August Graf von Platen im Horizont seiner Wirkungsgeschichte: Ein deutsch-italienisches Kolloquium 9783110263497, 9783110263480

The reception history of the controversial author, who was stigmatized due to his homosexuality, has been made the subje

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German Pages 197 [200] Year 2011

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Table of contents :
Vorwort
Abkürzungen
Platens italienische Idyllen
»und hätte der Liebe nicht ...« August von Platen und Goethe – Revision eines Vorurteils
Hoher Ton und »pessimistische« Gnome bei Leopardi und Platen
Giosuè Carducci übersetzt Platen
Platen und Sizilien
Dichten auf fremdem Terrain. Platens Venedig-Sonette und ihr Nachhall bei Rudolf Hagelstange und Robert Schindel
Liebesklage und Dingpoetik. Die Venedig-Sonette von Platen und Rilke zwischen Subjektausdruck und Entsubjektivierung
»Das Beste, was je über Platen gesagt worden ist.« Zur Platen-Rezeption bei Albert H. Rausch. Eine kritische Relektüre anhand unveröffentlichter Archivalien
›Platens Eros konnte sich niemals erfüllen‹. Reflexionen über Homosexualität und Literatur: Eugen Gottlob Winkler, Hans Mayer und Hubert Fichte
Spiegelbild und Empfindlichkeit. Zu einer polemischen Spitze in Hubert Fichtes Platen-Apologie
»Plateniana« – zur Geschichte des Platen-Nachlasses in der Bayerischen Staatsbibliothek
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August Graf von Platen im Horizont seiner Wirkungsgeschichte: Ein deutsch-italienisches Kolloquium
 9783110263497, 9783110263480

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REIHE DER VILLA VIGONI Deutsch-italienische Studien Herausgegeben vom Verein der Villa Vigoni e.V.

BAND 26

August Graf von Platen im Horizont seiner Wirkungsgeschichte Ein deutsch-italienisches Kolloquium

Herausgegeben von Gunnar Och und Klaus Kempf

De Gruyter

Gedruckt mit Unterstützung der Dr. Alfred Vinzl-Stiftung und der Bayerischen Staatsbibliothek

ISBN 978-3-11-026348-0 e-ISBN 978-3-11-026349-7 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI

Markus Winkler Platens italienische Idyllen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

Gunnar Och »und hätte der Liebe nicht …« August von Platen und Goethe – Revision eines Vorurteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

Jürgen Link und Ursula Link-Heer Hoher Ton und »pessimistische« Gnome bei Leopardi und Platen . . . . . . .

41

Andrea Landolfi Giosuè Carducci übersetzt Platen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61

Mario Rubino Platen und Sizilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71

Clemens Heydenreich Dichten auf fremdem Terrain. Platens Venedig-Sonette und ihr Nachhall bei Rudolf Hagelstange und Robert Schindel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

79

Thomas Borgstedt Liebesklage und Dingpoetik. Die Venedig-Sonette von Platen und Rilke zwischen Subjektausdruck und Entsubjektivierung . . . . . . . . . .

99

Frauke Bayer »Das Beste, was je über Platen gesagt worden ist.« Zur Platen-Rezeption bei Albert H. Rausch. Eine kritische Relektüre anhand unveröffentlichter Archivalien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121

VI

Inhaltsverzeichnis

Hansgeorg Schmidt-Bergmann ›Platens Eros konnte sich niemals erfüllen‹. Reflexionen über Homosexualität und Literatur: Eugen Gottlob Winkler, Hans Mayer und Hubert Fichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Jürgen Link Spiegelbild und Empfindlichkeit. Zu einer polemischen Spitze in Hubert Fichtes Platen-Apologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Klaus Kempf »Plateniana« – zur Geschichte des Platen-Nachlasses in der Bayerischen Staatsbibliothek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175

Vorwort

Als August von Platen im Jahr 1826 Deutschland den Rücken kehrte und ein Wanderleben in Italien begann, reflektierte er diesen Schritt in einem ebenso stolzen wie bitteren Sonett, das die in der Heimat erlittenen Kränkungen mit der Hoffnung auf postumen Dichterruhm zu kompensieren versuchte: „Mir, der ich bloß ein wandernder Rhapsode,/ Genügt ein Freund, ein Becher Wein im Schatten,/ Und ein berühmter Name nach dem Tode.“1 Nach Platens Ableben schien dieser Wunsch tatsächlich in Erfüllung zu gehen. Der Cotta-Verlag würdigte sein Werk in einer vielfach aufgelegten Gesamtausgabe, und nicht wenige seiner Gedichte wurden durch Anthologien und Vertonungen so populär, dass sie den Weg in die Schulbücher fanden. Autoren wie Georg Herwegh, Theodor Fontane oder Paul Heyse beriefen sich auf Platen, so unterschiedlich die Ziele sein mochten, die sie dabei verfolgten. Doch selbst in dieser frühen Phase der Rezeption war der Ansbacher Dichter nie unumstritten, und es gab schon damals Kritiker, die mit dem Vorwurf des Formalismus seinen Rang in Zweifel zu ziehen versuchten. Im ausgehenden 19. Jahrhundert erlebte Platen dann eine erstaunliche Renaissance, die vom Ästhetizismus des Fin de siècle stimuliert wurde und auch biographisch motiviert war, da die vollständige Edition der Tagebücher die bis dahin immer wieder bestrittene Homosexualität des Autors zweifelsfrei belegte. Platen wurde zu einer Identifikationsfigur im Kreis von Stefan George und bei Thomas Mann, den Nimbus nationaler Repräsentanz konnte er gleichwohl nicht mehr behaupten. Nach 1945 waren Nachrufe auf den Epigonen Platen zu lesen, die damit verbundene Erwartung, dass Werk und Person ihren Platz im kulturellen Gedächtnis endgültig verlieren würden, erfüllte sich allerdings nicht. Beide blieben präsent, und der bekennende Homosexuelle Hubert Fichte glaubte sogar, in Platen sein alter ego entdecken zu können. In der Forschung ist die hier nur angedeutete und mit Schlagworten charakterisierte Wirkungsgeschichte Platens schon mehrfach thematisiert worden,2 aber

1 2

SW Bd. 3, S. 206. Vgl. Häntzschel, Günter: August von Platen. In: Hermand, Jost u. Windfuhr, Manfred (Hg.): Zur Literatur der Restaurationsepoche 1815–1848. Forschungsreferate und Aufsätze. Stuttgart 1970, S. 108–150; Teuchert, Hans-Joachim: August Graf von Platen in Deutschland. Zur Rezeption eines umstrittenen Autors (Abhandlungen zur Kunst-, Musikund Literaturwissenschaft 284). Bonn 1980; sowie die einschlägigen Aufsätze in Bobzin, Hartmut u. Och, Gunnar (Hg.): August Graf von Platen. Leben, Werk, Wirkung. Paderborn, München, Wien, Zürich 1997.

VIII

Vorwort

längst sind nicht alle Kapitel aufgehellt, und selbst dort, wo das Terrain erschlossen erscheint, gilt es Vorurteile zu revidieren und noch manche Lücke zu füllen. Auf diese Situation antworten die Beiträge des vorliegenden Bandes, der sein spezifisches Profil nicht zuletzt auch dadurch gewinnt, dass er die Verbindung Platens zu seiner Wahlheimat Italien hervorhebt und neben der deutschen die meist vergessene italienische Platen-Rezeption3 reflektiert. Die methodische Ausrichtung entspricht der komparatistischen Perspektive, und selbst wenn das nicht immer explizit wird, spielen neben dem im engeren Sinne philologischen und hermeneutischen Ansätzen Fragen des Kulturtransfers und -vergleichs, der Intertextualität und Imagologie eine zentrale Rolle. Der Band eröffnet mit einer Studie des Genfer Literaturwissenschaftlers Markus Winkler, der die notorische Geringschätzung der italienischen Idyllen Platens als Ergebnis eines rezeptionsgeschichtlichen Missverständnisses zu deuten versucht. Man darf diese Texte nicht, wie das immer wieder geschehen ist, an den von Voß, Goethe oder Mörike etablierten Gattungskonventionen messen, da Platen sich ihnen nicht verpflichtet fühlt und durch Rückgriff auf bislang ausgegrenzte Traditionsbestände eine Erneuerung der Idylle aus dem Geist der Antike anstrebt. Ein anderes Vorurteil der Literaturgeschichte betont den Gegensatz zwischen Goethe und Platen, wobei man sich gerne auf ein durch Eckermann überliefertes Diktum Goethes beruft. Gunnar Och (Erlangen) vertritt nun aus kontextuellen Erwägungen die Ansicht, dass dieses Diktum relativiert werden muss. Außerdem ist das Verbindende zwischen den Dichtern viel stärker zu betonen. Goethe hat Platens Produktion neugierig verfolgt, während dieser wiederum bemüht gewesen ist, dem großen Weimaraner Vorbild mit komplexen Anspielungen intertextueller Faktur seine Referenz zu erweisen. Nicht unter der Prämisse eines wechselseitigen Einflusses, aber doch unter der einer zeitbedingten Verwandtschaft philosophischer wie poetologischer Standorte wird von Jürgen Link (Dortmund) und Ursula Link-Heer (Wuppertal) das Œeuvre Leopardis mit dem Platens verglichen. Geradezu verblüffend sind die Übereinstimmungen im diaristischen Schreiben; im gemeinsamen Bemühen beider Autoren um die Wiederbelebung des hohen Tons bestehen allerdings auch qualitative Unterschiede, die, das lässt sich nicht leugnen, zum Nachteil Platens ausschlagen. Dass Platen im 19. Jahrhundert in seiner Wahlheimat Italien breit rezipiert und sogar von Schülern gelesen und memoriert wurde, ist das Verdienst Giosuè Carduccis, der eine Reihe seiner Gedichte übersetzte. Andrea Landolfi (Siena) würdigt aus rezeptionsgeschichtlicher Perspektive die Bedeutung dieser Übertragungen, um dann anhand zweier Beispiele (Der Pilgrim vor St. Just / Il pellegrino davanti a Sant Just und Das Grab im Busento / La tomba nel Busento) Verfahrensweise

3

Mit einer Ausnahme: Heymann, Jochen: Tristans Irrungen im Land seiner Träume: August von Platen und Italien. In: Ebd., S. 123–148.

Vorwort

IX

und Stilwillen des Übersetzers detailliert zu erläutern. Das Nachleben Platens in Italien bezeugen auch zwei pompöse Gedenkfeiern, die 1869 und 1935 in Palermo stattfanden. Mario Rubino (Palermo) rekonstruiert den Ablauf dieser Feiern, und konfrontiert deren stark ideologische Tendenz mit den Sizilien-Bildern, die Platen selbst in Vers und Prosa entworfen hat. Mit der Wirkungsgeschichte der Venezianischen Sonette, die zu den bekanntesten Gedichten Platens gehören, sind zwei Vorträge befasst. Clemens Heydenreich (Erlangen), der von der These ausgeht, dass Platens Zyklus als Ganzes der Matrix der Sonettform entspricht, verfolgt die Einflusslinien im europäischen Kontext und bis hinein in die rumänische Literatur. Für die Präsenz der Gegenwartsliteratur sorgt Robert Schindels Venedig-Sonett, das als Platen-Kontrafaktur entschlüsselt wird. Die wiederholt geäußerte Ansicht, dass auch Rilkes Venedig-Sonette von Platen maßgeblich beeinflusst seien, wird von Thomas Borgstedt (München) kritisch hinterfragt und schließlich mit plausiblen Argumenten zurückgewiesen. Es bleibt aber nicht bei diesem rein negativen Befund, da durch den Vergleich der VenedigBilder auch die Unterschiede in den poetischen Verfahrensweisen beider Dichter prägnant veranschaulicht werden können. Platens Homosexualität und die aus ihre resultierende Poetik des ‚bekennenden Verschweigens’ waren von Anfang an stimulierende Faktoren der Rezeptionsgeschichte, was allerdings, sieht man einmal von Heinrich Heine ab, kaum je zum Thema öffentlicher Rede wurde. Das änderte sich erst im 20. Jahrhundert, im Umfeld von Thomas Mann und Stefan George. Frauke Bayer (Erlangen) wendet sich diesem Spektrum zu, indem sie Albert H. Rausch porträtiert, einen als Dandy sich gerierenden Autor, dessen offenes Bekenntnis zu Platen sich immer auch mit dem Bekenntnis zur eigenen Homosexualität verknüpft. Ein ähnlich enthusiastischer Platen-Verehrer wie Rausch muss der etwas jüngere Dichter Eugen Gottlieb Winkler gewesen sein, von dem Hansgeorg Schmidt-Bergmanns (Karlsruhe) Überlegungen zum literarischen Homosexualitätsdiskurs ihren Ausgang nehmen. Der facettenreiche Vortrag greift weit aus und bezieht sich auch auf Hubert Fichtes Platen-Arbeiten, in denen der Ansbacher Dichter als Vorkämpfer einer von allen Zwängen befreiten Homosexualität fungiert. Jürgen Link kann diesen Ansatz in glücklicher Fügung weiter verfolgen, indem er das durchaus polemische, durch Briefe dokumentierte Gespräch schildert, das Hubert Fichte mit ihm über Platen führte. Der Beitrag versucht ex post beiden Seiten gerecht zu werden, aber auch Missverständnisse aufzuklären, die sich aus einer existentiell verengten PlatenLektüre ergeben. Die meisten Stücke des Platen-Nachlasse sind heute im Besitz der Bayerischen Staatsbibliothek. Klaus Kempf untersucht die Geschichte dieses Nachlasses und kann in einer materialreichen Dokumentation belegen, dass die nur in Ansätzen erforschten Bestände noch genügend Stoff für germanistische oder komparatistische Arbeiten bieten. Alle Studien dieses Bandes gehen auf Referate und Diskussionen einer Tagung zurück, die Herbst 2009 im deutsch-italienischen Zentrum der Villa Vigoni statt-

X

Vorwort

fand.4 Die Herausgeber danken der Deutschen Forschungsgemeinschaft und dem Goethe-Institut Rom für die Finanzierung der Tagung, der Bayerischen Staatsbibliothek und der Dr. Alfred Vinzl-Siftung der Universität Erlangen-Nürnberg für die Unterstützung der Drucklegung. Ein weiterer und ganz spezieller Dank gilt dem Generalsekretär der Villa Vigoni, Prof. Dr. Gregor Vogt-Spira, der sich spontan bereit erklärte, das Buch in die renommierte Schriftenreihe seines Hauses aufzunehmen. Klaus Kempf, Gunnar Och

4

Unter dem Titel: „Und ein berühmter Name nach dem Tode“? August Graf von Platen in den Gedächtniskulturen des deutschen und italienischen Sprachraums.

Abkürzungen

In den Anmerkungen zu allen Beiträgen werden die folgenden Siglen verwendet: TB

Die Tagebücher des Grafen August von Platen. Aus der Handschrift des Dichters. Hrsg. v. G[eorg] von Laubmann und L[udwig] von Scheffler. Stuttgart 1896 und 1900.

SW

August Graf von Platens sämtliche Werke in zwölf Bänden. Historisch-kritische Ausgabe mit Einschluß des handschriftlichen Nachlasses. Hrsg. von Max Koch und Erich Petzet. Leipzig [1910].

BW

Der Briefwechsel des Grafen August von Platen. Bd. 1 hg. von Ludwig von Scheffler und Paul Bornstein, Bd. 2–4 hg. von Paul Bornstein. München, Leipzig 1911–1935; Bd. 5 hrsg. von Peter Bumm. Paderborn u. a. 1995.

W

August von Platen: Werke. Bd. 1: Lyrik [= alles Erschienene]. Nach der Ausgabe letzter Hand und der historisch-kritischen Ausgabe mit Anmerkungen, Bibliographie und einem Nachwort. Hrsg. von Jürgen Link. München 1982.

Markus Winkler

Platens italienische Idyllen

I.

Einführende Überlegungen

Dass dem Lyriker Platen »ein berühmter Name nach dem Tode« zuteil wurde, verdankt sich bis heute gewiss nicht jener Abteilung seiner Gedichtsammlung, die den Titel Eklogen und Idyllen trägt. In der Idyllenforschung, in der Platenforschung und auch in der Literaturgeschichtsschreibung wird den acht in der Mehrzahl hexametrischen Gedichten, die diese Abteilung enthält,1 wenig oder gar keine Beachtung zuteil. Dazu zwei prominente Beispiele aus der Idyllenforschung: In Helmut Schneiders vorzüglicher Anthologie Idyllen der Deutschen (1978) kommen Platens Idyllen nicht vor, auch nicht in dem die Anthologie beschließenden umfangreichen und überaus erhellenden Essay.2 In Renate Böschensteins noch immer grundlegendem Idyllen-Band der Sammlung Metzler werden sie auf einer halben Seite als leblose klassizistische Artefakte gewertet;3 dementsprechend ist in Böschensteins zahlreichen späteren, sehr wichtigen Arbeiten zur Idylle und dem Idyllischen von Platen nicht mehr die Rede. Auch in der Platenforschung sind die Idyllen und Eklogen nicht eingehend analysiert worden.4 Was die Literaturgeschichtsschreibung angeht, so kommt Friedrich Sengle im dritten Band seiner umfangreichen Biedermeierzeit zwar recht wohlwollend auf die Idyllen und Eklogen zu sprechen, aber er sieht von ihren antiken und modernen Bezugstexten ab; im literarischen Feld der Epoche nehmen sie aus seiner Sicht daher nur die Position typisch biedermeierlicher Genrebilder und Reiseidyllen ein.5

1

2 3 4

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Acht sind es, wenn man das nachgelassene Gedicht Skylla und der Reisende hinzufügt, wie es die historisch-kritische Ausgabe und die neueste Leseausgabe tun; vgl. SW Bd. 4, S. 158f.; W S. 546. Zur Erklärung schrieb mir Schneider kürzlich, die Platenschen Idyllen seien ihm leider entgangen. Vgl. Böschenstein-Schäfer, Renate: Idylle. Stuttgart 21977 (11967), S. 123f. Eine Ausnahme bildet Adrian Hummels knapper Vergleich von Rückerts Landgedicht Beatus ille mit Platens Amalfi-Idylle Sie erschien in einem Sammelband nicht zu Platen, sondern zu Rückert: Vgl. Hummel, Adrian: Beatus ille ...? Literarische Bewältigungsversuche tiefgreifender Fremdheitserfahrungen. Exemplarisch dargestellt an zwei Idyllen Friedrich Rückerts (»Beatus ille«) und August Graf von Platens (»Amalfi«). In: Gestörte Idylle. Vergleichende Interpretationen zur Lyrik Friedrich Rückerts. Hg. v. Max-Rainer Uhrig. Würzburg 1995, S. 41–62. Vgl. Sengle, Friedrich: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815–1848. 3 Bde. Stuttgart 1971–1980. Bd. 3, S. 460ff.

2

Markus Winkler

Wie ist diese, wie ich meine, Verkennung der Idyllen und Eklogen und ihres historischen Stellenwerts zu verstehen? Zweifellos sind die einzelnen Stücke der Idyllenabteilung von ungleicher Qualität. Man mag die dialogische erotische Idylle Hirte und Winzerin als etwas farblose Imitation von Theokrits viel deftigerem 27. eidyllion abtun,6 die Einladung nach der Insel Palmaria als Gelegenheitsgedicht, Philemons Tod als gattungsfremde Anekdote und die Nachlass-Idylle Skylla und der Reisende als nicht minder gattungsfremdes, komisches mythologisches Epyllion (wobei anzumerken wäre, dass sich dafür im Korpus der Theokritischen eidyllia, d. h. ›Kleinformen‹, Vorbilder finden; darauf wird zurückzukommen sein). Die anderen vier Platenschen Idyllen und Eklogen jedoch – es sind Die Fischer auf Capri, Bilder Neapels, Amalfi und Das Fischermädchen in Burano – transformieren auf durchaus neuartige Weise die Gattung, indem sie idyllentopographische Ansichten der im Titel genannten Orte erstellen und diese dabei durch weit ausgreifende historische Reflexionen und Assoziationen gleichsam tiefensemantisch ausleuchten. Das möchte ich im Folgenden nachweisen; dabei muss ich mich auf die drei ersten der genannten vier Idyllen beschränken (es sind die drei ersten der Abteilung). Zuvor aber möchte ich meine eingangs gestellte Frage wieder aufgreifen: Warum wurde auch diesen durchaus innovativen Gedichten bislang so wenig Aufmerksamkeit zuteil? Ein Grund dafür mag in dem zweifelhaften Ruf liegen, den Platens späte Gedichte in antiken Metren haben. Der Vorwurf des epigonal-antiquierten, akademischen Klassizismus, der diese Gedichte im allgemeinen, in erster Linie die Oden und Hymnen, traf, entzündete sich bekanntlich besonders an dem Spondeenreichtum der Verse, den Andreas Heusler als undeutsch und ausländisch abqualifizierte.7 Die angemessene literaturwissenschaftliche Würdigung aller acht Idyllen und Eklogen wurde überdies, wie zu vermuten ist, von der Abwertung, ja Verachtung behindert, unter der die Gattung Idylle in der Ästhetik, Poetik und Literaturtheorie seit Hegel zu leiden hatte.8 Und als die Gattung Idylle im engeren Sinne wie auch und vor allem das Idyllische als Enklave größerer Werke ab den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts in der Literaturwissenschaft wieder zu Ansehen gelangten, kam das Platens Idyllen nicht zugute. Denn das Motiv für das erneuerte Ansehen war der vermeintliche Zusammenhang zwischen Idylle und Utopie – ein Idyllen-

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8

Vgl. Jobs, Hanns: Über den Einfluß der Antike auf die Dichtung August von Platens. Diss. München 1928, S. 24f. Vgl. dazu Link, Jürgen: Artistische Form und ästhetischer Sinn in Platens Lyrik. München 1971, S. 206ff. Ähnlich wie Heusler auch Wolfgang Kayser: Geschichte des deutschen Verses. München 21971 (11960), S. 50, 60. Anzumerken ist jedoch, dass gerade die antikisierenden Metren ein für die deutsche Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts charakteristisches Phänomen sind. Vgl. Sengle: Biedermeierzeit (wie Anm. 5), Bd. 2, S. 744ff.; Böschenstein, Renate: Idyllisch / Idylle. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Hg. v. Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhart Steinwachs u. Friedrich Wolfzettel. Stuttgart / Weimar 2000–2005. Bd. 2, S. 119–138, hier S. 131.

Platens italienische Idyllen

3

konzept, dessen »Schutzgeist« damals Ernst Bloch war 9 und das bekanntlich auf Schillers Postulat einer modernen Idylle zurückgeht, die, wie es in Über naive und sentimentalische Dichtung heißt, »den Menschen, der nun einmal nicht mehr nach Arkadien zurückkann, bis nach Elisium führt.«10 Dieses utopische Moment und den davon ausgehenden sozialreformerischen Impuls mag man bei Vergil und in der deutschen Idyllendichtung bei Gessner, Voss, Goethe und auch Hölderlin finden, aber nicht oder nur gebrochen bei Platen. Denn das utopische Moment kann sich nur in Idyllendichtungen konkretisieren, in denen das wichtigste Strukturmerkmal des Idyllischen, seine anthropologische Konstante, topographisch relativ unbestimmt ist. Diese Konstante ist das Wunschbild eines, wie Renate Böschenstein hervorhebt, »eingegrenzten Raums, der vor Aggression von außen weitgehend geschützt ist«, so dass sich einfache menschliche Lebensformen dort erhalten und »Kunstübung, insbesondere Gesang, und erotische Leidenschaft« im Zentrum stehen können.11 Platens italienische Idyllen sind Idyllen in diesem Sinne, insofern sie das konstitutive Strukturmerkmal des eingegrenzten Raums aufweisen, aber der jeweilige Raum wird in ihnen, wie gesagt, schon im Titel mit einem Ort, der in der außertextlichen, empirischen Wirklichkeit vorhanden und überdies bekannt ist, identifiziert und dann topographisch genau bestimmt; er kann also nicht zur Ideallandschaft geraten. Deshalb wird in Platens Idyllen nicht das utopische, wohl aber das evasive Moment der Gattung wirksam: Sieht man von dem Rollengedicht Das Fischermädchen von Burano ab, dann spricht in den topographischen Idyllen ein gebildetes Subjekt, das sich als Angehöriger des Restaurationszeitalters zu erkennen gibt und von außen auf den jeweiligen idyllischen Raum blickt; dabei vermittelt die Außenperspektive das Bedürfnis, dort Zuflucht zu finden. Da der idyllische Raum mit einem empirischen Ort identifiziert wird, ermöglicht die Außenperspektive es aber auch, unter der mehr oder weniger amönen Oberflächenschicht des Orts historische oder mythologische Tiefenschichten freizulegen. Auf diese Weise wird die idyllenkonforme Eingrenzung des Raums zum Problem: Sie erweist sich als Medium einer tendenziell entgrenzenden Betrachtung, die nicht utopisch, sondern kulturpessimistisch ist. Platens Idyllen unterbieten also gleichsam die Ambiguität der zwischen ›arkadischer‹ Evasion und ›elysischer‹ Utopie oszillierenden Gattungssemantik12 dadurch, dass sie das evasive Moment akzentuieren und das utopische ignorieren oder desavouieren. Damit stellen sie sich gegen Tendenzen der Gattungserneuerung 9

10

11 12

Vgl. Böschenstein: Idyllisch / Idylle (wie Anm. 8), S. 119. Blochs einschlägiger Artikel Arkadien und Utopien aus dem Jahre 1968 ist wiederabgedruckt in dem Band Europäische Bukolik und Georgik. Hg. v. Klaus Garber. Darmstadt 1976 (Wege der Forschung 355), S. 1–7. Vgl. den Abdruck des Idylle überschriebenen Abschnitts von Schillers Schrift in: Deutsche Idyllentheorien im 18. Jahrhundert. Mit einer Einführung und Erläuterungen hg. v. Helmut J. Schneider. Tübingen 1988 (Deutsche Text-Bibliothek 1), S. 185–192, hier S. 191 (Hervorh. im Text). Böschenstein: Idyllisch / Idylle (wie Anm. 8), S. 121. Vgl. ebd., S. 119.

Markus Winkler

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seit Gessner, und sie rücken bestimmte, von Platens Vorgängern vernachlässigte Aspekte der antiken Idyllenmodelle, insbesondere Theokrits, in den Vordergrund. Das möchte ich nun zu zeigen versuchen. Zu diesem Zweck werde ich im folgenden zweiten Teil meiner Ausführungen Die Fischer von Capri, die erste der Platenschen Idyllen und Eklogen, eingehend analysieren und dann im dritten Teil einen Blick auf die beiden an sie anschließenden topographischen Idyllen werfen. Im vierten und letzten Teil werde ich dann den historischen Ort und die Semantik von Platens Transformation der Gattung zusammenfassend zu bestimmen suchen.

II. Die Fischer von Capri: Zur Struktur von Platens klassizistischer topographischer Idylle Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen sei die Frage, wie sich in der Idylle Die Fischer von Capri das wichtigste Strukturmerkmal des Idyllischen, der eingegrenzte, vor Aggression von außen geschützte Raum, ausprägt. Schon die erste Hälfte des Gedichts führt vor Augen, dass der eingegrenzte Raum hier kein gegebener, sondern ein erst zu findender, ja zu konstruierender ist: Hast du Capri gesehn und des felsenumgürteten Eilands Schroffes Gestad als Pilger besucht, dann weißt du, wie selten Dorten ein Landungsplatz für nahende Schiffe zu spähn ist: Nur zwei Stellen erscheinen bequem. Manch mächtiges Fahrzeug Mag der geräumige Hafen empfahn, der gegen Neapels Lieblichen Golf hindeutet und gegen Salerns Meerbusen. Aber die andere Stelle (sie nennen den kleineren Strand sie) Kehrt sich gegen das ödere Meer, in die wogende Wildnis, Wo kein Ufer du siehst, als das, auf welchem du selbst stehst. Nur ein geringeres Boot mag hier anlanden, es liegen Felsige Trümmer umher, und es braust die beständige Brandung. Auf dem erhöhteren Felsen erscheint ein zerfallenes Vorwerk, Mit Schießscharten versehn; sei’s, daß hier immer ein Wachtturm Ragte, den offenen Strand vor Algiers Flagge zu hüten, Die von dem Eiland oft Jungfrauen und Jünglinge wegstahl; Sei’s, daß gegen den Stolz Englands und erfahrene Seekunst Erst in der jüngeren Zeit es erbaut der Napoleonide, Dem Parthenope sonst ausspannte die Pferde des Wagens, Ihn dann aber verjagte, verriet, ja tötete, seit er Ans treulose Gestad durch schmeichelnde Briefe gelockt ward. Steigst du herab in den sandigen Kies, so gewahrst du ein Felsstück Niedrig und platt in die Wogen hinaus Trotz bieten der Brandung; Dort anlehnt sich mit rundlichem Dach die bescheidene Wohnung Dürftiger Fischer, es ist die entlegenste Hütte der Insel, Bloß durch riesige Steine geschützt vor stürmischem Andrang, Der oft über den Sand wegspült und die Schwelle benetzt ihr.13

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W S. 533.

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Platens italienische Idyllen

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Die einleitende Anrede des »Du« beinhaltet die Aufforderung, sich mit dem Textsubjekt des Gedichts, seiner strukturierenden Instanz,14 zu identifizieren; zugleich ist sie eine Selbstanrede dieses Subjekts, das als imaginärer »Pilger«, d. h. hier als Wallfahrer an einen Rückzugsort, den es auf der Insel sucht, die Mühe erfahren und vermitteln will, die es kostet, diesen Raum dort auch zu finden. Denn die Erwartung, Capri sei ein solcher Raum, vielleicht sogar eine Insel der Seligen, wie es z. B. die Insel in Lord Byrons Südsee-Verserzählung The Island (1823) ist,15 wird schon zu Beginn enttäuscht: Die Neapel zugewandte Seite von Capri hat einen geräumigen Hafen, der dem Handel mit dieser Stadt dient, einem Ort des Verrats und der Ausbeutung, wie gleich darauf zu lesen ist. Die andere, dem offenen Meer zugewandte Seite hingegen scheint sich dem Schema des eingegrenzten Raums zu fügen, doch die Eingrenzung ist prekär: Der Anblick des bedrohlichen Meers, einer heroischen Landschaft, und des zerfallenen Vorwerks, das offenbar zum Schutz vor Sklavenhandel treibenden algerischen Piraten oder in napoleonischer Zeit zur Abwehr militärischer Angriffe durch die englische Marine gebaut worden ist, lässt idyllenspezifische Ruhe nicht aufkommen; die Tiefensemantik des Orts, die durch Erinnerung aufgerufen wird, widerstrebt dem Versuch, ihn als idyllischen Raum zu imaginieren. Und der ehemalige Beschützer des Orts, der Napoleonide Joachim Murat, König von Neapel, kann ihn nicht mehr beschützen, da ihn die verräterische Sirenen-Stadt, deren König er war, in eine tödliche Falle gelockt hat. Als poetischer Name für Neapel bezeichnet »Parthenope« hier nämlich zugleich die den Namen gebende Sirene, deren Leichnam, wie antike Quellen behaupten, bei Neapel angespült wurde, wo sie dann eine Kultstätte bekam.16 Die idyllentopographische Tiefensemantik führt also von den Kontingenzen der Zeitgeschichte in die heroische Vorzeit des Mythos zurück. Das ist hier auch ein Effekt des daktylischen Hexameters, der ja seit Homer der Vers des heroischen Epos war. Bei Theokrit, der ihn als erster verfremdend zur Darstellung von Alltagswirklichkeit verwendet, ist er eine Konstituente der neuen hybriden episch-dramatischen Kleinform des eidyllion, die nur partiell den späteren Begriffen der Idylle und

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16

Vgl. Burdorf, Dieter: Einführung in die Gedichtanalyse. Stuttgart 21997 (11995; Sammlung Metzler 284), S. 195. Vgl. Lord Byron: The Island, or Christian and His Comrades. London 1823. Kritische Edition in: Byron: The Complete Poetical Works. Hg. v. Jerome J. McGann. Bd. VII, Oxford 1993. Vgl. Addison, Catherine: »Elysian and Effeminate«: Byron’s The Island as a revisionary text. In: Studies in English Literature, 1500–1900, Autumn 1995 (http:// findarticles.com/p/articles/mi_hb3437/is_4_35/ai_n28680462/). Zum Motiv der ›amönen‹ Insel in der Weltliteratur s. auch den Artikel Inseldasein in: Frenzel, Elisabeth: Motive der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. Stuttgart 1976, S. 383–401. Vgl. Hederich, Benjamin: Gründliches mythologisches Lexikon. Darmstadt 1986 (Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1770), Sp. 1897; Johannsen, Nina: Parthenope. In: Der Neue Pauly. Hg. v. Hubert Cancik und Helmuth Schneider. Brill Online. http://www.brillonline. nl/subscriber/entry?entry=dnp_e908960.

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Markus Winkler

des Idyllischen entspricht (ich komme darauf noch zurück); zum »hohen Irritationspotential« dieser Form trug also bei, dass sie hexametrisch und zugleich »fern vom Pathos des Heroischen« war, wie Bernd Effe betont.17 In der klassizistischen deutschen Idylle seit Voss aber, vor allem in der Subgattung des bürgerlichen idyllischen Epos, für die Voss’ Luise und Goethes Hermann und Dorothea grundlegend waren, tendiert der Hexameter zur Heroisierung zeitgenössischer ländlicher und vor allem bürgerlicher Alltagswirklichkeit.18 Das damit verbundene utopische, aber auch affirmative Moment wird man in Platens Idylle nicht oder nur gebrochen wiederfinden. Etwas Heroisches hat hier vielmehr die Konstruktion des eingegrenzten idyllischen Raumes, der Insel auf der Insel, denn sie erfolgt gegen äußere und innere Widerstände. Auf der Ebene des Bildes vom Ort, das der Text vermittelt, hat sie es, insofern die Fischerwohnung der Brandung ›abgetrotzt‹ ist (V. 22), und auf der Ebene der Vermittlung hat sie es, insofern der »Pilger« als Textsubjekt diesen Raum gegen die erinnerte historisch-mythologische Tiefensemantik des Orts verteidigt. So gerät die »entlegenste Hütte der Insel« (V. 24) zum idyllischen Zufluchtsort und zum Zufluchtsort der Idylle als poetischer Form. Seiner unwirtlichen Randlage entsprechend ist dieser Ort jedoch kein Locus amoenus, wie im Folgenden deutlich wird: Kaum hegt, irgend umher, einfachere Menschen die Erde; Ja kaum hegt sie sie noch, es ernährt sie die schäumende Woge. Nicht die Gefilde der Insel bewohnt dies arme Geschlecht, nie Pflückt es des Ölbaums Frucht, nie schlummert es unter dem Palmbaum: Nur die verwilderte Myrte noch blüht und der wuchernde Kaktus Aus unwirtlichem Stein, nur wenige Blumen und Meergras; Eher verwandt ist hier dem gewaltigen Schaumelemente Als der beackerten Scholle der Mensch und dem üppigen Saatfeld. Gleiches Geschäft erbt stets von dem heutigen Tage der nächste: Immer das Netz auswerfen, es einziehn; wieder es trocknen Über dem sonnigen Kies, dann wieder es werfen und einziehn. Hier hat frühe der Knabe versucht in der Welle zu plätschern, Frühe das Steuer zu drehen gelernt und die Ruder zu schlagen, Hat als Kind mutwillig gestreichelt den rollenden Delphin, Der, durch Töne gelockt, an die Barke heran sich wälzte. Mög euch Segen verleihen ein Gott, samt jeglichem Tagwerk, Friedliche Menschen, so nah der Natur und dem Spiegel des Weltalls! Möge, da größeren Wunsch euch nie die Begierde gelispelt, Möge der Thunfisch oft, euch Beute zu sein, und der Schwertfisch Hier anschwimmen! Es liebt sie der Esser im reichen Neapel.19

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Effe, Bernd: Zur Einführung. In: Theokrit: Gedichte. Griechisch – deutsch. Hg. u. übers. v. Bernd Effe. Düsseldorf / Zürich 1999, S. 245–254, hier S. 251. Vgl. Effe, Bernd und Binder, Gerhard: Antike Hirtendichtung. Eine Einführung. Düsseldorf / Zürich 22001 (11989), S. 16f. Vgl. Schneider, Helmut J.: Die sanfte Utopie. Zu einer bürgerlichen Tradition literarischer Glücksbilder. In: Idyllen der Deutschen. Hg. v. Helmut J. Schneider. Frankfurt /M. 1978, S. 353–423, hier S. 396, 399. W S. 533f.

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Wenn das Textsubjekt hier, nach der prekären Eingrenzung des Raums, den Blick auf seine Bewohner, die Fischer, richten kann, so zeigt sich zwar, dass deren Lebensumstände dem idyllenspezifischen Kriterium der Einfachheit genügen, insofern sie durch Naturnähe und Wiederkehr des Gleichen gekennzeichnet sind. Der Pilger deutet die gleichförmige, harte Arbeit der Fischer nämlich im Sinne der für die Gattung bedeutsamen zyklischen Zeitvorstellung,20 die schon zuvor von der mythisierenden Tendenz der tiefensemantischen Ausleuchtung des Orts aufgerufen worden ist. In beiden Fällen gehorcht diese Zeitvorstellung dem Bedürfnis nach Rückzug ins Beständige, da der lineare Fluss der Zeit offenbar keinen erkennbaren Sinn hat. Die Einfachheit und Gleichförmigkeit des Lebens der Fischer heben sich indes scharf von der Muße ab, die das Leben im traditionellen bukolischen Locus amoenus kennzeichnet: Die Erwartung dieses Raums wird (in den Versen 29 bis 34) so konsequent negiert, dass der eingegrenzte Raum in dem ihn begrenzenden, unendlichen Locus terribilis, dem »gewaltige[n] Schaumelemente« (V. 33), aufzugehen droht; diesem, heißt es, seien die Fischer verwandter als dem Acker. Ihr Los ist, so gesehen, noch härter als das der Nachkommen des Ackerbauers Kain, die in Gessners Prosaepos Der Tod Abels den empfindsamen Nachkommen Abels, von denen sie ausgebeutet werden, die idyllische Muße verschaffen.21 Jedenfalls ist von der Muße, die es in der abendländischen Bukolik den Hirten erlaubt, sich der Kunst und der Musik, dem Eros und tugendhaften Empfindungen hinzugeben, in Platens Idylle ebenso wenig die Rede wie in Theokrits Fischer-Idylle (Nr. 21). Doch anders als in dieser krud-realistischen Idylle aus dem Theokritischen Korpus (sie gilt heute als unecht) sind in Platens Idylle zumindest Spuren des Locus amoenus zu finden: Die Erwähnung des Fischerknaben und seiner Kindheit (Kindheit ist ein seit Gessner und Rousseau beliebtes Idyllenmotiv) führt auf die Vorstellung des Musizierens und des Spiels mit den Tieren (die erwachsenen Fischer hingegen müssen die Tiere fangen, töten und verkaufen). Die nun folgende gänzlich unchristliche Segensformel (V. 42) zielt auf die Fixierung und Vergrößerung dieses amönen Zugs. Die Fischer werden (in V. 43) ganz romantisierend als »Friedliche Menschen, so nah der Natur und dem Spiegel des Weltalls« (d. i. dem Meer) apostrophiert. Sie scheinen also im zuvor beschworenen Bild der kindlichen Welt Platz zu finden. Hier zeichnet sich die spätere Sentimentalisierung, ja Verkitschung des Motivs der Capri-Fischer ab; sie reicht von Wilhelm Waiblingers Liedern aus Capri über kolorierte Ansichtskarten vom falschen CapriFischer Francesco Spadare bis hin zu Gerhard Winklers Schlager Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt.22 Bei Platen fällt aber auf das an der genannten Stelle sentimentale Bild der Fischer ein ironisches Licht: Denn die anschließende

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Vgl. Böschenstein-Schäfer: Idylle (wie Anm. 3), S. 12. So in Kains den Brudermord motivierenden Traum; vgl. Geßner, Salomon: Der Tod Abels. In fünf Gesängen. Zürich 1759, S. 125–129. Vgl. www.goethezeitportal.de/index.php?id=capri_3#Fischer.

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Bitte, dass ihnen göttliche Gunst reichhaltigen Fischfang zuteil werden lassen möge, führt die ökonomische Abhängigkeit der Fischer vom städtischen Konsumenten der Fische vor Augen, vom »Esser im reichen Neapel« (V. 46). Die idyllentopische Stadt-Land-Opposition wird hier aufgerufen, doch die Grenze zwischen Stadt und Land erweist sich als durchlässig. Der Hinweis auf den »Esser im reichen Neapel« hat also einen bitter-ironischen Effekt. Er lässt sogar vermuten, dass die armen Fischer von den reichen Städtern ausgebeutet werden. Die enthusiastische Schlussapostrophe sagt daher mehr über die imaginäre Suche des Pilgers nach dem autarken idyllischen Rückzugsort und nach der Idylle als poetischer Form aus als über die Fischer auf Capri selbst: Glückliche Fischer! wie auch Kriegsstürme verwandelt den Erdkreis, Freie zu Sklaven gestempelt und Reiche zu Dürftigen, ihr nur Saht hier Spanier, saht hier Briten und Gallier herrschen, Ruhig und fern dem Getöse der Welt, an den Grenzen der Menschheit, Zwischen dem schroffen Geklüft und des Meers anschwellender Salzflut. Lebet! Es lebten wie ihr des Geschlechts urälteste Väter, Seit dies Eiland einst vom Sitz der Sirene sich losriß, Oder die Tochter Augusts hier süße Verbrechen beweinte.23

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Dieses Wunschbild der Fischer als Repräsentanten einer asketischen archaischen Humanität, die dank ihrer Situation »an den Grenzen der Menschheit« (V. 50) fernab von den sinnlosen Wechselfällen der Geschichte sich selbst gleich bleiben kann, ist dem winzigen Ort, auf den es projiziert wird, zweifellos nicht angemessen. Denn dieser Ort, eine imaginäre Insel auf der Insel, ist keine utopische Insel Felsenburg im Sinne von Johann Gottfried Schnabels aufklärerischem Roman; die jeweiligen Herrscher über die Insel Capri haben das »Getöse der Welt« durchaus mitgebracht. Auch der zweite antike idyllische Praetext, den Platens Idylle hier aufruft, indem sie die kriegerische Verkehrung von Freiheit in Sklaverei und von Reichtum in Armut evoziert, nämlich Vergils erste Ekloge, desavouiert das Wunschbild der Fischer: Denn der Dialog zwischen Meliboeus, dem ehemals Freien, nun von seinen Gütern Vertriebenen, und Tityrus, dem ehemaligen Sklaven, der sich freikaufen konnte und auf seinen Gütern bleiben darf, führt ja vor Augen, dass die bukolische Welt »in den Sog von Geschichte und Politik« geraten ist.24 So wird auch am Ende von Platens Idylle der mythisierend-nostalgische Hinweis darauf, dass Capri »einst vom Sitz der Sirene [also von der neapolitanischen Küste] sich losriß«, als verdanke die Insel ihre Abtrennung vom gefährlich verlockenden Festland einem heroischen Entschluss, mit der Erinnerung an die sittenpolitisch motivierte Verbannung von Kaiser Augustus’ Tochter Iulia auf die Insel wiederum desavouiert.25 Die Insel

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W S. 534. Effe / Binder: Antike Hirtendichtung (wie Anm. 17), S. 56. Sie wurde in Wahrheit im Jahre 2 v. Chr. nicht auf Capri, sondern auf die Insel Pandateria – heute Ventotene – verbannt.

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Capri ist nirgendwo ein aus Politik und Geschichte ausgesparter Raum, aber sie lädt zu dem Versuch ein, ihn dort zu imaginieren, d. h. eine idyllentopographische Ansicht von ihr zu vermitteln. Das Scheitern dieses Versuchs ist, wie deutlich werden sollte, das Resultat der tiefensemantischen Ausleuchtung des mit Mühe eingegrenzten idyllischen Zufluchtsraums. Die Eingrenzung ist aber, wie sich rückblickend zeigt, auch das Medium der tiefensemantischen Ausleuchtung, d. h. der historisch-mythologischen Erinnerung, die sich an den Ort heftet. Das Bedürfnis, das sich in der Eingrenzung des idyllischen Raums manifestiert, ist folglich komplex: Die Eingrenzung entspricht dem evasiven Impuls der Gattung, doch zugleich erweist sie sich als Voraussetzung für weitausgreifende, entgrenzende Betrachtungen, die hier zur nostalgischen Mythisierung, nicht aber zur Utopie tendieren. Der Mythisierung kommt dabei die mit der Eingrenzung einhergehende Tendenz zur Ausschließung des linearen Flusses der Zeit entgegen: Der Pilger, der nach dem Untergang des napoleonischen Empire den Glauben an die Perfektibilität des Menschengeschlechts verloren hat, sucht Halt in der zyklischen Zeitvorstellung, die Idylle und Mythos gemeinsam ist. Er findet diesen Halt letztlich nicht in dem zugleich idyllischen und heroischen Landschaftsbild, das er malen will und doch mit unidyllischen und unheroischen Zügen versieht. Den Halt kann letztlich nur die schöne Form des Textes geben, der seine antiken und modernen Bezugstexte transformiert, indem er sich der raumzeitlichen Situation des Textsubjekts anpasst. So wird das Fortleben der Gattung Idylle möglich. Die Fischer-Figuren freilich und ihr Lebensraum taugen nur bedingt zum Bild einer Kontinuität, die letztlich allein in der Idylle als Gattung zu finden ist.26

III. Variationen der idyllentopographischen Struktur: Bilder Neapels, Amalfi Zur Sprache kommen sollen nun die beiden Idyllen, die der Fischer-Idylle folgen. Dabei ist zu fragen, wie in ihnen die Struktur der topographischen Idylle variiert wird, insbesondere die Verbindung von gattungspezifischer Eingrenzung und tiefensemantischer Entgrenzung. In den Bildern Neapels wird die Form des daktylischen Hexameters modifiziert (Platen stellt deshalb dem Gedicht ein metrisches Schema voran), und an den wiederum einleitend apostrophierten »Fremdling« (V. 1) ergeht nun die Aufforderung, in der Stadtlandschaft Neapel, also an dem Ort, der in dem vorangehenden Gedicht

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Platens gesamtes lyrisches Spätwerk, bemerkt Jürgen Link, sei eine »Friedhofs- und Denkmallandschaft, in der der Poesie ihre eigene Leistung der ›Verewigung‹ objektivanschaulich wird« (Link, Jürgen: Nachwort. In: W S. 965–982, hier S. 980). Zu Platens alteuropäisch-platonisierendem Gattungsverständnis vgl. Wölfel, Kurt: August von Platen. In: Deutsche Dichter. Leben und Werk deutschsprachiger Autoren. Hg. v. Gunter E. Grimm u. Frank Rainer Max. Bd. 5: Romantik, Biedermeier und Vormärz. Stuttgart 1989, S. 365–377, hier S. 370f.

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den idyllischen Rückzugsraum bedroht, diesen Rückzugsraum zu entdecken.27 Tatsächlich erlaubt es die so programmierte Sehweise, in der Stadt, die ja üblicherweise den topischen Gegensatz des bukolischen Locus amoenus bildet, Varianten einiger Elemente dieses Locus wiederzufinden: den »Halbzirkel« (V. 6) der im Golf liegenden Schiffe und dessen »laulichen Wogenschwall« (V. 7), die Gärten, die »Kühle des Morgenwinds« (V. 16) und die Anordnung der »Fünf Kastelle«, von denen es heißt, sie »beschirmen und bändigen keck die Stadt« (V. 17); dabei ist das nicht namentlich genannte, sondern als »Garten Lukulls« und »des entthronten Augustulus / Schönes Inselasyl« (V. 20f.) umschriebene Castel dell’Ovo wiederum ein im eingegrenzten Raum eingegrenzter Raum, also ein Locus amoenus zweiter Potenz. Zugleich führt die tiefensemantische Ausleuchtung des Orts vor Augen, dass er das Asyl des letzten weströmischen Kaisers war. So kommt das Heroisch-Imperiale als vergangene, aber die Idylle fundierende und auch rahmende Zeit ins Spiel. Aus der Gegenwart scheint hingegen das Heroisch-Imperiale ebenso verschwunden wie aus der Welt der Capri-Fischer. Die Idylle malt ein buntes und durchaus humorvolles Bild von typischen Repräsentanten des einfachen Volks, der Plebs urbana: Fischer, Bettelmönch und beleibter Mönch, im Hauseingang spinnende Frauen, ein bacchantisch und zugleich anmutig tanzendes Paar, Händler, Kutscher, Kuppler, Bettler, Schausteller, Wahrsager, Garkoch, Matrosen, Wechslerin, Barbier und Schreiber sind die Typen, die vor dem ästhetisch-distanzierten Auge des Betrachters vorüberziehen. Eine für die tiefensemantische Topographie besonders wichtige Stellung nimmt der Rezitator volkstümlicher Epen ein: Den Erzähler indessen umwimmelt es, Jung und Alt, Stehend, sitzend, zur Erde gelagert und übers Knie Beide Hände gefaltet, in horchender Wißbegier: Roland singt er, er singt das gefabelte Schwert Rinalds; Oft durch Glossen erklärt er die schwierigen Stanzen, oft Unterbrechen die Hörer mit mutigem Ruf den Mann. Aufersteh o Homer! Wenn im Norden vielleicht man dich Kalt wegwiese von Türe zu Tür, o so fändst du hier Ein halbgriechisches Volk und ein griechisches Firmament! –28

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Dieses Stück Dichtung in der Dichtung, eine Mise en abyme, variiert auf raffinierte Weise die Form der tendenziell entgrenzenden tiefensemantischen Ausleuchtung des eingegrenzten idyllischen Raums: Das vergangene Heroische und die große Geschichte, die aus dem plebejisch-kleinbürgerlichen Volksleben verschwunden sind,

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W S. 534. Die folgenden Zitate ebd., S. 534f. Unter Absehung von der Gattungszugehörigkeit des Gedichts interpretiert Jochen Heymann es als poetisches Reisebild, das ganz den Regeln einer Reisebeschreibung folge. Vgl. Heymann, Jochen: Tristans Irrungen im Land seiner Träume: August von Platen und Italien. In: Bobzin, Hartmut und Och, Gunnar (Hg.): August Graf von Platen. Leben, Werk, Wirkung. Paderborn 1998, S. 123–148, hier S. 127ff. W S. 536.

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überleben in den alten, aber durchaus volkstümlichen Epen Ariosts und Tassos, dieser Erben Homers; und die vergangene Großform des Epos spiegelt sich in der gegenwärtigen Kleinform der Hexameter-Idylle, durch deren Versmaß das Epos ja, wie gesagt, immer wieder aufgerufen wird. So weckt das Wechselspiel von Eingrenzung und Entgrenzung den Wunsch nach einer Renaissance der großen Form des Epos und damit auch der großen mythisch-heroischen Geschichte, von der es handelt. Das Griechisch-Klassische und das Christlich-Romantische (›romantisch‹ im damaligen Sinne) gehen in diesem Wunschbild eine natürlich wirkende Verbindung ein, da das den Erzähler umringende neapolitanische Volk ja durchaus ›halbgriechisch‹ ist (erinnert wird hier daran, dass Neapel, die nea polis, von den Griechen gegründet wurde). Das Wunschbild hat zweifellos eine Beziehung zu den (im heutigen Sinne) romantischen Programmen einer sei es neuen, sei es nationalen Mythologie, der man zutraute, die Kluft zwischen Gebildeten und Ungebildeten zu schließen und deren Entstehung man von einer künftigen Poesie bzw. von der Erschließung und Vermittlung der älteren National- und Volkspoesie erwartete.29 Doch die Fortsetzung der poetologisch-idyllentopographischen Mise en abyme desavouiert auch dieses Bild ironisch: Die Sprecherinstanz des Gedichtes, der eingangs apostrophierte »Fremdling« (V. 1), tritt nun als aus dem Norden stammender, verbitterter Dichter auf, der, seiner Heimat entfremdet und in Neapel, seinem idyllischen Zufluchtsort, isoliert, dennoch für die Heimat von »Freiheit […] und […] Würde« (V. 91) dichtet in der Hoffnung, dass ihm die »spätre Welt« (V. 95) die ihm gebührende Anerkennung zuteil werden lasse.30 Ich überspringe den Schluss der Idylle, die Evokation einer nächtlichen Bootsfahrt von Neapel nach Sorrent, und halte fest, dass wie in der Fischer-Idylle so auch in der Neapel-Idylle das Wunschbild vom Ort, der im Gedichttitel genannt wird, durch die Besinnung auf die realen Gegebenheiten des Orts desavouiert wird: Dort vor allem durch die Besinnung auf die Ausbeutung der Fischer, die der evasiven Eingrenzung ihres Raums im Wege steht, hier durch die selbstironische Konfrontation des Wunschbilds von der zugleich gelehrten und volkstümlichen epischen Mythopoesie mit der tatsächlichen erbärmlichen Situation des Dichters, der dieses Wunschbild ins selbst gewählte südliche Exil projiziert. Auch die poetologische Mise en abyme versieht also das evasive Moment der idyllenspezifischen Eingrenzung und Isolation mit einem pejorativen Akzent; die Einstellung zu dem Raum, den das Textsubjekt eingegrenzt hat, um ihn als idyllischen Raum sehen zu können, erweist sich als ambivalent. In Amalfi, der dritten topographischen Idylle, ergreift der Fremdling am Ende als Dichter-Ich selbst das

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Vgl. Winkler, Markus: Mythisches Denken zwischen Romantik und Realismus. Zur Erfahrung kultureller Fremdheit im Werk Heinrich Heines. Tübingen 1995 (Studien zur deutschen Literatur 138), S. 27–47. W S. 536f. Ähnliche Selbstbilder vom Dichter als weltfremdem Außenseiter finden sich bei Platens Antipoden Heine, ferner bei Leopardi, bei Byron und vielen anderen Zeitgenossen; in der Malerei mit wiederum idyllischem Einschlag bei Spitzweg.

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Wort und wendet sich vom wiederum zu Beginn eingegrenzten Raum ab, nachdem er mit dem Mittel der tiefensemantischen Ausleuchtung dessen Leere hervorgekehrt hat. Zwar bietet das eingangs evozierte Kloster mit seiner Umgebung am »Festtag« (V. 1) »dem Auge behaglichen Spielraum« (V. 3), doch diese Rekonstruktion des Klosterraums als Locus amoenus setzt voraus, dass man sein ernstes religiöses Substrat vergisst: Erst seit der Säkularisation steht das in die Felsen gebaute Kloster31 »Leer« (V. 8), und nur »Sonntags« (V. 10) verwandelt es »die luftige Jugend Neapels« (V. 11; »luftig« hier natürlich auch im Sinne von oberflächlich) in einen amönen Spielplatz.32 Das Unangemessene der idyllischen Szenerie wird dann dadurch akzentuiert, dass ein »gesitteter Jüngling« (V. 17), der, »Schön wie ein Engel des Herrn, in die Tiefe heruntergestiegen« (V. 20) kommt, sich nicht in die kindischen Spiele ›einmengt‹ (V. 18).33 Ihm als Verkörperung unerreichbarer, überzeitlicher Schönheit gilt die wahre Liebe des Ich; als Knabenliebe weist sie hier auf die Idyllen Theokrits (bes. Id. 12, aber auch Id. 7, ferner Id. 30) und Vergils (Ecl. 2) sowie auf Platons Phaidros zurück. Der Antithese von oberflächlich amoener Gegenwart und vergangener, unwiederbringlich verlorener Größe entspricht es, dass die tiefensemantische Ausleuchtung der Umgebung des zweifelhaften Locus amoenus einen Abgrund der »gewisse[n] Zerstörung« (V. 26) offenlegt, als der in die nähere Umgebung schweifende, visionäre Blick des Betrachters auf die Poseidon-Tempel von Paestum fällt: Tritt auf jene Balkone hinaus, und in duftiger Ferne Siehst du das Ufer entlegener Bucht und am Ufer erblickst du Herrlicher Säulen in Reihn aufstrebendes, dorisches Bildwerk. Nur Eidechsen umklettern es jetzt, nur flatternde Raben Ziehen geschart jetzt über das offene Dach lautkreischend; Brombeern decken die Stufen, und viel giftsamiges Unkraut Kleidet den riesigen Sturz abfallender Trümmer in Grün ein. Seit Jahrtausenden ruht, sich selbst hinreichend und einsam, Voll trotzbietender Kraft, dein fallender Tempel, Poseidon, Mitten im Heidegefild und zunächst an des Meers Einöde. Völker und Reiche zerstoben indes, und es welkte für ewig Jene dem Lenz nie wieder gelungene Rose von Pästum!

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Es handelt sich um das Kapuzinerkloster: »Proseguendo dritti, lungo la strada che costeggia il caseggiato, appare il celeberrimo ALBERGO DEI CAPPUCCINI […]. L’ostello occupa i locali di un antico convento del 1212, fondato da Pietro Capuano al posto della chiesa di S. Pietro a Tozcolo, anteriore al secolo X. Affidato ai Cistercensi di Fossanova e più tardi abbandonato, il convento nel 1583 concesso ai Cappuccini venne soppresso nel 1815. Parte dell’edificio è andata distrutta dalle frane, abbastanza conservati tuttavia, il bellissimo chiostro del XIII sec e, la magnifica loggia fiorita. Da questo punto si gode una panoramica incantevole, Amalfi somiglia ad un presepe: le candide case inframmezzate dai limoni e dagli olivi, digradanti verso la strada, che si tuffa nel mare...dai quali si abbraccia uno splendido panorama su Amalfi e sulla sua costa.« (http://www.guidadiamalfi.it/ viaggio.asp) W S. 537. Ebd., S. 537f. Die folgenden Zitate dieses Gedichts ebd., S. 538f.

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Das Bild der von Unkraut überwucherten, von Eidechsen umkletterten und von Raben überflogenen antiken Tempelruinen, die von der untergegangenen Größe des Episch-Heroischen und Mythischen zeugen, erinnert z. T. wörtlich an die Entdeckung der Ruine des Venustempels in Goethes Wandrer-Idylle (1772/1773): Wandrer Eines Tempels Trümmern! […] Glühend webst du über deinem Grabe, Genius! Über dir ist Zusammengestürzt dein Meisterstück, O du Unsterblicher! […] Epheu hat deine schlanke Götterbildung umkleidet! Wie du empor strebst aus dem Schutte Säulen Paar! Und du, einsame Schwester Dort, wie ihr Düstres Moos auf dem heiligen Haupt Majestätisch traurend herab schaut Auf die zertrümmerten Zu euern Füßen Eure Geschwister! In des Brombeergesträuches Schatten Deckt sie Schutt und Erde Und hohes Gras wankt drüber hin! Schätzest du so Natur Deines Meisterstücks Meisterstück? Unempfindlich zertrümmerst Du dein Heiligtum Sä’st Disteln drein. […]34

Bei Goethe wird indes der Hiatus, der zwischen der idyllischen Gegenwart des Orts in der Nähe von Cumae und seiner episch-heroischen Vergangenheit klafft, am Ende, in der Schlussvision des Wanderers, überbrückt.35 Hingegen bleibt er bei Platen bestehen, weil die amoene Oberflächenschicht des Orts Amalfi seine heroische Tiefenschicht nicht mehr durchblicken lässt. Das Dichter-Ich ermahnt sich dann selbst, Trost für die Unwiederbringlichkeit der auch politisch großen Zeit »des Freistaats« (V. 45) Amalfi im Anblick dessen zu finden, was sich im Wandel

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Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe [= MA]. Hg. v. Karl Richter [u. a.]. München / Wien 1985–1998. 33 Bde. Bd. 1.1, S. 204f. Vgl. Winkler, Markus: Zum Verhältnis von Natur und Geschichte in Idyllen von Geßner (»Daphnis und Micon«), und Goethe (»Der Wandrer«), in: Europa in der Schweiz – Grenzüberschreitender Kulturaustausch im 18. Jahrhundert. 3. Trogener Bibliotheksgespräch vom 10.–13. Juni 2009. Hg. v. Carsten Zelle. Göttingen: Wallstein (im Druck).

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der Zeiten gleich bleibt: »Natur« (V. 51) und »Tagwerk« der Menschen (V. 40). Doch mit dieser Selbsttröstung gerät das Dichter-Ich, wiederum anders als bei Goethe, in Gefahr, seinen poetischen Durchblick zu verraten und nur noch nichtssagende, zum Kitsch tendierende Klischeebilder des Orts zu produzieren: […] Die Natur lacht Segen, es wandeln Liebliche Mädchen umher und gefällige Knabengestalten, Wo du den Blick ruhn lässest in diesem Asyle der Anmut. (V. 51–53)

Die unterschwellige Ironie dieser allzu glatten Verse leitet über zur brüsken Abkehr des Ich von einem solchen »Asyle«: Das im – durchaus positiven Sinn – ›ehrgeizige‹ (V. 57) Ich, das nicht »Irgend ein Herz, nach Stille begierig und süßer Beschränkung« sein will (V. 56), imaginiert seine Rückkehr in den Norden, wo, wie es von sich sagt, »mein lautendes Wort gleichlautendem Worte begegnet« (V. 60), seine Poesie also möglicherweise eine soziale Funktion haben kann. Lässt diese Besinnung auf die Isolation des Dichter-Ich, dessen geliebtes Alter Ego im Gedicht der schöne Jüngling ist, nun anders als in den Bildern Neapels die Idylle am Ende in eine Anti-Idylle umschlagen? Gegen eine solche Deutung spricht die Gattungstradition: Schon bei Theokrit ist der Blick auf das Volk und sein »Tagwerk« ein ironisch-distanzierter; auch bei Goethe ist die Nichtzugehörigkeit des Wanderers zum beschränkten Raum der Idylle und seiner Bewohner ein Merkmal der Auszeichnung des Dichters, als der sich der Wanderer erweist, und sie ist es auch bei Leopardi, etwa in seinem wenige Jahre vor Platens Idylle erschienenen, zunächst als idillio bezeichneten Gesang (canto) La sera del dì di festa. Denn das Unglück, zu dem sich der Dichter dort verurteilt sieht, rührt daher, dass er die idyllische Oberfläche des Raums, in dem er sich befindet, tiefensemantisch-erinnernd zu durchdringen vermag. Er kann nicht bei der ruhenden Geliebten ruhen und nicht der »spät zur Nacht / von seiner Lustbarkeit zum dürft’gen Hause« (»al suo povero ostello«) heimkehrende Handwerker sein, weil er nicht wie sie die unwiederbringliche große Vergangenheit auch dieses Orts vergessen kann: […] Or dov’è il suono di que’ popoli antichi? or dov’è il grido de’ nostri avi famosi, e il grande impero di quella Roma, e l’armi, e il fragorio che n’andò per la terra e l’oceano ? Tutto è pace e silenzio, e tutto posa il mondo, e più di lor non si ragiona.36

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[…] Wo blieb der Widerhall von jenen alten Völkern? wo die Kunde von unsern großen Ahnen, wo das Reich der Römer, und die Waffen, der Tumult, den sie entsandten über Land und Meer? Alles ist Friede, Schweigen; voller Ruhe ist alles; niemand redet mehr von ihnen.37

Leopardi, Giacomo: Tutte le poesie e tutte le prose. A cura di Lucio Felici e Emanuele Trevi. Roma 2001, S. 123. Das 1819/1820 entstandene Gedicht erschien 1825 als idillio mit dem Titel La sera del giorno festivo und 1835 in den Canti mit dem Titel La sera del dì di festa. Leopardi, Giacomo: Gesänge. Dialoge und andere Lehrstücke. Übers. v. Hanno Helbling

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IV. Zum historischen Ort und zur Semantik von Platens Transformation der Gattung Idylle Es hat sich gezeigt, dass in Platens topographischen Idyllen die gattungspezifische Eingrenzung des Raums zum Medium tendenziell entgrenzender Betrachtungen wird. Dieses Strukturmerkmal, das sich auch in der Idylle Das Fischermädchen von Burano nachweisen ließe, und die damit verbundenen semantischen Spannungen teilt Platens topographische Idylle mit Leopardis idillio.38 Von diesem unterscheidet es sich aber deutlich durch die Identifikation des idyllischen Raums mit Orten, die in der außertextlich-empirischen Wirklichkeit vorhanden und überdies bekannt, ja berühmt sind, und durch das antike Metrum des daktylischen Hexameters, der charakteristisch für die klassizistische deutsche Idylle von Voss bis Mörike ist.39 Mit dieser Form ist eine explizite Bezugnahme auf die antiken Modelle der Gattung gegeben. Platen nutzt sie, um Merkmale der Gattung zu akzentuieren, die im Zuge der Gattungserneuerung seit Gessner ausgegrenzt wurden. Dazu zählt in erster Linie die Wahl des nichtbukolischen, ja sogar städtischen und – im Falle der Bilder Neapels – großstädtischen Raums. Gattungsfremd ist diese Wahl nur, wenn man die Gleichsetzung der Idylle mit dem Hirtengedicht überbewertet – ein Gattungsverständnis, das auf die Rezeption des Korpus von Theokrits dreißig eidyllia zurückgeht.40 Schon das antike Lesepublikum bevorzugte jene elf eidyllia, die (meist erotisch akzentuierte) Bilder vom Hirtenleben erzählerisch oder szenisch vermitteln. Thematisch und darstellerisch lehnen sie sich an das Genre des kurzdramatischen komischen Prosa-Mimos an: Sie malen aus durchaus ironischer Distanz Szenen niederer Alltagswirklichkeit. Darin gleichen ihnen auch drei weitere Idyllen des Korpus, die im städtischen Milieu spielen, u. a. die 15. Idylle (Frauen beim Adonisfest), eine komisch-satirische Bloßstellung der typischen Denk- und Verhaltensweisen städtischer Kleinbürgerinnen, hier zweier aus Syrakus stammender, in Alexandria wohnender Frauen. Die Beziehung von Platens Neapel-Idylle zu dieser Alexandria-Idylle ist evident. Aber auch Platens Fischer-Idylle hat, wie gesagt, einen zum Theokritischen Korpus gehörenden Bezugstext, der nicht zu den Hirtengedichten zählt, aber wie sie Alltagswirklichkeit evoziert, so wie es im dritten Teil der wiederum städtischen Amalfi-Idylle ebenfalls geschieht. Wenn man diese Beziehung der Platenschen Idyllen zu den nichtbukolischen Idyllen aus dem Theokritischen Korpus bedenkt, dann liegt die Vermutung nahe, dass sie Versuche sind, im klassizistischen Rückverweis auf den Ursprung

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und Alice Vollenweider. Mit einem Nachwort v. Horst Rüdiger. München 1978, S. 97. Das vorangehende Zitat ebd., S. 95. Zum Korpus von Leopardis später unter dem Titel Canti veröffentlichten idilli zählen auch L’infinito, Alla luna, Il sogno und La vita solitaria. Bei Leopardi entspricht ihm der endecasillabo sciolto. Vgl. Effe / Binder: Antike Hirtendichtung (wie Anm. 17), S. 26ff.; Effe: Zur Einführung (wie Anm. 17), S. 246ff.; Böschenstein: Idyllisch / Idylle (wie Anm. 8), S. 120f.

