Fernandez’ im Zusammenhang mit den neuesten avantgardistischen Entwicklungen der Americas vgl. Daniel Graziadei: McOndo, Crack und AvantPop. Neueste Entwicklungen der spanischsprachigen und englischsprachigen Literatur der Americas, Saarbrücken: VDM 2008. 17 Roberto G. Fernández: Raining Backwards, Houston: Arte Publico Press 1988. 18 Vgl. ebd., S. 219. 19 Für die literarischen Entwicklungen Lateinamerikas nach dem Boom vgl. Michael Rössner (Hg.): Lateinamerikanische Literaturgeschichte, 3. Aufl. Stuttgart u. a.: Metzler 2007, v. a. S. 499-529. 20 Vgl. auch die beinahe identisch situierten The Line of the Sun, Athens: University of Georgia Press 1989 und Silent Dancing: A Partial Remembrance of a Puerto Rican Childhood, Houston: Arte Publico Press 1991, die keine Altersvorgabe aufweisen. 21 »They are the teenagers of the barrio – and this is their world.« J. Ortiz Cofer: An Island like you, Buchrücken.
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flikt zu repräsentieren und kommentieren.22 Hierbei, so die These meines Beitrags, entwickelt Ortiz Cofer eine insulare Räumlichkeit auf dem Festland, welche allerdings keine biogeographischen,23 sondern urbane24 Züge aufweist. Diese urban-insulare Raumkonzeption äußert sich beispielsweise im Ausbruchsversuch der knapp sechzehnjährigen Anita, der schon kurz nach der Grenzüberschreitung hin zum italienischen Viertel auf der anderen Seite der trennenden Hauptstraße endet,25 aber auch in Arturos Flucht26 aus der machistischen und homophoben Welt des Barrios, welche in der nächtlichen Kirche umgekehrt wird. Könnten die hier genannten isolierenden Tendenzen als typisches Phänomen jeglicher größeren Migrantengruppe angesehen werden, so verbietet sich dem Leser dieser Kurzgeschichtensammlung eine derartige Einschätzung: Die strategisch günstig an die erste Position gesetzte Geschichte Bad Influence handelt von Ritas Zwangsurlaub bei den Großeltern auf Puerto Rico. Hier wird das unbedarfte Festlandmädchen – sowie der Leser – in das Leben auf der Herkunfts- und Sehnsuchtsinsel eingeführt.27 Allein durch diese Initiation von Protagonistin und Leser wird die insulare Geographie der folgenden Erzählungen deutlich und unmissverständlich. Besonders augenscheinlich wird die direkte Rückbindung an die Heimatinsel in der knapp vierzehnseitigen Kurzgeschichte Don José de la Mancha,28 welche aus der IchPerspektive der Halbwaise Yolanda neben dem Thema des grassie22 Dies deckt sich mit dem von Regine Zeller in diesem Band aufgezeigten literarischen und politischen Bildungsauftrag der Inseltexte für Kinder. 23 Vgl. Marcus Termeer in diesem Band. 24 Zur literarischen Verräumlichung anderer Viertel des größten karibisch urbanen Migrationszentrums New York (Brooklyn/Harlem) vgl. Karl-Heinz Magister: »Karibische Räume in Brooklyn«, in: Günter H. Lenz/Utz Riese (Hg.), Postmodern New York City. Transfiguring Spaces – Raum-Transformationen, Heidelberg: Winter 2003, S. 203-246. 25 Vgl. vorletztes Kapitel [S. 131-43]: Anita verzichtet auf den italienischen Frauenheld und kehrt mit Heimweh zurück ins eigene Universum: »The barrio is like an alternate universe.« J. Ortiz Cofer: An Island like you, S. 131f. 26 Vgl. ebd., zweites Kapitel [S. 27-40]: »Sometimes I feel trapped, trapped in a school that’s like an insane asylum, a trapped rat in this city that’s a maze – no matter how long and how far you walk, you always end up in the same place [...]« ebd., S. 27. 27 Vgl. ebd., erstes Kapitel [S. 1-26]; Strafe für ein nächtliches Date mit männlichen Jugendlichen von außerhalb (Italiener statt Puertorikanier): »›Oh, God‹, I groaned. It was really going to be The Twilight Zone around here. Neither one of the old guys could tell the difference between fantasy and reality. Papá with his dream-reading and Mamá with her telenovelas.«, S. 4. 28 Ebd., S. 92-106.
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renden telenovela-Konsums des gesamten barrio auch die wöchentlichen spritualistischen Sitzungen der verwitweten Mutter behandelt. Bedient sich die Erzählung soweit gängiger Stereotypen, welche als typische Embleme der Heimatinsel festgelegt wurden, so ist es jedoch der unvermittelte Einbruch eines Neuankömmlings von der Insel ins Leben der puertorikanischen Gemeinde, welcher für eine insulare Betrachtung interessant ist. Wagen wir uns nahe an den Text, um das erste Aufeinandertreffen der US-amerikanisch akkulturierten Yolanda und Don José zu untersuchen, so erklärt sich gleichzeitig der an Don Quijote nur scheinbar angelehnte Spitzname de la Mancha.29 »I [Yolanda] open the door and there stands this guy who looks like he’s just stepped off the airbus from the Island. Clothes all wrong. And a tan he didn’t get from sunbathing at the beach. I mean, you can tell if someone is new to the barrio. It’s because of what they call la mancha around here. It means ›the stain‹. And it’s sort of having a big old grease spot on your clothes. There’s no hiding it.«30
Fehlende Akkulturation, die Gleichsetzung von Nueva York mit den gesamten USA, scheinbar veraltete Umgangs- und Bekleidungsformen sowie antiquiertes musikalisches und tänzerisches Talent wecken in Yolanda die Vermutung, es mit einem hick, einem jíbaro, einem Hinterwälder zu tun zu haben. Konträr dazu steht die Bemerkung ihrer Mutter, die betont, dass zu ihrer Zeit auf der Insel die Hinterwälder das Rückgrat des Landes darstellten.31 Somit wird die im üblichen Sprachgebrauch pejorativ gebrauchte mancha zum Ausdruck von Produktivität und Selbsterhalt, denn der Fleck stammt von den Kochbananen und wurde zum Symbol für die Eigentümlichkeiten der Insel. Es ist also kaum verwunderlich, dass dieser mehrfache und authentische Direktimport von der Insel, gebündelt in der Figur des Don José, der Witwe einen zweiten Frühling beschert. »Mami had grown up on the Island and she’s always homesick for it. I [Yolanda] think that’s why she likes this guy so much – that’s all they talk about, la isla, la isla.«32 Die Integration der Neuankömmlinge und ihrer Erfahrungen in das insulare Dasein
29 Miguel de Cervantes Saavedra: El ingenioso hidalgo don Quixote de la Mancha, Madrid: Juan de la Cuesta 1605. Vgl. Scans der Originalausgabe unter http://www.cervantesvirtual.com/servlet/SirveObras/cerv/12371067 559018288532624/index.htm 30 J. Ortiz Cofer: An Island like you, S. 94. 31 »›To some people that’s not an insult, Yolanda,‹ she says, ›When I was a little girl on the Island, the jíbaros were the backbone of our country – the good, simple people who farmed the land.‹« ebd., S. 95. 32 Ebd., S. 98-99.
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der PRs33 auf dem Festland und das Teilen der Sehnsucht nach der Insel, bei einer gleichzeitigen Integration der Sommerurlauber und ihrer Erfahrungen aus jenem vage umrissenen Nueva York in die Inselrealität, diese beiden konträren und doch akkumulierenden Transfers von Wissen und Emotionen stellen die essentielle Bewegung der Archipelik in An Island like you.34 Doch wie der Titel bereits vermuten lässt, geht Ortiz Cofer weiter. In ihrem einleitenden Gedicht Day in the Barrio35 wird der Untersuchungsgegenstand weit über die üblichen Grenzen ausgeweitet. Insularität betrifft dabei nicht allein real-geographische Inseln und vorrangig von ehemaligen Insulanern bewohnte Stadtviertel, sondern jedes Individuum. In der dritten und letzten der reimlosen Versgruppen wird dies klar angesprochen und im Schlusscouplet besonders unterstrichen: »At day’s end you scale the seven flights to an oasis on the roof, high above the city noise, where you can think to the rhythms of your own band. Discordant notes rise with the traffic at five, mellow to a bolero at sundown. Keeping company with the pigeons, you watch the people below, flowing in currents on the street where you live,
each one alone in a crowd, each one an island like you.«36
Die Isolation des Subjekts ist nun kein philosophisch neuer Ansatz, doch muss eine Ausweitung der Insularität auf die Formel: Insulaner = 1x Insel skeptisch beäugt werden: Welchen Vorteil erbrächte eine derart mikrokosmische Erweiterung unseres Untersuchungsfeldes? Doch die Poetik der Insel in Ortiz Cofers Einleitungsgedicht sollte nicht allein auf das Insel-Ich beschränkt werden. Lesern von Inselliteratur fällt rasch die verblüffende Ähnlichkeit der Dachterrasse der Mietskaserne mit dem bilingualen Namen El Building zu den höchsten Hügeln und anderen landmarks auf geographischen Inseln auf. Wie von besonderen Aussichtspunkten die gesamte Insel betrachtet werden kann, so ist es hier die Terrasse, die eine Totale des Viertels zulässt. Die Lust an der Insel,37 so könnte man 33 Gängige US-amerikanische Abkürzung für Puertorikaner. 34 Die direkte Verbindung zwischen barrio und isla wird bereits im Paratext, nämlich in der Widmung, deutlich sichtbar: »To my family here / and on the Island«. 35 Ebd., S. ix. 36 Ebd., S. xi (Hervorhebungen D. G.]. 37 Diese Formulierung lehne ich an Robert Stockhammers »Lust an der Karte« an [vgl. Robert Stockhammer: Kartierung der Erde; Macht und Lust in Karten und Literatur, München u. a.: Fink 2007]. Da mir beim Versuch, mein Promotionsvorhaben zu umreißen, immer wieder glänzende Augen, Insel-
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vorsichtig fragen, ist für Autoren doch ähnlich wie für Biologen und Ethnologen an die scheinbare Überschaubarkeit und allegorische Qualität38 des zu erfassenden Lebensraumes gekoppelt? Eliseo Alberto zählt zur selben Generation wie die eben behandelte Autorin, doch gilt es einige hier relevante biographische Unterschiede zu betonen. Zum einen wechselte der Sohn des Autors Eliseo Diego von Kuba, das per se eine Ausnahme im karibischen Archipel einnimmt, nach Mexiko Stadt, und zum anderen schreibt er bis heute in einem sehr präzisen Spanisch regionaler Färbung. Was die Frage nach einer ›Poetik der Insel‹ betrifft, so eignet sich sein Informe contra mi mismo39 im Besonderen für eine entsprechende Untersuchung.40 Im Einklang mit dem bisher aufgezeigten Insel-Ich steht folgende Beobachtung eines Kollektivs, das bei Alberto ein dezidiert kubanisches Wir insziniert. »Miami es una isla. Los cubanos convertimos en isla todo cuanto tocamos. Hasta el amor entre nosotros resulta una isla inevitable y, por tanto, un sentimiento posesivo, abrazador. Las islas son celosas por definición y circunstancias; el celo, el egoísmo a fin de cuentas, las ha apartado de todo nexo continental. Las islas son tierras sin ombligo. La soledad produce el orgullo. El orgullo, el fanatismo. Aquí muy pocos tienen conciencia clara de que viven en una nación llamada los Estados Unidos. Se vive en Miami. Y punto. (Las islas parecen puntos.) La cercanía geográfica con el pasado, el clima húmedo y cálido, la condición peninsular del territorio y la presencia de miles de compatriotas configuran el espejismo sentimental de nuestro exilio. En el
erinnerungen und Aussprüche wie »auch ich bin reif für die Insel« begegnen, glaube ich einen ähnlich lustvollen Umgang mit der Insel wie mit der Karte zu erkennen. Vgl. zur Nähe von Karte und Insel die Entstehungsmythen zu Robert Louis Stevenson: Treasure Island, London: Cassell 1883. 38 »[T]he island easily became, in practical environmental as well as mental terms, an easily conceived allegory of a whole world. Contemporary observations of the ecological demise of islands were easily converted into premonitions of environmental destruction on a more global scale.« Richard H. Grove: Green Imperialism. Colonial Expansion, Tropical Island Edens and the Origins of Environmentalism 1600-1860, New York: Cambridge University Press 1995 (=Studies in Environment and History), S. 8f. 39 Eliseo Alberto: Informe contra mi mismo, Madrid: Alfaguara 2002 [1996] (dt. Eliseo Alberto: Rapport gegen mich selbst. Ein Leben in Kuba. Aus dem Spanischen von Georg Pichler, Zürich: Rotpunktverlag 1999). 40 Das mit dem Premio Alfaguara 1998 ausgezeichnete Caracol Beach [Madrid: Santillana] würde sich für einen Vergleich der Gemeinsamkeiten von spanischsprachiger und englischsprachiger Literaturproduktion mit Anbindung an spanischsprachige Inseln der Karibik eignen, für Untersuchungen zur Archipelik erwies sich das hier behandelte Werk weit fruchtbarer.
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Daniel Graziadei punto y seguido de Miami, los cubanos han aprendido de vivir en una isla que todos llevamos dentro hasta nuevo aviso.«41
Den insularen Zügen des puerto-ricanischen Viertels in Ortiz Cofers Paterson wird bei Alberto die kubanische Insularität einer ganzen Großstadt42 entgegengestellt. Kaum verwunderlich, schließlich gehört die isolierte kubanische Stadt in der Stadt Miami zu den Grundsteinen der Latino- und Kreolisierungsphobie der WASPS, der White Anglo-Saxon Protestants.43 Der US-Kubaner Fernández persifliert diese in Raining backwards44 mit dem groß buchstabierten Aufruf »WILL THE LAST AMERICAN TO LEAVE MIAMI PLEASE BRING THE FLAG« [S. 9] und einer hundert Seiten späteren Abwandlung »WILL EL LAST AMERICANO TO LEAVE MIAMI S’IL VOU PLAIT BRING THE BANDERA« [S. 111]. Gleichzeitig karikiert er aber auch die kubanische Mehrheit45 Miamis: Die dritte Variation des Aufrufs, »I CAN ASSURE YOU THAT THIS FLAG WILL BE RETURNED IN A FREE HAVANA« [S. 223], ist nämlich bereits auf ein Ende des castristischen Regimes und den Ausverkauf der Insel an exilkubanisches Kapital gemünzt. Der zynischen Reaktivierung
41 E. Alberto: Rapport gegen mich selbst, S. 41: »Miami ist eine Insel. Wir Kubaner verwandeln alles, was wir berühren, in eine Insel. Sogar die Liebe zwischen uns wird zu einer unvermeidlichen Insel und daher zu einem possessiven, vereinnahmenden Gefühl. Inseln sind ihrem Wesen und ihren Umständen nach eifersüchtig: die Eifersucht, der Egoismus also, hat jede Verbindung mit einem Kontinent gekappt. Inseln sind Länder ohne Nabel. Die Einsamkeit ruft Stolz hervor. Der Stolz Fanatismus. Hier sind sich nur wenige dessen bewußt, daß sie in einer Nation leben, die Vereinigte Staaten heißt. Man lebt in Miami. Und Punkt. (Inseln scheinen Punkte zu sein.) Die geographische Nähe zur Vergangenheit, das feuchte, warme Klima, die Lage auf einer Halbinsel und die Anwesenheit Tausender Landsleute sind der sentimentale Schein unseres Exils. Im Durchgangspunkt Miami haben die Kubaner gelernt, auf Abruf auf einer Insel zu leben.« 42 Miami ist laut den Vereinten Nationen 2007 mit 5,6 Millionen Einwohnern (zur viertgrößten Urbanität der Vereinigten Staaten aufgestiegen (http:// www.un.org/esa/population/publications/wup2007/2007_urban_agglomera tions_chart.pdf vom 08. November 2008). 43 Dass jedoch sowohl whites als auch latins hauptsächlich vom Immobilienmarkt in ihrer Segregation und Umsiedelung (vgl. v. a. white flight) gesteuert werden, dies unterstreicht John Betancur: »The Settlement Experience of Latinos in Chicago. Segregation, Speculation, and the Ecology Model« in: Social Forces 74, 4 (1996), S. 1299-1324. 44 Roberto G. Fernández: Raining Backwards, Houston: Arte Publico Press 1988, S. 9; S. 111; S. 223. 45 Laut dem U.S. Census Bureau lebten in Miami city (FL) im Jahr 2000 65,8% »Persons of Hispanic or Latino origin«, mehr als die Hälfte (123 763) davon waren Kubaner (http://www.census.gov/ am 08. November 2008).
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des über fünfzig Jahre alten Traums der Exilkubaner bei Roberto Fernández steht natürlich diese, oben zitierte, eifersüchtige Grundhaltung der Insel bei Eliseo Alberto gegenüber. Denn wenn der Mensch und seine Passionen per definitionem isolierend sind, so ist auch ein freies Kuba weiterhin ein isoliertes Kuba und auch ein kubanisches Miami wird allein durch seine Bewohner ein ghettoisierter Punkt bleiben. Somit unterstreicht Alberto das bei Ortiz Cofer vorgefundene Insel-Sein auf dem Festland, wenngleich er dieses für Exil-Insulaner zeitlich beschränkt. Diese Einschränkung basiert auf jener klar artikulierten Hoffnung auf Rückkehr und verweist auf tiefe Differenzen zwischen der geistigen Inselarchitektur der Migranten und jener der Exilanten. Nebenbei gilt es die von Eliseo Alberto als »espejismo sentimental de nuestro exilio«46 titulierte Folge der geographischen Nähe mit der Vergangenheit etc. zu bedenken. Schließlich steht diese Einschätzung konträr zum hier getätigten Versuch, durch eine Beschränkung auf den Großraum und die primären Landungszonen, klare Voraussetzungen für ein ungetrübtes Lesen einer Poetik der Inseln zu haben. Und so gilt es zu fragen, inwiefern unser Forschungsschiff auch die trüben Gewässer der verklärten Erinnerung und Sehnsucht durchpflügt und die bisher festgestellte Insularität und Archipelik in den Werken der Emigranten nicht allein nostalgischen Ursprungs ist.
Bewegung, so lesen wir bei Hartmut Böhme, »Bewegung – als Eigenbewegung, Bewegtwerden und als Wahrnehmung von Bewegung – ist diejenige Kategorie, die Raum und Zeit gleichermaßen konstituiert.«47 Der fraktalen Bewegung48 des karibischen Archipels wohnt diese Raum-Zeit Achse ebenso inne. So gilt es die derzeitigen Migrationsbewegungen auch im historischen Zusammenhang mit den ersten bekannten Besiedlungen der Inseln, der sogenannten ›Entdeckung‹, sowie der folgenden forcierten Überbevölkerung zu begreifen. Eine poetische tour d’archipele dieser Art vollzieht die jamaikanische Professorin am California College of Art Opal Palmer Adisa, die mit Tamarind and Mango Women49 1992 den American Book Award gewann, in ihrem 2000 erschienenen Gedichtband Ca-
46 E. Alberto: Informe contra mi mismo, S. 48. 47 H. Böhme: »Einleitung: Raum – Bewegung – Topographie«, S. XIV. 48 Vgl. Benoît B. Mandelbrot: Les objets fractals. Forme, hasard et dimension, Paris: Flammarion 1975 (Nouvelle bibliothèque scientifique). Antonio Benítez Rojo: La isla que se repite, Hanover, USA: Ed. del Norte 1989, v. a. Introducción und Apéndice, sowie O. Ette: Von Inseln, Grenzen und Vektoren, v. a.: »2. Insel-Grenzen«, S. 137-141. 49 Opal Palmer Adisa: Tamarind and mango women. Poetry, Toronto Ont.: Sister Vision: Black Women and Women of Colour Press 1992.
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ribbean Passion.50 Untersuchen wir dieses auf jenes Insel-Ich und Insel-Wir, das bereits bei den Vertretern der Erzählliteraturen ausgemacht werden konnte, so schreibt sich Adisa in diese Kette der Insel-Ichs mit Freedom51 ein. Das lyrische Ich dieses reimlosen, typographisch bewusst gesetzten Gedichts mit klarem Bruch nach der ersten Versgruppe verkündet am Schluss deutlich und mit Nachdruck: »FREEDOM when columbus lost stumbled upon xaymaca the arawaks fed him
(kindness repaid in death) me island daughter nurtured with cassava soup zemi’s sweat moistening this caribbean breeze me umbilical cord buried under navel-orange me knees stained with bauxite i am an island hear me well i am an island i’ll never swim too far from these shores«52
Die Verbindung dieser KörperInsel mit der Geschichte (»columbus« und »i« wurden beide von der Insel gefüttert), der Magie (»zemi’s sweat«), der Umwelt (»caribbean breeze«) und dem Wunder der Geburt (»me umbilical cord / buried under navel-orange«) sowie dem wichtigsten Bodenschatz Jamaikas (»me knees stained with bauxite«) ist unverkennbar und instrumentalisiert: So erfüllt das Insel-Ich bei Palmer nicht allein das existentialistische Inseldasein Cofers oder die aus dem kollektiven Trauma des Exils geborene Inselkreation eines Eliseo, sondern fügt der bisher doch recht vergeistigt vorgefundenen Ego-Insularität einen konkreten Bodenkontakt hinzu. Adisa schreibt sich zwar durch einen exzessiven Gebrauch regiona-
50 Opal Palmer Adisa: Caribbean Passion, Leeds: Peepal Tree 2004. 51 Ebd., S. 48. 52 Ebd., S. 48 (Hervorhebungen D. G.).
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ler Färbungen und den multiplen Verweis auf besonders geschätzte Gegenstände der Postkolonialismusforschung in die recht junge Tradition des marketing the margins53 ein, dennoch bleiben ihre Aussagen für eine insulare Lektüre uneingeschränkt brauchbar, vor allem, wenn man die archipelübergreifende Poetik der Inseln in Indigenous (for bert neapaulsing)54 betrachtet. Die Stimme55 des für Adisa ungewöhnlich langen Gedichts ist zu Beginn ein Insel-Wir: »We grew beneath the sea // to soar mountains // 7000 strong // once we were ourselves«.56 In der 7. Versgruppe wechselt der Gesang in ein besonders einfühlsames Solo,57 bloß um später in einem exklamierenden I zu gipfeln: »but haiti i hail you // in the mountainous land // freedom’s first touch // you alone kept your name«.58 Der jubelnde Gruß des Protagonisten in der 15. Versgruppe bedeutet in der Folge die Forderung und den Abschluss der mnemotechnischen Funktion, die den vorhergehenden Mittelteil dominiert. Die beiden abschießenden Versgruppen formen eine Coda. So ist es nicht verwunderlich, dass das lyrische Ich dem bereits eingangs verwendeten imposanten Chor eines hybriden Wir weicht, der nun unisono den kollektiven und den individuellen Namen indigener Herkunft reklamiert: »chainless but chained we are bastardized flags sinking in the ocean mapped by the triangular trade
crabs in a barrel clawing at sovereignty we cry this is my name this is my name«59
Die erzeugte externe und interne Relationalität der Inseln sowie die wenigen verwendeten Erkennungssymbole per isola60 sind hier für 53 Vgl. Graham Huggan: The Postcolonial Exotic. Marketing the Margins, London u. a.: Routledge 2001. 54 O. Palmer Adisa: Caribbean Passion, S. 12-14. 55 Werden im Verlauf der Analyse von Indigenous Begrifflichkeiten musikalischer Notation verwendet, so geschieht dies, um der musikalischen Tradition und oral-performativen Qualität von spoken word und dub poetry Rechnung zu tragen. 56 Ebd., S. 12 (Hervorhebungen D. G.). 57 »i hear you chant karukera karukera« ebd., S. 12 (Hervorhebungen D. G.). 58 Ebd., S. 14 (Hervorhebungen D. G.). 59 Ebd., S. 14 (Hervorhebungen D. G.). 60 Vgl. ebd., S. 12: »guahani not bahamas« »caymans / money laundering«, »[...] camerhogue / where the ocean chops«, »guadeloupe is a quacksal-
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unser Forschungsschiff Archipelik weit interessanter als das Problem des naming und re-naming, vorausgesetzt man folgt der Forschung in die stets dynamischen kulturellen Prozesse der karibischen Inselwelt. Denn hier, in den von Ette als »hochgradig vektorielle Literaturen« bezeichneten »Speicher[n] akkumulierten Lebenswissens«61 gehen die indigenen Inselbenennungen nie verloren, sie werden vielmehr durch eine Reaktivierung des kulturellen Gedächtnisses wieder in die schnelleren Strömungen des karibischen Archipels gespült. Interessanterweise benutzt Adisa in diesem archipelaren Gedicht durchaus eine grammatikalisch standardisierte Sprache, während die Zeilen, die zur Ausrufung des Insel-Ichs in dem zuvor besprochenen Freedom führen, kreolisierte Schreibung, Grammatik und Lexik verwenden, bloß um mit dem Ausruf »I am an island« in die Dachsprache zu wechseln. Dies lässt die Vermutung zu, dass archipelübergreifende Literaturen – trotz aller postkolonialen Situierung – nur in gängigen Verkehrssprachen mit wenig lokalem Kolorit praktikabel sind.62
Vorzeigefunktion in der international verständlichen Anwendung regionaler Sprachfärbungen übernimmt Derek Walcotts The Schooner Flight.63 Erschienen 1979 in The Starapple Kingdom inmitten einer erhitzten Diskussion um protest poetry, zählt dieses Langgedicht zu den geschätztesten und bekanntesten Texten des Nobelpreisträgers für Literatur 1992. Ist in der bisherigen Lektüre die auf Isolation getrimmte Insularität des lyrischen Ich oder lesenden Du zwar einem archipelaren Wir gewichen, das komplexer ist und eine verstärkte politische Agenda aufzuweisen scheint, so bleibt jedoch auch dieses Insel-Wir funktional ein »Bewegungs-Ort«64 im rhizomatischen Verbund. In The Schooner Flight wird dieses Konzept signifikant erweitert. Be-
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ver / counterfeit of france«, (S. 13) »xaymaca [...] the arawaks knew you / as land of wood and water«, »prickly bush wedded montserrat«, »[...] land of iguanas / where no st lucia ever lived«, »st martin/st maarten [...] your salted plain«, »[...] the humming bird / hovering in a Trinidad«, »anegada napped / like a turtle / in the ocean«, (S.14) »haiti [...] mountainous land.« O. Ette: Von Inseln, Grenzen und Vektoren, S. 175. Hier eröffnet sich eine Parallele zum literarischen Sprachgebrauch in der sizilianischen Literatur, die Torsten König in diesem Band behandelt. Derek Walcott: The star-apple kingdom, New York: Farrar Straus and Giroux 1979, hier: Derek Walcott: Selected Poems 1948-1984, New York: The Noonday Press 1990, S. 345-361. O. Ette: Von Inseln, Grenzen und Vektoren, S. 148
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wegt sich das Poem zwar scheinbar nicht über die »final Bahamas«65 hinaus, so zollt es den Fraktalen des Archipels doch vollen Respekt und lässt die im Gedicht unternommene Suche nach einer utopischen Insel im unendlich fragmentier- und multiplizierbaren Archipel zu einer Odyssee mit unsicherem Ausgang werden. Eine erste Erweiterung des insularen Identitätskonzepts bei Walcott ist die enge Bindung von Poet und Poesie. Der Seemann Shabine ist zugleich Dichter, seine Dichtung – und dank der inhärenten Metafiktion auch das vorliegende Gedicht von Derek Walcott – wird zum kulturellen Schiff im Verkehr zwischen den Inseln. Die Räumlichkeit eines literarischen Archipels entsteht hierbei nicht allein aus der Nennung von Inseln, Errungenschaften der Zivilisationen und weiteren geopoetischen Versatzstücken, sondern auch durch den allegorischen Vergleich der Gesellschaft mit der Biodiversität des Meeres. »Ay, ay! Next thing I hear, some Commission of Enquiry was being organized to conduct a big quiz, with himself as chairman investigating himself. Well, I knew damn well who the suckers would be, not that shark in shark skin, but his pilot fish, khaki-pants red nigger like you or me.«66
Die Verteilung von Macht und Expertise zwischen »O’Hara, big government man« und seinem Schmuggler und Piraten Shabine wird anhand der bekannten symbiotischen Interaktion der Selachii mit dem Naucrates ductor dargestellt. Da der Hai vom viel kleineren Pilotfisch67 von Parasiten befreit wird, verzichtet dieser im Gegenzug (zumeist) auf Jagd. Diese verstärkte Bindung der Archipelik an das Meer und die Seefahrt, welche im obigen Zitat68 und vor allem in 5 Shabine Encounters the Middle Passage69 historisch zwischen Sklavenhandel, kolonialen Seekämpfen und Piraterie situiert ist, stellt eine Anwendung der postkolonialen Strategie des writing back dar. Zusammen mit der Bindung von Insularität an die Biodiversität 65 »Though my Flight never pass the incoming tide / of this inland sea beyond the loud reefs / of the final Bahamas, I am satisfied / if my hand gave voice to one people’s grief.« D. Walcott, Selected Poems, S. 360. 66 Ebd., S. 348 (Hervorhebungen D. G.). 67 Der sprechende Name Naucrates ductor im Englischen unterstützt die Allegorie durch eine direkte Rückbindung des sailor, der, wie es noch zu diskutieren gilt, im letzten Teil des Poems wohl auch zum pilot wird. 68 Verweist »shark skin« auf eine mehrfach lesbare, rauhe und bewehrte, Haut, als Bekleidung verstanden auf illegalen Fischfang und Artensterben sowie exklusive Modeerscheinungen von Superreichen, so weisen »khakipants« direkt in die englische Kolonialzeit (British India Army) und den Spanisch-Amerikanischen Krieg 1898 (hier führte die US-Armee Khaki ein). 69 Ebd., S. 352.
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der Pedo- und Hydrosphäre verweist diese politische Strategie auf die zuvor behandelten Gedichte von Opal Palmer Adisa.70 Doch spätestens in 6 The Sailor Sings Back to the Casuarinas71 geht Walcott über alle bisher vorgefundenen Identitätskonstruktionen hinaus. Hier findet sich eine historische Erweiterung des beobachteten Insel-Wir. Die archipelare Struktur öffnet sich hin zu einem Palimpsest, das aus einem anderen Werk Walcotts, Omeros,72 hinlänglich bekannt ist: die Einschreibung des karibischen in das klassisch griechische Archipel. Aufgezogen anhand der Casuarinas, welche als falsche Zypressen und diese wiederum als falsche Zedern ins Mittelmeer führen,73 wird diese Aktualisierung mit den postkolonialen Grundproblematiken des naming und der mimicry vollzogen. Interessanterweise wird hierbei der in allen anderen Texten durch explikative oder schriftsetzerische Details eingeweihte Leser klar ausgeschlossen: »Once the sound ›cypress‹ used to make more sense than the green ›casuarinas‹, though, to the wind whatever grief bent them was all the same, since they were trees with nothing else in mind but heavenly leaping or to guard a grave;
but we live like our names and you would have to be colonial to know the difference, to know the pain of history words contain, to love those trees with an inferior love, and to believe: ›Those casuarinas bend like cypresses, their hair hangs down in rain
70 Als besonders gelungene fraktale Allegorie kann hierbei folgende Stelle aus Indigenous genannt werden: »fat crocodiles sauntered / on the sand / not caymans / money laundering« (O. Palmer Adisa: Caribbean Passion, S. 12). Zum einen wird die langsame Bewegung und das Aussterben des Krokodils als Symbol der Insel in der Vergangenheit gegen die heutige Hektik des (illegalen) Kapitalmarktes im Steuerparadies der Cayman Islands gestellt und zum anderen kann diese Verbindung von Insel und Alligatoridae als mehrfacher Verweis auf den nördlich gelegenen Nachbarn Cuba gelesen werden. Vgl. Inselform, Kubakrokodil und alternatives ökonomisches System. 71 D. Walcott: Selected Poems, S. 353. 72 Derek Walcott: Omeros, London u. a.: Faber and Faber 1990. 73 »Now captain just call them Canadian cedars. / But cedars, cypresses, or casuarinas, / whoever called them so had a good cause, / watching their bending bodies wail like women / after a storm, when some schooner came home / with news of one more sailor drowned again«, D. Walcott: Selected Poems, S. 353.
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Inseln wie wir like sailors’ wives. They’re classic trees, and we, if we live like the names our masters please […]‹«74
Der komplizenhaften Inklusion des eingangs zitierten Insel-Du bei Ortiz Cofer wird eine Exklusion entgegengestellt, welche an die Rhetorik Edward Saids in Orientalism erinnert.75 Scheint The Schooner Flight somit in der Entwicklung einer Insularitätsindividualität kürzer zu greifen als Day in the Barrio, so gilt dies in Bezug auf eine allgemeine Poetik der Insel keinesfalls. Bereits im vierten Teil The Flight, Passing Blanchisseuse76 öffnet sich das Poem einem bisher noch nicht auffällig gewordenen Aspekt einer Archipelik. »Dusk. The Flight passing Blanchisseuse. Gulls wheel like from a gun again, and foam gone amber that was white, lighthouse and star start making friends, down every beach the long day ends, and there, on that last stretch of sand, on a beach bare of all but light, dark hands start pulling in the seine of the dark sea, deep, deep inland.«77
Die klare Basisopposition zwischen Hell und Dunkel eröffnet eine Verbindung zwischen der Stadt auf Trinidad, die den Namen der Wäscherin trägt, dem Leuchtturm und seinem neuen Freund, dem Stern. Dies ist jedoch nur der Auftakt einer orchestrierten Serie ungewohnter Oszillationen zwischen insularer Individualität und kosmischer Archipelik am Ende des Poems. Allerdings kommt es hierbei nicht zu einer Innenansicht wie bei Ortiz Cofer, einer psychopathologischen Beobachtung wie bei Alberto oder einer postkolonialen Anthropomorphisierung wie bei Adisa. »Open the map. More islands there, man, // than peas on a tin plate, all different size, // one thousand in the Bahamas alone, // from mountains to low scrub with coral keys, [...]«78 Wie diese Verse zeigen, befinden sich für Walcott im Bereich zwischen einem Insel-Ich oder Insel-Wir auf der 74 D. Walcott: Selected Poems, S. 353f. 75 Vgl. die isolierende Rhetorik Saids zur Stärkung eines örtlich fundierten Identitätsdiskurses im Gegenzug zur orientalistischen Tradition des Westens in: Edward W. Said: Orientalism. 25. anniversary ed. with a new preface by the author, New York: Vintage Books 2003 [1973]. Für eine Aufarbeitung der Kritik an Said vgl.: Daniel Martin Varisco: Reading orientalism; Said and the unsaid, Seattle: University of Washington Press (Publications on the Near East) 2007. 76 D. Walcott: Selected Poems, S. 351. 77 Ebd., S. 351f. 78 Ebd., S. 360.
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psychologischen Ebene und den politischen Einheiten des Archipels noch eine unendliche Anzahl79 von Erhebungen und Korallenriffen. Somit könnte Mandelbrots Beobachtung zu den unendlich langen Grenzen eines Nationalstaates80 nicht allein auf Inselbegrenzungen, sondern auch auf die Anzahl der Inseln des karibischen Archipels angewandt werden. Je nach Perspektive tendieren diese eben gegen zählbar oder unzählbar, in Richtung Ordnung oder in Richtung Chaos. The Schooner Flight lässt jedoch selbst die Zählbarkeit der Menscheninsel, des poet/sailors Shabine unsicher werden: Seine Aussage »I am a nation«81 darf allein aufgrund der inhärenten Kreolisierung des Namens Shabine – er steht für creolité82 – nicht mit dem konventionellen Mythos der Nation gleichgesetzt werden, schließlich heißt es an anderer Stelle »I had no nation but my imagination.«83 Die durchaus bewundernswerte poetische Imagination des sailor/poets, der in einem ständigen metatextuellen Spiel mit der Autorfigur84 steht, erweitert die bisher untersuchte Archipelik radikal hin zu unendlichen Weiten: »There are so many islands! As many islands as the stars at night on that branched tree from which meteors are shaken like falling fruit around the schooner Flight.
79 Verblüfft zum einen die Genauigkeit der hier eingeführten Kartographie, so gilt es, im Sinne einer insularen Lesart, auf die hier thematisierte Schwierigkeit der Definition von ›Insel‹ aufmerksam zu machen: Ab welcher Größe sprechen wir von Klippen und ab welcher Größe werden Inseln zu Kontinenten? 80 Vgl. Benoît B. Mandelbrot: »How Long Is the Coast of Britain? Statistical Self-Similarity and Fractional Dimension«, in: Science 1967, S. 636-638 und O. Ette: Von Inseln, Grenzen und Vektoren, S. 138. 81 »I’m just a red nigger who love the sea,/ I had a sound colonial education, / I have Dutch, nigger, and English in me, / and either I’m nobody, or I’m a nation.« D. Walcott: Selected Poems, S. 346. 82 Die Nennung der literarischen Bewegung aus dem Martinique der 1980er Jahre geschieht aus reiner Verlegenheit. Die Figur des Shabine spricht neben dem genannten Versuch hybrider und lokal territorialisierter Identitätskonstruktion auch das ähnlich gewichtete Konzept der Antillanité in Édouard Glissant: Le discours antillais, Paris: Éd. du Seuil 1981 sowie eine ganze Reihe postkolonialer Theorien von der Hybridität bis hin zum mestizaje an. Vgl. auch: Kathleen M. Balutansky/Marie-Agnès Sourieau: Caribbean Creolization. Reflections on the Cultural Dynamics of Language, Literature, and Identity, Florida: University Press of Florida 1998. 83 D. Walcott: Selected Poems, S. 350. 84 Neben der auf textueller Ebene vollzogenen Vereinigung von Seemann und Dichter korrespondieren einige biographische Daten Shabines, wie etwa die Herkunft aus Castries auf St. Lucia, mit jenen des Autors.
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Inseln wie wir But things must fall, and so it always was, on one hand Venus, on the other Mars; fall, and are one, just as this earth is one island in archipelagoes of stars.«85
Walcott entwickelt hier eine literarische Archipelik weiter, die sich durch die bisher untersuchten Texte von einem Insel-Ich zu einem Insel-Du und schließlich einem Insel-Wir wandelte. Seine Poetik der Insel führt vom lyrischen Ich über die als realgeographisch inszenierte Inseln und das isolierte Schiff zur utopischen Insel.86 Zwar könnte die Erweiterung auf die Sterne als klassische Metapher für das Archipel gelten, doch muss bei einer im wahrsten Sinne des Wortes ›planetaren‹ Darstellung87 der Welt als Insel in einer Galaxie und Galaxien wiederum als Archipele im Universum von einer anderen Strategie ausgegangen werden. Mithilfe der im Laufe des Poems aufgebauten Basisoppositionen und Fraktale, die jede Entität zugewiesen bekommt und die auf der nächst höheren Ebene irrelevant werden, entsteht eine ausgeklügelte und stark funktionalisierte literarische Archipelik. Simultan zur materiellen Manifestation von Insularität setzt hierbei jedoch eine psychologisch-religiöse Transzendenz ein, die über das Universum hinaus der Seele, die durch die Liebe eigentlich erdgebunden ist, Flügel verleiht. In der physischen und psychischen Isolation findet das Insel-Ich hier seine Vollendung und zielt (denn Flight wird im Laufe des Poems von Flucht zu Flug umgepolt) auf die utopische Insel oder die Aufhebung aller soziopolitischen bis geographischen Gegensätze auf einer höheren (oder im Sinne des letzten Satzes »Shabine sang to you from the depths of the sea«88 tieferen) Ebene. Somit führt Walcott ein isoliertes Insel-Ich über den Umweg durchs Weltall mit dem archipelaren Insel-Wir zusammen und entwickelt einen geradezu radikal-insularen Identitätsentwurf auf Basis der Weltenmeere.
Die hier nachgezeichnete Bewegung von The Schooner Flight deckt sich mit jener Figur, die der kubanische Schriftsteller und Literaturprofessor Antonio Benítez-Rojo in seiner einflussreichsten Publi85 Ebd., S. 361. 86 Diese utopische Insel unterscheidet sich jedoch an einem signifikanten Punkt von jener in Artur Schnitzlers Die Frau des Weisen, die Katrin Schneider in diesem Band als bewegliche und nahezu unerfüllbare liest. 87 In den oben zitierten Zeilen öffnet Walcott die durch insulare Versatzstücke über insulare Landschaften, Kartographien, Vogelperspektiven zu archipelaren bis globalisierten Darstellungen erschaffene Räumlichkeit hin zu einer Ansicht, die allein das Planetarium bietet: die übersichtliche, fokussier- und beschleunigbare Veranschaulichung des Planetenlaufs und Sternenhimmels. 88 Ebd., S. 361.
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kation La isla que se repite89 für die Karibik unter dem Analyseparameter der globalen Plantagen-Maschinerie zeichnet: »[E]l Caribe podría ser visto también como una figura de bordes difusos que combina líneas rectas y curvas, digamos, una galaxia en espiral en desplazamiento hacia ›afuera‹ – el universo – que despliega y dobla su propria historia hacia ›adentro‹.«90 Dieser vage Anschluss an die ästhetische Bildlichkeit des Fraktals beinhaltet jene doppelte Bewegung, die nicht nur für den Schoner Flight maßgeblich war, sondern auch für unsere Forschungsfahrt auf der Suche nach insularen Identitätskonstruktionen auf den papierenen Inseln der Karibik. Anstatt der ehemals geschätzten Funde – Gold, Gewürze, Tiere, Pflanzen, Flüsse, Wälder, Menschen, Ankerplätze, Koordinaten und Karten – bringt unsere Fahrt Erkenntnisse über die zwei Bewegungen der karibischen Inseln mit: Die ›nach innen‹ gewandte Bewegung zum isolierten Insel-Ich steht nur in einem scheinbaren Widerspruch mit der ›nach außen‹ gerichteten archipelaren Vernetzung des Insel-Wir. Schließen besonders isolierende Konstruktionen91 zwar vermeintlich jegliche Vernetzung aus, so lassen die bei Walcott im Schlussteil angedeuteten Strukturen einer transplanetaren oder gar transzendenten Archipelik gleichzeitig die Isolation des Individuums zu. Damit scheint allein die gemeinsame Betrachtung der beiden räumlichen Bewegungen – Isolation und Vernetzung – die komplexen und hybriden Möglichkeiten karibischinsularer Identitätskonstruktion wiederzugeben. Inwiefern dieses und alle weiteren hier untersuchten Modelle insularer Identität und Archipelik auch außerhalb der papierenen Welten fruchtbar und tragfähig sind, und inwiefern diese karibische Erfindung und Erfahrung weltweit anwendbar ist,92 dies gilt es zu diskutieren.
89 A. Benítez Rojo: La isla que se repite. 90 Ebd., S. 5: »Die Karibik könnte allerdings auch wie eine Figur mit diffusen Kanten gesehen werden, welche die geraden Linien und Kurven kombiniert, sagen wir, eine sich nach ›draußen‹ versetzende, spiralförmige Galaxie – das Universum – welche ihre eigene Geschichte nach ›innen‹ entfaltet und faltet.« (Übersetzung D. G.). 91 Raoul Schrotts Literarisierung der total isolierten Insel aus dem Jahr 2003 untersucht Sylvie Grimm-Hamen im vorliegenden Band. 92 Dass karibische Modelle für eine globale Ausweitung geeignet sind, dies zeigt in besonders emanzipatorischem Tonfall Silvio Torres-Saillant: An Intellectual History of the Caribbean, New York, N. Y. u. a.: Palgrave Macmillan 2006. Vgl. für weitere karibische Theoretiker mit überregionaler Wirkung: O. Ette: Von Inseln, Grenzen und Vektoren, S. 176.
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Die Entdeckung der Neuen Welt als Inselarchipel. Literarische Strategien der spa spanischen nischen Hegemonie in Kolumbus’ Brief aus der Neuen Welt SILVAN WAGNER Die Literatur über Christopher Kolumbus und die ›Entdeckung‹ Amerikas ist längst unübersichtlich geworden und erlebte insbesondere im Umfeld des Jubiläumsjahres 1992 einen enormen Schub.1 Dabei steht nach wie vor in erster Linie die Person Kolumbus’ selbst und das kolonialistische Schicksal Amerikas nach der ›Entdeckung‹ im Fokus der wissenschaftlichen Betrachtung; in der Tat ist die Fahrt des Kolumbus sowohl für das Selbstverständnis der Neuzeit als auch für das Schicksal der amerikanischen Urbevölkerung von höchster Relevanz, ist sie doch realhistorischer Fixpunkt für den Entdeckermythos des 16. Jahrhunderts wie auch für den parallel anlaufenden Ethnozid in der Karibik.2 Was dabei weitgehend aus dem Blick gerät, ist ein literarisches Produkt der ersten Reise, das trotz des anfänglich zögerlichen Interesses an den neu entdeckten Ländern3 in Westeuropa von Anfang an breit rezipiert wurde;4 die Rede ist von dem sogenannten Ersten Brief aus der Neuen Welt – ein irreführender, moderner Titel, der bereits auf dem Mythos Kolumbus aufbaut, worauf noch zurückzukommen sein wird.
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Vgl. etwa Winfried Wehle (Hg.): Das Columbus-Projekt. Die Entdeckung Amerikas aus dem Weltbild des Mittelalters, München: Fink 1995. Vgl. Noble David Cook: »Sickness, Starvation, and Death in Early Hispaniola«, in: Journal of Interdisciplinary History 32, 3 (2002), S. 349-386. Die europäische Kartographie reagiert nur sehr zögerlich auf die schnell anwachsenden neuentdeckten Ländereien (vgl. Hans-Joachim König: »Mythisches, Irrtümliches und Merkwürdiges im Kartenbild«, in: Hermann Holzbauer (Hg.), Die Alte Welt und die Neue Welt. Mittel- und Südamerika in alten Büchern, Eichstätt: Schriften der Universitätsbibliothek Eichstätt 1992, S. 24-36, hier: S. 16f.). Vgl. Robert Wallisch: »Vorwort zur Textausgabe«, in: Kolumbus. Der erste Brief aus der Neuen Welt, Stuttgart: Reclam 2000, S. 9.
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Seine gedruckten und in viele Sprachen übersetzten Versionen bilden den hermeneutischen Ausgangspunkt der europäischen Rezeption der Reisen Kolumbus’.5 Der von Kolumbus an den spanischen Schatzmeister adressierte Brief6 wird von Leandro de Cosco ins Lateinische übersetzt und überarbeitet und 1493 und 1494 auch in Basel von Johann Bergmann gedruckt; der damit nur noch mittelbar auf Kolumbus zurückgehende Druck von 1494 bietet hier die Textgrundlage, da er aufgrund seiner kostbaren Holzschnitte weit verbreitet und rezipiert wurde. Diese Rezeption des KolumbusBriefes soll vor dem geistigen Horizont des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation des ausgehenden 15. Jahrhunderts im Folgenden untersucht werden, wobei der Fokus notwendigerweise auf die vorauslaufenden hermeneutischen Traditionen gelegt wird und die sich weiterentwickelnde Sichtweise auf die Neue Welt im 16. Jahrhundert ausgeklammert bleibt. Konzeption und Intention des Briefes kommen nur der Rezeption untergeordnet in den Blick. In erster Linie richtungsweisend für die Rezeption des Kolumbusbriefes sind die Titel seiner Basler Ausgaben: De insulis inventis (Von neu gefundenen Inseln, 1493) bzw. De insulis nuper in mari Indico repentis (Von der Auffindung neuer Inseln im Indischen Meer, 1494) werden die Drucke übertitelt, neue Inseln und nicht etwa eine Neue Welt stellen das Thema; der Begriff des mundus novus geht erst auf Amerigo Vespucci zurück, der die Entdeckungen Kolumbus’ (vor allem auf dessen dritter Reise) zu einem neuen Weltbild zu5
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Bei dieser Rezeption schließt sich wieder der Kreis zur Entdeckungsgeschichte Amerikas, denn »Entdeckungsgeschichte ist stets auch Bildungsund nicht selten Literaturgeschichte« (Folker Reichert: »Columbus und Marco Polo – Asien in Amerika. Zur Literaturgeschichte der Entdeckungen«, in: Zeitschrift für historische Forschung 15, 1 (1988), S. 1-63, hier: S. 6). Kolumbus verfasst einen ersten Brief über seine Entdeckungen vor der Küste Indiens bzw. Chinas, wie er glaubt (zum Verhältnis von Indien und China im Denken Kolumbus’ vgl. R. Wallisch: Nachwort zur Textausgabe, S. 86), als er auf der Rückfahrt nach Spanien am 15. Februar 1493 in einen heftigen Sturm gerät und die Havarie droht. Diese als Flaschenpost verschickte erste Version des Briefes an die spanische Krone geht genauso wie eine an Bord bleibende Kopie verloren (vgl. Christoph Kolumbus: Bordbuch. Aufzeichnungen seiner ersten Entdeckungsfahrt nach Amerika 1492-93. Übersetzung von Anton Zahorsky, Kreuzlingen/München: Hugendubel 2006, Eintragung zum 14. Februar, S. 237f.). Als der Sturm am Folgetag wieder abflaut, schreibt Kolumbus eine dritte Version des Briefes, den er nun an den spanischen »Verwalter der königlichen Privatschatulle« adressiert und – angekommen in Lissabon – nach Barcelona versendet (zur Verwechslung des Adressaten durch de Cosco vgl. R. Wallisch: Apparat zur Textausgabe, Anm. 2, S. 51). Dieser Brief wird von Pedro Posa Anfang April 1493 gedruckt. Die lateinische Version des Briefes von de Cosco erscheint ab Mai 1493 in Rom, Antwerpen, Paris und auch in Basel.