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der Gattung bei Theokrit die deutsche Hexameter-Idylle zu reformieren und dabei auf jene Teile und Aspekte des Theokritischen Korpus aufmerksam zu machen, die wegen der Bevorzugung des Bukolischen kaum zur Geltung kamen.41 So findet sich auch für die bereits erwähnte humoristische Idylle Skylla und der Reisende im Theokritischen Korpus ein Modell, das mythologische Epyllion.42 Ein wiederum bei Theokrit durchaus gängiges Motiv ist die Knabenliebe, die, wie wir sahen, in der Amalfi-Idylle begegnet; auch darin kommt, intertextuell gesehen, kein biographischer, sondern jener klassizistisch-reformerische Impuls zum Ausdruck: Denn im Zuge der bürgerlich-empfindsamen Gattungs-Erneuerung seit Gessner, der sich mit Nachdruck auf Theokrit beruft, wurde das Motiv der Knabenliebe völlig ausgegrenzt, da diese Form der Liebe gesellschaftlich tabu war. Gessner und den anderen deutschen Idyllentheoretikern und -dichtern des 18. Jahrhunderts entging auch gänzlich die Ironie, die bei Theokrit für die Einstellung des Textsubjekts zur dargestellten Alltagswelt bestimmend ist. Spuren dieser Ironie findet man bei Platen in der tiefensemantischen Problematisierung des idyllischen Zufluchtsorts: Der Gedanke an die reichen Städter als Kunden der armen Fischer, die Einsicht in die reale Isolation des Dichters, der aus seinem eigenen neapolitanischen Wunschbild einer Idylle, sie sich zum volkstümlichen Epos öffnet, ausgeschlossen bleibt, und der plötzlich sich äußernde Widerwille des Dichter-Ich gegen die eigene lustvoll-amöne Ansicht eines Orts wie Amalfi, dessen Bewohner an der großen Vergangenheit des Orts nicht mehr teilhaben und sie auch nicht mehr kennen – diese Momente der perspektivischen Brechung und Selbstbesinnung drohen die gattungsspezifischen Eingrenzungen der jeweiligen Räume als leere Konstruktionen zu desavouieren. Platens Idyllen und Eklogen streifen so die Grenze zur AntiIdyllik des 19. Jahrhunderts, die auf »Zerstörung der in der Idylle enthaltenen oder ihr unterstellten Illusionen« zielte.43 Zugleich aber tragen sie zur Kontinuität der Gattung bei. Die idyllentopographischen Ansichten der drei süditalienischen Orte sind durchaus der klassizistischen Form angemessen, denn auch sie führen zu den Anfängen der Gattung zurück: zu Theokrit, dessen Idyllen sizilisch-unteritalisches Lokalkolorit haben, aber auch zu Vergil, bei dem zum ersten Mal der eingegrenzte Raum der Idylle mit der Welt der großen Geschichte konfrontiert und bei dem mehr noch als bei Theokrit die Dichtung selbst zum Thema wird, wie es dann wiederum bei Platen der Fall ist. Platen erfüllt also die selbstgestellte Aufgabe einer zeitgemäßen Erneuerung der klassischen Idylle. Diese erweist sich dabei als Zufluchtsort einer Dichtung, deren Repräsentant im Gedicht das Du, der isolierter ›Pilger‹ und ›Fremdling‹ ist oder eben die Figur des ›Dichters‹, der den idyllischen Raum eingrenzt, aber selbst aus ihm ausgegrenzt bleibt. Und aus seiner idyllischen Kleinform

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Ähnliches ließe sich von André Chéniers Bucoliques, den bedeutendsten klassizistischen Idyllen französischer Sprache, sagen. Sechs der 30 Eidyllia zählen zu dieser Gruppe; vgl. Effe: Zur Einführung (wie Anm. 17), S. 246, 251. Böschenstein: Idyllisch / Idylle (wie Anm. 8), S. 133.

Platens italienische Idyllen

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bleibt auch die große Form des Epos letztlich ausgegrenzt, obwohl die Idylle an das Epos erinnert. So wird die Nostalgie verständlich, mit der in Platens Idyllen epische Dichtung und ihre heroischen Inhalte evoziert werden: Das Dichter-Ich weiß, dass ihm beide unerreichbar bleiben.44

44

Dazu vgl. auch Thomé, Horst: Platen und das Epos. In: Bobzin, Och: Platen (wie Anm. 27), S. 63–83.

Gunnar Och

»und hätte der Liebe nicht …« August von Platen und Goethe – Revision eines Vorurteils

Im 1836 erschienenen ersten Band von Eckermanns Gesprächen mit Goethe findet sich eine Passage über einen namhaften Autor der jüngeren deutschen Literatur, der vor allem durch seine »negative Richtung« bekannt geworden sei. Eckermann nennt seinen Namen nicht, gibt aber Goethes Urteil in ausführlicher und wie immer auch direkter Rede wieder: Es ist nicht zu leugnen [...], er besitzt manche glänzende Eigenschaften, allein ihm fehlt – die Liebe. – Er liebt so wenig seine Leser und seine Mit-Poeten als sich selber, und so kommt man in den Fall, auch auf ihn den Spruch des Apostels anzuwenden: Und wenn ich mit Menschen- und mit Engel-Zungen redete, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz, oder eine klingende Schelle. Noch in diesen Tagen habe ich Gedichte von *** gelesen und sein reiches Talent nicht verkennen können. Allein, wie gesagt, die Liebe fehlt ihm, und so wird er auch nie so wirken als er hätte müssen. Man wird ihn fürchten, und er wird der Gott derer sein, die gern wie er negativ wären, aber nicht wie er das Talent haben.1

Die Zeitgenossen rätselten natürlich sofort, wem diese Worte gelten mochten, und einige, unter ihnen auch Karl August von Varnhagen, deuteten auf Heinrich Heine. Eckermann sah sich genötigt, den Sachverhalt aufzuklären, und so wies er brieflich gegenüber Varnhagen und öffentlich in den Blättern für Literarische Unterhaltung darauf hin, dass in Wahrheit der unglückliche Dichter August Graf von Platen gemeint sei, den er seiner »hypochondrische[n] Natur« wegen habe schonen wollen.2 Platen selbst konnte diese Enthüllung nicht mehr kränken. Er war bereits am 5. Dezember 1835 in Syrakus verstorben. Trotzdem war der von Eckermann angerichtete Schaden groß, da Goethes Diktum die weitere Rezeption von Platens Werk mit einer schweren Hypothek belastete. Wer immer aus der ohnehin nicht kleinen Schar der Kritiker den Rang des Dichters bestreiten wollte, konnte sich von nun an 1

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Goethe, Johann Wolfgang von: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. 40 Bände, hg. von Friedmar Apel u. a. Deutscher Klassiker Verlag. Frankfurt a. M. 1985ff.; Abteilung II, Bd. 12, S. 167. Houben, H. H.: J. P. Eckermann. Sein Leben für Goethe. Nach seinen neu aufgefundenen Tagebüchern und Briefen dargestellt. 2 Bände. Zweite, durchgesehene Auflage. Leipzig 1925 u.1928; Bd. 1, S. 526 u. Bd. 2, S. 160. In der zweiten Auflage der Gespräche war ein Umdruck dieser Stelle nicht mehr möglich, deshalb wird Platen nur im Register genannt. In der dritten Auflage erscheint sein Name dann auch im Text selbst. Vgl.: Johann Peter Eckermann. Gespräche mit Goethe in den letzen Jahren seines Lebens. Hg. von H. H. Houben. 24. Auflage. Wiesbaden 1949, S. 661.

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auf die autoritativen Worte aus Weimar berufen, und auch die Jünger und Anhänger Platens sahen sich genötigt, ihr eigenes Urteil vor jeder näheren Begründung von dem des Olympiers in apologetischer Weise abzusetzen. Prominente Beispiele aus jüngerer Zeit bieten Thomas Mann und Hubert Fichte, die beide ihre identifikatorisch angelegten Platen-Essays mit deutlichen Distanzierungsgesten gegenüber Goethe eröffnen. Fichte spricht von einem »Fehlurteil des weisen Plauderers«,3 Thomas Mann von einem Irrtum.4 Kann man aber überhaupt dieser unseligen Fixierung entrinnen? Wenn ja, dann freilich nur, indem man daran erinnert, dass nicht nur ein Goethe contra Platen, sondern auch ein Goethe und Platen existiert, d. h. eine eigentümliche Beziehung, die, wenn sie auch ungleich gewichtet war, beide Seiten in wechselseitigem literarischem Interesse und Austausch verband und bei allen Differenzen komplexer gewesen sein muss, als dies die oben zitierten Worte des Eckermannschen Goethe erkennen lassen. Die folgenden Überlegungen dienen der Rekonstruktion dieser Beziehung. Ich beginne mit den Berührungspunkten beider Lebensbahnen, soweit diese sich aus den überlieferten Dokumenten, aus Briefen, Tagebüchern und Gesprächsnotaten erschließen lassen. In weiteren Schritten sollen dann Platens Goethe-Lektüren und sein intertextuelles Spiel mit literarischen Formen und Motiven des großen Vorbildes nachgezeichnet werden. Dass ganz am Ende ein Vergleich zwischen Platens Sonetten aus Venedig und Goethes Venezianischen Epigrammen steht, ist der Dramaturgie geschuldet, die schrittweise von offensichtlichen Anspielungen zu immer subtileren und komplexeren Verfahren der Textverwebung führen soll.5

I.

Biographische Signaturen

Wunsch und Bedürfnis, mit Goethe persönlich in Verbindung zu treten, sind schon beim jungen Platen sehr stark ausgeprägt. Das Tagebuch des Achtzehnjährigen weiß von einem Jüngling zu berichten, der Goethe Gedichte gesandt und dafür sogar eine

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Fichte, Hubert: I can’t get no satisfaction. Zur Geschichte der Empfindungen des Grafen August von Platen Hallermünde. Hamburg, Juni 1985. In: Ders.: Die Geschichte der Empfindlichkeit. Homosexualität und Literatur 2. Polemiken. Frankfurt a. M. 1988, S. 183–234; S. 185. Mann, Thomas: August von Platen (1930). In: Ders.: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Frankfurt a. M. 1990. Bd. 9, S. 268–281; S. 270. Die Forschung hat bislang erstaunlich wenig zu unserem Thema beigetragen. Neben verstreuten Hinweisen existiert nur eine einzige separate Studie zu Platen und Goethe, die Dissertation des später sehr renommierten Germanisten Rudolf Unger (1876–1942), deren Verdienst vor allem in der Erschließung vieler damals noch unbekannter Quellen besteht. Unger, Rudolf: Platen in seinem Verhältnis zu Goethe. Ein Beitrag zur inneren Entwicklungsgeschichte des Dichters (Forschungen zur neueren Literaturgeschichte. Hg. v. Franz Muncker XXIII). Berlin 1903.

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lobende Antwort erhalten habe, die mit »Ihr Sie liebender Freund Goethe« unterzeichnet gewesen sei. Platen kann solch maßloses Glück kaum fassen und schließt sein Notat mit dem sehnsuchtsvollen Ausruf: »O daß an meinen Versen auch nur ein wenig etwas gelegen wäre, um ein gleiches Wagstück zu begehen.«6 Einige Monate später wird der Wunsch, mit Goethe zu kommunizieren, noch dringlicher. Der kränkelnde Platen, der mit seinem Regiment in einem Feldquartier bei Mannheim lagert, hat sich wieder in das Werk des Meisters geflüchtet und ist von dessen Gedankenfülle schier überwältigt: »Es bewegt sich eine ganze Welt in seinen Produkten; ich wünschte, daß mir nur eine einzige Unterredung mit ihm über das Los des Menschen und den Geist des Christentums vergönnt wäre.«7 Es sollten freilich noch Jahre vergehen, bevor an die Erfüllung solcher Phantasien zu denken war. Als 1821 die Ghaselen erscheinen, Platens zweiter Gedichtband, der sich mit einem Huldigungspoem an Goethe bewusst in die Nachfolge des West-östlichen Divan stellt, ist es dann endlich soweit. Platen wagt den entscheidenden Schritt und schickt das Bändchen nach Weimar, begleitet von einem Brief, der ebenso knapp wie ehrfurchtsvoll gehalten ist: »Ew. Excellenz bin ich so kühn, anliegende kleine Schrift zu übersenden. Ich würde ganz über dieselbe befriedigt seyn, wenn ihr Gehalt einige Theilnahme erregen, und eine Beziehung begründen könnte, welche der Wunsch meines Lebens ist.«8 Die erhoffte Reaktion bleibt aus. Platen lässt sich davon aber nicht entmutigen und versucht während einer noch im selben Jahr unternommenen Reise nach Thüringen, bei Goethe selbst vorzusprechen. In Weimar gelingt dies nicht, denn als Platen eintrifft, muss er erfahren, dass Goethe sich in Jena aufhält. Er reist umgehend nach und findet dort in dem aus Franken stammenden Major Karl Ludwig von Knebel, dem »Urfreund« Goethes, einen Vermittler. Knebel weiß zu berichten, dass Goethe sich lobend über die Ghaselen geäußert habe, und er ist auch bereit, ein Treffen mit ihm zu arrangieren. Als es schließlich nach »banger Erwartung« dazu kommt, ist der Besucher doch etwas enttäuscht. Die Audienz dauert nicht lange, und angesichts der »Feierlichkeit«, die Goethe verbreitet, kann »das Gespräch nicht erheblich werden«, wie es in Platens Tagebuch bedauernd heißt. Gleichwohl werden alle Umstände der Begegnung genau registriert. Platen zeichnet den Grundriss des Empfangszimmers samt Möblierung, und seine physiognomische Charakteristik hält selbst noch das »feine Zittern« bei Goethes Verbeugung fest. Als Wesensmerkmale werden »Liebe« und »Güte« konstatiert, was überrascht, da andere Besucher aus dieser Zeit fast immer nur über die angebliche Kälte von Goethes Erscheinung klagen.9

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13. Mai 1814. TB Bd. 1, S. 111. 11. Mai 1815. TB Bd. 1, S. 200. BW Bd. 2, Nr. 151 (9. April 1821), S. 214. Ohne Datum. TB Bd. 2, S. 493f.

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Goethes Tagebucheintrag zu diesem Ereignis ist ungleich karger, es verzeichnet nur Platens Namen und den seines Begleiters, des »Studiosus Gruber«.10 Im Nachhinein erweist sich das Treffen dann aber doch als Erfolg, da Goethe sich veranlasst sieht, Platens Ghaselen in der Zeitschrift Kunst und Alterthum wenigstens kurz zu erwähnen. Der Tenor ist positiv, es ist von »wohlgefühlte[n], geistreiche[n], dem Orient vollkommen gemäße[n]« Versen die Rede,11 ein nicht geringes Lob, bedenkt man, wie zurückhaltend Goethe ansonsten über die Produkte seiner dichtenden Zeitgenossen urteilte. Die Neuen Ghaselen, die 1823 erscheinen und wieder sofort mit einem Widmungsschreiben nach Weimar wandern,12 erfahren eine ähnlich positive Reaktion. Im Gespräch mit Eckermann weist Goethe auf die »Vollendung dieser Gedichte« hin. Platen sei die Aneignung der schwer zu bewältigenden Form des Ghasels vorzüglich gelungen, der Band als ganzes belege, »daß unsere neueste Literatur doch manches Tüchtige« hervorzubringen vermöge.13 Goethe sieht sich allerdings gesundheitlich nicht in der Lage, Platens Ghaselen selbst für die Zeitschrift Kunst und Alterthum zu besprechen, und so kommt der genau instruierte Eckermann dieser Aufgabe nach, die er zur Zufriedenheit des Meisters erledigt. In Goethes Augen ist diese Platen-Rezension sogar so gelungen, dass Eckermann von ihm den Auftrag erhält, auch weiterhin »unsere neuesten Talente« zu beobachten. »Ich möchte, daß Sie sich von allem, was in unserer Literatur Bedeutendes hervortritt, in Kenntnis setzten und mir das Verdienstliche vor Augen brächten, damit wir in den Heften von Kunst und Alterthum darüber reden und das Gute, Edle und Tüchtige mit Anerkennung erwähnen könnten.«14 Diese Worte zeigen, dass die von Goethe ausgehende Würdigung Platens einem strategischen Konzept folgt. Ohne eigenes Zutun und Wissen wird der junge Ghaselendichter zu einem Exempel Weimaraner Literaturpolitik. Das so vielversprechend angebahnte Verhältnis zwischen Goethe und Platen bleibt allerdings nicht ungetrübt. Die ersten Irritationen gehen von Knebel aus. Platen schickt ihm neben den Neuen Ghaselen auch eine unveröffentlichte Abschrift des Gläsernen Pantoffels, einer Komödie, mit der er auf der Bühne zu reüssieren hofft. Knebel antwortet mit einem Verriss, dessen Schärfe auch durch die ehrlich gemeinte Attitüde väterlicher Fürsorge kaum gemildert wird. Das von den halbbarbarischen Persern stammende Ghasel sei eine ungefällige Form, die zu »sinnliche[r] Wollust« einlade; ihre Nachahmung könne nur zu einem Misslingen führen. Noch fragwürdiger erscheine die »sogenannte[ ] Comödie«, die man wegen

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17. Oktober 1821. Goethe, Johann Wolfgang von: Weimarer Ausgabe. Hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, 133 Bde. Weimar 1887ff.; Abteilung III, Bd. 8, S. 125. Östliche Rosen von Friedrich Rückert. In: ebd., Abteilung I, Bd. 41,1, S. 372f; S. 373. BW Bd. 3, Nr. 85 (11. Oktober 1823), S. 127. 24. November 1823. Goethe: Sämtliche Werke (wie Anm. 1), Abteilung II, Bd. 12, S. 78. Ebd., S. 78f.

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ihres wortspielerischen Tons nur als eine »unglückliche Geburt« bezeichnen könne. Platen solle sich nicht länger vom »Dünkel der Neuheit und Originalität verführen« lassen. Das »wirklich Schöne«, »wahre Sittlichkeit und Moralität« müssten für jeden Dichter verbindlich sein und bleiben.15 Der maßlos gekränkte Platen setzt sich sofort an den Schreibtisch und verfasst zwei Spottgedichte, in denen Knebel als Ramlerianer firmiert, d. h. als Anhänger des Aufklärungsdichters Ramler und damit eines längst überholten Konzeptes moralisch-didaktischer Ästhetik. Jugend steht gegen Alter, und es kann kein Zweifel sein, wer in diesem Kampf unterliegt: »Was Sie als verrückt bestreiten,/ Saugt sich in der Jugend Ohr:/ Wie verwandelt sind die Zeiten,/ Lieber alter Herr Major.«16 Die Gedichte zirkulieren im Erlanger Freundeskreis, doch Platen zögert noch, sie zu veröffentlichen. Dafür schickt er das Manuskript des Gläsernen Pantoffels direkt an Goethe und bittet ihn, über das Stück und die im Begleitbrief dokumentierte Kritik Knebels nun seinerseits ein Urteil zu sprechen.17 Goethes Tagebuch bestätigt die Lektüre der Komödie,18 und eine in ihrem Bezug allerdings nicht ganz eindeutige Passage aus Eckermanns Gesprächen konzediert »reiche Bildung, Geist, treffenden Witz und sehr viele künstlerische Vollendung«, auch wenn man »ein specifisches Gewicht, eine gewisse Schwere des Gehalts« vermisse.19 In seinem Antwortbrief an Platen ist Goethe zurückhaltender. Er erklärt, keine Zeit gefunden zu haben, das »mitgetheilte Schauspiel« zu würdigen. Deshalb sende er es auch zurück; sei der Text aber erst gedruckt, so wolle er seinen Freundeskreis damit gerne vertraut machen. Dieses förmliche Sich-bedeckt-halten ist ein Stück typisch goethescher Diplomatie. Knebel, der alte Freund und Weggenosse, soll offenbar nicht bloßgestellt, Platen keine Handhabe gegen ihn erhalten. Wo seine eigentlichen Sympathien in diesem Streit der Generationen liegen, will Goethe freilich auch nicht ganz verleugnen, und so fügt er in seinen Brief noch einige Worte ein, die ihn an die Seite Platens treten lassen: »Die neue und alte Zeit hat immer in einigem Widerstreit gelebt, und es ist mir sehr viel werth, daß das Geschick mich begünstigt den heranstrebenden Jüngeren eher entgegen als aus dem Wege rücken zu können.«20

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BW Bd. 3, Nr. 116 ([nach dem 15. Dezember]1823), S. 161–163. Antwort an den Ramlerianer. SW Bd. 9, S. 173. BW Bd. 3, Nr. 141 (17. März 1824), S. 190–192. »Beachtete letztere näher«. 19. März 1824. Goethe: Weimarer Ausgabe (wie Anm. 10), Abteilung III, Bd. 9, S. 195. Laut Eckermann spricht Goethe am 30. März 1824 »über einige neue Schauspiele von Platen«. Zu diesem Zeitpunkt lag ihm allerdings nur der Gläserne Pantoffel als Manuskript vor und noch nicht der Band Schauspiele, der erst am 1. Juli 1824 in Weimar eintraf. Goethe: Sämtliche Werke (wie Anm. 1), Abteilung II, Bd. 12, S. 107. BW Bd. 3, Nr. 144 (27. März 1824), S. 195f. Auch im Gespräch mit von Müller geht Goethe auf die Platen-Kritik Knebels ein. Durch ihr »Mißwollen bei ähnlichen literarischen Erscheinungen« hätten Herder und Knebel ihm schon »viele Tage« verbittert. Notat vom

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Diese Ermunterung hat eine fatale Wirkung, da Platen sich unter ihrem Eindruck entschließt, die Spottgedichte auf Knebel im Anhang seiner Schauspiele zu veröffentlichen. Schelling und Schubert sind entsetzt,21 können aber nur noch bewirken, dass Platen bei der Übermittlung des Buches nach Weimar Goethe um Nachsicht bittet. Dieser gleichwohl große Affront findet in Goethes Tagebuch sofort sein Echo. Es fällt das grollende Wort von der »Erlanger Unart«: »Herr Canzler von Müller. Mit demselben die Erlanger Unart. Berathung deshalb.«22 Das Ergebnis dieser Beratung wird nicht mitgeteilt, doch ist es an den für Platen schmerzlichen Folgen ablesbar: Goethe wird ihm von nun an keine einzige Zeile mehr schreiben. Wer glaubt, dass mit dieser Episode das biographisch zu fundierende Verhältnis beider Autoren endet, sieht sich getäuscht. Platen sendet unermüdlich seine neu erschienenen Werke nach Weimar, und als er in Italien lebt, tätigt ein enger Freund diese Vermittlerdienste. Goethe wiederum nimmt am Schicksal des verlorenen Sohnes weiter Anteil und bleibt sein aufmerksamer Leser. Die Sonette aus Venedig verfehlen ihre Wirkung nicht, sie werden im Tagebuch für »lobenswürdig« befunden.23 Auch die Fehde zwischen Platen und Heinrich Heine wird von Goethe genau registriert. Platen hatte – das sei kurz erinnert – Heine in seiner satirischen Literaturkomödie Der Romantische Ödipus mit judenfeindlichen Invektiven angegriffen. Dieser revanchierte sich, indem er in den Bädern von Lucca Platens homosexuelle Neigungen mit ebenso brillanter wie infamer Polemik offenlegte. Am Ende gab es keinen Sieger, nur zwei besiegte und beschädigte Existenzen. Der Philosoph und Literarhistoriker Hans Mayer hat die Schärfe dieses Streites nicht auf Gegensätze, sondern auf Gemeinsamkeiten zurückzuführen versucht. Beide, Heine und Platen, seien Außenseiter qua Herkunft und Veranlagung gewesen, jeder von ihnen habe die eigene labile Befi ndlichkeit im Bild des anderen bekämpft.24 Es ist nun ganz erstaunlich zu sehen, dass Goethe dieser modernen Lesart der HeinePlaten-Fehde schon ziemlich nahekommt. In einem Gespräch, das Eckermann unter dem 14. März 1830 vermerkt, heißt es in prägnanter Formulierung: »Ein Begabter und ein Talent verfolgt das andere. Platen ärgert Heine, und Heine Platen, und Jeder sucht den Andern schlecht und verhaßt zu machen, da doch [...] Jeder schon an seinem eigenen Talent einen Feind hat, der ihm hinlänglich zu schaffen macht.«25 Das eingangs zitierte Goethe-Verdikt hat in dieser biographisch-chronologischen Rekonstruktion noch keine Berücksichtigung gefunden. Und tatsächlich will es auch so recht nicht zu den bislang ermittelten Koordinaten passen. Eckermann führt das diesbezügliche Notat unter dem Datum des 25.12.1825. Ein konkreter

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22. März 1824. In: Kanzler Friedrich von Müller: Unterhaltungen mit Goethe. Mit Anmerkungen versehen und hg. von Renate Grumach. Weimar 1982, S. 117f. Vgl. Platens Tagebucheintrag vom 25. Juni 1824.TB Bd. 2, S. 622. 1. Juli 1824. Goethe: Weimarer Ausgabe (wie Anm. 10), Abteilung III, Bd. 9, S. 237f. 22. Februar 1825. Goethe: Weimarer Ausgabe (wie Anm. 10), Abteilung III, Bd. 10, S. 23. Mayer, Hans: Außenseiter. Frankfurt a. M. 1975, S. 207–223. Goethe: Sämtliche Werke (wie Anm. 1), Abteilung II, Bd. 12, S. 710.

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Anlass wird nicht genannt und ist auch im zeitlichen Umfeld nicht zu erkennen – es sei denn, man folgt der mehrfach kolportierten, aber doch reichlich konstruiert anmutenden Hypothese, dass Platen mit einem vier Wochen zuvor übermittelten Widmungsbrief Goethe unwissentlich eine erneute Kränkung zugefügt habe.26 Den Schlüssel zur Lösung des Rätsels hat bereits Heinrich Houben, Eckermanns Biograph und der erste wissenschaftliche Herausgeber der Gespräche, gefunden, nur ist dies offenbar von der Platen-Philologie übersehen worden. Houben kann nämlich nachweisen, dass das Diktum Goethes nur deshalb an dieser Stelle der Gespräche eingefügt wurde, um eine drucktechnisch bedingte Leerseite aufzufüllen. In Eckermanns Tagebuch sind die gleichlautenden Sätze unter dem 11. Februar 1831 notiert, also deutlich später und vor allem nach dem Skandal der Heine-Fehde.27 Das Wort von Platens ›Negativität‹ findet so eine plausible Erklärung. Für die Wucht des Urteils hat freilich erst seine Verschiebung und Isolierung gesorgt, und es darf die Behauptung gewagt werden, dass ohne die banalen Vorgaben eines Druckers, die Geschichte von Platens Wirkung in Deutschland anders verlaufen wäre.28

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In einem Begleitbrief zur Übersendung seiner Ode auf den bayerischen König Ludwig I. (SW Bd. 4, S. 32–38) hatte Platen das geistfeindliche Klima Berlins angeprangert und dabei auch abfällig Karl Ernst Schubarth als »Allerweltsfasler« erwähnt (BW Bd. 4, Nr. 121 [Ende November 1825], S. 164.), nicht wissend, dass Goethe diesen unbedeutenden Schriftsteller zu seinen Anhängern zählte. Ohne jeden weiteren Beleg hat Schlösser daraus eine zweite Kränkung Goethes durch Platen konstruiert, die in dem von Eckermann überlieferten Diktum ihre Resonanz gefunden habe. (Schlösser, Rudolf: August Graf v. Platen. Ein Bild seiner geistigen Entwicklung und seines dichterischen Schaffens. 2 Bde. München 1910, 1913; Bd. 1, S. 668f.). Dieser Hypothese folgen wiederum Paul Bornstein (Briefwechsel [wie Anm. 8], Bd. 4, S. 640) und Hans-Joachim Teuchert (August Graf von Platen in Deutschland. Zur Rezeption eines umstrittenen Autors [Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft Bd. 284]. Bonn 1980, S. 25). Houben: Eckermann (wie Anm. 2), Bd. 1, S. 625f. Ein weiteres von Eckermann kolportiertes Urteil Goethes über Platen aus dem zweiten, ebenfalls 1836 erschienenen Band der Gespräche ist mit Vorsicht zu genießen, da es von Eckermann fingiert wurde, um unter dem Datum des 11. Februar 1831 die vorgezogene Platen-Stelle zu ersetzen. Trotzdem dürfte das Porträt nicht ganz aus der Luft gegriffen sein und tatsächlich auch Goethes Anteilnahme am Schicksal Platens halbwegs authentisch spiegeln. Die Rede ist von einem »hohen Talente«, das »die schönste deutsche Tragödie« hätte schreiben können. Nun aber habe Platen durch seine »Händel« (eine Anspielung auf die Fehde mit Heine!) die schönsten Erwartungen bitter enttäuscht, und es bleibe nur die Hoffnung, dass er sich wieder ändern möge: »Lord Byron ist an seiner polemischen Richtung zu Grunde gegangen, und Platen hat Ursache, zur Ehre der deutschen Literatur, von einer so unerfreulichen Bahn für immer abzulenken.« Goethe: Sämtliche Werke (wie Anm. 1), Abteilung II, Bd. 12, S. 431f.

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II. Goethe-Lektüren Platen ist zweifellos einer der belesensten Dichter seiner Zeit. Er besitzt eine intime Kenntnis der antiken Autoren, die klassischen Texte der europäischen Literatur eignet er sich in Originalsprachen an, die er, wenn nötig, auch ad hoc erlernt wie das Portugiesische oder Schwedische. Hinzu kommt das Studium des Persischen, das ihn zu den großen poetischen Werken dieses Kulturkreises führt, zum Schahnameh des Firdusi und dem Divan des Hafis. Die deutsche Literatur wird dagegen eher selektiv rezipiert. Platen nimmt unter den Romantikern lediglich Ludwig Tieck und die Brüder Schlegel wahr, das Wunderhorn, Arnim, Brentano oder Eichendorff sind für ihn nicht präsent.29 Und sieht man von eher kuriosen Vorlieben wie der für den heute zu Recht verschollenen Dramatiker Friedrich von Heyden ab, so besteht der platensche Kanon deutscher Literatur letztlich nur aus den drei Namen Jean Paul, Schiller und Goethe. Allerdings sind auch hier die Gewichte ungleich verteilt: Von Jean Paul, der während Platens Erlanger Jahren vor allem als Mentor fungiert, geht der geringste literarische Einfluss aus. Schiller wird als Dramatiker wie als Lyriker für den ganz jungen Platen prägend, danach schwindet seine Wirkung, während wiederum diejenige Goethes ebenso langdauernd wie nachhaltig ist. Man kann, was Platens Bildungsweg angeht, geradezu von einer literarischen Sozialisation im Zeichen Goethes sprechen, denn wo der Kadett, Leutnant oder Student sich auch aufhält, immer begleiten ihn Goethes Werke, die in Akten intensiver und wiederholter Lektüre angeeignet werden. Nichts bleibt dabei ausgespart. Neben die Lyrik treten Werther, Tasso, Faust, Wilhelm Meister, aber auch die autobiographische Prosa und eher entlegene Texte wie die Farcen und die bis heute so wenig geschätzten Venezianischen Epigramme. Die Spuren dieser Goethe-Lektüre finden sich im Tagebuch, das Titel verzeichnet, Zitate festhält und Eindrücke formuliert, die nicht zuletzt auch deshalb so facettenreich sind, weil sie auf ganz unterschiedlichen Formen des Textzuganges basieren. Der ursprünglichste Impuls ist dabei gewiss der emotionale. Als typisch juveniler Leser will Platen sich mit Goethes Figuren identifizieren, seine Befindlichkeit in der ihren spiegeln. Das führt fast zwangsläufig zur Werther-Nachfolge30 oder zur Annäherung an Mignon, deren im Tagebuch zitierte Klage »Nur wer die Sehnsucht kennt,/ Weiß was ich leide« für Platens eigenen Liebesschmerz einstehen soll, der natürlich einem Jüngling gilt.31 Wie dominant dieser identifikatorische Aspekt der Goethe-Aneignung ist, zeigt auch ein Notat zu Tasso, das zunächst als streng gattungstypologische Analyse angelegt ist. Platen vergleicht das Stück mit der undramatischen Qualität von Lessings Nathan. Hier wie dort überwiege das ideelle Moment, der theatrale »Effekt«, der

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Zu Platens Bild der Romantik vgl. Link, Jürgen: Ästhetische Form und ästhetischer Sinn in Platens Lyrik. München 1971, S. 124–126. Vgl. dazu auch das 1811 verfasste Gedicht Werther, das mit den Versen beginnt: »Armer Jüngling! Deine Leiden schlagen/ An mein tiefgerührtes Herz«. SW Bd. 5, S. 42. 21. März 1816.TB Bd. 1., S. 463.

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»Haupterfordernis« eines jeden Bühnenwerks sei, fehle gänzlich, die »allzuhäufigen Sentenzen« überforderten und langweilten das Publikum. Gleichwohl entschädige uns aber Goethe für solche »Mängel« »durch die zarte und innige Ausführung« des Kompositorischen. Als Beleg führt Platen den »Widerstreit von Tassos und Antonios Charakter« an, der in seinen Augen überhaupt das »Pikanteste« des ganzen Stückes ist: »Beide sind sie edle Menschen, allein man fühlt zu wohl, was die Prinzessin sagt: ›Sie können ewig keine Liebe wechseln.‹« Mit diesem Zitat ändert sich zugleich die Tonlage. Platen kann die nüchterne Analyse nicht länger durchhalten, die existentielle Betroffenheit überwältigt ihn und artikuliert sich im Gestus der selbstbezogenen Klage: »Ach, auch ich kenne solche Antonios, die dem glühenden, fühlenden Herzen ihre schroffe Besonnenheit entgegensetzen.«32 Platen wird von dieser Form der emotionalen Vereinnahmung Goethes auch später, in seinen Würzburger und Erlanger Studienjahren, nicht ablassen und immer wieder zur Selbstaussprache auf Worte und Verse seines Genius rekurrieren. Zugleich mehren sich freilich auch die Kommentare, die gegenüber Werk und Person Einspruch anmelden und Distanz markieren. Selbst Goethes Originalität steht dabei in Frage. Weil er auf antike Vorbilder wie Properz zurückgreife, sei er »der künstlichste unter allen Dichtern«.33 An anderer Stelle erlaubt es sich Platen, von Heydens Drama Renata mit dem Faust zu vergleichen, und das tatsächlich zum Nachteil des letzteren. Man überschätze dieses Gedicht, »trotz aller Tiefe der Idee« sei es »doch nur ein langsam und mühsam zusammengestoppeltes Flickwerk […], dem es von allen Seiten an poetischer Vollendung« mangle.34 Die unterschwellige Aggressivität solcher Urteile ist wohl vor allem psychologisch zu verstehen, aus der Situation des jungen, seiner selbst noch unsicheren Dichters, der gegen den Übervater aufbegehren muss, um seinen Anspruch auf einen eigenen Platz überhaupt erst begründen zu können. Außerdem steht das nach Goethes Tod verkündete Wort vom ›Ende der Kunstperiode‹ schon jetzt, in den frühen 20er Jahren des 19. Jahrhunderts, bedrohlich im Raum. Platens Würzburger Lehrer, der Philosophieprofessor Johann Jakob Wagner, vertritt ein ästhetisches System, in dem Goethes Werk als Vollendung der Poesie erscheint und dieser selbst als »der letzte Dichter«.35 Platen ist ein Anhänger Wagners, kann und will ihm aber just in diesem Punkt nicht folgen. Also wird Goethes Ansehen gemindert, damit Wagners These ihre Evidenz verliert und dem jungen Vertreter einer neuen Dichtkunst die Zukunftsperspektive erhalten bleibt. Als Platen sich mit seiner Ghaselendichtung in die Nachfolge des West-östlichen Divan stellt und mit Goethe auch persönlich in Kontakt tritt, verliert seine Kritik deutlich an Schärfe, verstummt aber keineswegs ganz. Was bleibt, ist eine gewisse

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25. April 1816. TB Bd. 1, S. 507. 16. Januar 1820. TB Bd. 2, S. 357. 4. März 1820. TB Bd. 2, S. 369. 16. Januar 1820. TB Bd. 2, S. 356.

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Reserve gegenüber dem Dramenautor Goethe, basierend auf dem schon für Tasso geltend gemachten Vorwurf mangelnder Theatralität. Goethe – so Platens Credo in der 1825 verfassten Schrift Das Theater als ein Nationalinstitut betrachtet – sei seiner ursprünglichen Natur nach Lyriker, kein Dramatiker. »Seine Schauspiele, wenn man sie als Dichtungen betrachtet, erscheinen großenteils meisterhaft; allein aus allen zusammen geht kein dramatischer Charakter hervor.«36 Diese, auf einem konservativen Gattungsrigorismus beruhende Ansicht ist nicht sonderlich originell. Umso mehr überrascht, in welcher Ausführlichkeit sie dargelegt wird, und erst recht mit welchem Pathos. Platen erklärt nämlich, dass man über Goethe, nachdem ihm »ganze Bände preziöser Faseleien« gewidmet worden seien, endlich die »Wahrheit« sagen müsse.37 Von seinen persönlichen Interessen schweigt der edle Streiter, doch wissen wir, dass er zu dieser Zeit selbst die Hoffnung hegt, sich als bedeutender Bühnendichter etablieren zu können. Im Kreis der Erlanger Freunde werden seine Stücke mit Beifall aufgenommen, und Schubert sieht in ihm sogar den kommenden »deutsche[n] Shakespeare«.38 Es entspricht solchen Erwartungen und Ambitionen, wenn Platens Schrift über eine »große Ebbe« im zeitgenössischen Theater klagt39 und niemandem, auch Goethe nicht, die nach dem Tode Schillers vakant gewordene Stelle des Nationaldramatikers gönnt. In Platens letztem Lebensabschnitt, den italienischen Wanderjahren (1826– 1835), ist nur noch relativ selten von Goethe die Rede. Das Tagebuch vermerkt zwar die Lektüre des Schiller-Briefwechsels40 und der Cellini-Schrift,41 lässt aber keinen rechten Enthusiasmus mehr erkennen. Eigentliche Vorbilder sind nun fast ausschließlich die Dramen, Oden und Eklogen der antiken Autoren, während die Literatur der Gegenwart wegen ihrer angeblich verwahrlosten Form der Kritik verfällt. Auch die großen Namen bleiben nicht verschont. Schiller trifft der Vorwurf der Sentimentalität,42 Goethe hat sich für den holprigen Hexameter in Hermann und Dorothea zu verantworten43 sowie überhaupt für einen Mangel an Vollendung in allen genuin poetischen Gattungen. So stellt Platen in einem Brief an Fugger allen Ernstes die Frage, was denn »im Grunde der ganze Umfang des Goetheschen Genies« wert sei, »wenn er doch außer seinen Romanen, nichts eigentlich Vollendetes und absolut Klassisches hinterläßt«.44 Ein etwas späteres Epigramm variiert dieses Urteil. Der Ton ist milder, ja ins Positive gewendet, doch bleibt auch in dieser eu-

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SW Bd. 11, S. 170f. Ebd., S. 171f. 23. November 1823. TB Bd. 2, S. 595f. SW Bd. 11, S. 175. 24. März 1834. TB Bd. 2, S. 954. 16. April 1834. TB Bd 2, S. 955. »Etwas weniger […] Liebschaften!«, heißt es im Epigramm Schiller. SW Bd. 4, S. 177. Vgl. das Epigramm Hermann und Dorothea (1829). SW Bd. 4, S. 194. BW Bd. 4, Nr. 281 (21. April 1828), S. 427.

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phemistischen Form die Abwertung des Dichters Goethe kenntlich. Unter dem Titel Goethes Romane und Biographie stehen die folgenden, nicht ganz uneitlen Verse: Zwar im Erotischen auch und im Tragischen, doch ich bewundre Mehr in der Prosa des Manns beste vollendete Kunst. Schiller entzog ihm fast der Tragödie Preis; in der Lyrik Wagte mit ihm Klopstock, wagte zu ringen ich selbst.45

Es wäre freilich auch falsch, in diesem Lob von Goethes Prosa nur einen Vorwand zur Abwertung seiner Poesie zu sehen, denn in Platens Goethe-Rezeption stellt die Wertschätzung der Romane und mehr noch der autobiographischen Schriften tatsächlich eine Konstante dar. Platen liest schon als Jüngling mehrfach alle Bände von Dichtung und Wahrheit, und natürlich auch die Italienische Reise, deren Stil er »über alle Beschreibung liebenswürdig und hinreißend« findet.46 Hinzu kommt der nicht geringe stoffliche Reiz, die Fülle eines gelebten Lebens, Selbstverwirklichung, erfolgreiches Künstlertum, Liebesglück und damit in fast allen Zügen ein genaues Gegenbild zu Platens eigener, im Zeichen der Ungenügsamkeit stehenden Existenz. »Während meines Aufenthaltes in Ansbach«, notiert Platen im Juli 1822 in sein Tagebuch, »las ich auch die drei ersten Bände von ›Goethes Leben‹ wieder, worin er mir beinahe größer erschien als in irgend einem seiner Werke. Ich lernte daraus, daß ich fünfundzwanzig Jahre meines Lebens verloren habe, und wie soll ich sie einholen?«47 In Platens Goethe-Epigramm, auf das hier nochmals zurückzukommen ist, steht eine sachlich nachgeordnete Vokabel buchstäblich an erster Stelle: das Erotische. Ist das Zufall oder nur durch eine metrisch motivierte Inversion erzwungen? Beides ist zu bezweifeln, da die Lektürekommentare des Tagebuchs ein starkes, ja fast schon obsessives Interesse an diesem Themenkreis in Goethes Werk verraten. Nichts entgeht den Augen dieses Lesers, jedes Skandalon wird vermerkt, ganz gleich ob es sich um die Blocksbergszenen im Faust, die amourösen Verstrickungen im Wilhelm Meister oder die Freizügigkeiten der Römischen Elegien und Venezianischen Epigramme handelt. Platens Haltung ist dabei eher prüde. Es fallen Ausdrücke wie »Immoralität«48 oder »ekelhafte[] Zoten«,49 und Goethe wird unterstellt, die Liebe »antik oder noch frivoler als antik dargestellt« zu haben.50 Man sollte sich aber durch solche Urteile nicht täuschen lassen. Die moralische Empörung dient oft nur als Vorwand, um das Tabuisierte überhaupt zur Sprache zu bringen und wenigstens den Nachgeschmack der verbotenen Früchte genießen zu können. Die tiefe Ambivalenz dieser eigentümlichen Lektürepraxis scheint mehrfach auf und

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SW Bd. 4, S. 194. 1. Dezember 1816. TB Bd. 1, S. 699. 12. Juli 1822. TB Bd. 2, S. 539. 7. März 1820. TB Bd. 2, S. 370. 6. Dezember 1818. TB Bd. 2, S. 153. 7. März 1820. TB Bd. 2. S. 370.

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gibt sich etwa auch in folgendem Notat von 1815 zu erkennen: »Ich beschäftige mich die ganze Zeit her mit Goethe. Der Mann bleibt mir immer noch ein halbes Rätsel. Seine Elegien, trotz ihrer verführerischen Immoralität, entzücken mich als große Meisterwerke. [...] Seine Epigramme von Venedig […] geben mir Stoff zu vielem Nachdenken.«51

III. »An Goethe« – Widmungsgedichte Die Goethe-Lektüren haben in Platens Dichtung deutliche Spuren hinterlassen, und das nicht nur im Bereich der orientalisierenden Lyrik, sondern auch in seinen Balladen, Liedern und Dramen, die allenthalben an Bild- und Motivfindungen des großen Autors anschließen. Die kalkulierte Anspielung ist dabei ebenso häufig wie die indirekte Nachfolge oder unbewusste Entlehnung, und selbst dort, wo ganz andere Wege beschritten werden, gibt sich mitunter noch im Gestus der Abkehr und Abwehr die Fixierung auf Goethe zu erkennen.52 Es wäre freilich ermüdend und wenig ertragreich, würde man dieses weite Feld intertextueller Beziehungen in seiner ganzen Breite ausschreiten. Ich konzentriere mich, in bewusster Beschränkung, auf die kondensierteste Form im Medium des Gedichts und beginne mit Versen, die in Goethe selbst ihren Adressaten haben und im engeren oder weiteren Sinne als Widmungsgedichte zu verstehen sind. Nun genießt das Widmungspoem generell kein hohes Ansehen. Die Literaturwissenschaft weist es der Gelegenheitsdichtung zu, und damit einem Genre, das im Ruf steht, nur eine lyrische Gebrauchsform zu sein, limitiert in ihren ästhetischen Mitteln und von geringer Originalität. Die zahlreichen Widmungsgedichte, die Platen für Freunde, Lehrer und Mentoren verfasst hat, widersprechen allerdings diesem Vorurteil, denn sie sind fast durchweg mit einem hohen Kunstanspruch geschrieben, der den konventionellen Zweck der Huldigung weit übersteigt. Die Eigenart des Adressaten, Facetten seines Werks oder seiner Person werden gewürdigt, und in den gelungensten Exempla verwandelt sich die rühmende Rede sogar in einen substantiellen Dialog mit dem imaginären Partner. Nimmt man Gedrucktes und Handschriftliches zusammen, so hat Platen für Goethe sechs Gedichte verfasst,53 mehr als für jeden anderen seiner Adressaten, Schelling nicht ausgenommen. Die Reihe beginnt mit dem Schlusspoem der ersten Ghaselensammlung von 1821, das den schlichten Titel An Goethe trägt:

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11. Mai 1815. TB Bd. 1, S. 200. Zahlreiche Belege bei Unger: Platen (wie Anm. 5). Neben den unten zitierten Beispielen: Prolog an Goethe (SW Bd. 2, S. 111–114); Das Sonett an Goethe (SW Bd. 3. S. 160f.); die Ode An Goethe (SW Bd. 4, S. 60).

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Dein Name steht zu jeder Frist Statt eines heiligen Symboles Auf allem, was mein eigen ist, Weil du mir Stern des Dichterpoles, Weil du mir Schacht des Lebens bist. Der Orient sey neubewegt, Soll nicht, nach dir, die Welt vernüchtern; Du selbst, du hast’s in uns erregt: So nimm hier, was ein Jüngling schüchtern In eines Greisen Hände legt.54

Die zweite Strophe erinnert natürlich an den West-östlichen Divan und Goethes Vorreiterrolle auf dem Feld der orientalisierenden Poesie. Alter und Jugend sind einander in den Rollen des Gebenden und Nehmenden positiv zugeordnet; das Neue ist nicht eigentlich neu, es speist sich aus den Quellen eines bewunderten Vorbildes und hofft so auch vor der literarischen Öffentlichkeit seine Legitimation zu finden. Das ist sehr hübsch, aber auch sehr konventionell, und wären da nicht die kühnen Genitiv-Metaphern der ersten Strophe, man müsste das Gedicht insgesamt als ästhetisch belanglos bezeichnen. Mit dem »Stern des Dichterpoles« wagt Platen eine Hyperbel, denn der Pol als ein an sich schon Äußerstes wird durch den Stern ja nochmals überboten. Man darf darin aber wohl auch eine Anspielung auf ein anderes Dichterlob sehen. In dem für Charlotte von Stein bestimmten GoetheGedicht Zwischen beiden Welten, das 1820, also kurz vor den Ghaselen erschienen ist, wird Shakespeare als »Stern der schönsten Höhe« bezeichnet.55 Ist nun Platens Metapher tatsächlich auf dieses Bild zu beziehen, so würde sie Goethe noch über dessen eigenes Idol Shakespeare erheben und wäre damit ein ebenso raffi niertes wie grandioses Kompliment. Die zweite Metapher, der »Schacht des Lebens«, bringt als Antagonist des Siderischen das tellurische Element ins Spiel, und das offenbar in der Absicht, die ganze Spannbreite des Verehrten in ihren Extremen auszumessen. Es wird an den Naturwissenschaftler Goethe erinnert, und auch an den Menschen, dessen Biographie, wie wir ja wissen, Platen schlechthin vorbildlich erscheint. Dass das Bild so opak und düster gerät, könnte die unfreiwillige Nebenwirkung einer um starke Effekte bemühten Verssprache sein, was bei diesem Dichter nie ganz auszuschließen ist; vielleicht handelt es sich aber auch – und ich neige sehr zu dieser Lesart – um eine bewusste oder doch zumindest halbbewusste Allusion, mit der auf Nachtseiten in Goethes Existenz verwiesen werden soll. Als Platen 1822 (als Teil der Vermischten Schriften) den Spiegel des Hafis veröffentlicht, eine Ghaselen-Sammlung mit ausgelassen-bacchantischen Tönen, die durch die Freundschaft mit Otto von Bülow inspiriert ist, wiederholt er seine Praxis der Dedikation in potenzierter Weise. An das Ende der Sammlung rücken wieder Verse, die an Goethe gerichtet sind. Sein Name wird diesmal allerdings nicht

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SW Bd. 3, S. 44. Weimarer Ausgabe (wie Anm. 10), Abteilung I, Bd. 3, S. 45.

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genannt. Platen wendet sich Goethes alter ego »Hatem« zu, der Figur des großen Liebenden aus dem Buch Suleika des West-östlichen Divan: Wem dies Büchlein will gefallen? Wem sein letzter Vers gehört? Großer Hatem, dir vor allen, Dem es ew’ge Liebe schwört.56

Mit dieser Verbeugung hat es aber noch längst nicht sein Bewenden. Platen lässt zwölf Exemplare seiner Vermischten Schriften auf Velin abziehen und schickt eines nach Weimar, begleitet von einem weiteren, handschriftliches Widmungsgedicht für Goethe, dem die folgenden Divan-Verse vorangestellt sind: Nennen dich den großen Dichter, Wenn dich auf dem Markte zeigest, Gerne hör’ ich, wenn du singest, Und ich horche, wenn du schweigest.57

Es folgen vier Strophen, deren letzte, durch umarmenden Reim rückgebundene Zeile jeweils aus einem der vorangesetzten Goethe-Verse besteht. Um diese eigentümliche, aus fremder und eigener Rede bestehende Gedichtform der Glosse zu verdeutlichen, sei hier wenigstens die erste Strophe zitiert: Wer ein schönes Lied erfunden, Darf dich rühmen, darf dich preisen, Weil nur er dich ganz empfunden, Dich, den Glücklichen, den Weisen, Der die Welt sich überwunden. Quaken mag im Sumpfe dorten Jenes tückische Gelichter, Doch die besten aller Orten Bilden sich an deinen Worten, Ne n n e n d ich d e n g r o ß e n D icht e r. 58

Dieses intertextuelle Spiel kann selbst als orientalisierendes Verfahren bestimmt werden, denn es ähnelt jenem »Zeichenwechsel«, den die Noten und Abhandlungen zu Goethes Divan als protoästhetische Kommunikationsform unter Liebenden im Orient beschreiben: »Wenn ein Liebendes dem Geliebten irgendeinen Gegenstand zusendet, so muß der Empfangende sich das Wort aussprechen, und suchen, was sich darauf reimt.«59 Platen hat just in diesem Sinne zu dem von Goethe vorgegebenen Wort sich einen Reim gesucht, und dies gilt ja nicht nur für dieses Gedicht, es gilt auch für seine Ghaselen insgesamt, die als Dialog und »Zeichenwechsel« mit

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SW Bd. 3, S. 99. Ebd., Bd. 5, S. 283 u. Weimarer Ausgabe (wie Anm. 10), Abteilung I, Bd. 6, S. 216. Ebd. Weimarer Ausgabe (wie Anm. 10), Abteilung I, Bd. 7, S. 124.

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dem geliebten Vorbild verstanden werden wollen. Doch worin besteht eigentlich dieser Dialog? Geht es wirklich nur um das orientalische Kostüm und die morgenländische Form, oder gibt es aus Platens Sicht nicht auch andere, substantiellere Übereinstimmungen, also ausdeutbare Signifikate hinter den klingenden Signifikanten? Der manifeste Text des Widmungsgedichtes erteilt hierzu keine Auskunft. Beziehen wir aber den zitierten Prätext und seine in der Absens doch immer auch mitzudenkende Umgebung ein, so ergeben sich erstaunliche Perspektiven. Die von Platen aufgerufenen Verse stammen aus dem Saki Nameh, dem Schenkenbuch des Divan, das nach dem Vorbild des Hafis das Phänomen der Männerliebe im Verhältnis eines Dichters zu einem knabenhaften Schenken dezent, aber doch auch kenntlich umschreibt. Die rein mystische Ausdeutung, die viele Interpreten zur Entschärfung dieses Skandalons bei Hafis anführten, macht Goethe sich nicht zu eigen. Er akzeptiert die fremden Sitten der Perser und behält das als unverzichtbar erkannte Element in der abgeschwächten Form eines pädagogischen Eros bei.60 Platen ist ihm darin bereitwillig gefolgt, und das auch und vor allem im Spiegel des Hafis, der, wie schon angedeutet, ganz im Motivkreis der Schenkenlieder verbleibt. Das Widmungsgedicht weist Goethe auf diese Verwandtschaft nachdrücklich hin und reproduziert zugleich das vorgegebene dialogische Rollenspiel, da die bewussten Verse dem Redepart des Schenken zugehören, der sich an den Dichter wendet. Goethe zitierend und fortschreibend schlüpft Platen selbst in das Gewand des Schenken und wird so zum Liebenden, der das Loblied auf den geliebten Dichter singt. Aber das Divan-Gedicht des Saki Nameh hat nicht nur eine Strophe, es folgen zwei weitere, die, auch wenn sie von Platen nicht zitiert werden, bei der Lektüre des Widmungsgedichtes als Referenz- und Resonanzraum zu beachten sind. Die Besonderheit dieser Strophen ist es nun, dass sich das Verhältnis beider Rollenfiguren stärker erotisiert, da der Schenke den Dichter als Liebenden über den Dichter als Dichter stellt: Doch ich liebe dich noch stärker, Wenn du küssest zum Erinnern; Denn die Worte gehn vorüber, Und der Kuß, der bleibt im Innern. Reim auf Reim will was bedeuten, Besser ist es viel zu denken. Singe du den andern Leuten Und verstumme mit dem Schenken.61

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Vgl. dazu den etwas gewundenen Kommentar Goethes in den Noten und Abhandlungen zum Divan (ebd., 146f.) sowie dessen Re-Kommentierung in: Derks, Paul: Die Schande der heiligen Päderastie. Homosexualität und Öffentlichkeit in der deutschen Literatur 1750–1850. Berlin 1990, S. 273–281. Weimarer Ausgabe (wie Anm. 10), Abteilung I, Bd. 6, S. 216.

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Dass Platen in seinem Widmungsgedicht dieses vielsagende Verstummen ausgeklammert hat, nimmt ihm paradoxerweise nicht nur nichts von seiner Wirkung, sondern verstärkt sie sogar. Der Rest ist Schweigen, ein Schweigen im Komparativ.62

IV. »Von allen Engeln Gian Bellins umflogen« – ein venezianisches Duett In einer bekannten Darstellung zu Venedig-Bildern der deutschen Literatur wird mehrfach auf die großen Unterschiede zwischen Goethes Wahrnehmung der Stadt und derjenigen Platens verwiesen.63 Nun ist Venedig für den Goethe der Italienischen Reise tatsächlich kein Fluchtpunkt oder Sehnsuchtsort, sondern nur eine Zwischenstation auf dem Weg nach Rom. Sein Interesse gilt den Bauten Palladios, ansonsten missfällt ihm die venezianische Architektur, deren byzantinischgotische Formen nicht seinen an der Antike orientierten Idealen entsprechen. Statt hoher Kunst und Kultur studiert er das bunte Volksleben oder Taschenkrebse am Lido. Und wenn er den Verfall der Stadt vermerkt, so geschieht das in einem historisch-sachlichen Ton, der vom Reiz morbider Schönheit noch nichts zu wissen scheint. Nur einmal, als Goethe den wehmütig-klagenden Gesang des Gondoliere beschreibt,64 kündigt sich bereits dieses andere, von Melancholie gesättigte Bild Venedigs an, das in trivialisierter Form bis heute unsere touristische Perspektive auf die Stadt bestimmt. Obwohl Platen ein genauer Leser der Italienischen Reise gewesen ist, entfernt er sich in seinen Sonetten aus Venedig sehr weit von Goethes Impressionen. Sein Venedig ist ein genuin poetischer Ort, ein Ort der Schönheit und Verzauberung. Alles steht im Zeichen der Kunst, auch das Stadtbild selbst, das als ein der Natur entrücktes Artefakt erscheint. Das Grundgefühl aber ist eine »tiefe Schwermut«,65 die sich wie in Byrons Childe Harold’s Pilgrimage von der Trauer über den Niedergang der einst stolzen Republik nährt, mehr noch aber von der Unerfüllbarkeit einer namenlosen Sehnsucht. Am Ende des Zyklus stehen zwei Sonette, die mit dem Gedanken an die Abreise Trennungsschmerz und Todesahnung verbinden.66

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Dass die hier vorliegende Form »homoerotischer Camouflage« ein literarisch ungemein produktives Verfahren sein kann, bestätigt eine brillante Studie Heinrich Deterings, die auch ausführlich auf Platen als »Ketzer der Liebe« eingeht. Detering, Heinrich: Das offene Geheimnis. Zur literarischen Produktivität eines Tabus von Winckelmann bis Thomas Mann. Durchgesehene und mit einer Nachbemerkung versehene Studienausgabe. Göttingen 1994; zu Platen: S. 79–114. Vgl. Seuffert, Thea von: Venedig im Erlebnis deutscher Dichter (Italienische Studien. Hg. mit Unterstützung des Petrarca-Hauses in Köln 2). Köln 1937, S. 59ff. Weimarer Ausgabe (wie Anm. 10), Abteilung I, Bd. 30, S. 129f. Sonette aus Venedig. SW Bd. 3, S. 189. »Ich liebe dich, wie jener Formen eine« (SW Bd. 3, S. 188) und »Was läßt im Leben sich zuletzt gewinnen« (SW Bd. 3, S. 188f.), zwei homoerotisch grundierte Sonette, die allerdings nur im Erstdruck zu finden sind und in den von Platen autorisierten späteren

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Ganz anders dagegen wieder Goethe, der sein Venedig-Kapitel mit der frohgemuten Erklärung beschließt, dass er die Stadt trotz der Kürze seines Aufenthaltes nur zu »gerne« verlasse.67 Die Gegensätze könnten also krasser kaum sein – und dennoch zeigt sich bei näherem Zusehen, dass die Sonette aus Venedig eine enge Beziehung zu Goethe unterhalten, wenn auch nicht auf der textuellen Ebene der Italienischen Reise. So knüpft, wie erst jüngst Horst Thomé entdeckt hat,68 ein Platen-Sonett an jene, für prüde Zeitgenossen provozierenden Verse der V. Römischen Elegie an, die von der Fortsetzung des Kunststudiums im Bett der Geliebten handeln: Aber die Nächte hindurch hält Amor mich anders beschäftigt; Werd’ ich auch halb nur gelehrt, bin ich doch doppelt beglückt. Und belehr’ ich mich nicht, indem ich des lieblichen Busens Formen spähe, die Hand leite die Hüfte hinab? Dann versteh’ ich den Marmor erst recht; ich denk und vergleiche, Sehe mit fühlendem Aug’, fühle mit sehender Hand.69

Eine vergleichbare Analogie zwischen dem Kunst- und Naturschönen, dem lebendigem Leib und dem musealen Artefakt, fi ndet sich nun auch in dem nach ursprünglicher Anordnung vorletzten venezianischen Sonett, das, wie man aus den Platenschen Tagebüchern weiß,70 durch die Bekanntschaft mit einem jungen Italiener aus dem Stadtpatriziat inspiriert worden ist: Ich liebe dich, wie jener Formen eine, Die hier in Bildern uns Venedig zeiget: Wie sehr das Herz sich auch nach ihnen neiget, Wir ziehn davon, und wir besitzen keine. Wohl bist du gleich dem schön geformten Steine, Der aber nie dem Piedestal entsteiget, Der selbst Pygmalions Begierden schweiget, Doch sei’s darum, ich bleibe stets der Deine.71

Thomé sieht freilich in Platens Rückgriff auf Goethe eine auf Abgrenzung zielende Kontrafaktur, und das leuchtet auch unmittelbar ein, da es nach Bekunden des lyrischen Ichs unmöglich erscheint, den ästhetischen in sinnlichen Genuss zu über-

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Ausgaben durch das unverfänglichere »Wenn tiefe Schwermut meine Seele wieget« ersetzt werden (SW Bd. 3, S. 189). Weimarer Ausgabe (wie Anm. 10), Abteilung I, Bd. 30, S. 151f. Thomé, Horst: Platens Venedig-Sonette im Hinblick auf die Römischen Elegien Goethes. Überlegungen zum historischen Ort des ›Biedermeier-Ästhetizismus‹. In: Titzmann, Michael (Hg.): Zwischen Goethezeit und Realismus. Wandel und Spezifik in der Phase des Biedermeier. Tübingen 2002, S. 11–38. Weimarer Ausgabe (wie Anm. 10), Abteilung I, Bd. 1, S. 239. 24. Oktober 1824. TB Bd. 2, S. 714. SW Bd. 3, S. 188.

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führen. Die »Begierden« müssen im höheren Interesse der reinen Kontemplation schweigen, und an die Stelle des überschwänglich gefeierten »Liebesglücks« der Römischen Elegien tritt die auf Sublimation sich gründende »Liebesklage.«72 Doch wird diese einsinnige Auslegung den komplexen Textverhältnissen tatsächlich gerecht? Man wird zweifeln dürfen, denn die alludierten Verse, deren Botschaft eine Absage erteilt wird, bleiben ja präsent und verweisen nach der uns schon geläufigen Poetik eines bekennenden Verschweigens auf das geheime Wunschbild einer ganz anders gearteten Liebesrede und Liebespraxis.73 Eine weitere, bislang gänzlich übersehene Goethe-Reminiszenz in Platens Sonett-Zyklus gilt den Venezianischen Epigrammen, einer bis heute wenig geschätzten Sammlung von über 100 Distichen, die auf Goethes zweiten Venedig-Aufenthalt im Jahr 1790 zurückgeht. Der Dichter hatte den Auftrag, die von Süditalien zurückreisende Herzogin Anna Amalia abzuholen und nach Weimar zu begleiten, was er als ausgesprochen lästig empfand. Der Ton der Epigramme entspricht dieser Stimmung, er ist missmutig, kühl, distanziert, bissig, und teilweise so obszön, dass ihr Verfasser bei der Veröffentlichung Selbstzensur üben musste. Aber auch die autorisierten Verse boten für diejenigen, die Anstoß nehmen wollten, noch Anlass genug. Schließlich ist ziemlich unverblümt von den Bordellen der Stadt die Rede und ihren Dirnen, den sogenannten »Lacerten«,74 die eidechsengleich durch die engen Gassen schlüpfen und dem Fremden gegenüber sich nur allzu »geschäftig zeigen«.75 Verstehen wir den Sprecher recht, so weiß er hier zwar Abstand zu halten, doch sieht er sich auch durch die Gauklerin Bettine versucht, ein in seiner Beweglichkeit seltsam molluskenhaftes Wesen von zweifelhafter Identität, halb Kind, halb Erwachsene, halb Mädchen, halb Knabe. Gleichwohl ist Erotik im Spiel, wie aus zwei, allerdings unterdrückten Zeilen eines Bettinen-Epigramms deutlich genug hervorgeht: »und wärst du nur älter,/ wacker wollten wir sein, wach bis zum Krähen des Hahns.»76 In den zu Lebzeiten Goethes veröffentlichten Epigrammen ist die erotische Färbung Bettines schwächer, aber durchaus noch erkennbar, wenn man auf die Nuancen achtet und vor allem auch die eigentümliche Nähe realisiert, die zwischen den folgenden expositorischen Versen und den schon zitierten der V. Römischen Elegie besteht:

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Thomé: Platens Venedig-Sonette (wie Anm. 67), S. 29. Eine solche Lesart entspricht auch dem Ansatz Corbineau-Hoffmanns, die mit sehr überzeugenden Beobachtungen und Argumenten den gesamten Zyklus der platenschen Venedig-Sonette als einen verdeckt geführten Homosexualitätsdiskurs zu deuten versucht. Konstitutiv sei »die nie beschriebene aber mitgemeinte Physiognomie des nicht genannten Geliebten«, und Venedig gewinne erst »dadurch seine Relevanz, daß es, wenngleich in gebrochener und abgewandelter Form, dem Ich erlaubt, das Unerlaubte zum Ausdruck zu bringen.« Corbineau-Hoffmann, Angelika: Paradoxie der Fiktion. Literarische VenedigBilder 1797–1984. Berlin, New York 1992; S. 173 bzw. 175. Epigramme Nr. 67–70. Weimarer Ausgabe (wie Anm. 10), Abteilung I, Bd. 1, S. 323f. Epigramm Nr. 69. Ebd., S. 324. Ebd., Abteilung I, Bd. 5.2, S. 380.

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Müde war ich geworden, nur immer Gemählde zu sehen, Herrliche Schätze der Kunst, wie sie Venedig bewahrt. Denn auch dieser Genuß verlangt Erholung und Muße; Nach lebendigem Reiz suchte mein schmachtender Blick. Gauklerin! da ersah ich in dir zu den Bübchen das Urbild, Wie sie Johannes Bellin reizend mit Flügeln gemahlt.77

Mit »Johannes Bellin« ist Giovanni Bellini gemeint, der bedeutendste Maler der venezianischen Frührenaissance (um 1430–1516), der Mariendarstellungen wie die aus San Giobbe (Abb. 1) oder San Zaccaria (Abb. 2) häufig mit musizierenden Engeln versah. Als Platen sich in Venedig aufhält und die Kunstschätze der Stadt erkundet, ist nun just dieser Giovanni Bellini seine erste große Entdeckung. Auf den Spuren des Malers durchstreift er Kirchen und Klöster und ist stets von Neuem von dessen Gemälden entzückt, unter denen sich freilich aus heutiger Sicht auch einige fragwürdige Zuschreibungen befinden.78 Im Tagebuch rühmt Platen den Glanz von Bellinis Kolorit und neben der Anmut seiner Madonnen vor allem den Liebreiz seiner stets sehr genau beachteten »Engelchen«.79 Dass diese Engelchen dann auch als Wiedergänger in den venezianischen Sonetten begegnen, kann unter solchen Vorzeichen kaum überraschen. Doch so wichtig die aus eigenem Erleben gewonnene Anschauung für dieses Motiv auch sein mag – seine kompositorische Funktion im Rahmen des Zyklus lässt sich nur dann ganz verstehen, wenn man seine literarische Vorprägung durch Goethes Epigramm bedenkt. Denn es ist gewiss kein Zufall, dass Bellinis »Bübchen« auch bei Platen wieder auf den Zusammenhang von Kunstschönem und Naturschönem bezogen sind und als Träger erotischer Schlüsselreize fungieren. Die erste Erwähnung Bellinis erfolgt im vierten venezianischen Sonett. Von Glück beseelt schildert das lyrische Ich, dass es ihm endlich gelungen sei, einen »Freund« zu finden, der im »Taumel« des Stadtlebens Orientierung zu bieten vermag. Dem Lob seiner Eigenschaften sind zwei Strophen gewidmet, aber erst im abschließenden Terzett enthüllt sich dessen wahre Identität – als bewusst inszenierte Pointe: O welch ein Glück, sich ganz dir hinzugeben, Und, wenn es möglich wäre, Jahr’ um Jahre Mit deinen Engeln, Gian Bellin, zu leben.80

Bei dieser scherzhaften Inszenierung des Motivs führt also der Weg vom Leben zur Kunst, doch kann Platen auch die umgekehrte Richtung einschlagen, wie das folgende Terzett zeigt, das den lebendigen Freund anspricht und – vermag das noch

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Epigramm Nr. 36. Ebd., Abteilung I, Bd. 1, S. 316. Zu den kunsthistorischen Details vgl. Schlösser: Platen (wie Anm. 26), Bd. 1, S. 502–506. 6. Oktober 1824. TB Bd. 2, S. 693; vgl. auch 17. September 1824, ebd., S. 675f. SW Bd. 3, S. 178.

Gunnar Och

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Abb. 1: G. Bellini: Pala di San Giobbe. Accademia, Venedig

Ausschnitt

August von Platen und Goethe – Revision eines Vorurteils

Abb. 2: G. Bellini: Sacra Conversacione. San Zaccaria, Venedig

Ausschnitt

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Gunnar Och

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zu überraschen? – jenem Sonett angehört, das zur V. Römischen Elegie in enger Beziehung steht: Dich aber hat Venedig auferzogen, Du bleibst zurück in diesem Himmelreiche, Von allen Engeln Gian Bellins umflogen.81

Dem Gesagten ist fast nichts mehr hinzuzufügen, nur noch der Wortlaut jenes Widmungsschreibens, das die Sonette aus Venedig auf ihrem Weg nach Weimar begleitet. Der Ton scheint konventionell, doch ist man sich bewusst, in welch großer Nähe Platens Verse zu Goethe stehen, so verbietet sich eine naive Lektüre dieser Zeilen von selbst: »Möchten diese Gedichte [...] Farbe genug haben, um Ihnen das Bild jener Stadt wieder vor die Seele zu bringen, in der Sie gewiß Mancherlei gedacht, gefühlt und genossen haben!«82

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SW Bd. 3, S. 188. BW Bd. 4, Nr. 39 (16. Februar 1825), S. 52.