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sammenfügt.7 Keimzelle dieser Neuen Welt aber werden die neu aufgefundenen Inseln sein, von denen aus später der Kontinent Amerika gedacht werden wird: »Die ›Erfindung‹ und Konstruktion der ›Neuen Welt‹ erfolgte über die karibische Inselwelt und ist ohne diese in ihrer Entwicklung nicht denkbar«.8 Die erste Rezeption des Kolumbusbriefes findet aber lange vor dem Einsatz dieser Entwicklung statt; der Kolumbusbrief stellt zwar aus historisch rückblickender Perspektive die erste Begegnung mit der Neuen Welt dar, doch diese wird in ihm als Inselarchipel eingeführt, wofür Kolumbus und de Cosco hermeneutisch sowohl auf überliefertes literarisches und religiöses Wissen als auch auf aktuelle politische Strukturen zurückgreifen, wie nun ausgeführt werden soll.
Die literarischen und religiösen Vorbilder der Inseln im Westen In den Basler Ausgaben des Briefes sind dem Text auch fünf Holzschnitte beigegeben, von denen vor allem einer im Verlauf der Bildung des neuzeitlichen Mythos von der Entdeckung der Neuen Welt Berühmtheit erlangte: Die Karavelle des Admirals, die die zweite Basler Ausgabe beschließt, bildet aber keineswegs die Santa Maria Kolumbus’ ab, sondern entstammt einem älteren Werk, der Peregrinatio in Terram Sanctam von Bernhard von Breydenbach aus dem Jahre 1486.9 Damit ist der Brief bereits durch die Holzschnitte in die Tradition spätmittelalterlicher Reiseliteratur gestellt, die auch in Bezug auf die Insel(n) im Westen einschlägige Vorbilder bereit hält, denen sowohl Kolumbus auf seiner Reise als auch die westeuropäischen Rezipienten seines Briefes folgen. Sicherlich am wichtigsten10 in diesem Zusammenhang ist Brandans Meerfahrt, ein legendenhafter Stoff um eine von Gott an7
Freilich wurde Amerika auch in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts noch von vielen Autoren als Ausläufer Asiens angesehen (vgl. F. Reichert: Columbus und Marco Polo, S. 52f.), so dass der Begriff des mundus novus erst zögerlich und allmählich seine moderne Bedeutung erlangt hat. 8 Ottmar Ette: »Von Inseln, Grenzen und Vektoren. Versuch über die fraktale Inselwelt der Karibik«, in: Marianne Braig/Ottmar Ette/Dieter Ingenschay/Günther Maihold (Hg.), Grenzen der Macht – Macht der Grenzen. Lateinamerika im globalen Kontext, Frankfurt/Main: Vervuert 2005, S. 135180, hier: S. 148. 9 Vgl. R. Wallisch: Vorwort zur Textausgabe, S. 9. 10 Diese Bewertung bezieht sich vornehmlich auf die literarische Semantik der Insel(n) im Westen, die Kolumbus mit den westeuropäischen Rezipienten seines Briefes teilt. Kolumbus hat zur konkreten Vorbereitung seiner Reise freilich neben fiktionaler Literatur in erster Linie wissenschaftliche Literatur
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geordnete Seereise des heiligen Brandan zu wunderbaren westlichen Inseln, die zwei Texttraditionen ausgebildet hat: Die lateinische sogenannte Navigatio-Fassung, die ihre Tradition seit Mitte des 10. Jahrhunderts ausbildet, bis ins 15. Jahrhundert tradiert und in viele Volkssprachen übersetzt wird,11 erzählt von Brandan auf der Reise in die Terra Repromissis Sanctorum. Diese Reise verknüpft mit der Schilderung mehrerer Paradies-Inseln die Idee der Insel im Westen mit der Semantik des Paradieses. Noch konkreter wird die sogenannte Reise-Fassung des Brandan-Stoffes (eine deutschsprachige Parallelversion zur Navigatio, die vor allem in der Form eines gedruckten Volksbuches im 15. Jahrhundert eine große Verbreitung erfährt),12 die für den deutschsprachigen Rezeptionsraum des Kolumbus-Briefes als bekannt vorauszusetzen ist; der erste Augsburger Druck von 1476 schildert eindrücklich und unter Verwendung des biblischen Motivs der Goldenen Stadt die Landung Brandans auf einer Insel, die das Paradeiß in Form einer Burg enthält.13 Diese Verknüpfung der Paradiesinsel mit gewaltigem Reichtum erweist sich als überaus wirkmächtig gerade für die reale Seefahrt: Die Brandan-Inseln wurden »nicht nur vom 13.-16. Jh. auf geographischen Karten irgendwo im westlichen Meer eingezeichnet, sondern man hat noch bis ins 18. Jh. Expeditionen ausgesandt, die die Terra Repromissionis des irischen Abtes draußen im Ozean suchen sollten«.14 Reinhold Grimm hat auf der Basis der Bordbücher herausgearbeitet, dass Kolumbus konsequent in Nachfolge Brandans das irdische Paradies sucht und damit die entsprechende Heilssemantik tendenziell auch auf die aufgefundenen Inseln überträgt.15
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seiner Zeit einbezogen (zu den nachweisbar von Kolumbus verwendeten Texten vgl. F. Reichert: Columbus und Marco Polo, S. 19 und 23f.). Vgl. Walter Haug: »Brandans Meerfahrt«, in: Kurt Ruh (Hg.), Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 1, Berlin, New York: de Gruyter 1978, Sp. 985-991, hier Sp. 986. Vgl. ebd., Sp. 986 u. 988f. Vgl. Sankt Brandan: Zwei frühneuhochdeutsche Prosafassungen, hg. von Rolf Fay, Stuttgart: Helfan-Edition 1985, S. 16-18. W. Haug: Brandans Meerfahrt, Sp. 990. Vgl. Reinhold Grimm: »Das Paradies im Westen«, in: W. Wehle (Hg.), Das Columbus-Projekt, S. 73-113. Kolumbus stellt in seinem Bordbuch abschließend den Zusammenhang zwischen dem irdischen Paradies und den Inseln im Westen (die zugleich im äußersten Osten liegen) her: »Die Theologen und philosophischen Weisen haben mit ihrer Behauptung wohl recht, dass das irdische Paradies im äußersten Osten liege, da dieser ein überaus mildes Klima besitzt, während die Inseln, die ich jetzt entdeckt habe, das Ende des Ostens sind« (Chr. Kolumbus: Bordbuch, Eintragung zum 21. Februar, S. 248). Wichtiger für unseren Zusammenhang ist jedoch, dass der Brandanroman auch den Rezeptionsrahmen für den Kolumbusbrief in Westeuropa stellt.
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Aus moderner Perspektive mag diese Zielsetzung – das Auffinden des irdischen Paradieses – überraschen, doch der spätmittelalterliche Mensch Kolumbus ist keineswegs der Rationalist, den der neuzeitliche Mythos aus ihm gemacht hat: Pauline Watts hat nachgewiesen, dass das Selbstbild Kolumbus’ zwischen dem rationalen Geographen und dem apokalyptischen Erfüller der Heilsgeschichte oszilliert.16 Gerade die pragmatische Erforschung des gesamten Erdkreises (der mit der Entdeckung des Westweges nach Indien abgeschlossen wäre) ist in einem religiösen Kontext die apokalyptische Voraussetzung für die Parousie Christi, da nur damit der biblische Universalitätsanspruch des Glaubens erfüllt werden kann:17 Die Mission der gesamten Welt setzt die Kenntnis der gesamten Welt voraus, und mit dieser Kenntnis ist die Herrschaft Christi auf Erden in greifbare Nähe gerückt. Aus diesem Kontext heraus erklärt sich, dass Kolumbus in seinem Brief auch den Missionsdiskurs bemüht und die auf den Inseln vorgefundenen Einwohner als überaus leicht zu missionierende »Naturchristen«18 darstellt: »Auf all diesen Inseln finden sich weder Unterschiede im Aussehen der Menschen, noch in Gebräuchen und Sprache, im Gegenteil, alle verstehen einander. Dieser Umstand ist für das Ziel, welches unser durchlauchtigster König vor allen anderen, wie ich meine, zu erlangen wünscht, von größtem Nutzen, nämlich für die Bekehrung der Inselbewohner zum Christentum. Überhaupt haben die Menschen hier, soweit ich verstehen konnte, mit unserem Glauben keine Schwierigkeiten und zeigen dafür auch eine gewisse Neigung.«19
Diese Einschätzung Kolumbus’ (der ja den Missionsbefehl dem spanischen König förmlich in den Mund legt) kann zu diesem Zeitpunkt keinesfalls empirisch gestützt sein und wird sich auch bald als unzutreffende Pauschalierung herausstellen: Zwischen den Insulanern herrschen starke kulturelle und sprachliche Unterschiede,20 womit sich die behauptete Einsprachigkeit als Projektion entpuppt; ihre Funktion ist es, zusammen mit der »Neigung« zum Christentum einen gleichsam vorbabylonischen Zustand zu evozieren, der sich auch aus der im Brandan-Roman geprägten Semantik der Insel als
16 Vgl. Pauline Moffitt Watts: »Prophecy and Discovery: On the Spiritual Origins of Christopher Columbus’s ›Enterprise of the Indies‹«, in: The American Historical Review. Supplement to Volume 90 (1985), S. 73-102. 17 Vgl. Winfried Wehle: »Columbus’ hermeneutische Abenteuer«, in: ders., Das Columbus-Projekt, S. 153-203, hier: S. 185. 18 R. Wallisch: Apparat zur Textausgabe, Anm. 30, S. 59. 19 Christoph Kolumbus: Der erste Brief aus der Neuen Welt. Übersetzt, kommentiert und herausgegeben von Robert Wallisch, Stuttgart: Reclam 2000, S. 27. 20 Vgl. R. Wallisch: Nachwort zur Textausgabe, S. 96.
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paradiesischer Ort speist. Diese Assoziation verdichtet sich zu einem Befund, bezieht man weitere Indizien mit ein, die das paradiesische Bild der ›indischen Inseln‹ abrunden: Kolumbus betont die Schönheit und Fruchtbarkeit der Inseln, deren Bäume »hoch bis zu den Sternen«21 reichen und immergrün sind, deren fruchtbare Pracht auch im November den iberischen Mai überbieten und die schließlich durch den Einbezug der Fauna zum locus amoenus komplettiert werden:22 »Es sang die Nachtigall und auch verschiedene andere Vögel ohne Zahl, und das im Monat November, als ich selbst zwischen den Bäumen wandelte.«23 Mit dem Wort deambulare (wandeln) zitieren Kolumbus bzw. de Cosco das Wandeln Gottes im Paradiesgarten nach dem Vulgatatext,24 ein gewichtiges Indiz für die paradiesische Semantik der Insel, da die Stelle im Brieftext ohne weitere Funktion steht und eher überraschend die Person Kolumbus’ in die ansonsten distanzierte Schilderung hineinnimmt. Die Insulaner selbst schildert Kolumbus als überaus friedfertig25 und liebevoll,26 an ihrem Äußeren wird neben der Schönheit vor allem ihre Nacktheit betont27 – ihre Erscheinung und Natur sind damit dem paradiesischen Ort gemäß inszeniert. Das Motiv der Nacktheit speist sich nicht nur aus dem biblischen Garten Eden, sondern ist auch in der Reiseliteratur fest mit 21 Chr. Kolumbus: Der erste Brief aus der Neuen Welt, S. 17. Die hohen und fruchtbaren Bäume zeichnen das biblische Bild des Garten Eden nach (vgl. 1. Mose 2,9: »Produxitque Dominus Deus de humo omne lignum pulchrum visu et ad vescendum suave lignum etiam vitae in medio paradisi lignumque scientiae boni et mali«). 22 Vgl. R. Wallisch: Apparat zur Textausgabe, Anm. 21, S. 57. 23 Chr. Kolumbus: Der erste Brief aus der Neuen Welt, S. 17f. Im Original: »Garriebat philomena et alii passeres varii ac innumeri mense Novembris, quo ipse per eas deambulabam«. 24 1. Mose 3,8: »et cum audissent vosem Domini Dei deambulantis in paradiso ad auram post meridiem abscondit«. 25 Vgl. Chr. Kolumbus: Der erste Brief aus der Neuen Welt, S. 18f. Kolumbus behauptet in diesem Zuge auch, dass die Insulaner keine metallischen Waffen besitzen, äußerst furchtsam sind und selbst ihre Holzwaffen wegen dieser Furcht nicht benutzen (vgl. ebd. S. 20f.); in Spannung dazu steht, dass Kolumbus in Navidad sofort ein Verteidigungsfort bauen lässt, womit er indirekt der Bedrohung durch die Insulaner begegnet (vgl. ebd., S. 28f.). Angesichts dieser Vorsichtsmaßnahmen entlarvt gerade seine anschließend wiederholte Beteuerung der Friedfertigkeit der Insulaner diese Information als aus der literarischen Paradiessemantik der Insel heraus motiviert – eine religiöse Semantik, die im militärischen Diskurs zu Spannungen und nur notdürftig geglätteten Widersprüchen in der Darstellung führt. 26 Vgl. ebd., S. 24f. 27 Vgl. ebd., S. 18f.
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dem Bild der Insel verknüpft: In Marco Polos Il Milione von 1299 (eine in seiner lateinischen Fassung aus dem 14. Jahrhundert28 bis weit in die Neuzeit hinein rezipierte Reisebeschreibung nach China und Indien) schildert der Erzähler auch exemplarisch die zahlreichen indischen Inseln29 im äußersten Osten; dabei werden die Inseln Necuveran und Seilan von nackten Menschen bewohnt30 – ein Bild, das Kolumbus direkt auf die Karibik übertragen kann, denkt er doch die indischen Inseln im äußersten Osten auf dem Westweg erreicht zu haben. Wichtiger als das Motiv der Nacktheit (das bei Marco Polo nicht mit weiteren paradiesischen Motiven verbunden wird) ist aber ein Motiv, dass bereits die Paradiesinsel Brandans grundlegend kennzeichnete: Gold. Cipangu, die erste der geschilderten Inseln, geht als die Goldinsel schlechthin in die europäische Geistesgeschichte des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit ein: »Die Goldvorkommen auf der Insel sind unbeschreiblich reich. Ihr müsst aber wissen: Niemand führt das Gold aus; denn kein Kaufmann, noch sonst irgendwer, reist von der Insel zum Festland. Daher dieser ungeheure Besitz an Gold.«31 Dass Kolumbus die Schriften Marco Polos zur konkreten Planung seiner Reise heranzog, war bereits dem 16. Jahrhundert bekannt, und die paläographische Untersuchung der Inkunablen der Bibliotheca Colombina bestätigt diese These.32 Wie schon das Motiv der Nacktheit besitzt auch das Motiv der Goldinsel sowohl literarische als auch biblische Wurzeln: Das erste Buch der Könige erzählt von der Finanzierung des salomonischen Tempelbaus, dessen Gold zum Großteil mit Schiffen von Ophir und Tarsis geholt wird,33 das zehnte Buch Jeremia spricht von Silber aus Tarsis und Gold aus Ophir.34 Die Bibel stellt Ophir und Tarsis zwar nicht als Inseln dar, Kolumbus aber
28 Vgl. F. Reichert: Columbus und Marco Polo, S. 9. 29 Marco Polo spricht von 7448 Inseln im chinesischen und von 12 700 Inseln im indischen Meer (vgl. Marco Polo: Il Milione. Die Wunder der Welt. Übersetzung und Nachwort von Elise Guignard, Zürich: Manesse-Verlag 2008, S. 285 bzw. 368). 30 Vgl. ebd., S. 300-302. 31 Vgl. ebd., S. 277. 32 Vgl. F. Reichert: Columbus und Marco Polo, S. 1-5. Im Bordbuch erwähnt Kolumbus auch des öfteren die Goldinsel Cipangu als ein konkretes Ziel. 33 Vgl. 1. Kön. 9,26-28; 10,22 (Wehle verortet – einem Fehler Kolumbus’ in dessen Buch der Prophezeiungen folgend – die Stelle fälschlicherweise im nicht existenten 3. Buch der Könige). 34 Vgl. Jer. 10,9. Ophir als Goldland taucht auch noch an weiteren Stellen der Bibel auf, so dass der Name topisch für reiche Goldvorkommen werden konnte.
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identifiziert Ophir und Tarsis traditionell35 als Inseln, was sich auch in den Randnotizen seiner exegetischen Schrift »Buch der Prophezeiungen« niederschlägt; so vermerkt er zu fünf von insgesamt sieben zitierten Bibelstellen, dass hier eine Insel gemeint sei, und zu 1. Kön. 9,28 kommentiert er: »Die Insel Tarsis, die auch Ophir genannt wird, wo Goldminen usw. zu finden sind.«36 Die biblisch unbestimmten Orte fließen hier zusammen zu einer Goldinsel, die bereits seit Josephus im indischen Raum vermutet wird,37 eine Interpretation, die im frühneuzeitlichen Europa eine lange Tradition ausbilden kann.38 Winfried Wehle hat nachgewiesen, dass sich Kolumbus in seinen Schriften oftmals auf die salomonische Finanzierung des Tempelbaus durch das Gold aus Ophir/Tarsis beruft und seine Goldsuche damit in einer allegorischen Selbstsicht dem Bau des neuen Tempels in Jerusalem widmet, sprich: Der Rückeroberung des Heiligen Landes von den Arabern.39 Durch den Holzschnitt aus Bernhards Peregrinatio in terram sanctam stellt auch der Druck des Briefes diesen Zusammenhang auf piktoraler Ebene her: Im
35 Diese Interpretation ist freilich nicht auf Kolumbus beschränkt, vgl. Heinz Hofmann: »Die Geburt Amerikas aus dem Geist der Antike«, in: International Journal of the Classical Tradition 1, 4 (1995), S. 15-47. 36 Christophoro Colombo: The book of prophecies, Band III. Hg. von Roberto Rusconi, Berkeley: University of Berkeley Press 1997, S. 322. Kolumbus verortet das Bibelzitat fälschlich bei 3. Kön. 9, vgl. Anm. 33. 37 Vgl. R. Bach: »Ofir«, in: RGG, 3. Aufl., Band 4, Sp. 1658f. 38 Auch die Lutherbibel von 1534 verortet Ophir indirekt in Indien, da eine Marginalglosse zum 9. Kapitel des ersten Königsbuchs zum Begriff Ebenholz (einem Teil der Schiffsladung aus Ophir) vermerkt: »Ist ein bawm jnn Indien land« (Luther-Bibel von 1534. Vollständiger Nachdruck. Band I, Köln: Taschen 2002, S. CXII v.). 1567 entdeckt Mendaña de Neyra eine Inselgruppe westlich Polynesiens und identifiziert diese mit dem alttestamentarischen Ophir, woraus der Name Salomoninseln für das Archipel resultiert (vgl. Pierer’s Universal-Lexikon, Band 14, Art. Salomoninseln, S. 800f.). Noch 1738 verknüpft Willibald Kobold in seinem hermeneutischen Kompendium Die Groß- und Kleine Welt das Salomonische Ophir mit WestIndien, wie die erweiterte Karibik bis weit ins 19. Jahrhundert hinein genannt wird (vgl. Willibald Kobolt: Die Groß- und Kleine Welt, NatürlichSittlich- und Politischer Weiß zum Lust und Nutzen vorgestellt [...], Augsburg 1738, S. 90f.). Lauremberg fasst 1717 die überkommene Lehrmeinung (allerdings bereits kritisch) zusammen, die in Amerika das alttestamentarische Ophir sieht (vgl. Peter Lauremberg: Neue und vermehrte Acerra philologica, Das ist: Sieben Hundert auserlesene, nützliche, lustige und denckwürdige Historien und Discursen, aus den berühmtesten griechischen und lateinischen Scribenten zusammengetragen [...], Frankfurt/Main, Leipzig 1717. Zitiert nach: Digitale Bibliothek, Band 111: Merkwürdige Literatur. Berlin 2005 [DVD-Rom], S. 400f.). 39 Vgl. W. Wehle: Columbus’ hermeneutische Abenteuer, S. 181.
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selben Holzschnitt fährt das Pilgerschiff nach Jerusalem und die Santa Maria nach »Indien«. Der Text berichtet von großen Goldvorkommen und anderen Reichtümern und verspricht schließlich den Katholischen Königen vollmundig: »so viel Gold verschaffen, wie sie benötigen«.40 Vor dem Hintergrund der literarischen und biblischen Vorbilder für die Insel(n) im Westen ist es kaum mehr von Interesse die diffusen Hinweise des historischen Kolumbus’ bezüglich seines konkreten Zieles zu entwirren und zu vereindeutigen: Gleichgültig, ob er nach biblischen Vorbild die Inseln Ophir und Tarsis suchte41 oder nach dem Vorbild Brandans das irdische Paradies auf einer Insel im Westen vermutete42 oder nach dem Vorbild Marco Polos die Goldinsel Cipangu ansteuerte43 – immer wären das Gold und das Paradies (oft konkretisiert in der Nacktheit der Insulaner) bestimmende Seme der Insel im Westen. Dies gilt offensichtlich auch für die deutschsprachige Rezeption des Kolumbus-Briefes, wie sich am Narrenschiff von Sebastian Brant aus dem Jahr 1494 (eines der frühesten und einflussreichsten Rezeptionszeugnisse des Briefes) belegen lässt; unter der Überschrift »von erfarung aller land« heißt es in Bezug auf den Kolumbus-Brief: »Ouch hatt man sydt jnn Portigal // Vnd jnn hispanyen vberall Golt / jnslen funden / vnd nacket lüt // Von den man vor wust sagen nüt«.44
Die politischen Vorbilder der Inseln im Westen Der wichtigste politische Aspekt im Umfeld des Kolumbusbriefes ist sicherlich die Reconquista, die Rückeroberung Spaniens von den Arabern.45 1492, kurz bevor Kolumbus für seine erste Reise nach Westen in See sticht, wird das arabische Granada von den Katholischen Königen, Ferdinand II. von Aragon und Isabella von Kastilien, erobert, wodurch die jahrhundertelange Auseinandersetzung zwischen Christen und Moslems auf der iberischen Halbinsel abge40 41 42 43 44
Chr. Kolumbus: Der erste Brief aus der Neuen Welt, S. 33. Vgl. W. Wehle: Columbus’ hermeneutische Abenteuer, S. 153-203. Vgl. R. Grimm: Das Paradies im Westen. Vgl. F. Columbus und Marco Polo. S. 1-63. Sebastian Brant: Das Narrenschiff, hg. von Joachim Knape. Stuttgart: Reclam 2005, S. 329, VV 53-56. 45 Zum politischen und wirtschaftlichen Umfeld Kolumbus’ vgl. Enrique Otte: »Das genuesische Unternehmertum und Amerika unter den Katholischen Königen«, in: ders., Von Bankiers und Kaufleuten, Räten, Reedern und Piraten, Hintermännern und Strohmännern. Aufsätze zur atlantischen Expansion Spaniens. Besorgt von Günter Vollmer/Horst Pietschmann, Stuttgart: Steiner 2004 (=Studien zur modernen Geschichte 58), S. 235-263.
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schlossen wird.46 Spanien rückt damit plötzlich in den Mittelpunkt des europäischen politischen Geschehens: In der europäischen Wahrnehmung ist der Sieg über die iberischen Araber eingebettet in die eschatologische Verheißung der umfassenden Durchsetzung des christlichen Glaubens.47 Das ausgehende 15. Jahrhundert begreift sich apokalyptisch als Endzeitalter,48 so dass nach der abgeschlossenen Reconquista nur noch ein Aspekt von der Umsetzung des biblischen Missionsbefehls und damit vom Anbruch des Eschatons trennt: Die Rückeroberung Jerusalems von den Arabern – ein Ziel, das (wie bereits skizziert) auch Kolumbus indirekt mit seiner Fahrt nach Westen verfolgt. Die Verknüpfung der Entdeckung neuer Inseln im Westen und der umfassenden Bekehrung der Welt zum christlichen Glauben schlägt sich in der zweiten Basler Ausgabe des Kolumbusbriefes in zweierlei Hinsicht nieder: Zunächst ist dem eigentlichen Brief ein Gedicht aus der Feder Sebastian Brants angehängt, das die Katholischen Könige zur Entdeckung der ›Indischen‹ Inseln und zur Eroberung Granadas zugleich beglückwünscht;49 sodann folgt ein historisches Drama über die Reconquista, so dass der gesamte Text des Druckwerkes den religiös-militärischen Erfolgen der spanischen Könige ein deutliches Übergewicht verleiht. Dieser für Westeuropa selbstverständliche Zusammenhang erklärt das für moderne Menschen äußerst geringe Echo, das die Entdeckung Kolumbus’ nach sich zog: Die Entdeckungen sind aufgehoben in einem heilsgeschichtlichen Zusammenhang, die neuen Inseln interessieren vorerst nicht per se, sondern haben einen allegorischen Verweischarakter 46 Vgl. Ferdinand Gschwendtner: »Reconquista und Conquista. Kastilien und der Ausgriff nach Amerika«, in: Peter Feldbauer/Gottfried Liedl/John Morrissey (Hg.), Vom Mittelmeer zum Atlantik. Die mittelalterlichen Anfänge der europäischen Expansion, Wien, München: Verlag für Geschichte u. Politik 2001 (=Querschnitte 6), S. 189-210. 47 In diesem Zusammenhang sind auch die mit dem Sieg über Granada einhergehenden Zwangstaufen (»Alhambra-Edikt«) zu sehen, die v. a. gegen Juden angewendet wurden (vgl. René Alexander Marboe: Von Burgos nach Cuzco. Das Werden Spaniens 530-1530, Essen: Magnus-Verlag 2006 (=Expansion. Interaktion, Akkulturation 9), S. 278); auch die Etablierung der Spanischen Inquisition (die sinnfällig mit den Scheiterhaufen das Endgericht in einer grausamen, präsentischen Eschatologie vorwegholt) koinzidiert notwendigerweise mit der Eroberung Granadas (vgl. ebd., S. 309f.). 48 Vgl. W. Wehle: Columbus’ hermeneutische Abenteuer, S. 181f. 49 Dies belegt, dass der Autor des Narrenschiffs seine (oben zitierte) Rezeption der Entdeckungen der Inseln im Westen dezidiert auf den KolumbusBrief aufbaut und auch keineswegs dem gesamten Projekt negativ gegenübersteht: Seine Kritik im Narrenschiff wie auch seine Beglückwünschung begreifen das Projekt unter religiösen Vorzeichen, einmal als närrische Vermessung der Schöpfung, einmal als Missionserfolg.
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auf die Letzten Dinge. Entdeckung neuer Länder und militärische Eroberung sind in diesem Zusammenhang engstens mit Mission verknüpft;50 parallel dazu zeigt die hispanische Politik der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts deutliche Zentralisierungstendenzen. Mit der Heirat Ferdinand II. von Aragón mit Isabella von Kastilien 1469 bilden sie als die Katholischen Könige einen Herrschaftsverbund der Königreiche Aragón und Kastilien, der zunehmend einen zentralistischen Sog auf die iberische Halbinsel ausübt, wobei die Eroberung Granadas einen wichtigen Impuls setzt: »Der Fall des maurischen Fürstentums Granada am 2. Januar 1492 brachte die territorialpolitische Arrodierung des Landes zu ihrem Ende. Da das unmittelbar messbare Surplus des Landgewinns [...] dem Königreich Kastilien-León zufiel, konnte dieses seine ohnehin schon dominante Stellung gegenüber Aragón noch weiter ausbauen. Trotz staatsrechtlicher Eigenständigkeit der beiden Reiche bedurfte es zur ideologischen Einheit eines sich vage abzeichnenden Gesamtspaniens nun eines weiteren Schrittes. Die Einheit der Religion sollte [...] der territorialen Einheit folgen.«51
Dieser Beginn eines hispanischen Reiches auf der Basis unter einer Doppelherrschaft vereinter Königreiche wird europaweit mit großem Interesse rezipiert und bestimmt auch das Kapitel von hyspania in der Schedelschen Weltchronik von 1493, wo Spanien wie folgt beschrieben wird: »Hispania ein fast weytte gegent am erdpoden den besten wol zeuergleichen an waffen mechtig ist zu vnßern zeiten in fuenf koenig getaylt. den ersten und den groesten nennt man den koenig Castelle. den andern zu Arrogon den dritten zu Porthegalia. den vierden Nauerre. den fünften Granate. den letzten setzen sie in Castella dem edeln vnd weytherrschenden königreich. Dess koenige auß dem pluot der Gothier gewachßen das geschlecht nye verwandelt haben.«52
50 Dieser Zusammenhang bestimmt bereits die lateinische Ausgabe von Marco Polos Il Milione aus dem 14. Jahrhundert, in deren Vorrede der Übersetzer Francesco Pipino schreibt: »Die Gläubigen sollten in der Erkenntnis der Werke des Herrn seine Weisheit verehren und Gott danken, daß er ihnen inmitten so vieler Dunkelheit und Irrtum befangener Heidenvölker das Licht seiner Wahrheit offenbart habe; auch könnten sie sich von der Anschauung bejammernswerter Unwissenheit zu Gebet und Mitgefühl, Geistliche und Mitbrüder sich vielleicht sogar zur Heidenmission anregen lassen« (zitiert nach: F. Reichert: Columbus und Marco Polo, S. 9). Kolumbus besaß nachweislich ein Exemplar dieser Ausgabe (vgl. ebd., S. 24). 51 R. A. Marboe: Von Burgos nach Cuzco, S. 321. 52 Hartmann Schedel: Weltchronik 1493. Kolorierte und kommentierte Gesamtausgabe [Faksimile von Sign. Inc. 119, Herzogin Anna Amalia Bibliothek], Köln: Taschen 2001, S. CCLXXXIIIIv.
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Fünf Königreiche, von denen eines – Kastilien – nicht nur inhaltlich, sondern auch durch die doppelte Nennung herausgehoben wird, so zeichnet der Text der Schedelschen Weltchronik das Bild der iberischen Halbinsel. Bezeichnend für die spanischen Zentralisierungstendenzen ist, dass auch Portugal und Navarra unter dem Stichwort »Hispanien« subsumiert werden und damit hierarchisch mit Kastilien in Beziehung gesetzt werden können.53 Die relative Eigenständigkeit der einzelnen Königreiche trotz der Vorherrschaft Kastiliens drückt sich im beigefügten Bild dadurch aus, dass einzelne MachtInseln voneinander durch Wasser abgetrennt sind,54 wobei die Burgen den jeweiligen Herrschaftssitz symbolisieren. Die zentrale Insel mit zwei Burgen dürfte hier Kastilien und Aragón symbolisieren, die beiden Königreiche, die mit der Heirat Ferdinands und Isabella miteinander verbunden sind; daraus resultiert auch, dass im Bild nur vier Inseln zu unterscheiden sind, während der Text fünf Königreiche differenziert.55
53 Portugal besitzt in der Weltchronik eine sonderbare Zwischenstellung, da es zwei Seiten nach der Darstellung Hispaniens und seiner Unterordnung unter die kastilische Herrschaft eine eigenständige Darstellung erhält. Dies ist daraus zu erklären, dass Portugal zwar weiterhin eigenständiges Königreich bleibt, doch in den 80er Jahren des 15. Jahrhunderts eine Fusion mit Kastilien-Leon zu einem iberischen Großreich scheinbar kurz bevorsteht (vgl. R. A. Marboe: Von Burgos nach Cuzco, S. 279). Navarra kann 1512 schließlich der spanischen Herrschaft einverleibt werden, was in der Subsummierung unter Hispanien in der Schedelschen Weltchronik bereits vorweggeholt ist. 54 Wasser besitzt schon in der Kartographie der Spätantike eine zentrale ordnende Funktion: Bereits die TO-Karten unterscheiden die drei Teile der Welt mittels ihrer Wassergrenzen durch die Flüsse Don und Nil. Einen Überblick über die Entwicklung des Europabildes von der Spätantike zur Frühen Neuzeit bietet Ingrid Baumgärtner: »Europa in der Kartographie des Mittelalters. Repräsentationen – Grenzen – Paradigmen«, in: Ingrid Baumgärtner/Hartmut Kugler (Hg.), Europa im Weltbild des Mittelalters. Kartographische Konzepte (=Orbis mediaevalis 10), Berlin: Akademie-Verlag 2008, S. 9-28. 55 Freilich bildet der Holzschnitt Spanien nicht im Sinne einer Landkarte ab; exakt derselbe Holzschnitt wird in der Schedelschen Weltchronik nur vier Seiten vor der Darstellung Hispaniens abgedruckt (eine durchaus übliche Vorgehensweise der Mehrfachverwertung von teuren Holzschnitten) und dient hier der Veranschaulichung des Bayernlandes. Hier symbolisieren die dargestellten Flüsse Inn, Isar und Donau; auch hier ist die Fünfzahl von Bedeutung: »In disem land sind fuenff bischöflich stett Da eine ist Saltzburg. vnnd daselbst ein erzbisthumb« (H. Schedel: Weltchronik 1493, S. CCLXXXIIr.). Signifikanterweise ist auch hier die Fünfzahl mit der Vorherrschaft eines ihrer Teile verknüpft, wie überhaupt Bayern und Hispanien auch auf Textbasis eng miteinander verknüpft werden – der Einleitungssatz
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Hat man dieses zeitgemäße Bild der iberischen Halbinsel bei der Lektüre des Kolumbusbriefes im Hinterkopf, so drängt sich die Beobachtung auf, dass Kolumbus nicht nur inhaltlich Altbekanntes wiederfindet,56 sondern sich auch strukturell dezidiert an der politischen conditio der iberischen Halbinsel orientiert; so liest sich der Eingang seines Briefes und die dort aufgeführten, neu entdeckten Inseln auch als Allegorie auf das Spanien der Katholischen Könige: »33 Tage nachdem ich von Cádiz ausgelaufen war, erreichte ich das Indische Meer und fand dort mehrere Inseln, auf denen unzählige Menschen leben. Von allen diesen Inseln habe ich im Namen unseres durchlauchtigsten Königs nach feierlicher Verlautbarung und dem Hissen der Fahne Besitz ergriffen, ohne dass mir irgendjemand widersprochen hätte. Und der ersten dieser Inseln gab ich den Namen unseres heiligen Erlösers [San Salvador], denn nur im Vertrauen auf seine Hilfe haben wir sowohl diese als auch alle anderen Inseln erreicht. [...] Ich bezeichnete auch jede andere Insel mit neuem Namen, und zwar nannte ich eine Santa Maria de Conception, eine andere Fernandina, eine weitere Isabella, wieder eine andere Juana, und so ließ ich auch alle übrigen benennen.«57
Offensichtlich hat also Kolumbus mehr als fünf Inseln entdeckt,58 doch bezeichnet werden zunächst nur fünf, ungeachtet der Tatsache, dass im Brief später (nach einer ausführlichen Schilderung der Insel Juana und deutlich abgetrennt vom zitierten Beginn der Schilderung) noch weitere Inseln mit Namen versehen und geschildert werden.59 Für den Briefleser (im Unterschied zum Leser des
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der Beschreibung Bayerns zitiert den Beginn der Beschreibung Hispaniens fast wörtlich: »Bayrnland ist ein weytte vnd reiche gegent [...]« (ebd.). Gerade die zweifache Verwendung desselben Holzschnittes auf engstem Raum verweist auf seine symbolische, nicht abbildende Bedeutung. Dies der common sense der jüngeren Forschung zu Kolumbus (vgl. etwa R. Grimm: Das Paradies im Westen, S. 75). Chr. Kolumbus: Der erste Brief aus der Neuen Welt, S. 33f. Nach der Entdeckung von San Salvador erschließen sich Kolumbus laut seinem Bordbuch eine verwirrende Vielzahl an Inseln (vgl. Chr. Kolumbus: Bordbuch, S. 45). Vor der Bereisung Juanas entdeckt und benennt Kolumbus eine ganze Inselgruppe (vgl. ebd., Eintragung zum 25. und 27. Oktober, S. 67f.); die Auswahl und Reihenfolge der im Brief zunächst genannten Inseln stellt sich damit als gezielte Inszenierung heraus. Eine weitere beschriebene und benannte Insel ist Hispaniola, die, wie noch zu zeigen sein wird, eine wichtige Rolle in der allegorischen Lesart des Briefes einnimmt. Darüber hinaus erwähnt Kolumbus am Rande noch Avan und Carib, zwei Inseln, die jedoch nicht von ihm bereist und umbenannt werden (und deswegen aus der allegorischen Deutung des Briefes herausfallen). Die Funktion dieser Inseln im Kolumbus-Brief ist schlicht diejenige der Auslagerung störender Aspekte: Beide Inseln sind weit weg von den befahrenen Inseln, und auf ihnen gibt es Monster mit Hundeschwänzen
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Bordbuches) erschließen sich die neu entdeckten Inseln als geschlossene Inselgruppe,60 deren fünf Inseln mit symbolträchtigen Namen getauft werden – auch in diesem Akt der Landnahme und Neubenennung schlägt sich die enge Verschränkung von politischem und religiösem Diskurs nieder: »San Salvador« und »Santa Maria de Conception« verweisen auf Jesus und Maria, denen das spanische Herrscherpaar in Form der Inselnamen »Fernandina« und »Isabella« allegorisch an die Seite gestellt wird. Winfried Wehle hat in Bezug auf die Reiseplanung Kolumbus’ herausgearbeitet, dass in seinem nautischen Denken ein bodenständiger zweifacher Schriftsinn bestimmend war;61 dieses mittelalterliche Denkschema schlägt sich hier auch in der Benennung der Inseln nieder: Das himmlische Herrscherpaar Christus und Maria ist im irdischen Herrscherpaar Ferdinand und Isabella allegorisch substituiert, wodurch der Herrschaftsanspruch der spanischen Krone an den Herrschaftsanspruch Gottes rückgebunden wird. In diesem gegenseitigen Verweiszusammenhang wird offensichtlich, dass politischer Erfolg (Landnahme) und religiöser Erfolg (Mission) eine untrennbare Verbindung eingehen. Die letzte genannte Insel, Juana, trägt den Namen des ältesten Sohnes von Ferdinand und Isabella und damit des spanischen Thronerbens. Das Sem des Nachkommens ist allegorisch in der Bezeichnung der zweiten Insel als »Santa Maria de Conception« (Heilige Maria der Empfängnis) bereits vorweggenommen, so dass das Namenspaar Jesus – Maria in dem Trikolon Ferdinand – Isabella – Juana seine allegorische Erfüllung erfährt. Mit Juana ist die Fünfzahl der symbolträchtig benannten Inseln komplettiert, und diese Fünfzahl korrespondiert mit den fünf Königreichen der iberischen Halbinsel, so dass Kolumbus im Briefbeginn das allegorische Gegenbild des Herrschaftsbereiches seiner Auftraggeber entwirft: Die Zentralherrschaft der Katholischen Könige, die in den fünf Königreichen der iberischen Halbinsel zusammen mit dem
(Avan) bzw. Menschenfresser (Carib). Einerseits kann Kolumbus damit dem Vorbild Marco Polos folgen, der in seinem Il Milione Menschenfresser und Monster auf den Indischen Inseln situiert; andererseits aber sind diese für Mission und Kolonialisierung störenden Aspekte an den Rand der bereisten Inselwelt ausgelagert. Kolumbus projiziert damit das spätmittelalterliche Weltbild im Großen auf die Insel-Welt im Kleinen: Das Zentrum bilden leicht zu missionierende Länder, die Wunderwesen sind an den Rand der bekannten Welt ausgelagert. 60 Während der Leser des Briefes in gleichsam olympischer Beobachterhaltung schon eingangs des Briefes alle relevanten Inseln als Gruppe präsentiert bekommt, begleitet der Leser des Bordbuches ein sukzessives Vortasten von Insel zu Insel, wobei oftmals auch die Identität des jeweiligen Landes als Insel in Frage steht. 61 Vgl. W. Wehle: Columbus’ hermeneutische Abenteuer, S. 163-174.
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christlichen Glauben auch ihre Vorherrschaft durchsetzen, spiegelt sich in den fünf Inseln, deren Namen den himmlischen, irdischen und genealogisch-zukünftigen Sitz dieser Herrschaft zitieren. Diese Interpretation kann einerseits mit der an der Schedelschen Weltchronik bereits aufgezeigten Tradition gestützt werden, Königreiche als von Wasser getrennte Inseln darzustellen (ungeachtet ihrer geographischen Gestalt); andererseits führt auch die zweite Baseler Ausgabe des Briefes einen Holzschnitt auf, der in ähnlicher Weise eine fünfteilige Inselgruppe aufzeigt: Das Bild gibt den Überblick über fünf Inseln, die – analog zu Hispanien in der Schedelschen Weltchronik – wie Puzzleteile zu einem einzigen Landstück zusammengefügt werden könnten; das Meer erweckt eher den Eindruck von ein Festland durchziehenden Flussarmen. Mit dem Schiff im Bildvordergrund wird das Wasser als Grenze gleichzeitig Medium ihrer Überschreitung. Der Bildvordergrund ist bestimmt von der Karavelle Santa Maria mit deutlichem Kreuzsymbol auf dem Segel und einer ummauerten Burg – also von je einem geistlichen und einem weltlichen Herrschaftssymbol (analog zum himmlischen und irdischen Herrscherpaar in der Benennung der Inseln). Burg und Schiff sind zugleich Realsymbole, mit deren konkreter Hilfe die fünfteilige Inselgruppe (und damit in allegorischer Lesart die gesamte Iberische Halbinsel) unter einer Herrschaft subsummiert werden kann. Bezeichnend für diese symbolische Lesart der Fünfzahl der Inseln ist, dass der Holzschnitt zwar mit der Insel Hispania eine Insel aufführt, die in der Eingangsbeschreibung nicht genannt worden war, dafür jedoch auf die Abbildung der dort genannten Insel Juana verzichtet – womit die symbolträchtige Fünfzahl gewahrt bleibt.62 Die Insel Hispania, die Kolumbus einige Kapitel nach dem aufgeführten Zitat einführt, ist denn auch ein weiterer Schlüssel für eine symbolische Lesart des Kolumbusbriefes: Sie führt mit Hispanien den umfassenden Herrschaftsanspruch des Herrscherpaares selbst im Namen,63 und auch die Beschreibung der Insel unter-
62 Dieser Austausch belegt auch, dass ein differenzierteres allegorisches Verständnis der einzelnen Inseln als Repräsentanten bestimmter iberischer Königreiche nicht sinnvoll ist; die allegorische Lesart kann Ferdinandina und Isabella als Pendants von Aragon und Kastilien zum Ausgangspunkt nehmen, greift darüber hinaus aber lediglich in der Fünfzahl der Inselgruppe, die der Fünfzahl der hispanischen Königreiche entspricht. 63 Robert Wallisch schreibt in seiner Textausgabe gegen den lateinischen Text die diminuierte Form Hispaniola und verteidigt seine Umbenennung mit der späteren Tradition, die Insel als Kleinspanien zu bezeichnen (vgl. R. Wallisch: Apparat zur Textausgabe, Anm. 15, S. 56). Die im Brief verwendete Form Hispania, die den historischen Lesern dargeboten wird, projiziert in der Nomenklatur Spanien direkt in die Karibik. In den zitierten Übersetzungen wurde stillschweigend die originale Form eingesetzt.
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stützt die Interpretation dieser Insel als Realsymbol der Vorherrschaft über alle Inseln: »Der Umfang der Insel Hispania ist größer als jener der ganzen Iberischen Halbinsel von Katalonien bis Fuenterrabía. [...] Diese Insel muss man zu besitzen streben, und besitzt man sie erst, kann man nicht mehr von ihr lassen.«64 Der direkte Vergleich mit der gesamten iberischen Halbinsel65 verdeutlicht die allegorische Lesart, dass mit der hegemonialen Schilderung der Insel zugleich auch auf die (angestrebte) Herrschaft Ferdinands und Isabellas auf der iberischen Halbinsel verwiesen ist.66 Auch die weitere Schilderung der Insel, die den militärischen Diskurs dominant setzt, wird in dieser Lesart kohärent: »Zwar habe ich, wie gesagt, auch alle anderen Inseln im Namen unseres unbesiegbarsten Königs feierlich in Besitz genommen (und somit ist ihm uneingeschränkte Herrschaft über diese gegeben), doch habe ich hier auf Hispania [...] von einem bestimmten großen Dorf, das wir Navidad nannten, in ganz besonderer Weise Besitz ergriffen und gab auch sofort den Befehl, dort eine Festung zu errichten, die mittlerweile schon fertig sein muss. [...] In Navidad verblieben außerdem eine Karavelle und für den Bau weiterer Schiffe die entsprechenden Meister [...].«67
Kolumbus stellt Navidad auch im weiteren Verlauf als militärisches Zentrum heraus, von dem aus sowohl die Insel Hispania selbst als auch offensichtlich die übrigen Inseln gegen etwaigen Widerstand leicht verteidigt werden können. Mit Hispania wird die lose Inselgruppe ein Inselarchipel unter der Herrschaft Ferdinands und Isabellas, wobei die Oberherrschaft von der Beherrschung Hispaniens – bzw. der iberischen Halbinsel in allegorischer Lesart – abhängig ist. Diese symbolische Zentralstellung der Insel Hispaniola schlägt sich in der zweiten Basler Ausgabe des Briefes auch dadurch nieder, dass der Holzschnitt dieser Insel dem Brief als Titelblatt dient.
64 Chr. Kolumbus: Der erste Brief aus der Neuen Welt, S. 27f. 65 Im Bordbuch wird die Parallele zur Iberischen Halbinsel noch deutlicher: Hier schreibt Kolumbus, dass der Anlegeplatz der Insel der Bucht von Cádiz ähnelt (vgl. Chr. Kolumbus: Bordbuch, S. 126) – dem Hafen, von wo aus er zur Reise in die Karibik aufgebrochen war. In seiner Wahrnehmung ist Kolumbus damit gleichsam wieder in Spanien angekommen. 66 Hispania erfüllt durch diese Aufladung mit hegemonialem Machtstreben eine ähnliche Funktion wie Juana in genealogischer Hinsicht. Diese Ähnlichkeit in der symbolischen Funktion ist auch eine Erklärung dafür, dass (wie oben dargestellt) im Holzschnitt Juana durch Hispania ausgetauscht wird. Zudem sind es Juana und Hispania, die im Brief (im Unterschied zu den anderen Inseln) eine ausgedehnte und gleichermaßen exemplarische Schilderung erfahren. 67 Ebd., S. 29.
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Ungeachtet der mehr als dürftigen realen Informationslage, die aus den begrenzten zeitlichen und empirischen Möglichkeiten einer Schiffsbesatzung und grundsätzlichen Kommunikationsschwierigkeiten resultiert, entwirft der Kolumbus-Brief ein umfassend beschreibbares Inselarchipel, das es nur noch zu besetzen bzw. zu übernehmen gilt. Dabei dient das überkommene religiöse und literarische Bild der paradiesischen Goldinsel im Westen als semantisches Vorbild; das strukturelle Vorbild stellt die tendenziell zentralisierte Königsherrschaft, die seine Auftraggeber über die iberische Halbinsel ausüben, die selbst von weitgehend eigenständigen Königtümern – kleineren Machtinseln, gruppiert um den zentralen Königssitz Kastilien – gekennzeichnet ist. Der Kolumbusbrief ist damit in seiner europäischen Rezeption in erster Linie ein politischer Werbeprospekt für die religiös begründete Vorherrschaft Isabellas und Ferdinands II. auf der iberischen Halbinsel und weniger der Erste Brief aus der Neuen Welt.
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»SternenSternen-Freundschaft« Freundschaft«? Der Archipel als mögliches Denk Denk und Handlungs HandlungsKorrektiv der Europäischen Union CHRISTIAN LUCKSCHEITER Betrachtet man die Flagge der Europäischen Union (EU) – zwölf zu einem Kreis angeordnete, von Blau umgebene Sterne –, liegt eine Benennung dieses Gebildes nahe: Archipel. Sollte die EU mit dieser Flagge tatsächlich andeuten wollen, sie verstünde sich als Archipel, als »Meer, das der vielen in ›Sternen-Freundschaft‹ (Nietzsche) einander verbundenen Inseln«?1 Wohl kaum. Das Wort Archipel taucht in den Diskursen zur Bestimmung dessen, was die EU sein könnte, nicht auf. Man wird auch nicht behaupten können, dass das Zentrum der EU wie die Kreismitte der Flagge unbesetzt geblieben ist. Der folgende Text möchte jedoch mit seiner Interpretation der EU-Flagge Ernst machen und den Archipel in der Ausführung Massimo Cacciaris als Denk- und Handlungsmodell für die EU vorschlagen. Denn es gibt ein Problem mit der EU: Als »historisch einmalige und einzigartige Form der zwischenstaatlichen und zwischengesellschaftlichen Gemeinschaftsbildung« entzieht sie sich »allen gängigen Kategorien und Konzepten«.2 Kein Identitätsangebot aus der Zeit der souveränen Nationalstaaten passte bisher auf diesen neuen, unbekannten Körper EU. Trotz unermüdlicher Suche, trotz ununterbrochener Appelle von Politikerinnen und Politikern, trotz unzähliger Kongresse und Konferenzen wusste bisher niemand eine alle befriedigende Erzählung zu finden oder Antwort auf die Frage zu geben, was die EU ist. Daher versteht sich dieser Text als Beitrag zur längst notwendigen Ablösung der unfruchtbaren Identitätsdebatten, die letztlich selbst zur vielberufenen Identitätskrise 1 2
Massimo Cacciari: Der Archipel Europa. Übersetzung von Günter Memmert, Köln: DuMont 1998, S. 6. Ulrich Beck/Edgar Grande: Das kosmopolitische Europa, Gesellschaft und Politik in der Zweiten Moderne, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2004, S. 7.