Jürgen Link und Ursula Link-Heer

Hoher Ton und »pessimistische« Gnome bei Leopardi und Platen

Als Platen und Leopardi im August 1834 in Neapel Bekanntschaft miteinander machten,1 konnten sie nur sehr zum Teil ahnen, bis zu welchem für die beiden »Pessimisten« ans Absurde streifenden Grade ihre äußere Existenz parallel laufen würde.2 Beide würden sie relativ jung im Alter von 39 Jahren in Süditalien sterben, und zwar bis auf einen kleinen Abstand von zwei Jahren auch chronologisch parallel: der um zwei Jahre Ältere, Platen, bereits 1835 in Sizilien, der Jüngere, Leopardi, zwei Jahre später in Neapel. Wenn sie über ihre Parallelviten gesprochen haben sollten, müssen sie ferner eine Reihe gemeinsamer Bekannter bzw. Freunde wie Niebuhr, Karl Bunsen3 und Heinrich Wilhelm Schulz4 (der dann die erste deutsche Gesamtdarstellung Leopardis schrieb)5 entdeckt haben oder sogar den Umstand, dass Leopardi über seinen Onkel Carlo Antici mit Platens heimatlichem Hof in München verbunden war, an dem Antici wie Platen als Pagen gedient hatten. Als wichtigster, da für die Lyrik hohen Tons und den Neopindarismus exemplarischer gemeinsamer Bezugspunkt in München muss schließlich der bedeutende Gräzist

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Es werden folgende Abkürzungen bzw. Siglen verwendet, wobei römische Ziffern den Band und arabische die Seiten angeben. Zu Leopardi: L, GDZ = Leopardi, Giacomo: Gesänge Dialoge und andere Lehrstücke Zibaldone. Aus dem Italienischen von Hanno Helbling und Alice Vollenweider. Neuauflage in einem Band. Düsseldorf/Zürich (Artemis & Winkler) 1998. – Wir zitieren die Canti / Gesänge nach dieser zweisprachigen Ausgabe, die eine rasche Auffindung der Übersetzung ins Deutsche ermöglicht. L, TLO = Leopardi, Giacomo: Tutte le opere. Con introduzione e a cura di Walter Binni con la collaborazione di Enrico Ghidetti. 2 Bde. Firenze (Sansoni) 1976. Band II enthält ausschließlich den Zibaldone di pensieri. Platens Leopardi-Porträt findet sich unter der Eintragung vom 5. September 1834. TB Bd. 2, S. 962ff. Vgl. zum folgenden die beiden maßgeblichen neuen Biografien von Damiani, Rolando: Vita di Leopardi. Milano (Mondadori) 1992 und Bumm, Peter: August Graf von Platen. Eine Biographie. Paderborn u. a. (Schöningh) 1990. Dazu Rheinfelder, Hans: Ein italienischer Dichter und ein deutscher Diplomat (Leopardi und Bunsen). In: Ders.: Philologische Schatzgräbereien. Gesammelte Aufsätze. Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 1968, S. 324–346 sowie Poehlmann, Heidemarie: Leopardi e gli scrittori tedeschi del suo tempo. Ravenna (Longo) 2003, S. 25ff. TB Bd. 2, S. 963. Poehlmann: Leopardi (wie Anm. 3), S. 36ff.

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Friedrich Thiersch erwähnt werden, dem Leopardi 1823 in Rom begegnete, während Platen bei Münchenaufenthalten regelrechtes Mitglied seines Zirkels war. Beide waren sie verarmte Grafen, die mit höchster Ambition eine Lyrik des hohen Tons erstrebten, von der sie unter Marktbedingungen des 19. Jahrhunderts nicht leben konnten, also häufig an den Rand des Elends und eines schamvollen Bettelns gerieten. Beide waren politisch radikal antiklerikal und im weiteren Sinne liberal eingestellt, und beide litten unter der in mehrfachem Sinne »zensierten« Atmosphäre der Restauration in ihren territorial zerspalteten Heimatländern, wobei Platen Italien sozusagen als sein zweites Heimatland zusätzlich zu Deutschland adoptiert hatte. Unter bereits für die Lyrik relevanteren Aspekten waren beide seit ihrer Kindheit schwindelerregende Vielleser und Kenner vieler Sprachen – Leopardi mehr gelehrt-philologisch, Platen außerdem auch praktisch: Die Fähigkeit der sprachlichen und stilistischen Einfühlung war staunenswert. Latein, Griechisch und Italienisch in allen Zeitstilen und Tonarten schreiben zu können, war freilich eine gefährliche Errungenschaft und konnte ihn leicht zum Relativismus des Geschmackes sowohl wie des kritischen Urteils verführen. Bald waren die Franzosen der Aufklärung, bald die Griechen und Lateiner der Spätzeit, bald die Italiener des Trecento und Cinquecento und die archaisierenden Puristen der Gegenwart seine Vorbilder. Wir wollen dieses sattsam bekannte Schwanken seines beweglichen Geistes im Einzelnen nicht verfolgen. Er selbst hat es beobachtet und beschrieben. »Wenn ich,« sagt er mit Bezug auf die Jahre vor 1820, »den Tag über eine Zeitlang Griechisch oder Latein gelesen hatte, pflegte ich am andern Morgen mit einer Reihe von Sätzen aus jenen Sprachen im Kopfe aufzuwachen, gleichsam im Selbstgespräche der Sprachen mit mir begriffen.« Den Vorzug seines Geistes erblickte er in der Leichtigkeit der Einfühlung und Eingewöhnung, in der Fähigkeit, durch Lesen eines Gedichtes gleich Dichter, eines Logikers gleich Logiker zu werden, in Berührung mit einem Denker sich dessen Habitus noch an demselben Tage anzugewöhnen, einen Stil sofort oder rasch nachahmen oder eine Manier, sobald ihm gut schien, sich beilegen zu können.6

Was Karl Vossler hier über Leopardi sagt, könnte – unter Austausch von Kleinigkeiten – wiederum fast bis auf die reale historische Chronologie von 1820 – auch von Platen gelten, wobei der Kern dieser Aussage die geniale Fähigkeit zum Pastiche hervorhebt.7 Beide interessierten sich – über die bloße, in Übersetzungen und Pastiches konkretisierte Kenntnis vieler Sprachen hinaus – auch theoretisch für Strukturen der Sprache allgemein und einzelner Sprachen im Besonderen, also für die Lin-

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Vossler, Karl: Leopardi. München (Musarion) 1923, S. 85f. – Für die Selbstaussagen Leopardis bezieht Vossler sich auf den Zibaldone. Diese Fähigkeit hebt Karlheinz Stierle bei Leopardi hervor: Stierle, Karlheinz: Nachwort. In: Giacomo Leopardi: Gesänge Dialoge und andere Lehrstücke Zibaldone. it. und dt. Neuaufl. Düsseldorf (Artemis & Winkler) 1998, S. 871–896. Hier S. 872f. (u. a. Anakreonteen-Pastiches). Platen verband sein Erlernen der romanischen Sprachen üblicherweise mit Gedicht-Pastiches im Tagebuch.

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guistik. Bei Leopardi ging das bis zu ernsthaften wissenschaftlichen Beiträgen zur Altphilologie,8 zur Etymologie und zur vergleichenden Sprachwissenschaft im Sinne des neuen historizistischen Paradigmas, wie Foucault es beschrieben hat. So erkannte er etwa mit sicherem Blick indoeuropäische Sprachverwandtschaften, besonders zwischen dem Griechischen und Lateinischen, und gehörte zu den ersten, die in großem Umfang vulgärlateinische Vorstufen der romanischen Sprachen rekonstruierten. Wenn in den Darstellungen von Leopardis literarischer Sozialisation in der Regel eine Art von stilistischem ›Rückstand‹ Italiens allgemein und Recanatis insbesondere gegenüber den Entwicklungen in England und Deutschland konstatiert wird, so gilt für den Süddeutschen Platen – ebenfalls familiär verstärkt, wobei Platens Mutter eine ähnliche geschmackskonservative Rolle spielte wie Leopardis Vater – eine ganz analoge historische Dephasierung: Beide Kinder und Jugendliche lasen zunächst eine von der französischen Aufklärung zwischen Voltaire und Rousseau geprägte Literatur, einschließlich einer Lyrik, die man in Italien unter »Illuminismo« und »Classicismo« fasst,9 wobei aber jenes arkadisch-bukolische Element um das Genre der Idylle dominierte, das man seit geraumer Zeit mit dem Begriff des Rokoko zu spezifizieren sucht.10 Ähnliche antike Modelle zwischen Anakreon und den Anakreonteen sowie Theokrit und Moschos – und ähnliche Modelle aus der Zeit der Renaissance wie Guarinis Pastor fido, einem von Platens Lieblingstexten, oder wie Tassos Aminta und nicht zuletzt Metastasio.11 Beide jungen Lyriker waren schließlich von Gessners sentimental aktualisierten Schweizer Idyllen geradezu verzaubert.12 Aus dieser sozusagen ›retardierten‹ literarischen Sozialisation ergaben sich dann bei beiden Dichtern auffällige Interferenzen zwischen dem Erbe der Herkunft und den seit der Pubertät zusätzlich erlernten um 1815 und 1820 in ganz Europa ›modernen‹ Tönen, die sowohl in der Platen- wie in der Leopardi-Forschung zu den bekannten so end- wie fruchtlosen Debatten über »Klassizismus oder Romantik«13 führten.

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Vgl. zu Leopardis philologischen Arbeiten und seinen Übertragungen antiker Dichtung Scheel, Hans Ludwig: Leopardi und die Antike. München (Max Hueber) 1959. Vgl. das Standardwerk von Timpanaro, Sebastiano: Classicismo e illuminismo nell’ Ottocento italiano. Pisa 1984². Leopardis Vater spielte mit dem kleinen Sohn Schäferspiele nach »Aminta«-Szenarien, wobei der Kleine als »Batillo« verkleidet wurde (Damiani: Leopardi [wie Anm. 2], S. 75) – Platen würde Schmidtlein poetisch als »Bathyll« verkleiden. Vgl. Vossler: Leopardi (wie Anm. 6), S. 249ff. Vgl. ebd., S. 275f. Vgl. u. a. Fasano, Pino: L’entusiasmo della ragione. Il romantico e l’antico nell’esperienza leopardiana. Roma (Bulzoni) 1985. Zur wesenhaften Modernität des leopardischen Klassizismus Stierle: Nachwort (wie Anm.7), S. 882ff. Zu Platens Stellung jenseits von deutscher ›Klassik‹ und ›Romantik‹ s. Link, Jürgen: Artistische Form und ästhetischer Sinn in Platens Lyrik. München (Fink) 1971, S. 124ff.

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Schließlich bleibt noch eine weitere, in beiden Fällen für die Forschung grundlegend wichtige, Übereinstimmung zu erwähnen: Beide Autoren waren geradezu fanatische Tagebuchschreiber – beide hinterließen Tausende von Seiten Tagebuch, woraus u. a. ihre jeweiligen Lektüren zu entnehmen sind. Beide Tagebücher – eine weitere ans Absurde streifende Koinzidenz – konnten wegen skandalöser Inhalte (allerdings bekanntlich sehr verschiedenen Typs, worauf später einzugehen sein wird) erst mit nahezu gleichzeitiger Verspätung um 1900 (Platens 1896 und 1900, Leopardis 1898 bis 1900) publiziert werden.14 * Angesichts dieser auf den ersten Blick erstaunlich anmutenden Parallelen kann es zusätzlich erstaunen, dass es unseres Wissens bisher keine systematisch vergleichende Studie gibt.15 Dieser Umstand kann nicht in erster Linie der immer und unbedingt zu beherzigenden Warnung »comparaison n’est pas raison« geschuldet sein, weil sowohl die Platen- wie die Leopardi-Literatur von zuweilen eher anachronistischen Vergleichen wimmelt.16 Vielmehr dürfte eine Art von Intuition eine solche vergleichende Lektüre verhindert haben: Besteht nicht zwischen dem Welt- und Jahrhundertgenie Leopardi und dem lange Zeit, wenn auch zu Unrecht, weitgehend als poeta minor und Epigone behandelten Platen ein zu großer Qualitätsabstand? Symptomatisch ist die häufige Analogisierung Leopardis mit Hölderlin17 statt mit Platen – wofür es, wie wir sehen werden, in der Tat sehr gute Gründe gibt. Unbestreitbar ist zunächst der Abstand in der wiederum für beide Dichter konstitutiven philosophischen – oder sagen wir allgemeiner: denkerischen – Dimension. Während Leopardi als Denker in einem Atem mit Schopenhauer und Nietzsche genannt und von Karl Heinz Bohrer neuerdings sogar über diese Meisterdenker gestellt wird,18

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Der Zibaldone (häufig als ›Sammelsurium‹ übersetzt) besteht aus 4526 Manuskriptseiten. Die Erstausgabe wurde anlässlich der Hundertjahrfeier von Leopardis Geburtstag von einer Kommission unter dem Vorsitz Giosuè Carduccis in sieben Bänden im Florentiner Verlag Le Monnier herausgegeben. – Der 1827 von Leopardi bei seiner Erstellung der Indices notierte Titel Zibaldone di pensieri wurde erst in der Ausgabe von Francesco Flora (1937) verwendet. Von daher auch die Bezeichnung »Gedankenbuch« für dieses Tagebuch eigenen Typs. Zur Überlieferungsgeschichte und komplexen Gattungsbestimmung vgl. Steinkamp, Volker: Giacomo Leopardis »Zibaldone«. Von einer Kritik der Aufklärung zu einer »Philosophie des Scheins«. Frankfurt a. M, Bern, New York, Paris 1991. Lediglich die Daten der biographischen Begegnung werden resümiert bei Poehlmann: Leopardi (wie Anm. 3), S. 30f. Ergiebiger: Bumm: Platen (wie Anm. 2), bes. Kap. 48 – 50. So vergleicht Herbert Cysarz Platen mit »Baudelaire, Mallarmé, Valéry [...], Browning, Swinburne [...], George« (Cysarz, Herbert: Antikisierende Dichtung. In: Reallexikon Bd. 1, S. 92). So schon ausführlich im Eingangskapitel von Vossler: Leopardi (wie Anm. 6), (allerdings mit einem völlig antiquierten Hölderlinbild); s. ferner Stierle: Nachwort (wie Anm. 7), S. 883: Hölderlin, Leopardi und Baudelaire als die drei »großen Dichter eines modernen Klassizismus aus dem Geist der Entfremdung«. Bohrer, Karl Heinz: Ästhetische Negativität. München/Wien (Hanser) 2002. Ähnlich be-

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wird Platens implizites Denken zwar ebenfalls mit Schopenhauer korreliert,19 aber als Resultat einer Interpretation impliziter Aussagen, die sich nicht auf einen expliziten philosophischen Diskurs wie bei Leopardi stützen kann. Insofern muss die Spezifizierung des platenschen »Pessimismus« noch prekärer bleiben als die desjenigen Leopardis: Wenn bei diesem eine originelle Version von an die Antike und an die radikale französische Aufklärung anschließendem Materialismus evident ist, sind Platens – auch er kannte allerdings durchaus die französischen Materialisten – letzte diesbezügliche Überzeugungen nur indirekt zu erschließen – wie etwa aus zwei Strophen der Ode XVII »an August Kopisch«:20 Mein Leben mag Frucht bringen, es mag Wie die Knospe herb abfallen im Lenz: Er verhängt’s, welcher dem Aug unbekannt Wirft des Geschicks blutigen Pfeil. Mag Unverstand mich richten und Haß In dem Land, wo Teuts Ursprache geblüht, Bleiben wird, Jahre hindurch, meines Lieds Echo, bis auch dieses entschwebt.

Von irgendeiner Transzendenz kann hier keine Rede sein: Zuerst stirbt der Dichter, und dann sogar sein Gedicht; die Instanz, die die Pfeile des Schicksals abschießt mit ihrer griechisch-mythischen Konnotation, ist ebenfalls offensichtlich als immanentes Spiel ateleologischer Naturgesetze (also durchaus ähnlich mit Leopardis Materialismus) zu lesen. Wie andernorts ausgeführt ist,21 lässt sich aus der teleologischen Aufgabe, die Platen seinem Gesang stellte (nämlich der sinnlosen Geschichte formale Sinnstrukturen aufzuprägen), indirekt schließen, dass er die Geschichte als solche für einen absurden Prozess ohne Telos hielt. Wie er in der ersten Strophe seines letzten, vom Tod abgebrochenen Hymnus formulierte: Die Welt ist, o Freund, ein Gedicht: Drum klagt der befangene Mensch umsonst der Vorsicht Launen an: Er sieht des Unrechts Triumphbogen aufbaun, Und liegen im Staube der Edlen Haupt; Er gewahrt des Kriegs unermeßliches Ungetüm und in seinem Gefolge der Seuchen Heer und der Krankheiten zahllose Brut. Sodann mit dürftigem Maßstabe, meistert er Die großartigen Bruchstücke des Heldenlieds.22

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reits – wenn auch in anders deutendem Rahmen – Severino, Emanuele: Il nulla e la poesia. Alla fine dell’età della tecnica: Leopardi. Milano (Rizzoli) 1990. s. Link: Artistische Form (wie Anm. 13), S. 191, 204, 235, 241 passim. W S. 472f. Link: Artistische Form (wie Anm. 13), S. 187ff. W S. 530.

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Das bezieht sich zunächst auf Homer, als pars pro toto aber auf alle menschliche Geschichte: Diese Geschichte liefert sinnlose Ruinen und Fragmente, aus denen der Dichter hohen Tons einen immanent harmonischen Gesang fugen und fügen muss. Der düstere realistische und tendenziell materialistische Fundus ist also bei Platen und bei Leopardi analog – ähnlich wie die Verabsolutierung der Kunst und besonders der Poesie als allein noch verbleibenden Sinnpotentials nach der großen Desillusion gegenüber allen metaphysischen Sinngebungen. Symptomatisch dafür sind jene Deutungen, die in beiden Fällen eine Antizipation des radikalen Ästhetizismus und des l’art pour l’art postulieren. Und tatsächlich ist auch die Funktionsbestimmung der Poesie bei Leopardi und Platen insgesamt durchaus ähnlich, wenn auch wiederum ein großer Unterschied im Grad an Explizitheit der philosophischen Begründung besteht. Leopardi begründet den höchsten Rang der Poesie geschichtsphilosophisch: Die wissenschaftlich-materialistische Einsicht in die Wertlosigkeit der Welt hat die zum Leben und zur Intensität des Lebens in »entusiasmo« und »passione« notwendigen »illusioni« zerstört, und nur die Poesie kann kompensierend das Kunststück zustande bringen, noch aus dem Verlust der illusioni neue Intensitäten zu erzeugen. Konkret entspricht diesem Konzept der Canto im melancholisch-enthusiastischen hohen Ton. Es ist dieser Ton mit seinem Rhythmus, der im mehrfachen Sinne des Wortes ›trägt‹ – sogar über die Einsicht in die metaphysische Sinnlosigkeit der Welt und des Lebens. Bei Platen fehlt eine solche explizite Geschichtsphilosophie, aber konkret sieht auch er eine »tröstende« Funktion der Kunst für das Leben: Was tröstete die Seele? Nur des Gesangs Allmählich wachsende süße Meisterschaft, Und dein Anblick verleihe Trost, Natur! Hier in das Gras gestreckt mit dem Auge schwelg ich: Schon schläft gebändiget die stahlglatte Salzflut [...].23

Das ist die gleiche Situation des lyrischen Ich wie die am Schluss des Canto »Aspasia«: Già del fato mortale a me bastante È conforto e vendetta è che su l’erba Qui neghittoso immobile giacendo Il mar la terra e il ciel miro e sorrido.24

Wenn also nicht bloß in Biographie, literarischer Sozialisation und Mentalität, sondern auch in der Konzeption von Poesie eine erstaunliche Nähe besteht, so weicht aber umso mehr die poetische Praxis, der wir uns nun zuwenden möchten, signifikant voneinander ab. Doch auch hier ist zunächst eine sehr enge Verwandtschaft

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W S. 525. L, CF, S. 200.

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des Projekts zu konstatieren: eben die Präferenz für eine Lyrik des hohen Tons. Bei Platen wird sie zu einem stufenweisen, chronologischen Steigerungsprogramm, das er geradezu pedantisch zu realisieren versuchte: Mich des Hochmuts zeihen die meisten, und doch War keiner so bescheiden, weil ich langsam Hob der Fittige Schwung, und spät erst die kunstreichste Form ergriff.25

Damit meint Platen die stufenweise ›Erhöhung‹ des Tons seiner Lyrik von den anakreontischen Ghaselen über die Sonette und die (horazischen) Oden bis schließlich zu den Hymnen oder, wie er verdeutscht, »Festgesängen«, mit denen der ›höchste‹ Ton erreicht ist.26 Dieser ›höchste‹ Ton ist nun in der Tradition fest verbunden mit den Namen Pindar und (Pseudo-)Longin27 – und wiederum haben wir es zunächst mit einer völligen Parallelität dieses Traditionshintergrunds bei unseren beiden Dichtern zu tun. Für Leopardi hat Karl Maurer im Einzelnen dargestellt,28 wie auch er verschiedene Stufen auf der symbolisch vertikalen Leiter der Tradition betritt: ›niedrigere‹ bzw. ›mittlere‹ Genres wie die Idylle neben den ›hohen‹ wie Ode und Hymne. Die Metaphorik einer vertikalen Steigerung teilt Leopardi mit Platen: Sie geht auf die Pindar-Ode des Horaz (Buch IV, S. 2) zurück, in der Pindar als die Ufer (die metrische Regelhaftigkeit) überspülender Bergstrom und Horaz selbst als Sänger schlichterer, metrisch geregelter Lieder – topisch als ›hoch‹ vs. ›mittig‹ – symbolisiert werden. Diese Höhentopik erstreckt sich bei dem Dichter aus Recanati sogar auf das gesamte Spektrum der Sprache: So heißt es in einer seiner bekanntlich von Kulturnationalismus nicht freien Polemiken gegen das, was er an französischer poetischer Sprache kannte (eben den Ton Voltaires): e quindi non potendo assolutamente elevarsi al disopra del parlar comune. Quindi lo stile della poesia francese non si diversifica (...) dal discorso giornaliero e della prosa; e talvolta è propriamente ridicolo a vedere immagini e sentenze e affetti sublimi, e rimoti o dall’opinione o dall’uso volgare, e superiore al comune modo ec. di pensare, espressi nei versi francesi al modo che si esprimerebbe una dimostrazione geometrica, o si direbbe une facezia in conversazione […].29

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W S. 529. Vgl. die ausführliche Darstellung bei Link, Jürgen: Nachwort zu W sowie die dortigen Kommentare zu den einzelnen Genres. Hýpsos wird in der Regel mit »Sublime« bzw. »Erhabenes« übersetzt, woran sich ein eigener riesiger Kontinent von Literatur anschließt, auf den wir hier nicht eingehen. Statt dessen beschränken wir uns auf die pindarische Dimension des Longin-Traktats. Zum »Sublime« im Anschluss an Edmund Burke bei Leopardi vgl. Pupino, Angelo / Sirri, Raffaele: Ultimi canti del Leopardi. Napoli (De Simone) 1988, S. 240ff. Maurer, Karl: Giacomo Leopardis »Canti« und die Auflösung der lyrischen Genera. Frankfurt/Main (Klostermann) 1957. Leopardi, Giacomo: Tutte le opere. A cura di Walter Binni. Vol. II (Zibaldone). Firenze (Sansoni) 1976, S. 498.

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Dem liegt eine den Strukturalismus antizipierende Theorie der poetischen Sprache zugrunde, deren ›Höhe‹ und ›Sublimität‹ durch eine deutliche Differenzierung gegenüber der – metaphorisch ›niedrigen‹ – Prosa und vor allem Konversationsprosa konstituiert sei. Den Gipfel dieser vertikalen Skala bildet die Lyrik hohen Tons: »La lirica si può chiamare la cima il colmo la sommità della poesia.«30 Aber im Unterschied zu Platen hat Leopardi dabei keine chronologische Diachronie der Steigerung im Kopf, sondern integriert die Genres in eine ideale Synchronie, für die er dann den eigenen Begriff der »Canti« einführt. Auffälligerweise hat Leopardi lediglich das Sonett (trotz oder wegen seiner großen Tradition in Italien) verworfen – sicherlich nicht wegen seiner symbolischen ›Mittelhöhe‹, sondern wegen seiner Kürze und seiner extrem präzisen formalen Vorgaben. Während alle anderen Genres (einschließlich der Idylle und der Elegie)31 in die »Canti« integriert werden konnten, wäre das beim Sonett unmöglich gewesen.32 Wenn es so etwas wie einen Prototyp des »Canto« gibt, dann geht er von der Canzone Petrarcas aus,33 in der Leopardi offensichtlich so etwas wie die Vorstufe zu einer genuin italienischen Spielart der pindarischen Hymne erblickte, wie er selbst sie dann in den großen Canti geschaffen hat.34 Das Modell Pindar, ergänzt durch Longin, ist sowohl bei Platen wie bei Leopardi absolut fundamental: Es geht in beiden Fällen um den Versuch, eine moderne pindarische Hymne zu schaffen (wie bereits zuvor auch bei Hölderlin, was aber den

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Vgl. Maurer: Leopardis »Canti« (wie Anm. 28), S. 70. Maurer vertritt die These, dass die metaphorische Vertikalität sich grosso modo längs einer Achse vom dominant ›Objektiven‹ (»gegenständlichen«) zum dominant ›Subjektiven‹ bewege (S. 128). Dazu ebd., S. 17ff.; Stierle: Nachwort (wie Anm. 7), S. 888f. bezeichnet die Canti-Idilli wegen ihrer modernen Neukonstitution als »Anti-Idyllen«. Das ließe sich genauer erhärten, wenn man Leopardis Sonette – in der Ausgabe von Binni unter den Rubriken »Poesie varie« und »Puerilia« subsumiert – einer eingehenden Analyse unterzöge. Die erste von Leopardi besorgte Ausgabe von zehn Canti trug noch den Titel Canzoni del Conte Giacomo Leopardi (Bologna 1824); in seinen Annotazioni zu dieser Ausgabe betont Leopardi jedoch seine Originalität (»Sono dieci Canzoni, e più di dieci stravaganze.«) in neun Punkten; der zweite Punkt bezieht sich direkt auf Petrarca: »Secondo: non tutte e non in tutto sono di stile petrarchesco.« (L, TLO I, S. 56). Unter Punkt vier dieser Annotazioni bezieht Leopardi sich auf Pindar, ebenfalls in der Form einer Negation (vgl. dazu unten). – Zur Vorbildrolle Petrarcas für Leopardi vgl. ausführlich Stierle, Karlheinz: Francesco Petrarca. Ein Intellektueller im Europa des 14. Jahrhunderts. München und Wien (Hanser) 2003, S. 815–822. Maurer: Leopardis »Canti« (wie Anm. 28) widmet der aus seiner Sicht noch näher an Petrarca angelehnten und noch nicht mit einem eigentlichen »Canto« identischen »CanzoneOde« ein eigenes Kapitel (S. 161ff.). Das erscheint uns wenig plausibel, zumal Leopardi bereits in dem frühen Discorso di un italiano intorno alla poesia romantica die von Petrarca ausgehenden Canzoni »trionfali« mit Oden, Hymnen und »Canti« zusammenfasst: »dunque non ci saranno epopee, non canzoni trionfali, non inni non odi non canti di nessuna sorte se non patetici?« (L, TLO I, S. 999). »Pathetisch« meint im Kontext emphatisch die schwarze Horror-Romantik.

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beiden hier betrachteten Lyrikern unbekannt war).35 Wiederum erstaunt es, dass es in der so immensen Leopardi-Literatur keine systematische Monographie zum Modell Pindar zu geben scheint.36 Platen kannte Pindar seit seiner Jugend als Inbegriff des ›höchsten Tons‹. Er nahm ihn dann in seiner letzten Phase, als er begann, eine eigene Sammlung von pindarischen Hymnen zu schreiben, nochmals intensiv zur Hand.37 Leopardi erwähnt Pindar ebenfalls selbstverständlich als Modell einer Lyrik hohen Tons. In einer kulturnationalistischen Polemik, die sich diesmal gegen die deutsche, angeblich übersystematische Philosophie und Literatur richtet, wird Pindar emphatisch als positiver Gegenpol angeführt, der aber auch einige deutsche Ausnahmepoeten (vermutlich Klopstock) inspiriert habe: Chi non sa quali altissime verità sia capace di scoprire e manifestare il vero poeta lirico, vale a dire l’uomo infiammato del più pazzo fuoco, l’uomo de cui anima è in totale disordine, l’uomo posto in uno stato di vigor febbrile e straordinario (principalmente, anzi quasi indispensabilmente corporale) e quasi di ubbriachezza? Pindaro ne può essere un esempio: ed anche alcuni lirici tedeschi ed inglesi abbandonati veramente, che di rado avviene, all’impeto di una viva fantasia e sentimento.38

In seinem ersten großen Canto All’Italia sind die Siegeslieder des Simonides, des direkten Fortsetzers Pindars, ein explizit zitiertes Modell. Wie intensiv ihm die pindarische Hymne ständig als Modell und Ziel vor Augen gestanden haben muss, das zeigt zweifelsfrei der Canto A un vincitore nel pallone von 1821, der selbstverständlich nicht mehr und nicht weniger als eine moderne Spielart pindarischer Olympiahymnen erstrebt.39 In diesem Zusammenhang ist es äußerst aufschlussreich, dass Leopardi in seinen Annotazioni alle dieci canzoni stampate a Bologna nel 1824, in denen er neun Gründe für die Originalität seiner Canti anführt, eigens betont, es handle sich nicht um eine Imitation Pindars (»non è un’imitazione di Pindaro«).40 Nach Antonio Rossini, der das Zitat in seinem Kontext liest, distanziert sich Leopardi damit auch von den Siegeroden des von ihm geschätzten Gabriello Cabriera,

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Es bleibt ein Rätsel, dass Waiblinger trotz seines jahrelangen engen Kontakts mit Platen in Rom diesem nicht über Hölderlin berichtet haben sollte. Jedenfalls wird Hölderlin in Platens Tagebuch nie erwähnt. Kurze Erwähnungen bei Maurer: Leopardis »Canti« (wie Anm. 28), S. 141 und in den Beiträgen Leopardi e il mondo antico. Atti del V Convegno Internazionale di studi leopardiani (Recanati 22–25 settembre 1980). Firenze (Olschki) 1982. Eingehendere Analysen findet man im Zusammenhang des Canto »A un vincitore del pallone«, so bei LohmannBormet, Claudia: Leopardis Canti im Kontext zeitgenössischer Lyrikpraxis und Poetik. München 1996 (Inaugural-Dissertation), S. 150ff., und bei Antonio Rossini: Pindaro (wie Anm. 41). TB Bd. 2, S. 972. L, TLO II, S. 507. Leopardi führt hier – unter Punkt vier – auch noch weitere Canzoni als Beispiele dafür an, dass sich ihr Sujet aus dem Titel nicht erraten lasse. Vgl. schon Vossler: Leopardi (wie Anm. 6), S. 306. Annotazioni, L, TLO I, S. 56.

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die die Manier Pindars fortsetzen: die neue Sujetfügung, so Rossini treffend, liege nicht mehr in der Manier oder Imitation, »ma in una originale rinascita dello stile sublime di matrice classica.«41 * Es sei zunächst versucht, hypothetisch einige Strukturmerkmale der pindarischen Hymne zu exponieren, auf denen die Faszinationskraft des Modells für eine spezifisch moderne Lyrik hohen Tons beruht haben dürfte. Da war zunächst der Umstand, dass dieses Genre neben vielen anderen Eigenschaften ein Genre des Wissens und der Reflexion, zugespitzt gesagt: ein ›philosophisches‹ Genre ist. Bei Pindar handelte es sich um Wissen über Natur und Gesellschaft, insbesondere Genealogie und Mythologie. Die Wissenskomponente der pindarischen Struktur kondensiert sich in den Gnomai, also in häufig lakonischen einzelnen Versen und Sentenzen. Dass Platen bewusst mit solchen Gnomai arbeitet, ist evident – als Beispiel seien die Eingangsverse der Hymne An Hermann Schütz angeführt: Verächtlich ist des Kleinlichen Eitelkeit, Nicht aber des Edlen Stolz: Erhabenes ist schwer zu verbergen: Die Ratte jedoch kreucht in jedweden Spalt.42

Der Wechsel zwischen Narrativen (etwa mythischen oder genealogischen Typs) und Gnomai verstärkt den Eindruck von Sprunghaftigkeit des Ablaufs, ja furor poeticus, von Boileau im Anschluss an Horaz als »beau désordre« kanonisiert. Der »harten Fügung« im Rhythmus und der »Parataxis« der syntaktischen Ordnung entspricht also auf der semantischen Ebene eine »harte Fügung« auch der Wissenselemente, worin sich eine spezifisch lyrische Form des Interdiskurses erweist. Dabei spielen die Gnomai eine der rhythmischen Zäsur analoge semantische Rolle. Der strukturelle Punkt, an dem Platen und Leopardi nun am genauesten zu konvergieren scheinen und dann aber aufs entschiedenste divergieren, ist die zeittypische, »pessimistische« oder »nihilistische«,43 »ästhetisch negative«, wie Bohrer sagt, Füllung der pindarischen Gnome. Zunächst einige Beispiele bei beiden Autoren: Mai non veder la luce Era, credo, il miglior.44

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Rossini, Antonio: ›Non è un imitazione di Pindaro.‹ Alcune osservazioni sull’ode ›A un vincitore nel pallone.‹ In: Rivista di studi italiani. Bd. 16/2 (1998), S. 497–509. Zitat: S. 505. W S. 526. Vgl. dazu Vossler: Leopardi (wie Anm. 6), S. 120ff.; Scheel, Hans Ludwig: Positionen der Hoffnungslosigkeit und der Hoffnung im ›poetischen Nihilismus‹ der deutschen Romantik und bei Giocamo Leopardi. In: Italienisches Kulturinstitut Stuttgart (Hg.): Leopardi und der Geist der Moderne. Akten des deutsch-italienischen Kolloquiums Stuttgart 10. und 11. November 1989. Tübingen (Stauffenberg) 1993, S. 143–159. (Insbesondere mit einer Parallele Leopardi-Büchner und einer Parallele Leopardi-Bonaventura, d. h. Klingemann; Platen wird nicht erwähnt.) L, CF, S. 202.

Hoher Ton und »pessimistische« Gnome bei Leopardi und Platen

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Diese Gnome stammt direkt aus dem Griechischen, und Platen hat sie ebenfalls in der Ode XXXII (»Aus einem Chor des Sophokles«) verwendet: Nicht gezeugt sein, wäre das beste Schicksal, Oder doch früh sterben in zarter Kindheit: 45 Ma la vita mortal, poi che la bella Giovinezza sparì, non si colora D’altra luce giammai, nè d’altra aurora.46

Hier ist die Gnome durch eine symbolische Mehrdeutigkeit (»vago«) verstärkt, weil sie den Gegensatz gegen das vorangehende Bild vom Untergang der Sonne bildet, die aber gleichzeitig an anderer Stelle wieder aufgeht. Non val cosa nessuna I muoti tuoi, nè di sospiri è degna La terra. Amaro è noia La vita, altro mai nulla; e fango è il mondo.47

Neopindarisch ist der ›Lakonismus‹ und die wie ein letztinstanzliches Gerichtsurteil klingende Endgültigkeit des Tons dieses irrefutablen Wissens. Nicht bloß oberflächlich thematisch, sondern durchaus philosophisch im weiteren Sinne herrscht demnach zunächst Konvergenz. Die erste Stufe der »ästhetischen Negativität« ist bei beiden eine, wie ebenfalls Bohrer für Leopardi konstatiert, durchaus »existenzielle« Radikalisierung des in der Restauration zeittypischen »Ennui«: »noia«, »tedio«, »Langeweile«. Die Divergenzen liegen in der jeweiligen rhythmischen Funktion der pessimistischen Gnome im engen und weiteren Sinne. Bei Platen tendiert diese Gnome zu einer pointierenden Position, zur ›Platen-Pointe‹. Am deutlichsten zeigt sich das bereits, dem Genre entsprechend, in den Sonetten. Exemplarisch dafür sei das Schlussterzett des Sonetts LVII angeführt: Drum selig Alle, die den Tod erbaten, Ihr Sehnen ward gestillt, ihr Flehn erhöret, Denn jedes Herz zerhackt zuletzt ein Spaten.48

Um die Gewalt dieser grässlichen, mit deutlicher Konnotation von ›Kastration‹ aufgeladenen, in einer Unterstimme schon wieder ›tragi-grotesken‹, Phantasie ganz zu ermessen, genüge es zu konstatieren, dass der »Spaten« sehr deutlich auf den Namen des Autors reimt.

45 46 47 48

W S. 485. L, CF, S. 232. Ebd., S. 192. W S. 397.

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Jürgen Link und Ursula Link-Heer

Dass es Platen zuweilen auch gelang, die reimlose horazische Ode von der inneren Form her auf eine sehr intensive Platen-Pointe hin zu steigern und dabei den rhythmischen Elan zu wahren, zeigt die Ode VIII (Lebensstimmung). In sechs als direkte Rede einer anonymen Stimme markierten Strophen steigert sich zunächst die ›Stimmung‹ eines verzweifelten Ennui. In der (siebten) Schlussstrophe antwortet darauf die ebenfalls anonymisierte Stimme des lyrischen Ich: Ob zwei Seelen es gibt, welche sich ganz verstehn? Wer antwortet? Der Mensch forsche dem Rätsel nach, Gleichstimmige Menschen suchend, Bis er stirbt, bis er sucht und stirbt.49

Das Motiv der »Gleichstimmigkeit« wird im Folgenden im Kontext der Faszinationskomplexe des Spiegels noch einmal aufzunehmen sein. In Platens Hymnen lässt sich nun beobachten, wie sie mit immer mehr Gnomai durchsetzt werden, so dass der übergreifende Rhythmus fast ganz in das Nacheinander von Lakonismen verrinnt. Die von Adorno am Beispiel Hölderlin klassisch beschriebene neopindarische »Parataxis«, die bei Hölderlin und Leopardi wesentlich Bewegung ist, tendiert bei Platen zu einer Art quasi-architektonischem Nebeneinander. Ein Beispiel dafür ist die Hymne An die Herzogin von Leuchtenberg, d. h. die schöne Amalie Auguste von Wittelsbach, sozusagen die bayerische Königin Luise, die zur Absicherung der Bindung Bayerns an Napoleon mit dessen Stiefsohn Eugène Beauharnais verheiratet wurde, der wiederum zum Vizekönig von Italien gemacht wurde, so dass Platens Luise eine Zeitlang, das heißt bis Waterloo, Königin von Italien war.50 In dieser Hymne wird unter vielen anderen auch die oben erwähnte sophokleische Gnome ›eingebaut‹, wie man durchaus sagen kann: Aber selig werde genannt, Wer frühe schon eingeht in das Schattengefild: Nicht schleppt er die Sorge des krankheitsmüden Leibs Schritt vor Schritt angstvollem Grab zu;51

Im Verlauf der Hymne wird dann Leben und Tod der beiden Kinder Amalie Augustes und ihrer Ehegemahle in Portugal und Brasilien besungen, immer wieder durch Gnomai wie die folgenden unterbrochen: Es kredenzt selbst Glücklichen Herben Wermutskelch das Schicksal.52

49

50 51 52

P, L, S. 464; Diese Frage quälte schon den jungen Platen, wie ein Jugendgedicht (In Rouseaus Stube auf der Petersinsel) belegt: »Wie viele Wünsche, doch gewünscht vergebens,/ Die von den Lippen in das Nichts verwehn!/ Nur Einsamkeit ist Vollgenuß des Lebens;/ Wo sind zwei Herzen, die sich ganz verstehn?« (W S. 103.) TB Bd. 1, S. 47. W S. 522. Ebd.

Hoher Ton und »pessimistische« Gnome bei Leopardi und Platen

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Oder, wohl gegen Hegel und seine Schule im preußischen Berlin gerichtet, das angeblich die jungen, von Platen als liberal gesehenen Wittelsbacher beneidet habe: Denn sich selbst bleibt treu des Sinns ursprüngliche Jämmerlichkeit: Lichtscheues Nachteulengeschlecht flieht sonnenkrank Deine Scheibe, rosiger Tag! Manch Hirngespinst ausheckt es und mancherlei Schulstaubige Dünste. Die Weisheit aber zieht Ihre Glanzbahn jung und aufrecht.53

Wenn Leopardi an einer berühmten Stelle des Zibaldone formulierte, dass es nur den Größten gelingen könne, gleichzeitig auf der Höhe der modernen Philosophie und der modernen Poesie zu sein, so zeigt sich hier Platens Defizit in der Philosophie fraglos als Belastung auch seiner Poesie. Ja, er starb. Frohlocke nicht, irrsinniger Pöbel! Es trug Niemals der Tod, der des Triumphs Türschwell umwand, Eine honigsüßere Form.54

Diese unerträglichen Katachresen55 sind die Folgelast einer zu unkritischen Verwendung traditioneller Topoi des hohen Tons. Teilweise dürften sie auch der kleinteiligen, quasi puzzleartigen, zerhackten Struktur geschuldet sein, bei der sozusagen das eine Bild nicht über die Wand zum nächsten schaut. Die pessimistische Schlussgnome der Hymne ist als solche demgegenüber durchaus von nahezu leopardischer Intensität: Kein Warum frommt. Ewig bleibt stillschweigend und ernst das Geschick; Doch wälzt die Dichtkunst der Beredsamkeiten Flut, Strömt Ergebung aus und Geduld: Anteil am Schmerz, Anteil an der Freude geziemt Ihr, welche die Fittige festhält selbst Saturns, Ihm des Daseins Spiegel vorhält.56

Diese Sublimierung des Spiegelmotivs gewinnt die Höhe des Tons zurück, bevor eine völlig überflüssige nochmalige Widmungsstrophe an die Wittelsbacher die Platen-Pointe abmildern soll. Solche Abmilderungen gibt es bei Leopardi nicht: weder philosophisch noch poetisch. Die platenschen pessimistischen Gnomai fungieren also als defi nitive Einschnitte, die die rhythmische Bewegung abbrechen und geradezu einfrieren. Genau umgekehrt ist ihre Funktion bei Leopardi, bei dem sie wie bei Hölderlin einen bloß momentanen Stau bilden, der die rhythmische Bewegung nicht nur nicht beendet,

53 54 55 56

Ebd., S. 523. Ebd. Dazu Link: Artistische Form (wie Anm. 13), S. 156ff. W S. 524.

Jürgen Link und Ursula Link-Heer

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sondern sogar erneut beschleunigt und weiter ›erhöht‹ im mehrfachen Sinne des Wortes. Das sei am Beispiel des Canto Ad Angelo Mai erläutert, in dem leitmotivartig »nihilistische« Gnomai als »gegenrhythmische Unterbrechungen« (Hölderlin)57 die anschwellende Bewegung dennoch nicht stilllegen, sondern zusätzlich dynamisieren. Die fünfte, Petrarca gewidmete Strophe endet mit einem gereimten Couplet, das – isoliert betrachtet – ein platensches Sonett abschließen könnte: A noi le fasce cinse il fastidio; a noi presso la culla immoto sede, e su la tomba, il nulla.58

Dieser rhythmischen Talsohle folgt jedoch mit der Kolumbusstrophe ummittelbar ein noch höherer Aufschwung, bevor auch er in ein – wiederum vorübergehendes – »pessimistisches« Couplet mündet: Ahi ahi, ma conosciuto il mondo non cresce, anzi si scema, e assai più vasto l’etra sonante e l’alma terra e il mare al fanciullin, che non al saggio, appare.59

Diese Einsicht in die Dialektik der Aufklärung wird in der siebten Strophe nochmals buchstäblich nihilistisch radikalisiert, diesmal aber bereits kurz nach der Strophenmitte und nicht in pointierender Schlussposition: ecco tutto è simile, e discoprendo, solo il nulla s’accresce. […] 60

Die (achte) Ariost-Strophe erhöht wiederum zunächst den enthusiastischen Ton der belle illusioni und endet mit einer erneuten pessimistischen Gnome in CoupletPosition: or che resta? or poi che il verde è spogliato alle cose? Il certo e solo veder che tutto è vano altro che il duolo.61

Die (neunte) Tasso-Strophe, die mit ihren Vereisungsbildern auch auf Platen applizierbar wäre, platziert die nihilistische Gnome genau wie in der siebten etwa in die Zweidrittel-Position:

57 58 59 60 61

Friedrich Hölderlin: Anmerkungen zum Oedipus. In: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Michael Knaupp. München und Wien (Hanser) 1992; Bd. 2, S. 310. L, GDZ, S. 32. Ebd. Ebd. Ebd., S. 34.

Hoher Ton und »pessimistische« Gnome bei Leopardi und Platen

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Ombra reale e salda ti parve il nulla, e il mondo inabitata piaggia.62

Wiederum setzt sich der dynamische Rhythmus durch, erhöht sich erneut, bevor er in einer Art Schwebe endet. Der Blick auf Platens stufenweise Entwicklung zeigt, warum Leopardi das Sonett gemieden hat: Es widerspricht mit seiner kurzen Pointenstruktur dem auf- und ausschwingenden Rhythmus der pindarschen Hymne und damit auch jeder möglichen Spielart eines modernen lyrischen Analogons dazu. Platen war ja – weshalb seine Ghaselen und Sonette im allgemeinen als gelungener zu betrachten sind als seine Hymnen – nicht weniger als Leopardi ein Meister des Reims. Er opferte den Reim aber gänzlich in seinen Genres des höchsten Tons entsprechend den pedantisch festgehaltenen antikisierenden Modellen. Die Struktur der leopardischen Canti zeigt jedoch – ähnlich wie die der hölderlinschen Hymnen –, dass eine wahrhaft inventive Rückkehr zu Pindar, also dessen gültige Modernisierung, den hohen Ton entsprechend dem epochal neuen Wissen völlig neu erfinden musste. Leopardi gelang das in seinen im Wesentlichen, übrigens bei aller tiefenstrukturellen Ähnlichkeit auch Hölderlin gegenüber ganz originellen, versi sciolti. Wenn Platen für seine eigenen Hymnen einen »Sturmwind von Rhythmus« postulierte, so kennzeichnete er damit zutreffend Hölderlins und Leopardis Hymnen, nicht aber seine eigenen, in denen der »Sturmwind« auf paradoxe Weise wie arretiert erscheint. Kann ein Sturmwind gleichzeitig ein »erzgetriebenes Bildwerk des Lieds« sein, wie die Hymne »Auf den Tod des Kaisers« sich selbst sehr viel zutreffender nennt?63 Aus dem gleichen Grunde scheint bei Platen, als er bereits seit 1832 die Canti in der Ausgabe von Florenz (1831) kennengelernt hatte,64 kein Funken übergesprungen zu sein (so wie zuvor von Petrarca, Guarini, Tasso und Metastasio). * Leopardis Größe als Lyriker beruht nicht zuletzt auf der ganz persönlichen Ineinsbildung von philosophischer Einsicht in eine radikale Spielart von Dialektik der Aufklärung, also in eine epochale Geschichtsdeutung der Moderne, auf der einen, und eine ungemein intensive, ungemein ›musikalische‹ Expressionsfähigkeit subjektiver Reminiszenzen aus Kindheit und Jugend65 samt ihrer traurigen Desillusionierung auf der anderen Seite. Auch Platens Lyrik handelt von Desillusion sowohl der Historie im Großen wie der subjektiven Erfahrung im Kleinen. Bei beiden Dichtern ist sowohl die individuelle wie die kollektive Erfahrung von einer

62 63 64 65

Ebd. W S. 520. Vgl. TB Bd. 2, S. 936. Vgl. dazu Fasano: L’entusiasmo (wie Anm. 13), S. 24ff.; Colaiacomo, Claudio: Camera obscura. Studio di due canti leopardiani. Napoli (Liguori) 1992, S. 69ff.

Jürgen Link und Ursula Link-Heer

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Reihe wie unter Wiederholungszwang stehender Faszinationskomplexe durchsetzt, die sich tendenziell mit Gnomai verbinden oder sogar ähnlich wie Gnomai formuliert werden. Diese Faszinationskomplexe rühren an Kernstrukturen der Subjektivität, wie sie die Psychoanalyse zu beschreiben versucht hat. Nach außen musste die sexuelle Begehrensstruktur beider Lyriker, wie sie ihre Texte tiefenstrukturell prägt, mehr oder weniger ›Rätsel‹ aufgeben. Während aber Platen bereits in seiner Lyrik und umso klarer im Tagebuch das Rätsel eindeutig im Sinne einer unmissverständlichen und ausschließlichen Homosexualität löste, bleibt Leopardis Rätsel bis heute ungelöst und vermutlich auch unlösbar. Beide sagen, sie seien bis zum Tod zu ständigem Unglücklichsein bestimmt – was Platen auf die Feindseligkeit seiner zeitgenössischen modernen Kulturen gegen offen gelebte Homosexualität wie zu Zeiten der antiken Griechen zurückführt, während Leopardi es philosophisch mit der grundsätzlichen Absurdität der Materie und ihrer Produkte, darunter des Menschen, begründet. Die gesundheitlichen Schädigungen und sein Buckel, die Leopardi auf sein exzessives Studium in der Kindheit und Adoleszenz zurückführt, werden von ihm nirgends als Grund seines Unglücklichseins hervorgehoben, sondern ganz im Gegenteil verwahrt er sich gegen Annahmen dieses Typs. Bei Platen hatte die Verehrung der griechischen Kultur und speziell Pindars also auch eine homosexuelle Begründung, wie es im Pindar-Sonett LV unmissverständlicher Klartext geworden ist: Ich möchte, wenn ich sterbe, wie die lichten Gestirne schnell und unbewußt erbleichen, Erliegen möcht ich einst des Todes Streichen, Wie Sagen es vom Pindaros berichten. [...] Er saß im Schauspiel, vom Gesang beweget, Und hatte, der ermüdet war, die Wangen Auf seines Lieblings schönes Knie geleget: Als nun der Chöre Melodien verklangen, Will wecken ihn, der ihn so sanft geheget, Doch zu den Göttern war er heimgegangen.66

Der Skandal von Platens Tagebüchern bestand in ihrem homosexuellen, der von Leopardis im nihilistisch-materialistischen Klartext. Die platenschen Faszinationskomplexe lassen sich weitgehend mit den lacanschen Kategorien des Spiegelbilds, des Echogesangs und der Angstvorstellung des zerstückelten Körpers parallel lesen, was nicht etwa die von Hubert Fichte polemisch attackierte angebliche Reduktion von Homosexualität auf mit »Egoismus« gleichgesetzten »Narzissmus« impliziert (s. dazu den Beitrag von Jürgen Link in diesem Bande). Hinzu kommen, übereinstimmend mit Leopardi, androgyne Komplexe wie Sappho.

66

W S. 396.

Hoher Ton und »pessimistische« Gnome bei Leopardi und Platen

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Bei Leopardi spielen Spiegel, Echo und Zerstückelung weniger eine Rolle als Erlöschen der Stimme und des Gesangs sowie Mumifizierung, die sich deutlich um den Komplex eines Defizits von »potenza« konstelliert, der zuweilen bis zur ausformulierten »Kastrations«-Vorstellung geht: La scelleraggine delle donne me spaventa, non già per me, ma perché vedo la miseria del mondo. S’io divenissi ricco o potente [sic], ch’è impossibile, perché ho troppo pochi vizi [sic], le donne senza fallo cercherebbero di allacciarmi. Ma in questa mia condizione, disprezzato e schernito da tutti, non ho nessun merito per attirarmi le loro lusinghe.Oltre che ho l’animo così agghiacciato e appassito dalla continua infelicità, ed anche dalla misera cognizione del vero, che prima di avere amato, ho perduto la facoltà di amare, e un Angelo [sic] di bellezza e di grazia non basterebbe ad accendermi: tanto che così giovane, potrei servir da Eunuco in qualunque seraglio.67

Leopardis erotische Phantasien beziehen sich (ganz anders als Platens) in wohl überwiegendem Maße auf Frauen. Doch sind die Canti von dem Bewußtsein eines tiefen Bruchs mit der Liebeslyrik getragen. In den bereits mehrfach zitierten Annotazioni alle dieci canzoni stampate a Bologna nel 1824 lautet der erste Punkt über die ›Extravaganzen‹ dieser Lyrik: »Primo: di dieci Canzoni né pur una amorosa.«68 Dieser entschieden brüsken Negation des poetischen Verliebtseins folgt unmittelbar die Behauptung der zweiten Extravaganz: »Secondo: non tutte e non in tutto sono in stile petrarchesco.« Nach dem lakonisch formulierten Punktekatalog geht Leopardo eingehender auf die Canzone (später: Canto) »Alla sua donna« ein. Die Kernaussage lautet: »Infine è la donna che non si trova.«69. Diese amouröse Negativität bestimmt zweifellos auch die späteren Canti, mit dem rätselhaften Canto Aspasia im Zentrum. Doch die Komplexität von Leopardis dichterischem Bruch mit der Liebeslyrik kann hier nicht mehr behandelt werden. * Abschließend müssen wir in diesem Beitrag zu den Parallelviten und literarischen Parallelproduktionen der materiell verarmten Grafen August von Platen und Giacomo Leopardi dennoch (wenn auch provisorisch) zu der Versuchung Stellung nehmen, das Rätsel auch Leopardis postum durch den Rekurs auf die verfemte Homosexualität lösen zu wollen. Zum Glück ist diese Fragestellung nicht mehr tabuiert.70 Allerdings entbehrt die Datenlage platenscher Klarheit und Eindeutigkeit. Offensichtlich interessierte auch Leopardi sich stark für Homosexualität und stellte für ihn die antike griechische Päderastie einen der in der Moderne verlorenen Faszinationstypen dar:

67 68 69 70

L, TLO I, S. 1108 (Brief an Pietro Brighenti 28. 8. 1820) Ebd., S. 56. Ebd., S. 57; Kursiva der Ausgabe. In die aktuelle Diskussion im Rahmen der »cultura gay« führt gut die Homepage von Giovanni Dall’Orto ein, vgl. www.giovannidallorto.com/.../leopardi/leopardi.html

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Jürgen Link und Ursula Link-Heer Non sarebbe fischiato oggidì, non dico in Francia ma in qualunque parte del mondo civile, un poeta, un romanziere ec. che togliesse per argomento la pederastia, o introducesse in qualunque modo, anzi chiunque in una scrittura alquanto nobile s’ardisse di pur nominarla senza perifrasi? Ora la più polita nazione del mondo, la Grecia, l’introdiceva nella sua mitilogia (Ganimede), scriveva elegantissime poesie si questo soggetto, donna a donna (Saffo), uomo a giovane (Anacreonte) ec. ec.71

Die Wertung in solchen Einträgen des Zibaldone erscheint allerdings ambivalent, uneindeutig. Das literarische Werk Leopardis, einschließlich seines Tagebuchs, gibt keine homosexuelle Neigung preis.72 Gleichwohl sind die ›Extravaganzen‹ Leopardis schon im 19. Jahrhundert in den Verdacht der Homosexualität geraten. Dazu trug wesentlich Antonio Ranieri bei, der in Leopardis letzten Lebensjahren die Rolle eines Freundes und Krankenpflegers übernommen hatte. Platens Tagebucheintrag vom 5. September 1834. Neapel, in den (nicht genauer datiert), die Begegnung mit Leopardi eingelassen ist, handelt eigentlich mehr von Ranieri (den Platen dann auch noch öfters getroffen hat). Platen schreibt: Durch ihn [Heinrich Wilhelm Schulz73] machte ich noch zwei Bekanntschaften, deren eine ich seit Jahren gewünscht habe: es ist die des Grafen Giacomo Leopardi, den ich als Dichter so sehr verehre und von dem ich nicht wußte, daß er sich gegenwärtig in Neapel aufhält Er wohnt bei einem neapolitanischen Freunde, dem Grafen Antonio Ranieri [...]. Ranieri, ein hübscher junger Mann von siebenundzwanzig Jahren, ist ein seltenes Muster von Freundschaft. Seit vier Jahren sorgt er für Leopardi, der seiner Gebrechlichkeit wegen nicht wohl allein leben kann, und nachdem er vorher in Florenz und Rom mit ihm gelebt, brachte er ihn vor acht Monaten nach Neapel.74

Im Jahr 1880 publizierte Ranieri einen teils bigotten, teils narzisstischen Bericht über seine sieben Jahre des Zusammenlebens mit Leopardi, der überaus mehrdeutig ist und das Rätsel Leopardi eher verstärkt.75 Die Begegnung mit Platen ist nicht erwähnt. Aber Platen erscheint in dieser Schrift wie auch im Begräbniskult Ranieris für Leopardi als derjenige berühmte deutsche Dichter, dessen Schicksal – der Tod auf der Flucht vor der Cholera – dasjenige Leopardis vorweggenommen hat. Man müsste nun Leopardis ›pessimistische‹ Gedanken zur Freundschaft eigentlich auch noch versammeln. Beschränken wir uns auf einen einzigen: Dopo che l’eroismo è sparito dal mondo, e invece v’è entrato l’universale egoismo, amicizia vera e capace di far sacrificare l’uno amico all’altro, in persone che ancora abbiano

71 72 73 74 75

L, TLO II, S. 504. Man könnte spekulieren, dass die poetische und philosophische Negativität Leopardis auch eine radikale Gender-Negativität einschließt. Vgl. oben, Anm. 5. TB Bd. 2, S. 963f. Neudruck: Ranieri, Antonio: Sette anni di sodalizio con Giacomo Leopardi. Con una introduzione di Giulio Cattaneo e una nota die Alberto Arbasino. Milano (Garzanti) 1979.

Hoher Ton und »pessimistische« Gnome bei Leopardi und Platen

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interessi e desideri, è ben difficilissima. E perciò quantunque si sia sempre detto che l’uguaglanza è l’una delle più certe fautrici dell’amicizia, io trovo oggidì meno verisimile l’amicizia fra due giovani che fra un giovane, e un uomo di sentimento già disingannato del mondo, e disperato della sua propria felicità. Questo non avendo più desideri forti è capace assai più di un giovane d’unirsi ad uno che ancora ne abbia, e concepire vivo ed efficace interesse per lui, formando così una amicizia reale e solida quando l’altro abbia anima da corrispondergli. E questa circostanza mi pare anche più favorevole alla amicizia, che quella di due persone egualmente disingannate, perché non restando i desideri né interessi in veruno, non resterebbe materia all’amicizia e questa rimarrebbe limitata alle parole e ai sentimenti, ed esclusa dall’azione. Applicate questa osservazione al caso mio col mio degno e singolare amico, e al non averne trovato altro tale, quantunque connoscessi ed amassi e fossi amato da uomini d’ingegno e di ottimo cuore: (20 Gennaio 1820).76

Hätten die beiden ›pessimistischen‹, desillusionierten Dichter länger gelebt und hätte Leopardi diese Betrachtung Platen zu lesen gegeben, so hätte dieser sicher zugestimmt. Dann hätten sie also auf Freundschaft verzichten müssen – oder eben doch nicht?

76

L, TLO II, S. 57f.

Andrea Landolfi

Giosuè Carducci übersetzt Platen

Wenn man als Italiener von Giosuè Carducci als Platens Übersetzer spricht, kann man nicht umhin, einiges über die italienische Platen-Rezeption zu sagen. Und ich bitte sofort um Verzeihung, wenn ich hier, um möglichst klar zu wirken, auf etwas Persönliches zurückgreife und Ihnen eine kleine Anekdote aus dem Leben meines Vaters erzähle. Mein Vater, der heute siebenundachtzig Jahre alt wäre, rezitierte gerne Das Grab im Busento. Auf Deutsch und auf Italienisch, und beide Versionen ganz ohne zu stocken. Sein Deutschlehrer an einer öffentlichen Schule im Neapel der dreißiger Jahre war einer von den vielen jüdischen Intellektuellen, die nach Hitlers Machtergreifung im faschistischen – aber bis 1938 absolut nicht judenfeindlichen – Italien bedauerlicherweise nur vorübergehend Zuflucht gefunden hatten. Der professore, an dessen Namen sich mein Vater leider nicht mehr erinnern konnte, las selbstverständlich viel Goethe, aber seine Vorliebe galt ganz entschieden Platen und dem im damaligen Deutschland verbotenen Heine. Für ihn war es, so glaube ich, eine Art Revanche, den jungen italienischen Schülern, die sämtlich für das ›neue‹ Deutschland schwärmten, Liebe und Bewunderung für den Juden Heine einzuflößen. Das war aber keine Seltenheit: auch meine Mutter, die in denselben Jahren in Rom eine gutbürgerliche religiöse Schule besuchte, kannte ihren Heine auswendig. Das erklärt sich leicht: Heine, so gut wie Platen, gehörte zu den Lieblingslektüren des germanophilen Benito Mussolini. Und beide Dichter genossen in Italien großes Ansehen dank den damals berühmten und hochgepriesenen Übersetzungen von Giosuè Carducci – eine Tatsache, die eine entscheidende Rolle in der italienischen Rezeptionsgeschichte beider Autoren gespielt hat. Aber zurück zum Deutschlehrer meines Vaters, der ein exquisiter Kenner der deutschen sowie der italienischen Literatur war, und der gerne mit seinen Jungs das schöne Spiel der Übersetzung und des Vergleichens spielte. Goethe, Heine und Platen, aber auch Klopstock, Herder, Uhland und Hölderlin waren in den siebziger und achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts von Carducci übersetzt worden. Das sehr ernste Spiel bestand also nach dem Auswendiglernen im Zerlegen und Vergleichen. Genau das, was wir als Übersetzungswissenschaftler beruflich betreiben. Von den drei zuerst genannten Lyrikern (Goethe, Heine und Platen) hatte der italienische Dichter aber Übersetzungen erstellt, die nur für Kenner als ›Übersetzungen‹ gelten, so tief sind sie in das Gemeingut der italienischen Lyrik eingegangen. Noch zu meiner Schulzeit wurden Il re di Tule, La tomba nel Busento und Il pellegrino davanti a Sant Just auswendig gelernt. Dass Carducci sie nur übersetzt, jedoch nicht

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Andrea Landolfi

gedichtet hatte, war uns – im Gegensatz zu meinem Vater und seinen Schulkameraden – kaum bekannt. Das Wesentliche für uns Schüler am Ende der sechziger Jahre war, dass sie uns unendlich langweilig, bombastisch, leer und rhetorisch vorkamen. Hier sehe ich eine Ähnlichkeit bei den jeweiligen Rezeptionen beider Dichter. Jürgen Link, den ich für den besten Platen-Kenner unserer Zeit halte, hat gerade in den Balladen den Punkt der »spektakulärsten Rezeptionserfolge« Platens im 19. und noch im 20. Jahrhundert erkannt. Im Kommentar seiner Platen-Ausgabe schreibt Link: Die Ursache wird man vor allem in zwei Faktoren sehen müssen. Thematisch schienen Pilgrim- und Busento-Ballade, wenn auch gegen Platens Absicht, deutsch-nationalistisch applizierbar zu sein […]; alles kam ferner dem Bilderbogen-Historismus des Bildungsbürgertums entgegen.1

Mutatis mutandis lässt sich bei der italienischen Carducci-Rezeption dieselbe Situation erkennen. Weit entfernt von dem ursprünglich idealistischen élan des Risorgimento sah das solide Bürgertum der letzten dreißig Jahre des 19. bis weit ins 20. Jahrhundert in dem monumentalen Pathos Carduccis eine Art Alibi: eherne Verse, große Taten, noble Opfer usw. als Ersatz für den Verzicht auf ihre alten, freiheitlichen Ideale. Das kann meiner Meinung nach auch überzeugend erklären, warum die Achtundsechziger-Generation einerseits in Deutschland in Bezug auf Platen, andererseits in Italien in Bezug auf Carducci eine ähnlich entschiedene Ablehnung an den Tag gelegt hat. Was Platen dann im Deutschland der sechziger und siebziger Jahre sozusagen gerettet hat, ist paradoxerweise gerade das, was das Leben des Ansbacher Poeten so arg und trostlos gemacht hatte, nämlich seine Homosexualität, die Thomas Mann 1930 in seiner berühmten und wirklich bahnbrechenden Rede als »die Grundtatsache von Platens Existenz«2 definierte. Nur dank dieser »Grundtatsache« konnte man Platen jetzt neu und anders lesen, was dem für Außenseiter sensibilisierten Zeitgeist damals sehr entgegenkam. Bei Carducci – und dem durch ihn der italienischen Leserschaft vermittelten Platen –, konnte eine vergleichbare Rehabilitation nicht gelingen, da, wie gleich gezeigt werden soll, die Voraussetzungen ganz andere waren. In seinen Briefen hat sich der italienische Dichter immer sehr allgemein über Platen geäußert.3 Er lobt seine Fähigkeiten, besonders die metrische Meisterschaft, würdigt seine Italienliebe, beklagt ein paar Mal seine Kälte (höchstwahrscheinlich kannte er Goethes berühmtes Urteil), ignoriert aber ganz und gar die harte Auseinandersetzung mit Heine, obwohl der letztere sicherlich sein Liebling unter den

1 2 3

Link, Jürgen: Kommentar. In: W S. 701. Mann, Thomas: August von Platen. In: ders.: Gesammelte Werke in Einzelbänden. Frankfurt am Main 1974. Bd. 9, S. 268–281; S. 274. Vgl. die Briefe an Giuseppe Chiarini von 17. 2. 1872, 6. 7. 1872 und 29. 6. 1881. In: Lettere die Giosnè Carducci. Edizione nazionale. Bologna 1938–1969. Bd. 8, 1942; Bd. 13, 1951.

Giosuè Carducci übersetzt Platen

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deutschen Dichtern war (und auch der von ihm meistübersetzte: sechs Gedichte im Vergleich zu den fünf von Platen). Ja, dank jener für die Prüderie der Zeit so typischen und von Thomas Mann mit Recht beklagten »Diskretion«4 konnte Carducci einfach übersehen, was seine Beziehung zu Platen völlig unmöglich gemacht hätte. Denn der italienische Dichter vertrat ein Konzept aggressiv auftrumpfender Virilität, mit dem sich die Akzeptanz homosexueller Neigungen keinesfalls hätte vereinbaren lassen. Sein Begriff der Männlichkeit, der nicht so weit von jenem des alten Turnvaters Jahn entfernt lag, stellt einen wesentlichen Bestandteil seines Erfolgs bei den Zeitgenossen und den späteren geborenen Anhängern dar. Und auch Benito Mussolini dürfte durch den forciert maskulinen Habitus des von ihm bewunderten Carducci maßgeblich geprägt worden sein. Also: keine Wahlverwandtschaft zwischen Carducci und Platen, vielmehr ein Bündnis in poeticis. Giosuè Carduccis fast ›entkörperter‹ Platen ist vor allem ein Meister der Form, mit dem zu wetteifern sich lohnt, ein großer Künstler, welcher, die morbide und ungezügelte Romantik heftig bekämpfend, der Dichtung ihre hohe Würde wiedergegeben hat, und das auch und vor allem dank seiner engen Beziehung zu den Dichtern und Landschaften Italiens.5 Diese Stilisierung Platens im Zeichen des Form-Pathos und des italienischen Nationalismus – noch wirksam in einem Platen-Aufsatz des jungen Mussolini im Jahr 1909 und bei der Durchführung der großen Jubilarfeier von 1935 in Siracusa6 –, hat lange keine Korrektur erfahren. Erst in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als der Verlag Mondadori die großen literarischen Aufsätze Thomas Manns, darunter den oben erwähnten über Platen, herausgab, wurde man auf die Möglichkeit einer neuen und ganz anders gearteten Platen-Interpretation aufmerksam. Dennoch hat sich das Projekt einer italienischen Platen-Ausgabe, d. h. einer Auswahl der Gedichte mit Originaltext und italienischer Übersetzung, Kommentar usw. bis jetzt nicht verwirklichen lassen. Das bedeutet, dass das heutige italienische Publikum, wenn überhaupt, nur den carduccischen Platen kennt, obwohl es vor und besonders nach Carducci an episodischen und manchmal gar nicht schlechten Platen-Übersetzungen nicht gefehlt hat. Dasselbe gilt für die Forschung: Nach dem sehr polemischen Verriss Ladislao

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6

Mann, Thomas: Platen (wie Anm.2), S. 274. Die zahlreichen Analysen der carduccischen Beziehung zu Platen befolgen einheitlich diese Interpretationslinie. Vgl. u. a.: Monteverdi, A: Carducci traduttore. In: Rivista d’Italia 152 (1912), S. 687–711; Politi, F.: Carducci zwischen Heine und Platen. In: Carducci: Discorsi nel cinquantenario della morte. Bologna 1959, S. 527–546; Curci, A. M.: Carducci traduttore di poesia tedesca. In: Journal of Italian Translation 3 (2008); S. 10–27. Über Mussolinis Beziehung zu Platen vgl.: Heymann, Jochen: Tristans Irrungen im Land seiner Träume: August von Platen und Italien. In: Bobzin, Hartmut und Och, Gunnar (Hg.): August Graf von Platen. Leben. Werk. Wirkung. Paderborn 1998, S. 123–148; Landolfi, Andrea: Das missverstandene Italien. August von Platen oder: Die Verdammnis der Schönheit. In: Schlicht, C. und Schumacher, H. (Hg.): Feder, Katheder und Stethoskop – Von der Literatur zur Psychiatrie. Frankfurt am Main 2008, S. 90–98.