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Christian Luckscheiter der EU geführt haben. Anstatt vergeblich zu versuchen, sich identitär abzugrenzen, wird hier dafür plädiert, Modelle zu entwickeln, die »ein völlig neues Heute« ermöglichen könnten, »jenseits aller erschöpften und erschöpfenden Programme des Eurozentrismus und des Anti-Eurozentrismus«.3 Ein solches Modell ist der Archipel. Zu ihm könnte sich die EU immer wieder in Relation denken, als das Uneingelöste, das zwar nie Wirklichkeit war und sein wird, jedoch dem Handeln der EU – im Zeichen ihrer Flagge – einen idealen und in seiner Idealität unerreichbaren Horizont bietet. Was aber ist überhaupt das Problem der EU-Identität? Aus welchen Gründen wird der EU gegenüber so vehement die Frage nach ihrem ›Wesen‹ gestellt? Und warum findet diese Frage keine Antwort? Dies sei im ersten Teil dieses Beitrags etwas weiter ausgefaltet. Die EU befindet sich seit Jahren in einem grundlegenden Umgestaltungsprozess: Zum einen arbeitete von 2002 bis 2003 ein Konvent eine Verfassung für die EU aus, die, sollte sie doch noch einmal in Kraft treten, einen im Vergleich zu den bisherigen Verträgen sehr viel stärkeren Europabezug der Bürgerinnen und Bürger sowohl voraussetzt als auch zum Ziel hat. Zum zweiten umfasst die EU seit dem 1. Mai 2004 mit 25 und dem 1. Januar 2007 mit 27 Mitgliedsstaaten eine Bevölkerung von etwa 480 Millionen Menschen und bildet den größten Binnenmarkt der Welt. Zum dritten wandelt sich ihre Aufgabe auch durch die veränderte weltpolitische Lage etwa seit dem ›Abdanken‹ der europäischen kommunistischen Regime um 1990 oder seit dem Anschlag auf das »World Trade Center« im September 2001. Bis Anfang der 1990er Jahre hatte die Europäische Gemeinschaft (EG) bzw., ab 1992, die EU die Rolle, Frieden und Wohlstand im westlichen Teil Europas zu sichern und war in erster Linie ein Wirtschaftsprojekt. Doch aufgrund der genannten neuen Rahmenbedingungen ist die EU dazu gedrängt, zum einen für das gesamte Europa, zum anderen aber auch international eine vor allem sicherheitspolitische Verantwortung zu übernehmen. Inzwischen wird von der »Weltöffentlichkeit«, wie es heißt, eine »verantwortliche Mitgestaltung des rasant fortschreitenden Globalisierungsprozesses«4 gefordert. Neben der Wirtschafts- und Währungs-
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Jacques Derrida: Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1992, S. 14. Thomas Läufer (Hg.): Vertrag von Nizza. Die EU der 25. Texte des EUVertrages und des EG-Vertrages mit Beitrittsvertrag, Europäische Sicherheitsstrategie, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, deutsche Begleitgesetze, Bonn: Europa-Union-Verlag 2004, S. 10.
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»Sternen-Freundschaft«? union geht es mittlerweile um die Verwirklichung einer politischen Union mit einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Die EU erhält damit zunehmend mehr Einfluss. Der ›Souveränitätspanzer‹ der Mitgliedsstaaten wird immer öfter von EU-Gesetzen und -Richtlinien durchdrungen, die Alltagswirklichkeit der EUBürgerinnen und -Bürger stärker von ihnen geprägt. Die Unionisierung, jahrzehntelang ein eher wenig zu bemerkender Ablauf, wird fühlbarer. Und je nachvollziehbarer die EU den Alltag prägt, je schneller ihre Erweiterung voranschreitet und je mehr Verantwortung sie von den einzelnen Mitgliedern fordert, desto mehr wird sie nach Verlässlichem befragt. Man möchte wissen, womit man es ganz konkret zu tun hat. Als was lässt sich die EU fassen? Womit lässt sich ihre Identität bestimmen? Was ist das denn eigentlich, was hier eine Verfassung bekommen soll? Durch das Ausbleiben einer diesbezüglich klaren Antwort kommt Kritik auf – Kritik an einem scheinbar rein wirtschaftlich und administrativ ausgerichteten Unternehmen namens EU, das sich fern der betroffenen Bevölkerung abspiele. Plötzlich scheint zwischen dem seit Jahrhunderten geträumten Traum von Europa und der real existierenden EU eine große Diskrepanz zu bestehen. Der Unionisierung Europas wird eine Krise attestiert.5 Die Schuld an dieser Krise wird, vor allem von populistischen Stimmen, meist Brüssel zugeschoben. Die EU würde von den Bürgern und Bürgerinnen, so Joschka Fischer in seiner Rede Vom Staatenverbund zur Föderation, als eine »bürokratische Veranstaltung einer seelen- und gesichtslosen Eurokratie in Brüssel«6 erlebt, die große Legitimations- und Demokratiedefizite aufweise. Ein »Zugehörigkeitsgefühl« habe sich »nur in geringem Maße entwickelt«, denn der ›geistige Rahmen‹ sei unzureichend gestaltet.7 Nun ließe sich zwar aufzeigen, dass diese Vorwürfe weder besonders neu noch besonders originell sind. Sie bedienen sich althergebrachter und bekannter Topoi der (Europa-)Kritik. Angesichts ihres aktuell inflatorischen Auftretens sind die Vorwürfe dennoch ernst zu nehmen. Denn schließlich werden sie zu einer Zeit verlautbart, in der die EU lange als unwahrscheinlich angenommene Ziele 5 6
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Vgl. u. a.: Jürgen Habermas: Der gespaltene Westen (=Kleine politische Schriften X), Frankfurt/Main: Suhrkamp 2004, S. 69. Joseph Martin (Joschka) Fischer: »Vom Staatenverbund zur Föderation – Gedanken über die Finalität der europäischen Integration.« Rede in der Humboldt-Universität Berlin am 12. Mai 2000. www.whi-berlin.de/fischer.htm vom 20. August 2009, S. 2. Vgl. Orietta Angelucci von Bogdandy: »Europäische Identitätsbildung aus sozialpsychologischer Sicht«, in: Ralf Elm (Hg.), Europäische Identität: Paradigmen und Methodenfragen, Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2002, S. 111-134, hier: S. 112.
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Christian Luckscheiter erreicht und verwirklicht hat: die wirtschaftliche Integration (noch 1994 beurteilte Jacques Attali das Projekt einer einheitlichen EUWährung als ein Ding der Unmöglichkeit)8 und die Erweiterung in den Osten. Ursula Keller vermutet hinsichtlich dieser auf den ersten Blick vielleicht überraschenden Konstellation von Erfolg und Krisenkonstatierung, dass die Idee Europa an »Strahlkraft« verliert, seitdem sie »aus den Höhen der Utopie hinabgestiegen ist in die Niederungen pragmatischer Realpolitik«;9 seitdem sich also aus vielen Visionen und erträumten Möglichkeiten immer konkretere Formen und Wirklichkeiten ergeben. In diesem Kontext wurde Identität zum »Schlüsselthema«10 des europäischen Einigungsprozesses. Die EU, heißt es seit den 1990er Jahren zunehmend, sei in Anbetracht der Gesamtlage endlich dazu gezwungen, die Frage nach ihrer Identität klar zu beantworten, um das Projekt – der Ton ist apokalyptisch – »nicht einstürzen zu lassen«.11 Die Frage, »warum [...] ein aus einem Kohle- und Stahlkartell entstandenes Konglomerat politisch-wirtschaftlicher Art überhaupt eine eigene kulturelle Identität besitzen«12 soll, ob die EU überhaupt eine oder gar eine stärkere Identität benötigt, um auf Dauer bestehen zu können, bleibt, wenn überhaupt gestellt, meist als rhetorische Frage stehen und geht im weiteren Verlauf der Argumentation verloren. Ebenso schweigen sich die Diskurse darüber aus, welches Bedrohungsszenario hinter ihrer Argumentation steckt. Die EU, so wird schlicht behauptet, komme ohne die Konstruktion einer identitätsstiftenden Geschichte, einer fundierenden ›Historiogenesis‹ nicht (mehr) aus, wobei oft mit emotionalen Grundbedürfnissen,
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Vgl. Jacques Attali: Europe(s), Mesnil-sur-l’Estrée: Fayard 1994. Ursula Keller: »Europa schreibt«, in: dies./Ilma Rakusa: Europa schreibt. Was ist das Europäische an den Literaturen Europas? Essays aus 33 europäischen Ländern, Hamburg: Ed. Körber-Stiftung 2003, S. 13-30, hier: S. 13. 10 Anne-Marie Sigmund: »Gemeinsame Werte in kultureller Vielfalt als Basis einer europäischen Identität.« Beitrag zu: Hat Europa eine gemeinsame Identität? Eckpfeiler eines europäischen Bewusstseins. Europäisches Forum Alpbach, Politische Gespräche 2005, zit. nach: www.eesc.europa.eu/ resources/docs/sigmund_alpbach_29_08_05_de.pdf vom 01.12.2010, S. 2. 11 Reinhold Viehoff/Rien T. Segers: »Die Konstruktion Europas. Überlegungen zum Problem der Kultur in Europa«, in: Reinhold Viehoff (Hg.), KulturIdentität-Europa. Über die Schwierigkeiten und Möglichkeiten einer Konstruktion, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1999, S. 9-49, hier: S. 47. 12 Emil Tode: »Tintenklecks Europa«, in: U. Keller/I. Rakusa, Europa schreibt, S. 309-319, hier: S. 318.
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»Sternen-Freundschaft«? einer »gefühlten Lebenswirklichkeit der Menschen«13 argumentiert wird. Die Rede von der Krise der Identität ist jedoch gleichzeitig und nicht zuletzt immer auch ein machtpolitisches Strategiespiel, das sich als Sprachrohr für den unmündigen Bürger und die unmündige Bürgerin tarnt. Die kulturelle Offenheit der EU wird nicht nur aus Angst vor Undefiniertheit und einer Unfähigkeit heraus, mit Heterogenem umzugehen, sondern auch aus politischem Kalkül als Fehler verurteilt, als Lücke, die geschlossen werden muss. Infolgedessen wird versucht, das offene Projekt wieder »im Gefolge einer Logik zu verwalten, die die Kommensurabilität und die Determinierbarkeit des Ganzen impliziert.«14 Europa und seine oder ihre Identität werden dann nach (Macht-)Belieben definiert; mit »Hang am gewohnten«15 greift man in die Mottenkiste der überkommenen (nationalen) Symbolwelten und wählt das Attribut, das am besten zur jeweiligen Argumentation passt. Vielen Stimmen ist die europäische Identität dabei »zunächst nichts anderes als die Herkunftseinheit Europas aus einer gemeinsamen Geschichte«.16 Dabei gehen sie von einer in der Lebenswirklichkeit der Menschen tief verankerten Basishomogenität aufgrund des gemeinsamen geistig-kulturellen Erbes aus. Die Erzählung dieser Herkunftseinheit und Basishomogenität ist meist an Dichotomien orientiert, die gegeneinander ausgespielt werden: Orient und Okzident, Ost und West, Morgenland und Abendland, Neue Welt und Alte Welt, Islam und Christentum. Gerade diese aus der Kulturgeschichte stammenden Dichotomien werden besonders gerne »als Vehikel für gegenwärtige Identitätspolitiken verwendet«.17 Als Gemeinsamkeit werden besonders häufig die Antike und das Christen-
13 Erich Hochleitner/Manfred Scheich: »Die Aufnahmefähigkeit der Europäischen Union: Politische und institutionelle Grenzen. Arbeitspapier Juni 2006«, zitiert nach: www.oeies.or.at/workingpapers/Aufnahmefaehig keit%20Arbeitspapier.pdf vom 20. August 2009, S. 13. 14 Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen, Graz u. a.: Böhlau 1986, S. 15. 15 Walter Benjamin: »Gedanken zu einer Analysis des Zustands von Mitteleuropa«, in: ders., Gesammelte Schriften, Hg. v. Rolf Tiedemann, Bd. IV/2, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1991, S. 916-935, hier: S. 929. 16 Werner Weidenfeld (Hg.): Die Identität Europas, München, Wien: Hanser 1985, S. 10. 17 Monika Mokre/Gilbert Weiss/Rainer Bauböck: »Nun wächst zusammen, was noch nie zusammen gehörte«, in: dies., Europas Identitäten, Mythen, Konflikte, Konstruktionen, Frankfurt/Main: Campus 2003, S. 9-21, hier: S. 12.
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Christian Luckscheiter tum genannt.18 Europa wird daraufhin meist rein positiv festgelegt: »Europa kann die besten seiner Traditionen fortschreiben, die weit über seine Grenzen hinaus Geltung besitzen: den Geist der Aufklärung und der Befreiung des Individuums, die Gleichheit aller vor dem Gesetz, religiöse Pluralität und Toleranz oder die universalen Menschenrechte, um nur die wichtigsten zu nennen.«19 Und auf diesem »Fundament gemeinsamer Werte und Prinzipien« kann es aufbauen, da es über lange Zeit hinweg und »trotz aller Zerwürfnisse und Konflikte« gewachsen sei.20 Trotz aller »Zerwürfnisse und Konflikte«, die nicht zum Erbe gehören sollen – man könnte ja auch diese gut zur Identität Europas rechnen, also das »Böse als einigendes Band«21 –, halte sich das gemeinsame positive Fundament, und so wird die Identität weiterhin, wie selbst kurz nach dem Zweiten Weltkrieg,22 als christlich, abendländisch, menschlich, gräkolatinisch und vernünftig ausgegeben.23 Dabei lag für Aristoteles Griechenland gar nicht in Europa, sondern zwischen Asien und Europa.24 Und dann stammt Europa auch noch aus Asien...
18 Vgl. z. B. Gerhard Wagner: Projekt Europa. Die Konstruktion europäischer Identität zwischen Nationalismus und Weltgesellschaft, Berlin, Hamburg: Philo 2005, S. 144; oder Václav Havel in der »Charta der Europäischen Identität«, zitiert nach: http://www.europa-web.de/europa/02wwswww/ 203chart/chartade.htm vom 20. August 2009. 19 Rita Süssmuth: »Geleitwort«, in: Simon Donig/Tobias Meyer/Christiane Winkler (Hg.), Europäische Identitäten – Eine europäische Identität? BadenBaden: Nomos 2005, S. 10-13, hier: S. 10. 20 Ebd., S. 12. 21 Stefan Chwin: »Die Kindergärtnerin aus der Twerskaja-Straße«, in: U. Keller/I. Rakusa, Europa schreibt, S. 83-91, hier: S. 87. 22 Vgl. Frank Thiess: Vulkanische Zeit. Vorträge/Reden/Aufsätze, Neustadt: Corona Verlag 1949. 23 »Ich zweifle, ob wir ein Recht haben, eine geschichtliche Wesenheit, wie sie doch gemeint ist mit diesem geographischen Namen ›Europa‹, zum Schatzhaus aller Ideale zu erklären, die uns teuer sind, und alle finsteren ›Komponenten‹ davon abzuziehen und fernzuhalten als bloßer Abfall und Verrat«, schreibt Dolf Sternberger 1980 mit dem Zusatz: »Der Ungeist ist auch ein Geist« (D. Sternberger: »Komponenten der geistigen Gestalt Europas«, in: Merkur 34, 3 (1980), S. 228-238, hier: S. 237 und S. 235). 24 Vgl. Aristoteles: Politik, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995, S. 251: »Die Völker in den kalten Strichen und in Europa sind zwar mutvoll, haben aber wenig geistige und künstlerische Anlage und behaupten deshalb zwar leichter ihre Freiheit, sind aber zur Bildung stattlicher Verbände untüchtig und ihre Nachbarn zu beherrschen unfähig. Die asiatischen Völker haben einen hellen und kunstbegabten, dabei aber furchtsamen Geist, und deshalb befinden sie sich in beständiger Dienstbarkeit und Sklaverei. Das Geschlecht der Griechen aber hat, wie es örtlich die Mitte hält, so auch an den Vorzügen beider teil und ist mutig und intelligent zugleich.« (Bereits
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»Sternen-Freundschaft«? Einige Identitätssuchen gehen weit in die Geschichte zurück und erzählen eine Art Europa-Chronik von den Anfängen an. Begonnen wird stets mit dem Mythos von Europa, der phönikischen Königsmaid, der Tochter Agenors, die dem Zeus in weißer Jungstiergestalt »Blumen zum glänzenden Maul« hin streckt. Zum Danke raubt der Stier Europa von der Küste des östlichen Mittelmeeres – also in etwa von dort, wo sich heute Syrien und Libanon befinden25 – »fort vom trockenen Ufer«, um sie, »mitten durch Meeres Fluten« hindurch, nach Kreta zu bringen und dort, »auf cretischer Flur«,26 mit Gewalt zu nehmen. Seltsam ist an den Erzählungen der Geschichte Europas von Europa und dem Stier, also gleichsam von Adam und Eva an,27 erstens, dass sie ein wenig an Weltchroniken erinnern, die immer eng mit einem göttlichen Heilsplan zusammenhingen. Zweitens kann mit ihnen ein Mythos installiert werden, der »die Sanktion seiner uralt-unergründbaren Herkunft«28 trägt und dementsprechend eine Gründererzählung und begründend ist. Solch eines Mythos’ bedurften vor allem Nationen in prekärer Lage. Jürgen Fischer schrieb bereits in den 1950er Jahren, dass der Begriff Europa zur Rechtfertigung merkwürdiger Meinungen herangezogen wurde und in der allgemeinen Verwirrung der Begriffe geographische Gesichtspunkte sich mit politischen, kulturelle mit geographischen vermischen würden, »bis das Groteske als esprit erscheint: dass Europa mit Europa begonnen habe«29 – womit Fischer eben jenen Mythos von Europa und dem Stier meint, der schon zu seiner Zeit vielzählig in Umlauf war.
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Herodot wunderte sich, dass Europa als phönikische Königstochter asiatischer Geburt war und niemals auf das Land gekommen ist, das die Griechen Europa nannten). Dass Jerusalem ja offensichtlich auch nicht in Europa liegt, ist eventuell vorschnell geurteilt. Paul Valéry schrieb: »[M]an muß die gesamten Ufer des Mittelmeers zu Europa rechnen: Smyrna und Alexandrien gehören ebenso dazu wie Athen und Marseille.« (Paul Valéry: »Die Krise des Geistes«, in: ders., Zur Zeitgeschichte und Politik [= Werke, Bd. 7], Frankfurt/Main, Leipzig: Insel 1995, S. 26-54, hier: S. 35.) Seit diesem Raub Europas von der Küste des östlichen Mittelmeers ist Europa, einer Formulierung Adolf Muschgs zufolge, »kein europäisches, jedenfalls nie ein nur europäisches Thema.« (Adolf Muschg: »Was ist europäisch?«, in: Neue Zürcher Zeitung vom 13.12.2004, S. 19.) Publius Ovidius Naso: Metamorphosen. Übersetzung von Erich Rösch, München: dtv 1997, S. 77-78. Siehe nur z. B. die ›Tour de Force‹ durch die Geschichte von Jacques Le Goff: Das alte Europa und die Welt der Moderne, München: Beck 1996. Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1998, S. 112. Jürgen Fischer: Oriens – Occidens – Europa. Begriff und Gedanke »Europa« in der späten Antike und im Frühen Mittelalter, Wiesbaden: Steiner 1957, S. 3.
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Christian Luckscheiter Die Assoziation dieser Erzählung mit dem Beginn einer Heilsgeschichte könnte auf den ersten Blick als überspitzt erscheinen. Doch lässt sich das Wort »Heilsgeschehen« durchaus in den Diskursen zur europäischen Identitätssuche vernehmen, beispielsweise in folgendem Zitat: »Nicht die weltabgewandte Kontemplation, nicht die Selbstauflösung im Nirwana, nicht der Fatalismus längst vorbestimmter Naturzwänge werden zum Signum Europas, sondern sinnorientiertes, sinnvolles Handeln. Der Mensch, dessen Wertgefüge davon geprägt ist, dass er im gläubigen Tätigwerden am Heilsgeschehen teilnimmt – welche Vielzahl sozialer Motivationen wird daraus im Lauf der Geschichte Europas begründet.«30
Das Zitat stammt von Werner Weidenfeld aus einer Veröffentlichung, die für den EU-Identitäts-Diskurs eine vielzitierte Basis legte. Weidenfeld ist u. a. Inhaber des Lehrstuhls für Politische Wissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und Mitglied im Vorstand der Bertelsmann-Stiftung; er war von 1987 bis 1999 Koordinator der Bundesregierung für die deutsch-amerikanische Zusammenarbeit, ist seit 1980 Herausgeber des Jahrbuchs der Europäischen Integration und erhielt 2001 den Europäischen Kulturpreis. Von der Teilnahme am Heilsgeschehen als Signum Europas spricht hier also keine zu vernachlässigende, sondern eine für den EUDiskurs und die Ausbildung einer (kulturellen) europäischen Identität einflussreiche Stimme. Mit der Ausbildung einer Identität werden aber tatsächlich auch Heilserwartungen verbunden: So schreibt Aleš Debeljak: »Bis heute ist es der EU nicht gelungen, eine zufriedenstellende Reihe von Bildern, Werten und Idealen zu schaffen, die über unser alltägliches Leben, seine Schwierigkeiten und Freuden hinausweisen.«31 Gilbert Weiss weist in seinem Aufsatz Die vielen Seelen Europas darauf hin, dass insbesondere in Frankreich die Diskurse zur Europa-Idee von den Worten »Schicksal« (»destin«), »Verheißung« (»promesse«) und »Bestimmung« (»vocation«) durchzogen sind.32 Und für Richard Münch, Professor für Soziologie in Bamberg, Verfasser des ebenfalls vielzitierten Buchs Das Projekt Europa33 und wie Weidenfeld Mitglied des Instituts für europäische
30 Werner Weidenfeld: »Europa – aber wo liegt es?«, in: W. Weidenfeld, Die Identität Europas, S. 13-41, hier: S. 18. 31 Aleš Debeljak: »Gemeinsame Träume... Wir haben Europa, jetzt brauchen wir Europäer«, in: Lettre International 57 (2002), S. 4-10, hier: S. 8. 32 Gilbert Weiss: »Die vielen Seelen Europas. Eine Analyse ›neuer‹ Reden zu Europa«, in: M. Mokre/G. Weiss/R. Bauböck: Europas Identitäten, S. 183206, hier: S. 190ff. 33 Richard Münch: Das Projekt Europa: zwischen Nationalstaat, regionaler Autonomie und Weltgesellschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1993.
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»Sternen-Freundschaft«? Politik in Berlin, geht mit einer Identität die Hoffnung einher, dass die EU den Europäern die »verlorene Einheit unseres Lebens wieder zurückgeben und mit der Welt als ganzer verknüpfen«34 kann. Die Europäische Union soll mithin dafür Sorge tragen, dass der Mensch in Europa von seiner transzendentalen Obdachlosigkeit geheilt wird und wieder einen Sinn verspürt, der über das eigene, schwierige Alltagsleben hinausweist; dass dem europäischen Volk eine Häuslichkeit und Heimat wiedergegeben wird, die der Nationalstaat nicht mehr bieten kann. Angesichts solcher Heilserwartungen, die sich an Novalis’ Himmelreich des neuen Jerusalem35 und an Mazzinis Vorstellung einer europäischen Bewegung als universale Seele36 anschließen, ist die Äußerung eines Unbehagens angebracht. Diese Aufstellung von Identitätsangeboten ist selbstverständlich in keinerlei Hinsicht erschöpfend; sie versuchte lediglich, die größeren Suchwege aufzuzeigen. Ihnen könnte ein Monster entspringen: »Das kann doch nicht der ganze Sinn und das Ziel sein, die Überlieferungen nur gleichsam als Werke zur Anschauung nebeneinanderzustellen oder aneinanderzureihen, aus der Addition oder der Montage solcher Elemente eine ›Gestalt‹ zusammenzusetzen – ein Stück Akropolis, ein Stück Kathedrale, und dazu im weiteren Verlaufe der Komponentensuche womöglich noch die Dampfmaschine und vielleicht noch das Bohrsche Atom-Modell, und das wäre dann die geistige Gestalt Europas! Ein surrealistisches Monstrum.«37
So hält trotz aller monströsen Angebote die Behauptung einer Identitätskrise der EU auch unvermindert an. Man scheitert bereits an dem Versuch, das politische Gemeinwesen der EU begrifflich zu fassen.38 Das Maastricht-Urteil des Karlsruher Verfassungsgerichts, das die EU als »staatsanalogen Nichtstaat« bzw. als »bundesstaatsanalogen Nichtbundesstaat« einstuft,39 stiftet diesbezüglich
34 Richard Münch: »Europäische Identitätsstiftung«, in: R. Viehoff/R. T. Segers, Kultur – Identität – Europa, S. 223-252, hier: S. 223. 35 Vgl. Novalis: Die Christenheit oder Europa. 1799. Ein Fragment, Hamburg: Hauswedell 1946. 36 Vgl. Giuseppe Mazzini: »Über eine europäische Literatur«, in: Paul Michael Lützler (Hg.), Europa. Analysen und Visionen der Romantiker, Frankfurt/Main: Insel 1993, S. 387-435. 37 D. Sternberger: Komponenten, S. 231. 38 Vgl. dazu u. a. Helmut Wagner: Die Rechtsnatur der Europäischen Union. Auf welchen Begriff ist sie zu bringen? Berlin: Berliner Wissenschaftsverlag 2005. 39 Vgl. Christoph Schönberger: »Die Europäische Union als Bund – zugleich ein Beitrag zur Verabschiedung des Staatenbund-Bundesstaat-Schemas«,
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Christian Luckscheiter nicht mehr Sicherheit, bringt aber die Schwierigkeit auf den Punkt. Es fehlen die Begriffe. Nicht von ungefähr ist auch im Entwurf zu einem Verfassungsvertrag gerade die Stelle, die des Identitätsrätsels Lösung enthalten sollte, leer geblieben. Die Gesandten der verschiedenen Mitgliedstaaten konnten sich nicht auf das gemeinsame Fundament einigen. Eine Identität der EU ließ sich im Konvent nicht feststellen.40 Insbesondere konnten sich die Vertreter Europas nicht darauf einigen, einen Bezug der EU zum Christentum oder einen Bezug zur Aufklärung in den Text mit aufzunehmen. Selbst der Vorschlag, dem Christentum und der Aufklärung nebeneinander in der Präambel »die Ehre zu erweisen«,41 wurde abgelehnt. Die Verankerung genannter Identitätsvorstellungen in einer Verfassung würde darüber hinaus unweigerlich auf ein hegemoniales Modell von Europa zulaufen. So gesehen bezeichnen die Diskurse im Rahmen von Apokalypse und Heilserwartung die »Depression« eines »zutiefst verunsicherte[n] Europa[s], das sich von potentiell terroristischen ›Fremden‹ im Inneren und Äußeren bedroht sieht« und im Ruf nach Kontrolle seinen ethnisch-kulturellen Zufluchtsort in als spezifisch europäisch behaupteten alten Wurzeln sucht und sich gegen andere einmauert.42 Sie gehen davon aus, dass es möglich ist, Europa als kulturell homogene und wirtschaftlich autarke Einheit zu schaffen, die eindeutig vom Rest der Welt abgegrenzt ist und mit diesem (erfolgreich) konkurriert. Ihr Ziel sei, schreibt Adolf Muschg, »nicht die Bildung einer zivilen Gesellschaft der Verschiedenen, sondern der Aufstieg zu einer Weltmacht, deren Geltung nicht auf ihrem Modellcharakter beruht, sondern auf ihrem Interventionspotential als global player.«43 An ihrem Ende lockt bzw. droht die ›Festung Europa‹, und Europäisierung gerät »zum Feindbild«.44 Es ist also an der Zeit, neue Modelle in die Diskussion über die EU einzuführen. Jedes Austesten ist dabei lediglich als weiterer Versuch zu verstehen, etwas zu benennen, für das es (noch immer) keinen Namen gibt. Bevor hier nun als Katachrese der Archipel in den Ring geführt wird, ist vorher allerdings noch näher darauf ein-
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in: Archiv des öffentlichen Rechts 129, 1 (März 2004), S. 81-120, hier: S. 84. Vgl. dazu Thomas Meyer: Die Identität Europas. Der EU eine Seele? Frankfurt/Main: Suhrkamp 2004. Ebd., S. 15. Ulrich Beck/Edgar Grande: Das kosmopolitische Europa. Gesellschaft und Politik in der Zweiten Moderne, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2004, S. 198. Adolf Muschg: Was ist europäisch? Reden für einen gastlichen Erdteil, München: Beck 2005, S. 77. U. Beck/E. Grande: Das kosmopolitische Europa, S. 159.
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»Sternen-Freundschaft«? zugehen, was der Grund dafür sein könnte, dass die bisherigen Angebote scheiterten. Denn von dort her kann ein Unterschied zwischen den bisherigen Benennungsversuchen und der Denkfigur des Archipels markiert werden. Der Grund für die Unmöglichkeit, eine Identität der EU anzuschreiben, ist in den Diskursen der Postmoderne und der mit ihr verbundenen Krise des Begriffs der Identität zu sehen. Die EU begründete sich, wie gesagt, im Jahr 1992 mit dem Vertrag von Maastricht. Versteht man die Postmoderne als Zeitalter, so ist festzustellen, dass sich sämtliche Öffnungen der ›Souveränitätspanzer‹ der Mitglieds-Nationalstaaten im Zeitalter der Postmoderne ereignet haben und ereignen. Könnte es sein, dass die Bedingungsmöglichkeit für diese Öffnungen in postmodernen Wissensformationen liegt; dass eine unterschwellige Ausbreitung von Differenz-Denken die Bereitschaft zur Öffnung der nationalen Souveränitäten begünstigte? Sollte das stimmen, dann fällt man, wenn für die EU eine Identität eingefordert wird, ohne die sie mehrere Jahrzehnte ausgekommen ist, paradoxerweise hinter eine Bedingung ihrer Entstehungsmöglichkeit zurück. Da die philosophischen Diskurse der Postmoderne längst andere Diskurse mitprägen, kann eine Identität nicht mehr einfach behauptet oder definiert werden. »The fact is that we are within the culture of postmodernism.«45 Die Bezeichnung der Gegenwart als postmoderne Informations- und Kommunikationsgesellschaft ist weit verbreitet – auch bei tendenziellen Gegnern der philosophischen Postmoderne.46 Versatzstücke der postmodernen Philosophie sind ein fester Bestandteil kultureller, soziologischer und politischer Diskurse geworden. Die EU gilt dadurch u. a. auch, unter eindeutigem Rückbezug auf Lyotards These vom Ende der großen Erzählungen, der »grands récits«, als »letzte große Erzählung«;47 in den Europa-Diskursen ist das Wort von der »Pluralität« weit verbreitet;48 und 45 Fredric Jameson: Postmodernism, or, The Cultural Logic of Late Capitalism, Durham: Duke University Press 1991, S. 62. 46 Vgl. u. a. Peter Koslowski, der von einer »postmoderne[n] Situation der Gegenwart« ausgeht (»Sich Europa vorstellen«, in: Peter Koslowski, Europa imaginieren, Berlin u. a.: Springer 1992, S. 1-28, hier: S. 17). 47 Siehe z. B. Peter Koslowski/Rémi Brague: Vaterland Europa. Europäische und nationale Identität im Konflikt, Wien: Passagen 1997, S. 70. 48 Auch Pluralität wird dann manchmal als spezifisch europäisch behauptet. Europa hat dann »davantage de mythes, de civilisations, de langues, de littératures et de musiques qu’aucun autre continent« (J. Attali: Europe(s), S. 11). Aus diesen Annahmen spricht aber eher ein gewisser Eurozentrismus als eine haltbare Kulturanalyse europäischer Identität, die sich spezifisch von anderen Identitäten abgrenzen ließe.
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Christian Luckscheiter die EU wird allenthalben in den Metaphern des Fließens, des Unterwegsseins, der aktiven Bewegung, als »Prozess«, »Weg«, »Praxis«, »Richtung« beschrieben, die europäische Identität als »vielstimmig«, als »offenes Projekt«, »permanenter Wandlungsprozess«, »patchwork«, »bricolage« bezeichnet – Metaphern, die an die philosophischen Diskurse der Postmoderne anschließen bzw. ihnen entstammen. Daher steht die Suche nach einer Identität der EU vor einem Dilemma. Denn für die EU wird eine Identität im Zeitalter der Postmoderne gefordert, das von Identität auf Differenz gleichsam umgestellt hat. Mit einer Stimme soll Europa sprechen.49 Die Postmoderne plädiert jedoch für Polyphonie. Europa soll einerseits Sinn verliehen, eine nachhaltige Idee, ein Wesen, eine Substanz gegeben werden, während andererseits die postmodernen Episteme an ihrer De(kon)struktion arbeiten. Die Identitätswünsche kollidieren mit den Diskursen und Erfahrungswelten der Postmoderne. Wenn angesichts des Verlusts der ›Unschuld‹ des Identitätsbegriffs in Zeiten der Postmoderne jeder Identitäts-Vorschlag in den Strudel der widerstreitenden Diskurse hineingerissen wird, gleichzeitig aber an der Idee einer Identität festgehalten werden möchte, kann man einerseits – vielleicht ein wenig trotzig – einfach weiter behaupten: »Uns ist klar, was wir mit ›Europa‹ meinen«,50 oder die Unmöglichkeit einer eindeutigen Identitäts-Definition als das spezifisch Europäische definieren. Andererseits wird versucht – und das ist die gängige Strategie der EU-Entscheidungsträger und Entscheidungsträgerinnen –, Identität und Differenz zu integrieren, zusammenzuführen, und zwar unter dem Dach der Identität: So lässt sich der Differenz, die schon aus Gründen der political correctness nicht ignoriert werden kann, offensiv begegnen. Man geht von statischen zu prozessualen, dynamisch-beweglichen Identitätskonzepten über und redet inzwischen weniger von Identität als vielmehr von Identitätskonstrukten und -konstruktionen. Die EU ist dann ein Laboratorium, eine Baustelle, auf der an der Identität gebastelt wird; sie steht dann nicht fest, sondern wird in einer ständigen Praxis kons-
49 Dass dem schon längst so sei, behauptete Gerhard Schröder vor dem Europäischen Parlament in Strasbourg bereits am 14. April 1999 in seiner »Bilanzrede zum Europäischen Rat«: »Wir Europäer sprechen mit einer Stimme.« 50 Walter Schwimmer: »Europäische Identität – gibt es mehr als ein Europa?«, zit. nach: http://www.coe.int/T/d/Com/Dossiers/Themen/Identitat/Col3_ SG%20-%20RZ_Ein_Europa.as vom 20. August 2009, im Ausdruck S. 1; das Zitat geht dann weiter mit dem Satz: »Für uns bedeutet ›Europa‹ eindeutig Gesamteuropa mit den drei transkaukasischen Staaten.« Diese geographische (und geopolitische?) Ausweitung ist bemerkenswert.
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»Sternen-Freundschaft«? truiert. Diese Identitäts-Praxis gebiert Slogans, die dem ›symbolischen‹ Leitspruch der EU – »In Vielfalt geeint« – verpflichtet sind und ständig wiederholt werden: ›sich gleich bleiben im Wandel‹; ›Wahrung der Einheit in der Vielfalt‹; ›Bemühen um Einheit, Bewahren der Vielfalt‹; ›Wertschätzung von Differenz und Andersartigkeit‹; ›Kohärenz in der Diversität‹ usw. Identität wird mehrdeutig und als »Werden«, als »permanenter Wandlungsprozeß«51 definiert. Die an sich gegen Polyphonie gerichtete Identität wird selbst als »polyphon« erklärt, soll dabei jedoch stets eindeutig Identität bleiben: »Wir haben verschiedene Nationalitäten, wir sprechen verschiedene Sprachen, leben in verschiedenen Städten und Regionen und haben unterschiedliche Traditionen, Symbole, Legenden und Mythen. Aber wir sind alle Erben einer Europäischen Kultur, die durch eine rätselhafte und faszinierende Mischung von Diversität und Einheit tief gezeichnet ist. Im Geist einer solchen Einheit sind wir den gleichen grundlegenden Werten und Prinzipien verpflichtet, die das Wesen unserer Europäischen Identität ausmachen.«52
Diese Strategie, die versucht, postmoderne Diskurspartikel in einen Identitätsdiskurs zu integrieren, führt zu höchst paradoxalen Wendungen, wie sie u. a. zahlreich in Edgar Morins Klassiker Europa denken gefunden werden können. Die Europäische Einheit liegt hier in der Uneinigkeit und Heterogenität, die Identität der EU in ihrer Nicht-Identität;53 die Grundlage Europas besteht im Verlust aller Grundlagen, Europas Ordnung in der Unordnung einer chaotischen Baustelle.54 »Die europäische Identität lässt sich gerade nicht trotz aller Metamorphosen definieren, sondern sie besteht eben genau in diesen Metamorphosen.«55 Damit wäre der Begriff der Identität ad absurdum geführt. Es soll zwar gar nicht völlig in Abrede gestellt sein, dass Europa beispielsweise von der antiken griechischen Philosophie oder der Lehre des Christentums und des Judentums mit geprägt wurde. Daraus eine Identität zu behaupten, trägt jedoch das »Stigma der Anachronie«.56 Die Identitätsdiskurse sind die überkommenen Diskurse der Moderne, die zu Zeiten der Postmoderne in ihrer Anachronie zum Teil beunruhigend ideologisch anmuten – dabei geht es nicht nur
51 Wilfried Loth: »Europäische Identität in historischer Perspektive«. Zentrum für Europäische Integrationsforschung, Discussion Paper C113, Bonn 2002, S. 5. 52 W. Schwimmer: »Europäische Identität«, S. 4. 53 Edgar Morin: Europa denken, Frankfurt/Main, New York: Campus 1991, S. 21. 54 Ebd., S. 67. 55 Ebd., S. 61 (Hervorhebung im Original). 56 J. Derrida: Das andere Kap, S. 25.
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Christian Luckscheiter darum, dass sich die möglichen Wurzeln Europas inzwischen vermehrt haben und Europa längst auch (oder immer schon?) eine orthodoxe, eine muslimische, eine afrikanische, eine mediterrane Komponente hat.57 Differenz ist schlichtweg anders zu denken: Hier steht nicht »die oberflächliche Vielheit eines Spektakels auf einheitlicher Basis« zur Debatte, wie es vielleicht manche Politiker imaginieren, »sondern eine an die Wurzeln gehende Pluralität«.58 Selbst die Strategie, die Diskurse der philosophischen Postmoderne, das Denken der Differenz in Identitätsdiskurse einzubinden, scheitert also, da sie sich letztlich in paradoxalen Formulierungen verheddert und zur Unmöglichkeit einer Begriffsunterscheidung führt, die den Begriff der Identität nicht mehr anwendbar macht. Und noch »die wohlmeinendsten europäischen Projekte, dem Anschein nach und auch ausdrücklich pluralistisch, demokratisch und tolerant ausgerichtet, können in diesem schönen Wettkampf um die ›Eroberung der Geister‹ versucht sein, die Homogenität [...] diskursiver Modelle, die Homogenität von Diskussionsnormen durchzusetzen.«59 Ihnen geht es immer noch darum, das Heterogene irgendwie zu beherrschen, es auf ein Zentrum zu beziehen. Angesichts dieser Gefahr des Delirierens einer Identität als NichtIdentität und einer Ordnung als Nicht-Ordnung und der nichtidentischen Identität als typisch europäisch könnte es letztendlich fruchtbarer sein, die Frage der Identität im Zusammenhang mit der EU überhaupt nicht mehr zu stellen, da die überkommenen Identitätsdiskurse ihren Gegenstand, die EU, schlichtweg verfehlen. Eine Identitätskrise der EU wird es so lange geben, wie an der Idee einer europäischen Identität festgehalten wird. Die EU wird daher, aus Verlegenheit, auch gerne als »Gebilde sui generis« apostrophiert – oder als »Ding«.60 »Das Heute, die Gegenwart dieses Europa ist die eines Europa ohne festgesetzte, vorgegebene Grenzen, ja ohne festgelegten Namen«.61 Statt das Inkommensurable der EU beherrschen oder zentrieren zu wollen und dazu Identitätsdiskurse zu bemühen, die nicht (mehr) fruchten, kann versucht werden, Denkmodelle in die Diskurse zur EU einzuführen, die sich gewissermaßen jenseits der Dichotomie von Identität und
57 Vgl. u. a. J. Attali: Europe(s), S. 139 u. S. 198. 58 Wolfgang Welsch: Unsere postmoderne Moderne, Berlin: Akademie Verlag 2002, S. 184. 59 J. Derrida: Das andere Kap, S. 41. 60 Vgl. Peter Glotz: »Das Ding. Überlegungen gegen den Hornviehnationalismus in der Europäischen Union«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24. Mai 2002, S. 7. 61 J. Derrida: Das andere Kap, S. 26.
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»Sternen-Freundschaft«? Differenz bewegen, die auf den epistemologischen Bruch der Postmoderne reagieren und die ›alten‹ Europa-Diskurse nicht einfach fortschreiben, aber auch keinen radikalen Neuanfang setzen. Ein solches ist der Archipel. Wie kann diese Katachrese gedacht werden? Für Massimo Cacciari manifestiert sich der Archipel als inselreiches Meer genau dort, wo es »Ort der Beziehung ist, des Dialogs, des Sichgegenüberstehens der verschiedenen Inseln, die es bewohnen: alle vom Meer verschieden und alle ins Meer verschlungen; alle vom Meer genährt und alle dem Wagnis des Meeres ausgesetzt.«62 Die einzelnen Inseln sind vom Meer zu unterscheiden, und gleichzeitig ins Meer verschlungen, vom Meer nicht zu unterscheiden; vom Meer genährt und gleichzeitig dem Meer ausgesetzt. Der Archipel ist mit den Worten Eugenio Montales weit, wandelbar und fest zugleich; schützend und bedrohend, grenzenlos und widerstreitend. Es ist mithin eine hochgradig paradoxe Figur, der es nicht darum zu tun ist, eine paradoxe Identität zu behaupten oder zu versuchen. Die Frage nach der (nicht-identischen) Identität, nach dem Kern, der Substanz hat sie hinter sich gelassen. Sie ist eine Paradoxie, die nicht aufgelöst wird, die in der Schwebe bleibt zwischen zwei Seiten, ohne je völlig auf die eine der beiden Seiten wegzukippen. Die Figur des Archipels lässt sich geradezu wie eine Umsetzung des Textes Das andere Kap von Derrida in eine Figur lesen, die wie die Begriffe (der Dekonstruktion) »Iterabilität«, »Hymen«, »Gramma« etc. in keiner Hierarchie steht bzw. stehen soll. »Es geht hier nicht um die ›Methode‹, mit der das Vielfältige als bloßes Phantasma aufgelöst werden soll«;63 Archipel ist nicht binär, sondern soll aus der (abendländisch-metaphysischen) binären Ordnung herausfallen: »[D]er Raum des Archipelagos ist seinem Wesen nach widerspenstig gegen Unterordnung und hierarchische Stufenleitern; keine Insel bildet in ihm eine feste Achse, die fähig wäre, den Archipelagos insgesamt in der Form eines Staates zu strukturieren. Im beweglichen und wechselnden Raum des Sichkoordinierens und des Zusammenlebens [...] gehören die Singularitäten des Archipelagos einander, weil keine in sich einen eigenen Mittelpunkt hat; weil der Mittelpunkt in Wahrheit nur jener Trieb ist, der jede dieser Singularitäten dazu zwingt, sich mit der Fahrt zu anderen und alle zusammen, sich mit der Fahrt zur abwesenden Heimat zu transzendieren.«64
Der Archipel als im Polylog stehende Inselgruppe hat keine das Zusammensein der Inseln strukturierende Achse, hat – wie die Flagge 62 M. Cacciari: Der Archipel Europa, S. 11-12. 63 Ebd., S. 15. 64 Ebd., S. 17.
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Christian Luckscheiter der EU und ganz im Sinne der postmodernen Episteme – keinen Zentralstern;65 oder anders formuliert: Innerhalb des Archipels ist das Zentrum bzw. der Rand überall. Den sich aus dem Meer emporhebenden und ins Meer verschlungenen Inseln ist vielmehr die Bewegung des Meeres immanent. Die jeweils ›eigene‹ Insel wird verlassen und der Archipelagos kennengelernt. Auf der Suche nach dem Gemeinsamen, nach dem fehlenden Zentrum des Archipels, um zu verbinden und um sich gleichzeitig zu unterscheiden, werden alle Inseln von einer Bewegung des Erkennen-Wollens erfasst, die das Verlassen des Eigenen voraussetzt. Mit der ersten Reise hat sich das Eigene aber bereits verändert. Die Rückkehr zum Ausgangspunkt der Reise(n) gerät zu einer Konfrontation mit dem Bild von sich selbst, das sich in dem Kontakt und der Auseinandersetzung mit dem bisher Nicht-Eigenen umgeformt hat. Der Ort der Rück-Ankunft ist vom Ursprungsort verschieden. »[W]oher wir kommen, läßt sich nie mehr erreichen.«66 Die Suche nach dem Zentrum gerät sozusagen zum Gegenteil: Statt des Auffindens einer festen Heimat entsteht eine Befreiung vom »Festwerden an der Erdscholle«,67 die Lösung von der Landverankerung. Der Archipel ist somit die Figur einer Kultur, in der das »sich von sich selbst Entfernen«68 eines jeden Mitgliedes hin zu einem anderen den gemeinsamen Grund darstellt, in der das Zusammensein in der Entwurzelung ›gründet‹. Erst die Entwurzelung ist die Möglichkeitsbedingung für den Archipel. »Die Idee des Archipelagos ist nicht die einer Rückkehr zu den Ursprüngen, sondern eher die eines ›neuen Anfangs‹ oder auch eines ›Gegenschlags‹ zur Geschichte und dem Geschick Europas.«69 Man muss, schreibt Derrida, »sowohl dem wiederholenden Gedächtnis als auch dem ganz anderen des vollkommen Neuen misstrauen; wir müssen mißtrauisch sein gegenüber der anamnestischen Anhäufung oder Kapitalisierung und gegenüber der von Gedächtnisschwund geprägten Aussetzung, die sich dem überantwortet, was sich überhaupt nicht mehr identifizieren läßt.«70 Die Figur des Archipels als das »andere«, als einen ganz neuen Anfang den Identitäts-Wurzelgrabungen gegenüberzusetzen, wäre aufgrund der 65 Denn keine Idee verdient es, das Zentrum zu sein, für wahrer, schöner, besser gehalten zu werden als andere Ideen. Vgl. Rodolphe Gasché: »Zur Figur des Archipels«, in: Daniel Weidner (Hg.). Figuren des Europäischen. Kulturgeschichtliche Perspektiven, München: Fink 2006, S. 235-245, S. 237. 66 M. Cacciari: Der Archipel Europa, S. 37. 67 Ebd., S. 12. 68 R. Gasché: Zur Figur des Archipels, S. 243. 69 M. Cacciari: Der Archipel Europa, S. 32. 70 J. Derrida: Das andere Kap, S. 19 (Hervorhebungen im Original).
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»Sternen-Freundschaft«? dann etablierten Geschichtslosigkeit gefährlich. Doch der Archipel ist nicht nur der neue Anfang, das ganz Neue. Die Erinnerung an das Land, von dem man sich aufmachte und löste, kann und sollte dem Neuanfang nicht abhanden kommen. »Archipelagos ist auch jenes Erinnern Europas«71 – beispielsweise das Erinnern an das »zerfetzt in seine Meere schwer und uralt hingelegte feste Land Europas«, das »riesige Gebirge toter Leichen in sich liegen« hat und »den Meeren nur noch Grund«72 sein sollte; das Erinnern an die »Gräueltaten und Schrecken des 20. Jahrhunderts«73, an »die offen bleibende Wunde«.74 Der »Gegenschlag zur Geschichte und dem Geschick Europas« ist folglich mehr ein Gegenschlag zum Fehlen der faktischen Realisierung der Figur des Archipels in der Geschichte Europas. Der Archipel wäre somit ein stets Uneingelöstes, eine »latente Möglichkeit«,75 die allerdings stets bedroht ist: Durch den Mangel eines stabilen Zentrums, eines festen Begriffs wäre die EU als Archipel fortwährend zwei Gefahren ausgesetzt: Einerseits der Zerstreuung im Vielen, die radikal mit den Wurzeln bricht, also der ›tabula rasa‹; andererseits, da »zwangsläufig immer wieder die Sehnsucht oder die Verführung des eigentlichen Mittelpunktes auf[taucht], der Wille, die europäische Krankheit dadurch zu ›heilen‹, dass man den Raum um eine feste, sichtbare Achse rekonstruiert«,76 der Auflösung im Einen, das das Viele verneint, also zum Beispiel einer hegemonialen Identität. Diese zweifache Gefahr ist jedoch konstitutiv für den Archipel. »Das Aufhören der Gefahr wäre nichts anderes als das Aufhören des póros, des Weges von Europa«,77 wäre ein Abkippen auf die eine Seite, die immer eine andere ausschließt. Die Katachrese Archipel würde also nur dann zur EU passen, wenn die EU sich unablässig ihrer inhärenten Gefahren – Gedächtnisverlust und Hegemonie – konfrontiert und keiner unterliegt. »Jeder Versuch, die in Frage stehenden Risiken zu beseitigen, läuft hinaus auf die Annullierung des Archipels als einer Gemeinschaft, die sich auf Differenz
71 M. Cacciari: Der Archipel Europa, S. 18. Zum Konzept der EU als europäischer Gedächtnisraum und ihrer Identität als »übernationale europäische Erinnerungspolitik« – Europa als »Kontinent der Erinnerung« (Adolf Muschg: »Europa oder Elevtherä, der Mnemosyne Stadt«, in: U. Keller/I. Rakusa, Europa schreibt, S. 213-220, hier: S. 218) – Vgl. u. a. Aleida Assmann: »Nation, Gedächtnis, Identität – Europa als Erinnerungsgemeinschaft?«, in: S. Donig/T. Meyer/ C. Winkler, Europäische Identitäten, S. 24-32. 72 Rainald Goetz: Kontrolliert, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1991, S. 279. 73 A. Assmann: Nation, Gedächtnis, Identität, S. 31. 74 A. Muschg: Europa oder Elevtherä, S. 219f. 75 R. Gasché: Zur Figur des Archipels, S. 240. 76 M. Cacciari: Der Archipel Europa, S. 18. 77 Ebd.