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Mittners in seiner monumentalen Geschichte der deutschen Literatur7 hat man sich in Italien nur noch gelegentlich mit Platen beschäftigt. Eine ausführliche Interpretation des deutschen Dichters aus italienischer Sicht lässt bis heute auf sich warten. Carducci ließ seine Übertragungen immer von einem kundigen Freund, dem Kritiker Giuseppe Chiarini, überprüfen. Das kann nicht verwundern, wenn man bedenkt, dass der italienische Dichter mit der europäischen und deutschen Kultur zwar sehr vertraut war, aber eben keine aktiven Sprachkenntnisse besaß. Carduccis Versionen, die heute für unser modernes Ohr so pathetisch-übertrieben klingen, sind jedenfalls in philologischer, metrischer und rhythmischer Hinsicht anspruchsvoll, und es lohnt durchaus, sie näher zu betrachten. Ein prominenter deutscher Zeitgenosse hat Carduccis dichterisches Talent im Übrigen durchaus kritisch beurteilt. In einem 1879 verfassten Brief schreibt der Historiker Theodor Mommsen an den klassischen Philologen Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf: »Ein kleines Bücherpaket soll mit diesem Brief abgehen. Carducci kennst du wohl nicht, lieber Wilamowitz; er wird dich interessieren, obwohl er keineswegs ein Poet von Gottes Gnaden ist«.8 Zwischen 1871 und 1886 hat Carducci fünf Gedichte Platens übersetzt: Der Pilgrim vor St. Just, Das Grab im Busento, Der Turm des Nero, Los des Lyrikers sowie Hero und Sappho. Zwei dieser Übersetzungen, nämlich Il pellegrino davanti a Sant Just und La tomba nel Busento gehören, wie gesagt, noch heute zum italienischen Kulturgut. Nur von ihnen soll deshalb auch im Folgenden die Rede sein. Il pellegrino davanti a Sant Just wurde im Juli 1871 verfasst und erschien zum ersten Mal 1872. Das einfache metrische Schema, bei dem jede Strophe aus zwei miteinander reimenden Elfsilbern besteht, wurde ohne Schwierigkeit in der Übersetzung beibehalten. Bei der Analyse der einzelnen Strophen werde ich, wo nötig, eine Art roher Rückübersetzung vornehmen, um Carduccis Arbeit am Text besser verständlich zu machen. Der Pilgrim vor St. Just (1819) Nacht ist’s und Stürme sausen für und für, Hispanische Mönche, schließt mir auf die Tür! Laßt hier mich ruhn, bis Glockenton mich weckt, Der zum Gebet euch in die Kirche schreckt! Bereitet mir was euer Haus vermag, Ein Ordenskleid und einen Sarkophag! Gönnt mir die kleine Zelle, weiht mich ein, Mehr als die Hälfte dieser Welt war mein. Das Haupt, das nun der Schere sich bequemt, Mit mancher Krone ward’s bediademt.

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Mittner, Ladislao: Storia della letteratura tedesca. 4 Bde. Torino 1964–1977. Bd. 3, S. 115– 123. Theodor Mommsen – Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf. Briefwechsel 1872–1903. Berlin 1935, S. 75.

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Die Schulter, die der Kutte nun sich bückt, Hat kaiserlicher Hermelin geschmückt. Nun bin ich vor dem Tod den Toten gleich, Und fall in Trümmer, wie das alte Reich.9 Il pellegrino davanti a Sant Just (1871) È notte, e il nembo urla piú sempre e il vento. Frati spagnoli, apritemi il convento. Lasciatemi posar sino a i divini Misteri e al suon de’ bronzi matutini. Datemi allor quel che potete dare; Date una bara ed uno scapolare, Date una cella e la benedizione A chi di mezzo mondo era padrone. Questo capo a la chierca apparecchiato Fu di molte corone incoronato. Questo a le rozze lane òmero inchino Levossi imperïal ne l’ermellino. Or morto in vista pria che in cimitero Ruino anch’io come l’antico impero.10

1. Strophe: Die Stürme, die für und für sausen, werden zu »nembo«, gehoben für Gewitterwolke, und »vento«, Wind, die »più sempre«, poetisch für »sempre più«, immer mehr, »urlano«, brüllen. Die korrekte Übersetzung von sausen wäre »fischiano« oder »sibilano« gewesen. Tür wird wegen des Reims zu »convento«, Kloster. Diese Abweichung ist unbedeutend und nachvollziehbar, da sie der feierlichen Situation durchaus entspricht. 2. Strophe: Die wörtliche Rückübersetzung der beiden Verse lautet etwa: Laßt mich bis zu den göttlichen / Mysterien und dem Ton der bronzenen Morgenglocken ruhn. Das Verb wecken entfällt, der Glockenton wird zu »bronzi matutini«, wörtlich morgendliche Bronzen; im Adjektiv »matutini«, antikisierend für »mattutini« mit zwei »t«, bleibt die Spur des weggelassenen weckt erhalten. Als Substantiv aber meint »mattutino« spezifisch die klösterliche Morgenandacht. Das Gebet, das die Mönche in die Kirche schreckt, wird sehr allgemein zu »göttlichen Mysterien«: hier ist wahrscheinlich Carduccis entschiedener und etwas überzogener Antiklerikalismus am Werk. 3. Strophe: Die Stellung von Ordenskleid und Sarkophag wird umgekehrt; der sprachliche gehobene Sarkophag wird mit der üblichen »bara«, Sarg, übersetzt, das einfache Ordenskleid jedoch mit dem sehr gewählten »scapolare«, Skapulier, dem Überwurf des Mönchs über Brust und Rücken.

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W S. 9. Carducci, Giosuè: Rime Nuove, CI. In: Edizione nazionale delle opere die Giosnè Carducci. Bologna 1944–1954. Bd. 3, S. 355–356.

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4. Strophe: Die wörtliche Rückübersetzung der beiden Verse lautet etwa: Gönnt die Zelle und die Einweihung / dem, der von der halben Welt Herr war. Platens stolzer Vers wird hier durch den ganz gewöhnlichen Ausdruck »mezzo mondo« (d. h. »eine große Menge«: »conosce mezzo mondo«, er kennt eine Menge Leute, usw.) banalisiert; das Wort »padrone«, Herr, Besitzer, scheint hier in seiner Direktheit völlig unpassend. 5. Strophe: Schere wird mit »chierca« (eigentlich »chierica«), Tonsur, ersetzt; das sehr gewählte, um nicht zu sagen: manirierte Platensche bediademt wird zum einfacheren »incoronato«, gekrönt. 6. Strophe: Bei dieser Strophe hat es Carducci vielleicht sogar besser als Platen selbst gemacht. Die Schulter, die ... sich bückt wird zum feierlichen »òmero inchìno«: »òmero«, sehr gehoben für Schulter, deren übliche Übersetzung »spalla« ist; »inchìno«, hochpoetisch für »inchinato«, gebückt. Auch Kutte erfährt eine Steigerung durch »rozze lane«, wörtlich »raue Wolle«. In der 12. Zeile hat Carducci eine geniale Intuition, die bestimmt auch Platens Beifall erhalten hätte: die Schulter, die sich jetzt bückt (»òmero inchìno«) erhob sich kaiserlich im Hermelin (Rückübersetzung), »levossi«, d. h. »si levò«, erhob sich. Der Kontrast zwischen Gegenwart (sich bückt) und Vergangenheit (erhob sich) ist hier visuell und prägnant wiedergegeben, und auch das Loslösen des Adjektivs kaiserlich vom Hermelin trägt dazu bei, dem Vers eine viel stärkere Wirkung zu verleihen. 7. Strophe: Der schöne Vers Nun bin ich vor dem Tod den Toten gleich wird in der Übersetzung wenig kunstvoll behandelt. Die Rückübersetzung lautet etwa: Jetzt, noch bevor ich im Friedhof (cimitero) liege, sehe ich (in vista) wie ein Toter aus. Die Wiedergabe der letzten Zeile gelingt dagegen im hohen Ton und vollkommen originalgetreu; »ruino« steht hier poetisch für »rovino«, aus »rovinare«, in Trümmer fallen. Wie man sieht, handelt es sich insgesamt um eine philologisch höchst korrekte Übersetzung, die auch einen eigenen, wenngleich stark zeitbedingten poetischen Wert besitzt. Besonders interessant ist die genaue Wiedergabe des vorgegebenen metrischen und rhythmischen Schemas bei zugleich großer Treue gegenüber dem Ton, den inhaltlichen Aspekten und der Bildersprache. La tomba nel Busento, 1872 verfasst, erschien schon im selben Jahr in der Zeitschrift Il mare. Wie bekannt besteht im Original jeder Vers aus zwei trochäischen Achtfüßlern, und die Verse sind paarweise gereimt. Aus typographischen Gründen musste Carducci auf diese Gliederung verzichten. So unterteilte er jeden Vers in zwei ottonari (der erste auf der drittletzten Silbe betont, der zweite gereimt) und ordnete das ganze Gedicht in vierzeilige Strophen. Da Platen selbst in der Urfassung Vierzeiler wählt,11 habe ich mich bei der Wiedergabe des Originals an diese Gliederung gehalten, die geeigneter erscheint, um einen Vergleich von Vers zu Vers vornehmen zu können.

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Vgl. SW Bd 2., S. 29f.

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Das Grab im Busento (1820) Nächtlich am Busento lispeln bei Cosenza dumpfe Lieder; Aus den Wassern schallt es Antwort, und in Wirbeln klingt es wider! Und den Fluß hinauf, hinunter ziehn die Schatten tapfrer Goten, Die den Alarich beweinen, ihres Volkes besten Toten. Allzu früh und fern der Heimat mußten hier sie ihn begraben, Während noch die Jugendlocken seine Schulter blond umgaben. Und am Ufer des Busento reihten sie sich um die Wette, Um die Strömung abzuleiten, gruben sie ein frisches Bette In der wogenleeren Höhlung wühlten sie empor die Erde, Senkten tief hinein den Leichnam, mit der Rüstung, auf dem Pferde.

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Deckten dann mit Erde wieder ihn und seine stolze Habe, Daß die hohen Stromgewächse wüchsen aus dem Heldengrabe. Abgelenkt zum zweiten Male, ward der Fluß herbeigezogen: Mächtig in ihr altes Bette schäumten die Busentowogen. Und es sang ein Chor von Männern: Schlaf in deinen Heldenehren! Keines Römers schnöde Habsucht soll dir je dein Grab versehren! Sangen’s und die Lobgesänge tönten fort im Gotenheere; Wälze sie, Busentowelle, wälze sie von Meer zu Meere!12

La tomba nel Busento (1872) Cupi a notte canti suonano Da Cosenza su ’l Busento, Cupo il fiume gli rimormora Dal suo gorgo sonnolento.

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W S. 9f.

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68 Su e giù pe ’l fiume passano E ripassano ombre lente: Alarico i Goti piangono, Il gran morto di lor gente. Ahi sì presto e da la patria Così lungi avrà il riposo, Mentre ancor bionda per gli òmeri Va la chioma al poderoso! Del Busento ecco si schierano Su le sponde i Goti a pruova, E dal corso usato il piegano Dischiudendo una via nuova. Dove l’onde pria muggivano Cavan, cavano la terra; E profondo il corpo calano, A cavallo, armato in guerra.

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Lui di terra anche ricoprono E gli arnesi d’òr lucenti: De l’eroe crescan su l’umida Fossa l’erbe de i torrenti! Poi, ridotto a i noti tramiti, Il Busento lasciò l’onde Per l’antico letto valide Spumeggiar tra le due sponde. Cantò allora un coro d’uomini: – Dormi, o re, ne la tua gloria! Man romana mai non vìoli La tua tomba e la memoria! – Cantò, e lungo il canto udivasi Per le schiere gote errare: Recal tu, Busento rapido, Recal tu da mare a mare.13

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1. Strophe: Die dumpfe[n] Lieder »suonano«, ertönen, anstatt zu lispeln, und ebenfalls dumpf, »cupa«, ist die murmelnde Antwort des Flusses (»li rimormora«, eigentlich »murmelt wieder«: wahrscheinlich ist der Ausdruck von der falschen Lesart »wieder« anstatt »wider« in der 4. Zeile beeinflusst, aber er könnte auch dazu dienen, die zwei Verben in einem einzigen zusammenzufassen). Aus den Wirbeln, in denen es widerklingt, wird bei Carducci ein einziger, und dazu schläfriger (»gorgo sonnolento«, wahrscheinlich nur aus Reimgründen). 2. Strophe: Die Schatten der Goten sind nicht mehr tapfer, sondern »lente«, d. h. träge, langsam: das an sich schöne und feierliche Bild ist aber bezeichnend für den

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Carducci, Giosuè: Rime Nuove, XCVII (wie Anm. 10), S. 344–345.

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nationalistischen Vorbehalt des italienischen Dichters, der sich dann, in der vorletzten Strophe, offen zeigen wird. 3. Strophe: Der hier von Platen vorgenommene Wechsel von der Präsens- zur Präteritumform wird von Carducci nicht befolgt. Der Vers mußten hier sie ihn begraben wird ganz knapp zu »avrà il riposo«, er wird seine Ruhe haben, »così lungi da la patria«, wobei er »lungi«, poetisch für »lontano«, fern, wählt. Die Jugendlocken werden auf eine »chioma«, gehoben für Haar, reduziert; diese »chioma« umgibt nicht, sondern »va per gli òmeri«, etwa »geht die Schulter entlang«. Auf den Gebrauch des hochpoetischen Wortes »òmero« anstatt »spalla«, Schulter, habe ich schon bei der Analyse des Pilgrim vor Sankt Just hingewiesen. Bemerkenswerter ist hier die Hinzufügung des substantivierten Adjektivs »poderoso«, etwa »der Gewaltige«, als Beinamen für Alarich. Genauso wie das deutsche gewaltig impliziert das Wort »poderoso« eine Macht, deren Auswirkungen furchtbar sein können. Dass Alarich im Jahr 410 das heilige Rom geplündert hatte, war Carducci und seinem Publikum bestens bekannt. 4. Strophe: Die Goten reihten sich um die Wette, »si schierano a pruova«; »pruova«, eigentlich »prova«, Probe; der sehr gehobene Ausdruck »a pruova«, wörtlich um die Wette, stammt aus Dantes Inferno (VIII, 114). Die Rückübersetzung der letzten zwei Verse dieser Strophe lautet etwa: sie leiten die Strömung von ihrem alten Lauf ab und eröffnen einen neuen Weg. 5. Strophe: Das schöne Bild der wogenleeren Höhlung wird zu »dove l’onde pria muggivano«, dessen Rückübersetzung lautet: wo früher die Wogen brausten. Der Leichnam wird zum neutraleren »corpo«, Leib, während der Ausdruck mit der Rüstung mit einem viel angriffslustigeren »armato in guerra«, zum Krieg bewaffnet, wiedergegeben wird. 6. Strophe: Der schöne Ausdruck seine stolze Habe wird von Carducci, und bestimmt nicht zufällig, stark modifiziert: »gli arnesi d’or lucenti«, etwa »das goldleuchtende Zeug« regt zur Vermutung an, dass es sich um die Beute der Plünderung Roms handelt. Das hoch der Stromgewächse, »l’erbe dei torrenti«, fällt weg; dafür wird das Heldengrab, »de l’eroe… fossa«, »umida«, feucht, was in dieser Situation zweifellos stimmt. 7. Strophe: Die Rückübersetzung der Strophe lautet: Dann, auf die bekannten Wege zurückgeführt / ließ der Busento seine Wogen / kräftig in ihr altes Bett / schäumen zwischen beiden Ufern. »I noti tramiti«, hier im Plural, eigentlich »der bekannte Lauf«; »valide«, von »valido«, kräftig, tüchtig. Insgesamt ganz kleine Abänderungen, die den allgemeinen Sinn sehr treffend wiedergeben. 8. Strophe: Der Vers Schlaf in deinen Heldenehren wird zu »Dormi o re nella tua gloria«, d. h. Schlaf, König, in deinem Ruhm, wobei Alarichs Heldentum in den Schatten gestellt wird. Noch interessanter ist die Übertragung der folgenden beiden Zeilen: die schnöde Habsucht des Römers wird nämlich gestrichen und durch eine ganz neutrale »man romana«, römische Hand, ersetzt. Um die so erstandene Lücke auszufüllen, wird dann »la memoria«, das Gedenken, hinzugefügt. So lautet also die Rückübersetzung der letzten zwei Zeilen der Strophe: Keine römische Hand soll dir je dein Grab und das Gedenken schänden.

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9. Strophe: Die letzte Strophe wiederholt das schöne incipit der vorhergehenden, jenes »cantò«, es sang, das die Atmosphäre eines fast priesterlichen Rituals noch stärker als bei Platen betont. Schade dann um die recht hässliche, wiederholte Wendung »rècal tu«, eigentlich »rècalo«, d. h. bringe, bringe den Gesang, die ganz unmusikalisch die Wirkung der Schlussstrophe völlig zerstört. Ich muss hier offen gestehen, dass mir die carduccischen Platen-Versionen immer noch unrettbar erscheinen. Aber es ist mir auch klar, dass ein solches Urteil ebenso zeitbedingt ist wie diese Übersetzungen. Ich kann und darf nicht ignorieren, dass Carduccis Leistung, wenn auch nicht rein ästhetisch, so doch bestimmt in kultureller Hinsicht sehr einflussreich gewesen ist. Was mich stört – die Rhetorik, das Geschwollene, die andauernden Schwingungen zwischen sehr hohem und ganz niederem Ton der Verse – ist auch bei dem Busento-Platen keine Seltenheit und hat vielleicht seine Ursache in jener metrischen Besessenheit, die beiden Dichtern gemein war und die Carducci zu diesem am Ende nicht ganz ungleichen certamen bewog. Wahrscheinlich ist das nicht der Platen, den wir Heutigen empathisch lesen können, doch ist es der Platen, den Italien kennengelernt hat, der Platen, den mein Vater unter der Anleitung seines hochgebildeten Deutschlehrers andächtig auswendig lernte und bis ins hohe Alter nicht vergaß. Jetzt liegt es an uns, für das Bild eines anderen, menschlich uns näheren Platen zu sorgen.

Mario Rubino

Platen und Sizilien

August von Platen ist mit Sizilien in zweifacher Weise verbunden: durch sein lyrisches und diaristisches Werk, in dem sich die Geschichte und damalige Gegenwart der Insel spiegeln, und durch seine Grabstätte im Park der Villa Landolina in Syrakus, ein repräsentatives Denkmal, das wiederholt Anlass für symbolträchtige Feiern gewesen ist. Von diesen Aspekten der Erinnerungskultur wird im Folgenden ausführlicher zu sprechen sein, doch gilt es zunächst der literarischen Topographie zu folgen und Platens Sizilien-Bild wenigstens in Umrissen zu vergegenwärtigen. Ernst Osterkamp, der Herausgeber der Sammlung Sizilien. Reisebilder aus drei Jahrhunderten, sieht in Platen und Wilhelm Waiblinger die Wegbereiter eines neuen Sizilien-Bildes, das den in Deutschland nach den Befreiungskriegen machtvoll einsetzenden patriotischen Bestrebungen durch vaterländische Akzente Rechnung trug. Nicht mehr nur die Prägung durch die griechisch-römische Antike wurde betont, sondern erstmals auch die durch die mittelalterlich-deutsche Geschichte, die in der Stauferzeit mit Kaiser Friedrich II. ihren Höhepunkt hat.1 In Platens Gedicht Gestirnerleuchtete Nacht – am 29. Mai 1835, kurz nach seiner Ankunft in Palermo, verfasst und später unter dem Titel Hymnus aus Sizilien veröffentlicht – ist nun dieser neue, patriotische Ton tatsächlich unüberhörbar: Germaniens Helden eroberten Das Nordgefild samt wonnigen Auen an dem Strand des Oreto selbst. Dieses Gestad’ ist noch des Ruhmes voll, Den zurückließ ihre gewaltige Faust: Wo Friedrich im Grabe schläft und Heinrichs Frühbestatteter Leib zugleich ruht im porphyrnen Sarkophag.2

Doch so richtig der Hinweis auf den neuen vaterländischen Ton auch ist – man darf nicht übersehen, dass der Sprecher des Gedichtes sich in der Nachfolge der altgriechischen Kultur weiß und diese auch und gerade als deutscher Dichter glaubt legitim fortsetzen zu können. Diese Vorstellung entspricht wiederum einem genealogischen Topos, der zuerst in der deutschen Graecophilie des achtzehnten Jahrhunderts aufkommt, um dann über Schiller, Friedrich Schlegel, Hölderlin, Humboldt,

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Osterkamp, Ernst (Hg.): Sizilien. Reisebilder aus drei Jahrhunderten. München 1986, S. 378. SW Bd. 4, S. 134, Zz. 43–48. Der Oreto ist ein kleiner Fluss bei Palermo. Im Dom zu Palermo stehen die Sarkophage Kaiser Friedrich II. und seines Vaters Heinrich VI.

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Nietzsche schließlich zu Heidegger zu gelangen, der mit Emphase sogar von einer »griechisch-deutschen Sendung«3 spricht. Aber zurück zum Gedicht, dessen Modellierung mythologisch-historischer Abläufe rasch nachgezeichnet sei: Platen geht vom Demeter- und Persephone-Mythos aus, den er in der Version eines Pindar (Erste nemeische Ode) und Ovid (fünftes Buch der Metamorphosen und viertes Buch der Fasten) synkretistisch nacherzählt. Zeus habe Sizilien der Demeter zum Geschenk gemacht: »Die Insel aber erhieltest du / von Zeus zur Mitgift«.4 Ein goldenes Zeitalter sei gefolgt, »als die Luft, durch griechische Lieder bewegt, / sanft bebete dem Saitenspiel Apollons, / den Päane des Volks am buschreichen Bergquell verherrlichet«.5 Doch später sei Persephone, die Tochter der Demeter, von Hades geraubt und in die Unterwelt gebracht worden, für die Insel ein schwerer Schicksalsschlag: »Und seit entleidiget dieses Land / der holden Obhut, schmachtet es in trägem, unermeßlichem Zauberschlaf: / heimischer Gottheit ist es beraubt nun«.6 »Tatkraft« und »reger Kunstfleiß«, die früher auf Sizilien blühten, seien »nach des Nords reizloseren Triften« entflohen, weil »der niemüde Menschengeist auch die spröde Natur bezwingt«.7 Der Hymnus mündet an dieser Stelle in die schon zitierte Passage über die mittelalterliche Eroberung Siziliens durch »Germaniens Helden«, um dann endlich die deutsche Gegenwart zu erreichen, die im Zeichen politischer und geistiger Erneuerung steht und damit den Sprecher in seinem Anspruch, mit den antiken Autoren sich messen zu können, bestätigt: Schön erwuchs Deutschland in heroischer Kraft; / doch schöner, die entwölkte Stirn mit Weisheit / krönend, stehet es jetzt, und stolz hebt’s den wahnfreien Blick empor. / So darf der redliche Dichter nicht / verzagen, der ehmaliger Bekränzungen entblätterten Raum betritt: / Hellas erscheint nicht mehr so furchtbar8 [im Sinne einer einschüchternd kulturellen Dominanz].

Platens Sizilien ist demnach ein Gedächtnisraum, in dem eine im Sinne Goethes ästhetisierte Antike mit Elementen deutscher Kultur und Geschichte verschmilzt. Das nationale Pathos ist forciert, ohne penetrant zu sein, da der heroisch-machtpolitische Aspekt hinter der kulturellen Sendung deutlich zurücktritt. Nicht zu übersehen ist dabei auch die Wiederaufnahme sozialkritischer Motive, die in der Italien-Literatur der Aufklärung eine Rolle spielten, aber andernorts und vor allem in Goethes Italienischer Reise längst verabschiedet waren. Denn die Rede vom »trägen, unermeßlichen Zauberschlaf«, der auf die antike Götterdämmerung

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Heidegger, Martin: Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«. In: ders.: Gesamtausgabe. II. Abteilung: Vorlesungen 1923–1944. Bd. 39 hg. v. Susanne Ziegler. Frankfurt am Main 1980, S. 151. SW Bd. 4, S. 134, Zz 31–32. Ebd., S. 133, Zz. 10–12. Ebd., S. 134, Zz. 37–39. Ebd., Zz. 40–42. Ebd., S. 135, Zz. 52–57.

Platen und Sizilien

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folgte, lässt sich gewiss auch auf die Herrschaft der katholischen Kirche und die Wirkung des katholischen Glaubens beziehen. Eine solche Deutung wird im Übrigen durch Formulierungen des Gedichts In Palermo bestätigt, das Platen am 16. September 1835, während seines zweiten Aufenthaltes in der sizilianischen Stadt, niederschrieb. Hier meldet sich ein kämpferischer Autor zu Wort, der nicht vor gereizten Invektiven zurückschreckt. Nach einem Eröffnungslob für die »Stadt Panorm« und ihrer Bewohner, setzt unvermittelt die antiklerikale Kritik ein: Doch hinter ehrnem Wahn verschanzt Herrscht hier allein der Pfaff; Das Seil, worauf so frech er tanzt, Er hält’s beständig straff! Aus jenen schönen Stirnen keimt Nie ein Gedank’ empor; Auf jede hat ein Brett geleimt Der schnöde Pfaffenchor. [...] Der Schlendrian, der alles knickt, Führt Tag an Tag vorbei, Und ach, des Jünglings Arm umstrickt Die tiefste Sklaverei! O Aberglaube, dickste Nacht, Wie drückst du schwer die Welt! Das Licht, es ist umsonst erwacht Am hohen Sternenzelt.9

Bei den Aufklärern Johann Heinrich Bartels10 oder Johann Gottfried Seume11 finden sich ähnlich kritische Einlassungen zu den Folgen kirchlicher Vorherrschaft auf Sizilien. Und auch Platens Tagebuch äußert sich immer wieder unmissverständlich, wenn es auf den Zusammenhang von Kultur, Nationalcharakter und Religion in Sizilien zu sprechen kommt. So findet die Rede vom »trägen Zauberschlaf« und dem entschwundenen »Kunstfleiß« im Hymnus aus Sizilien in dem Palermo-Notat vom 29. Mai 1835 seine Entsprechung: »Trägheit und gänzlicher Mangel an Kunstfleiß ist der Nationalfehler, wie die Habsucht in Neapel«.12 Und unter demselben Datum heißt es über die in Saus und Braus parasitär lebenden Geistlichen: »Ich sah auch das Kloster S. Martino in einer einsamen Berggegend. Großer Luxus der Mönche, prächtige Treppe mit mythologischen Malereien, Gärten, Springbrunnen, Bequem-

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SW Bd. 2, S. 141–143. Bartels, Johann Heinrich: Reise von Katanien in Sizilien bis zurück nach Neapel. Göttingen 1792. Seume, Johann Gottfried: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Braunschweig und Leipzig 1803. TB Bd. 2, S. 976.

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lichkeiten aller Art«.13 Als Platen sich in Catania aufhält, wiederholt er diesen Tadel: »Der ungeheure Luxus des Benediktinerklosters übertrifft noch weit jenen von S. Martino«.14 Eine weitere Konstante in diesem diaristischen Sizilien-Bild ist die Klage über die mangelhafte Bildung der Sizilianer, die hier mit zwei Beispielen belegt werden soll. Der erste Eintrag bezieht sich auf Catania, der zweite auf eine Begebenheit in Syrakus: Ein halbes Dutzend junger Leute begleitete mich in das Museum Biscari und ins antike Theater; aber ihre Unwissenheit ist im ganzen doch zu groß, um viel mit ihnen verkehren zu können.15 Diese Unterkunft verschaffte mir don Mario Landolina, ein hiesiger Adeliger, an welchen ich einen Brief von Schulz hatte. Dieser Don Mario ist ein alter Mann von außerordentlicher Güte und Gefälligkeit, aber wiewohl der gelehrteste Mann in Syrakus, keineswegs frei von der allgemeinen sizilianischen Unwissenheit, wie denn dies in einem Lande, wo es weder Bücher noch Zeitungen gibt, nicht anders sein kann.16

Soweit also die Wahrnehmungsmuster, die Platen mit Sizilien verband. Wenn wir jetzt weiter danach fragen, wie sein Andenken auf der Insel gepflegt wurde, so muss vorausgeschickt werden, dass diese Erinnerungskultur von den literarischen Texten weitgehend absah und sich vor allem in einem auf das Grabmal in Syrakus bezogenen Totengedenken manifestierte. Die spektakulärste Feier war gewiss diejenige, die anlässlich des einhundertsten Todestages 1935 in Syrakus stattfand. Mussolini hatte die Schirmherrschaft übernommen, der mit ihm befreundete Hans von Hülsen, Schriftsteller und Präsident der deutschen Platen-Gesellschaft, trat vor großem Publikum als Festredner auf. Wie es dazu kam, ist bekannt. Jochen Heymann hat in seiner Studie Tristans Irrungen im Land seiner Träume: August von Platen und Italien alle einschlägigen Quellen ausgewertet und auch den zeitgeschichtlichen Kontext erhellt. Folgt man nun dieser Darstellung, so ergaben sich »die politischen Hintergründe dieser pompösen Inszenierung« aus dem »Zusammenlaufen der außenpolitischen Interessen beider Länder«, d. h. des faschistischen Italiens und des nationalsozialistischen Deutschlands.17 Und Platen sei in einer solchen Situation sehr willkommen gewesen, da er »als hervorragendes Beispiel für die als schicksalhaft und historisch begründete Verbrüderung beider Länder gelten« konnte.18 Ein sizilianischer (oder besser: halbsizilianischer) Beitrag zur Zentenarfeier stellte die neue Auflage der

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Ebd. Ebd., S. 978. Ebd., S. 977. Ebd., S. 993. Heymann, Jochen: August von Platen und Italien. In: Bobzin, Hartmut und Och, Gunnar (Hg.): August Graf von Platen. Leben, Werk, Wirkung. Paderborn 1997, S. 123–148; S. 124. Ebd., S. 125.

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Platen-Übertragungen dar, die Emilio Weidlich schon 1930 mit dem Titel Egloghe – Idilli – Epigrammi veröffentlicht hatte.19 Emilio Weidlich, ein überzeugter Faschist, stammte aus einer der deutschsprachigen Unternehmerfamilien, die sich bald nach der Vereinigung Italiens aus kommerziellen Gründen in Palermo etabliert hatten. In Weidlichs Edition dominierte das poetische Reisebild, »die Kunstreflexion und erst recht die politischen Inhalte« wurden ausgeklammert, so dass ein doch sehr einseitiges und verzerrtes Platen-Bild entstand. Aber auch die Feier als ganze stand im Zeichen extremer Stilisierung, da man den »ästhetischen Tristan-Charakter« Platens betonte und damit zugleich den Eindruck erweckte, der Dichter sei »isoliert und entrückt«.20 Das Ereignis war freilich nicht singulär. Denn Sizilien und Syrakus hatten schon 1869 eine Platen-Feier erlebt, die in einer für Deutschland und Italien ähnlich brisanten Lage stattfand und mit den Einheitsbestrebungen beider Länder fast parallel verlief. Nur ein Jahr später – das sei hier kurz erinnert – sollten im Zuge des Risorgimento die Bersaglieri durch die Bresche der Porta Pia in den Kirchenstaat einrücken, und nur zwei Jahre später sollte die Proklamation des deutschen Kaiserreichs im Spiegelsaal von Versailles erfolgen. Man muss diese Daten und das politische Klima berücksichtigen, um den Verlauf der Feier verstehen zu können. Den Anlass bot die Einweihung eines Platen-Denkmals neben der Grabstätte des Dichters im Park der Villa Landolina. Ein deutsches Komitee, dem u. a. der Chemiker Justus von Liebig, Platens Jugendfreund, und der Philosoph Moritz Carrière angehörten, hatte Geld gesammelt und eine Marmorstele mit Büste gestiftet, die von der Hand des jungen bayerischen Bildhauers Schöpf stammte.21 Der Festakt verlief ähnlich pompös wie die Feier von 1935. Fürst Chlodwig zu Hohenlohe, der bayerische Ministerpräsident, schickte ein Dankschreiben, und der prominente Geologe und Ätnaforscher Baron Wolfgang Sartorius führte die deutsche Delegation an. Deutsche und Italiener hielten diverse Gedenkreden, und während die Nationalhymnen beider Länder gespielt wurden, legte eine aus den Volksschulen von Syrakus rekrutierte Mädchenschar Blumen und Lorbeerkränze auf dem Grab des Dichters nieder.22 Die Einweihung des Denkmals wurde auch von einer Festschrift begleitet, die unter dem Titel Onori letterari alla memoria del conte Augusto Platen-Hallermunde. Poeta bavarese erschienen ist. Das Herzstück dieser Publikation bestand aus der erweiterten Fassung der Studie Il conte di Platen e l’Italia. Cenni critici 19 20 21

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Platen, August von: Egloghe – Idilli – Epigrammi. Versione metrica di Emilio Weidlich. Palermo 1935. Ebd., S. 146. Vgl. Teuchert, Hans-Joachim: August Graf von Platen in Deutschland. Zur Rezeption eines umstrittenen Autors (Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft Bd. 284). Bonn 1980, S. 93f. »Una schiera di fanciulle delle scuole popolari […] a deporre corone di fiori e d’alloro sulla tomba dello estinto.« Zitat aus dem Abschlussbericht (»Conchiusione«) der Denkschrift: Onori letterari alla memoria del conte Augusto Platen-Hallermunde. Siracusa 1869, S. 90.

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e biografici. Ihr Verfasser, Salvatore Chindemi, war ein liberaler Gelehrter aus Syrakus, der 1848/49 am Aufstand gegen die Bourbonen aktiv teilgenommen hatte und deshalb aus dem Königreich beider Sizilien verbannt worden war. In seine Heimatstadt konnte er erst wieder mit Garibaldi im Jahre 1860 zurückkehren. Vor diesem biographischen Hintergrund kann es nicht überraschen, dass auch Chindemis Platen-Studie stark patriotisch und nationalistisch eingefärbt ist. Im Unterschied zu Emilio Weidlich beachtet er freilich auch die anschlussfähigen politischen Aspekte in Platens Werk. So werden z. B. die Polen-Lieder besonders hervorgehoben und seine Anteilnahme am Schicksal des der eigenen Nationalität beraubten polnischen Volkes, für das er – wie es blumig heißt – in seinem Herzen einen Schatz an Mitleid zu finden wusste (»trova nel suo cuore tesori di pietà«).23 Im Hinblick auf die italienischen Verhältnisse seiner Zeit erscheint Platen als hellsichtiger Geist, dem es gelungen sei, Ursachen und Gründe der Misere des Landes zu durchschauen (»scrutando addentro e meglio le cagioni e le ragioni delle nostre miserie«),24 und der auch nicht zögerte, die heimischen und fremden Unterdrücker Italiens zu verfluchen (»maledicando ai nostri oppressori domestici e stranieri«).25 Sogar die Venedig-Sonette Platens werden unter politischen Vorzeichen gedeutet. Denn Chindemi behauptet tatsächlich, dass diese Texte des deutschen Dichters die stärkste Bejahung des italienischen Rechtes auf Venedig darstellten, die sich denken lasse (»Questi canti di Platen sopra Venezia […] sono la più salda affermazione del nostro dritto manifestata dal più grande poeta alemanno«).26 Dass auch hier wieder auf aktuelle Ereignisse angespielt wurde, liegt auf der Hand, schließlich war Venedig erst drei Jahre zuvor, am Ende des dritten Unabhängigkeitskrieges, von dem unterlegenen Gegner Österreich an Italien abgetreten worden. Der Essay schließt mit dem Wunsch, dass Rom bald zur Hauptstadt des neuen Königreiches Italien avancieren und Deutschland auch seine staatliche Einheit erringen möge. Sei das erfüllt, könnten beide Länder von jahrhundertealten Abneigungen ablassen (»smettere gli odi e i rancori seccolari«27) und als große und freie Nationen (»grandi e libere nazioni«28) endlich in die europäische Geschichte eintreten. Blicken wir von hier aus nochmals zurück auf die Platen-Feier von 1935, so überrascht doch die merkwürdige Koinzidenz. In einem Zeitraum von knapp siebzig Jahren wird das Andenken des Dichters gleich zweimal benutzt, um ein ideologisches Fundament für deutsch-italienische Bündnisse zu schaffen. Und obwohl wir uns doch auf sizilianischem Boden befinden, sparte man bei beiden Festakten und den mit ihnen verbundenen Publikationen das an sich Naheliegendste aus: das

23 24 25 26 27 28

Ebd., S. 22. Ebd., S. 10. Ebd. Ebd., S. 51. Ebd., S. 13. Ebd., S. 14.

Platen und Sizilien

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Gedicht auf Palermo und den Hymnus aus Sizilien. Aber vermutlich waren der Hinweis auf den »trägen Zauberschlaf« der Sizilianer29 und die Erwähnung des »schnöden Pfaffenchors« in diesen Texten für das Projekt einer im chauvinistischen Sinne politisierten Platen-Rezeption nicht nur nicht wirksam, sondern ausgesprochen hinderlich.

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Obwohl hier bestimmt nicht von einer wirkungsgeschichtlichen Beziehung ausgegangen werden darf, sei an dieser Stelle auf eine verblüffende Parallele zwischen Platen und Tomasi di Lampedusa verwiesen. Im vierten Kapitel seines großen Romans Il Gattopardo, während des berühmten Zwiegesprächs zwischen Fabrizio von Salina und dem piemontesischen Gesandten Aimone Chevalley, lässt Tomasi den Fürsten ganz so wie Platen von der Verschlafenheit der Sizilianer sprechen: »Den Schlaf, lieber Chevalley, den Schlaf wollen die Sizilianer, und sie werden immer den hassen, der sie wecken will, brächte er ihnen auch die schönsten Geschenke.« Tomasi di Lampedusa, Giuseppe: Der Leopard, dt. v. Charlotte Birnbaum. München 1959, S. 211.

Clemens Heydenreich

Dichten auf fremdem Terrain Platens Venedig-Sonette und ihr Nachhall bei Rudolf Hagelstange und Robert Schindel Wer immer sich nach dem Jahre 1834 in einem lyrischen Text der Stadt Venedig widmet, hierzu die Form des Sonetts wählt und nicht August Graf von Platen heißt, der begibt sich mit Vorsatz auf abgestecktes Terrain. Diese These ist axiomatischer Art und schwerlich positivistisch zu erhärten, scheint mir aber zumindest dann zwingend zu sein, wenn es um Autoren geht, die sich im Kulturkreis der deutschen Sprache bewegen und sich reflektiert mit dessen lyrischer Tradition auseinandersetzen. Ich möchte im Folgenden der Frage nachgehen, wie bestimmte Themen und Topoi, die Platen setzt, in Verbindung mit dem speziellen Gestus, in dem er das tut, bis hin in die neuere deutschsprachige Lyrik nachwirken. Hierzu ziehe ich eine Linie von Platens Venedig-Sonetten (1825/1834) über Rudolf Hagelstanges Venezianisches Credo (1944) bis zu Robert Schindels Gedicht Venezianisches Sonett (1986). Meine Leitmetapher ist dabei die lyrische Erschließung fremden Territoriums durch den Dichter. Diese ist auch ein Prozess der Überschreibung des faktual Vorgefundenen mit autofiktionalen und poetologischen Konstrukten. Somit wirkt in ihr ein Gestus der Eroberung, den ich zunächst in Platens Zyklus nachzuweisen und poetologisch einzuordnen versuche, um dann aufzuzeigen, dass er sich in späteren Texten – kontaminiert mit dem geistesaristokratischen Gestus der Platen-Epigonen – verselbständigt und bei Hagelstange eine ideologisch prekäre Richtung einschlägt, die dann wiederum Schindel sarkastisch kritisiert. Wenn es eine real existierende Stadt gibt, die als die ex-territoriale Stadt schlechthin gelten kann, dann ist es Venedig. Dieser gänzlich dem Nicht-Territorium, nämlich dem Meer abgewonnene Architekturkomplex fällt ab der Wende zum 19. Jahrhundert nicht nur sukzessive verschiedenen politischen Mächten anheim, die sich territorial immer wieder umorganisieren, sondern auch den Dichtern. Im Bereich der deutschsprachigen Literatur ist es August von Platen, der die Stadt in seinen Sonetten aus Venedig so überformt, dass kein ihm nachfolgender Textkünstler – zumindest kein Sonettist – mehr ein anderes Venedig betreten kann als das Platens. Ich möchte zunächst im Laufe einer gerafften Lektüre der Sonette aus Venedig zeigen, dass dieser Textkomplex implizit auch seine eigene Entstehung beschreibt: Indem er nämlich den Weg seines dichtenden Protagonisten durch ein real existierendes Territorium zugleich darstellt als eine laufende Überformung dieses Territoriums mit etwas, das ich zur besseren Unterscheidung ›Topografie‹ nennen möchte – also mit einer Schrift-Konstellation aus Schrift-Orten in einer Gedichtform, die per se im Gleichnis der Architektur steht: dem Sonett. Damit hoffe ich zeigen zu

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Clemens Heydenreich

können, dass für nachfolgende Venedig-Sonettisten der Double-Bind ihres Rückbezugs einerseits auf diese Topografie und andererseits auf ihre sonettistische »Bebauung« gleichsam einen autoritativ geschützten Raum eröffnet, der es ermöglicht, an die dort vorfindlichen Topoi je nach Bedarf anzubauen, sie umzubauen oder zu untergraben.

I.

Überschreibung: Platens Sonette aus Venedig als topografisches Meta-Sonett

Der Venedig-Zyklus ist von zentraler Bedeutung für die Rezeption Platens im 19. Jahrhundert. War es doch seine in schmaler Auflage publizierte Erstfassung von 1825, die Goethes folgenschweres Diktum vom Dichter »ohne Liebe« auf sich zog, der nur »tönendes Erz« hervorbringen könne. Man fragt sich, was Goethe, der bereits in der Erstversion des Zyklus (in Verkennung der Poetologie Platens) die subjektive Erlebnis-Unmittelbarkeit seines eigenen Lyrikkonzeptes vermisste, wohl zu dessen Letztfassung von 1834 gesagt hätte. Sind doch in ihr wesentliche Züge der Form von 1825 getilgt, die es zugelassen hatten, jene als lineare Erzählung zu lesen, als ein Reisetagebuch in Versform. So fehlen die beiden Sonette, mit denen der ursprüngliche, 16-teilige Zyklus geendet hatte: In [Ich liebe dich, wie jener Formen eine] und [Was läßt im Leben sich zuletzt gewinnen]1 hatte sich – korrespondierend mit dem im Anfangssonett beschriebenen Schauer der Ankunft – des Reisenden Angst vor der unausweichlichen Abreise ausgesprochen, die auch den Abschied von einem personalen Objekt der Liebe bedeutet. In der Letztfassung findet dieses Thema nur noch in einem Sonett statt, in [Weil da, wo Schönheit waltet, Liebe waltet], dem vorletzten unter nun noch 14 Texten. Und dieses rechnet zwar mit einer Zeit nach dem Aufenthalt (»Ich weiß, daß nie mir dies Gefühl veraltet / denn mit Venedig wird sich’s eng verzweigen«).2 Doch ohne den Zusammenhang der entfallenen beiden Texte, die vielfach von Letztmaligkeit und Rückschau sprechen (»Eh mir ins Nichts die letzten Stunden rinnen / will noch einmal ich auf und nieder wallen«),3 liest sich das Ende des Zyklus anders. Das Schlusssonett beginnt so, wie das vorletzte endet: Mit einer Formel der Iteration. »Alle Nächte« bzw. »Wenn [lies: immer, wenn] tiefe Schwermut meine Seele wieget«, sucht der Sprecher bestimmte Orte der Melancholie auf. Pointiert gesagt: Die pragmatische Frist, nach der der Autor Platen im November 1824 die bereiste Stadt zu verlassen hatte, ist dem »Ich« seines Venedig-Zyklus von 1834 nicht mehr gesetzt. Es verliert sich in einem ausweglosen Zirkel der Repetition, dessen einzig denkbaren Fluchtpunkt der »Blick hinaus ins dunkle Meer« nur andeutet.

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Vgl. von Platen, August: Sonette aus Venedig. Erlangen 1825, S. 16f. Vgl. W S. 383f. Platen: Sonette (wie Anm. 1), S. 18.

Dichten auf fremdem Terrain

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Seine Ausweglosigkeit ist, mit Horst Thomé gesprochen, die des »Fremdlings«, dem – anders als dem »Ich« der Römischen Elegien Goethes4 – das bereiste Terrain fremd und die Einbürgerung verwehrt bleibt. Und doch ist die Integration, die hier misslingt, »nur« diejenige im erotischen Sinne. Sehr wohl hingegen ist der Weg durch 14 Einzeltexte, die das »Ich« bis zu seinem melancholischen Resümee genommen hat, ein Weg der Anverwandlung von Stadt und Dichter, ein Weg der Besetzung des fremden Terrains also, das er »mehr und mehr zu kennen« beansprucht – und das er in der Version von 1834 nicht mehr verlässt: Der exterritorialisierte Dichter (und das war Platen 1834 ja tatsächlich auch im Wortsinne) erobert sich in der Fremde demonstrativ einen Nicht-Ort aus Sprache, der ihm gemäßer ist als jenes schnöde Herkunftsterrain, das er verlassen hat – und sei es nur dadurch, dass er es ihm gestattet, seine eigene Verortung oder Nicht-Verortung auf ihm qua eigener Gestaltungsmacht zu bestimmen. Platens Letztfassung besteht – wie gesagt – aus 14 Texten, also so vielen, wie ein einzelnes Sonett Zeilen hat. Das legt nahe, nach einem (meta-)sonettistischen Bauplan zu suchen, der ihr zugrunde liegen könnte. Versuchsweise möchte ich jene 14 Texte also einmal so betrachten, als stellten sie die 14 Zeilen eines großen MetaSonetts dar. Und tatsächlich erweisen sich so bereits die ersten vier Texte als eine thematisch geschlossene Konstellation – als ein ›erstes Quartett‹ gleichsam: Alle vier handeln von der Suche des Reisenden nach Orientierung im fremden Raum. Diese gestaltet sich zunächst als optische Perspektivsuche – und lässt sich zugleich als Suche nach der geeigneten (oder eher: als Rechtfertigung für die gewählte) Ausdrucksform lesen, nämlich die des Sonetts. Erzählt das erste Gedicht die (vom Meer aus) horizontal verlaufende Erstsichtung der Stadt – die sich dem »Auge« bezeichnenderweise in der metonymischen Gestalt von »Palladios Tempel[n]« zeigt – und ihre zaudernde Erstbegehung, so folgt im zweiten Gedicht die vertikale, olympische Draufsicht vom Turm aus. In ihr »teilen sich die Massen«. Die Stadt als Ganzes sortiert sich zum »Bild« und wird nicht nur über ihre Grenzen hinaus als Zentrum einer Symmetrie von »Ozean« und »Alpen« erkennbar, sondern eröffnet sogar den visionären Blick in ihre vierte Dimension, in die Tiefen ihrer Historie: »Und sieh, da kam ein mut’ges Volk gezogen«. Man könnte diese Perspektive als Reflex auf den erkenntnisstiftenden Rundumblick Petrarcas vom Mont Ventoux herab lesen. Was allemal auffällt: Beide ersten Sonette arbeiten mit Reizmetaphern aus der Sonettpoetik in August Wilhelm Schlegels Petrarca-Vorlesung. In ihr ist nicht nur vom Sonett als einem »Tempel« die Rede – und zwar einem Tempel in eben jener klassisch-griechischen Bauart, die Palladio nachempfindet –,5 sondern auch von

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Vgl. Thomé, Horst: Platens Venedig-Sonette im Hinblick auf die Römischen Elegien Goethes. Überlegungen zum historischen Ort des »Biedermeier-Ästhetizismus«. In: Titzmann, Michael (Hg.): Zwischen Goethezeit und Realismus. Wandel und Spezifik in der Phase des Biedermeier. Tübingen 2002, S. 11–38. »Soll ich es durch ein Gleichnis aus der Architektur deutlicher machen, so denke man sich einen länglicht viereckigen Tempel, die zweiten Seitenwände, welche ihn einschlie-

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jenen thematischen »Massen«, die das Sonett zu strophischen Sinneinheiten zu proportionieren gestattet.6 Als der im Wortsinne »angemessene« Blick des Auges auf Venedig wird also der sonettistisch gefilterte Blick postuliert (und zwar der italienisch-sonettistische).7 Und dies bereits an einer Stelle, an der jenes Sprecher-Subjekt des Zyklus, das im Folgenden auch »das ›Ich‹« genannt sei, sich selbst noch gar nicht als einen Dichter bezeichnet hat. Im dritten Sonett hat sich die erworbene Fähigkeit zum ordnenden Blick bewährt: in der Wahl eines Schwellenorts am Wasser, wo das »Ich« ein Symmetriezentrum zwischen den Blickrichtungen auf Meer und Stadt einnimmt, die es nach Gefallen kontrastieren kann. Und im vierten Text – im Quartett gleichsam der umfassende Reim, der auf den ersten antwortet – hat der Sprecher »diesen Taumel überwunden« und seine Orientierungssuche ein Ende. Denn auch für das Durchschreiten der Stadt ist nun ein Leitfaden gefunden: Es sind die allfällig übers Weichbild verstreuten Kunstwerke des »Gian Bellin«. Am Ende des ersten Quartetts also hat das »Ich« sich nicht nur den Makrokosmos des Raums Venedig erschlossen, nämlich qua ästhetischem Blick als ein »Bild«, sondern auch den Mikrokosmos der Orte innerhalb dieses Raums – und diese sind, im kleineren, ihrerseits Bilder. Mit einem Wort gesagt: Dem architektonischen Blick des Sonettisten erschließt sich die Topo-Grafie des gesamten Kunstortes wie seiner partikularen Kunst-Orte. So autonomisiert, verhandelt das »Ich« in den Sonetten 4 bis 8 – also dem ›zweiten Quartett‹ – die historische Tiefendimension, den Vergleich zwischen Venedigs Vergangenheit und Gegenwart, den die Kunst-Orte (von den »ehr’nen Hengsten« bis zu Paolo Veroneses Venezia-Allegorie) ihm wahrzunehmen und zu werten erlauben. Das fünfte Sonett zieht diesen Vergleich im politischen Sinne und stellt eine Deszendenz-Diagnose, die auch für die Einwohnerschaft wenig schmeichelhaft ausfällt (»Wo ist das Volk von Königen geblieben[…]?«), das sechste im kunsthistorischen (»Im Tode hat nun jeder seine Krone«) und das siebte in beiden Hinsichten. Es stellt zugleich fest, dass (und warum) in puncto Kunstniveau keine Deszendenz festgestellt werden kann, die der politischen entspräche: Die alten Meister sind in

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ßen, von der schlichtesten Bauart und ohne Verzierung, sind die Quartetts; die schmalere Hinterseite gleicht zwar auf gewisse Weise dem Fronton, ist aber doch am wenigsten in der Erscheinung hervorzutreten bestimmt: diese würde dem ersten Terzett entsprechen; die Vorderseite endlich krönt wie das letzte Terzett, und schließt das Ganze, gibt dessen Bedeutung im Auszuge, und zeigt an den stützenden Säulen und dem deckenden Giebel die reichste Architektonische Pracht, jedoch immer mit einfacher Würde.« Schlegel, August Wilhelm: Geschichte der romantischen Literatur. In: ders.: Kritische Schriften und Briefe. Hg. von Edgar Lohner. Bd. IV. Stuttgart 1965, S. 192. Vgl. etwa: »Es muß also eine gleichgeordnete Strophe mit denselben Reimen hinzukommen, ABBA | ABBA | wodurch dann entsteht, daß in 8 Zeilen nur 2 getrennte Massen befindlich sind«. Schlegel, a. a. O., S. 188. Womit Platen wiederum nahe bei Schlegel ist, wenn auch ohne dessen antifranzösischen Impetus zu teilen.

Dichten auf fremdem Terrain

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ihren Werken ungeschmälert präsent geblieben, und entsprechend werden sie bei Platen auch stets im Präsens angesprochen. Wenn das siebte Sonett zunächst selbst eine Allegorie gebraucht (die vom Rad der Fortuna), um dann in der sprachlichen Anrufung »Venezias« die allegorische Bewältigung des Venedig-Themas durch Paolo Veronese zu rühmen, dann bringt sich der »Dichter«, der sich hier erstmals als ein solcher benennt, zugleich als Erben jener Bildkünstler ins Spiel. Und spätestens hiermit, genau in der Mitte des Zyklus also, gibt sich das »Ich« als jemand zu erkennen, der sich des fremden Terrains zu bemeistern müht – in der imitatio veterum zwar, aber aus ureigenem Antrieb. Auf den Punkt bringt ihn das achte Sonett, in dem die Kunstanschauung als Ansporn bezeichnet wird – und zwar als ein Ansporn, der dem petrarcistischen Affekt brünstiger Liebe entspricht: »Stets mehr empfind ich dich als ohnegleichen, / Seit mir’s gelingt, dich mehr und mehr zu kennen [wieder ein resümierendes »seit«, im 8. wie im 4. Sonett.]. / Im Tiefsten fühl ich meine Seele brennen, / Die Großes sieht und Großes will erreichen.«8 Auch der nacheifernde Dichter, so lässt sich ergänzen, gedenkt in seinem Werk überhistorisch präsent zu bleiben. Die Ambiguität aus Liebe zur Kunstschönheit und Liebe zur menschlichen Schönheit, die der Sprecher hier – die allegorische Venedig-Anrede des Vorgedichts aufnehmend – einführt, erschließt ihm für die Schlusstexte die Lizenz zur erotisch getönten Liebesrede. Die Sonette 9 bis 11 und 12 bis 14 (also die beiden ›Terzette‹ des Zyklus) werden je einen davon behandeln, und zwar in derselben Reihenfolge, die die Terzette des achten Sonetts vorgeben. Zunächst die »Fülle […] von Kraft und Milde«, die den Kunstwerken innewohnt: Die Sonette 9 bis 11 behandeln Kunstwerke, in ihnen hat die Platensche »Kunstreligion« ihren Ort. Und dann die »schönste Blüte lebender Gestalten«: Die Sonette 12 bis 14 sind der Verehrungswürdigkeit von Kunstwerken aus Fleisch und Blut gewidmet. Dabei ist sogar ein dreifacher thematischer Parallelismus zwischen den je drei Texten dieser beiden Terzette zu erkennen: Im 9. wie im 11. Sonett wird die Volatilität zwischen Kunst- und Natursphäre behandelt – »Hier wuchs die Kunst wie eine Tulipane« (9) vs. »Hier seht ihr freilich keine grünen Auen« (11). Wobei das »hier« in der letzteren Zeile, in der sich erstmals eine »ihr«-Ansprache nicht an Dritte, sondern an die Leser wendet, mit Fug auch selbstreflexiv auf den Raum des Gedichts bezogen werden kann. Im 10. wie im 13. Sonett formuliert ein Liebender die Unerträglichkeit des Gedankens an die Trennung – mit dem entscheidenden Gegensatz freilich, dass er sich von den Malern nicht trennen muss (»Denn euch zu missen könnt ich nicht ertragen«), vom Geliebten jedoch sehr wohl (»Kein Mittel giebt’s, das mich dir näherbrächte«). Und das 11. wie das 14. Sonett (im letzteren scheint zwar auf den ersten Blick kein personales Gegenüber vorzukommen, doch hat Thomas Borgstedt verdeutlicht, welche klar petrarcisti-

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W S. 381.

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schen Traditionsmuster es abruft) 9 zeigen die Einsamkeit des Entsagenden, hie des Asketen Johannes, da des resignierenden Liebenden. Zusammengefasst gesagt: Quartett 1 schildert die Ortsuche des Ich im städtischen Raum, Quartett 2 überträgt diese Ortsuche in den überzeitlichen Raum der Kunst, der aber auch erotisch aufgeladen ist – und in den das Ich, das sich exakt in der Zyklusmitte einen »Dichter« nennt, ausdrücklich einzuschreiben beginnt. Terzett 1 schildert die gelingende Verortung als Prophet und Apologet des Kunstschönen, der dessen »Evangelium verbreiten« will, als ob man damit noch »die Welt zu lehren« vermöchte, in Terzett 2 geht es – reziprok – um die scheiternde Verortung gegenüber dem erotischen Objekt der Begierde. Mit diesem Durchritt durch die Makrostruktur des Zyklus sollte gezeigt werden: Er beschreibt, wie ein autofiktionales Dichter-Ich ein faktuales Terrain beschreitet und es dabei peu à peu mit einer künstlerischen Topo-Grafie überblendet, deren Topoi er nach eigenen Maßgaben konstelliert. Ob es die Kunstreligion ist, die laudatio temporis acti, die Schnittmenge zwischen Natur und Kunst oder das Verhältnis von Ordnung und Chaos – jedes Thema hat seinen kompositorisch fundierten Ort im Zyklus. Untergeordnet sind sie einer sonettistischen Anordnung von Verheißung und (Nicht-)Erfüllung, die in gut Schlegelschem Verständnis kontrastiv verläuft und sinnstiftend mindestens in selbsttherapeutischem Sinne wirkt. Wenn der Zyklus insofern insgesamt von einer gelingenden Eroberung und Aneignung der KunstSphäre Venedigs handelt, dann nicht zum wenigsten deshalb, weil dies andererseits erlaubt, das Thema des Strebens nach einer erotischen Aneignung (und damit auch Selbstverortung) zu platzieren – an einer Stelle, an der es rhetorisch-argumentativ stimmig ist, an der es durch Analogsetzung legitimiert werden und zugleich sein Scheitern durch Kontrastierung als tragisch beschrieben werden kann. Zwar lässt es der Zyklus auch noch in dieser seiner »Fassung letzter Hand« prinzipiell zu, ihn linear-chronologisch und »narrativ« zu lesen. Gleichwohl wirkt er spätestens ab seiner Mitte nicht mehr wie ein Reisetagebuch, sondern gewinnt die statische Anmutung einer architektonischen Konstellation, ebenso wie jeder einzelne seiner sonettistischen »Tempel«, die er verschiedenen Themen weiht. Seit um 1900 die Tagebücher Platens öffentlich wurden, hat sich die Forschungstendenz stets verstärkt, des Autors strengen Formprimat und seine Selbstaussagen zur »Überwindung der Individualität« als von nichtdiskursiven Interessen her geleitet zu lesen, nämlich von Platens Homosexualität her. Wurde dieses Interesse zunächst eher auf die sublimatorische Kraft der Stilisierung bezogen,10 so betont man in den letzten Jahren eher die poetische Lizenz zur camouflierenden Ausspra-

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Vgl. Borgstedt, Thomas: Der Ruf der Gondoliere. Genretheorie, Formpoetik und die Sonette August von Platens. In: Martus, Steffen, Stefan Scherer und Claudia Stockinger (Hgg.): Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur. Bern u. a. 2005, S. 295–325, insb. S. 314ff. Vgl. etwa Link, Jürgen: Artistische Form und ästhetischer Sinn in Platens Lyrik. München 1971.

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che des Unaussprechlichen – einer zugleich offenen und wenn nicht geheimen, so doch »geschützten« Aussprache.11 Dieser Blick aufs Gesamtarrangement des Zyklus unter der Leitfrage des Schreibinteresses ist relativ neu. In der ersten Zeit nach Platens Tod fällt auf, dass eher einzelne Texte des Zyklus selektiv rezipiert wurden12 – das mag begünstigt worden sein durch die weniger erzählerische denn »topografische« Anordnung des Zyklus von 1834 als einer Konstellation von Orten für abgrenzbare Themen. Mal hatte in der Folgezeit dieses Thema Konjunktur, mal jenes. Schule machte Platen als ein poet’s poet, dessen Werk nachgeborenen Lyrikern zur Grundlage der je eigenen, besonders aber auch der wechselseitigen Versicherung über Aufgabe und Stellenwert von Lyrik geriet. In der nachrestaurativen Epoche stieg hier (den behandelten Themen noch vorgängig) die Wertschätzung für Platens »Formstrenge« und seinen byronesk-aristokratischen Habitus. Sie machten ihn zum Urbild des verehrungswürdigen, lorbeergekrönten Dichterfürsten, an dem sich ein in der nicht mehr adelsdominierten Gesellschaft kompensatorisch beschworenes Konzept vom Geistesadel kristallisieren ließ, in dem Ethik und (klassizistische) Ästhetik verschwammen. Für den Epigonen fiel es in eins, eine solche Platen-Imago zu entwerfen, Platens Selbstbild als zu Lebzeiten tragisch unverstandener, doch auf das bessere Wissen einer postumen Verehrerschaft hoffender Dichter zu affirmieren und sich selbst mithin jenes bessere Wissen als symbolisches Kapital zuzusprechen. Bereits Heinrich Heine boten Ansätze zu solcher Schulbildung Material, um 1851 dem längst verstorbenen Antipoden eine letzte Spotttirade über jene »Plateniden« und »Hallermünder« nachzurufen,13 die es ihrem Wahl-Stammvater in der pathetischen und uneingelösten Beschwörung großer Wirkabsichten gleichtäten – auch ein letztes unappetitliches Gedankenspiel über den Zusammenhang von Homosexualität und genealogischer Nachfolge. Da hatte Paul Heyse den Münchner Dichterkreis »Die Krokodile« noch gar nicht gegründet – ab 1855 aber brachte dieses literarische Netzwerk unter vielem anderen auch eine Fülle von Venedig-Lyrik

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Vgl. den genannten Aufsatz von Thomas Borgstedt (wie Anm. 9). Diese Selektivität galt auch noch unter dem neuen Vorzeichen der um 1900 in den allgemeinen Blick geratenen Homosexualität Platens: 1887 hatte eine Platen-Anthologie bei Göschen aus den Venedig-Sonetten fünf ausgewählt, nämlich die Nummern 1, 2, 5, 7 und 12. Sie setzte mithin ihre Schwerpunkte auf die orientierende Erstbegegnung von Ich und Stadt, den politischen wie kunsthistorischen Zeitenvergleich sowie das Postulat der Einheit von Kunst und Alltagsleben – ausgespart aber blieb die Begehrensartikulation in beiden Spielarten, der Melancholie-Topos des Schlusses sowie die Kunstreligion. (von Platen, August: Gedichte in neuer, volkstümlicher Auswahl. Stuttgart 1887, S. 79–84). 1906 indes, als Platen in einer Anthologie bei Langewiesche-Brandt mit 15 Gedichten vertreten ist, finden sich darunter neben just derselben Auswahl (und dem Sonett Nummer 3) noch das abschließende Sonett 14 – und die Schlusstexte der Erstfassung, »Ich liebe dich, wie jener Formen eine« sowie »Was lässt im Leben sich zuletzt gewinnen?«. Vgl.: Die Ernte der deutschen Lyrik aus acht Jahrhunderten. Ebenhausen 441950, S. 305–309. Heine, Heinrich: Plateniden. In: ders.: Sämtliche Schriften in zwölf Bänden. Hg. von Klaus Briegleb. Bd. 11: 1851–1855. München 1976; S. 97f.

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hervor: Etwa von Hermann Lingg (Die Seestädte), Adolf von Schack (Venezia, Die Glocken des Campanile) und Emmanuel Geibel (Abendfeier in Venedig). Die darunter befindlichen Sonette sind Anschauungsmaterial für einen eigentümlichen Vorgang: Das exterritoriale Literatur-Venedig, das Platen aus Gründen und als Monument seiner Desintegration geschaffen hat, wird vom Literaturbetrieb integriert und wirkt als Integrationsort, und die Topoi, mit denen Platen es bebaut hat, werden zu Gemein-Plätzen, zu Versammlungsorten, an denen geistesaristokratisch gesinnte Nachfolger sich einfinden und teilweise – um im Bild zu bleiben – selbst An- und Umbauten vornehmen. Das Gelände gilt als befestigt, während Platens Motive, es derart zu befestigen, aus dem Blick der Lektüren geraten. Als Beispiel für diese Integrationskraft seien zwei Beispiele dafür genannt, dass selbst Lyriker nichtdeutscher Herkunft das Subgenre des Venedig-Sonettismus bedienten, um Anschluss im literarischen Feld des deutschsprachigen Raumes zu finden. Etwa der Schweizer Heinrich Leuthold14 (1827–1879), der verschiedenen italienischen Städten Sonette widmete. In seinem 1855 publizierten auf Venedig begegnet nahezu kein Wort, das sich nicht auch bei Platen fände: Aus Venedig Venezia, wie bist du tief gesunken! Herrin des Meeres einst und dreier Reiche, Nun leblos, eine schöne Marmorleiche, Um die noch Gold und ird’sche Flitter prunken. Und deine Kunst! Wie oftmals stand ich trunken Vor Tizian, dem keiner sich vergleiche, Bellin und Paul und Palma, deren reiche Schöpfrische Kräfte lichte Gottesfunken. Und doch, ich kann, ich kann nicht um dich trauern, Ob deine Heldengröße auch zertrümmert, Ob auch entblättert deine Lorbeerkrone: Blieb doch die Schönheit noch in deinen Mauern. Ein Tor, der um Vergangenes sich kümmert, Sieht er das Volk hier in Palästen wohnen!15

Dieser Nekrolog auf das personifizierte gefallene Venedig rekombiniert fast alle Themen des Platenschen Zyklus – mit Ausnahme, bezeichnenderweise, der Liebesthematik. Wie baukastenhaft der akademische Stilkopismus sich einzelner Platenscher Topoi bedient, zeigt sich darin, dass Leuthold die politische Deszendenzklage

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Siehe dazu Häntzschel, Günter: Neue Deutsche Biographie 14 (1985) s. v. »Leuthold, Heinrich«, S. 385f., der urteilt: »Von seinen Vorbildern Heine, Platen, Byron und besonders Geibel hebt er sich zu wenig ab.« Leuthold, Heinrich: Gesammelte Dichtungen in drei Bänden. Hg. von Gottfried Bohnenblust. Frauenfeld 1914, S. 184.

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Platens zur Variation nutzt: In der obigen Version des Textes halten die Terzette dem politischen Abstieg Venedigs eine konstant gebliebene Einheit von Kunst und Leben entgegen – versöhnlich und analog zur Vorlage. In einer zweiten Version aber weitet Leuthold die Deszendenzklage der Quartette geradezu nihilistisch aus auf den kulturellen Zustand Venedigs: Nun ist der Schönheitssinn der hohen Ahnen Aus seltenen Gemälden nur und Torsen Zerfallender Paläste noch zu ahnen, Indessen deines Ruhmes stolze Fahnen Erst Siegstrophä’n geworden jenem Korsen, Nun Teppiche dem Fußtritt von Germanen.

Diese Variante erlaubt es Leuthold, der auch politischer Feuilletonist war, die geborgte ästhetische Autorität Platens als eine kulturmoralische gegen das Habsburgerreich in Stellung zu bringen – dieses hatte 1849 die revolutionäre »Repubblica di San Marco« niedergeschlagen und das ihm wieder zugefallene Venedig anschließend noch vier Jahre militärisch besetzt gehalten. Aus komparatistischer Sicht höchst bemerkenswert ist ein spätromantischer Text des Italieners16 Gaetano Cerri (1826–1899), der 1850 entstand. Venedig So oft ich seh’ in düst’rer Mondeshelle, Wie, folgend einem inn’ren dunklen Zwange, Das Meer sich schmiegt in ungestilltem Drange Wild an Venedigs bleiche Marmorschwelle – Ist’s mir als wäre diese dunkle Welle Ein düst’rer Knabe, der verstört und bange Auf der Geliebten bleicher Todtenwange Getäuscht von Neuem sucht des Lebens Quelle. Und tönt dann durch die öde Kirchhofstille Vom Markusthurm die zwölfte Stunde, schaurig, Wie das Gestöhne einer Schmerzsibylle:

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Gaetano Cerri wurde 1826 in Bagnolo bei Brescia geboren, und zwar als »Sohn des k. k. Districtskommissärs in Cremona« und somit zwar als Italiener, aber mitten hinein in die Bürokratie des damals über die Lombardei herrschenden Österreich. Mit dieser Familiensozialisation dürfte es zu tun haben, dass es Cerri bereits als 13-Jährigen nach Wien verschlug, wo er am städtischen Konvikt das Deutsche erlernte. Als sein ganz persönliches Hauptmotiv für diesen Spracherwerb nennt die ADB Cerris Wunsch, den Briefroman Ultime lettere di Jacopo Ortis von Ugo Foscolo, der 1802 erschienen und sogleich als »Der italienische Werther« gefeiert worden war, mit Goethes Prätext in dessen Originalsprache vergleichen zu wollen. Vgl. Brümmer, Franz: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 47 (Nachträge bis 1899). Leipzig 1903, s. v. »Cerri, Cajetan«, S. 468–469.