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Christian Luckscheiter gründet (und nicht auf ein gemeinsames Substrat).«78 In ihrer »doppelten Verpflichtung«,79 weder hegemonial noch geschichtsvergessen zu sein, hätte die EU eine paradoxe und unendliche Aufgabe. »Es ist nicht nur die Aufgabe, sich vom oikos [im Sinne von »Zuhause«, Ch. L.] zu trennen und sich einer Beziehung zu anderen zu öffnen, um auf eben dieser Trennung eine Gemeinschaft aufzubauen, sondern diese Trennung fortwährend durchzuführen.«80 Die Flagge der EU lügt natürlich. In der ›wirklichen Wirklichkeit‹ sind die Sterne nicht gleich groß, nicht zu einem harmonischen, perfekten Kreis angeordnet, nicht gleich nah oder weit von einem unbesetzten Zentrum entfernt; das Zentrum ist alles andere als unbesetzt und Böhmen liegt nur in der Literatur am Meer. Längst ist die EU eine geopolitische Großmacht, und mit einer angestrebten gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, die in Zukunft beispielsweise eine EU-Armee und einen EU-Außenminister vorsieht, werden sich ebenso hegemoniale Bestrebungen wie Tendenzen zur Rückkehr zum »Hornviehnationalismus«81 eher verstärken. So gibt es auch bereits Stimmen, die in der EU weniger einen Archipel in Cacciaris Manier als vielmehr einen neuen Archipel Gulag ausmachen, der sich zu einer veritablen Diktatur auswachsen könnte.82 Die Lüge verrät sich insbesondere an den EU-Außengrenzen (z. B. in Ceuta oder auf Lampedusa), wo sich tagtäglich die hässliche Fratze zeigt, die die Sterne-Flagge verhüllen möchte. Insofern muss diesem Text spätestens hier der Vorwurf eingeschrieben werden, dass er ein Modell, das in postkolonialen Diskursen als das Andere zum Kontinent, zu Hegemonialmächten, als das Minoritäre gedacht wird,83 gleichsam imperialistisch kapert und umbiegt zur Beschreibung einer neuen Form des Zusammenlebens vieler ExKolonialmächte, die diese neue Form zunehmend in alten Panzern verschwinden lassen. Andererseits ist genau an solchen Stellen der Einsatzort für ethisch-idealistische EU-Visionen archipelagischer Art im hier vorgestellten Sinn. Der Archipel ist in der doppelten, einander widerstreitenden Verpflichtung, weder hegemonial noch geschichtsvergessen zu sein, zwar ein »Unmögliches«84 bzw. die »Erfah78 79 80 81 82
Vgl. R. Gasché: Zur Figur des Archipels, S. 243. J. Derrida: Das andere Kap, S. 25. R. Gasché: Zur Figur des Archipels, S. 244. P. Glotz: Das Ding, S. 7. Vgl. Lothar Gassmann: »EU als neuer Archipel Gulag?« http://bw.pbc.de/ fileadmin/pbc-de/lv-bw/editors/Johann/EUArchipelGulag.pdf vom 20. August 2009. 83 Vgl. Edouard Glissant: Kultur und Identität. Ansätze zu einer Poetik der Vielheit, Heidelberg: Wunderhorn 2005. 84 M. Cacciari: Der Archipel Europa, S. 32 (Hervorhebung im Original).
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»Sternen-Freundschaft«? rung des Unmöglichen«.85 Zu ihm könnte sich die EU aber immer wieder in Relation denken,86 um ihrem Handeln, im Zeichen ihrer Flagge, einen idealen und in seiner Idealität unerreichbaren Horizont zu bieten – jenseits von Eurozentrismus und Anti-Eurozentrismus.
85 J. Derrida: Das andere Kap, S. 36 (Hervorhebungen im Original). 86 Vgl. M. Cacciari: Der Archipel Europa, S. 6; R. Gasché: Zur Figur des Archipels, S. 244.
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Hierarchie der Insel. Über das Schreiben Luigi Nonos und Massimo Cacciaris MICHELE DEL PRETE »La musica non è solo composizione. Non è artigianato, non è un mestiere. La musica è pensiero.« 1
Das letzte für das und als Theater konstitutiv komponierte Werk Luigi Nonos ist Prometeo. Tragedia dell’ascolto (Prometeo. Tragödie des Hörens). Es existieren zwei Fassungen des Werkes, eine erste, die im Jahre 1984 fertiggestellt wurde (diese ist die Version der Uraufführung) und eine zweite, eine Revision, die ein Jahr später folgte.2 Für den Zweck dieser Analyse können die zwei Versionen zusammen betrachtet werden, weil die späteren Veränderungen, die das musikalische Werk betreffen (wie z. B. die Erweiterungen der Orchestereinsätze und der Chorpartie in einigen Teilen), der Grundstruktur der ersten Fassung nicht widersprechen. Die unveränderte Struktur ist als unveränderte Poetik anzusehen.
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»Die Musik ist nicht nur Komposition. Sie ist kein Handwerk, kein Beruf. Die Musik ist Denken.« Luigi Nono: »Altre possibilità di ascolto«. Zuerst in: Anna Laura Bellina/Giovani Morelli (Hg.), L’europa musicale. Un nuovo rinascimento: la civiltà dell’ascolto, (=Problemi di cultura europea), Firenze: Vallecchi 1988, S. 107-124, nun auch in Luigi Nono: Scritti e colloqui, hg. von Angela Ida De Benedictis/Veniero Rizzardi, (=Le Sfere. Collana di studi musicali diretta da Luigi Pestalozza), Lucca: Ricordi und LIM Editrice 2001, Band I, S. 531; fortan wird diese Veröffentlichung mit der Sigle SC wiedergegeben. Sämtliche in der vorliegenden Arbeit enthaltenen Übersetzungen aus dem Italienischen, wenn nicht anders vermerkt, wurden vom Verfasser angefertigt. Uraufführung der ersten Fassung: San Lorenzo, Venedig, 29. September 1984; Uraufführung der zweiten Fassung: ehemalige Ansaldo-Industrieanlagen, Mailand, 25. September 1985.
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Michele Del Prete
Es ist äußerst problematisch, von einem Libretto dieses Werkes zu sprechen.3 Der sich formal am Modell der Tragödie orientierende Text, der Prometeo zugrunde liegt und der von dem Philosophen Massimo Cacciari erstellt wurde, besteht aus verschiedenen kleinen Einheiten. All das gesammelte Material kreist um die Geschichte (um den Mythos)4 des Prometeo und ist eine Verarbeitung von Schriften Hesiods (Theogonie, Werk und Tage), Aischylos’ (Prometheus in Fesseln), Pindars, Herodots, dann auch Goethes, Hölderlins und Benjamins. Lydia Jeschke hat zu Recht bemerkt, dass es bei diesem Werk unmöglich ist, von einer Oper zu sprechen; weiterhin kann in ihm die Präsenz von dramatis personae im engeren Sinne bestritten werden.5 Diese Vorsicht gilt aber nur für eine Analyse, die Prometeo noch vor dem Hintergrund der Gattung Oper erforschen möchte, um mit den Kategorien dieser Gattung am Prometeo die Grenze einer internen Reform abzulesen. Prometeo sprengt aber alle möglichen Verbesserungsversuche der Gattung Oper, die seit Gluck eben nur als eine der Oper interne Korrektur gegeben ist.6 Auf einer fundamentaleren Ebene ist es durchaus möglich, von Subjekten des drama zu sprechen, sobald dieses Wort in seiner etymologischen Valenz gelesen wird, d. h. als dasjenige Unterschied-erzeugendeHandeln des drân interpretiert wird, auf das Nono und Cacciari mehrmals explizit hingewiesen haben. In dieser Tragödie des Hörens werden tatsächlich Entscheidungen getroffen bzw. wird e converso aufgrund von Entscheidungen gelitten. Nicht also die Sprache der Oper, sondern (hier sei eine nicht unproblematische Definition erlaubt) die tragische Sprache7 soll als Ausgangpunkt der Erörterung des Prometeo gesetzt werden – eine tragische Sprache, die an der 3
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Vgl. Lydia Jeschke: Prometeo. Geschichtskonzeptionen in Luigis Nonos Hörentragödie, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 1997, S. 93. Trotzdem betitelt Jeschke die Sektion ihrer Arbeit, in der der dem Prometeo zugrunde liegende Text abgedruckt ist, Libretto; vgl. darin S. 265-277. Für eine vortreffliche Analyse des Prometeo Nonos sei auf David Toro: Figure di Prometeo. Violenza, tragedia e silenzio. Magisterarbeit für das Fach Philosophie, Università degli Studi di Cassino (Akademisches Jahr 1997/1998), unveröffentlicht (beim Archivio Nono, Venedig, unter ALN, sln D5, katalogisiert), verwiesen. Lydia Jeschke: Prometeo, S. 93ff. Charakter der Revolution und nicht der Reform besitzen in diesem Sinne auch Arnold Schönbergs Fragment Moses und Aron (1923-1937) und Helmut Lachenmanns Das Mädchen mit den Schwefelhölzern. Musik mit Bildern (1988-1996). Der Verweis auf das griechische Modell soll aber keine Restaurationstendenzen legitimieren: dieser Verweis gilt nur dialektisch. Das ist stets noch hinsichtlich der Sprache bzw. der Wahl eines tragischen Originaltextes zu bedenken. Dies ist der Grund der künstlerischen und philosophischen Inakzeptabilität von Carl Orffs Antikendramen.
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Schnittstelle der Sprache der Komposition des Künstlers Nono und der Sprache der Textcollage des Philosophen Massimo Cacciari steht. Die Relation zwischen der Sprache der Kunst und der der Philosophie ist aber traditionell besonders kritisch. Nach einer Haltung des Denkens, die bei Plato sowie bei Hegel eklatant manifest ist, besitzen die zwei Sprachen an sich bereits verschiedene Wahrheitswerte. Diesen Unterschied in Sachen Darstellung der Wahrheit interpretiert die Philosophie als eine Hierarchie, deren höchsten Rang sie besetzt – und die ein Werk wie Prometeo andererseits als problematisch erscheinen lässt. Bei aller Komplexität des Werkes von Nono und Cacciari soll vor allem bemerkt werden, dass seine tragische Dimension grundsätzlich dank der Erscheinung eines besonderen Raumes bzw. eines besonderen Ortes garantiert wird. Die Topologie des Prometeo, Tragödie des Hörens besteht aus Inseln. Das ist umso interessanter, wenn bedacht wird, dass prima facie die Polis und nicht die Insel der natürliche Ort der Tragödie ist.8 Dieser räumliche Charakter informiert die Struktur der Arbeit auch bezüglich der dispositio; die zehn Einheiten des Werkes tragen die Titel: Prologo, Isola 1a, Isola 2a, Stasimo 1, Interludio 1, Tre voci a, Isole 3/4/5, Tre voci b, Interludio 2, Stasimo 2. Mit Ausnahme der Interludi (die an Formen der Instrumentalmusik anknüpfen, und daher nicht unmittelbar auf die Antike, sondern auf die Romantik Schumanns und auf Mahler verweisen) können die Teile des Werkes ohne Weiteres auf die Terminologie der antiken Tragödie zurückgeführt werden. Prolog und Stasimon entsprechen sowohl in der Bezeichnung wie in ihrer Funktion dem klassischen Vorbild: Der Prolog ist noch »der ganze Teil der Tragödie vor dem Einzug des Chors«,9 während die Stasima als Choraktionen gelten. In denen wird über das Schicksal des Prometeo berichtet, indem der Chor dessen Geschichte erzählt. Die Isole sowie die Tre voci tragen zwar andere Bezeichnungen, ensprechen aber ihrer Funktion und Position nach bestimmten Teilen des antiken Dramas. In den Isole treten verschiedene Personen, die für sich sprechen, d. h. das eigene Schicksal besingen, auf. Somit erfüllen die Inseln diejenige Funktion, die in der klassischen Tragödie die Episode innehatte, in der eben dramatisches Tun stattfand. Die Inseln sind der Ort des drama, d. h. der Ort der Entscheidung und der Relation. So singt Prometeo in der ersten Insel gegen Hephaistos (es ist die Geschichte der Verurteilung des Prometeo), während es in der zweiten um seine Begegnung mit menschlichem 8 9
Jedoch ist nach Cacciari gerade Athen »die schönste Insel«: Massimo Cacciari: L’Arcipelago, Milano: Adelphi 1997, S. 16. Vgl. Aristoteles: Poetica, XII.
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Leid geht – es ist die Begegnung mit Io, die auch der Gewalt des Gottes ausgesetzt ist. In den Isole 3/4/5, die in einer einzigen Sektion versammelt sind, wird der Blick noch mehr auf Gegenwart und Zukunft gerichtet: Prometeo akzeptiert sein Schicksal und steht allein vor den Konsequenzen seiner Entscheidung so wie vor dem Wunder seiner Leistung. Bei jeder Insel (mit Ausnahme der vierten, in der die Anrufungen der Muse sowie Material aus Hesiods Werk und Tage erscheinen) ist auch immer eine Mythologie anwesend, die das Sagen Prometeos begleitet. Es ist so der Raum Insel, der das Zusammensein des Prometeo und der anderen Stimme der Mythologie zulässt. Andersherum stiftet Prometeo als (See-)Wanderer10 eine wirkliche Verwandtschaft zwischen den Inseln: Viele sind die, die er erreicht und wieder verlässt.11 Durch dieses Reisen entsteht eine konkrete Vielfalt von Raumrelationen, d. h. die verschiedenen Inseln (und ihre Zwischenräume) profilieren sich als Stätten einer einzigen Wanderung. Es ist eine doppelte Bewegung: Der Raum definiert die Relationen – die Inseln ermöglichen die besondere Reise Prometeos – während, komplementär, die Relationen den Raum – der sich als die Versammlung mehrerer Inseln zeigt – rekonfigurieren. Dieser Aspekt kann am besten dank eines Namens verstanden werden, der im Prolog anklingt. Es ist der Name von Ithax, durch den Cacciari die Verwandtschaft des Prometheus zu Odysseus explizit thematisiert.12 Im Sinne einer Relationalität lässt sich schließlich auch das letzte formale Element des Werkes deuten, wenn auch in diesem Fall eine Parameterverschiebung vom Raum weg zugunsten der Zeit zu registrieren ist. Die Pluralität der Stimmen der zwei a tre Voci Sektionen ist eminent zeitlich konnotiert: In ihnen wird die Kategorie der Distanz als Echo fernster Erinnerungen aktiviert. Es sind Erinnerungen, die von verschiedenen Stimmen besungen werden, was auf eine Vielfalt differenter Zeitschichten verweist und eben eine Akzentverschiebung von den Raumrelationen zu den Zeitrelationen bedeutet. Die Insularität des Prometeo ist nicht nur eine Ingredienz seiner dispositio. Sie gilt noch auf zwei weiteren Ebenen: 1) auf der der Spatialisierung, die ein wesentliches Moment der Klangpoetik des Werkes ist, und 2) auf der der Relation des Prometeo zur restlichen Produktion Nonos.
10 Vgl. darüber das Interview Restagnos mit Nono: »Un’autobiografia dell’autore raccontata da Enzo Restagno«, in: SC II, S. 559. 11 Vgl. Massimo Cacciaris Skizze zu Prometeo (Archivio Nono, 51, 07.01/1), auch in L. Jeschke: Prometeo, S. 210. 12 Vgl. den Prologo des Prometeo, V. 11.
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1) Es wäre falsch, die Frage nach der Verteilung der Klangquellen bzw. der Musik im Raum bei Prometeo auf eine Nebenfrage der Aufführungspraxis zu reduzieren. Der Raum wird bei Nono als musikalischer Parameter nicht als ein Selbstverständliches gesehen – was immer wieder bedeutet: übersehen. Nono hat mehrmals sein Interesse an derjenigen musikalischen Tradition bekundet, die den Raum tief bedacht und gewürdigt hat. Zu dieser Tradition ist die venezianische Mehrchorigkeit zu zählen wie auch jene Haltung, nach welcher die Platzierung der Orgeln in den spanischen Kathedralen bzw. der Chöre in der Leipziger Thomaskirche erfolgte.13 Im Spezialfall Prometeo geht es um die Poetik eines Raums, der als etwas Komplexes unüberbrückbare Frakturen, d. h. Differenzen, kennt. Dies betrifft sowohl die physische Distribution der Chöre und der Instrumentengruppen (die bereits bei der Uraufführung in San Lorenzo auf unterschiedlicher Höhe platziert waren) als auch die Arbeit der live electronics, die über diese schon auf der physischen Ebene polymorphe Struktur musikalisch interveniert. Nono hat Renzo Piano eine Struktur für die Uraufführung bauen lassen, die die Disposition solcher getrennter Gruppen ermöglichte. In einem Holzbau in der Form eines Schiffes, der die Aufführenden und das Publikum enthielt, bewegten sich die Klangtrajektorien des Werkes, die physischen der akustischen Klangquellen sowie die elektronisch gesteuerten. Diese Vielschichtigkeit der Raumrelationen lässt die Wege des Prometeo als die eines Wanderers erklingen (so dass sich, wie oben geklärt wurde, dieses Wandern gerade als Erfahren der Relationen zwischen den Inseln vollzieht). Über den von ihm entworfenen Holzbau schreibt Piano: »Nono und Cacciari denken an den ›Musik-Raum‹ für Prometeo als eine Art Archipel. Es handelt sich sicher um ein poetisches, suggestives Wort, aber auch um eine ziemlich genaue Referenz. Wenn man auf einer Insel ist, die sich innerhalb eines Archipels befindet, wie man den Blick auch zu richten vermöchte, es ist nicht möglich, das System in seiner Gesamtheit in einem Augenblick zu schauen [...], jedoch können wir das Ganze wahrnehmen, indem unsere Sinne die Wirkungen der uns unsichtbaren Ursachen empfinden.«14 13 Vgl. E. Restagno/L. Nono: Un’autobiografia, S. 533 und »Dedicato a Nono. Conversazione radiofonica tra Massimo Cacciari, Heinz-Klaus Metzger, Giovanni Morelli, Luigi Nono, Alvise Vidolin, coordinata da Mario Messinis« (1986), in: SC II, S. 377; vgl. auch Luigi Nono: »Verso Prometeo. Frammenti di diari«, in: Massimo Cacciari (Hg.), Verso Prometeo, Milano: Ricordi 1984, fortan VP, S. 27. 14 »Nono e Cacciari pensano allo ›spazio musicale‹ per Prometeo come ad una sorta di arcipelago. Si tratta di un termine poetico, certo, evocativo, ma anche di un riferimento piuttosto preciso. Quando ci si trova su di un’isola interna ad un arcipelago, comunque si volga lo sguardo non è possibile abbracciare il sistema nella sua interezza, instantaneamente [...]
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Aus diesem Passus lässt sich die Tragweite des Raummodells gut ermessen, dem die Verstreuung der Klänge im Raum zugrunde liegt. Es ist eine Verstreuung, die sich auch in der Vertikalität manifestiert, d. h. eben in einer Dimension, die für die Räumlichkeit einer Insel qua Erhebung aus den Wassermassen konstitutiv ist. So stellt sich bei jeder neuen Aufführung des Prometeo das Problem des Aufführungsraumes mit all seinen Besonderheiten immer wieder. Bei der Londoner Aufführung im Mai 2008 in der Royal Festival Hall, bei der kein Schiff als szenische Raumstruktur verwendet wurde, gab es mehr als zwanzig Lautsprecher, aus welchen der Klang vernommen werden konnte; noch artikulierter war dies der Fall bei der japanischen Erstaufführung, bei der auch Grotten einbezogen wurden.15 Auch szenisch geht es also um einen Raum, in dem sowohl die Trennung der akustischen Klangquellen als auch die durch die Musik entstehenden Relationen zwischen diesen we-
Sull’isola, ad esempio, il vento, che soffia dalla parte opposta a quella verso cui stiamo guardando, increspa lo specchio d’acqua che ci sta di fronte. Vediamo sempre e solo una parte del tutto, ma possiamo percepire il tutto cogliendo coi nostri sensi gli effetti delle cause a noi invisibili.« In: Renzo Piano: »Prometeo: uno spazio per la musica«, in: M. Cacciari, Verso Prometeo, S. 55-58. Vgl. E. Restagno/L. Nono: Un’autobiografia, S. 559: »L’idea originale di Cacciari fu quella di concepire l’›opera‹ come un arcipelago formato da tante isole. Non scene dunque ma isole, sicchè il cosiddetto percorso dell’›opera‹ si sarebbe configurato come una navigazione vagante fra queste isole.« 15 Der Architekt Arata Isozaki, der an der Erstaufführung des Prometeo in Japan beteiligt war, hat bemerkt: »It was my idea to try to create a spatial parallel between our view of the world as ›archipelagos‹ and the concretization of the performing space in ›archipelagos‹.//Another thing, the image of this hall had to do with its being here in Akiyoshidai. Now Akiyoshidai is a cartesian tableland with stalactic cavities. That is, with caverns. So, during the design process I hit upon the idea, what if I overlap the cave image with that of the islands. A glass-walled court filled with water brought up front and center – this would be one of the floating islands. Actually, all the various lodges of the Village are floating like islands. So this idea of putting together a collective body of islands each with its own function referred not only the Hall but extended to the overall layout concepts. That is, the spatial configuration of this entire Art Village came to manifest the vision Nono and Cacciari imagined in Prometeo as reassembled within the conditions of Akiyoshidai here in Japan. Yesterday, listening to the Japan premiere of Prometeo, the flow of the sound in this space created here was exceptional.« In: Symposium Luigi Nono and Prometeo, A Dialectic of Progress and Regression (gehalten am 27. August 1998, Akiyoshidai Kokusai Geijutu-mura), übersetzt von A. Birnbaum, NTT Intercommunication Centre (http://www.ntticc.or.jp/pub/ic_mag/ic027/html/128e.html vom 29. April 2009).
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sentlich sind. Dies ist der Archipel, den Piano meint, der die Lokalisierung der Aufführenden ernst nimmt und (gleich) transzendiert. Über die Disposition der akustischen Klangquellen hinaus werden die Raumvalenzen der Ferne und der Nähe durch die Elektronik aktiviert. Dies wird mittels einer Pluralität von Verfahren erreicht: durch den Einsatz von Transpositionen in Mikrointervallen (pitch shifting), durch Nachhalleffekte (bis zu 20 Sekunden) und durch die Abgabe des Coro lontanissimo mittels indirekter Lautsprecher.16 Jedoch ist das wichtigste Beispiel für die Relationalität zwischen den Inseln ein live electronics-Prozedere, das in den Isole 3/4/5 zum Einsatz kommt. Mittels eines gate kann ein Ausführender in Echtzeit durch die eigene Dynamik (bzw. Tonhöhe) die Dynamik (bzw. die Tonhöhe) des Klangproduktes eines anderen Ausführenden beeinflussen. Bei einem gate werden die elektrischen Impulse, die aus einer Klangwelle durch Transformation der Energieform von Schalldruck in ein elektrisches Signal mittels eines Mikrophons konvertiert werden, nicht gleich einem Lautsprecher weitergegeben (wie das z. B. bei einer gewöhnlichen Verstärkung der Fall wäre), sondern als Informationen verwendet, um die Lautstärke eines zweiten, von einem anderen Mikrophon aufgenommenen Instruments zu steuern. So kann zum Beispiel die Lautstärke einer Klarinette die live-electronics-Wiedergabe der Linie einer Flöte regeln, die weiterhin einer anderen Orchestergruppe angehören kann.17 So entsteht eine neue Art der Relation zwischen von verschiedenen, entfernt voneinander platzierten Aufführenden gespielten musikalischen Materialien. Hans Peter Haller, einer der engsten Mitarbeiter Nonos, der zusammen mit Alvise Vidolin die Elektronik des Prometeo erfunden hat, schreibt in seinem Tagebuch in der Zeit, in der die Proben zur Uraufführung des Prometeo in Venedig stattfanden: »Mit Gigi arbeiten wir weiter an der Partitur zweiter Teil: Gatesteuerung. Nono hat diese Funktion sehr gut verstanden, wenn also auch die Interpreten die von ihm genau vorgeschriebene Dynamik und Spielanweisungen einhalten, kann eine neue Klangwelt entstehen: Zerbrechen des Klanges – Inseln, die über die Live-Elektronik miteinander verbunden werden und trotzdem ihre eigene Aussage nicht verlieren.«18
16 Vgl dazu. L. Jeschke: Prometeo, S. 197-200. 17 Hans Peter Haller: »La tecnica del ›live electronics‹ allo studio sperimentale di Friburgo«, in: M. Cacciari, Verso Prometeo, S. 39-46. Vgl. auch Alvise Vidolin: »Il suono mobile«, in: Con Luigi Nono. Catalogo della Biennale Musica 1992-1993, S. 42-47 und Alvise Vidolin: »Interazioni con il mezzo elettronico«, in: M. Cacciari, Verso Prometeo, S. 47-53. 18 Hans Peter Haller, Tagebucheintrag vom 28.8.1984. (http://www.hphaller.homepage.t-online.de/Tagebuch.html vom 29. April 2009).
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Die Kategorie der Insularität erlaubt weiterhin die Relation des Prometeo zu den anderen Werken Nonos zu verstehen. Die Entstehungsgeschichte des Prometeo ist die eines komplexen Projektes und eines komplexen Prozesses: Es wäre daher falsch, es als ein Ergebnis im Sinne eines opus summum bzw. als einen Bruch mit der vorangegangenen Produktion Nonos zu betrachten. Vielmehr stehen viele andere Werke Nonos um Prometeo, die unmöglich auf eine bloße Funktion von (bzw. Skizze zum) Prometeo zu reduzieren sind, wohl aber mit diesem in einem engen Zusammenhang stehen. Allgemein wird eine Wende in den Arbeiten Nonos seit der Zeit nach dem Al gran sole carico d’amore19 angenommen; eine Wende, die sich mit Diotima20 wenn nicht bereits schon mit ... sofferte onde serene…21 manifestierte. Diese soll jedoch nicht hypostasiert werden: Genau betrachtet sind die Vokalmodelle des Prometeo (a »gigantic madrigal« nach Lachenmann)22 bereits mit Il canto sospeso (1956) und mit den Cori di Didone (1958) gegeben, also mit frühesten Werken des venezianischen Komponisten.23 Für die Zugehörigkeit des Prometeo zum Spätwerk Nonos sprechen noch zwei weitere Argumente: a) Das 1982 geschriebene Io, frammento del Prometeo wird als Insel 2 in Prometeo aufgenommen; b) bezüglich der Instrumentierung, der Textauswahl und der Verwendung der live electronics gibt es eine besondere Relation zu Werken wie Das atmende Klarsein, für Kammerchor, Bassflöte und live-electronics (1981, über Texte Cacciaris), Guai ai gelidi mostri, für 2 Altos, Flöte, Klarinette, Tuba, Viola, Cello, Kontrabass und live electronics (1983, über Texte Cacciaris) und zu einem Werk nach
19 Die ersten Entwürfe zum Prometeo gehen auf die Zeit unmittelbar nach Al gran sole carico d’amore zurück. Vgl. M. Cacciari: Verso Prometeo, S. 17. 20 Vgl. Heinz-Klaus Metzger: »Wendepunkt Quartett?« In: ders./Rainer Riehn (Hg.), Musik-Konzepte 20, Luigi Nono, München: edition text+kritik 1981, S. 93-112. 21 Vgl. Paulo de Assis: Luigi Nonos Wende. Zwischen ›Como una ola de fuerza y luz‹ und ›...sofferte onde serene...‹, Hofheim: Wolke 2006. 22 Helmut Lachenmann hat aber selbst diese Definition in Frage gestellt, vgl.: Symposium Luigi Nono and Prometeo, Prometeo as a non Opera, übersetzt von A. Birnbaum, NTT InterCommunication Center (http://www.ntticc.or.jp /pub/ic_mag/ ic027/ html/128e.html vom 29. April 2009). 23 Vgl. E. Restagno/L. Nono: »Un’autobiografia«, S. 520: »Il testo di Machado in Guiomar è tutto un testo sul mare, e questo elemento accompagna la mia musica, la mia vita. Nei Cori di Didone, per esempio, dove sembra giungere come un’eco della voce di Ungaretti e propagarsi attraverso le oscillazioni dei piatti, i suoni prolungati-ondulati del coro. Forse, a volte, talmente evidente, quasi da intricarmi, sperdendomi.«
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Prometeo, Caminantes... Ayacucho (1986-1987, über einen Text von Giordano Bruno).24 Darüber hinaus sollte die Selbstreflexivität des Prometeo nicht übersehen werden. Nicht nur gibt es zwei Versionen des Prometeo: Nono hat erklärt, dass die Partitur des Prometeo bei jeder Aufführung einer spezifischen Revision in Bezug auf den jeweiligen Aufführungsraum unterzogen werden soll.25 Cacciari hat in seinem philosophischen Werk gelegentlich auch Musikwerke aus einer theoretischen (philosophischen) Perspektive betrachtet. So ist in Icone della legge26 eine ausführliche Analyse des Moses und Aron von Arnold Schönberg enthalten. Anders verhält es sich bei Prometeo: Darüber hat Cacciari wenig geschrieben, darunter einen Text, der in Verso Prometeo erschienen ist – einem Sammelband, der auch Schriften von Nono, Piano, Haller und Vidolin enthält. Mit Ausnahme dieses, anderer (kurzer) Beiträge27 und einiger Interviews hat sich der venezianische Philosoph nie wieder thematisch über Prometeo geäußert. Es gibt jedoch einen Text, der, wenn er auch nicht direkt auf die Tragödie des Hörens eingeht (sondern sie offensichtlich bewusst verschweigt), den wichtigsten Beitrag zum Verständnis ihrer Poetik leistet, weil er eine theoretische Auseinandersetzung mit der Raumkonstellation des Prometeo enthält. Dieser Text, der Ende des Jahres 1996 fertiggestellt wurde, heißt L’Arcipelago (Der Archipel):28 er ist in sechs Kapitel unterteilt, und thematisiert u. a. – was eben auch für einen weiteren Verwandtschaftsaspekt zum Prometeo spricht – zwei Figuren der antiken Tragödie, Antigone und Alkestis. Das Kapitel, das eine authentische (Raum-)Theorie des Prometeo bietet, ist das erste, das wiede24 Es sei noch auch auf Luigi Nonos »La lontananza nostalgica utopica futura.« Madrigale per più ›caminantes‹ con Gidon Kremer, für Violine und achtspuriges Tonband (1988-1989) hingewiesen. 25 Vgl. Dedicato a Nono, in: SC II, S. 378: »MESSINIS: Del Prometeo si sono avute due versioni, una prima versione in San Lorenzo nel settembre del 1984 e una seconda versione a Milano nel settembre dell’anno scorso [1985]. Quali differenze ci sono? NONO: Differenze molto notevoli, e penso che ogni esecuzione sarà differente, nel senso che per me oggi non è definibile una partitura, ma si trasforma continuamente in rapporto allo spazio dove essa viene eseguita, spazio da studiare ogni volta e da ricomporre all’interno della progettazione dei programmi del live electronics all’interno della diffusione dei suoni.« 26 Massimo Cacciari: Icone della legge, Milano: Adelphi 1985, I. Sulla legge, 3. La bocca di Mosè, S. 138-170. 27 Darunter Massimo Cacciari: »Per il ›Prometeo‹«, in: Anna Maria Morazzoni (Hg.), Schoenberg & Nono, a Birthday Offering to Nuria on May 7, 2002, Florenz: Olschki 2002, S. 341-344. 28 M. Cacciari: L’Arcipelago.
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rum den Titel Der Archipel trägt und in drei Teile unterteilt ist. Der erste Paragraph dieses Kapitels heißt Namen: Das Meer.29 In ihm betrachtet Cacciari die Etymologie von pontos, pelagos, hals, mare, See und untersucht dabei eine klassische homerische Formulierung, die vom atrygetos pontos. Diese Formulierung wird üblicherweise mit »unfruchtbare[s] Meer«30 wiedergegeben. Gegen die Implikationen, die diese Übersetzung enthält, bringt Cacciari aber den Einwand, dass das Adjektiv atrygetos im engeren Sinne nur bedeutet, dass auf dem Meer nicht geerntet werden kann: Dies bezeichnet aber keine absolute Sterilität, d. h. keine frontale Opposition zum Leben. Andere Früchte wachsen im Meer: »Aus dem Meer wachsen nicht Weinstöcke noch Olivenbäume, aber dafür Inseln, die ihnen als Wurzelgrund dienen. Dieses Meer ist also nicht abstrakt vom Land geschieden. Hier beziehen die Elemente sich aufeinander, sehnen sich nacheinander. Und das Meer par excellence, der archi-pélagos, die Wahrheit des Meeres, manifestiert sich demgemäß da, wo es Ort der Beziehung ist, des Dialogs, des Sichgegenüberstehens der verschiedenen Inseln, die es bewohnen.«31
Nachdem von dieser Dimension des Lebens (die auch die Dimension der Relationalität einschließt) die Rede war, stellt Cacciari im zweiten, wiederum mit Der Archipel betitelten Paragraphen des ersten Kapitels die fundamentale Frage danach, auf Grund welchen distinktiven Elements die verschiedenen Inseln zum (einen) Archipel werden. Der Versuch, eine Antwort zu geben, erfolgt nach einem klassischen philosophischen Schema: Nach dem Grund des Versammlungscharakters des Archipels zu fragen ist gleichbedeutend damit, nach der Existenz von etwas Höherem als dem unvermittelten Erscheinen der vielen Inseln zu fragen – einem Höheren, das das gemeinsame Wohnen der Vielen an einem Ort zulässt und das das Ergebnis der compositio verschiedener Einzelheiten ermöglicht. Es geht also gleichzeitig, nach dem Parameter der leges entis, um das Problem eines gemeinsamen ethos (d. h. des Zusammen-Seins der Vielen) und dann, nach dem Parameter der leges mentis, um das Problem des logos (d. h. der Prädikabilität der Verschiedenen). 29 Vgl. Prometeo, Isola 4. 30 Massimo Cacciari: Der Archipel Europa. Übersetzung von Günter Memmert, Köln: DuMont 1998, S. 9. D. h. auf Italienisch: »sterile mare«. 31 M. Cacciari: L’Arcipelago, S. 16: »Dal Mare non nascono nè vite nè ulivo, ma le isole sì, che danno loro radice. Questo Mare non è, dunque, astrattamente separato dalla Terra. Qui gli elementi si richiamano, hanno l’uno dell’altro nostalgia. E il Mare per eccellenza, l’archi-pélagos, la verità del Mare, in un certo senso, si manifesterà allora, là dove esso è il luogo della relazione, del dialogo, del confronto tra le molteplici isole che lo abitano […].« Deutsche Ausgabe S. 11f.
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Nur dank des logos wird es möglich, die Vielen als Viele in einem Sagen zu versammeln. Gegen jede Unvermitteltheit bedeutet dies, dass die Dinge nur in ihrer Relation zueinander gesehen werden, also noch fundamentaler, dass sie erst in der Relation sichtbar sind. Deswegen schreibt Cacciari: »Lógoi werden also die Worte des Archipels sein, logos sein Diskurs.«32 Die Intelligenz des Archipels (an erster Stelle ein genitivus subjectivus), der Sinn solchen sich aus vielen Inseln ergebenden einen Raumes, der Inseln und Meer ist, ist so nach Cacciari ein Teilen und Verbinden, ein Analysieren und Entdecken von Relationen zwischen den analysierten Elementen. Diese Bewegung geschieht auf transzendentale Weise, weil, wie Cacciari weiter schreibt, der Dialog zwischen den Individualitäten des Archipels stets im Dreieck mit einem überwesenhaften Ziel, das als das Sein des Archipels auszulegen ist, gegeben ist.33 Dieses Modell, das die Differenz des Einen von den Vielen vorsieht – es ist diese die Urdifferenz, die überhaupt Unterschiede und Relationen vernehmen lässt – dient dazu, die Vorstellung, dass eine partikuläre Insel die Rolle einer zentrierenden Achse innerhalb des Archipels einnehmen kann, von vornherein zu verunmöglichen. Nicht eine Insel lässt die anderen Inseln um sich als Archipel erscheinen. Eine Hierarchie, nach der eine bestimmte Insel auf exklusive Weise die Wahrheit des Archipels diktieren könnte, ist nach Cacciari Manifestation von hybris und Gewalt – Risiken, nach Cacciari, sowohl der Utopie als auch der Technik.34 Die Frage nach dem Horizont einer nicht gewaltsamen Ordnung, die tragische Frage nach einem freien Archipel freier Inseln, lautet also, wie zwischen perfekt getrennten, untrennbar-nie-vereinten, ein Hören-Gehorchen stattfinden kann.35 Aus dieser Perspektive ist folgende Bemerkung Cacciaris über Prometeo zu lesen: »Die Stimme Prometeos ist Stimmen. Jeder einzelne Klang, gerade in seiner Notwendigkeit, reflektiert-repräsentiert das Universum der Klänge, es verwandelt sich in sie. Die Klänge neigen dazu, sich als Inseln zu ordnen – Inseln, die nicht physisch konnotierbar sind, sondern Fläche, aus nichts anderem be-
32 Ebd., S. 19. 33 Vgl. ebd., S. 20. (in der deutschen Übersetzung von G. Memmert, S. 17: »Der Dialog zwischen den Individualitäten des Archipelagos spielt sich stets ab in einer ›Dreiecksbeziehung‹ mit dem über-wesenhaften Ziel, dem Ziel des agón éschatos, einem nur mit den Augen des Geistes zu erkennenden oder zu erahnenden Ithaka.«). 34 Ebd., S. 28f. 35 Ebd., S. 35:»[...] affinché si possa dar-luogo all’obbedienza-ascolto tra perfettamente distinti, inseparabili-mai-uniti«.
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Michele Del Prete stehend als einigen Augenblicken, Klangmomenten. Die Episode unseres drân sind diese Inseln; zusammen bilden sie einen Archipel.«36
Hier wird eine Verschiedenheit zwischen dem Philosophen Cacciari und dem Komponisten Nono transparent. Bei Cacciari wird der Archipel, trotz aller Vorsicht, die allzu starke und gefährliche Zentrierung der Achse zu vermeiden, als Ordnung ausgelegt. Bei Nono fehlt dagegen eine vergleichbare Begrifflichkeit – wie die Begrifflichkeit überhaupt, die den transzendentalen Figuren der Identität des Einzelenen als Getrennten (d. h. der Insel) und des Zusammensein der Vielen (d. h. der Inseln im Archipel) – wie diese Figuren bei Cacciari artikulierbar sind – eigen ist.37 Nonos Interpretationen des Prometeo38 fordern stets das Denken heraus, jedoch hat Nono nie versucht (und vermutlich ist die Herausforderung des Denkens genau hierin begründet), die physis des Raums mittels transzendentaler Identitäts- bzw. Relationsparadigmen zu illustrieren. Anders dagegen Cacciari, der ein überwesenhaftes Ziel als Grund der Relationen der Individualitäten, d. h. der Relationen der Inseln untereinander, denkt. Die Inseln des Prometeo werden bei Nono nicht mit dem Denken der Philosophie erklärt, d. h. in letzter Analyse durch die Philosophie begründet (im spezifischen Fall Cacciaris ist dieses Denken das einer Philosophie, die den Grund der Vermittlung zwischen Einzelnen letztendlich als transzendentes bonum versteht). So wird bei dem venezianischen Komponisten der Akzent mehr auf die Partikularität der Insel als auf die Konstruktion des Archipels gesetzt – und dazu noch: Die Partikularität einer bestimmten Insel ist nicht die Partikularität eines transzendental 36 M. Cacciari: Verso Prometeo, S. 21. Dieser Satz Cacciaris könnte bezüglich seiner Implikation einer Begründung des Raums in der Zeit eine eigene Untersuchung verdienen (die Inseln scheinen hier als Klang-Augenblicke und nicht als Klang-Räume zu existieren). Der italienische Originaltext lautet: »La voce di Prometeo sono voci. Ogni singolo suono, proprio nella sua necessità, riflette-rappresenta l’universo dei suoni, si trasforma in essi. Essi tendono ad ordinarsi per ›isole‹, neppure esse fisicamente connotabili, ma aeree, costituite da null’altro che da certi istanti, attimi sonori. Gli episodi del nostro drân sono queste isole; insieme formano un arcipelago.« 37 Über die Grenze des Begriffs im Hinblick auf die Darstellung der Wahrheit vgl. M. Cacciari: Per il ›Prometeo‹, S. 343: »Prometeo trasforma gli uomini da animali a animali dotati di logos. Ma logos non significa per il Prometeo di Nono, il discorso che elimina tutti i valori non concettuali di un enunciato. Logos è il gesto che sa raccogliere, la sapienza originaria del comporre, com-ponere. È un raccogliere i distinti, in quanto tali, e saperli riporre in un luogo comune, dove, mantenendo la propria distinzione, sappiano reciprocamente ascoltarsi-obbedirsi.« 38 Vgl. »Dopo Prometeo. Intervista di Alessandro Tamburini«, zuerst in: Strumenti musicali 60 (Dezember 1984), nun auch in SC II, S. 359-372.
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definierten Besonderen. Gerade um die Insel qua Substanz (was griechisch gleich Einheit und idealistisch gleich Identität bedeutet) dekonstruieren zu können, kann auf Nonos Bericht über die Erfahrung ›eines anderen Meeres‹ (›un mare diverso‹)39 zurückgegriffen werden, von der die Rede in einem Interview mit Enzo Restagno vom März 1987 ist. Um eine Frage nach der Relation zwischen Musiker und Meer ausgehend von La Mer von Debussy zu beantworten, erzählt Nono von einer Reise, die er im nördlichen Teil Grönlands im Sommer des vorangegangenen Jahres gemacht hatte: »Zehn Tage lang sind wir mit dem Schiff zwischen riesigen Eisbergen unterwegs gewesen, vor dem großen Gletscher, der sich bis zum Nordpol erstreckt, der die Mutter aller Eisberge ist. [...] Jenes so besondere Meer war weder frostig noch dunkel, sondern eine kontinuierliche Verwandlung zwischen durch Wolken und Eisbergen durchfiltrierten unbeschreibbaren Farben.«40
Solche ins Meer freigesetzten riesigen Eismassen manifestieren sich akustisch auf eine besondere Weise: »Noch etwas Unvergessliches: die Klänge, die urgewaltigen Explosionen, die zu hören waren, als die Eisberge von den Gletschern sich zerbrechend trennten.«41 Diese sich fortwährend neu definierenden Räume, die im Meer entstehen und vergehen (dieses Werden ist die physis der tönenden Eisberge), lassen die Inseln des Prometeo besser als jedes Schema von Einheit und von transzendentaler Identität verstehen – und noch räumlich lässt sich auch die Frage nach der Grenze der (Ein-)Ordnung der Inseln in einem Archipel formulieren, die noch ein Problem für die Philosophie bleibt: Den Grenzfall der Bildung bzw. der verfehlten Bildung eines Archipels aus mehreren Inseln zu untersuchen bedeutet, die Frage des Sporadischen am Archipelischen zu stellen.
39 Vgl. E. Restagno/L. Nono: Un’autobiografia, S. 521: »L’anno scorso in agosto, nel momento del più gran caldo, quando tutti fuggivano verso il mare, verso il sud, ho scelto un mare diverso. Sono andato verso la parte più a nord della Groenlandia, con una piccola nave che portava pochi e solitari passeggeri.« 40 Ebd.: »Per dieci giorni abbiamo navigato tra iceberg enormi, di fronte al grande ghiacciaio che si prolunga dal Polo Nord, che è la madre di tutti gli iceberg. […] Quel mare così particolare non era né gelido, né oscuro, ma una trasformazione continua tra colori indescrivibili filtrati tra le nubi, tra gli iceberg. Quello spettacolo non aveva nulla a che vedere con quello che si legge nei libri: fantasmi bianchi, scuri, grigi e blu scuro si muovevano, diventando lentamente luci di un verde smeraldo, di topazio mai viste.« 41 Ebd.: »Altro di indimenticabile: i suoni, le esplosioni violentissime che si udivano quando dai ghiacciai si staccavano, spezzandosi, gli iceberg«.
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AUTORINNEN UND AUTOREN
Ette, Ottmar, ist Professor für Romanische Literaturwissenschaft an der Universität Potsdam. Neben seinen Publikationen zu Roland Barthes, dem Werk von Alexander von Humboldt und aktuellen Problemen der Nationalphilologien, ist er verschiedentlich mit Studien über Inseln in Vorschein getreten. Graziadei, Daniel, lehrt Romanistik und Komparatistik an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er promoviert über Insulare Identitäten der Karibik aus dem Blickpunkt der Literatur. Grimm-Hamen, Sylvie, ist habil. Germanistikdozentin an der Universität Nancy 2, forscht und publiziert zu Genderfragen, zur deutschsprachigen Lyrik sowie zur Literatur des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart. Mitherausgeberin der Fachzeitschrift Le Texte et l’Idée. König, Torsten, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Romanistik der Technischen Universität Dresden. Forschungen zur Rolle der Literatur in der Wissensgeschichte sowie zum Verhältnis von Geopolitik und geographischem Imaginären in der französischen und italienischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Krasny, Elke, Kulturtheoretikerin, Stadtforscherin, Kuratorin und Autorin. Ihre Schwerpunkte sind Urbanismus, Kunst und öffentlicher Raum, Architektur, Museen und Ausstellungen und Geschlechterfragen. Außerdem ist sie Senior Lecturer an der Akademie der bildenden Künste Wien. Luckscheiter, Christian, Literatur- und Europawissenschaftler, wohnt in Berlin, hat seine Dissertation über »Ortsschriften Peter Handkes« geschrieben. Mohr, Jan, Studium der Neueren deutschen Literatur, Spanischen Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte an der Ludwig-Maxi-
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Inseln und Archipele milians-Universität München, hat über Kompositionen aus kleinen Textformen promoviert. Er ist Assistent für Sprache und Literatur des Mittelalters (LMU München). Seine Forschungsschwerpunkte sind historische Narratologie, höfische Epik, Fabeln der Reformationszeit und der europäische Schelmenroman. Peiter, Anne D., studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie in Münster, Rom, Paris und Berlin. Promotion an der Humboldt-Universität zum Thema »Komik und Gewalt. Zur literarischen Verarbeitung der beiden Weltkriege und der Shoah«. Sie ist Dozentin an der Université de la Réunion (Frankreich). Prete, Michele Del, hat an den Universitäten von Turin, Utrecht, Leiden und Berlin Philosophie studiert und hat mit einer Arbeit über Franz Rosenzweig promoviert, danach Komposition studiert in Venedig und Graz. Zurzeit ist er als Komponist und Musiker tätig und forscht am Konservatorium G. Cantelli von Novara (Italien) mit den Schwerpunkten Ästhetik der neueren bzw. der elektronischen Musik, Raumontologie, artistic research. Ramponi, Patrick, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Europäische Kulturgeschichte an der Universität Augsburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Literatur- und Kulturgeschichte des Meeres und der Seefahrt, Geopoetik sowie Theorien, Geschichte und Literatur der Globalisierung. Schneider, Katrin, hat über Elias Canetti promoviert und ist wissenschaftliche Angestellte an der Universität Mannheim, Seminar für deutsche Philologie. Ihre Forschungsschwerpunkte sind deutschsprachige Literatur seit 1880 sowie Interkulturalität/zeitgenössische Migrationsliteratur. Termeer, Marcus, hat Soziologie, Neuere Geschichte und Soziologie studiert und an der Universität Münster über Verkörperungen des Waldes promoviert. Er arbeitet als Freier Autor mit den Schwerpunkten Kultursoziologie, Stadt- und Raumsoziologie, gesellschaftliche Naturbeziehungen und Geschlechterforschung. Wagner, Silvan, hat über Gottesbilder in spätmittelalterlichen Mären promoviert und ist Lehrassistent am Lehrstuhl für Ältere Deutsche Philologie an der Universität Bayreuth. Seine Forschungsschwerpunkte sind Laientheologie, Märendichtung, Strukturen des Erzählens, Laienspiel, Zupfmusik.
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Autorinnen und Autoren Wendt, Helge, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Neuere Geschichte an der Universität Mannheim. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte des europäischen Kolonialismus, der Frühen Neuzeit Westeuropas und der Globalisierung. Wilkens, Anna E., hat ihre Doktorarbeit in Germanistik über Kunst, Literatur und Wirklichkeit in Brigitte Kronauers Roman Berittener Bogenschütze geschrieben. Sie lehrt Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Mannheim, ist als freiberufliche Texterin und Lektorin tätig und schreibt Texte für Künstlerinnen und Künstler. Zeller, Regine, hat Germanistik, Medien- und Kommunikationswissenschaft und Betriebswirtschaftslehre an den Universitäten Mannheim und Waterloo (Kanada) studiert. Sie hat ihre Dissertation zum Thema »Individuum und Masse im Zeitroman der Weimarer Republik« verfasst. Seit 2007 ist sie Sprecherin des Kreises der Jungen Thomas Mann-Forscher in der Deutschen Thomas MannGesellschaft Lübeck e. V.
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