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88 So ist’s als wenn aus einem dumpfen Grabe Das Wort ertönte, wehmutsvoll und traurig: »Lass ab! die Todten stehn nicht auf, o Knabe!«17

Kaum zu verkennen ist, dass Cerris Text atmosphärisch wie situativ an Platens Abschlusssonett anknüpft, aus dem es gleichsam schauerromantischen Honig saugt. Wie bei Platen nimmt der Sehende einen Ort an der Schwelle zwischen Meer und Stadt, zwischen Natur und der Natur Abgerungenem ein. Das »So oft…« setzt das Erzählte, analog zu Platens »Wenn…«, in die Iteration, womit seine Intensität also nicht aus der Einmaligkeit eines unerhörten Ereignisses hergeleitet wird, sondern aus einer regelmäßigen, bestätigenden Wiederholung. Und wie bei Platen handelt das Geschilderte von unerfülltem Begehren – doch transponiert Cerri dieses in die Beziehung zwischen Natur- und Kulturraum. Nicht mehr selbst Träger des Begehrens ist hier das »Ich«, das vielmehr – ganz romantisch – zum Zentrum einer »Als-ob«-Empfindung wird, zu einem Medium, in dem Wahrnehmung und Metapher einander teils brechen, teils harmonisieren. Den gesehenen Kontrast zwischen natürlich-dynamischem Wellenandrang und statisch-kulturverhafteter Stadt übersetzt es in das Bild vom toten Mädchen und dem es überlebt habenden, verzweifelt werbenden Knaben. Spannend ist an diesem Text vor allem seine Rezeptionsgeschichte, die das literarische Feld des deutschsprachigen Raums sogar noch hinter sich lässt: Der rumänische Nationaldichter (und deutschkundige Platen-Verehrer) Mihai Eminescu hat es in zwei Stufen erst nach- und dann zum poetologischen Programm umgedichtet – ein Nachspiel der Rezeptionsgeschichte Platens bis in die Gründerzeit des Sonettismus in Rumänien.18

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Cerri, Cajetan: Aus einsamer Stube. Wien 1864, S. 26. Christian Wentzlaff-Eggebert sieht es als »wahrscheinlich« an, dass Eminescu seine Vorliebe für das Sonett neben der intensiven Lektüre Lenaus insbesondere derjenigen Platens verdankte: Wentzlaff-Eggebert, Christian: Les innovations métriques de Platen et l’originalité du sonnet Eminescien. In: Dacoromania. Jahrbuch für östliche Latinität 3. Freiburg/Brsg. 1976, S. 59–63. Allemal gehen typische Formvorgaben der Platenschen Sonette in jenen Typus ein, den Eminescu etabliert und den Wentzlaff-Eggebert in Analogie zum italienischen, französischen und englischen Sonetttyp den rumänischen nennt: Gänzlich vorbildlos führt Eminescu die Quartettform ABBA-BAAB ein. An Platen orientiert sich aber seine bei weitem bevorzugte Terzettform CDC-DCD, und vor allem benutzt Eminescu – wie Platen – ausschließlich klingende, also »weibliche« Reime. Im Verlauf von Eminescus Umdichtung tritt, wie Michèle Mattusch aufgewiesen hat, Cerris romantisch-situationsdeutendes und –metaphorisierendes lyrisches Ich zurück. »Eminescu thematisiert im Venedig-Sonett seine eigene Lyrik. Sie scheint geradezu dazu bestimmt, den Untergang und die Vergeblichkeit zu verkünden. Der Dichter, der noch am Vergangenen teilhat, ist ihr Prophet.« Mattusch, Michèle: Von der Imitation zur Selbstinszenierung – Eminescus Venedig-Sonett. In: Schippel, Larisa (Hg.): Im Dialog: Rumänistik im deutschsprachigen Raum. Frankfurt/M. u. a. 2004, S. 53–69.

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II. Überhöhung: Rudolf Hagelstange und die Selbstinszenierung des Dichter-Propheten Weit in die Runde schwingts wie Taubenflug, der Campanile bebt in den Gewölben. Ein Baldachin von einer bläulich-gelben rauschenden Seide, die ein Wolkenzug durchwirkt mit lichterfüllten Ornamenten, spannt sich der Himmel über Platz und Dom, und aus den Gassen drängt der Menschen Strom, die sich gleich Euch von ihrem Schatten trennten. Sie wandeln redend, lachend im Gewimmel Und spreizen sich, wie Vögel ihr Gefieder, und freuen sich, in großer Schar zu sein. Dann kommt des Mondes Sichel, schlitzt den Himmel. Er stürzt, und Dunkel fällt hernieder. Und nun beginnt Ihr wieder wahr zu sein.

Dieses Gedicht ist eines von 35 Sonetten in einem Venedig-Zyklus, der über hundert Jahre nach dem Platens erschienen ist: dem Venezianischen Credo von Rudolf Hagelstange (1912–1984). Bezeichnend ist der Paratext der Ausgabe, die 1946 im InselVerlag erschien: Als Eingangsmotto dienen die Worte der Schillerschen Kassandra »Schrecklich ist es, deiner Wahrheit sterbliches Gefäß zu sein«, und am Bandende reklamiert ein entstehungshistorischer Hinweis, der Zyklus sei »im Juni-Juli 1944 in Venedig« begonnen und »im April 1945« in Verona erstmals gedruckt worden. In der Zusammenschau aus Schillerzitat und Entstehungskoordinaten ergibt sich die Inszenierung eines Seher-Dichters, der seine Leser aus doppelter Distanz anspricht: aus territorialer wie chronologischer. Einem Publikum im Deutschland des ersten Nachkriegsjahres begegnet ein »Ich«, das aus dem Italien des vorletzten Kriegsjahres zu ihm spricht: Ein Sprecher, der für sich reklamiert, dass ihn die territoriale Randständigkeit während eines Aufenthalts in Venedig (wo Hagelstange als Soldat stationiert war) gerade noch rechtzeitig hellsichtig gemacht habe für die kommende Katastrophe, und zwar in etwa zeitgleich mit den Praktikern vom 20. Juli. Das oben zitierte Gedicht ist das siebte im Zyklus. Nur das erste Sonett und eben dieses siebte beschreiben tableauartig eine unmittelbare sinnliche Wahrnehmung. Die übrigen Texte sind reflexiver Art und spinnen eine Kette von Bildmotiven, die sie aus den beiden Tableau-Texten ableiten, zu Didaxen mal warnender, mal belehrender, mal verurteilender Art fort. Sie richten sich in aller Regel an ein mit »Ihr« angesprochenes Publikum. Im ersten Sonett – es bewegt sich noch in der Grauzone zum Paratext, ist es doch von den nachfolgenden durch Kursivdruck abgesetzt und durch eine Leerseite getrennt, mithin als Motto ausgewiesen – wird die Begegnung des Ich mit Venedig im Wortsinne gefeiert:

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Anders als bei Platen ist diese Begegnung mit Venedig also ausdrücklich keine Erst-, sondern eine Wiederbegegnung. Eine Wiederbegegnung aber, die 120 Jahre nach Platen in einem Venedig-Sonettzyklus inszeniert wird, mit Rilkeschen Enjambements und Bildimpressionen, die allesamt literaturkanonisch sind – eine solche Wiederbegegnung wird man unbeschadet autobiografischer Referenzen,20 nicht nur als die Wiederbegegnung mit Venedig als Stadt lesen können, sondern auch als die mit Venedig als einer literarischen Topo-Grafie lesen müssen – zusammengesetzt aus Topoi, die im Ich die Erinnerung an die paradiesische Vergangenheit seiner (literarischen) Akkulturation wecken. Das Venedig Rudolf Hagelstanges ist von Anbeginn an ein mit dem Ich erfolgreich synthetisiertes Gebiet, man könnte maliziöserweise angesichts der Zeitumstände von 1944 sagen: ein besetztes Gebiet. Und so, wie die »steingewordenen Erinnerungen« hier wesentlich eher die ästhetischideellen des Betrachters sind denn die historisch-kollektiven der Ortsbewohner, so ist der besungene Festtag derjenige einer ganz subjektiven »Renaissance«: Der Wiedergeburt des Ich. Auf dieses Ich münzen die folgenden Sonette zunächst das Bild des Steins, der allzu lange schuldhaft geschwiegen habe und nun von den ihm affinen erinnernden Steinen Venedigs zum Sprechen gebracht wird. Und zwar zum seherischen, didaktischen Sprechen, das etwa die Diagnose stellt: »Ihr habt euch selbst verlassen, und der Schatten, / den Ihr geworfen habt, geht nun allein / und überredet sich, ein Mensch zu sein.« Doch um zum Eingangstext zurückzukehren: Sein Tonfall ist unverkennbar eine Mischung aus dem des Fin de siècle, der die ersten drei Strophen mit Rilkeschen Versenjambements21 und synästhetisch-impressionistischen Bildern regiert, und

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Hagelstange, Rudolf: Venezianisches Credo. Frankfurt/M. 1946, S. [7]. Zur autobiografischen Einordnung der verschiedentlichen Venedig-Aufenthalte des Autors vgl. Hagelstange, Rudolf: Wagnis des Geistes. In: Merian 10 (1955): Venedig. S. 57–59. An Rilke erinnert neben den Enjambements und der preziösen Dingwelt der Substantive vor allem die gezielte Formsprengung durch einzelne Zeilen, die das Standardmaß von fünf Hebungen mal unter-, mal überschreiten. Was aber bei Rilkes »Spätherbst in Venedig« im Dienste eines einleuchtenden Effektes fungiert, erfüllt einen solchen in Hagelstanges Zyklus nicht häufig; hier macht es eher die Masse: Von 35 Sonetten kommen nur sieben ohne zeilenweise Abweichungen in die Vier- oder Sechshebigkeit aus. Doch bleibt – anders als etwa in den »Sonetten an Orpheus« – die Fünfhebigkeit als Prinzip stets durchgehalten, so dass sich dessen regelmäßige Durchbrechung bei Hagelstange vielleicht als formales Abbild jener Zeitdiagnose vom »Maßverlust« lesen lässt, die sein Sonett 18 ausgibt.

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dem zupackenden Pathos der Expressionisten, in das hier schlagartig das letzte Terzett mit seiner brachialen Mondsichel-Metapher verfällt. Das erste Quartett macht aus dem Glockenton, der die aus Rilkes San Marco geborgten »Gewölbe« beben lässt, synästhetisch den »Taubenflug«. Die Anschauung des Sprechers, der diese Synästhesie leistet und somit deutet, wird im selben Akt erkennbar als die eines Sehers, der Auspizien liest.22 Wenn man so will, macht Hagelstange das (mit Schlegel als Tempel verstandene) Sonett hier im wörtlichen Sinne zum Ort der Con-Templatio, also zum Sitz des einsamen Sehers und seiner deutenden Anschauung – pars pro toto für das exterritoriale Venedig schlechthin. Zum Gegenstand dieser seherischen Sicht werden im ersten Terzett sogar dessen Menschen selbst, die (wie in Platens drittem und zwölften Sonett) in froher Schar das Tableau bevölkern. Bei Hagelstange werden sie zu Vögeln: aus ihrem diagnostizierten Verhalten schließen das zweite Quartett wie auch das zweite Terzett auf die Adressaten des Textes. Damit macht Hagelstange aus Platens laudatio temporis acti einen moralischen Vorwurf. Platen sieht das einstige »Volk von Königen« zwar politisch abgestiegen zum »frohe[n] Völkchen lieber Müßiggänger«, gesteht diesem aber doch eine weiterhin gelebte Einheit von Kunst und Alltag zu. Bei Hagelstange hat sich auch Venedigs Volk gleich ganz »von seinem Schatten« getrennt. Prekär zu nennen ist eine zweifache moralische Entlastung durch kulturhistorischen Relativismus, die dieser Text seinen deutschen Adressaten (implizit) gönnt: Nicht nur setzt er deren schuldhafte Selbstentmündigung mit derjenigen der venezianischen Bevölkerung gleich (und somit Hitler- und Italofaschismus), sondern kritisiert die Letztere auch noch anhand des jeder Tagespolitik enthobenen, überzeitlichen Topos des Vergangenheitslobs. Aus der literarischen Venedig-Tradition abgeleitet sind nicht nur die bildlichen Ausgangstopoi, aus denen Hagelstanges Credo seine ethisch-religiösen Maßstäbe ableitet, sondern auch diese Maßstäbe selbst. Die Ethik der Vorwürfe, die das Ich oftmals in »Ihr«-Form ausgibt (gelegentlich aber in der »Wir«-Form auch seine eigene Vergangenheit mit einbezieht), ist aus einer sich selbst genügenden, ahistorischen Ästhetik abgeleitet. Obrigkeitshörigkeit und Massentaumel sind Folge der Trennung des Menschen »von seinem Schatten«, also eines Symmetrie-, will sagen: Maßverlustes durch ungebändigte Leidenschaft, der »nichts […] so fremd [ist] wie jene Mitte / und jenes Maß der Kraft, die in sich ruht« (Sonett 18).23 Dieses wiederzugewinnende Maß fällt in eins mit einem Gefühl für überhistorische, ewig gültige Maßstäbe, wie sie den Ahnen noch zu eigen waren: »Was heißt denn das: ein Mensch? Ist Gang und Rede / genug, um sich als Herr der Welt zu meinen, / als Ebenbild des Ahnen und des Einen[…]?« (27). Und wie sie der numinosen Welt

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Unbekümmert darum, dass die mottogebende Kassandra eigentlich ja keine Auspizien liest: Doch auch ihres Mediums, der Traumdeutung nämlich, wird sich das Dichter-Ich bei Hagelstange noch öfter als mächtig erweisen. Zum Nachweis der Einzeltexte muss in diesem Abschnitt eine fingierte Zählung genügen, da die zitierte Ausgabe des Venezianischen Credos nicht paginiert ist.

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zu eigen ist, die kultursynkretistisch und insofern ebenfalls ahistorisch gezeichnet wird: »Daß die Sibylle / und Pan und Michael uns wiederkehrten […]!« (31) Und wie sie sich vor allem in Kunstwerken widerspiegelt, für die die Menschen den Blick verloren haben (21). Das stattdessen wesende Verhängnis der Kriegszeiten fasst Hagelstange seinerseits in kunstwerks-topische Bilder: Als apokalyptischer Reiter fährt der Tod durchs Land (30). Der Seher nun rät zwar dem Publikum dazu, ihm selbst nachzufolgen, betont andererseits aber auch seine Solitärstellung – auf dem Weg über die Furt als einsamer Vorangänger zu sterben, sei ihm lieber, als diesen Weg nicht versucht zu haben (»Und ob mir selbst die Überfahrt missglückte – an solchem Wagnis ging ich gern zugrunde«, 34). Bei Hagelstange also fungiert die Kombination aus Venedig-Topoi und Sonettzyklus-Form in prekärer Weise: Sie inszeniert das Sprecher-Ich noch weit über das in Platens Sonetten geäußerte Maß hinaus, nämlich indem sie die Platen postum überhöhende Rezeption des Dichterfürst-Konzepts bis hin zum Priestertum mit einbindet und die dort vorfindliche, ahistorische und apolitische Kunst-Hypostasierung zum Ausweg aus einem höchst politisch bedingten, ja historisch sogar einmaligen Zustand des Kulturverfalls erklärt. Damit dürfte die Genealogie der lyrischen Venedig-Aneignungen durch eine geistesaristokratisch verstandene Poetologie ihren ethisch bedenklichsten Punkt erreicht haben. Die »Plateniden« etwa des Münchner Dichterkreises hatten im Venedig ihres Lehrmeisters einen ausgedeuteten Raum vorgefunden und konnten ihre lyrischen Sprecher sich bequem dessen Deutergeste anschließen lassen, um sie gegebenenfalls als gegenwartsbezogene Kulturkritik in Stellung zu bringen oder auch zu romantisieren. Bei Hagelstange gipfelt dieser Deutergestus, indem hier ein Propheten-»Ich« die literarische Topografie Venedigs geradezu usurpiert – mit einem Deutungsanspruch, der autoritär ist (selbst Venedigs Menschen werden hier zu didaktischen Exempeln), der nicht wirklich griffige Vorstellungen von Zukunft liefert, weil er letztlich ahistorisch ist, der somit letztlich auch eben nicht so »humanistisch« ist, wie die Renaissancemetaphorik am Anfang suggerieren könnte. Denn noch eines kommt hinzu: Wie gesagt, schlägt der Paratext eine Brücke zwischen Entstehungszeit und Publikation, also zwischen 1944 und 1946, und legt dem Nachkriegs-Publikum somit nahe, die Texte aus ihrer Entstehungszeit heraus zu verstehen – was den Blick zwangsläufig auf die seherischen Leistungen nicht nur des Dichter-Ichs, sondern tatsächlich auch des Autors lenkt und ihn mithin exkulpiert. Eben dieser zeitliche Brückenschlag ist aber auch der zwischen einem Jahr, in dem vielleicht selbst ein seherisch begabter Deutscher noch nicht zwingend wissen musste, was genau in Auschwitz geschah, und einem Jahr, bis zu dem es jeder erfahren hatte. Wenn aber Hagelstange just diesen Erkenntnisgewinn ausklammert und noch 1946 bei einer universalistischen Kriegsgreuel-Topik verharrt, dann entlarvt sich die Seher-Attitüde des Sprechers zugleich als blind für das singuläre historische Spezifikum des Holocaust. Dem aber hatten auch die deutschen Besatzer Venedigs – also Hagelstanges Wehrmacht – zahlreiche Opfer zugeführt: Im Dezember sowie im August 1944 – dicht am Abfassungszeitraum des Gedichtzyklus’ also – räumten sie das jüdische Ghetto

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der Lagunenstadt und sandten 200 Bewohner gen Vernichtung. Aus dem poetischen Venedig Hagelstanges bleiben sie exterritorialisiert – sowohl verbannt aus jener Stadt, die mit ihrem ›Topografie‹-Charakter in der Nachfolge Platens einen geschlossenen Deutungszusammenhang für das NS-Unheil suggeriert, ohne sie zu erwähnen, als auch ausgeschlossen aus der Beziehung, die der predigende Seher in der Nach-Nachfolge Platens gegenüber seinem Volke einnimmt. Im Tempel seiner Contemplatio ist für sie kein Platz.

III. Unterwanderung: Robert Schindels Venezianisches Sonett als Rückkehr des Exterritorialisierten »Durch Schicksal Jude, durch Zufall in Frankreich geboren, durch ein Stempelpapier als Deutscher bezeichnet«: So charakterisierte sich der Dichter Yvan Goll (1891–1950), und seine persönliche Conditio Judaica als ein ortloser Ahasver zwischen den Territorien wird, ausgeweitet zur Befindlichkeit des modernen Menschen, zum Thema seines Gedichtzyklus Jean sans tierre (postum 1957). Golls titelgebender Vornamensvetter, der König Johann Ohneland, kehrt wieder im Titel des zweiten Gedichtbandes von Robert Schindel. Schindel – von dessen Vita sich in Anlehnung an Goll sagen lässt: Er ist durch Schicksal Jude, durch ein Stempelpapier als Sohn französischer Deutscher bezeichnet und so durch Zufall vor der Shoah gerettet worden – wendet sich in Ohneland. Gedichte vom Holz der Paradeiserbäume (1986) nach einer früheren Phase politisierter Lyrik mehr und mehr dem zu, was er als seine jüdische Identität begreift: Eine weder religiös noch im zionistischen Sinne politisch bestimmte Rolle, sondern die eines literarischen Impulsgebers zur Vergangenheitsbewältigung im Österreich der Prä-Waldheim-Ära, speziell in seiner »Vergessenshauptstadt« Wien. Der Titel Ohneland changiert, so verstanden, zwischen dem Agnomen des literarischen Ahasver und einem Namen für das Land, das defizitär bleibt ohne die, die es exterritorialisiert oder vernichtet hat – und auch defizitär bleibt ohne die Fähigkeit, sich diesem Vergehen im Nachhinein zu stellen. Im Rahmen eines solchen Gedichtbandes kann kein Text den Titel Venezianisches Sonett tragen, ohne daran zu erinnern, dass der Schöpfer der Sonette aus Venedig einst seinerseits mit antisemitischen Tiraden hervortrat.24 Alexander von Bormann nimmt diesen Text in einem kurzen Hinweis als »Kritik an der festlich-gehobenen Sonett-Tradition der Nachkriegslyrik […], wofür […] Hagelstange[…] als Beispiel« stehe.25 Dem stimme ich zu, doch gilt es noch plausibel zu machen, warum denn

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Seinem Antipoden ist im selben Band ein Text namentlich gewidmet: »Bleierne Zeit 1 (Pour Heine)«. Schindel, Robert: Ohneland. In: Ders.: Fremd bei mir selbst. Die Gedichte. Frankfurt/M. 2004, S. 93–166; S. 192. Vgl. Bormann, Alexander von: »Girlandenes Dasein wundgewurzelt«. Zur Lyrik Robert Schindels. In: Text + Kritik 174 (2007): Robert Schindel. S. 26–43, S. 38f. Hinzuzufügen ist: Schindels Kritik reicht überdies auch in die Grauzone zwischen dem gehobenen Ton

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Schindels Text diese Kritik üben sollte. Er übt sie meines Erachtens deshalb, weil ganz speziell bei Hagelstange diese festlich-gehobene Sonettrede ein Ohneland eigener Art konstruiert: als eine Venedig-Topografie, die die Schuld der Nazi-Deutschen aus denkbar höchster moralischer Warte auf den Punkt zu bringen vorgibt und dennoch blind bleibt für das, was diese Schuld von jeder anderen historisch ›ganz normalen‹ Schuld an einem Krieg unterscheidet – für den Holocaust nämlich. Venezianisches Sonett Da ich nun liege unter den Sehnen von Venedig In den letzten Tagen dieses Katzenjahrs Die Nässe kuschelt sich an mich so gnädig Flammt Gier mir auf, ich keuche und das wars. Denn ruhig geht nun der Wanderer die Brücken Gewogen sind ihm Wein und die Palazzos Im nassen Klima geht man trocken doch an seinen Stücken In deren Träume; dort erst geht die Hatz los. Schreiend um die Ecken hinter Mauern Mit Saugeduld und Angstschweiß im Gekrös Und Gieren, die in faden Ganglien lauern. Da lieg ich in der Sehne sehr nervös Will in Venedigs Klima restlos mich bedauern Durchfeder diese Stadt, noch durstig und schon bös.26

Robert Schindel bedient sich gerne und dezidiert vieler klassischer Lyrik-Genres – etwa der Ode, Romanze oder Elegie. Am häufigsten aber des Sonetts,27 wobei er klassische Formvorgaben auf allen Ebenen durchbricht: So geht er frei mit Hebungszahlen und Versformen um, benutzt oft verschiedene Reimformen durcheinander (etwa im ersten Quartett den umfassenden Reim, im zweiten dann aber den Paarreim) oder baut Strophenanordnungen um, etwa zwei Terzette zu einem Sechszeiler. Gemessen an dieser sonstigen Freiheit28 scheint das Venezianische Sonett eines seiner formstrengsten zu sein: Es gibt im Strophenbild wieder, was man angesichts des Titels erwartet, nämlich die von Platen und Hagelstange benutzte italienische Form. Und ein zweiter Blick lässt es sogar noch formstrenger erscheinen: In keinem anderen Sonett außer diesem wendet Schindel konsequent den Kreuzreim an. Der aber stellt sich quer, ja sozusagen durchkreuzend zu Schlegels geometrischem Tempel-Konzept aus Vierer- und Dreierkonstellationen. Vom Reimschema

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der Inneren Emigration und dem der NS-Affirmation hinüber – eine Grauzone, für die etwa der Wiener Josef Weinheber steht, der sowohl dem Sonett als auch der Blut-undBoden-Lyrik zugeneigt und seinerseits rabiater Antisemit war. Schindel: Fremd bei mir selbst (wie Anm. 24), S. 142. Und zwar seit jenem Zeitraum von 1979 bis 1984, in dem die in Ohneland versammelten Gedichte entstanden. Sie äußert sich in Ohneland beispielsweise Terzett-Reimschemata wie eef-fef, efe-geg, eff-efe, efe-fef oder eef-fgg.

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her, ähnelt dieser Text nämlich gerade keinem italienischen, sondern einem Sonett des Shakespeare-Typs – bis wiederum auf die letzten beiden Zeilen, in denen der Kreuzreim ja bei Shakespeare einem paargereimten Couplet weichen müsste; der Kreuzreim durchkreuzt hier also wiederum etwas, und zwar die Aussicht, ein harmonisierendes Resümee vorzufinden. Was im ersten Quartett unmittelbar auffällt, ist die vegetative Metapher der »Sehne«. Sie hält der eigentlich sonett-gängigen, architekturdominierten Bildlichkeit die von der Stadt als Organismus entgegen, ist aber mit den seltenen sonstigen Fällen, in denen diese nun gerade auf Venedig angewandt wird, schwer zu harmonisieren: Wenn das »Skelett« der Stadt bei Rilke die Eichenpfähle sind – was sind dann die »Sehnen Venedigs«? In einem späteren Gedicht bezeichnet Schindel mit demselben Bild Venedigs Brücken, was auch plausibel klingt – doch nur so lange, wie man nicht auch das Raumverhältnis zwischen »Ich« und »Venedig« plausibel machen will. Unter den Brücken anderer Städte kann ein Mensch zu »liegen« kommen (und das kennzeichnet ihn als sozial ausgestoßen) – unter denen Venedigs nicht, denn dort steht das Wasser. Eher wohl ist hier beim Verhältnis Ich / Stadt an medizinische Zusammenhänge zu denken: Was unter den Sehnen eines Körpers liegen kann, ist beispielsweise eine flüssig gefüllte Geschwulst – ein Ganglion, wie es später im ersten Terzett begegnet. Das Ich als Fremdkörper also in einem organisch verstandenen Stadtgebilde – eine prosaisierte, in die Ästhetik des Hässlichen überführte Variante der Platenschen Fremdheitserfahrung, und ebenso prosaisiert schwingt in den »Sehnen« natürlich auch das von Platen her bekannte, affektive Verhältnis des fremden Ich zum begehrten Ort mit, die »Sehnsucht« nämlich. Zugleich konnotiert der »Fremdkörper im Körper« jedoch auch die organizistische NS-Metaphorik vom Geschwür am Volkskörper. Eine andere Lesart, und auch diese assoziiert antisemitische Zuschreibungen: »Unter den Sehnen« zu »liegen« kommt zwangsläufig auch jemand, der ein Messer ansetzt, um ein Stück Fleisch vom Knochen zu trennen. Eine invasiv-aggressive und potentiell tödliche Handbewegung also, und eben diejenige, die der böse Jude Shylock im Stück Merchant of Venice des Sonettisten Shakespeare, das der Sonettpoetologe August Wilhelm Schlegel verdeutscht hat, gerne ausführen würde, hinderte ihn nicht die List des Guten daran. Im Wortfeld des Organisch-Fleischlichen bewegt sich der Text im Folgenden weiter, so dass es mir – weil Schindel generell gerne mit Homophonien und Etymologien spielt – angebracht scheint, in seinem Neologismus »Katzenjahr« auch ein Wortspiel mit »kázew« zu lesen, einem jiddischen Wort für »Metzger«.29 Mit der »Gier«, die bei Gelegenheit dieses Penetrationsaktes aufflammt, münzt das

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Gedacht werden darf sicher aber auch an den Popsong Year of the cat des Schotten Al Steward. Er entstand im Jahr 1975 – einem »Jahr der Katze« in der traditionellen Kalenderzählung Vietnams, aus dem sich damals soeben die US-Truppen zurückzogen – und beschreibt eine West-Ost-Begegnung der friedfertigen Art: Ein Tourist an exotischem Ort verfällt einem weiblichen Wesen, dessen Beschreibung oszilliert zwischen epiphanisch erscheinender Göttin, Prostituierter und Allegorie des Heroinrauschs.

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Ich eine Zuschreibung, die bei Shakespeare Shylocks Verhältnis zum Materiellen meint, in sexuellem Zusammenhang auf sich selbst. Das erste Quartett also greift die platen-topische Sehnsucht des Reisenden nach Vereinigung mit der Stadt auf, deren künstlerisches Gelingen bei Platen ebenso textkonstitutiv ist wie ihr erotisches Misslingen, und bindet sie an einen Bildbereich der Fleischeslust, der zugleich ausgrenzende Zuschreibungen gegen Juden konserviert. In der gleichsam postmasturbativen Ausgeglichenheit, die hingegen im zweiten Quartett herrscht, scheint das Subjekt wie ausgetauscht, grammatisch ist es sogar verschwunden: das »Ich« tritt zurück und wird erst im letzten Terzett wieder auftauchen. Die beschworene »Ruhe« scheint sich auch in dieser Außensicht zu spiegeln, in der »Gewogenheit« steckt neben der Sympathie auch das rechte Maß der Waage. Was aber heißt: »im nassen Klima geht man trocken doch an seinen Stücken«? Geht man trocken, wenn man an seinen Stücken geht wie an Stöcken oder Krücken? Und was sind dann diese Stücke: ist es Geschriebenes? Oder aber geht man, obwohl sonst alles nass ist, so, dass die eigenen Stücke trocken bleiben? In diesem Sinne könnten die Stücke, als Geschlechtsteile verstanden, wieder auf eine Ruhephase im Sinnesdrang verweisen – aber wenn man zu Shylock zurückkehrt (und zu seiner Waage!): Wer mit trockenen Stücken davonkommt, ist auch der, dem selbst kein Stück Fleisch herausgeschnitten werden kann, weil es dann blutig wäre und von dem Stück Fleisch, das Shylock verpfändet worden war, niemand gesagt hatte, dass es blutig sein dürfe. Die Unversehrtheit des Körpers und die Ungeschiedenheit von Fleisch und Blut also – wiederum ein Signal der Ausgeglichenheit, doch diesmal wieder mit Einschreibungen. Sprach im ersten Quartett der lustvoll Gewalt Ausübende, so zeigt das zweite den von Gewalt verschont Gebliebenen. Die »Träume« der »Stücke« leiten über ins erste Terzett, und in dem herrscht die »Hatz«. Wer aber wird gehetzt? Die »Sau« im Stichwort »Saugeduld« müsste Angst haben vor den Metzgerfantasien des ersten Quartetts, und wer »Angstschweiß im Gekrös« hat, der mag bangen um jene Körperteile, die, wenn sie erst einmal zerstückelt zutageliegen, dem Seher das Material zur Prophetie liefern. Und die »Saugeduld« bündelt das Hetzerwort vom »Saujuden« mit der Feststellung Shylocks: »Dulden ist das Erbteil unseres Stamms«. Andererseits findet sich in den »Ganglien« der krankhafte Fremdkörper wieder, der im ersten Quartett als Ich seine Sexualaggression auslebte, dieses Ich aber ist verschwunden. Ohne all das auflösen zu können und zu müssen: Die körperliche Angstfantasie des ersten Terzetts, die über Kreuz die Lustfantasie des ersten Quartetts wieder aufnimmt, spielt sich in einem Raum ab, indem es keine Subjekt-Objekt-Zuordnung gibt – sie kann also auch eine Selbsthatz sein –, dafür aber reichlich Indizien für Zuschreibungen, Einschreibungen, das Hinein- und Herauslesen von Urteilen in bzw. aus Menschen. Im abschließenden 2. Terzett begegnet in der »Sehne« die bei Schindel häufige Manier, am Gedichtende auf Vokabular des Anfangs zurückzukommen, was auf den ersten Blick rahmend und harmonisierend wirkt, dieses Vokabular tatsächlich aber neu kontextualisiert. In diesem Fall wechseln Raumpräposition und Numerus: Das Ich (es ist wieder da) liegt nicht mehr »unter den Sehnen«, sondern »in der

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Sehne«. Das ermöglicht eine neue Deutung: In der Sehne des Bogens liegt der Pfeil, an den auch gedacht werden darf, wenn das Ich im letzten Satz »diese Stadt« »durchfedert«. In dieser Bewegung schwingt, soweit man sie als die eines abgeschossenen Pfeils liest, dem ja eine sogenannte Feder als Lenkhilfe dient, das lineare »Vorwärtsdringen« des raumerobernden Blicks durch die Stadt mit. Zugleich aber – denkt man an Sprungfedern – kann das Gegenteil assoziiert werden, nämlich eine chaotisch-mäandernde, einem Labyrinth angemessene Bewegung. Und natürlich legt sich über beide Lesarten noch die poetologische von der Schreibfeder – und innerhalb ihrer sorgt das Präfix »durch-« erneut für Ambiguität: »Diese Stadt« mit dem Schreibgerät folgsam nach- und entlangzufahren und sie durchzustreichen und auszutilgen, fällt in eins. Die Aneignung des Raums durch das Ich kann nicht ablaufen, ohne dem Raum Gewalt anzutun – die auch Gegengewalt ist gegen jene, die der Raum auf das Ich ausübt. Das Ziel ist, »in Venedigs Klima restlos mich bedauern« zu können – eine durchaus plateneske Unterordnung des Stadtraums unter ein Interesse, in dem Melancholie, Selbstmitleid, aber eben auch der Anspruch auf »Dauer« steckt: Dieses Ich ist gekommen, um zu bleiben. Der sprachliche Weg, den Schindels »Ich« durch Venedig nimmt, ist ein Weg, der die Exterritorialisierten wieder einbürgert in eine literarische Topografie, die in dieser Form von Platen gestaltet worden war und die es dessen Nach- und Schindels Vorläufern leicht gemacht hatte, sie mit transzendentalem Deutungsanspruch an sich zu reißen. Die Rückeroberung verläuft bei Schindel mit brachialer Gewalt und unter Eingeständnis eigener Ängste, also radikal subjektiv, und doch ist mit diesem Gewaltakt zugleich daran erinnert, dass bereits Platens Ersteroberung des Terrains – ihre Folgen hin oder her – ein Akt der Flucht, der ängstlichen Ortsuche, der Gewalt auch als Gegengewalt war. In diesem Sinne wird Schindels Gedicht – veröffentlicht 1986, also relativ bald nach dem Tode Hagelstanges sowie nachdem Hubert Fichte den Affekthaushalt Platens zum literarischen Gegenstand gemacht hatte – der Erstbegehung Venedigs durch Platen vielleicht empathischer gerecht als die topischen Anbauten mancher Epigonen, die sich bequem an den Gestus des dichterischen Eroberers anschlossen, anstatt in dessen Texten auch zu lesen, was seinen Eroberungsdrang ausgemacht hatte – und dass seine gelingende Eroberung zugleich eine scheiternde war.

Thomas Borgstedt

Liebesklage und Dingpoetik Die Venedig-Sonette von Platen und Rilke zwischen Subjektausdruck und Entsubjektivierung

I.

Rilke und Platen

So logisch und selbstverständlich ein Vergleich der Venedig-Sonette von August von Platen und Rainer Maria Rilke auf den ersten Blick wirkt, als so schwierig erweist er sich bei näherem Zusehen. Gemeinsam ist den beiden Autoren ihre Stellung als exemplarische deutschsprachige Lyriker, ihre formale Könnerschaft und ihre Gattungsaffinität zur Sonettdichtung der Moderne. Beide weisen eine Verwandtschaft mit dem Symbolismus und Ästhetizismus des 19. Jahrhunderts auf. Allein auf dem Gebiet der Venedig-Sonettistik verdichten sich allerdings die Bezüge und lässt sich der eine oder andere Hinweis auf ihre mögliche Affi nität destillieren. So geläufig die Behauptung ist, Platen habe für Rilke eine Bedeutung als poetischer Vorläufer besessen – im Rilke-Handbuch wird Platen dreimal in diesem Sinne erwähnt1 –, belastbare Informationen lassen sich kaum finden. Selbst bezüglich der Venedig-Sonette verunklart sich die vermutete Affinität in eine Kaskade von Differenzen, die es fraglich erscheinen lassen, ob überhaupt von einem Einfluss, einer Beziehung oder von motivierter Intertextualität gesprochen werden kann. Rilkes Venedig-Sonette atmen einen deutlich unterschiedlichen Geist, sie sind von einer anderen Leidenschaft getränkt, sie ufern in andere Bilder aus, so dass schwerlich auszumachen ist, welchen Anteil das Vorbild des Grafen von Platen daran wohl haben könnte. Was die Sonett-Behandlung betrifft, erscheinen die beiden Dichter sogar geradezu als Antipoden. Von Platen weiß man, dass er als strengster und formbewusstester Sonettdichter der deutschen Tradition gilt – und das heißt auch der Petrarca-Nachfolge –, während konservative Sonett-Puristen wie Walter Mönch bei Rilke schon mal die Frage stellten, ob er das ›Wesensgesetz‹ des Sonetts überhaupt recht erfasst habe mit seinen Formexperimenten, Enjambements und sonstigen Freiheiten.2 Wenn es mit den Gemeinsamkeiten schwierig ist, sollte man eher nach den Differenzen fragen. Es ist durchaus nicht einfach, diese Differenzen literarhistorisch schlüssig zu motivieren und zu begründen. Dabei fällt zunächst auf, dass die literaturgeschichtliche Einordnung des Werks von Platen selbst widersprüchlich 1 2

Engel, Manfred (Hg.): Rilke-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar 2004, S. 186, 234, 237. Mönch, Walter: Das Sonett. Gestalt und Geschichte. Heidelberg 1955, S. 258ff.

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vorgenommen wird. Im Spannungsfeld von goethezeitlich-romantischer Autonomieästhetik, nachromantischen Heteronomiebestrebungen und modernem Ästhetizismus scheint diese nicht eindeutig festzumachen zu sein. Auf das subjektive Erleben bezogene Interpretationsansätze, die die Bedeutung seiner homosexuellen Disposition für die Gestaltung seines Werks hervorgehoben haben,3 streiten mit formbezogenen Ansätzen, die Platens Dichtung im Kontext von Symbolismus und Ästhetizismus zu verorten suchen und ihm so eine größere Modernität bescheinigen wollen. Dies ist zuletzt geschehen in einem Beitrag von Horst Thomé und vor längerer Zeit in der maßgeblichen Dissertation von Jürgen Link.4 Nun könnte man angesichts einer kulturwissenschaftlich geprägten Forschungslandschaft fragen, ob das Verhältnis von dichterischer Subjektivität, Erlebnis- und Objektbezug methodisch überhaupt noch eine angemessene Kategorisierung darstellt. Im Kontext der ästhetischen Debatten des 19. Jahrhunderts ist dies gleichwohl zu bejahen. Verantwortlich ist dafür die fortdauernde Relevanz der idealistisch geprägten Ästhetik, die zeitgenössisch vom Hegelianismus dominiert wird und die ganz wesentlich über die Subjekt-Objekt-Dichotomie organisiert ist.5 Es handelt sich um Kategorien, die die Dichter selbst umtreiben und zu denen sie systematisch Stellung beziehen, nicht zuletzt auch Platen mit seiner punktuell explizierten Formästhetik.6 Insofern ist es literaturgeschichtlich durchaus informativ und fruchtbar, ihren Umgang mit der Subjekt-Objekt-Problematik zu charakterisieren und dabei spezifische Differenzen herauszuarbeiten. Bezüglich der Auseinandersetzung um Platen kann der Vergleich mit Rilke als Korrektiv wirken. Was zu Subjektivität und Objektivierung im Werk Platens gesagt

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So Busch, Frank: August Graf von Platen – Thomas Mann: Zeichen und Gefühle. München 1987; Wölfel, Kurt: Platens Stigma. In: Gößling, Andreas (Hg.): Critica poeticae. Lesarten zur deutschen Literatur. Würzburg 1992, S. 187–204; Detering, Heinrich: Das offene Geheimnis. Zur literarischen Produktivität eines Tabus von Winckelmann bis zu Thomas Mann. Göttingen 1995, S. 100ff. Thomé, Horst: Platens Venedig-Sonette im Hinblick auf die Römischen Elegien Goethes. Überlegungen zum historischen Ort des ›Biedermeier-Ästhetizismus‹. In: Titzmann, Michael (Hg.): Zwischen Goethezeit und Realismus. Wandel und Spezifik in der Phase des Biedermeier. Tübingen 2002, S. 11–38; Link, Jürgen: Artistische Form und ästhetischer Sinn in Platens Lyrik. München 1971; in Reaktion auf die Kritik von Detering (Anm. 3): Link, Jürgen: Heines Antipode. Der Lyriker Platen in neuer Sicht. In: Forum Homosexualität und Literatur 27 (1996) 7–67, bes. S. 9f., Anm. 6 und 8; zusammenfassend: Borgstedt, Thomas: Der Ruf der Gondoliere. Genretheorie, Formpoetik und die Sonette August von Platens. In: Martus, Steffen, Scherer, Stefan und Stockinger, Claudia (Hg.): Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur. Bern 2005, S. 295–325, bes. S. 307–314. Vgl. stellvertretend dafür: Ansel, Michael: Prutz, Hettner und Haym. Hegelianische Literaturgeschichtsschreibung zwischen spekulativer Kunstdeutung und philologischer Quellenkritik. Tübingen 2003. Vgl. dazu Burdorf, Dieter: Poetik der Form. Eine Begriffs- und Problemgeschichte. Stuttgart, Weimar 2001, S. 230f.

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wird, nimmt sich im Blick auf Goethe, wie ihn Thomé wählt, anders aus, als im Blick auf einen Autor wie Rilke. Rilke hat sich um die Entsubjektivierung der Lyrik programmatisch bemüht. Aufgrund seiner süddeutsch-katholischen Sozialisation und seiner damit verknüpften Affinität zur französischen Moderne besaß er eine tief verwurzelte Distanz zum geistigen Massiv des goethezeitlichen Subjektivismus und Idealismus, in sehr viel stärkerem Maße jedenfalls als der Diaspora-Protestant August von Platen. Dies berücksichtigt, dass wir nicht von einer einzigen Moderne-Entwicklung ausgehen dürfen, sondern gerade für den deutschen Sprachraum von kulturell unterschiedlichen Prägungen und unterschiedlichen Modernitätslinien auszugehen haben. In diesem Sinn ist ein Vergleich von Platen und Rilke nicht nur einer des Früher und Später, sondern auch einer der unterschiedlichen Schwerpunktsetzung und einer unterschiedlichen Ästhetik, die im einen Fall eher subjektivistisch und im anderen gezielt objektivierend agiert. Es wird im Folgenden in drei Schritten nach Bezugnahmen und Vergleichsmöglichkeiten beider Autoren gefragt, wobei die Venedig-Sonette den Fokus bilden. Als erstes wird ein frühes Huldigungssonett Rilkes auf Platen analysiert. Der zweite Abschnitt diskutiert am Beispiel des Rilkeschen Kurtisanensonetts und einer Platenschen Veronese-Reminiszenz den Umgang beider Autoren mit der venezianischen Malerei, wobei mögliche Bildvorlagen für Rilkes Gedicht aufgrund bestehender Unklarheiten etwas ausführlicher erörtert werden. Im dritten Abschnitt wird schließlich anhand mehrerer Beispiele die literaturgeschichtliche Position beider Autoren in Auseinandersetzung mit den Thesen von Thomé im Blick auf die goethezeitliche Autonomieästhetik, auf das Subjekt-Objekt-Verhältnis und auf den Naturbezug diskutiert.

II. Rilkes Huldigungssonett Sucht man nach unmittelbaren Bezugnahmen von Rilke auf August von Platen, so findet sich eine explizite Einlassung Rilkes in Sonettform, zu der die Forschung bislang wenig gesagt hat. In seinen unveröffentlichten Jugendgedichten verfasst Rilke im Alter von zwanzig Jahren eine Ghasele und direkt anschließend ein Huldigungssonett auf Platen. Das Rilke-Handbuch spricht in Bezug darauf von ›besonders gewagten Experimenten mit poetischen Gattungskonventionen‹.7 Die Ghasele schließt auf der Pointe, dass man in Deutschland, um als Dichter etwas zu gelten, »zuerst tot sein« müsse. Es liegt nahe, dieses Urteil an dieser Stelle auf Platen zu beziehen,8 denn unmittelbar darauf folgt das Huldigungssonett, das Einiges über die Beurteilung des Vorgängers durch den jungen Rilke aussagt:

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Heinz, Jutta: Einzelgedichte bis 1902. In: Engel: Rilke-Handbuch (wie Anm. 1), S. 233– 238, hier: S. 234. Rilke, Rainer Maria: Sämtliche Werke. Hg. vom Rilke-Archiv. In Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke besorgt durch Ernst Zinn. Bd. 3, Wiesbaden 1959, S. 500.

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102 An den Grafen von Platen Auf blauem Meer in leichter Sandolina sangst du – und hofftest, daß sie dich verständen, die wackern Deutschen. Rings mit Duftgeländen umgab dich hold Siciliens Wanddolina. Du schlugst sie meisterlich, die Mandolina, zu Liebeslauten wie zu Hassesbränden. Und endlich nahm aus deinen starren Händen ein Welscher die Verwaiste: Landolina. Die Deutschen lieben Fremdes nicht zu feiern, sie sind bescheiden neuer Bahn Verzichter; und fremd sah ihnen deiner Lieder Guß aus. Ja, spät genug ermannten sich die Baiern zu einem Denkstein für den deutschen Dichter. – – Er aber ruht im fernen Syrakus aus.9

Ganz offensichtlich ist Rilkes Sonett intensiv mit Formalem befasst. Wie in der voranstehenden Ghasele steht die Klage über den unverstandenen Platen und seine Missachtung im Heimatland im Zentrum. Das Sonett selbst aber exaltiert mit übersteigerten Reimen, die Rilke zu ausgesprochen gesuchten Vokabeln verführen. Dadurch wirkt das Gedicht einigermaßen gezwungen und vom Reim beherrscht. Es erscheint nicht gerade als eine Großleistung der Sonettkunst, doch es sagt etwas über Rilkes Platen-Verständnis. Die Reime in den Quartetten sind nicht nur durchgängig weiblich, wie von August Wilhelm Schlegel gefordert und von Platen durchweg befolgt. Sie reimen hier tendenziell sogar auf vier Silben, was dieses Sonett zu einem hochartistischen Produkt macht. Rilke stimmt damit in eine Platen-Auffassung ein, die diesen vor allem als Formkünstler verstanden und in durchaus ambivalenter Weise gelobt hat. In diesem Sinn wurden Platens Sonette bereits seit Jacob Grimm und auch im Standardwerk zur Sonettgattung, das Heinrich Welti 1884 vorgelegt hatte, charakterisiert.10 Rilke entspricht diesem formalistischen Platen-Verständnis durch seine exaltierte Reimartistik in diesem Sonett. Die Reimworte wirken ausgesprochen selten und zum Teil auch unverständlich. Die erste Reihe entstammt ausnahmslos dem Italienischen und bedarf einer ausführlichen Wörterbuchrecherche, die noch dazu nicht alles klären kann: Sandolina – Wanddolina – Mandolina – Landolina. Am verständlichsten ist die »Mandolina«, die zu den »Händen« passt, die den zweiten Reim stiften. Ein ›Sandolino‹ ist ein Paddelboot, die weibliche Form »Sandolina« ist offenbar dem Reim geschuldet. Die Vorstellung eines Grafen von Platen, der in einem Paddelboot auf Sizilien oder Capri die Mandoline schlägt, wirkt in geradezu

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Ebd., S. 501. Welti, Heinrich: Geschichte des Sonettes in der deutschen Dichtung. Mit einer Einleitung über Heimat, Entstehung und Wesen der Sonettform. Leipzig 1884, S. 226.

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absurder Weise kitschig. Noch weniger Sinn vermag man der »Wanddolina« zuzuschreiben. Eine Dolina oder Doline ist eine trichterförmige geologische Vertiefung in Karstgeländen; was eine »Wand-Dolina« sein könnte, erschließt sich jedoch nicht wirklich. »Landolina« dagegen ist der Familienname des Marchese Mario Landolina, in dessen Haus Platen im Jahr 1835 verstarb. »Landolina« und »Mandolina« stellen also wohl die ursprüngliche Reimidee dar, die beiden anderen viersilbigen Reimworte sind mehr oder weniger herbeikonstruiert, um das gesteigerte Reimexperiment über vier Verse zu ermöglichen. Auch der b-Reim – verständen – geländen – Hassesbränden – starren Händen – bemüht sich um dreisilbige Kadenzen, wobei die erste Silbe als bloße Assonanz auf Senkungssilben mit ›e‹ ausgeführt ist: verständen/geländen, usw. In den Terzetten verzichtet Rilke auf dieses Kunststück und liefert ein klassisches cde cde-Schema mit weiblichen Reimen im Sinn von Schlegel; wobei allerdings der Schlussreim – »und fremd sah ihnen deiner Lieder Guß aus« auf »Er aber ruht im fernen Syrakus aus« in überraschend ungewöhnlicher Weise über zwei Wörter hinwegführt. Der Reim ist in sich auch unsauber und bringt so einen komischen Effekt hervor, der eher nach Robert Gernhard und Heinrich Heine als nach Rilke klingt. Ob es komisch wirken sollte, ist nicht mehr zu entscheiden. Eins steht demnach aber fest: Für Rilke war Platen hier ein Formkünstler, der mit traditionellen Formen und üppigen Reimen hantierte, worüber man sich eher lustig machte, als dass man es allzu ernst nahm. Rilke blickt etwas gönnerhaft auf ihn zurück, wenn er Platens Geringschätzung in Deutschland bedauert. Nach ehrlicher Bewunderung klingt es jedenfalls nicht, eher nach gezügelter Anerkennung. Diese Konferenz mit Platen, die distanzierte Spiegelung, setzt sich fort, wenn Rilke im Rahmen seiner Neuen Gedichte 1907 und 1908 einige Sonette auf Venedig verfasst, bei denen man nicht recht sicher sein kann, inwiefern Platens Debüt auf diesem Gebiet für Rilke überhaupt noch ein Thema war.

III. Kurtisanen, Petrarkismen und die Objektivierung der Venedigliebe Im Ende 1907 erschienenen ersten Teil der Neuen Gedichte findet sich Rilkes im März des gleichen Jahres auf Capri entstandenes Sonett Die Kurtisane. Die Kurtisane Venedigs Sonne wird in meinem Haar ein Gold bereiten: aller Alchemie erlauchten Ausgang. Meine Brauen, die den Brücken gleichen, siehst du sie hinführen ob der lautlosen Gefahr der Augen, die ein heimlicher Verkehr an die Kanäle schließt, so daß das Meer in ihnen steigt und fällt und wechselt. Wer

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104 mich einmal sah, beneidet meinen Hund, weil sich auf ihm oft in zerstreuter Pause die Hand, die nie an keiner Glut verkohlt, die unverwundbare, geschmückt, erholt – . Und Knaben, Hoffnungen aus altem Hause, gehn wie an Gift an meinem Mund zugrund.11

Obwohl das Sonett mit der Nennung Venedigs beginnt, ist nicht ganz klar, ob eigentlich von der Stadt oder von einer Frau die Rede ist, was also die Sach- und was die Bildebene ist.12 Auch hier finden sich in der Forschungsliteratur kaum Hinweise zum Verständnis des Gedichts. Die Kommentierte Ausgabe von 1996 und das Rilke-Handbuch von Manfred Engel schweigen dazu. August Stahl verweist in seinem Kommentar von 1978 pauschal auf die »für die Dekadenzliteratur typische[] Identität von Verfeinerung und Korruption, wofür Venedig als Symbol stand.«13 Hans Eichner klassifiziert das Sonett 1989 knapp als Bildgedicht, das nicht auf ein einzelnes Bild, sondern auf die Bildtradition bestimmter Frauendarstellungen auf venezianischen Gemälden verweise.14 Angelika Corbineau-Hoffmann bezieht es auf Vittore Carpaccios Gemälde Due Dame veneziane aus dem späten 15. Jahrhundert (ca. 1490–95), das sich in Venedig im Museo Correr befindet (s. Abb. 1), ohne jedoch näher darauf einzugehen.15 Es ist dabei interessant, dass das berühmte Bild von Carpaccio inzwischen mehrheitlich nicht mehr als eine Kurtisanendarstellung angesehen wird. Vielmehr konnte gezeigt werden, dass es sich bei den beiden Frauen um reich geschmückte, vornehme Venezianerinnen handelt. Die auf dem Bild dargestellten Attribute der Damen verweisen durchgängig auf das Thema ehelicher Tugend und Treue, das sie zugleich mit Motiven der Jungfrau Maria kombinieren.16 So repräsentieren auch die beiden im Vordergrund dargestellten Hunde in der Hand der älteren Frau Wachsamkeit und Treue als Merkmale der ehelichen

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Rilke: Sämtliche Werke (wie Anm. 8), Bd. 1, Wiesbaden 1955, S. 526. Vgl. Rilke, Rainer Maria: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Hg. von Manfred Engel, Ulrich Fülleborn, Horst Nalewski und August Stahl. Frankfurt a. M. 1996, Bd. I, S. 911 (Kommentar). Stahl, August: Rilke-Kommentar zum lyrischen Werk. Unter Mitarbeit von Werner Jost und Reiner Marx. München 1978, S. 220, Nr. 1280. Eichner, Hans: Rainer Maria Rilkes Bildgedichte. Versuch einer Klassifizierung. In: Modern Austrian Literature 22 (1989) H. 3–4, S. 203–210, hier: S. 206. Corbineau-Hoffmann, Angelika [d. i. Hoffmann-Maxis, Angelika]: Paradoxie der Fiktion. Literarische Venedig-Bilder 1797–1984. Berlin 1993, S. 408. Gentili, Augusto; Polignano, Flavia: Vittore Carpaccio. Due Dame veneziane. In: Carpaccio, Bellini, Tura, Antonello e altri restauri quattrocenteschi della Pinacoteca del Museo Correr. Mailand 1993, S. 74–81. Vgl. auch die Darstellung von Brown, Beverly Louise: Genre and Meaning: Crosscurrents between Venice and the North. In: Aikema, Bernard; Brown, Beverly Louise (Hg.): Renaissance Venice and the North: crosscurrents in the time of Dürer, Bellini and Titian. London 1999, S. 105–113, hier: S. 106–109 sowie die Katalognr. 27a, S. 236–239; auch: Sgarbi, Vittorio: Carpaccio. München 1999, S. 100–103.

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Abb. 1: Vittore Carpaccio: Zwei venezianische Damen (ca. 1490–95). Museo Correr, Venedig

Gemeinschaft. Im Lauf des 19. Jahrhunderts geriet die Darstellung allerdings in den Sog der ästhetizistisch instrumentierten Femme-Fatale-Thematik. So wurde das Bild in einem Kunstreiseführer von 1852 als »Due giovani maliarde« bezeichnet, als zwei junge ›Zauberinnen‹ oder ›Bezaubernde‹.17 Diese erotisierende Wahrnehmung setzte sich über die Tatsache hinweg, dass die Dame mit den Hunden älter und eher die Mutter der anderen zu sein scheint. Der große und einflussreiche Kunstkritiker John Ruskin benennt das Bild als »two Venetian ladies with their pets« und rühmt es hinsichtlich der künstlerischen Kraft der Darstellung als »the best picture in the world«.18 Bezüglich der Damen will er eine eindeutig satirische Absicht erkennen, da eine »lady with her pet dog« stets »the faultful luxury of the upper

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Selvatico, Pietro; Lazari, V.: Guida di Venezia e delle isole circonvicine. Venedig u. a. 1852, S. 199. Ruskin, John: St. Mark’s Rest. The history of Venice written for the help of the few travel-

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classes« repräsentiere.19 Gleiches soll für die anderen Motive des Bildes gelten. In konsequenter Fortsetzung dieser negativierenden Wahrnehmung ist in der großen Carpaccio-Monographie von Gustavo Ludwig und Pompeo Molmenti 1906 schließlich unmittelbar von Kurtisanen die Rede. Als Grund für diese Vermutung wird die ›Weichheit‹ der Personenzeichnung und die ›müde Sinnlichkeit‹ ihres Blicks angeführt, Merkmale also einer ästhetizistisch-dekadenten Wahrnehmung des Fin de Siècle.20 Davon zeugt noch folgende Beschreibung des Motivs aus einer sehr viel späteren Studie über die Geschichte der Kurtisanen: »seated on their well-furnished rooftop altana, surrounded by dogs, peacocks and exotic birds, idling away the time between clients.«21 Unter diesen ästhetizistischen Vorzeichen beeindruckte das Bild schon viel früher Gabriele D’Annunzio und Marcel Proust. Auch Rilke schenkte Carpaccio eine Erwähnung in seinem Malte Laurids Brigge.22 Nach diesem kleinen Blick auf die Rezeptionsgeschichte des Kurtisanengemäldes scheint eine Bezugnahme des Rilkeschen Sonetts darauf unmittelbar nahe zu liegen. Die Verbindung des venezianischen Gemäldes zum Kurtisanen-Sonett Rilkes lässt sich über die Bezeichnung der Damen als ›Kurtisanen‹ und über das Motiv des Hundes herstellen. Dennoch weicht Rilkes poetische Darstellung auch deutlich von der hier vorfindlichen Bildmotivik ab. Bedenkt man die Häufigkeit von Hundedarstellungen aller Art auf venezianischen Gemälden der Zeit, dann erscheint die Exklusivität dieses Bildbezugs für Rilkes Sonett zumindest unsicher.23 Hinzu kommt, dass mindestens zwei weitere Kontexte für die Deutung des Gedichts fruchtbar gemacht werden müssen. Für die Frauendarstellung spielt hier nämlich sowohl die lyrische Tradition der petrarkistischen Schönheitsbeschreibung als auch das Motiv der Venedig-Allegorie eine maßgebliche Rolle. Zunächst einmal erweist sich die petrarkistische Topik des Gedichts als deutlich und umfassend: ›goldene Haare‹, ›Augen‹ und Augenbrauen, Blickverkehr, in den

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lers who still care for her monuments. First supplement: The Shrine of the Slaves. Being a guide to the principal pictures by Victor Carpaccio in Venice. New York [1879], S. 117. Ebd., S. 118. »ma che dalla mollezza della persona e dalla sensualitá stanca dello sguardo appaiono piuttosto due cortigiane«; Ludwig, Gustavo; Molmenti, Pompeo: Vittore Carpaccio. La vita e le opere. Mailand 1906, S. 281f. Im gleichen Jahr ist in einer nachträglichen Herausgeberanmerkung der Werkausgabe von Ruskin davon die Rede, das Bild sei »known as the portrait of ›Due Cortigiane‹«. Die Umbenennung wird deshalb zuweilen bereits Ruskin zugeschrieben, was ich allerdings nicht verifizieren konnte; Ruskin, John: The Works. Edited by E. T. Cook and Alexander Wedderburn. Bd. 24. London, New York 1906, S. 363, Anm. 1. Lawner, Lynne: Lives of the Courtesans. Portraits of the Renaissance. New York 1987, S. 25. »Wiederholen wir: ich habe eine Studie über Carpaccio geschrieben, die schlecht ist.« Rilke: Sämtliche Werke (wie Anm. 8), Bd. 6, Frankfurt a. M. 1966, S. 723. Einen Einblick gibt Bialostocki, Jan: I cani di Paolo Veronese. In: Massimo Gemin (Hg.): Nuovi Studi su Paolo Veronese. Venedig 1990, S. 222–230; Carpaccio steht dieser Hundebegeisterung in seinen Gemälden nicht nach.

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Terzetten die ›schöne Hand‹ der Dame – la bella man – die Glut der Liebe, der verlockende ›Mund‹. Das Sonett folgt dem Programm der petrarkisierenden Schönheitsbeschreibung, die in der europäischen Sonetttradition eine reiche Geschichte hat, und die sich von Ursprungstexten wie Petrarcas Erano i capei d’oro und Pietro Bembos Crin d’oro crespo herleitet.24 Für Rilke sind derartige petrarkisierende Motive allerdings nicht sehr typisch. Sie speisen sich bei ihm eher indirekt aus Quellen wie dem Werk Baudelaires und der symbolistischen Tradition. Ganz im Sinn des 19. Jahrhunderts ist es jedenfalls, dass die schöne Dame der petrarkistischen Tradition als ›Kurtisane‹ apostrophiert ist und das Verderbliche einer Femme Fatale ausstrahlt. Diese Motivverschiebung von der unerreichbaren Dame zur Femme Fatale geht aus der Romantik hervor. Sie ist für Heinrich Heines und für Charles Baudelaires Behandlung der Thematik charakteristisch.25 Bei letzterem findet man sie in Sonetten wie La Beauté, A une passante und vielen anderen der Fleurs du Mal. Schließlich wird sie vom französischen Symbolismus fortgeschrieben und in die Moderne getragen. Einen weiteren für unser Sonett relevanten Kontext bildet die Venedig-Thematik selbst. Vor allem hier wäre ein Bezug zu Platens Venedig-Sonetten überhaupt zu denken. So nimmt Platen in seinem achten Sonett Es scheint ein langes ew’ges Ach zu wohnen im ersten Terzett auf die berühmte allegorische Venedig-Darstellung im Deckengemälde der Sala del Maggior Consiglio im Venezianer Dogenpalast Bezug: Wie hast du sonst, Venetia, geprahlet Als stolzes Weib mit goldenen Gewändern, So wie dich Paolo Veronese malet!26

Die Verse beziehen sich auf die Apotheose der Venetia (Abb. 2). Da es sich um eine Personifikation der Stadt handelt, kann die Thematik unmittelbar das Ineinanderspielen von körperlichen und architektonischen Elementen in Rilkes Sonett motivieren. Das Deckengemälde zeigt aber noch ein weiteres für unsere Fragestellung interessantes Detail. Vor einer Phantasiearchitektur dargestellt ist im oberen Teil auf einer Wolke herabschwebend die Gestalt der Venetia mit allegorischer Entourage.27 Im unteren Bildteil findet sich ein unruhiges Volksgewimmel und in der Mitte eine vor allem von Frauen und Kindern der besseren Gesellschaft besetzte mächtige Balustrade.28 Genau im Zentrum des Bildes fallen auf diesem Balkon zwei hell gezeichnete, reich geschmückte Damen in rotweißen, weit ausgeschnittenen Klei-

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Vgl. Borgstedt, Thomas: Petrarkismus. In: Speck, Reiner (Hg.): Petrarca. 1304–1374. Werk und Wirkung im Spiegel der Biblioteca petrarchesca Reiner Speck. Köln 2004, S. 127–151, hier: S. 132ff. Vgl. für diese Motivverschiebung Borgstedt: Petrarkismus (wie Anm. 24), S. 144–148. SW Bd. 3, S. 182. Vgl. Wolters, Wolfgang: Der Bilderschmuck des Dogenpalasts. Untersuchungen zur Selbstdarstellung der Republik Venedig im 16. Jahrhundert. Wiesbaden 1983, S. 282–287. Meist nur pauschal beschrieben: »auf der unteren Balustrade sieht man nur schöne

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Abb. 2: Paolo Veronese: Apotheose der Venetia (1585), Sala del Maggior Consiglio, Palazzo Ducale, Venedig

dern auf, die nach oben in Richtung der Wolke blicken (Abb. 3). Die linke hält ein Taschentuch in der Hand und die rechte hat einen kleinen Hund bei sich. Sie tragen mithin die gleichen Attribute, wie die beiden Damen auf dem Gemälde Carpaccios. Es wäre also durchaus naheliegend gewesen, bei genauem Bildstudium auch in diesen beiden Figuren Kurtisanen zu sehen. Da sie in ihrer zentralen Position in gewisser Weise die Gestalt der Venetia selbst auf der Ebene der venezianischen Bevölkerung zu spiegeln scheinen, ist auch die Assoziation zur Venedig-Allegorie nicht fern, wie wir sie im Rilke-Sonett finden. Zu stützen vermag diese Überlegung zudem, dass bei beiden Damen durch ihren emporgewandten Blick die Augenbrauen besonders hervorgehoben sind. Die Augenbrauen werden im Sonett ausdrücklich

Frauen«, Badt, Kurt: Paolo Veronese. Köln 1981, S. 197; »den zahlreichen Frauen jeden Alters«, Wolters: Bilderschmuck (wie Anm. 27), S. 282.

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Abb. 3: Paolo Veronese: Apotheose der Venetia (Ausschnitt)

thematisiert. Und tatsächlich ›gleichen‹ diese Augenbrauen im vorliegenden Gemälde sowohl dem Brückenbogen, der sich über ihnen wölbt, als auch der Darstellung auf dem auffällig golden gerahmten Wappenschild an der Front der Balustrade, das eine venezianische Brücke zeigt. Die personifizierte ›Venetia‹, eine ›Kurtisane‹ mit Hündchen, »Brauen, die den Brücken gleichen«, das ist ein Bündel von Motiven, das Sonett und Gemälde verbindet. »Als stolzes Weib mit goldenen Gewändern,/ so wie dich Paolo Veronese mahlet«: die Verse Platens könnten tatsächlich einen Initialtext für Rilkes Kurtisanensonett bilden. Dann wäre die Apotheose der Venetia im Dogenpalast ein unmittelbarer Bezugspunkt des Gedichts, die Due Dame veneziane bzw. ›Kurtisanen‹ Carpaccios wären nur ein mittelbarer. Bereits im Kurtisanen-Sonett zeigt sich im Zugriff Rilkes ein wesentlicher Unterschied im Vergleich zur Venedig-Sonettistik von Platen. Letzterer beschreibt im Fortgang des Zyklus seine Erkundungsgänge durch die Stadt, seine Befindlichkeiten und seine Begegnung mit den Kunstwerken Venedigs. Im Zentrum der Gedichte

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steht das betrachtende Subjekt. So heißt es im zitierten Sonett angesichts von Veroneses Gemälde weiter: Nun steht ein Dichter an den Prachtgeländern Der Riesentreppe staunend und bezahlet Den Tränenzoll, der nichts vermag zu ändern!

Es herrscht eine Stimmung der Melancholie, die das Dichtersubjekt angesichts der verlorenen Größe Venedigs ergreift. Die Präsenz dieses Subjekts installiert schon das erste Wort im ersten Gedicht der Venedig-Sonette: »Mein Auge ließ das hohe Meer zurücke«. Gleichwohl herrschen über den literarhistorischen Stellenwert der Subjektivität in den Sonetten Platens unterschiedliche Auffassungen. Der Zugriff Rilkes hebt sich davon in gerade dieser Hinsicht gründlich ab. Für dessen Neue Gedichte ist die Abwesenheit des Subjekts ein wesentliches Charakteristikum. Man spricht diesbezüglich gern von ›Dinggedichten‹. Sie wenden sich ganz der Objektwelt zu, die sie im sprachlichen Kunstwerk neu zu erschaffen suchen. Es handelt sich dabei durchaus um eine Poetisierung im romantischen Sinn, doch geht diese eben grundsätzlich nicht vom Subjekt aus, sondern wird in die Dinge selbst gelegt. Das entscheidende Kennzeichen dafür ist die poetische Dynamisierung der Dingwelt: Die Dinge werden in Bewegung gebracht und als transitorische dargestellt. Es findet eine artistische »Steigerung und Überbietung der Dinge in der Natur« statt, mit quasi-religiösen Implikationen.29 Ansatzweise lässt sich das bereits am vorliegenden Sonett zeigen. So wird das petrarkistisch ›goldene Haar‹ von der Sonne Venedigs ›hervorgebracht‹ – es ist nicht bereits da. Durch den Vergleich mit der Alchemie wird dies nochmals betont, da auch diese einen Verwandlungsprozess bezeichnet. Ebenso werden die Brauen durch den Vergleich mit den über die Kanäle führenden Brücken und die Augen durch den mit den Kanälen und den Gezeiten des Meeres in Bewegung versetzt: hier zeigt sich im Vergleich mit den statischen Schönheitsbeschreibungen der petrarkistischen Tradition das poetologische Programm der Neuen Gedichte bereits deutlich. Auch die formalen Merkmale des Sonetts spiegeln das Moment der Dynamisierung. Die strenge Tektonik des Schlegel-Sonetts wird aufgebrochen durch Verzicht auf das Gesetz der weiblichen Reime bei gleichzeitiger Konzentration der Reime.30 Der männliche b-Reim kehrt in den Quartetten sechsmal wieder. Auch die Behandlung des Metrums ist freier, es gibt zahlreiche Dreifachsenkungen: »der lautlosen Gefahr«, »ein heimlicher Verkehr«. Vers 3 ist gegen die Regel auf bloß vier Hebungen verkürzt. Dazu kommt der aggressive Einsatz von Enjambements, insbesondere am ›Einschnitt‹ zwischen Quartetten und Terzetten. Bei all dem handelt es sich um

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Rilke: Werke (wie Anm. 12), Bd. I, S. 907 (Kommentar). Vgl. zur Bedeutung der Tektonik für die Schlegelsche Sonettkonzeption Borgstedt, Thomas: Topik des Sonetts. Gattungstheorie und Gattungsgeschichte. Tübingen 2009, S. 452– 467.

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deutliche Positionierungen gegen das Schlegel-Sonett, als dessen treuester Befolger August von Platen gilt. Für die Sonettbehandlung lässt sich mithin wie für Thema und Inhalt eine deutliche Hinwendung zum französisch-symbolistischen Vorbild feststellen. Markant ist das auch deshalb, weil man das Schlegel-Sonett mit Fug als ein wesentlich antifranzösisches Sonett bezeichnen kann. Es hatte von der Schreibweise des Wortes ›Sonett‹ bis zum Verbot der französischen Reimschemata, der alternierenden Kadenzen und der Enjambements alles typisch Französische aus der Gattung verbannt.31 Rilke dynamisiert also die Form des Sonetts im Einklang mit seiner Poetik der Dynamisierung der Dinge, und nimmt sie so unmittelbar in den Dienst seines Programms. Die etwas seltsamen Terzette bringen nun das petrarkistische Accessoire ins Spiel, jenes Attribut der Dame, in dem sich deren Schönheit bündelt und auf das sich das Gedicht pointenhaft zentriert: bei Petrarca sind dies etwa der Spiegel oder der Schleier, im frühneuzeitlich-manieristischen Petrarkismus auch schon mal die Haarnadel, der Sonnenschirm oder die Klaviertasten, bei Mallarmé dann gerne der Fächer, und hier eben ist es – denkbar unpetrarkisch und ebenfalls typisch für das 19. Jahrhundert – der Hund. Das Motiv der Dame mit Hund lässt sich wie gezeigt mit einiger Wahrscheinlichkeit auf die entsprechenden Darstellungen venezianischer Damen auf Gemälden von Carpaccio oder Veronese beziehen. In Rilkes Sonett bringt der Hund den traditionellen erotischen Kontakttopos ins Spiel. So beneidet der petrarkistische Dichter den Spiegel oder die Klaviertasten wegen ihrer physischen Nähe zur für den Dichter gewöhnlich unerreichbaren Dame. Der Spiegel vermag den Anblick der Dame zu genießen, die Klaviertasten sogar ihre Berührung.32 In ähnlichem Sinn ›beneidet‹ der anonyme Betrachter in Rilkes Gedicht den Hund der venezianischen Kurtisane, weil ihre Hand auf ihm ruht. Das Motiv ruft dabei die ›schöne Hand‹ – die bella mano – der petrarkistischen Tradition auf.33 Die Beiläufigkeit und Zerstreutheit ihrer Berührung betont den hochmütigen Charakter der Dame beziehungsweise ihr

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Vgl. Borgstedt: Topik des Sonetts (wie Anm. 30), S. 462–464. Vgl. für das Spiegelmotiv Petrarcas Sonett Il mio adversario in cui veder solete, Canz. 45, in: Petrarca, Francesco: Canzoniere. Edizione commentata a cura di Marco Santagata. Mailand 1996, S. 236; für weitere Beispiele Borgstedt: Topik des Sonetts (wie Anm. 30), S. 314; die Klaviertasten bedichtet Shakespeare in Sonnet 128; zur Thematik der Schönheitsattribute insgesamt Forster, Leonard: Petrarcas Dichtweise: Eine Einführung. In: Forster, Leonard: Das eiskalte Feuer. Sechs Studien zum europäischen Petrarkismus. Übersetzt von Jörg-Ulrich Fechner. Kronberg/Ts. 1976, S. 9–47, bes. S. 14f; zur Ausweitung des Motivspektrums Regn, Gerhard: Torquato Tassos zyklische Liebeslyrik und die petrarkistische Tradition. Studien zur Parte prima der Rime (1591/1592). Tübingen 1987, S. 50ff. Vgl. Mirollo, James V.: In Praise of ›La bella mano‹. Aspects of Late Renaissance Lyricism. In: Comparative Literature Studies 9 (1972) 31–43; einschlägig ist Petrarcas Sonett O bella man, che mi destringi ’l core, Canz. 199, Petrarca: Canzoniere (wie Anm. 32), S. 853.

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Femme-Fatale-haftes Wesen. Gleiches gilt für ihre geschmückte Hand, die »unverwundbar«, »an keiner Glut verkohlt«, das heißt, als Begehrte selbst von keinem Affekt betroffen wird. Und Knaben, Hoffnungen aus altem Hause, gehn wie an Gift an meinem Mund zugrund.

Ist der Liebende in der Tradition Petrarcas gewöhnlich der lyrische Sprecher, so ist diese Position hier in die dritte Person versetzt, pluralisiert und anonymisiert. Es scheint unklar, von welchen »Knaben« hier plötzlich die Rede sein soll. Im petrarkistischen Kontext kommt nur einer in Frage, und das ist Cupido, die Miniaturausgabe des mächtigen petrarkischen Liebesgottes Amor. Dass Amor am Ende eines petrarkischen Sonetts auftaucht, ist nichts Ungewöhnliches, so etwa im berühmten Einsamkeitssonett Solo et pensoso, wo Amor mit dem Liebenden ein fortdauerndes Gespräch führt.34 Unpassend ist im vorliegenden Gedicht allerdings, dass Rilkes Knaben zum Opfer der Dame werden. Was petrarkistisch also nicht recht motiviert erscheint, könnte einen Sinn im Blick auf die Stadt Venedig ergeben, der manche ›Knaben aus altem Hause‹ verfallen waren. Man könnte dabei an Aschenbach denken und an seine ›Vergiftung‹ durch die Schönheit Venedigs, doch war der kein Knabe und 1907 war er noch nicht erfunden. Andere Knaben aus altem Hause aber waren schönheitstrunkene Venedigreisende wie Lord Byron, Graf Platen oder John Ruskin, auf die eine solch spöttische Kennzeichnung durchaus zutreffen könnte. Dies wären Anspielungen, die die Distanz zum Platenschen Venedig-Erlebnis ebenso transportierten, wie sie seine Thematik und sein Vorbild im Spiel hielten. Bezogen auf die Venetia-Personifikation des Gedichts spielt also ein Moment der satirischen Entlarvung der kunstbeflissenen Venedig-Begeisterung der Dandys des dekadenten 19. Jahrhunderts eine Rolle. Wie Platen rekurriert Rilke mit seinem Kurtisanen-Sonett auf allegorische Darstellungen Venedigs in der Malerei, namentlich auf die von Platen apostrophierte Apotheose der Venetia des Paolo Veronese. Er inszeniert jedoch nicht das wahrnehmende Dichtersubjekt – den ›Kunstfreund‹ – während seiner Begegnung mit den Kunstwerken. Er gestaltet vielmehr das Objekt dieser Darstellung, die VenetiaPersonifikation, und erweckt sie poetisch zum Leben durch einen Rekurs auf die petrarkistische Tradition der Schönheitsbeschreibung einerseits und auf die Darstellung reichgeschmückter venezianischer Damen – bzw. ›Kurtisanen‹ – andererseits, und zwar mit einem hochaktuellen und tendenziell sogar satirischen Dekadenzeffekt. Zur Sprache kommt dabei das Objekt der Darstellung, die Venetia selbst, in der sich architektonische, sinnlich-affektive und moralische Motive überkreuzen. Es entsteht ein Fin-de-Siècle-Petrarkismus und eine auf den Gegenstand bezogene, objektivierende Ästhetik, die sich von Platens subjektorientierter und vom subjek-

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Canz. 35, Petrarca: Canzoniere (wie Anm. 32), S. 189; vgl. für die Bezugnahme Platens darauf Borgstedt: Der Ruf der Gondoliere (wie Anm. 4), S. 314–318.

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tiv-melancholischen Begehren getriebener Stadt- und Kunstbegegnung merklich unterscheidet.

IV. Melancholische Betrachtung und Dingwerdung Venedigs Besser mit den Venedig-Sonetten Platens vergleichen lässt sich die Reihe jener Sonette Rilkes aus dem zweiten Teil der Neuen Gedichte, die das Bild der Stadt und ihrer Bauten selbst aufgreifen: Venezianischer Morgen – Spätherbst in Venedig – San Marco, Venedig – und Ein Doge. Das erste davon – Venezianischer Morgen – greift erneut das Motiv der weiblichen Personifikation der Stadt auf. Venezianischer Morgen Richard Beer-Hofmann zugeeignet

Fürstlich verwöhnte Fenster sehen immer, was manchesmal uns zu bemühn geruht: die Stadt, die immer wieder, wo ein Schimmer von Himmel trifft auf ein Gefühl von Flut, sich bildet ohne irgendwann zu sein. Ein jeder Morgen muß ihr die Opale erst zeigen, die sie gestern trug, und Reihn von Spiegelbildern ziehn aus dem Kanale und sie erinnern an die andern Male: dann giebt sie sich erst zu und fällt sich ein wie eine Nymphe, die den Zeus empfing. Das Ohrgehäng erklingt an ihrem Ohre; sie aber hebt San Giorgio Maggiore und lächelt lässig in das schöne Ding.35

Die zuvor erwähnten Prinzipien der Neuen Gedichte, die sich so deutlich von denen Platens unterscheiden, sind auch hier exemplarisch zu erkennen: die Dynamisierung des Gegenstands vollzieht sich im Sich-Selbst-Inne-Werden der Frau, die morgens prüfend in den Spiegel schaut. Das wiederum petrarkistische Spiegelmotiv wird hier auf die Sonettform selbst angewandt, die durch das Nachstellen des zweiten Quartetts symmetrisch angeordnet wird. Auch solches hatte Baudelaire vorgemacht – ein Unding aus schlegelscher Perspektive.36 Das Wort vom ›Spiegel-

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Rilke: Sämtliche Werke (wie Anm. 8), Bd. 1, S. 609. Z. B. Bien loin d’ici, ein ›umgekehrtes Sonett‹ mit der Reimordnung AAA BBB CDCC DCDD; in: Baudelaire, Charles: Sämtliche Werke. Briefe. Hg. und kommentiert von Friedhelm Kemp und Claude Pichois in Zusammenarbeit mit Wolfgang Drost. 8 Bde., München 1975–1992, Bd. 4, S. 94. Rilkes vorliegendes Sonett reimt ebenfalls unkonventionell AbAb cDcDDc eFFe.

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bild‹ steht denn auch unmittelbar an der Symmetrieachse dieses Sonetts in Vers 8. Ausdrücklich im Zentrum der Beschreibung steht das Thema der Verwandlung und des Werdens. Das Zu-Sich-Selbst-Kommen dieses Venedig ist Ausdruck einer Begegnung von unten und oben, von Wasser und Himmel, wo »eine Nymphe […] den Zeus empfing«, wo ein Irdisches Transzendentes berührt und in dieser Steigerung zu sich selbst findet. Es entspricht ganz grundsätzlich Rilkes Vorstellung poetischer ›Ding-Werdung‹, wie er sie von Cézanne ableitete, und generell seiner nicht-subjektivistischen Poetik der ›Figur‹.37 Die aus dem Wasser aufsteigende Insel San Giorgio Maggiore wird bei Rilke von der personifizierten venezianischen Nymphe als ein Schmuckstück emporgehoben. Dies entspricht in gewissem Sinn dem Bild, das das erste Venedigsonett Platens entwirft. Hier ist es allerdings im Unterschied zu Rilke das subjektive Auge des Dichters, vor dem die Gebäude Palladios aus dem Wasser steigen: Mein Auge ließ das hohe Meer zurücke, Als aus der Flut Palladios Tempel stiegen, An deren Staffeln sich die Wellen schmiegen, Die uns getragen ohne Falsch und Tücke. Wir landen an, wir danken es dem Glücke, Und die Lagune scheint zurück zu fliegen, Der Dogen alte Säulengänge liegen Vor uns gigantisch mit der Seufzerbrücke. Venedigs Löwen, sonst Venedigs Wonne, Mit ehrnen Flügeln sehen wir ihn ragen Auf seiner kolossalischen Kolonne. Ich steig ans Land, nicht ohne Furcht und Zagen, Da glänzt der Markusplatz im Licht der Sonne: Soll ich ihn wirklich zu betreten wagen?38

Alle vier Abschnitte des Sonetts werden von der Wahrnehmung des Subjekts organisiert. In dieser Wahrnehmung hebt sich Venedig aus der Flut. Rilkes Venezianischer Morgen entsubjektiviert diesen Moment der Erscheinung der Stadt. Er löscht das Subjekt und wendet die Wahrnehmung auf sich selbst zurück. In Rilkes Sonett ist es die Stadt, die ihrer selbst inne wird, nicht Platens wahrnehmendes Subjekt des Reisenden. Dieser programmatische Kontrast macht es durchaus wahrscheinlich, dass wir es auch hier mit einer fernen Adaption des Platenschen Sonetts zu tun haben. Beide Sonette stehen an der gleichen Position: auch Rilkes Morgengedicht eröffnet seine Reihe von Venedig-Sonetten.

37

38

Vgl. dazu stellvertretend Büssgen, Antje: Bildende Kunst. In: Engel: Rilke-Handbuch (wie Anm. 1), S. 130–150, zu den Cézanne-Briefen S. 142–145; zur Poetik u. a. der Neuen Gedichte Manfred Engel: Rilke als Autor der literarischen Moderne. Ebd., S. 507–528. SW Bd. 3, S. 175.

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Für die Beurteilung des Verhältnisses von Platen und Rilke in diesen Gedichten ist es wichtig, sich über die poetische Haltung Platens selbst zu verständigen. Hier finden sich wie bereits angedeutet zwei mehr oder weniger konträre Deutungstendenzen. In der einen Sichtweise werden Platens Sonette in den Kontext einer eher goethezeitlich-subjektbezogenen Erlebnisdichtung gestellt. Dabei wird die homoerotische Disposition betont, um den subjektiven Charakter herauszustellen. Die andere Sichtweise begreift die hervorstechende Formbezogenheit der Gedichte umgekehrt als Indiz einer Entsubjektivierung. Dies soll offenbar eine Brücke von Platen zum Ästhetizismus des späteren 19. Jahrhunderts schlagen. Die bisherige Argumentation hat eher den Subjektbezug als den Formalismus in den Vordergrund gestellt. Dafür spricht nicht zuletzt schon der historische Ort Platens. Im Rahmen der vorliegenden Analyse zeigt aber gerade auch der Vergleich mit den Venedig-Sonetten Rilkes eine klare Differenz hinsichtlich der Rolle der Subjektivität in den Gedichten. Rilkes Grundhaltung, jene vom Ursprung her katholisch-subjektskeptische Ding- und Bildemphase, die ihn an die französische Moderne bindet, findet man bei Platen jedenfalls nicht. Horst Thomé – der jüngste Vertreter einer auf den Ästhetizismus bezogenen Deutungsrichtung – hat seine diesbezügliche Besprechung von Platens Sonetten auf die These gegründet, ihn scheide eine fundamentale Negativierung der Natur von der Erlebnispoesie Goethescher Provenienz. Er erkennt diese Negativität der Natur in der Identifikation des lyrischen Ich mit der »widernatürlichen Stadt«, womit Thomé Venedig meint.39 Diese These aber lässt sich mit den Venedig-Sonetten nicht wirklich belegen. Für Rilke ist dagegen eine solch dualistische Naturauffassung und Anthropologie durchaus charakteristisch. Sie entspricht unmittelbar seiner Poetik der Ding-Transzendierung, des transitorischen Charakters der Objektwelt – ihrer vanitas, hätte man früher gesagt – und seiner Überzeugung, in der Kunst einen Umschlag und eine Transformation in eine überzeitliche Wirklichkeit leisten zu können. Es handelt sich gewissermaßen um eine Poetik der Transsubstantiation, die die ›Dinge‹ in der Poesie gleichsam zu ›Hostien‹ werden lässt. Bei Platen ist Ähnliches nicht zu beobachten. Thomés These einer Negativierung der Natur bei Platen lässt sich in dessen Gedichten nicht belegen, auch wenn sich diese ganz weitgehend mit Kunstobjekten befassen. Schon das erste zitierte Sonett lässt die Architektur der Stadt aus einem Meer hervorsteigen, das in keiner Weise in Opposition zu jener Stadt gestaltet ist. Nicht nur erscheint dieses Meer ›hoch‹ wie jene Tempel, es erscheint auch als freundliches Element, das die Reisenden »ohne Falsch und Tücke« ans Ufer getragen hat. Seine Wellen »schmiegen« sich an die Tempel. Natur und Kunst gehen eng ineinander über. Bestätigt wird dies auch vom zweiten Sonett, dessen erstes Terzett den Blick vom Markusturm beschreibt:

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Thomé: Platens Venedig-Sonette (wie Anm. 4), S. 20.

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116 Ich grüße dort den Ozean, den blauen, Und hier die Alpen, die im weiten Bogen Auf die Laguneninseln niederschauen. Und sieh! da kam ein mut’ges Volk gezogen, Paläste sich und Tempel sich zu bauen Auf Eichenpfähle mitten in die Wogen.40

Auch hier ist die Natur freundlich. Ozean und Alpen umfangen die Laguneninseln der Stadt, in der sich mit den Eichenpfählen und den Wogen die Elemente von Wasser und Land auf ihre Weise wiederholen und das Fundament der Stadt bilden. Natur und Stadt bilden eine Kontinuität. Es findet sich keine Spur eines anthropologischen Dualismus oder einer Negativierung der Natur. Wie anders ist dies in Rilkes nächstem Sonett, dem berühmten Spätherbst in Venedig. Dieses zerfällt geradezu in zwei Teile. Das geschilderte Herbstbild der Stadt ist bereits im Ansatz eines der Vergänglichkeit, des toten Sommers. Die Stadt selbst erscheint als toter Köder und ihre Eichenpfähle als ›Waldskelette‹. Genau aus dieser Metaphorik des Todes – ihrer geradezu barocken morbidezza – bricht in Rilkes Sonett der ›Umschlag‹ und die ›Verwandlung‹41 hervor, was in grandiosen Bildern eines kriegerischen Flottenaufbruchs eine imaginäre, geistige Zukunft beschwört: Spätherbst in Venedig Nun treibt die Stadt schon nicht mehr wie ein Köder, der alle aufgetauchten Tage fängt. Die gläsernen Paläste klingen spröder an deinen Blick. Und aus den Gärten hängt der Sommer wie ein Haufen Marionetten kopfüber, müde, umgebracht. Aber vom Grund aus alten Waldskeletten steigt Willen auf: als sollte über Nacht der General des Meeres die Galeeren verdoppeln in dem wachen Arsenal, um schon die nächste Morgenluft zu teeren mit einer Flotte, welche ruderschlagend sich drängt und jäh, mit allen Flaggen tagend, den großen Wind hat, strahlend und fatal.42

Die These einer Opposition von Natur und Kunst bei Platen verfängt also im Vergleich zu Rilke nicht, das zeigt sich in diesen deutlich differenten Bildern. Was aber hat es dann mit jenen Sonetten Platens auf sich, die manchen Kritikern bloß als

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42

SW Bd. 3, S. 177. Vgl. zu diesen poetologischen Motiven die Arbeit von Ryan, Judith: Umschlag und Verwandlung. Poetische Struktur und Dichtungstheorie in Rainer Maria Rilkes Lyrik der Mittleren Periode (1907–1914). München 1972. Rilke: Sämtliche Werke (wie Anm. 8), Bd. 1, S. 609f.

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›illustrierter Baedeker‹ erscheinen wollten, weil sie sich so sehr auf die Schilderung der Kunstschätze dieser Stadt einlassen und so wenig über ihren Sprecher verraten? Mehrfach ist inzwischen auf die Römischen Elegien Goethes als Vorbild für das Konzept von Platens Sonetten aus Venedig hingewiesen worden, nicht zuletzt von Horst Thomé im genannten Aufsatz. Im Zentrum von Goethes Romgedichten steht bekanntlich eine freizügige Liebeserzählung. Der Goethesche Reisende geht von Beginn an eine erotische Beziehung zu einem Mädchen ein, in der ihm die Stadt lebendig wird. Zwar bestehen darin deutliche Unterschiede zu Platens Sonetten. Doch auch dessen Venedigreisender wandelt auf den Spuren der Liebe. Deutlich wird das vor allem, wenn man die Konstruktion des Zyklus bei Platen ernst nimmt. So öffnet sich im Fortgang der Sonette die reine Kunstbetrachtung zur menschlichen Begegnung und zur Liebe hin. Eine Liebesbegegnung wird erwähnt, zaghaft, vorsichtig, unerfüllt. Die Venedig-Sonette sind gerade dadurch charakterisiert, dass sie erotisches Geschehen nur in äußerst zurückhaltenden Anspielungen entwickeln. So sehr dieses Verbergen des Erotischen ihrer Poetik entsprach, so sehr bildet doch die Entfaltung eines erotischen Geschehens ein wesentliches Bauprinzip des Zyklus. Dies ist in der Forschung hinreichend beschrieben worden.43 So wird im 4. Sonett zunächst der Renaissancemaler Gian Bellin in einer kleinen Täuschung des Lesers als ›Freund‹ angesprochen. Im 9. Sonett heißt es dann aber bereits: Doch um noch mehr zu fesseln mich, zu halten, So mischt sich unter jene Kunstgebilde Die schönste Blüte lebender Gestalten.44

Am Ende des Zyklus kreisen die Gedichte hauptsächlich um diese Liebesbegegnung. Sie treten damit durchaus in die Nachfolge der Römischen Elegien ein. In der ursprünglichen Ausgabe von 1825 stehen am Schluss drei Sonette zu diesem Thema: Weil, da, wo Schönheit waltet, Liebe waltet – Ich liebe dich, wie jener Formen eine – und Was läßt im Leben sich zuletzt gewinnen? Der Zyklus läuft auf eine Liebesbegegnung zu, die seinen Kulminationspunkt und sein Telos bildet. Platen allerdings drängt diesen Aussagekern zugleich zurück und macht ihn undeutlich, aus bekannten Rücksichten. In den folgenden Werkausgaben bei Cotta werden drei der expliziteren Gedichte entfernt. An deren Stelle tritt als neues Schlussgedicht das berühmte Wenn tiefe Schwermut meine Seele wieget, das auf Motive der PetrarcaTradition und insbesondere auf das von den Romantikern besonders geschätzte Einsamkeitssonett Petrarcas zurückgreift.45 Nicht ausgeschieden wurde von Platen allerdings das Sonett Weil, da, wo Schönheit waltet, Liebe waltet, das das vorgetragene Argument unmittelbar stützt:

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Siehe die Belege in Anm. 3. SW Bd. 3, 2. Teil, S. 183. Vgl. Borgstedt: Der Ruf der Gondoliere (wie Anm. 4), S. 314–318.

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118 Weil da, wo Schönheit waltet, Liebe waltet, So dürfte Keiner sich verwundert zeigen, Wenn ich nicht ganz vermöchte zu verschweigen, Wie deine Liebe mir die Seele spaltet. Ich weiß, daß nie mir dies Gefühl veraltet, Denn mit Venedig wird sich’s eng verzweigen: Stets wird ein Seufzer meiner Brust entsteigen Nach einem Lenz, der sich nur halb entfaltet. Wie soll der Fremdling eine Gunst dir danken, Selbst wenn dein Herz ihn zu beglücken dächte, Begegnend ihm in zärtlichen Gedanken? Kein Mittel gibt’s, das mich dir näher brächte, Und einsam siehst du meine Tritte wanken Den Markus auf und nieder alle Nächte.46

Die zwischenmenschliche Liebe ist hier unmittelbar eingelassen in die Begegnung mit der Stadt. Sie wächst aus ihr hervor und bildet keineswegs einen Gegenpol oder einen Kontrast zu deren Lob. Das lyrische Ich spricht von sich und seinen Empfindungen. Es klagt über eine Liebe, die sich – wie es heißt – nur halb entfaltet. Die darin beschlossene Unerfülltheit korrespondiert mit der Klage über Venedigs Machtverlust, mit dem »Es scheint ein langes, ew’ges Ach zu wohnen«.47 Platens Venedig-Zyklus steht im Zeichen der Melancholie. Er umkreist einen Verlust, der im abschließenden Schwermut-Sonett seinen bündigsten poetischen Ausdruck erhält. Hier korrespondieren die verfallenden Mauern der niedergegangenen Stadt dem einsamen Ruf der Gondoliere und dem darüber wachsenden Lorbeerbusch des Dichters. Die Einsamkeits- und Melancholie-Haltung, die sich als entscheidender Rahmen der venezianischen Sonette erweist, ist im Kern subjektzentriert. Eine solche Haltung hat in Rilkes Venedig-Sonetten keinerlei Entsprechung. Aus diesem Grund ist es literarhistorisch schlüssiger, Platens Lyrik an die poetischen Konzepte der Goethezeit anzuschließen und ihre innovativen Momente vor allem in ihrer neuartigen Thematik, in der mehr oder weniger offenen Thematisierung der homoerotischen Neigungen und ihren damit zusammenhängenden substitutiven Formalismen und zum Teil auch in ihrer melancholischen Verlustklage zu sehen. Dieser Verlust charakterisiert bei Platen die verlorene Liebe ebenso wie die verlorene Größe Venedigs, und sie charakterisiert auch die nachgeordnete, epigonale Stellung der Dichtung in seiner Zeit. Ihr tiefsitzender Subjektivismus bildet schließlich auch den Grund, warum ihre Aufnahme in dem vom Symbolismus geprägten Sonettwerk Rilkes sich als sehr distanzierte erweist. Der erotische Impuls und das begehrende Subjekt finden dort keinen Widerhall. Es gibt eben mehrere Traditionslinien der Moderne in Deutschland, und diese können nicht nur linear aufeinander bezogen werden. Aus

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SW Bd. 3, S. 187. Ebd., S. 181.

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diesem Grund verläuft die Ruhmeslinie von Platens Venedig-Sonetten eben doch eher zum Tod in Venedig Thomas Manns als zur Poetik der Transsubstantiation und zu den euphorisch tagenden Flaggen Rainer Maria Rilkes.

Frauke Bayer

»Das Beste, was je über Platen gesagt worden ist.« Zur Platen-Rezeption bei Albert H. Rausch. Eine kritische Relektüre anhand unveröffentlichter Archivalien Als 1925 in Erlangen die Platen-Gesellschaft mit dem Ziel gegründet wurde, das geistige Erbe des 90 Jahre zuvor verstorbenen Dichters August Graf von PlatenHallermünde für die nachfolgenden Generationen zu bewahren,1 kam es bei der Besetzung des Vorstandes zu einem unerfreulichen Zwischenfall. Von der Kontroverse zeugt ein Brief des damaligen Präsidenten Hans von Hülsen: Erlauben Sie mir zu sagen, dass ich über den Brief, den Sie an den Sekretär der PlatenGesellschaft gerichtet haben […] vollkommen erstaunt gewesen bin. Weder bin ich eine Verpflichtung eingegangen, noch bin ich einer Unterredung ausgewichen, noch hat man versäumt, bei Gründung der Platen-Gesellschaft an Sie heranzutreten. [...] Genau wie alle anderen Mitglieder des Ausschusses sind Sie zur Konstituierenden Versammlung eingeladen worden, und ich bedauerte, dass Sie nicht kamen, wie viele Freunde der Sache, die freilich dienen, nicht herrschen wollten. Wären Sie gekommen, so wäre vielleicht auch Ihre Wahl ins Präsidium durchzusetzen gewesen [...]. Den Anspruch auf einen Platz im Präsidium würden Verdienste um die Gesellschaft, erst in zweiter Linie Verdienste um Platen begründen [...]. [...] Ihre unvorsichtige Drohung, der Sache durch Ihre ablehnende Haltung zu schaden [sic] schreckt weder mich noch die Gesellschaft. Es wäre übrigens die Sache Platens, der Sie schaden würden; und die Ihre.2

Was war vorgefallen? Bei dem Adressaten des Schreibens handelt es sich um den heute weitgehend in Vergessenheit geratenen Dichter Albert Heinrich Rausch, der

1

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Die in der Vereinssatzung formulierte Hauptaufgabe der Gesellschaft, deren Gründungsmitglieder neben Hans von Hülsen und Paul Bornstein, Max Koch, Ernst Sander und Erich Petzet waren, bestand darin, »das geistige Erbe Platens zu verwalten und die Kenntnis seiner Werke zu verbreiten«. Satzungen der Platen-Gesellschaft e. V. § 1. o. O. u. o. J. [Erlangen 1925]. Das Bemühen um den lange verkannten Dichter sah also einerseits eine klar archivalische Auseinandersetzung mit Platen (»zu verwalten«) vor, deren dokumentarisch-bewahrender Charakter zur Gründung des Platen-Archivs führte. Auf der anderen Seite verfolgte die Gesellschaft einen dezidiert kommunikativen Ansatz (»Kenntnis seiner Werke zu verbreiten«), der einen möglichst breiten Kreis an Interessenten ansprechen sollte. Ausdruck dieses Bemühens um einen (nicht nur wissenschaftlichen) Austausch war u. a. die Förderung von Fachpublikationen zu Platen, vor allem aber die Ausrichtung der jährlich stattfindenden Platen-Tagungen. Brief Hans von Hülsens an Albert Heinrich Rausch vom 2. Februar 1926. In: Stadtarchiv Erlangen Sign. StadtAE 30.VIII.229. Für die Möglichkeit der Einsichtnahme in die unveröffentlichten Dokumente des Archivs der Platen-Gesellschaft danke ich dem Stadtarchiv Erlangen und hier ganz besonders den beiden Archivmitarbeiterinnen Frau Renate Wünschmann und Frau Ute Riedel.

Frauke Bayer

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sich vor allem durch seine 1910 erschienene Auswahl von Gedichten Platens um den Ansbacher Dichter verdient gemacht hatte:3 Besonders das Urteil des der Gesellschaft nahe stehenden Platen-Forschers Rudolf Schlösser, der die Anthologie als »eine Ausgabe von höchstem Wert, ganz besonders wichtig durch ihre glänzende Vorrede, würdig der Bewunderung und Liebe jedes gebildeten Deutschen« gelobt hatte, war Ausschlag gebend gewesen, Rausch einzuladen, der Platen-Gesellschaft beizutreten.4 Und auch seinem »begreiflichen Wunsche«, in den Ausschuss der Platen-Gesellschaft gewählt zu werden, von dem Rausch sich »ganz andere Wirkungsmöglichkeiten« für eine Rehabilitierung Platens versprach, wurde zunächst gerne Rechnung getragen:5 hatte doch von Hülsen selbst Rauschs Äußerungen zu Platen als »das Beste« bewertet, »was je über Platen gesagt worden ist« – eine Einschätzung, die Rausch nicht ohne Stolz zitiert.6

I.

Ein »kabarettistische[s] Satyrspiel«:7 zur Kontroverse von Hülsen – Rausch

Doch schon in der folgenden Korrespondenz deuten sich Differenzen zwischen der altruistischen Gesinnung der Platen-Gesellschaft und der als elitär zu bezeichnenden Geisteshaltung Rauschs an, die in der Folge immer wieder zu Missverständnissen führen werden: So glaubt Rausch – aufgrund seines bisherigen Engagements für Platen – schon »von Rechts wegen« einen Platz im Ausschuss für sich proklamieren zu können. Und auch seine Überzeugung, »dass die Gründung der PlatenGesellschaft kein Zufall«, sondern das Verdienst der »Besten unseres Lands« sei, ist Ausdruck seines Elite-Denkens.8

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Rausch, Albert H: Die Gedichte des Grafen August von Platen. Ausgewählt und herausgegeben von Albert H. Rausch. Mit einer Vorrede: Die geistige Haltung Platens. Frankfurt am Main 1910. zweite unveränderte Auflage ebd. 1921. Zitiert nach: Verlagsbroschüre der Deutschen Verlags-Anstalt zu Albert H. Rausch. Stuttgart, Berlin, Leipzig 1925. Diese Einladung nimmt Rausch gerne an, wie ein Brief an Hans von Hülsen vom 1. September 1925 beweist: »Haben Sie vielen Dank für Ihre freundliche Aufforderung, der Platen-Gesellschaft beizutreten. Ich tue dies selbstverständlich [...].« . In: Stadtarchiv Erlangen Sign. StadtAE 30.VIII.229. »Vielen Dank für Ihren Brief. Nun ist ja alles [im Original unterstrichen] sehr schön. Ich gehe gerne in den Vorstand und ich werde mit allen Kräften wirken für diesen Verein, auch durch Reden, und vor allem von Person zu Person.« Billett Albert H. Rauschs an Hans von Hülsen, nicht datiert, [Poststempel vom 4. September 1925]. In: Stadtarchiv Erlangen Sign. StadtAE 30.VIII.229. Brief Albert H. Rauschs an Hans von Hülsen vom 1. September 1925 (wie Anm. 4). Brief Hans von Hülsens an Albert H. Rausch vom 7. September 1926. In: Stadtarchiv Erlangen Sign. StadtAE 30.VIII.229. Ebd. Was hier zunächst noch als Lob für die Tätigkeit des Präsidiums der Platen-Gesellschaft formuliert ist, impliziert dennoch zugleich den Ausschluss von Interessenten, die

Zur Platen-Rezeption bei Albert H. Rausch

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Unausgesprochen bleibt die – latent jedoch stets mitzudenkende – privilegierte Position, die Rausch sich selbst in diesem Unterfangen zugedacht hat: vermutlich die eines »Freund[s] und Führer[s] der deutschen Jugend« nämlich, als welchen ihn die Deutsche Verlags-Anstalt in ihrer Broschüre desselben Jahres apostrophiert, die als Beilage zur 1926 publizierten Festschrift der Platen-Gesellschaft keinen Zweifel an ihrem Zielpublikum lässt.9 Rauschs eigenes (durchaus verdienstvolles) Bemühen, »besonders bei jungen Menschen« Mitglieder für die Gesellschaft zu werben,10 zielt in die gleiche Richtung. Sein in diesem Kontext formulierter Appell an die Platen-Gesellschaft, die »›Elite‹ zu sammeln und kampfkräftig zu machen« besitzt allerdings einen seltsam martialischen Unterton.11 Von Hülsen reagiert auf dieses Ansinnen mit berechtigter Irritation und betont wiederholt, worin das eigentliche Ziel der Gesellschaft liege: nämlich darin, der Sache Platens zu »dienen« und nicht darin, »herrschen« zu wollen.12 Was aber hat es mit diesen offensichtlich nicht unberechtigten Vorwürfen auf sich und worin bestand Rauschs eigentliches Verdienst um Platen? Um das sich aus dem eben zitierten Briefwechsel ergebende ambivalente Bild des hessischen Dichters und seiner offensichtlich nicht unproblematischen Form der Platen-Rezeption zu relativieren bzw. zu korrigieren, ist es nötig, zu den Anfängen von Rauschs Platen-Attitüden zurück zu kehren. Nach wenigen expositorischen Sätzen zur Biografie Albert Heinrich Rauschs, dessen letzte Lebensphase eng mit der Topografie des Comer Sees verbunden ist, soll – der Chronologie seiner wichtigsten Veröffentlichungen zu Platen folgend – der Fokus auf drei zentrale Aspekte seiner Platen-Verehrung gelegt werden: Diese lassen sich – in Anlehnung an die von Rausch verwendete Terminologie – in die Schlagworte apollinischer Sängergott, Ethos der Form und Europäertum Platens fassen. Beschlossen werden die Ausführungen von einem kurzen Resümee, das die Leistung Rauschs für die Platen-Forschung bewertet.

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einer weniger »erhöhten« geistigen »Seinsstufe« angehören. Benrath, Henry: Platen, in: Ders.: Die Stimme Delphis. Zürich 1939, S. 39–64, hier S. 41–42. Verlagsbroschüre (wie Anm. 4). Beilage zu: Festschrift zur Tagung der Platen-Gesellschaft. Ansbach 28. und 29. August 1926. Hg. vom Präsidium und vom wissenschaftlichen Ausschuss der Platengesellschaft e. V. o. O. u. o. J. [Ansbach 1926]. Brief Albert H. Rauschs an Hans von Hülsen vom 15. Mai 1926. In: Stadtarchiv Erlangen Sign. StadtAE 30.VIII.229. Ebd. Brief Hans von Hülsens an Albert Heinrich Rausch vom 2. Februar 1926 (wie Anm. 2). Ebd.: »Ich möchte bei dieser Gelegenheit nochmals betonen, dass wir alle der Sache dienen wollen und dass uns jeder Gedanke an Herrschen fernliegt. Sie könnten, auch ohne mit der gewaltigen Würde eines Beisitzers geschmückt zu sein, den [sic] Sache dienen.« Einige Monate später ergänzt er: »Wir alle in der Gesellschaft arbeiten [...] ausschliesslich [sic] um der Sache willen und können und wollen auf keinen persönlichen Vorteil sehen;« Brief Hans von Hülsens an Albert Heinrich Rausch vom 7. September 1926. In: Stadtarchiv Erlangen Sign. StadtAE 30.VIII.229.

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II. Albert H. Rausch / Henry Benrath – »Ein vergessener Dichter?« Heute ist der unter anderem als Übersetzer,13 Herausgeber und Literaturkritiker tätige Autor Albert Heinrich Rausch, der ab 1932 unter dem stets offenen Pseudonym Henry Benrath veröffentlichte, fast völlig in Vergessenheit geraten.14 Dass seine Werke noch um die Mitte des 20. Jahrhunderts breite Anerkennung fanden, bezeugt eindrucksvoll eine Sammlung von Texten, Stellungnahmen und Erinnerungen seiner Zeitgenossen, Freunde und Verehrer, die Rausch anlässlich seines fünften Todestages als Denkschrift gewidmet wurde.15 Mit dem programmatisch-apodiktischen Titel Albert H. Rausch – Henry Benrath. Ein vergessener Dichter? macht eine aktuelle, 2002 erschienene Publikation zu seinem Leben und Werk auch auf die Tatsache aufmerksam, dass ein aktiver literaturhistorisch-kritischer Umgang mit seinem Gesamtwerk noch aussteht, zumal der Großteil seines Briefwechsels und anderer im Henry-Benrath-Archiv in Friedberg liegender Autografe Rauschs noch nicht veröffentlicht ist.16 Eine umfassendere Auswertung des Friedberger RauschNachlasses unter biografisch-ideengeschichtlicher Perspektive (so der Untertitel der Studie) leistete erstmals die 2009 erschienene Monografie des ausgewiesenen Benrath-Kenners Christian Hartmeier.17 Der homoerotischen Veranlagung Rauschs, die

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1941 übersetzt Rausch, der seit 1940 den in der Nähe von Genua gelegenen Kurort Nervi als seinen ständigen Aufenthaltsort gewählt hat, die Gedichte der italienischen Lyrikerin Antonia Pozzi. In den Texten der jungen Frau, die sich 1938 im Alter von sechsundzwanzig Jahren das Leben genommen hatte, glaubt er sein weibliches literarisches Pendant gefunden zu haben. Nur wenig später folgt eine Übersetzung der Gedichte Pozzis ins Französische; beide im Auftrag von Antonias Vater Roberto Pozzi entstandenen Versionen Rauschs wurden jedoch nie publiziert. Näheres hierzu siehe auch bei: Golisch, Stefanie: Treffpunkt im Unendlichen – Albert H. Rausch und Antonia Pozzi, in: Keller, Michael (Hg.): Albert H. Rausch – Henry Benrath. Ein vergessener Dichter? Friedberg 2002. Wetterauer Geschichtsblätter 49 (2002), S. 143–169. Bereits in den dreißiger Jahren hatte Rausch eine Auswahl der Lyrik Stefan Georges ins Französische übertragen: Rausch, Albert H.: Stefan George. Evocation d’un poète par un poète. Avec 29 poèmes traduits en français. Paris 1936. Vgl. hierzu auch das Vorwort mit dem Titel »Albert H. Rausch – Henry Benrath: Nicht vergessen, aber nicht mehr gelesen!« einer 2002 erschienenen Publikation, in dem Michael Keller die öffentlichen Formen einer Benrath-Gedenkkultur betont, die sich jedoch gerade in einem passiven Umgang mit dem Literaten Benrath äußern: »Die Gedenkplatte an seinem Geburtshaus [...], das Urnengrab auf dem Friedberger Friedhof, das Henry Benrath-Archiv [...], der Benrathweg und seit einigen Jahren die Benennung der Gesamtschule West in Henry Benrath-Schule [...].« Keller (Hg.): Albert H. Rausch (wie Anm. 13), S. VII–XIV, hier S. X–XI. Italiaander, Rolf (Hg.): Henry Benrath in Memoriam. Stuttgart 1954. Teil der Sondersammlung Wetterau, dem Stadtarchiv Friedberg angeschlossen. Mein Dank gilt an dieser Stelle dem kommissarischen Leiter des Stadtarchivs Friedberg, Herrn Lutz Schneider. Hartmeier, Christian: »Mich wiegt ein Lied aus Göttertagen...«. Albert H. Rausch / Henry Benrath (1882–1949). Humanist, Kulturkritiker, Sympathisant der Diktatur. Eine biographisch-ideengeschichtliche Studie. Würzburg 2009. Des weiteren: Hartmeier, Christian:

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ein immer wiederkehrendes Element seines Schreibens darstellt, hatte Wolfgang Popp in seinem Band zur Männerliebe unter literaturwissenschaftlicher Perspektive bereits 1992 Rechnung getragen.18 Doch schon 1931 hatte Hans Dietrich Hellbach in seiner von Rausch aufmerksam verfolgten Dissertation dessen Homosexualität im Diskurs der literarischen Freundesliebe kontextualisiert.19 1998 situiert Popp den hessischen Dichter erneut im Homosexualitätsdiskurs, stellt nun aber einen konkreten Bezug Rauschs zu Platen und zu zwei weiteren (homoerotisch konnotierten) Verehrern des Ansbacher Dichters dar:20 Neben der Analyse von Hubert Fichtes Platen-Apologien werden auch im Werk Hans von Hülsens homosexuelle Subtexte am Beispiel seiner Platen-Lyrik und seines 1918 publizierten Platen-Romans Den alten Göttern zu,21 der unter der konstruktiven Kritik Thomas Manns entstanden war,22 nachgewiesen. Berufen konnte Popp sich in seinen Ausführungen zur Platen-Rezeption bei Albert H. Rausch auf den »sehr differenzierten Beitrag«23 Olaf Schulzes (eine Wertung, der ich mich gerne anschließe), der 1993 im Forum Homosexualität publiziert wurde.24

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Albert H. Rausch – Erhebung wider die moderne Welt: Ein Schriftsteller zwischen Ästhetizismus und Nationalsozialismus, in: Keller (Hg.): Albert H. Rausch (wie Anm. 13), S. 1–141. Christian Hartmeier bin ich für einige wichtige Hinweise zu Dank verpflichtet. Eine sehr gute Einführung in das Leben und Werk Albert Heinrich Rauschs / Henry Benraths bietet daneben die frühe Publikation von: Hagen, Siegfried: Henry Benrath. Der Dichter und sein Werk. Bonn 1978. Popp, Wolfgang: Männerliebe. Homosexualität und Literatur. Stuttgart 1992, S. 270–280. Hellbach, Hans Dietrich: Die Freundesliebe in der deutschen Literatur. Leipzig 1931. Zugl. Dissertation der Universität Leipzig 1931. Das Kapitel, das sich Rausch widmet, findet sich auf den Seiten 135–148. Von der Arbeit an der Dissertation zeugt ein Briefwechsel zwischen Hellbach und Rausch, wobei die von Hellbach verfassten Schreiben in gedruckter Form vorliegen: Hans Dieter Hellbach an Albert Heinrich Rausch: Ein Leser und sein Autor. Kommentiert von Marita Keilson-Lauritz und Christian Hartmeier. In: Keller (Hg.): Albert H. Rausch (wie Anm. 13), S. 193–201. Hellbachs große Verehrung für das Werk Rauschs findet gleich in seinem ersten Brief vom 23. September 1929 ihren Ausdruck: »Es mag einem Dichter Freude bereiten, wenn Stimmen des Dankes zu ihm dringen – aber was kann es ihm bedeuten, wenn ein 22jähriger Student, ein ganz unbekannter, an seinen Werken mit einer Liebe hängt, die weit über alles hinausgeht, was sonst ein angehender Germanist einem Gegenwartsdichter entgegenbringt?«. Ebd. S. 193. Popp, Wolfgang: Der Dichter und seine Gemeinde. Platen in literarischen Texten seiner Verehrer. Hans von Hülsen, Albert H. Rausch, Hubert Fichte. In: Bobzin, Hartmut und Och, Gunnar (Hgg.): August Graf von Platen. Leben. Werk. Wirkung. Paderborn, München, Wien, Zürich 1998. S. 169–189. Hülsen, Hans von: Den alten Göttern zu. Ein Platen-Roman. Berlin 1918. Näheres hierzu siehe auch bei: Och, Gunnar: August von Platen, Hans von Hülsen, Thomas Mann. Eine Dokumentation mit bislang unveröffentlichten Briefen aus dem Archiv der Platen-Gesellschaft. In: Ders. (Hg.): »Was er wünscht, das ist ihm nie geworden«. August Graf von Platen 1796–1835. Eine Ausstellung im 200. Geburtsjahr des Dichters. Erlangen 1996. S. 150–163. Popp: Der Dichter und seine Gemeinde (wie Anm. 20), S. 178. Schulze, Olaf: »... gerne will ich mischen meine Tränen den deinen, o Bruder!«. Zur Pla-

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III. »Ne se rend«:25 Kurzbiografie Albert Heinrich Rauschs Am 5. Mai 1882 in Friedberg in Hessen als Sohn eines großbürgerlichen Mehlhändlers geboren, sollte Rausch nach dem Willen seiner Eltern im prestigeträchtigen diplomatischen Dienst tätig werden. Seine gesamte Erziehung und akademische Bildung waren auf dieses Ziel ausgerichtet: der Besuch des humanistischen Gymnasiums in Friedberg, das 1900 in Gießen begonnene und 1904 an der Sorbonne fortgesetzte Studium der Germanistik, Romanistik und Geschichte, die langen Aufenthalte in Leeds, Berlin und Genf, das ihm neben Paris zum Inbegriff der europäischen Weltstadt wurde. Während seiner zahlreichen Reisen, die ihn auch mehrfach nach Italien führten, knüpfte Rausch internationale Kontakte und entwickelte die Idee eines Europas, das von einer elitären Schicht aus gebildeten Aristokraten und Bürgern regiert werden sollte. Dieses paneuropäische Ideal übertrug Rausch 1926 auch auf die Person Platens, wie im sechsten Abschnitt des vorliegenden Beitrags zu zeigen sein wird.26 Das so vielversprechend begonnene Studium Rauschs endet allerdings in einem Fiasko: Die von ihm 1906 vorgelegte Dissertation über die Lyrik Victor Hugos wird von seinem Doktorvater, dem Sprachwissenschaftler Dietrich Behrens, abgelehnt und Rausch kehrt desillusioniert nach Friedberg zurück. In dieser Situation erreicht ihn folgender Brief, der sein Leben grundlegend verändern wird: Karl Wolfskehl hat mir viel gutes von Ihren versen gesagt und mir einige vorgelegt in denen ein Ton echter Begeisterung klingt. Es wird mich freuen von Ihnen eine sammlung zu lesen: da Sie jetzt ganz in meiner Nähe weilen ist allerdings am besten Sie sind selber der überbringer · vielleicht kann ich Ihnen aufschlüsse geben die für Sie wert haben · Ich bin etwa bis ende des monats hier und jeden nachmittag den Sie sich ankündigen zu sprechen.27

Bereits die eigenwillige Orthografie lässt eindeutige Rückschlüsse auf den Verfasser der Zeilen zu, nämlich Stefan George, dessen Lyrik das Frühwerk Rauschs – neben der Philosophie Friedrich Nietzsches und der Literatur des französischen Symbolismus – nachhaltig beeinflusst.

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ten-Rezeption bei Albert H. Rausch. In: Forum Homosexualität und Literatur 18 (1993), S. 65–88, hier S. 65. Den Leitspruch des Sich-Nicht-Ergebens, der als programmatisch für die Lebensgestaltung Rauschs angesehen werden kann, fand er 1907. Das zugehörige persönliche Signet mit stilisierter Lilie, Krone und Schwert entwarf Luigi Morini für ihn. Das Signet ziert auch die frühen Werke Rauschs, die in Anlehnung an die Publikationen Stefan Georges in streng limitierter Auflage auf kostbarem Büttenpapier gedruckt und von einem bibliophil gestalteten Bucheinband gefasst wurden. Rausch, Albert H.: Platen der Europäer. Festrede / Gehalten auf der Tagung der PlatenGesellschaft zu Ansbach in Bayern, am 28. August 1926, Berlin und Erlangen 1927. Brief Stefan Georges an Albert H. Rausch vom 14.09.1906 (Poststempel). Zitiert nach: Hartmeier: Albert H. Rausch – Erhebung wider die moderne Welt (wie Anm. 17), S. 1–141, hier S. 15–16.

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Von der großen Faszination, die George auf Rausch ausübt, zeugt der Entwurf eines Dankbriefes, den der junge Dichter wenige Tage nach dem erfolgten Besuch bei dem ›verehrten Meister‹ verfasst: Verehrtester, lieber Meister, keines meiner Worte vermag Euch zu sagen, wie tief und wunderbar die Gefühle sind, mit denen ich Euer Haus verlassen habe. Wenn man seit Jahren in grosser Bewunderung eines Mannes gelebt hat – als etwas so weit, weit über das Gewöhnliche Ragenden –: und nun kommt unvorhergesehen eine Stunde, die einen vor die Augen eben dieses Mannes führt: eine Stunde, in der man unmittelbar den Hauch vollkommener Welten spürt: dann ist man anfänglich ein wenig geblendet wie von Unwirklichen, wie von erträumten Strahlen.28

Der auf Empathie beruhende Zugang zu Werk und Person Georges, der sich im Pathos der eben zitierten Zeilen spiegelt, bildet auch die Grundlage für Rauschs Annäherung an das verehrte Dichter-Vorbild Platen, das er mehrfach dem zeitgenössischen Dichter29 George an die Seite stellt.30 Platen, der tote Dichter, und George, der Geist unserer Zeit,31 bilden gleichermaßen für Rausch die Inkarnation eines auf Grundlage der Philosophie Nietzsches entwickelten apollinisch-delphischen Dichtungsideals, wie er es später in Die Stimme Delphis formuliert.32 Ohne die Kenntnis der hymnischen Verehrung für das mythisch überhöhte Vorbild George ist auch die spezifische Form des von Rausch praktizierten Platen-Kults nicht zu verstehen, der vor allem in seiner Frühphase heidnisch-religiöse Züge trägt. Zwar pflegte auch die Platen-Gesellschaft selbst eine gewisse Neigung zu vergleichbaren, mythisch anmutenden Zeremonien, wie etwa die 1926 aus Anlass der ersten Jahrestagung ausgerichtete nächtliche Gedenkfeier am mit Fackeln beleuchteten Ansbacher Denkmal nahe legt,33 doch waren diese stets Ausdruck einer kol-

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Entwurf eines Briefes Albert Heinrich Rausch an Stefan George vom 24. September 1906. Zitiert nach: Ebd., S. 27. »Das Werk allein hilft! Und was ist denn das Werk Georges anderes als das Werk dieser Zeit? Das Werk dieser Zeit-Sehnsüchte und dieses Zeit-Heimwehs!«. Brief von Albert H. Rausch an Friedrich Gundolf vom 27.12.1910. Zitiert nach: Ebd., S. 11. So u. a. in der Anordnung der unmittelbar aufeinanderfolgenden Widmungsgedichte an Platen und George in seinem Lyrikband »Nachklänge, Inschriften, Botschaften«: Fleischel, Egon (Hg.): Nachklänge, Inschriften, Botschaften. Gedichte von Albert H. Rausch. Berlin 1910. Den zwei Elogen an Platen lässt Rausch zwei Hymnen »An einen zeitgenössischen Künstler«, was als Chiffre für George zu lesen ist, folgen. S. 27–28 und S. 29–30. So heißt es beispielsweise noch in der 1926 vor der Platen-Gesellschaft gehaltenen Rede Rauschs: »Auf dem langen und mühsamen Wege dahin steht neben der überragenden Gestalt des lyrischen Dichters unserer Zeit, Stefan Georges, Platens ergreifende Erscheinung [...].«. Rausch: Platen der Europäer (wie Anm. 26), S. 24. Benrath: Die Stimme Delphis (wie Anm. 8). Nach der eigentlichen Tagung war eine »Feier am Platen-Denkmal, verbunden mit Kranzniederlegung« vorgesehen. Um der zeremoniellen Handlung einen würdevollen Rahmen zu verleihen, wurde beschlossen, dass die Teilnehmer des Festaktes sich nach dem offiziellen Teil »in geschlossenem Zug« zu dem festlich beleuchteten Platen-Denkmal begeben.

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lektiven Gesinnung.34 Rausch hingegen, der sich in der Nachfolge der französischen Symbolisten und des großen Vorbilds Stefan George zu einem stolzen Einzelgänger stilisierte, sah – besonders in seiner Frühzeit – einen in der Einsamkeit vollzogenen individuell-identifikatorischen Zugang zu dem geliebten Dichter als einzig adäquaten Modus der Annäherung.35 Das für Platen Gesagte gilt in gleichem Maße für den Umgang mit Person und Werk Stefan Georges, für dessen Verehrung es – so Rausch – ebenfalls »nicht solcher Masken« bedürfe, »um zu feiern«, womit er sich dezidiert gegen den offiziellen Akt der Kranzniederlegung wendet.36 Die eben skizzierte Geisteshaltung Rauschs findet ihren plastischen Ausdruck in einem entsprechenden Lebensstil, den Rausch ab circa 1906 praktiziert und der

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»Festakt anläßlich der 1. Tagung der Platen-Gesellschaft«, 28. August 1926, Einblattdruck, Druck von C. Brügel Sohn A. G., Ansbach. In: Stadtarchiv Erlangen Sign. StadtAE 30.VIII.5. Verantwortlich für diese Idee zeichnete der Ansbacher »Direktor Brand«, der vorgeschlagen hatte, »doch am Abend noch die Gasfackeln am Platen-Denkmal (das ist eine alte Stiftung, sonst nur am Geburts- und Todestag) brennen zu lassen«, wie Hermann Dollinger in seinen Tagungs-Planungen notiert. Freilich bedauert er im selben Schreiben auch, »dass man wegen der Mädchen Singerei nicht die ganze Denkmalsfeier auf Nachts verlegen kann«. Schreiben Hermann Dollingers an Herrn Dr. Rühl vom 20. August 1926. In: Stadtarchiv Erlangen Sign. StadtAE 30.VIII.5. So war der Platen-Gesellschaft daran gelegen, einen möglichst breiten Kreis von Interessenten anzusprechen. Das zeigt sich auch in der Kooperation mit der Stadt Ansbach und der dort ansässigen Singschule, die maßgeblich zum Gelingen der Gedenkfeier beitrugen: »Nach dem Festakt [...] findet eine kleine Gedenkfeier statt, die die städtische Singschule unter ihrem Leiter Herrn Oberlehrer Beer mit dem Vortrag einer Hymne aus ›Iphigenie in Tauris‹ von Gluck einleitet. Von den Stufen des Denkmals herab hält der Präsident der Platen-Gesellschaft, Herr Hans von Hülsen, eine Ansprache, an die sich die Niederlegung des Kranzes der Platen-Gesellschaft aus Lorbeer von Platens Grab in Syrakus anschließt. Auch die Stadt Ansbach wird, wie wir erfahren, einen Kranz am Denkmal des Dichters niederlegen lassen. Die nächtliche Feier endet mit Händels ›Seht, er kommt mit Preis gekrönt‹, gesungen durch die Städtische Singschule unter Leitung von Herrn Oberlehrer Beer.« »Das Programm der Platen-Tagung« in Ansbach am 28. August 1926, nicht datiert [August 1926], Einblattdruck. In: Stadtarchiv Erlangen Sign. StadtAE 30.VIII.5. Die offiziellen Formen der Platen-Rezeption beschränkten sich also keineswegs auf reines Skribententum – ein von Rausch gerne benutzter Begriff, um seine eigene, eindeutig identifikatorische Platen-Verehrung von den öffentlichen Praktiken abzusetzen – sondern sahen durchaus auch Möglichkeiten einer mythisch-kultischen Verehrung vor. Benrath: Die Stimme Delphis (wie Anm. 8), S. 78. Zur Deutung des »Denkmalskult[s] als Ausdruck der Dichterverherrlichung« und zur Geschichte des 1859 enthüllten Ansbacher PlatenDenkmals siehe auch die entsprechenden Kapitel bei: Teuchert, Hans-Joachim: August Graf von Platen in Deutschland. Zur Rezeption eines umstrittenen Autors. Bonn 1980, S. 88–93. »Doch Flitter ist vor dir, wenn eitle Jünger / Den Chiton umtun und Akanthuslaub: / Es braucht nicht solcher Masken, um zu feiern,/ [...]. / Dich feiert nicht ein Schauspiel von Epheben: / Dich feiert einzig das ergriffne Herz! / Und ohne Kranz und wallendes Gewand, [...].« Albert H. Rausch: An einen zeitgenössischen Künstler I (wie Anm. 30), V. 12–14, V. 17–19.

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sich durch eine – von Baudelaires Dandytum inspirierte37 – antibourgeoise Ästhetik auszeichnet: Das oben zitierte Schreiben Georges nämlich war für Rausch, der bereits im Alter von 14 Jahren sein erstes Gedichtmanuskript abgeschlossen hatte, Legitimation genug, den elterlichen Lebensentwurf zu verweigern und sich wie George ohne bürgerlichen Brotberuf ausschließlich dem Schreiben zu widmen. Dieses von Rausch bis an sein Lebensende offensiv praktizierte Ideal eines sich sämtlichen bürgerlichen Zwängen widersetzenden Libertins bildete einen der zentralen Angriffspunkte für von Hülsen, der selbst nur nebenberuflich schriftstellerisch tätig war: »[I]ch bin leider Gottes kein Dichter im Dachkämmerlein, sondern ein vielbeschäftigter Mann, den man suchen muss, wenn man ihn finden will.«38 Die Zeilen treffen – auch wenn ihre Polemik eher das Bild eines armen Poeten Spitzwegscher Provenienz evoziert – die künstlerische Existenz Rauschs ziemlich genau und tragen so auch zum Verständnis seines Zugangs zu Platen bei. Im eigenen literarischen Schaffen wie in der Beschäftigung mit dem Werk Platens forderte Rausch von sich stets einen Akt der völligen Hingabe, eine Form der (metaphysischen) Intimität, die nicht durch partikulare Bedürfnisse beeinträchtigt werden durfte. Auf seine zahlreichen, ab 1907 regelmäßig erscheinenden schriftstellerischen Arbeiten, für die Rausch 1932 mit dem Büchnerpreis ausgezeichnet wurde, kann hier nicht näher eingegangen werden. Zu seinen bekanntesten belletristischen Texten zählen ohne Zweifel die so genannten Kaiserinnenromane, die allesamt unter dem Pseudonym Henry Benrath erschienen, das er seit der Veröffentlichung seines Romans Ball auf Schloß Kobolnow im Jahr 1932 gebrauchte.39 Ähnlich wie Platen verbrachte auch Rausch seine letzten Lebensjahre fast ausschließlich in Italien,40 zunächst – unterstützt von einem reichen Gönner – von 1940–43 in Nervi an der ligurischen Küste, dann bis zu seinem Tod 1949 in dem

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»Baudelaire hat uns eine geradezu metaphysisch gesehene Charakteristik [des Dandys] gegeben. Danach ist der Dandy der vollkommen Einsame; aber nicht aus Anmaßung, sondern notgezwungen. Seine empfindliche Seele, die sich nach ›luxe, ordre et beauté‹ sehnt, nach ›Atmosphäre, Gesetz und Schönheit‹ erträgt keine Berührung mit dieser gestaltlos gewordenen Welt des Bourgeois und Händlers, ohne nicht tödlich zu leiden.«. Das Gesagte lässt sich auch auf die Lebensphilosophie Albert H. Rauschs übertragen. Winkler, Eugen: Die Gestalt Stefan Georges in unserer Zeit. In: Ders.: Dichtungen. Gestalten und Probleme. Nachlass. Reutlingen 1956. S. 221–235; hier S. 224. Brief Hans von Hülsens an Albert H. Rausch vom 2. Februar 1926 (wie Anm. 2). Eine sorgfältige Analyse des letztgenannten Romans sowie Reflexionen zur Wahl des Pseudonyms bietet: Keilson-Lauritz, Marita: Striptease auf Schloß Kobolnow oder die Geburt des Henry Benrath aus dem Dilemma der schwulen Literaturwissenschaft. In: Keller (Hg.): Albert H. Rausch (wie Anm. 13), S. 173–191. Die wichtigsten historischen Romane Benraths, die auch in jüngster Zeit wieder Neuauflagen erfahren haben, sind Die Kaiserin Konstanze (1934), Die Kaiserin Galla Placidia (1937) und Die Kaiserin Theophano (1940). Wie Platen genoss auch Rausch die deutlich größere Liberalität und Toleranz, die in Italien, wo es kein dem Paragrafen 175 vergleichbares Gesetz gab, Homosexuellen entgegengebracht wurde.

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kleinen Bergdorf Magreglio, oberhalb des Comer Sees. Trotz seiner offensichtlichen Sympathie für die nationalsozialistische Ideologie, von der er sich später in einer mehr als fragwürdigen Generalapologie zu distanzieren suchte,41 kommt Rausch das Verdienst zu, Magreglio sowie die drei Nachbargemeinden Barni, Civenna, und Oliveto Lario 1944 vor einem Vergeltungsschlag der Wehrmacht bewahrt zu haben.42 Sich in seinem Spätwerk immer mehr der asiatischen Philosophie annähernd und bis zu seinem Lebensende schriftstellerisch tätig, stirbt Rausch am 11. Oktober 1949 in Magreglio, ohne nach 1940 noch einmal längere Zeit in Deutschland gewesen zu sein.

IV. »Uns Geheiligter im Lied, / Zum Gott Erlöster«:43 Kultische Verehrung Platens Ausschlaggebend für Rauschs Verständnis des Ansbacher Dichters, den er mehrfach als Bruder im Geiste und in der Liebe apostrophiert,44 war zweifellos seine eigene homoerotische Veranlagung. Folgt man dem Bericht eines Zeitgenossen, muss er diese wesentlich offensiver als Platen ausgelebt haben: Die Erlebnisse mit jungen Männern aus allen Ländern und Ständen füllten viele Stunden seines Gesprächs. Er hielt damit auch in größerer Gesellschaft nicht zurück und ich sehe noch die empörten Gesichter braver Professorengattinen vor mir, in deren Anwesenheit er seine Abenteuer unbemäntelt zum besten gab. [...] Konnte doch jede neue [...] Bekanntschaft schicksalhaft für ihn werden, den unermüdlichen Sucher nach jungen Freunden, die er, falls der Funke übersprang, mit mehr Glück als der von ihm verehrte und meisterlich gedeutete Platen in sein Leben und mit ähnlicher Formkunst in sein Dichten einbezog.45

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Siehe hierzu vor allem die beiden genannten Studien Hartmeiers. Nachdem italienische Partisanen 1944 einen deutschen Soldaten erschossen hatten, drohte die Wehrmacht mit einem Vergeltungsschlag, bei dem die genannten Gemeinden niedergebrannt werden sollten. Rausch gelang es, diesen durch seine Intervention zu verhindern. Näheres bei: Ceruti, Paolo: Albert H. Rausch (Henry Benrath) und die Ereignisse im Herbst 1944 in Magreglio. In: Wetterauer Geschichtsblätter 39 (1990), S. 285ff. Daneben: Ceruti, Paolo (Hg.): Un’altra vita. Albert H. Rausch – Henry Benrath. Magreglio 2001, S. 9–10. Das Zitat stammt aus Rauschs erstem der beiden unter dem Titel Dem Andenken des Grafen Platen 1908/09 entstandenen und 1910 erstmals publizierten Widmungsgedichte an das verehrte Vorbild. Fleischel: Nachklänge, (wie Anm. 30), dort unter den »Inschriften«: »Dem Andenken des Grafen Platen I« (S. 27, hier Vers 6–7) und »II« (S. 28). So z. B. in »Dem Andenken des Grafen Platen II«. Ebd. Bock, Werner: Pathos der Distanz, in: Italiaander: Henry Benrath in Memoriam (wie Anm. 15), S. 25–33, hier S. 25 und 29–30. Werner Bock war der Sohn des Gießener Fabrikanten und Schriftstellers Alfred Bock, der einer einflussreichen, alteingesessenen jüdischen Familie entstammte und der den für Albert Rausch zentralen Kontakt zu Karl Wolfskehl und damit zu Stefan George herstellte.

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In der Einschätzung Werner Bocks zeichnet sich bereits ein für Rausch typisches Rezeptionsmuster ab: Einerseits die Identifikation mit dem an seiner Veranlagung leidenden Menschen Platen, basierend auf der intensiven Lektüre der im Jubiläumsjahr 1896 erschienenen Tagebücher – für Rausch eine »Entdeckung, welche einer Erschütterung gleichkam«46 – und andererseits das Interesse am Dichter Platen, dessen missverstandenes Werk es zu rehabilitieren gilt. Den Anstoß für Rauschs Platen-Rezeption gab ein Erlebnis der frühen Schulzeit, das ihm allerdings erst Jahre später – während seines Studiums – einen erneuten, nun gänzlich anders gearteten Zugang zu dem verkannten Dichter eröffnete: Wendet sich unser Erinnern aus dem Strahlenkreise des wahren Platenbildes in jene Zeiten zurück, wo man uns Knaben zum erstenmal von dem Dichter sprach, so faßt uns immer wieder das gleiche Erschrecken: wie konnte es jemals geschehen, daß Schulmeisterei und Literatentum die bezwingend heroische Erscheinung eines außergewöhnlichen Künstlers in ein so erbärmliches Zerrbild verkehrten? Welche Torheiten haben unsere Ohren hören, unsere Augen lesen müssen! Bei welchen Nebensächlichkeiten zwang man unsere Wissensbegierde, unseren Drang nach dem Schönen, sich aufzuhalten [...], anstatt uns an die nur zwei Fuß entfernte Quelle im Gestrüpp zu führen, wo höchste deutsche Dichtkunst strömte [...]. Nun erst, als mir das Studium seines Gesamtwerkes Wunder um Wunder erschloß, fielen mir die Schuppen von den Augen. Da stieß auf Gold – pures deutsches Gold, jeder Blick des Auges. [...] Aber mit dieser Entdeckung [...] wurde auch die nie mehr erlöschende Erbitterung [...] geboren gegen das Allotria, welches die Beschränktheit blutarmer Kompilatoren ein Jahrhundert lang mit diesem Dichter ungestraft hatte treiben dürfen.47

Der öffentlichen Lesart Platens, die auf einer selektiven Wahrnehmung seines Werkes basiert, setzt Rausch also den individuellen Zugang zu Platens Person und seinem Werk entgegen, der in Rauschs Frühwerk häufig einen unverkennbar homoerotischen Ton besitzt. In seinem 1911 entstandenen Gedenkbuch In Memoriam,48 welches das Moment mann-männlicher Erotik stark forciert, wird der letzte Aufenthalt eines mit dem Ich-Erzähler befreundeten todkranken jungen Mannes auf der Insel Capri beschrieben, einem symbolträchtigen Ort, wo zuvor schon ein anderer müder, enttäuschter Wanderer Erquickung gefunden [hat], Ruhe und erneute Kraft zu unbeirrter, leidenschaftlicher Anbetung der Schönheit: Platen, der vornehmste aller deutschen Dichter, dessen hochfliegende Gesänge sein befangenes und immer etwas dumpfes Volk nicht verstand. [...] Wo immer Freunde in diese Länder seiner letzten Heimat kommen, sollten sie einen Abend seinem Gedächtnis weihen! Sie sollten sich Falerner bringen lassen, wenn sie im Mondlicht auf ihrer Terrasse sitzen, und seinem ewigen

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Benrath: Die Stimme Delphis (wie Anm. 8), S. 57. Ebd., S. 54–55 und S. 57. Rausch, Albert H: In Memoriam. Hymnen auf das Leben und den Tod des ewigen Freundes. Gewidmet dem Andenken des Hugo von Stumm-Ramholz (1887–1910). Frankfurt am Main 1912. »Dem Andenken meines Freundes Hugo von Stumm-Ramholz« ist auch die eingangs erwähnte Platen-Anthologie gewidmet (wie Anm. 3).

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Namen den ersten Trank ausgießen! Sie sollten Rosen über den Tisch streuen und das Silber der duftenden Frühlingsnacht mit den mildesten Klängen anfüllen, die der große tote Freund im Golde seiner Harfe fand.49

In der zitierten Passage wird zunächst der Topos des ruhelosen Wanderers Platen entworfen, dessen unglückliches Umherziehen auf der Suche nach Erfüllung und Bestätigung an den Mythos der fluchbeladenen Wanderschaft Ahasvers gemahnt. Doch anders als dieser verfolgt Platen – so Rausch – in seinem unbeirrten Streben stets das erhabene Ziel einer hellenistisch geprägten »Anbetung der Schönheit«. Die Insel Capri wird in diesem Prozess als Ort der Ruhe und der produktiven Regeneration Platens interpretiert, was die Stilisierung Italiens zur geistigen und realen Heimat des Ansbacher Dichters erlaubt. In diesem eher als hellenistisch, denn als römisch-antik zu bezeichnenden Arkadien wird die mythische Szenerie einer Zusammenkunft von Jüngern entworfen, die dem verehrten Dichter – einer antiken Gottheit gleich – mit stilisierten Opfergaben in Gestalt von Wein und Rosenblüten huldigen. Die Rezitation der Gedichte Platens in einer milden Frühlingsnacht, hier in das alchemistisch anmutende Bild einer Komposition aus Silber und Gold gebracht, steht nicht nur für eine Übertragung der Natur in die Kunst im Prozess des Dichtens und vice versa, sondern assoziiert im Motiv der Harfe und des Gesangs auch die mythischen Dichtergottheiten Orpheus und Apollon. Als ein Konglomerat aus beiden stilisiert Rausch Platen wiederholt, so auch in seinen beiden Widmungsgedichten an den verehrten Dichter.50 Die preziöse Wortwahl der betrachteten Textstelle, die kostbaren Ingredienzien, die im Mondschein situierte gemeinsame hymnisch-kultische Verehrung des als göttlich empfundenen Dichter-Vorbilds Platen – all das lässt Rausch als Kind seiner Zeit erscheinen, kennzeichnet ihn als dem George-Kreis nahe stehenden Ästhetizisten. Zugleich zeigt die zitierte Passage aber auch ein aktives, performatives In-Spuren-Gehen, fließen doch Rauschs eigene Erfahrungen einer 1911 unternommenen Italien-Reise in die Beschreibung ein. Ihren literarischen Niederschlag fi nden die Italienerlebnisse der Jahre 1911 und 1912 auch in der 1913 geschriebenen und 1914 publizierten Schrift Südliche Reise.51 Die in Anlehnung an Goethes Italienische Reise formulierten, stark stilisierten und dem Symbolismus zuzurechnenden Landschaftsbeschreibungen evozieren durchgängig die Atmosphäre eines als heidnisches Arkadien empfundenen Südens. Die literarische Verarbeitung der auf den Spuren Platens unternommenen Reisen Rauschs verfolgt daneben aber noch ein weiteres Ziel: Die Schilderung zahlreicher homoerotischer Avancen und Amouren kann in

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Rausch: In Memoriam (wie Anm. 48), S. 75–77. »Dem Andenken des Grafen Platen I« (wie Anm. 30): »O Sänger! Uns Geheiligter im Lied, / Zum Gott Erlöster« (V. 6–7), »Und meiner eignen Harfe zarte Stränge / So rein zu stimmen, wie du deine stimmtest, / Ob auch verhaltner meine Hymne ruft« (V. 12–14), »einen jener Göttlichen« (V. 19), »Dem Andenken des Grafen Platen II« (wie Anm. 30): »unsterblicher Sänger« (V. 4). Rausch, Albert H: Südliche Reise. Berlin 1914.

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ihrer schwülen Erotik als Versuch einer Kompensation dessen gelesen werden, was Platen selbst in dieser liberalen Form zeitlebens versagt geblieben ist. Einer der geschilderten Ausflüge der Südlichen Reise führt den Ich-Erzähler an die Sterbestätte des verehrten Dichters in Syrakus. Und was im Gedenkbuch lediglich als bloßer Appell an die Brüder formuliert wird, lässt Rausch hier seinen Helden tatsächlich am Grabmal des verehrten Dichters als rituelle Handlung vollziehen: Es war sieben Uhr, als ich an das Tor der Villa Landolina klopfte, die zwischen weißen Mauern [...] liegt. Eine junge Frau, die öffnete, sah erstaunten Auges auf den Rosenstrauß, der mir im Arme lag. Ich fragte nach Platens Grab. Sie wies mir den Weg so weit, daß ich ihn nicht mehr verfehlen konnte. Ich ging [...] einen schmalen Pfad entlang, bis an die Ausbuchtung, in der das Denkmal des Dichters steht. Der alte schlichte Stein, den der Graf Landolina seinem Gaste setzen ließ, ruht rechts an einer Mauer unter wildem Efeu- und Lorbeergestrüpp. Dort ließ ich die Rosen niedersinken, eine nach der anderen, manche mit den Fingern zerpflückend, so daß ein Regen gelber und roter Blütenblätter über den einsamen Marmor rieselte, auf dem die Schrift schon verwittert.52

Auffallend ist, dass der Platenjünger der Südliche[n] Reise – und man tut Rausch kein Unrecht, wenn man ihn mit diesem identifiziert – das 1868 errichtete Syrakuser Platen-Denkmal unbeachtet lässt und seine nekrophile Zeremonie an dem wesentlich schlichteren Gedenkstein Landolinas zelebriert. Wieder aufgegriffen wird in diesem Motiv das in der Stimme Delphis entworfene Bild der missachteten, »nur zwei Fuß« von der öffentlichen Wahrnehmung entfernten »Quelle im Gestrüpp«, in der sich der ›wahre‹ Charakter des Platenschen Werkes offenbare. Deren Metaphorik einer archaischen Naturbelassenheit wiederholt Rausch hier im Motiv der von wildem Efeu und Lorbeergestrüpp überwucherten, 1859 errichteten Gedenkplatte.53 Offenbar will Rausch sich hier von den offiziellen Medien der Platenverehrung distanzieren und einen innigeren Zugang zu dem geliebten Dichter finden, was freilich zugleich Ausdruck einer elitären Gesinnung ist. Dafür spricht auch die Tatsache, dass das lyrische Ich nun alleine – ohne die Begleitung gleichgesinnter Brüder – an die Grabstätte des verehrten Vorbilds pilgert, was der Szene eine weitaus größere Intimität verleiht.

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Ebd., S. 197. Wiederabgedruckt wurde die komplette Passage unter dem Titel »Platens Grab« in der 1926 erschienenen Festschrift der Platen-Gesellschaft (wie Anm. 9): S. 129– 131. »Platens Grab in Syrakus galt als schönstes Dichtergrab der Welt. Der Graf Landolina, in dessen Garten Platen begraben liegt, hatte seiner Verehrung für den deutschen Dichter Ausdruck verliehen, indem er über dem Grab ein Monument errichtete. An diesem Grabmal, das in die Gartenmauer integriert war, prangte das Wappen der Platen-Hallermünde in großem Format [...]. Unter dem Wappen war eine Grabtafel eingelassen, auf der Platen in lateinischer Sprache als deutscher Horaz gefeiert wurde.« Bereits »1864 brachte der Italienreisende Franz Löher die Kunde aus Sizilien mit, daß das Grab dem Verfalle nahe sei, worauf sich in München ein Komitee bildete, das Geld für ein neues Grabdenkmal sammeln sollte.« Teuchert: Platen in Deutschland (wie Anm. 35), S. 93.

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Die von Rausch in den zitierten Zeilen evozierte Symbolik gibt reichen Aufschluss über sein Verständnis Platens: Bei dem 33 Jahre nach Platens Tod errichteten Denkmal, das ein umfangreiches ikonografisches Programm aufweist,54 handelte es sich seit dem späten 19. Jahrhundert um eine erklärte »Wallfahrtsstätte der Platenverehrer« und damit um das,55 was man heute im Sinne Jan Assmanns als Monument des kulturellen Gedächtnisses bezeichnen würde. Nicht nur in dem am Gedächtnisort selbst vollzogenen Denkmalkult, sondern auch in Gestalt von Widmungsgedichten, die Alice Salzbrunn aus Anlass der geplanten Restaurierung des Syrakuser Platen-Grabmals gesammelt und 1866 in einer Anthologie mit dem Titel Ein Kranz auf das Grab des Dichters August Graf von Platen publiziert hatte,56 fand die öffentliche Wertschätzung Platens ihren Ausdruck. Rauschs programmatische und damit auch latent provokante Abwendung von dieser repräsentativen Form der offiziellen Platenverehrung in Gestalt der 1868 errichteten Grabstele spiegelt in plakativer Weise den Charakter seines Grabbesuches und damit auch seiner frühen Platen-Attitüden wider: So stellt das von ihm verwendete Motiv des wild wachsenden Lorbeers an sich schon ein Symbol für Außenseitertum dar und wird somit zum Zeichen der Geistesverwandtschaft der beiden Dichter Platen und Rausch, wobei letzterer mit Stolz auf seiner Sonderstellung in der Gesellschaft insistiert. Ein direkter Bezug zum Werk des verehrten Vorbilds wird auf intertextueller Ebene über das Bild des Lorbeers, der verwitterndes Gestein überwuchert, hergestellt, entwirft doch Platen selbst ein ganz ähnliches Tableau im letzten und bekanntesten seiner 1825 entstandenen Sonette aus Venedig: Dann blick ich oft, an Brücken angeschmieget, In öde Wellen, die nur leise zittern, Wo über Mauern, welche halb verwittern, Ein wilder Lorbeerbusch die Zweige bieget.57

Lorbeer und Efeu stellen daneben auch Attribute Apollons dar – eine Lesart, die sich angesichts des symbolträchtigen Ortes geradezu aufdrängt, befand sich doch in Syrakus eines der bedeutendsten Apollo-Heiligtümer der Antike, dessen Reste

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»1868 wurde das Denkmal errichtet, eine marmorne Büste mit Sockel. Auf einem Vorsprung aus Tuffgestein erhob sich das Denkmal. Ein Sockel aus dunkelgrauem Marmor bildet den Fuß des Monuments. Darüber erhebt sich ein Piedestal aus weißem carrarischem Marmor, das mit den Emblemen der Lyra, Masken und Lorbeerkränzen verziert war. Darüber aufgesetzt die Büste von Platen in doppelter Lebensgröße, ausgeführt von Professor Schöpf. Zwischen der Büste und dem Emblem waren noch die Worte eingelassen: ›Dem Dichter August Graf von Platen‹ mit seinen persönlichen Geburts- und Sterbedaten mit Angabe der Orte«. Ebd., S. 93–94. Ebd., S. 94. Salzbrunn, Alice: Ein Kranz auf das Grab des Dichters August Graf von Platen. Gesammelt von der Herausgeberin des Albums der Malerei und Musik Alice Salzbrunn, Hannover 1866. SW Bd. 3, S. 189.

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noch heute besichtigt werden können. Außer mit Lorbeer bekränzte man die Dichter der Antike auch mit der heiligen Pflanze des Efeus, die dem Gott Apollon und den Musen geweiht war. Neben der Symbolik des poeta laureatus ist der Lorbeer in der griechischen Mythologie mit der Metamorphose Daphnes verbunden, die sich vor den Nachstellungen Apollons durch die Verwandlung in einen Lorbeerstrauch rettet. Der Sage nach trug Apollon einen Kranz aus Lorbeerzweigen als Zeichen seines Kummers über die nicht erwiderte Liebe zu Daphne. Der von Rausch beschriebene Lorbeer auf dem Gedenkstein Platens erhält somit eine doppelte Bedeutung: Zum einen ist er Ausdruck von Platens literarischer Virtuosität, die durch reales Lorbeerlaub (im Gegensatz zu dem lediglich stilisierten Lorbeerkranz des Platendenkmals) gewürdigt wird, womit in einem orphischen Sinne auch eine Einheit von Dichter und Natur propagiert wird. Zum anderen kann in der eben entworfenen Symbolik der daphneschen Metamorphose der Lorbeer auch als Zeichen für Platens unerwiderte homoerotische Neigungen gedeutet werden. Der Efeu hingegen stellt einen direkten Bezug zu dem Besucher des Grabes her: In seiner Notwendigkeit, eine symbiotische Einheit mit einer anderen Pflanze oder einem Mauerwerk, das ihm Halt gibt, einzugehen, gilt der Efeu auch als Sinnbild der Treue und Freundschaft und betont somit erneut Rauschs individualistische Platenverehrung. Die Huldigung Platens in Form von roten und gelben Rosenblättern führt die genannte Blumensymbolik fort: Drücken die roten Rosen, die der Ich-Erzähler über das Grab des Dichter-Vorbilds regnen lässt, eindeutig seine Zuneigung zu dem geliebten Dichter aus, so handelt es sich bei den gelben Rosen nicht nur um ein Zeichen der Freude und Dankbarkeit, sondern auch um einen subtilen Hinweis auf die homoerotische Natur der Verehrung, galt doch die Farbe Gelb um die Jahrhundertwende als eindeutige Signatur der Homosexualität.58 Dass die Hinwendung zum ›wahren‹ Charakter Platens der Entdeckung eines Geheimnisses gleichkommt, wird in der Symbolik der zitierten Zeilen deutlich: Es gilt, das Efeu- und Lorbeergestrüpp der offiziellen Darstellung zu durchdringen und die bereits verwitterte Schrift des verkannten Platenschen Werkes zu entziffern. Die Marmorbüste des Syrakuser Denkmals wird dagegen zum Synonym der offiziellen Wertung Platens, die den Dichter musealisiert und in einen ungeliebten, sterilen und marmorkalten Klassiker von schwindender Bedeutung verwandelt. Welch hoher Rang Platen nach Rauschs Auffassung tatsächlich zukommt, wird in seiner bereits erwähnten Schrift Die Stimme Delphis (1939) deutlich, die in vager Nietzsche-Nachfolge das Ideal einer apollinisch-delphischen Dichtung entwickelt und Platen in eine Reihe mit den ebenfalls homoerotisch konnotierten Poeten Sappho und George stellt:59

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So wurden beispielsweise in Großbritannien Publikationen mit homoerotischem Inhalt durch einen gelben Buchumschlag gekennzeichnet, und auch heute noch handelt es sich bei der Farbe Gelb um einen gerne verwendeten Code für Homosexuelle. Benrath: Die Stimme Delphis (wie Anm. 8).

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[Platen] ist, seinem geistigen Range und seiner künstlerischen Stufe nach, einer der größten Dichter, welche Deutschland hervorgebracht hat. Einer der einsamsten und mißverstandensten ebenfalls. Wenn einer, so ist er sein Leben lang und weit über seinen Tod hinaus das Opfer eines tragischen Zuges der deutschen Kritik geworden: des Mangels an Sinn für innere Form. Halbbildung hat ihn zu einem Reimeschmied und Ästheten gestempelt. Er war in Wirklichkeit ein leidenschaftlich bewegter, unentwegt wollender und wirkender Mensch. Sein ganzes Leben war nichts anderes als die bewußte Bändigung eines ewig rebellierenden und ihn quälenden Blutes. Die Kraft seiner Disziplin war nicht minder bedeutend als die Gewalt seines Temperamentes. Aus der Gleichheit dieser Gewichte erwuchs das wundervoll edle Maß seiner künstlerischen Erscheinung, welche die Ergreifbaren von heute noch ebenso ergreift und beglückt wie seine vornehmsten Zeitgenossen. Die anderen halten Platen für »überlebt«. Auch allerhand Literaturbeflissene. Man wird sich nicht das Recht zusprechen, sie bekehren zu wollen. [...] Was ihnen »überlebt« erscheint, ist dem Menschen einer erhöhten Seinsstufe gerade das Lebensvolle, das Wertvolle, das Wichtige schlechthin.60

V. »Sieg der Form über den Stoff«: »Die geistige Haltung Platens« Rausch beließ es allerdings nicht bei den zitierten Platen-Elogen, sondern trat auch aktiv für die Rehabilitierung des von ihm verehrten Dichters ein, indem er im Jahr 1910 die eingangs erwähnte Anthologie Platenscher Lyrik herausgab.61 Mit dieser äußerst positiv aufgenommenen Auswahl an Gedichten wandte sich Rausch erstmals an ein größeres Publikum62 und verfolgte damit auch das Ziel, den Stellenwert der Platenschen Lyrik überhaupt erst »sichtbar zu machen«: Der Leser sollte für die unentdeckten »Schätze« sensibilisiert werden, die es – nach Rausch – »zu betreuen und von Geschlecht zu Geschlecht zu bewahren galt«.63 Ein im Fin de Siècle wieder erwachtes Interesse an Platen, das sich in der vollständigen Publikation seiner Tagebücher64 sowie in der historisch-kritischen Ausgabe seines Gesamtwerks niederschlug,65 kam Rausch dabei entgegen. Das (vor allem auch von den späteren Mitgliedern der Platen-Gesellschaft) viel beachtete Vorwort der Sammlung exponiert zunächst das, was Rausch Platens »geistige Haltung« nennt, d. h. dessen Willen zur Form und zur heroischen Bändigung des eigenen Lebens:

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Ebd., S. 41–42. Rausch, Albert H. (Hg.): Die Gedichte des Grafen August von Platen (wie Anm. 3). »Die Ausgabe ging in einigen Tausenden von Exemplaren in die Hände der edelsten deutschen Jugend. Sie ist längst vergriffen, und mag es auch bleiben. Sie hat ihre Aufgabe zu ihrer Zeit erfüllt.« Rausch: Die Stimme Delphis (wie Anm. 8), S. 58. Ebd., S. 57. TB SW

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»Platens geistige Haltung darlegen ist gleichbedeutend mit: den Sieg schildern, den sein schöpferischer Wille über die Leidenschaften seines Lebens errang. Den Sieg seiner Form über den Stoff.«66

Rausch versucht hier also eine Synthese aus formstrengem Dichter und leidenschaftlichem Menschen plausibel erscheinen zu lassen, wobei er der Platenschen Lyrik die entscheidende Funktion zuschreibt, Schmerz in Schönheit verwandeln zu können: Was wußte [die Menge der Lesenden] davon, daß ihn, der durch eine ganze Jugend und ein Mannesalter hin um die Erhaltung und dauernde Prägung seiner sittlichen und künstlerischen Persönlichkeit rang, die »Form« ein Lebenselement werden mußte, eine Rettung, eine Auflösung der persönlichen Schmerzen im All des Schmerzes – im All der Schönheit.67

Rausch interpretiert Platens Stigma, das Leiden an der homosexuellen Veranlagung, als eigentliches Movens seiner dichterischen Produktivität, als »Stoff«, über den er in Gestalt der lyrischen »Form« einen »Sieg« errungen habe. Dabei werden zwei Epochen im Leben Platens unterschieden: die Studienzeit (1818–1826) und die Wanderjahre in Italien (1826–1835). In der ersten Phase habe das Tagebuch Platen als Ventil seiner Leidenschaften und Spiegel seiner »inneren Gebrochenheit«68 gedient, während in der zweiten Phase von der streng nach antiken Metren organisierten Lyrik eine vergleichbare kathartische Wirkung ausgegangen sei. Die Wende markiert nach Rauschs Dafürhalten die erste Italienreise 1824, ein überwältigendes Kunst- und Bildungserlebnis, das Platen zu den »Venetianische[n] Sonette« verhalf, in denen es ihm erstmals gelang, Schmerz und Schönheit vollständig zu synthetisieren. Da die Tagebuchblätter gleichzeitig »ruhiger« und »gemessener« wurden,69 sieht Rausch sich in seiner These der Funktionsverlagerung erneut bestätigt. Neben der Atmosphäre Venedigs und der liberaleren italienischen Mentalität biete – so Rausch – gerade die in Italien praktizierte romanische Form des Sonetts Platen die adäquate literarische Ausdrucksform. Rausch supponiert hier sogar eine Analogie zwischen innerer Zerrissenheit Platens und dichterischer Form, die sich in Gestalt einer natürlichen Verwandtschaft äußere: [D]iese [...] künstlerische Form [war] durch die Art ihrer Gesetzmäßigkeit seinem strengen, auf das Einfache gerichteten Wesen a priori verwandt [...] und damit schon in sich selbst eine natürliche und logische Antwort auf gewisse Tendenzen seines Geistes [...].70

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Rausch, Albert H.: Die geistige Haltung Platens, in: Ders.: Die Gedichte des Grafen August von Platen (wie Anm. 61), S. 1–16; hier S. 2. Ebd., S. 2. Ebd., S. 9. Ebd., S. 10. Ebd., S. 4.

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Die kathartische Funktion werde denn auch beim späteren Platen nicht mehr durch intime Bekenntnisse im Tagebuch erfüllt, sondern unmittelbarer und direkter durch poetische Produktivität. Am deutlichsten zeige sich dies in den Sonetten an den Erlanger Studienkollegen Karl-Theodor German, um dessen Freundschaft sich Platen 1826 vergeblich bemüht hatte. Durch die Kompensation der unerwiderten Sehnsucht in Form von Literatur werde – so Rausch – »ein menschlich gänzlich Unerfülltes durch seine Umformung ins Künstlerische erfüllt«:71 Es scheint, als ob die künstlerische Form diesmal schon eine ebenso unmittelbare Auslösung ermöglicht hätte, als die Tagebuchaufzeichnung; und wenn auch menschlich die Beziehung Platens zu diesem jungen Mann wertlos blieb: künstlerisch hat sie gerade vielleicht ebendeswegen ihre wundervollen Früchte gezeitigt: die Sonette, welche in den Frühlingsmonaten des Jahres 1826 entstanden und an Karl Theodor gerichtet sind, gehören zu den schönsten aus Platens Hand. [...] Alles, was in den unmittelbaren Bewegungen dieser Liebe keinen Ausdruck fand, verdichtete sich zu einem künstlerischen Erlebnis und beweist schon durch den vollendeten Ausdruck, [...], daß der Sieg der Form über den Stoff bei Platen damals eigentlich schon durchgekämpft war.72

Ihre Vollendung erfahre diese Entwicklung schließlich in den italienischen Jahren Platens, die ihn den »Sieg der bildnerischen Triebe über sämtliche Flutungen des Lebens« gewinnen lassen:73 Es gab nur ein Land, das für ihn seit Jahren Ziel einer tiefen und geheimen Sehnsucht gewesen ist: Italien [...]. In Italien konnte sich endlich dieser gewaltige Geist zu sich selbst aufraffen, von keinem Ruf des hinterlistigen Herzens mehr gebannt, und nur dahingegeben an das Uebermaß antikischer Schönheit [...]. Nirgends fühlt man die innere Beruhigung Platens deutlicher, als in den italienischen Tagebuchblättern. [...] Der Charakter des »Selbstbekenntnisses« ist vollständig verloren gegangen.74

Dieser Prozess einer Entemotionalisierung des Geistes durch literarische Überformung der Empfindungen, der eine kompensatorisch-therapeutische Funktion besitzt, führt allerdings auch zu einer Substitution des Lebens durch die Kunst, was aus heutiger Sicht durchaus problematisch erscheint, von Rausch aber allzu unbedenklich affirmiert wird: »Indem er dichtet, lebt er.«75 Allerdings plädiert Rausch auch offen dafür, die in den Tagebucheinträgen sich manifestierende Homosexualität Platens nicht länger zu verschweigen oder zu

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Ebd., S. 11. Ebd., S. 11. Ebd., S. 12. Ebd., S. 12–13. »Die schöpferische Kraft saugt von vornherein alle Erlebnisse auf, welche sie zu krystallisieren vermag und gibt erst im dichterischen Gebilde ihre einmalige, strahlende Offenbarung. Die übrigen Erlebnisse dagegen scheiden langsam aus dem tieferen Bewußtsein aus und vergehen an ihrer eignen Zufälligkeit.« Ebd., S. 14.

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zensieren – eine Haltung, die er als »Schwäche und Feigheit« brandmarkt.76 Will Scheller hingegen folgt in seinem Festschrift-Beitrag zur Ansbacher Tagung 1926 noch ganz der traditionellen apologetischen Lesart.77 Denn Platens homoerotische Neigung ist für ihn nur ein Traum »von paradiesisch heiterer Vereinigung schöner Jünglinge«, deren »Seele den Hauch göttlicher Begeisterung empfangen« habe und folglich »begierdelos« und »sinnenfrei« sei.78

VI. Politisches Engagement: »Platen der Europäer« Auf der Grundlage des großen Erfolgs seiner Platen-Anthologie (und deren Vorwort), die Schlösser – nach Aussage Rauschs – »für die prägnanteste und wesenhafteste erklärt« hatte,79 war Rauschs Wahl in den Ausschuss der Platen-Gesellschaft erfolgt.80 Seine Aufnahme in den Vorstand der Organisation, von der er sich offenbar auch persönliche Vorteile erhofft hatte, war also weniger an seinem künstlerischen Engagement für Platen als an seinem latent egozentrischen Charakter gescheitert, woran auch die Aussage von Hülsens keinen Zweifel lässt: Für den negativen Erfolg bin ich nicht verantwortlich, und ich habe Ihnen gegenüber die Delikatesse gehabt, Sie über die Gründe, aus denen Widerspruch erhoben wurde, nicht aufzuklären; lassen Sie mich heute nur soviel sagen, dass sie nicht auf künstlerischem Gebiete lagen.81

Als eine Art Entschädigung war Rausch wenig später angeboten worden, die Festrede der ersten Tagung der Gesellschaft zu übernehmen82 – eine Einladung, der er nur zu gerne nachkam.83 Auch der Inhalt des Vortrags stand – in gegenseitigem Einvernehmen – kurz darauf fest: »Fassen wir das Thema so: Platen, der Europä-

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Ebd., S. 8. Scheller, Will: Das Antlitz Platens. In: Festschrift zur Tagung der Platen-Gesellschaft (wie Anm. 9), S. 119–122. Ebd., S. 120. Billett Rauschs an von Hülsen vom 4. September 1925 (wie Anm. 5). »Genau wie alle anderen sind Sie von mir eingeladen worden, sich dem Ausschuss zur Errichtung der Gesellschaft anzuschliessen, und ich habe mich gefreut, dass Sie Ja sagten, weil ich, wie Sie wissen, Ihre Einleitung zu den Gedichten hochschätze.« Brief von Hülsens an Rausch vom 2. Februar 1926 (wie Anm. 2). Ebd. Rausch: Platen der Europäer (wie Anm 26). »Lieber [sonst in der Korrespondenz an von Hülsen durchgängig »Sehr verehrter / geehrter«, Anm. F. B.] Herr v. Hülsen: Haben Sie herzlichen Dank. Ich übernehme die Rede sehr gerne, nur bitte nicht später als 4. oder 5. September. Brief mit allem Einzelnen folgt umgehend. Viele schöne Grüße«. Billett Albert H. Rauschs an Hans von Hülsen vom 13. Mai 1926. In: Stadtarchiv Erlangen Sign. StadtAE 30.VIII.229.

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er. Ich werde eine ganz neue Rede schreiben.«84 Diese Ankündigung stellte keine Übertreibung dar, denn Rausch suchte in seiner Rede tatsächlich einen für ihn neuen Zugang zu Platen, und der war vor allem politischer Natur. Schon der erste Satz des Vortrags legt die Perspektive fest: »Von Platen, dem Europäer sprechen, heißt ganz von einem Unsrigen sprechen.«85 Zur Begründung dieser auf den ersten Blick doch sehr erstaunlichen Behauptung beruft Rausch sich auf die nahe Verwandtschaft, die nach seinem Dafürhalten zwischen der aktuellen Lage Deutschlands und Europas nach dem Weltkrieg und den »europäischen Zustände[n] zu Zeiten Platens« besteht.86 Auch damals sei die Situation eine krisenhafte gewesen und von Platen auch so empfunden worden, der im Kontext der Befreiungskriege zunächst anti-napoleonisch und chauvinistisch gedacht habe, dann aber zu einer neuen, nationale und europäische Aspekte versöhnenden Einstellung gelangt sei. Als Beleg dient ein Tagebucheintrag Platens, der zunächst zitiert und dann als Wort von geradezu prophetischer Bedeutung ausgelegt wird: 87 »Das einzige Mittel, unser Vaterland [...] zu einem Staate, und zwar zu dem mächtigsten, ehrwürdigsten in Europa zu machen, ist die Aufrechterhaltung und ewig enge Verknüpfung eines deutschen Bundes.« Diese praktisch-politische groß-deutsche Einstellung Platens gegenüber jeder partikularischen Tendenz ist die kleinere Parallele zu seiner geistigen europäischen Haltung: immer gilt ihm die höhere Einheit vor der geringeren, und nie hat er das auf der Basis des deutschen Bundes ersehnte »Deutsche Reich« außerhalb der gesamt-europäischen Bezüge gedacht und wirksam gewollt.88

Natürlich kommt – das zeigt das Vokabular – diese eigenwillige Aktualisierung Platenscher Positionen nationalistischen Tendenzen und Strömungen im rechten Lager der Weimarer Republik weit entgegen; man darf aber auch nicht übersehen, dass Rausch die Idee eines großdeutschen Reiches als Teil eines gesamteuropäischen Konzeptes versteht, was wiederum den ebenfalls längst schon virulenten völkischen Positionen widerspricht. Der Grundgedanke der Rede ist also ein vermittelnder. ›Deutsches‹ und ›Europäisches‹ sollen zur Synthese gebracht und als vereinbar dargestellt werden, wobei Platen die Funktion des Kronzeugen zu übernehmen hat:

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Brief Albert H. Rauschs an Hans von Hülsen vom 15. Mai 1926. Stadtarchiv Erlangen Sign. StadtAE 30.VIII.229. Rausch: Platen der Europäer (wie Anm. 26). Ebd., S. 14. Eine Konzeption Platens als poeta vates wird daneben bereits in den einleitenden Sätzen entworfen: »Platen, der Deutsche und der Europäer, ist eine lebendig wirkende und fortzeugende Kraft, und er gehört damit nicht nur dem Heute, nein, er gehört noch viel mehr dem Morgen an! Seine menschliche und geistige Haltung, seine Berufung und die Art, wie er sein großes Priesteramt verwaltet hat, erheben ihn zu einem gewaltigen Standbild, das nach vorwärts weist [...].« Ebd., S. 3. Ebd., S. 12–13.

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Platen [...] wurde in dem Maße, wie sein Europäertum wuchs, ein ganz großer Deutscher. Denn für ihn wie für uns heute gilt: daß großes Deutsch-Sein bewußtes Europäer-Sein einschließt. Er war Sohn des Volkes, das in der Mitte Europas liegt. [...] Aus dem Grunde dieser seiner Mittellage heraus ist Deutschland wie kein zweites Land Sitz und Seele des gesamten europäischen Problems und es kann kein Europa geben, in dem nicht alle deutschen mittelpunktbildenden Volkskräfte wirkten, es kann aber auch kein Deutschland geben, das aus seinen europäischen Verbundenheiten herausgehoben wäre.89

Es bleibt freilich eine starke ideologische Belastung, da auch Rausch nicht ohne Feindbild auskommt und die Inklusion des europäischen Elementes mit der Exklusion des Rußland einschließenden asiatischen Raums teuer genug erkauft. Die Rückbindung dieses Ausgrenzungsdiskurses an den zu feiernden Autor gelingt über Platens Polenlieder, die bekanntlich Russlands unrühmliche Rolle bei der Niederschlagung der polnischen Freiheitsbewegung mit aggressiver Polemik bloßzustellen versuchten: Der schlimmste Feind dieser europäischen Bewußtheit, die westlich-südwestlich-südlich, also mittelmeerhaft, gebunden war, sah Platen in Rußland [...]. Rußland und seine Despoten: das war Asien, das war die Barbarei schlechthin. Nur wenn man diese Einstellung kennt, kann man die außergewöhnliche Leidenschaft der Polenlieder verstehen, in denen er den polnischen Aufstand von 1830/31 begleitete und verherrlichte. Für ihn waren die Polen das letzte westliche Volk vor der Grenze der asiatischen Wildnis, die letzten, nach Osten vorgeschobenen Europäer, die auf hoffnungslosem Posten im Kampfe um ihre volkhafte Freiheit für nichts anderes eintraten als für die geheiligte Kultur Europas gegen die unlösliche, tödliche Nacht.90

Diese Gegenüberstellung von einem im Zeichen der Aufklärung stehenden, humanistisch geprägten Europa auf der einen Seite und einem als barbarisch-wild und nächtlich-obskur apostrophierten Asien auf der anderen Seite darf wohl als zeittypisch gewertet werden, denkt man an Lodovico Settembrini, die Pädagogenfigur in Thomas Manns zwei Jahre zuvor erschienenem Roman Der Zauberberg, die eine ganz ähnliche geopolitische Typologie vertritt. In seiner Platen-Deutung bleibt Rausch nicht bei den politischen Verlautbarungen des Dichters stehen, er fragt auch danach, »[w]ie sich Platens Europäertum – jenseits stofflich-bedingter Deutung – durch seine dichterische Tat, d. h. durch seine künstlerische Form belegen läßt.«91 Der Blick richtet sich dabei auf die von Platen besonders gepflegten lyrischen Formen: das persische Ghasel, das romanische Sonett sowie die antike Ode und Hymne, deren Adaption bei diesem Dichter so gelungen sei, dass Eigenes und Fremdes sich verbinden und eine vollständige Eingemeindung in den deutschen Sprach- und Kulturraum gelingt: »Platen weiß das Ghasel in solchen Feuern deutschen Geistes um- und auszuglühen, daß es eine

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Ebd., S. 9. Ebd., S. 18. Ebd., S. 18.

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deutsche Form wird: Er schenkt es der deutschen Sprache, verleibt es ihr ein [...].«92 Entsprechend heißt es zum Sonett: Platen aber, als allereinzigster [sic], hat diese Form erlebt, erfühlt: er hat auch sie der deutschen Dichtkunst geschenkt und als Eigentum hinterlassen. [...] Sie bedeutet – im alleräußersten Grade – die nord-südeuropäische Synthese, die deutsche Mittelmeerbindung, die Sichtbarwerdung der ungeheuren Nord-Süd-Bildungsachse, um die sich Platens »Européität« dreht.93

Und zu Ode und Hymne führt er aus: »Es gibt keinen einzigen deutschen Dichter, der antikische Rhythmen so sehr zum glühenden Ausdruck deutscher Seelenbewegung machte wie Platen.«94 Auch wenn sich Rauschs Europa-Idee zunächst als politisches Konzept präsentiert, so wird im Verlauf seiner Rede immer deutlicher, dass es ihm vor allem um ein europäisches Bildungsideal geht. Als Merkmale dieses Ideals gelten ein »[a]ngeborener Bildungstrieb«, zu dem auch das Beherrschen zahlreicher Fremdsprachen zählt, eine »freiheitliche und humane Gesinnung« und »schließlich eine als Ausdruck der höchsten europäischen Synthese anzusprechende schöpferische Tat«, womit nichts anderes als die Dichtung selbst gemeint ist.95 Vor dem Hintergrund solcher Überlegungen kann es dann auch nicht mehr überraschen, dass am Ende der Rede die Leitbilder wechseln und an die Stelle des politischen Idols Napoleon das Dichterpaar Platen/George tritt: Nur aus deutschem Trieb und Willen heraus kann sich schließlich Europa formen; denn nur in Deutschland, dem Land der Mitte, sind alle anziehenden, angleichenden und ausgleichenden Kräfte gegeben, ohne deren Wirken europäische Gestaltung unmöglich ist. Auf dem langen und mühsamen Wege dahin steht neben der überragenden Gestalt des lyrischen Dichters unserer Zeit, Stefan Georges, Platens ergreifende Erscheinung als Standbild, Vorbild, Mahnbild.96

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Ebd., S. 20. Ebd., S. 21–22. Ebd., S. 23. Ebd., S. 5. Ebd., S. 24. Eine Parallelisierung Platens und Georges unter dezidiert politischer Perspektive leistet dann Will Scheller in seiner Platen-Rede, in der er auf die 1928 erfolgte Verleihung der Platen-Plakette an Stefan George reagiert. In seinen 1930 publizierten Ausführungen beruft sich Scheller mehrfach auf Albert H. Rausch, dessen Argumentation er unter Bezugnahme auf die von George im Siebenten Ring entworfene Vorstellung des Dichters als Richter und Führer weiterentwickelt: »George steht wie Platen dem nahen Osten, Rußland, scharf ablehnend gegenüber als einer kulturellen, heutigentags in der Tat akuten Gefahr für den Bestand der europäischen Geistesprägung, für die Bejahung der Schönheit im Leben, der Freiheit des Geistes und des Friedens auf Erden, und beide erhoffen die Rettung Europas nicht von einer Gegenwärtigen [sic], etwa schon bekannten Persönlichkeit, sondern vom ›künftigen Helden‹ (Platen), in dem sie ihr heroisches Ideal verkörpert sehen; [...].« Scheller, Will: Platen und George. Eine Rede. Erlangen 1930. Schriften der Platen-Gesellschaft. Achtes Stück, S. 13–14.

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Rauschs Festrede vor den Mitgliedern der Platen-Gesellschaft erweist sich als »ein großer Erfolg«, wie nicht nur der Sekretär der Gesellschaft,97 sondern auch Hans von Hülsen mehrfach betont. Auch die Presse geht in ihren Berichten über die Ansbacher Tagung einheitlich wohlwollend auf Rauschs Ausführungen ein.98 Doch schon die Frage der Publikation des Vortrags lässt die alten Animositäten zwischen Albert H. Rausch und Hans von Hülsen wieder aufleben.99 Und erst nach einem brieflichen Schlagabtausch findet sich eine für beide Seiten halbwegs befriedigende Lösung.100 Eine weitere Zusammenarbeit unterbleibt, da Rausch beschließt, die Einladung zur Würzburger Tagung der Platen-Gesellschaft 1927 nicht mehr wahrzunehmen.101

VII. »Zukunft hat nur, wer dem Zeitlosen [...] Dank und Verehrung bewahrt«. Resümee Ich komme zum Resümee meiner Ausführungen, wobei ich mich auf den 1939 in Die Stimme Delphis veröffentlichten Platen-Essay Rauschs beziehe, in dem noch einmal alle zentralen Aspekte seiner Platen-Rezeption zusammengeführt werden.

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»Es bedarf ja wohl keiner Versicherung durch mich mehr, daß die Festrede ein großer Erfolg, nicht allein für Sie persönlich, sondern auch für die Gesellschaft war;« Und zur Frage der Publikation des Vortrags: »Ich bin nicht im Zweifel darüber, daß man diese Veröffentlichung als eine der bedeutendsten in der neuen Platen-Literatur begrüßen würde.« Brief des Sekretärs der Platen-Gesellschaft an Albert H. Rausch vom 26. Januar 1927. In: Stadtarchiv Erlangen Sign. StadtAE 30.VIII.226. »Ich habe Ihnen noch den Dank des Präsidiums für Ihren ausgezeichneten Vortrag zu sagen, der, wie ich zu meiner Freude sehe, in allen Besprechungen der Tagung sehr beachtet worden ist;« Brief Hans von Hülsens an Albert H. Rausch vom 7. September 1926. In: Stadtarchiv Erlangen Sign. StadtAE 30.VIII.226. Hinweis auf den publizierten Vortrag z. B. auch im 8 Uhr: Abend-Blatt der Breslauer Abend-Zeitung, Nr. 75 vom 30. März 1927, eine positive Rezension des Essays »Platen, der Europäer« z. B. in der Bremer Weserzeitung vom 30. Dezember 1927, die betont, dass Rauschs Ausführungen »in ihrer künstlerischen Formung dazu angetan« seien, »in einer Zeit nüchterner Gebundenheit Gefühl und Verständnis für die Gedankenwelt eines großen Dichters zu wecken.«. In: Stadtarchiv Erlangen Sign. Stadt AE30.VIII.6. Gegenstand des Konflikts sind scheinbar überzogene Honorarforderungen seitens Albert H. Rauschs, die sich allerdings erneut als Missverständnis herausstellen. Brief von Hans von Hülsen an Albert H. Rausch vom 7. September 1926, Brief von Albert H. Rausch an Hans von Hülsen vom 26. November 1926. In: Stadtarchiv Erlangen Sign. StadtAE 30.VIII.226. »Die Festrede wird in den ›Blättern‹ abgedruckt. Das betreffende Heft aber versenden wir ausschließlich an Mitglieder [...]. Vom Satz wird ein Sonderdruck in etwa 200 Exemplaren hergestellt, [...], auf Kosten der Gesellschaft. [...]. Die Exemplare des Sonderdrucks stehen vollständig zu Ihrer Verfügung.« Brief des Sekretärs der Platen-Gesellschaft an Albert H. Rausch vom 26. Januar 1927. In: Stadtarchiv Erlangen Sign. StadtAE 30.VIII.226. Brief Albert H. Rauschs an Hans von Hülsen vom 29.06.1927. In: Stadtarchiv Erlangen Sign. StadtAE 30.VIII.226.

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Frauke Bayer

Der Zugang Rauschs zu Platen ist ein sehr individueller, der zunächst von Empathie gesteuert wird. Im Vordergrund steht der in seiner Homosexualität als wesensverwandt erkannte Mensch und Dichter Platen, dem sich Rausch über eine äußerst intensive und sorgfältige Lektüre seines Gesamtwerks und seiner Tagebücher nähert: »Niemals zuvor hatte ich das Werk eines Dichters bis zur belanglosesten kleinen Zeile oder Anmerkung durchgearbeitet [...].«102 Damit eröffnet sich ihm ein völlig neues Platen-Verständnis, das nichts mehr gemein hat mit dem offiziellen Bild des Dichters, mit dem Rausch während seiner Schulzeit konfrontiert wurde.103 Gegen die öffentliche Darstellung des späten 19. Jahrhunderts, die Platen »gestempelt, eingereiht und abgetan« hatte,104 interveniert Rausch zuerst mit Gesten der Solidarität und hymnischen Verehrung. Doch schon in seiner 1910 publizierten Platen-Anthologie verfolgt Rausch – motiviert durch den »Haß« gegen die »Verkleinerer« des Platenschen Oeuvres105 – konsequent das Ziel einer öffentlichen Rehabilitierung des Ansbacher Dichters. In seinem essayistischen Werk ist es Rausch gelungen, Platen von dem traditionellen Stigma eines marmorkalten Ästheten zu befreien, auf dem »die witterungslosen Skribenten [...] jahrzehntelang« insistierten,106 und seine Dichtung als das zu präsentieren, was sie in seinen Augen vor allem ist: nämlich ›seelische Erregung‹ und genialer ›Wille zur Form‹.107 Schließen möchte ich mit einem Zitat Rauschs, das als Synthese seiner lebenslangen, durchaus verdienstvollen Beschäftigung mit Platen und zugleich als Ausdruck seines nicht unumstrittenen, elitären Charakters gelesen werden kann: Zukunft hat nur, wer dem Zeitlosen – also dem ewig Gegenwärtigen – Dank und Verehrung bewahrt. Und wer von solchem Zeitlosen behauptet, es sei »überlebt«, der muß sich sagen lassen, daß er noch nicht einmal bis in den Vorhof geistigen Erlebens vorgedrungen sei. Alles Göttliche geschieht in übergeordneten Bildern, vor denen nur das Herz gilt, jedes fühllose Gescheitheitsgeschwätz aber zuschanden wird.108

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Benrath: Die Stimme Delphis (wie Anm. 8), S. 58. Ebd., 54. Ebd., S. 55. Ebd., S. 57. Ebd., S. 58. Ebd., S. 58. Ebd., S. 48. In der Betonung der Zeitlosigkeit von Platens Werk lässt sich auch eine indirekte Ablehnung der zeitgenössischen expressionistischen Kunst sehen, zu der sich Rausch – meines Wissens nach – allerdings nie explizit geäußert hat.

Hansgeorg Schmidt-Bergmann

›Platens Eros konnte sich niemals erfüllen‹ Reflexionen über Homosexualität und Literatur: Eugen Gottlob Winkler, Hans Mayer und Hubert Fichte – Meines Lehrers, Gert Mattenklott, gedenkend – Das Gegenbild zu Platens Vision einer männerbündisch erstarkenden ist die entmannte Gesellschaft, der keine sinnvollere Beschäftigung geblieben ist als Konversation über Nichtigkeiten. 1 Platens seelische Biographie stellt sich gerade dar als eine Entwicklung der dichterischen Ausdrucksgestalt. Die zunehmende Unpersönlichkeit der Form als ein sich bestehendes Sein wurde ihm schließlich zur sichersten Bestätigung seines gefährdeten Selbst. Nur so läßt sich jener berühmt gewordene Aphorismus erklären: »die Vollendung der Form ist die höchste Selbstverleugnung des Künstlers.2

Eugen Gottlob Winkler, von dem diese Zeilen sind, war dreiundzwanzig Jahre alt, als sein Platen-Aufsatz im Juni 1936 in der Zeitschrift Das Innere Reich publiziert wurde. Vier Monate später, am 26. Oktober verstarb der junge Romanist nach einer »zweitägigen Agonie« in einem Schwabinger Krankenhaus, »nach kurzer, schwerer Krankheit« wie es in der Todesanzeige hieß.3 Ein Jahr später, 1937, erschien im Leipziger Karl Rauch Verlag der Band Gestalten und Probleme mit Aufsätzen von Eugen Gottlob Winkler, herausgegeben von Hermann Rinn und Johannes Heitzmann, einem Studienfreund des Autors. Eröffnet wird der Band mit dem Aufsatz Die Gestalt Stefan George in unserer Zeit, den Winkler mit dem Urteil enden lässt: Aber dennoch: dieser oberherrliche Mensch, der in seiner Welt mit einem Machtwort die Tragik überwunden glaubte, ist, von außen betrachtet, tragisch wie nur je, donquijotehaft. Er ist der Mensch, der, wenn auch ohne es zu merken, sich in der Wirklichkeit vollkommen aufhebt. Die Form, die er bildet, ist demnach leer und tot, sein Ideal, selbst in seiner Verwirklichung ein Phantasiegebilde, und seine Erscheinung, bei aller Großartigkeit ihrer Konsequenz, eine ungeheuerliche Pose.4

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Mattenklott, Gert: August von Platen – ein Melancholiker. In: Platen, August von: Memorandum meines Lebens. Eine Auswahl aus den Tagebüchern. Hg. von Gert Mattenklott und Hansgeorg Schmidt-Bergmann. Frankfurt am Main (Athenäum) 1988, S. 202. Winkler, Eugen Gottlob: Dichtungen Gestalten und Probleme. Nachlass. Pfullingen 1956, S. 253f. Vgl. Keicher, Ulrich: »Dichtung bedeutet für mich Lebensform«. Eugen Gottlob Winkler in Stuttgart-Wangen (Spuren 10. Hg. von Ulrich Ott, Friedrich Pfäfflin, Thomas Scheuffelen). Marbach am Neckar 1990. In: Winkler: Dichtungen (wie Anm. 2), S. 234.

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Hansgeorg Schmidt-Bergmann

»Donquijotehaft«, ein Begriff, der verweisenden Charakter hat, und wie noch deutlich wird, sich auf den folgenreichen Festvortrag von Thomas Mann über August Graf von Platen vom 4. Oktober 1930 bezieht. Die Anordnung der Beiträge in Gestalten und Probleme ist selbst Programm, der Absage an George folgt die, bezogen auf Thomas Mann, Rettung Platens. Dabei steht zunächst weniger der immer wieder exponierte »Form«-Begriff im Zentrum, sondern der Anspruch an das Leben, der sich im Werk artikuliert. Georges Literatur erscheint dem jungen Literaturwissenschaftler als »tot«, ganz ähnlich hat wenige Jahre später Max Kommerell George charakterisiert und die Lyrik Rilkes dagegen ausgespielt.5 Ähnlich wie Winkler konstatiert Kommerell: »Georges Haltung sagt uns nichts mehr«, und er folgert: »Maske und Wirklichkeit« fallen in seinem Dichten zusammen.6 Was bei George zur Pose verkommt und, wie Winkler formuliert, einfach nur »geschmacklos« sei, findet im »Maximin«-Erlebnis seine negative Vollendung: Knabenliebe: es sei an dieser Stelle nicht über ihre Moral gestritten; man mag an Platon denken und an die Höhe, die sein Ethos im Symposion erreicht. Aber schlimm, greuelhaft, geschmacklos ist der Anstrich, den ihr George gibt, obwohl er sich dabei platonisch fühlend glaubt.7

George, so Winkler, besitze keine »Idee«, sie sei bei ihm »subjektiv« und »frei« erfunden. Anders formuliert: Sein gleichgeschlechtliches Begehren wird für das Werk nicht produktiv literarisch verwandelt, nicht konstitutiv, sondern ist lediglich Pose. Hier ist eine Zwischenbemerkung notwendig: 1937 erscheint die Abhandlung von Eugen August Gottlob Winkler mit Beiträgen zu George und Platen, in denen über Bi- oder Homosexualität gehandelt wird, und auch über den Zwiespalt von Ideal und Wirklichkeit. Im gleichen Jahr wird im nationalsozialistischen Deutschland die Kunstkritik zugunsten der »Kunstbetrachtung« per Dekret abgeschafft, und in einer »Vertraulichen Mitteilung« für die Fachschaft Verlag, herausgegeben von der Reichsschrifttumskammer am 27. Mai 1937, heißt es: Es häufen sich neuerdings wieder die Fälle, in denen Verlage und Sortimente in ihren Prospekten und Anzeigen auf Ausgaben der Werke von Heinrich Heine hinweisen. Ich ersuche daher alle Verlage und Sortimente, Werke von Heinrich Heine zukünftig aus allen Werbeschriften, vor allem aber aus Anzeigen von Klassiksammlungen u. dgl. herauszulassen.8

Ein Kritiker wie Walter Benjamin befand sich aufgrund seiner politischen Haltung und seines jüdischen Glaubens notgedrungen bereits seit 1933 im Exil und 5 6 7 8

Vgl. Hansgeorg Schmidt-Bergmann. In: Kommerell, Max: Leben – Werk – Aktualität. Hg. von Walter Busch und Gerhart Pickerodt. Göttingen 2003, S. 300–313. Vgl. ebd., S. 310. In: Winkler: Dichtungen (wie Anm. 2), S. 233. Vgl. Wulf, Joseph: Kultur im Dritten Reich. Bd. 2. Literatur und Dichtung im Dritten Reich. Eine Dokumentation. Frankfurt/M.; Berlin 1989, S. 204.

Reflexionen über Homosexualität und Literatur

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hatte Diskussionen mit den Herausgebern der Zeitschrift für Sozialforschung über eine Würdigung Stefan Georges, als er die Sammlung Gestalten und Probleme zur Kenntnis bekam. In einem Brief an Bernhard Brentano konstatiert er nach der Lektüre von Winklers Band aus Paris am 22. April 1939, dass bei »weitem am lichtvollsten« ihm »der erste George-Essay« erschien – und er fährt fort: Daß über die Umstände von Winklers Tod aus dem Nachwort nichts hervorgeht, vermisse ich. Vielleicht liegen politische Motive der Tat zu Grunde, vielleicht erotische. (Der Aufsatz über Platen spricht nicht dafür, daß sein Autor invertiert gewesen sei; aber da ist die kleine Anzeige der Gedichte von Appel.) Aufschlüsse in dieser Richtung wären mir wünschbar, um das [Bild] des Verfassers genauer ins Blickfeld zu bekommen. Soviel scheint mir klar zu liegen, daß er weit entfernt war, mit sich im Reinen zu sein.9

Die Umstände von Winklers Tod konnte Benjamin nicht wissen. Zwar gab es einen Tag nach der Beerdigung am 29. Oktober 1936 einen kurzen nicht gezeichneten Nachruf in der Frankfurter Zeitung, er stammte vom damaligen Leiter des Feuilletons Max von Brück und endete mit dem Satz: »Sein letzter Brief an uns, in dem er von neuen Plänen sprach, schloß mit einem Fragezeichen.«10 Winkler als Essayist, und sein Werkverzeichnis ist nicht nur für einen 24-jährigen beeindruckend, konnte aber lediglich einem kleineren interessierten Publikum bekannt sein, auch wenn der junge Literaturwissenschaftler seit 1935 regelmäßig in der Zeitschrift Das deutsche Wort, Der Kunstwart, Hochland, Das Innere Reich und der Frankfurter Zeitung, also Periodika, die in den ersten Jahren des Nationalsozialismus mehr oder weniger in Distanz standen zum Regime, publizierte – und auch eine Würdigung der Studi Germanici findet sich darunter, erstmals gedruckt 1935 in »Das deutsche Wort«.11 Wie überhaupt: Italien. Mit achtzehn Jahren, im Sommer 1930 bereiste Winkler erstmals das Land auch seiner Sehnsüchte; kurz vor der Promotion bei Karl Vossler in München besuchte er im April 1933 Florenz, im Juni dann Sizilien. Italische Ankunft, so lautet eines seiner Gedichte: In diesem Lande iß dich satt! Des Lichtes reine Ruhestatt, Das Dach der Säulen ruhig stehe

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Benjamin, Walter: Briefe 2. Hg. und mit Anmerkungen versehen von Gershom Scholem und Th. W. Adorno. Frankfurt am Main 1978 (= edition suhrkamp), S. 813. Bezug genommen wird auf: Eugen Gottlob Winkler: Paul Appel, S. 366: »Natürlichkeit ist das hervorstechende Kennzeichen von Appels Stil. Darum ergibt sich ihm auch die Sprache in einer selten gewordenen Unschuld. [...] Sie findet sich wieder in der Schlichtheit des Tones, den man seit Mörike nicht mehr vernommen hat: »Freund, wir sind irdisch. / Komm, es wird Abend. / Lege Dein Haar an meins / Und ruhe recht.« Vgl. Keicher: Dichtung (wie Anm. 3), S. 6. Max von Brück hat auch später noch, so am 14. / 15. April 1984 in der Süddeutschen Zeitung unter dem Titel Portrait eines Vergessenen. Erinnerungen an den Freund Eugen Gottlob Winkler über Winkler geschrieben. Vgl. das Werkverzeichnis in: Eugen Gottlob Winkler (1912 – 1936) zum achtzigsten Geburtstag am 1. Mai 1992. Hg. von Ulrich Keicher. Warmbronn 1992, S. 34–42.

Hansgeorg Schmidt-Bergmann

148 Auf Deinem Haupt! Doch dies vergehe, Dem Irdischen ein rascher Krug. Ob Gott, ob Tier: es gilt genug, Dem Übermaß ein Maß zu sein. Das Meer, furchtlos, geht aus und ein. Geschöpfe auf des Fischweibs Bank Erwecken sterbend unsern Dank. Geschlitzter Fisch, zertretne Traube Sei frohem Leben Trost und Glaube.12

Hans Mayer verweist in seinem Buch Außenseiter – das mit dem bemerkenswerten Satz beginnt: »Das Buch geht von der Behauptung aus, daß die bürgerliche Aufklärung gescheitert ist« – auf Italien als einen Sehnsuchtsort erotischen Begehrens. Sie führt zurück zu Winckelmann: Wenn jedoch, wie bürgerliche Aufklärung und Lebensführung zu statuieren suchten, griechische Erotik in der modernen Zeit nur als adliges Laster, und mithin als Privileg der Herrschenden verstanden werden konnte, so hatte Winckelmann diese Fiktion zerstört. [...] Zudem: als Winckelmann nach Italien ging, wo einer, wie in Europa den Gleichgeschlechtlichen durchaus bewußt war, die erotische Erfüllung finden konnte, gab er den seinigen ein Signal. [...] Glücklich wurden Platen und Hans Christian Andersen, Tschaikowski und Wilde nur in diesem Land.13

Als »das gelobte Land« hat Platen Italien erfahren, führt auch Eugen Gottlob Winkler aus, zumindest kurzfristig, nach dem ersten längeren Aufenthalt 1824 in Venedig und den Sonetten aus Venedig. Streng betrachtet entstand sein Lebensraum nicht anders als durch ein willkürliches, wenn nicht gewaltsames Ausbreiten subjektiver Traumwelt in einen gewissen Bezirk des Wirklichen, der nicht ohne Bedeutung gewöhnlich in den Landschaften eines ausgewählten Italiens lag.14

»Inversion«, gleichgeschlechtlicher Eros oder Politik, so hatte Benjamin aus dem Exil gefragt, was waren die Hintergründe für Winklers frühen Tod. Ulrich Keicher beschreibt die letzten Tage des jungen Intellektuellen: Eugen Gottlob Winkler, so wird berichtet, sei am 23. Oktober 1936, einem Freitag, nachdem er [...] im »Joseph von Ägypten« gelesen hatte, auf einen nächtlichen Spaziergang von Schwabing nach Bogenhausen hinüber vor der verlassenen Villa Thomas Manns in der Poschingerstraße gestanden und einem dort postierten Kriminalbeamten aufgefallen, der ihn angesprochen und sich seine Personalien notiert habe. Da Winkler offenbar glaubte, eine nochmalige Verhaftung stehe ihm bevor, möglicherweise sogar Verhöre durch die Gestapo, sei er daraufhin in seine Schwabinger Wohnung zurückgekehrt – ein möbliertes Zimmer in der Pension Kunze, Leopoldstraße 27, dritter Stock – und habe sich eingeschlossen. Am nächsten Tag, als man die Tür seines Zimmers gewaltsam öffnete,

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In: Winkler: Dichtungen (wie Anm. 2), S. 18. Mayer, Hans: Außenseiter. Frankfurt am Main 1977, S. 179. In: Winkler: Dichtungen (wie Anm. 2), S. 238.

Reflexionen über Homosexualität und Literatur

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habe man ihn mit einer schweren Veronalvergiftung aufgefunden, einen Spiegel in der Hand, mit dem er anscheinend versucht habe, sein Sterben zu beobachten. Nach zweitägiger qualvoller Agonie sei er schließlich am Montag, dem 26. Oktober, im Schwabinger Krankenhaus gestorben. Seine Mutter ließ ihn nach Stuttgart-Wangen überführen, wo er am 28.Oktober 1936 an der Seite seines Vaters beerdigt wurde.15

Der sterbende Narzisst, den Spiegel in der Hand, den eigenen Tod beobachtend, ein eindrückliches Bild. Realität oder Legende, das bleibt offen. Doch die überlieferte Geschichte seines Endes ist wahrlich schicksalhaft. Am 11. Februar 1933 hatte Thomas Mann Deutschland verlassen, einen Tag nach seinem Vortrag über Leiden und Größe Richard Wagners im Auditorium Maximum der Münchener Universität. Leiden an Deutschland, so hat Thomas Mann seine Tagebuchblätter aus den Jahren 1933 und 1934 überschrieben, und dieses Leiden hat August Gottlob Winkler bitter erfahren müssen. Sein Gang zu dem Anwesen von Thomas Mann in MünchenBogenhausen, die Lektüre des ersten im Exil entstandenen Romans von Thomas Mann, Joseph in Ägypten, 1936 in Wien erschienen, gehört zur unmittelbaren Vorgeschichte seines Suizids. Politik und Eros fallen bei Winkler tragisch zusammen. Der Begriff »Donquijoterie« ist bereits gefallen. Winkler hatte ihn auf das Habituelle von Stefan George bezogen16 und damit sich in Opposition gestellt zu Thomas Manns Platen-Deutung. Erstaunlich ist, dass diese bisher systematisch noch nicht abgehandelt worden ist. In Gerhard Härles Studie Männerweiblichkeit. Zur Homosexualität bei Klaus und Thomas Mann finden sich wenige Verweise auf Platen, und auch Wolfgang Popp geht in seiner Untersuchung Männerliebe den eigentlich offenkundigen Spuren nicht nach, konstatiert jedoch völlig zu recht über den literarhistorischen Rang von Platens Tagebüchern: Es ist das erste authentische autobiographische Zeugnis eines deutschen Dichters über seine homosexuelle Selbsterkenntnis und das Leiden an seiner Homosexualität.17

Dies dürfte auch Thomas Mann so empfunden haben, denn seine Platen-Lektüre führt zurück an seine schriftstellerischen Anfänge. Verse aus dem Gedicht Vision wollte der junge Lübecker Autor ursprünglich als Motto den Buddenbrooks voranstellen: »Um aus eigener Kraft sich eine Welt zu baun«.18 Doch sukzessiv entfernte sich Thomas Mann von Platen, vielleicht scheute er den Spiegel, die Demaskierung der Oberfläche, die Schonungslosigkeit der Selbstreflexion. Der ›Meister‹ der Form

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Keicher: Dichtung (wie Anm. 3), S. 5f. Vgl. dazu auch Pirro, Maurizio: »Gerade die Überbewertung des Subjektiven ist nach Winkler der Hauptgrund dafür, dass die Dichtung Georges so oft als ihrem universalen Anspruch nicht gewachsen erscheint.« In: Pirro, Murizio: Geist und Leben als kultur- und kunstkritische Kategorien bei Alfred Seidel und Eugen Gottlob Winkler. In: Musil-Studien, S. 236, 28, 2003/04. Vgl. auch Crescenzi, Luca: Ängstliche Rettung. Zu Eugen Gottlob Winklers Dialog »Die Erkundung der Linie«. In: Studi germanici, 3, 1999, S. 519–527. Popp, Wolfgang: Männerliebe. Homosexualität und Literatur. Stuttgart 1992, S. 57. Vgl. Hansen, Volkmar: Thomas Mann. Stuttgart 1984, S. 59.

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gibt sich nicht unverstellt, seine Tagebücher chiffrieren, sind Stilisierung noch bei vermeintlichen Bekenntnissen – was ihn von Platen schließlich trennt, wie er 1927, drei Jahre vor seinem Festvortrag einräumt: George ist mir lange recht fern und fremd geblieben; sein Platz war gewissermaßen besetzt: durch Platen [...] Später kam ich ihm viel näher, hauptsächlich zur Zeit des »Tods in Venedig«. [...] Die Bewunderung für George’s stolze, reine und herrische Gestalt werde ich nie verlernen.19

Gegen die »stolze, reine und herrische Gestalt« Georges setzt Thomas Mann 1930 den »traurigen Ritter« Platen: »Was wäre Donquijoterie, wenn nicht dies, geboren und ausgezogen zu sein, um für »das Schöne« zu sterben?«, und weiter: Platens Rittertum hat nicht nur Tristantraurigkeit, nicht nur in diesem Sinne ist er ein trauriger Ritter. Er ist es auch in einer grotesken, ergreifend lächerlichen Bedeutung, ein Don Quijote, ein Ritter von der traurigen Gestalt.20

Das von Thomas Mann vermittelte Bild hat nachgewirkt. Platen der »Schmerzensmann«, der Dichter, der »Schmerz empfinden« muss, um »schreiben zu können«, Wendungen, die zu Stereotypen geworden sind.21 Hubert Fichte kommentiert, nein empört sich in seinem Vortrag Deiner Umarmung süße Sehnsucht. Die Geschichte der Empfindungen am Beispiel der französischen Schriften des Grafen August von Platen-Hallermünde, den er am 5. Juli 1984 in Tübingen und zuvor in Hamburg unter dem Titel I can’t get no satisfaction, gehalten hat. »Sappho, Platen und Mick Jagger haben alle die Schwierigkeiten der Befriedigung empfunden« führt er aus und setzt gegen die Stereotypen und Klischees, mit denen man Platen bis heute belegt, ein eindeutiges Votum: Ein Schriftsteller, der homosexuell ist, möchte ausrufen: Das stimmt alles gar nicht! Platen war nicht erbärmlich, nicht krank, nicht lächerlich, nicht kalt! Platen war gar nicht so arm! Er bekam zeitlebens Zuwendungen aus dem gräflichen Haushalt seiner Familie.22

Hubert Fichte gelingt es mit seinem Vortrag, nicht nur die Tabuisierung der Homosexualität Platens beiseite zu schieben, sondern auch die Stigmatisierungen und negativen Konnotationen zu entlarven als das was sie sind, Versuche der Neutralisierung eines Begehrens, das sich auch gegen die bürgerlichen Normen zu behaupten versuchte und das in einem konkret juristischen Rahmen. In seinen Tagebüchern vermerkt Platen:

19 20 21 22

Ebd., S. 131. Mann, Thomas: Gesammelte Werke. Adel des Geistes – Zwanzig Versuche zum Problem der Humanität, Band 10, Berlin 1955, S. 10. Vgl. August von Platen: Wer wußte je das Leben? Ausgewählte Gedichte. Hg. und mit einem Nachwort von Rüdiger Görner. Frankfurt und Main und Leipzig 1996, S. 209f. Fichte, Hubert: Deiner Umarmungen süße Sehnsucht. Die Geschichte der Empfindungen am Beispiel der französischen Schriften des Grafen August von Platen-Hallermünde. Tübingen 1985, S. 26.

Reflexionen über Homosexualität und Literatur

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Ich hatte damals noch keine Idee, daß ein strafbares Verhältnis zwischen zwei Männern existieren könne, sonst würd mich dieser Gedanke vielleicht zurückgeschreckt haben.23

»Platen selbst hat darum Qualen erduldet, die ihn freisprechen müßten, ginge es an, im formalrechtlichen Sinn eine Schuld festzustellen«, fast wie in einem gerichtlichen Plädoyer argumentiert Winkler, der mit als erster Platens Homosexualität als eine Bedingung des Werkes beschrieben hat:24 Freilich: man kann von Platen nicht sprechen, ohne die unglückseligste Veranlagung zu erwähnen, die ihn zwang, sein Liebesverlangen auf Angehörige des eigenen Geschlechtes zu richten.25

Platens »Empfindlichkeit« hatte so reale und benennbare Gründe, die Erfahrung des »Anstößigen« seines Eros war Anlass und Antrieb seiner literarischen Produktivität, sie schärfte seine Wahrnehmung und zeugt von der Lebenserfahrung mit Homosexualität unter den besonderen Bedingungen von Tradition und gesellschaftlicher Ausgrenzung.26 Sie sind der Rohstoff seiner Dichtungen, sie transportiert er ins Literarische. Die Form, Thomas Mann spricht verkennend von »Maskerade«, soll im Literarischen zusammenhalten, was im Leben als das Dunkle sich manifestiert. Platen notiert sich: Oft fühl’ ich mein Inneres im stürmischen Aufruhr! Dann entdecke ich den Keim aller Laster in meiner Brust; ich lästere die Gottheit selbst; ich hasse die Menschen, ich verachte mich selbst!27

Platens Tagebücher, die »fortlaufende Geschichte meiner Empfindungen«, werden, wie er 1816 formulierte, »immer einen gewissen Wert behalten«, eine authentische Biographie, aufrichtig und schonungslos.28 Seine Aufzeichnungen werden zu einem Archiv seiner Verletzungen, die er als Homosexueller erleiden musste. »So mag

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TB Bd. 1, S. 141. Dies ist auch Jost Hermand entgangen. Vgl. Hermand, Jost: Heine contra Platen. Zur Anatomie eines Skandals. Dort (S. 110f.) verweist Hermand auf die Schriften von Max Kaufmann: Heinrich Heine contra Graf August von Platen und die Homoerotik. Leipzig 1907 und folgert: »Ein ähnlich ›aufgeklärter‹ Standpunkt im Hinblick auf Heine und Platen, der sich vorwiegend auf psychologische Kriterien stützt, findet sich erst in Hans Mayers ›Außenseiter‹-Buch von 1975 wieder. [...] Er sieht in dem Ganzen den geradezu tragischen Zusammenprall eines ›Outsiders der Abkunft‹ mit einem ›Outsider der Geschlechtlichkeit‹.« In: Winkler: Dichtungen (wie Anm. 2), S. 244. Vgl. auf Fichte bezogen Mattenklott, Gert: Hubert Fichte: Erotologie als Form. In: Forum Homosexualität 9/90, S. 30: »Mit Erotologie ist und bleibt Fichtes Poetik so eng verschränkt, weil der Eros in unserer Kultur die Probe auf den Grad, die Richtung und die Welthaltigkeit der Empfindlichkeit am ergiebigsten macht.« TB Bd. 1, S. 750. TB Bd. 1, S. 537.

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Hansgeorg Schmidt-Bergmann

es gekommen sein, daß meine erste wärmere Neigung einem Manne galt.«29 Und weil diese Liebe nicht gelang, versuchte er seine »Empfindlichkeit« in das »zeitund raumlose Reich geistiger Bildung zu retten«, wie Eugen Gottlob Winkler resümiert.30 Dieses Bewusstsein korreliert mit einer ästhetischen »Empfänglichkeit«,31 die anfänglich durch die strenge Form kanalisiert werden konnte, schließlich jedoch den Blick auf die Gefühlswelt unmittelbar preisgab, wie Winkler weiter folgert: Die Strenge und Unerbittlichkeit seines künstlerischen Vorgehens, unter dessen zehrenden Einfluß allmählich alles Substanzhafte schwand, bis der zuckende Lebensnerv der dichterischen Natur zur Beobachtung bloßgelegt war.32

Platens Entwicklung, so folgert Winkler, »ist äußerlich und innerlich eine Entwicklung der Form, –« Seine seelische Biographie stellt sich gerade dar als eine Entwicklung der dichterischen Ausdrucksgestalt. Die zunehmende Unpersönlichkeit der Form als ein sich bestehendes Sein wurde ihm schließlich zur sichersten Bestätigung seines gefährdetsten Selbst. Nur so läßt sich jener berühmt gewordene Aphorismus erklären: »die Vollendung der Form ist die höchste Selbstverleugnung des Künstlers.33

Die Literarische Produktivität entspringt somit einer existentiellen Verletzung, die sich auf die eigene Körperlichkeit bezieht. Gerhard Härle insistiert darauf, dass hier der Schnittpunkt einer ästhetischen Differenz zu orten ist, der für die Entstehung der Literatur wesentlich ist: Es ist eine Erfahrung der Verletzung. Sie gemacht zu haben und stets als Grundmuster des Erlebens im Bewußtsein zu tragen, unterscheidet den homosexuellen Mann von anderen Männern, wie ihn andererseits sein Mannsein von Frauen prinzipiell unterscheidet.34

Es ist diese Differenz, die Platen mit an den Anfang derjenigen stellt, die sich durch die Form im fortschreitenden Prozess des Verlustes in Opposition stellt zur Faktizität gesellschaftlicher Nivellierung. Auch diese Traditionslinie hat Winkler früh benannt: Wofern es immer in Deutschland einen Ästhetizismus gab, wurde Platen als sein erster Märtyrer verehrt. Indessen nicht mit vollem Recht. Denn die Unüberwindlichkeit des Gegensatzes zwischen dem wirklichen und schönen Dasein, die Platens Seele zerriß,

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32 33 34

TB Bd. 1, S. 58. In: Winkler: Dichtungen (wie Anm. 2), S. 238. Nach dem Grimmschen Wörterbuch bedingen sich »Empfindlichkeit« und »Empfänglichkeit«: »Empfindlichkeit«: gefühl, empfänglichkeit, zärtliche empfindung: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Band 3, München 1984, S. 430. In: Winkler: Dichtungen (wie Anm. 2), S. 261. Ebd., S. 253f. Härle, Gerhard: Männerweiblichkeit. Zur Homosexualität bei Klaus und Thomas Mann. Frankfurt am Main 1988, S. 121.

Reflexionen über Homosexualität und Literatur

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hatte die Ursache in der Beschaffenheit seiner Natur und nicht allein, wie man schon anzunehmen geneigt war, in der Mißgunst der Lebensumstände.35

Doch auch das, was Winkler hier Natur nennt, ist rückzubinden an die gesellschaftlichen Kontexte, an denen sich der Einzelne abarbeitet. Die ›Wunde Homosexualität‹ ist eines der konstitutiven Momente von Platens literarischer Produktivität, im konstruktiven wie destruktiven Sinne. Da dieses heute Eingang gefunden hat in die Literaturwissenschaft, sind neue Perspektiven möglich, die sich auf die Bedingungen ästhetischer Produktion beziehen lassen. In seiner Zeit konnte sich der Eros von Platen nicht erfüllen, lebte er im 21. Jahrhundert, wäre ihm diese Last genommen. So gehört sein Leiden zur Vorgeschichte der Emanzipation gleichgeschlechtlicher Liebe, sein literarisches Werk und seine Tagebücher in das Archiv anthropologischer Widerständigkeit gegen Begrenzungen, die auf Dauer nicht beständig waren. Platen wollte nichts anderes als die Möglichkeit eines sinnvollen, erfüllten Lebens. Stellvertretend dafür steht sein Werk, es bewahrt und transportiert die Traditionen, die von der bürgerlichen Gesellschaft fortschreitend dementiert wurden, wie Gert Mattenklott ausführt: Der Gedanke an den Freund, gleich ob sehnsüchtig, resignierend oder verwünschend, ist für Platen ein beständiger Anlaß, die gründliche Verfehltheit seines Lebens überhaupt zu fühlen. Die Unmöglichkeit seiner Freundesliebe wird dergestalt zum Inbegriff des Unvermögens zu einem sinnvollen bürgerlichen Leben. Der Geliebte kann sich nicht in diesem oder jenem für ihn verkörpern, weil er in Wahrheit ein Ideogramm all dessen ist, was die intellektuellen Avantgarden dieser Jahre in den Kompromissen der bürgerlichen Gesellschaft untergehen sehen: Leidenschaft und Schönheit, gemeinsames Handeln und individuelle Selbstverwirklichung.36

35 36

In: Winkler: Dichtungen (wie Anm. 2), S. 239. Vgl. Mattenklott, Gert: Nachwort. In: Platen: Memorandum (wie Anm. 1), S. 201.

Jürgen Link

Spiegelbild und Empfindlichkeit. Zu einer polemischen Spitze in Hubert Fichtes Platen-Apologie

Im Eingang des Hauses stehen zwei Spiegel, einer dem anderen gegenüber. Der rechte Spiegel spiegelt uns beide und der linke Spiegel spiegelt uns beide und spiegelt die Spiegelung des rechten Spiegels und der rechte Spiegel die des linken und seine eigenen im linken und stünden die Spiegel vollkommen parallel und beschränkte die Lichtgeschwindigkeit nicht das Projizieren der Spiegelbilder, wäre unser Weggehen zwischen den Spiegeln ein anschauliches Zeichen der Ewigkeit. Klaus und ich gehen zwischendurch und sehen uns mit Lichtgeschwindigkeit – das heißt sofort – in einem Spiegel quasi doppelt unendlich viele Male gespiegelt. Die Unendlichkeit unserer Bilder wird nach hinten etwas kleiner und rund. – Ich komme nicht wieder, sage ich zu Klaus. – Du wirst schon wiederkommen, sagt Klaus.1

Diese mit allem Pathos einer Urszene stilisierte Spiegel-Episode in einer Hamburger Jugendstilvilla ist nach, nicht vor die homosexuelle Initiation aus Hubert Fichtes Versuch über die Pubertät platziert. Der Doppelspiegel multipliziert das homosexuelle Doppelbild ins Unendliche. Ein momentanes, sofort erloschenes Aufblitzen dieses Doppelbildes wird zum »anschaulichen Zeichen der Ewigkeit«, wobei die Reflexion auf die »Lichtgeschwindigkeit« Moment und Ewigkeit ineinszwingt. Direkt auf die Spiegel-Szene folgt – als sollte Lacans Theorie gleichzeitig exemplifiziert und widerlegt werden – eine Fantasie vom zerstückelten Körper, die aber ins Positiv-Lustvolle gewendet erscheint (»wir würden aufreißen dabei, unsere Organe lägen einsehbar, wir würden uns aushöhlen gegenseitig und ineinander hineinschlüpfen«). Lediglich das ›Abbiegen der Empfindungen‹ vor der fantasierten Eskalation, nicht die Zerstückelungsfantasie als solche, die ja am Ende in eine Uterusfantasie mündet, löst die suizidale Vorstellung eines »Todesurteils« aus.2 Die gleiche Ambivalenz begleitet die weiteren SM-artigen Episoden, bis sie in der brasilianischen gerichtsmedizinischen Morgue-Episode, die den Roman am Beginn und am Schluss einrahmt, sozusagen kulminiert. In diesem Rahmen wird die Geschichte der homosexuellen Pubertät mit dem ethnologischen Deutungs-Dispositiv der Magie verknüpft: Magie statt Psychoanalyse, »Imitation«, »Identifikati-

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Fichte, Hubert: Versuch über die Pubertät. Frankfurt/Main (Fischer Tb) 1982 [1974], S. 93. Ebd., S. 94; Die negativ-angstbesetzte Seite des Spiegelmotivs kulminiert im Suizid des Malers Gregor, der ein letztes Mal vor dem Spiegel masturbiert, bevor er sich selbst kastriert und umbringt: »Der Spiegel war ganz voll Blut« (Fichte, Hubert: Die Palette. Frankfurt/Main (Fischer Tb) 1978 [1968], S. 258.)

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on« und »Ritual« statt »Analyse«, wie es leitmotivisch wiederholt wird und wie es Fichtes Gesamtwerk einer »Geschichte der Empfindlichkeit« geradezu konstituiert.3 Aus dieser »Geschichte der Empfi ndlichkeit« soll im folgenden nur die PlatenDeutung näher betrachtet werden, die bei Fichte als polemische Apologie gegen Heine, Thomas Mann und die durch meine Arbeiten repräsentierte neuere Platenforschung formuliert wird. Da die Kategorie des »Narzissmus« und damit der Spiegel-Komplex in Fichtes Polemik einen zentralen Platz einnimmt, gilt das Interesse insbesondere diesem Komplex. Im Versuch über die Pubertät spielt der Spiegel-Komplex außer in der pathetischen Initiationsszene auch in anderen Episoden eine leitmotivisch wichtige Rolle, etwa in der ebenfalls exemplarischen Masturbationsszene: Adam hat masturbiert, wie Pozzi es nennen würde. Nicht die Liebe wird vererbt, sondern die Onanie. Jeder zwischen acht und achtzehn, unabhängig vom Bild der Mutter, vom Bild des Vaters, der Tante, des Onkels etc., unabhängig von den Produktionsbedingungen, stehend, liegend, sitzend, hängend, berührt zart, zart den harten Oymel und vollführt den ungelernten Ritus und allmählich sickern dann die bereitgestellten Attrappen zwischen Traumkörper und Idealkörper und im Spiegel starrt mir ein habgieriges Affengesicht entgegen.4

Wieder wird die Psychoanalyse (diesmal zusammen mit dem Marxismus) polemisch verworfen und durch das magische Dispositiv des »Ritus« ersetzt. Wie genau die drei Instanzen »Traumkörper«, »Idealkörper« und eigenes Spiegelbild zu unterscheiden und aufeinander zu beziehen sind, bleibt vage – das »habgierige Affengesicht« besitzt einen ambivalenten Status: neben möglichen negativen Konnotationen haben wir es mit einer magischen Metamorphose des Ich zur Maske mittels des Spiegels zu tun. Dieses Motiv war bereits in Detlevs Imitationen »Grünspan« im Kontext des Theaters entwickelt worden: geschminkte Maske, hässlich gespiegelte Männlichkeit des Kreon-Darstellers. Bis zur komisch-pathetischen Schlussszene des früheren Romans, in der Detlev vor dem Spiegel versucht, sich selbst als weibliches Spiegelbild einer Marquise von O. aus einer Identifikation mit dem russischen Offizier heraus zu »vergewaltigen« – eine bisexuelle Selbstvergewaltigung, die als »erfüllte« Masturbation scheitert.5 Die Diskursanalyse konstatiert, dass auf diese Spiegel-Episoden aber keine Zerstückelungsfantasien folgen, so dass eine Deutung, die in der solitären SpiegelMasturbation den negativen »Narzissmus« (als »Spiegelwichser[ei]«, wie sie dem

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Die kultur-, ideen- und diskursgeschichtlich umfassendste und analytisch klarsichtigste Gesamtdeutung von Fichtes »magisch«-ethnologischer Poetologie und Schreibweise gibt Böhme, Hartmut: Hubert Fichte. Riten des Autors und Leben der Literatur. Stuttgart (Metzler) 1992. Fichte: Versuch (wie Anm. 1), S. 99. Fichte, Hubert: Detlevs Imitationen »Grünspan«. Frankfurt/Main (Fischer Tb) 1982 [1971], S. 242.

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»Faschisten« Malaparte angehängt wird6 und im proliferierenden Doppelspiegelbild den positiven sähe, nicht glatt aufgeht. Außer der Verwandlung, der Maske und der erotischen Proliferation konnotiert das Spiegel-Motiv schließlich auch bei Fichte den genuin literarischen Reflexionstopos der »Widerspiegelung« – im Versuch über die Pubertät wird es mithin sogar als Modell für das Romanprojekt insgesamt verwendet: »Loswerden – Bewußtwerden durch wiederholte Spiegelung, Wegspiegelung«.7 Festzuhalten bleibt, dass Fichte selbst den Spiegel-Komplex an akzentuierten Orten seines Schreibens – und dabei keineswegs rein polemisch gegen einen unterstellten »Narzissmus« – verwendet hatte, als er sich in seiner letzten Lebensphase intensiv mit Platen beschäftigte und dabei sowohl in Platens Texten wie in meiner Darstellung auf die nicht zu übersehende Akzentuierung dieses Komplexes auch bei Platen stieß. Ich brauche das mehrfach ausgebreitete, umfangreiche einschlägige Quellenmaterial hier nicht in extenso zu reproduzieren.8 Bei Platen handelt es sich um einen bis zum Ende seines Lebens konstanten Faszinationskomplex, der – wie ich gezeigt habe – in Gestalt der androgynen Doppelspiegelungsszene noch den eigentlichen Höhepunkt des Abbassiden-Epos bildet.9 Platen war die Kontinuität dieser Faszination höchst bewusst, und er hat sie wiederholt im »Spiegel« seines Tagebuchs, dieser Geschichte seines Lebens und darin ausführlich seiner eigenen homosexuellen Pubertät, festgehalten: So überraschte ich mich oft im Spiegel auf einigen Zügen, die unstreitbar Federigo gehören, und die ich unwillkürlich von ihm angenommen habe. – Ich habe nun einmal seinen Zügen eine entschiedene Gewalt über mich eingeräumt, als ich ihn gestern durch den langen Spiegel mit so viel Anstand zur Thüre hereinkommen sah. – Endlich glaubte ich jenes von frühester Kindheit ersehnte Ideal eines Freundes gefunden zu haben, nie hat mir ein Mensch besser gefallen als German. Nur M[erc]y und B[randenstei]n aus früherer Zeit kann ich mit ihm in eine Linie stellen. Auch diese liebte ich über alles, und es ist merkwürdig, daß sie alle drei blond waren und eine entfernte Ähnlichkeit der Gesichtszüge unter ihnen obwaltet.10

Zum Spiegel-Komplex zählten die Mythen von Echo, Endymion, Pygmalion und eben Narziss, nach dem Freud eine frühkindliche Identifikation benannte, die tendenziell für alle Individuen und für beide Geschlechter relevant, also keineswegs auf männliche Homosexualität eingeschränkt ist. Platen hat all diese Mythen im

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Ebd., S. 45. Fichte: Versuch (wie Anm. 1), S. 17. S. mein Nachwort zu W S. 965–982 sowie das ursprüngliche, von Winkler (vermutlich wegen zu expliziter und zu positiver Darstellung der homosexuellen Dimension Platens) abgelehnte Vorwort: Heines Antipode. Der Lyriker Platen in neuer Sicht. In: Forum Homosexualität und Literatur 27 (1996), S. 7–67. Link, Jürgen: Sprünge im Spiegel, Zäsuren. Ein Faszinationskomplex und Platens lyrischer Stil. In: Bobzin, Hartmut und Och, Gunnar (Hg.): August Graf von Platen. Leben – Werk – Wirkung. Paderborn u. a. (Schöningh) 1998, S. 45–62. Hier: S. 45ff. TB Bd. 1, S. 543; TB Bd. 1, S. 711; TB Bd. 2, S. 793.

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»Traumkitsch« seiner Pubertätsgedichte auf seine erste große Liebe zu Mercy d’Argenteau verarbeitet. Wie einen Narziss fantasiert Platen seinen Geliebten »am Ufer des Baches«11 oder am Meer: O ich bin oft bei wachenden Augen in Träume vertieft. Da war mir’s heute, als ging ich in einer schönen Gegend; ich kam an einen dichten Wald und durchwanderte ihn die ganze Nacht, und als die Sonne wieder aufstieg, war ich am Ende des Waldes. Ich trat aus dem letzten Gesträuche und vor mir lag das ungeheure Meer. Ein Kahn hatte eben das Ufer verlassen, aber im Kahne saß er, den meine Augen überall suchen. Er lächelte, in der Hand das Ruder, und sah in die grünlichen Wellen. Aber die Gondel entfernte sich immer mehr von der Küste; ich sah ihm nach, soweit meine Augen reichten [...]. Ich warf mich hoffnungslos am Ufer nieder. Da gewahrte ich eine Muschel, welche die Wellen bespülten, mit goldenem Ranfte und perlbesät. Ich hob sie auf, ich sah in ihre Höhlung und, o Wunder! was sah ich. Die launenhafte Hand der Natur hatte M**s Bild hineingezeichnet, trotz dem besten Maler, treffend wie der getreuste Spiegel.12

Wiederum konstatiert die Diskursanalyse eine Isomorphie zwischen diesem preziösen Konkavspiegel in Platens Fantasie und dem Fluchtpunkt der unendlichen Spiegelung bei Fichte: »Die Unendlichkeit unserer Bilder wird nach hinten etwas kleiner und rund.«13 Da es im folgenden u. a. um Hubert Fichtes im mehrfachen Sinne »empfindliche« Reaktion auf meinen Versuch gehen soll, die Platensche ›Urszene‹ diskursanalytisch (nicht psychoanalytisch) zu rekonstruieren, zitiere ich meine resümierende Formulierung von 1998, die also über Fichtes Kritik informiert war, ohne sich durch sie als erschüttert zu ›empfinden‹: Tatsächlich ist Platens ›Urszene‹, wie ich sie als heuristisches Modell nicht aus extrapolierender Spekulation, sondern aus einer überwältigenden Fülle gewichtiger Belegstellen zu rekonstruieren versucht habe, nicht mit dem Apparat der ödipalen Triangulierung auf eindeutige sexuelle Subjektpositionen hin – und seien es homosexuelle – zu entwirren. Die Mutter (bzw. verwirrenderweise alternierend auch die Amme Anna!) mit dem kleinen Sohn auf dem Arm oder Schoß vor dem Spiegel: Sie zeigt auf den ›süßen Knaben süßen Knaben‹ und den ›guten Jungen guten Jungen‹, wobei ihre Sopranstimme diese Romanzenverse vorsingt, während die Sopranstimme des Kleinen echohaft antwortet und so die Sprache und später das Deklamieren semantisch noch unbegriffener Gedichte erlernt. Dabei sind die drei wichtigsten Sinne Gefühl, Gesicht und Gehör in lustvoller Synästhesie konfundiert: der kleine Körper fühlt sich grenzenlos als sanfte größere Körperlandschaft, während er gleichzeitig und untrennbar davon das Echospiel beider Stimmen im Ohr hat und vor sich mit den Augen das schön gerahmte Doppelbild verschlingt. Produktiv ist in diesem sinnlichen Schwall vor allem die helle Echostimme mit ihrem Singsang in alternierendem Rhythmus, während aber nur das im Spiegel gesehene Bild die Einheit und Totalität des lustvollen Quidproquos und Quisproquos der Körper, Sinne und Subjektivitäten zu garantieren scheint. Wir wissen noch immer nichts Genaueres über die psychischen Mechanismen, die als ›Identifikation‹ bezeichnet

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W S. 83. Ebd., S. 79f. Fichte: Versuch (wie Anm. 1), S. 93.

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werden – doch scheint eine der Subjektivitäten des kleinen künftigen Poeten sich hier mit der hermaphroditischen Gesamtgestalt zu ›identifizieren‹, wobei sich deren diffuses Begehren sowohl auf das leuchtende Bild des ›süßen Knaben‹ im Spiegel im besonderen wie vor allem auch auf die untrennbare Einheit der Dyade im ganzen richtet. Ein anderes Echospiel könnte dabei gelautet haben: ›Busen Musen‹ [...]. Dieses optisch wie akustisch mit ›Busen‹ und ›Musen‹ verbundene Doppelbild im Spiegel bleibt bis zu den Abbassiden und bis zum Tode Platens der geheime Kern seiner erotischen Phantasien. Wie es sich genau zu seiner Homosexualität verhält und welchen Typs diese war, kann dabei getrost offen gelassen werden.14

Ich ergänze dieses Resümee durch einige Zusätze, deren Relevanz sich im Folgenden zeigen wird: Zunächst der »Augen«-Komplex, im Romanzenton als Reim »Augen-saugen« verankert, der dann die Terzette des German-Sonetts XLVIII15 klanglich ›heben‹ soll und der im Gedicht Tristan seinen Triumph feiern wird. Nun wissen wir zusätzlich, dass die Mutter (und womöglich auch die Amme Anna, an deren »Busen« er hatte »saugen« dürfen?) ihren kleinen August zärtlich »Augy« nannte, wodurch demnach der Eigenname, der Signifikant des Selbst und des Ich, mit dem Augen-Komplex teilidentisch war. Zur heuristischen Urszene gehört also ein »Augenspiel«, wie Elias Canetti sagt, bzw. ein »Liebesäugeln«, wie es bei Platen selbst heißt.16 Platen fantasiert das Augenspiel paradoxerweise sowohl als eine Sprache reiner Signifikate (ohne Worte, ohne materielle Signifikanten) wie auch als eine (materielle) »Schrift«: Wie mit meinem zündbarn Geist Deiner Augen Flamme spielt;17 Entziffern kann ich nicht die Sprache deines Auges;18

Als prädiskursives Organ ist das Auge ferner selbst auch ein Spiegel, was ein weiteres Paradox impliziert: Es brennt vom Begehren, und es kann als Spiegel ›wunschlos glücklich‹ sein: Und mein Auge sei dein Spiegel, und dein Wort mein Ohrenschmaus;19 Das Auge schweift mit emsigem Bestreben, Als ob zurück in seinem Spiegel bliebe, Was länger nicht vor ihm vermag zu schweben:20

Was den Namen August betrifft, so besaß er ferner eine hermaphroditische Komponente, weil Platen in den französischen Briefen an die Mutter als »Auguste« sig-

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Link: Sprünge im Spiegel (wie Anm. 7), S. 48f. W S. 393. Ebd., S. 280. Ebd., S. 359. Ebd., S. 291. Ebd., S. 288. Ebd., S. 403.

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nierte – als seine Mutterliebe später dann den bekannten Knacks erfuhr, den symbolischen Sprung im Spiegel, erfand er sich eine Auguste als Idealmutter: Amalie Auguste von Wittelsbach, gewesene Vizekönigin von Italien unter Napoleon, deren Schönheit er als Page angestaunt hatte, und nachmalige Herzogin von Leuchtenberg, der er kurz vor seinem Tod noch eine seiner großen Hymnen widmete. Ein zweiter Zusatz betrifft die akustische Komponente mit ihrem Sprach-, Deklamations- und Gesangsspiel. Dabei waren die Signifi kanten, also die Laute und Klänge, den Signifikaten, also den differenziellen Bedeutungen der langue, stets voraus und voran. Der ganz kleine Platen muss die »Revolution der poetischen Sprache«, wie Julia Kristeva sagt, also die Dominanz des »Semiotischen« als Symbiose von sprachlichem Klangmaterial und Körperlustgefühl, mit besonderer Intensität erfahren haben.21 In glücklichen Momenten des Dichtens von Ghaselen, Sonetten und auch noch einiger Oden war es ihm möglich, auf eine in dieser ganz frühen Phase erlernte spontane Sprachmusik zurückzugreifen, die der quasi handwerklichen Artistik im mehrfachen Sinne voraus und ihr in vielen Fällen eine magische Faszinationskraft zu ›unterlegen‹ imstande war. Das deutlichste Symptom dafür sind die multilingualen Klangwunder, die ebenfalls mit hoher Wahrscheinlichkeit in der Urszene wurzeln, weil die Mutter in Lausanne französisch sozialisiert worden war und ihren Sohn sowohl beim Augenspiel wie bei Gedichten und Liedern in ein bilinguales Klangnetz eingesponnen haben dürfte (zum Neufränkischen kam noch das Alt-Fränkische der Amme Anna). Bei seiner stark selektiven und projektiven Lektüre meiner früheren Darstellungen der spezifischen homosexuellen Wunschstruktur und insbesondere des Spiegel-Komplexes bei Platen nahm Hubert Fichte Anstoß daran, dass ich in der Dissertation dessen homosexuelle Verliebtheiten entprechend der Selbstaussage des Tagebuchs als »unglücklich« und einzelne seiner Reaktionen als »pathologisch« bezeichnet hatte.22 Er las daraus eine grundsätzliche Pathologisierung der Homosexualität, die schon in der frühen Dissertation23 nicht einmal ansatzweise unterstellt wird. Als ich ihm meine späteren, in puncto Homosexualität besser informierten Plateniana schickte, konzentrierte er seine polemische Kritik nun auf den SpiegelKomplex als solchen, und insbesondere auf den Terminus »Narzissmus« sowie auf meinen Verweis auf Lacans Theorem vom Spiegel-Stadium.24 Unsere Auseinandersetzung wurde in absurdester Weise durch Fichtes frühen Tod beendet. Wenn ich den springenden Punkt der Kritik richtig begriffen habe, so wird er am deutlichsten

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Kristeva, Julia: Die Revolution der poetischen Sprache. Aus dem Französischen übersetzt und mit einer Einleitung versehen von Reinhold Werner, Frankfurt/Main (Suhrkamp) 1978. In seinem ZEIT-Essay I can’t get no satisfaction. Zur Geschichte der Empfindungen des Grafen August von Platen-Hallermünde (23.11.1984). Link, Jürgen: Artistische Form und ästhetischer Sinn in Platens Lyrik. München (Fink) 1971 (= Bochumer Diss. 1967). S. den dokumentarischen Anhang zum vorliegenden Artikel.

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am Reizwort »pathologisch«: Fichte meint, schon der Begriff »Narzissmus« als solcher impliziere die Diagnose einer »Krankheit«, und damit auch die Behauptung, Homosexualität sei eine Krankheit. Dass es sich dabei um eine Kaskade von Kurzschlüssen handelt, in denen jeweils eine punktuell begrenzte Einzelaussage über ihren beschränkten Kontext hinaus unzulässig als generell gelesen wird, ist so evident, dass die polemische Konklusion sich selbst aufhebt.25 Ich will versuchen, den eigentlichen Kern der polemischen Überreaktion zu begreifen, der sich meines Erachtens am besten erschließen lässt, wenn man von der – zweifellos anachronistischen – Quintessenz der fichteschen Platen-Apologie ausgeht, der zufolge wir es in Platen mit einem »normalen Homosexuellen«, ja sozusagen mit dem »normalen Homosexuellen« schlechthin zu tun hätten: »Platen hat zum ersten Mal in der Geschichte die Empfindungen eines normalen Homosexuellen entworfen«.26 Zur ›Normalität‹ gehört nun nach Fichte wesentlich, dass sie im emphatischen Sinne ›erfüllt‹ ist, also befriedigt, gerade auch – aber nicht bloß – im engen Sinne körperlich-orgasmisch. Nennen wir solche Erfüllung ›Entsublimierung‹, ja geradezu ›Anti-Sublimierung‹. Dann erweist sich als Quintessenz der fichteschen PlatenApologie die durchgängig vertretene These, Platens Verliebtheiten seien erfüllt gewesen – und konsequenterweise als polemische Komplementärthese, die – zuerst von der Platen-Partei im Streit mit Heine vertretene – Behauptung von der durchgängigen Sublimierung sei offen oder versteckt homophob. An dieser Einschätzung ist eine Menge richtig, und ein großer Teil der älteren Germanistik mit ihrem Eiertanz um die angebliche ›Marmorkälte‹ der ›Homoerotik‹ ist damit entlarvt. Platens Homosexualität war nicht durchgängig sublimiert, sie suchte und fand auch (spätestens in Italien) Erfüllung im engsten Sinne.27 Allerdings verweist das Stichwort ›Sublimierung‹ auf einen fundamentalen Zusammenhang von Diskurs und Leben, der keinesfalls auf die Homosexualität be-

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Dennoch habe ich dabei gelernt, dass der Terminus ›pathologisch‹ (anders als ›Narzissmus‹) vermieden werden kann, um solche Generalisierungen von vornherein zu verhindern. Fichte, Hubert: »Deiner Umarmungen süße Sehnsucht«. Die Geschichte der Empfindungen am Beispiel der französischen Schriften des Grafen August von Platen-Hallermünde, Tübingen (Konkursbuchverlag) 1985, S. 67. Platens Leben als Autor fiel genau in die Zeit des aufkommenden Normalismus, der die Männerliebe (Terminus und Konzept der Homosexualität fehlten noch) bekanntlich bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts geradezu als das Paradigma des ›Anormalen‹ konstituierte. Erst der »flexible Normalismus« hat die Homosexualität seither (wie prekär auch immer, was Fichte ja zu Recht betont) ›normalisiert‹. Vgl. dazu Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. 4., ergänzte, überarbeitete und neu gestaltete Aufl. Göttingen (Vandenhock u. Ruprecht) 2009 (1. Aufl. 1996). Insofern ist Fichtes ›Normalisierung‹ Platens historisch anachronistisch, wenn auch als Intervention legitim. Fichtes Texte gehören im Übrigen zu denen, die die Auseinandersetzung mit der Kategorie des ›Normalen‹ exemplarisch reflektiert inszenieren: Vgl. u. a. etwa insbesondere Fichte: Imitationen (wie Anm. 5), S. 197ff., sowie S. 118f. und ders.: Versuch (wie Anm. 1), S. 145, 201, 237. Dazu Bumm, Peter: August Graf von Platen. Eine Biographie. Paderborn u. a. (Schöningh) 1990.

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schränkt ist und den es zunächst ein wenig näher zu analysieren gilt, bevor Fichtes Platenbild weiter gewürdigt werden soll. Der Fall der ›Identifikation‹ – sei sie mehr oder weniger bewusst oder ganz unbewusst – meint eine Abbildungsrelation von Diskurs (einem diskursiven ›Vor-Bild‹) und Lebenspraxis: Ein Teenager, der sich mit einem Star ›identifiziert‹, legt sich etwa dessen Look in Haar- und Kleidungsstil zu, spielt dessen Musik und tanzt dazu als Double des Stars, verliebt sich in den entsprechenden ›Typ‹ usw. Wir wollen die entsprechende Abbildungsrelation zwischen Diskurs und Lebenspraxis allgemein als Subjekt-Applikation bzw. kurz als Applikation in diesem engen Sinne bezeichnen. Literarische und poetische Texte als Diskurse (bzw. genauer als Interdiskurse) lassen sich dann allgemein als Applikations-Reservoirs auffassen. Von einzelnen Zitaten über die (bewusste oder unbewusste) Mimesis einzelner, aus dem Kontext herausgelöster literarischer Teilsysteme wie Charakter, Handlung oder Subjekt-Situation bis hin zu umfassenden ›Identifikationen‹ mit ganzen Konfigurationen reicht das Spektrum der möglichen Applikationen. Die Liebe im ganzen Spektrum zwischen gezieltem individuellem sexuellem Begehren und vager, auch kollektiver erotischer Faszination besteht aus Applikationsprozessen, bei denen das liebende Subjekt die Applikationsvorlage eines mehr oder weniger idealisierten ›Liebesobjekt-Bildes‹ lebenspraktisch zu realisieren versucht. Träume und insbesondere die für Platen so typischen Tagträume sind also ebenfalls Applikationsvorlagen. Der Weg, um es modellhaft bildlich zu sagen, zwischen diskursiver Applikationsvorlage und Lebenspraxis ist verschieden direkt und verschieden lang – auf diesem Wege können ›Hemmungen‹ verschiedenster Art bestehen, von denen einige von Freud mit dem Begriff der »Sublimierung« und andere von Derrida mit dem der »différance« gekennzeichnet werden sollten. Ich möchte den möglichst allgemein gefassten Begriff einer »Applikations-Distanz« vorschlagen. Jede reale Applikation ist ein individueller und singulärer Prozess, der entscheidend von der Subjektivität des Rezipienten (einschließlich momentaner Stimmungen) abhängt, so dass die Diskursanalyse lediglich heuristische Rahmendaten angeben kann. Gerade auch alle Sublimierungen und Entsublimierungen sind dynamische und großenteils kontingente Prozesse. Man wird dennoch als einen (keineswegs als den einzigen) Aspekt des literarischen ›hohen Tons‹ eine relativ große Applikationsdistanz betrachten können. Longins Kategorie des »Erhabenen« (im Original »hýpsos«, einfach »Höhe«) wurde lateinisch als »sublime« wiedergegeben – und tatsächlich scheint mit Platens Stilentwicklung zu immer »sublimeren« Tönen eine wachsende »Sublimierung« im Sinne wachsender Applikationsdistanz parallel zu verlaufen. Lässt sich auch auf Hubert Fichtes eigene Schreibweisen, exemplarisch zunächst etwa im Versuch über die Pubertät, aus dem eingangs zitiert wurde, die Kategorie der Applikationsdistanz anwenden? Dazu gilt es zunächst, eine spezifische Problematik zu analysieren, die sich bei allen im weiten Sinne ›realistischen‹, und insbesondere bei dokumentarischen und dokumentaristischen, vor allem autobiografischen und autobiografistischen Schreibweisen ergibt, wie sie für Fichte charakteristisch sind. Solche Schreibweisen verleugnen ihren Status als Applikations-

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vorlage, sei es als Phantasie, Traumtext, Wunschäußerung, poetische Idealisierung, Modell, ›Bild‹ oder als narrative Fiktion, indem sie sich als Protokoll von bereits erfahrener Lebenspraxis geben, als schlichte individuell-subjektive Spielart des Kontinents historiografischer Diskurse. Insbesondere wird auch der Prozess der Applikation selbst als bereits abgeschlossener Fall von Lebenspraxis dargestellt.28 Es wird formal dokumentarisch von der Wunschproduktion und ihrer Realisierung berichtet, typischerweise in der Ichperspektive. Nun ist es für Fichtes Texte (wie auch für die Haupttendenz der Coming-outLiteratur der 1970er Jahre) konstitutiv, eine größtmögliche Verringerung der Applikationsdistanz sowohl explizit zu fordern wie auch in der Schreibpraxis implizit zu realisieren. Schreib- und Verhaltensweisen mit relativ hoher Applikationsdistanz, wie sie im Versuch über die Pubertät durch die Figur Pozzi (einer Literarisierung des historischen Hans Henny Jahnn) repräsentiert sind, werden durch ironische Destruktion sozusagen ›geerdet‹ – in allen anderen Fällen geht es um je verschiedene, aber nie lange Wege zur emphatisch präzisen ›Erfüllung‹. Wenn ich mich recht erinnere, dann gab es in der (männlichen) Coming-outBewegung der 1970er Jahre manifestartige Forderungen nach Überwindung des – um es in der ja auch von Fichte gesprochenen Sprache zu sagen – bloßen sogenannten ›Augenficks‹. Diese drastische Forderung zielte auf nichts anderes als auf Abschaffung möglichst jeder Applikationsdistanz. Genau den mit diesem Begriff gemeinten Diskurskomplex bei Platen sucht Fichtes Apologie zu minimieren und muss deshalb den auch für das eigene Schreiben konstitutiven Spiegel-Komplex bei Platen verleugnen.29 Wie ich in mehreren Untersuchungen zu Platen dargestellt habe, war der Spiegel-Komplex auch für Platen alles andere als eine Erfüllung. Lacans Theorie vom Spiegelstadium kann einer Diskursanalyse dazu behilflich sein, die hohe, ja gefährliche Ambivalenz einer Fixierung auf dieses frühkindliche Stadium zu erfassen. Da es sich Lacan zufolge beim Spiegelbild um das erste Idealbild eines jeden Subjekts, des hetero- so gut wie des homosexuellen, handelt, droht dieses Bild ebenfalls bei jedem Subjekt durch reale Insuffizienzen in die Angstvorstellung eines zerstückelten Körpers umzuschlagen. Das wird bei Platen vielfältig formuliert, wie etwa in folgenden Versen:

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Bei Fichte bis zur schon theoretisch dominierten Reflexion. Ein Beispiel für einen ganz exemplarischen Fall von Applikation, im Anschluss an »magisch«-wortspielerische »Litaneien«: »Wenn die Litanei in der Nähe von körperlichen Abbildungen gewählt wird, verwandelt sie sich selbst in Zärtlichkeit, Begierde, in mehrgeschlechtliche Körper, und Hermaphroditen bewegen sich aus dem Mund heraus und zu den Augen wieder herein.« Fichte: Versuch (wie Anm. 1), S. 57; Nebenbei ein Beispiel für die Kopplung von sprachlichen und optischen (spiegelähnlichen) Intensitäten. Drastisch hat Fichte die Applikationsdistanz des berühmtesten Platengedichts auf Null reduziert: »– Wenn er sich nach der Schönheit sehnt. Nach dem schönen runden Arsch, dem Tode schon anheimgegeben ist?« Fichte: Palette (wie Anm. 2), S. 227.

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164 Du hast zerstückt mit Unbedacht Den Spiegel dir, o Tor! Nun blickt der Schmerz verhundertfacht, Vertausendfacht hervor.30

Nach Lacan muss die Fragilität der ersten, im Wortsinne rein »imaginären« Subjektivität des Kindes durch eine sprachlich-sozial vermittelte ersetzt werden, die auf der symbolischen »Kastration« in der Ödipusphase beruhen soll. Dieses Theorem lehnte Fichte entschieden ab, was er in einem Brief an mich31 mit der Praxis lateinamerikanischer, ihm zufolge an Lacan orientierter, Psychiater begründete, die ihm zufolge Homosexuelle generell pathologisieren und dann ›heilen‹ wollten, was für die Betroffenen eine personzerstörende Tortur bedeute. Ich hatte schon vor Fichtes Kritik aufgrund meiner Beschäftigung mit Platen und anderen Autoren die Vermutung, dass Alternativen zur symbolischen »Kastration« bei der ferneren Entwicklung der Subjektivität auf der Basis des Spiegelstadiums denkbar seien. Sollen etwa alle Applikationsmodelle eines »Eidos« seit Platon und Plotin bis zu Schopenhauer und Platen auf ihre »imaginäre« Spiegel-Komponente reduziert und ihnen die sprachlich-»symbolische«, also auch kollektiv-soziale Verarbeitung bestritten werden? Ich habe das dann am Beispiel der wachsenden »Zäsurierung« des platenschen Spiegel- und Echogesanges konkretisiert,32 der mit stauendem und entstauendem Rhythmus mittels spondeischer Akzentakkumulation einhergeht. Platen entwickelt aus dem ursprünglichen holistischen Spiegelbild ein mosaikartiges, im Wortsinne facettenreiches Spiegelbild, dem auf der Sprachebene zäsurierte Klänge und Rhythmen sowie auf der Inhaltsebene zum Engagement in kollektiv-historischen Ereignissen tendierende Stellungnahmen entsprechen. Man kann nicht sagen, dass diese Intentionen an ein komplett überzeugendes Ziel gelangt sind. Jedoch ist daraus eine Skala verschieden hoher Töne mit verschiedenen Applikationsdistanzen entstanden, die auf einen als pathologisch gedeuteten oder gar mit Homosexualität gleichgesetzten Narzissmus niederzubrechen selbstverständlich völlig abwegig wäre. Die Diskursanalyse legt nahe anzunehmen, dass es verschiedene »Narzissmen« und vor allem ganz verschiedene Entwicklungswege von Subjektivitäten auf der Basis des Spiegelstadiums gibt – sowohl hetero- wie bi- wie homosexuelle. Fichtes eingangs zitierte Spiegelszene vibriert zwischen dem Bild der Dyade und dem eines wimmelnden Kollektivs. Es gibt einen kollektiven »Narzissmus« des »ozeanischen Gefühls«, wie Freud sagt, der »ozeanischen Weltumarmung«, wie es bei Fichte heißt.33 Dieser »ozeanische« Pol des Spiegelbilds ist an Assoziationen koppelbar und bildet eine klare Antithese zu jedem »egoistischen Narzissmus«, von dem sich Fichte in seiner Polemik gegen die Psychoanalyse zu

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W S. 62. S. dokumentarischer Anhang, Brief vom 30.11.(1984). Vgl. resümierend Link: Sprünge im Spiegel (wie Anm. 9). Fichte: Versuch (wie Anm. 1), S. 69.

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distanzieren suchte. Mit seinem gegen eine sinnlichkeitsvergessene »Empfi ndsamkeit« gerichteten Begriff der »Empfindlichkeit«, in dem eine ganz intensive Kopplung aller Sinneskomponenten intendiert ist, und vor allem eine Kopplung der optischen und akustischen an die olfaktorischen und taktilen, hat Hubert Fichte Beiträge gerade zu solchen alternativen Entwicklungswegen geleistet. Überall entstehen bei solchen Kopplungen Applikationsdistanzen, und vor allem bei der speziellen akustischen Sinneskomponente der Sprache: Sprache und Schrift, auch die fichtesche, setzt immer dynamische Applikationsdistanzen – und erfindet damit spezifische Intensitäten und spezifische Lustwünsche, die ihre eigenen Erfüllungsmöglichkeiten schaffen. Dazu reicht der bloße »Augen-Blick« samt seinem drastischen Reim nicht aus, wie schlechte Platenverse von der Art der folgenden beweisen: Es könnte Blut aus meinen Augen fließen, Du würdest nie dein Mitleid mir gewähren!34

Aber Platen hat das selbst erkannt. Fichte musste es auf seine eigene Art ebenfalls erkennen, als er noch blut-rünstigere blut-brünstigere homosexuelle Erzählungen nicht ohne Distanz wiedergab. Die folgende asklepiadeische Ode IX,35 die auch Fichte besonders liebte und zum Vortrag ausgewählt hat,36 wählt innerhalb des hohen Tons eine lediglich mittlere Applikationsdistanz, was sich aus dem homosexuellen Liebesthema erklärt und was sich formal in dem spondeenfreien, einfach alternierend-daktylischen Metrum erweist. Lange begehrten wir, ruhig allein zu sein, Lange begehrten wir’s, hätten erreicht es heut, Aber es teilt mit uns diese Genossenschaft Wein und Jugend, ein feurig Paar. Süße Melancholie mäßigt den Liebesbrand, Züchtiger Rose gleich mitten im Nelkenstrauß, Lächeln verrät das Maß inniger Zärtlichkeit, Küsse fallen, wie Honigtau. Brennende Seufzer stets? Sage, warum? Warum Brennende Blicke? Sind’s Boten vielleicht des Glücks? Aber du schweigst? O komm, scheuche den dreisten Mond. Schleuß den Laden, geliebtes Herz!

Wie alle Odenverse Platens sind auch diese, wie er es nannte, »echoreich«,37 d. h. dicht mit Alliterationen und Assonanzen durchwoben. Zu Beginn wird sogar ein

34 35 36 37

W S. 414. Ebd., S. 464. Fichte: I can’t get no satisfaction (wie Anm. 22, Schluss); ders.: Deiner Umarmungen süße Sehnsucht (wie Anm. 22), S. 65 (ohne Kommentar). »Stimme geheim, o stimme/ Deinen bergstromähnlichen, echoreichen/ Starken Gesang

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vollständiger Halbvers echohaft wiederholt, gegen Schluss dann noch einmal ein komplettes dreisilbiges (brennende) und ein zweisilbiges Wort (warum). Eine Assonanz auf ei durchzieht sämtliche Strophen und weitet sich zu einem Binnenreim zwischen der ersten und dritten Strophe (erreicht – vielleicht) aus. Ein so stark überstrukturierter Text zeitigt bereits als spontanen Effekt eine Irritation der Semantik. Diese Irritation wächst dann aber zu einer Art semantischem Taumel an, wenn man sich die Situation vorzustellen versucht. Zu Beginn redet ein Wir, das eine homophile Liebesdyade zwischen Lyrischem Ich und Geliebtem zu evozieren scheint. Dann heißt es jedoch, die Dyade habe eine Zweisamkeit nicht erreichen können, weil eine größere »Genossenschaft« das nicht zugelassen habe – und diese »Genossenschaft« wird als ein weiteres »Paar«, dasjenige von »Wein und Jugend«, präzisiert. Das ist extrem uneindeutig: Steht das störende »Paar« für eine größere Gruppe von Wein trinkender Jugend? Geht es also um eine kollektive »Genossenschaft«? Oder kann die Dyade nicht wirklich allein sein, weil in ihr selbst »Wein und Jugend« sozusagen drinsteckt? Ist die Dyade bereits »Genossenschaft«? Dann wäre der Störeffekt allerdings paradox. Ebenso rätselhaft ist die Semantik der zweiten Strophe mit dem Oxymoron einer »züchtigen Rose«, da die Rose üblicherweise genau für jenen »Liebesbrand« steht, den sie hier »mäßigt« – ebenso stehen Beginn und Schluss der Strophe (»Melancholie« und »Maß« vs. »Küsse«) in einer Art von semantischem Spagat. Gänzlich enigmatisch ist dann die Schlussstrophe: Hier scheint sich die Wir-Dyade aufzulösen, indem ein Du angeredet wird. Ein Ich bleibt aber abwesend. Ist das Du etwa das eines jungen Geliebten, ist das »geliebte Herz« ein solcher Geliebter? »Aber du schweigst?« Wieso »Aber«, da doch folgt: »O komm, scheuche den dreisten Mond. Schleuß den Laden«? Das scheint zu implizieren, dass die Dyade sich nun in einem Zimmer befände und die Liebeserfüllung dem störenden, voyeuristischen Blick des Mondes durch Schließung der Fensterläden entziehen möchte. Dem widerspricht aber das »Aber du schweigst?«, das eher (ebenso wie Strophe eins) auf eine verpasste Erfüllung zu deuten scheint. Dann wäre das Du aber Selbstanrede des lyrischen Ich, und zwar bereits auch in der Frage »Aber du schweigst?« Evoziert wäre dann die »süße Melancholie« der Entsagung, der Resignation. Der Text bleibt also absichtlich semantisch unentscheidbar. Er evoziert eine Art Schwebezustand der homosexuellen Liebesdyade, in der Platens mutmaßliche androgyne ›Urszene‹ aufgehoben wäre: Du als ehemals mehrdeutiges Spiegelbild des Ich – nun als ebenso mehrdeutige Anredeinstanz. Das ist das Gegenteil einer ikonoklastischen Zertrümmerung der Applikationsdistanz – es ist die Poetisierung und das Festhalten der Applikationsdistanz im hohen Ton. Es ist vermutlich das, was Fichte mit seiner Kategorie der »Empfindlichkeit« bei Platen durchaus ebenfalls im Blick gehabt hat. Fichtes größtes Verdienst um Platen liegt aber tatsächlich darin, dass er (hoffentlich mit Erfolg) versucht hat, die Applikationsdistanz von Platens Poesie für

an!« (Ode Die Pyramide des Cestius, W S. 459).

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167

heutige Publiken, zunächst für homosexuelle, dann auch für allgemeine, dort zu verringern, wo sie von der früheren, vor allem nationalistischen und latent homophob-militaristischen, Rezeption bis zum regelrechten Poesiemord verfälscht und verzeichnet worden war. Das betrifft vor allem den spondeischen Rhythmus, dessen Sprech- und Lesbarkeit im Sinne einer stauenden Akzentakkumulation ich gegen Heuslers und seiner Nachfolger deformierende Verfälschung in Schutz genommen hatte. Mit der populären, durchaus treffenden Analogie synkopischer »Beats« in der Rockmusik38 und seinen entsprechenden Deklamationen am Radio hat Fichte die Applikationsdistanz verringernd bis in die Reichweite größerer Publiken gerückt. Dass Platen zu Versuchen nicht taugt, die Distanz auf Null zu reduzieren, ist Fichte nicht verborgen geblieben: Indem er das Prinzip der rhythmischen Stauung und Entstauung bei Platen begriff, begriff er im Grunde auch die Funktion der Applikationsdistanz, ja sogar der »Sublimierung«. Ich habe in den obigen Erläuterungen zu Platens poetischer Sprachkunst den Begriff des »Magischen« zunächst einmal impressionistisch benutzt – er ist jedoch durchaus auch in Fichtes Sinne von Ritual bei Platen relevant. Bei seinen spiegelbildvermittelten Verliebtheiten entwickelte Platen abergläubische Zahlenund Datenspiele, auch Buchstabenspiele, die sozusagen die Applikationsdistanz der poetischen Lautspiele verringern sollten. Ist es demnach überzogen zu sagen, dass Fichte in dem über ein ganzes Jahrhundert fernen Leben und Werk Platens ein überraschendes und beglückendes Spiegelbild erblickt haben wird, mit dem er sich aufs intensivste identifizieren konnte – so intensiv, dass er die ebenfalls bestehenden Differenzen zu minimieren oder ganz zu leugnen gewillt gewesen sein dürfte? Diese Differenzen hingen im Wesentlichen mit einer – historisch leicht zu erklärenden – verschiedenen Haltung zur Applikantionsdistanz homosexuellen literarischen Schreibens zusammen. Bei Platen wird die Applikation in einer Schwebe ›oberhalb‹ naturalistischer Evokationen der »Erfüllung« gehalten. In dem von Schmidtlein vernichteten und auch von Platen nicht als Kopie bewahrten Verführungsbrief, wahrscheinlich großenteils oder ganz in Redondillas formuliert, muss die Applikationsdistanz so gering wie sonst nirgends bei Platen gewesen sein – vermutlich als Vorschlag, nackt miteinander zu verkehren. Ob die Distanz bis zu präzisen (manuellen oder oralen) Praktiken ›abgesenkt‹ wurde, bezweifle ich. Dass anale Praktiken, die in anderen, nicht in den auf Platen bezogenen, Texten von Fichte (und in Heines Denunziation) dominant sind, auch bloß als suggestiv erratbar formuliert gewesen sein könnten, schließe ich aus – ebenso wie ich Platens vermutliche Praktiken in Italien, wie sie Peter Bumm mit der bisher wohl relativ größten Belastbarkeit zu rekonstruieren versucht hat, dahingestellt sein lasse. Eine Diskursanalyse kann sich nur auf Diskurse stützen.

38

Fichte: I can’t get no satisfaction (wie Anm. 22), Parallele mit Mick Jagger; ders.: Deiner Umarmungen süße Sehnsucht (wie Anm. 26), S. 35.

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Soviel ist sicher: Der Spiegelkomplex bei Platen musste für Fichte gerade wegen der hochgradigen Identifikation mit dem ›Vorläufer‹ eine Konstellation sowohl fundamentaler wie hoch ambivalenter Problematiken aktualisieren: alle Aspekte der Re-flexion und des Mimetischen zwischen dem Schreiben als Mimesis, den im Spiegel emergierenden Masken des Ich (also dem Komplex der magischen Metamorphosen) und der Subjektkonstitution in der Spiegelphase. Platens Entwicklung vom holistischen zum zäsurierten Spiegelbild musste dabei auch das Phantasma des zerstückelten Körpers und damit der Quällust als die andere Seite des schönen androgynen Eidos aufrufen – eine Problematik, an der Platen insbesondere in seinen aristophanischen Komödien gescheitert war.39 Fichtes auch kognitiv hoch reflektierter Umgang mit dieser Problematik kann für die Platenforschung noch ungenutzte Schlüssel bereitstellen – aber auch umgekehrt könnten Platens partiell ungelöste Aporien als Schlüssel zum weitergehenden Verständnis Fichtes dienen, wobei die »Irritationen« über den Spiegelkomplex beim Autor der »Imitationen« einen Anstoß und Ausgangspunkt für weitere Analysen und Überlegungen bilden könnten.

Dokumentarischer Anhang 1. von der ZEIT unterdrückter Leserbrief vom 23.11.1984 zu Fichtes Essay »I can’t get no satisfaction«, auch Fichte direkt mitgeteilt: Hubert Fichtes Essay wird hoffentlich den wie Platen Fühlenden definitiv einen ihrer Großen zugänglich machen. Er wird hoffentlich darüber hinaus auch endlich beim weniger direkt betroffenen Publikum eine Platenrenaissance einleiten, wobei Fichte völlig zu Recht auf den engen Zusammenhang zwischen der Diskriminierung von Homosexualität und den Einwänden gegen Platen als Dichter hingewiesen hat. In der Germanistik bestand der wirksamste Einwand in der vor allem von Andreas Heusler aufgestellten Behauptung, Platens Rhythmus sei wegen der Spondeen »undeutsch« und »entdeutscht«. Wollte man dem Dichter Platen gerecht werden, so mußte man also insbesondere dieser Ausgeburt des Chauvinismus (und der versteckten Polemik gegen ›unnatürliches Fühlen‹) den Garaus machen. Ich habe das vor geraumer Zeit zum nicht geringen Ärger des germanistischen Altmeisters Friedrich Sengle in aller wissenschaftlichen Sachlichkeit getan. Um so mehr freue ich mich, daß Fichte die Bedeutung dieses Problems ebenfalls gebührend betont. Dabei wunderte mich zunächst nur der Umstand, daß Fichte mich keineswegs als Mitstreiter würdigt, sondern mir selbst jene Gesinnung unterstellt, die ich nachweislich gerade bekämpft habe. Ich erkläre mir das jetzt so: Er wollte mich wahrscheinlich schützen und nahm mir sozusagen das gefährliche Gepäck aus

39

Dazu d. Verf.: ›Ich werde mir in dieser hinsicht keinen pathos zu schulden kommen lassen‹: zum unglücklichen ausgang des diskurs-duells platen contra heine. In: kultuRRevolution. zeitschrift für angewandte diskurstheorie. heft 8 (februar 1985), S. 41–44.

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der Hand. Aber lieber Hubert Fichte: Ich brauche diesen Schutz nicht. Sie hätten mich also auch in puncto »Narzißmus« gar nicht vor Herrn Zimmermann u. a. durch völlige Verdrehung meiner Argumentation zu schützen brauchen. Sie hätten ruhig ganz offen sagen können, daß ich so weit gehe, nicht bloß die lyrische Qualität der Spondeen, sondern auch die der Faszination durch Spiegelbilder im positiven Sinne freizulegen (wobei ich mich ein wenig durch Lacan habe inspirieren lassen). Platen ein Revolutionär? Als Mitherausgeber der Zeitschrift »kultuRRevolution«, die solche Fragen vielfältig behandelt, würde ich in Platens Pathos durchaus kulturrevolutionäre Intensitäten erblicken – allerdings nur, wenn man die vielen Risse und ›Ausrutscher‹ nicht vertuscht. Die Kollision mit Heines kulturrevolutionärer Ironie scheint historisch unvermeidlich (wobei ich gezeigt habe, daß jenseits der antisemitischen Ausfälle Platens und der anti-»päderastischen« Heines die unbewußte Ironie der Gesamtpolemik darin bestand, daß der Pathetiker den Witz des Gegners zu besitzen wünschte und der Ironiker in hohles Pathos entgleiste, beide also Opfer des Phantasmas eines totalen Spiegelbildes wurden...).

170 2. Fichte an Link 30. 11. (1984) Faksimile

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3. Link an Fichte 29. 1. 1985 lieber hubert fichte, ich habe Ihren brief vom 30. 1. nach meiner rückkehr aus amerika mitte dezember gelesen. ich habe Ihnen nicht sofort geantwortet, weil ich erst meinen streit mit der ZEIT um veröffentlichung oder nichtveröffentlichung meines leserbriefs abwarten wollte. ich hatte argumentiert, daß mir eine kurze stellungnahme zu Ihren m. e. völlig abwegigen angriffen nach allen »fairneß«-regeln des journalismus pipapo unbedingt zustehe – die ZEIT blieb frech und stur und lehnte nach hin und her definitiv mit der »begründung« ab, mein leserbrief sei nicht »allgemeinverständlich«! Sie werden verstehen, daß ich danach erst mal eine verdauungspause brauchte – stellen Sie sich vor, ich hätte Sie der hetze gegen sagen wir die »kultuRRevolution« (s. o.) beschuldigt (in der ZEIT versteht sich), Sie hätten dazu einen leserbrief geschrieben etc.! ich bin übrigens wirklich sicher, daß Sie mit mir gemeinsam über diese frechheit eines herrn frenkel wütend sein werden. ich brauchte, wie gesagt, etwas verdauungszeit, während der ich einsah: aber klar doch; angenommen, Sie hätten mich nicht völlig absurderweise der AIDS-hetze, sondern berechtigterweise der bestechung durch FLICK bezichtigt, und ich hätte dazu einen über und über lügenhaften leserbrief geschrieben – den hätte die ZEIT selbstverständlich sofort gedruckt. als ich mir das klar gemacht hatte, war ich beruhigt. was unsere korrespondenz betrifft, so würde ich Ihre bemerkung »vielleicht unnötig polemisch reagiert« meinerseits mit einem schwammdrüber quittieren, wenn sie öffentlich erfolgt wäre. ich werde das dadurch nachholen, daß ich Sie um Ihr einverständnis bitten möchte, die ganze sache demnächst im anhang eines neuen platenbändchens dokumentieren zu dürfen.40 dann also schwamm drüber. zur sache: natürlich habe ich Ihren brückenschlag zwischen platens spondeen und dem beat sehr goutiert und werde ihm auch öffentlich bei gelegenheit applaudieren – wie überhaupt Ihrem eintreten für platen. zu meiner diss.: sie war 1966 abgeschlossen, vor einer reihe von erkenntnisprozessen so tiefgehender art, daß ich eine ganz neue hätte schreiben müssen, wenn ich sie hätte umarbeiten wollen. fehlt dem verfasser des »versuchs über die pubertät« wirklich die fantasie, sich die schwierigkeiten eines in der deutschen provinz der adenauerzeit sozialisierten heterosexuellen vorzustellen, platen ganz gerecht zu werden? kann er wirklich nicht lesen? nun zum neuen nachwort und zum kommentar: erstens handelt es sich um ein sehr gemäßigtes nachwort, das der verlag von mir erzwang, weil er mein erstes, frischer geschriebenes für zu stark hielt. zweitens kann es Ihnen doch einfach nicht entgangen sein, daß die analyse der faszination durch spiegelbilder rein faktischempirisch vorgeht (mit einer unzahl von textbelegen) – ferner daß an keiner stelle

40

Das schien mir nach Fichtes Tod unangemessen, da definitiv ›zäsuriert‹. Die hier nun vorliegende Dokumentation dürfte im guten Sinne historisch sein.

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ein direkter zusammenhang zwischen der spiegel-faszination und der männerliebe platens behauptet wird. ein solcher zusammenhang existiert zwar m. e. irgendwie und irgendwo, aber sicher nicht in mechanischer art. freud und lacan haben doch niemals behauptet, narzißmus sei identisch mit homosexualität, so etwas kann doch nicht Ihre meinung sein: im gegenteil ist die spiegelphase bei lacan eine subjektkonstituierende phase jedes kleinen kindes! so wäre es denn auch überhaupt nicht schwer, die faszination durch spiegelbilder bei fast allen zeitgenossen platens, natürlich auch bei heine, nachzuweisen. daß eine bestimmte fixierung auf spiegelbilder der totalität (die sich mit homo- wie mit heterosexualität koppeln kann!) in bestimmten fällen zu »pathologischen« konsequenzen führen kann, läßt sich wiederum rein empirisch konstatieren. und nun also der spingende punkt: Sie wissen genauso gut wie ich, an welcher stelle ich das gesagt habe – als es darum ging, platens widerwärtige antisemitische angriffe (»jenes verstümmelte glied« usw.) zu analysieren. ich kann übrigens verstehen, daß Sie eine diskussion dieser angriffe bewußt ausgespart haben und warum – Sie werden mir aber zugestehen, daß ich als literarhistoriker auch und gerade dazu etwas sagen mußte. schließlich sagen Sie mir, Sie kennten in der 3. welt psychiater, die sich auf lacan beriefen und offenbar horror praktizieren. ich glaube Ihnen das gern. aber das ist so, als ob Sie gegen mengenlehre in der mathematik mit dem argument plädierten, Sie kennten dorfschullehrer, die ihre schüler bei der mengenlehre prügelten. schließlich kurz: vielleicht lesen Sie wirklich mal sengles platen-kapitel in »biedermeierzeit«, bd. 3 (einfach damit Sie überlegen können, ob Ihre polemik gegen mich das gelbe vom ei ist). ich schicke Ihnen ein heft von »kultuRRevolution« und würde Sie auch einladen, zu unserem demnächst geplanten schwerpunkt »weiblich/ männlich« etwas kurzes beizutragen (z. b. zur AIDS-hetze!) – einsendetermin wäre der 15. april (honorar ist bei uns noch nicht drin). mit den besten grüßen und wünschen für Ihre arbeit Ihr jürgen link

Spiegelbild und Empfindlichkeit

4. Fichte an Link 3. 6. 1985 (Faksimile)

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Jürgen Link

Klaus Kempf

»Plateniana« – zur Geschichte des Platen-Nachlasses in der Bayerischen Staatsbibliothek

I.

Die Autographen und Nachlasssammlung der BSB1

Mit derzeit (Ende 2010) ca. 1.047 Nachlässen, Teilnachlässen und gezielt auf eine Person hin angelegten Sammlungen, darunter 177 sog. Schriftstellernachlässen, besitzt die Bayerische Staatsbibliothek einen der größten einschlägigen Bestände in der Bundesrepublik Deutschland. Ergänzend treten dazu über 37.000 Einzelautographen in der 1858 gegründeten Autographensammlung und zahlreiche im Fach Codex germanicus Monacensis (Cgm) sowie seit 1982 im neuen Fach Fasciculi germanici (Fasc.germ.) eingereihte Einzelkonvolute von Briefen oder Dokumentationsmaterialien. Die Tradition des Nachlasssammelns in der Bayerischen Staatsbibliothek reicht zurück bis in das Gründungsjahr der Bibliothek 1558, als Herzog Albrecht V. von Bayern zusammen mit der Bibliothek des Orientalisten Johann Albrecht Widmannstetter auch dessen handschriftlichen Nachlass erwarb. 1571 wurden mit der Bibliothek Johann Jakob Fuggers die Nachlässe der Ärzte und Humanisten Hermann und Hartmann Schedel, 1589 der Nachlass des bayerischen Kartographen Philipp Apian erworben. Durch eine kontinuierliche Fortsetzung dieser Erwerbungspolitik während des 17. und 18. Jahrhunderts – vor allem aber auch durch Erwerbung auf sekundärem Weg im Zug der Säkularisation und der Überführung der Mannheimer Bibliothek nach München in den Jahren 1802–1804 – wuchs der Bestand an Nachlässen des 15. bis 18. Jahrhunderts auf rund 200 Namen an. Die hohe Zeit des Nachlasssammelns aber setzte zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein im Gefolge von Romantik und Positivismus und ihrem verstärkten Interesse an handschriftlichen Dokumenten bedeutender Persönlichkeiten. Äußeres Zeichen dieser gestiegenen Wertschätzung war die Einrichtung eines eigenen Nachlassfaches durch Johann Andreas Schmeller im Jahr 1829 – eine für Deutschland bahnbrechende Neuerung gegenüber der bisherigen Gepflogenheit, Nachlässe ohne Rücksicht auf ihren Eigencharakter in die Codicesfächer einzureihen. Eine nochmalige Steigerung erfuhr das Sammeln von Nachlässen in den letzten drei bis vier Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Während der Neuzugang an mittelalterlichen Handschriften sich sowohl auf Grund des knapper werdenden Angebots als

1

Vgl. nachfolgend Von Moisy, Sigrid: Die Nachlass- und Autographensammlung der BSB. In: Hausmitteilungen der BSB. Nr. 59/1999, S. 6–9. Frau Dr. Sigrid von Moisy gilt mein ausdrücklicher Dank für die äußerst kompetente und sehr kollegiale Unterstützung bei der Vorbereitung und Abfassung des Vortrags, der diesem Beitrag zugrunde liegt.

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Klaus Kempf

auch der damit einhergehenden vergleichsweise hohen Preise naturgemäß quantitativ in engen Grenzen hält, hat das Nachlassreferat eine geradezu explosive Bestandsvermehrung zu verbuchen. Wurden in den Jahren 1829 bis ca. 1970 (Einführung des numerus currens anstelle der bisherigen alphabetischen Aufstellung), also in 140 Jahren, rund 1150 lfd. Meter erworben, so betrug der Neuzuwachs in den knapp 40 Jahren seitdem über 1800 lfd. Meter. Von den acht Magazinen der Handschriftenabteilung nehmen die seit 1829 erworbenen Nachlässe und Autographen drei Magazine ein. Die Bibliothek setzte im genannten Zeitraum im Bereich Nachlässe und Autographen alljährlich erhebliche Mittel ein für Ankäufe aus dem Handel (Auktionen und Lagerkataloge), vor allem aber direkt von privaten Eigentümern. So wurden in den zehn Jahren von 1988 bis 1997 ca. 3,3 Millionen DM aufgewendet. Für herausragende, die Mittel der Bibliothek übersteigende Käufe konnten in den letzten Jahrzehnten zudem immer wieder erhebliche Drittmittel eingeworben werden. So wurden etwa die Nachlässe des Malers Karl Spitzweg (1984), des Komponisten Wolfgang Fortner (1992), des Bildhauers Adolf von Hildebrand (1992), des Begründers der Zoologischen Station in Neapel Anton Dohrn (1996) mit Hilfe der Deutschen Forschungsgemeinschaft und des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft erworben. Dazu kam im März 1999 – nach 16jährigen Verhandlungen – die Erwerbung einer großen Gustav Mahler-Sammlung aus den Archiven des 1987 in USA verstorbenen Pianisten Hans Moldenhauer. Hier sprang insbesondere die Bayerische Landesstiftung und die Kulturstiftung der Länder und der Bundesrepublik Deutschland der Bibliothek bei. Es darf aber auch nicht vergessen werden, dass ein nicht unerheblicher Teil der Nachlässe, vor allem sehr viele Gelehrtennachlässe, der Bibliothek auch geschenkweise überlassen werden. Das Sammelspektrum der Bayerischen Staatsbibliothek erstreckt sich universell auf alle Bereiche des wissenschaftlichen, künstlerischen und öffentlichen Lebens. So nennt die Bibliothek u. a. Nachlässe und Sammlungen der Dichter August Graf von Platen, Adalbert Stifter, Paul Heyse, Georg Britting, Georg von der Vring, Oskar Maria Graf, Heinz Piontek, Hermann Lenz, der bildenden Künstler Peter von Cornelius, Wilhelm von Kaulbach, Joseph von Stieler, Hans von Marees, Leo Graf von Kalckreuth, Alfred Kubin, der Architekten Leo von Klenze, Friedrich von Gärtner, Paul Ludwig Troost und der Komponisten Orlando di Lasso, Josef Rheinberger, Richard Wagner, Richard Strauss, Hans Pfitzner, Werner Egk, Alban Berg, Joseph Haas und Günter Bialas ihr eigen. Reich ist der Bestand an Nachlässen von Gelehrten vor allem aus den geisteswissenschaftlichen Disziplinen: von Geschichtsschreibern und Historikern, Archäologen, Philologen, Theologen, Philosophen usw., u. a. Aventinus, Ferdinand Gregorovius, Franz Schnabel, Max Spindler, Karl Bosl, Paul Wolters, Friedrich Klingner, Wolfgang Schadewaldt, Karl Vossler, Johann Andreas Schmeller, Ignaz von Döllinger, Romano Guardini, Franz von Baader, Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling, Max Scheler, Oswald Weber (Depot) usw. Aber auch auf den Gebieten der Naturwissenschaften, Mathematik und Medizin hat die Bibliothek einen beachtlichen Fundus aufzuweisen: u. a. die Nachlässe von Justus von Liebig, Franz von Paula Gruithiusen, Gotthilf Heinrich von Schubert, der Brüder Schlagintweit,

Geschichte des Platennachlasses in der Bayerischen Staatsbibliothek

177

Karl Friedrich Philipp von Martius (Depot), Karl von Frisch, Max von Pettenkofer, Carl Thiersch, Alfred Marchionini und Hartwig Cleve. Auch zahlreiche Nachlässe von Männern des öffentlichen Lebens finden sich in der Bayerischen Staatsbibliothek, so der bayerischen Staatsmänner Wiguläus Hund und Herwarth von Hohenburg aus dem 16. und Wiguläus Kreittmayr aus dem 18. Jahrhundert. Besonders dicht ist dieser Bestand im 19. Jahrhundert mit Materialien u. a. zu den bayerischen Königen Ludwig L, Maximilian II. und Ludwig II., zu den bayerischen Ministern Karl von Abel, Georg Friedrich von Zentner, Eduard von Schenk oder zu Georg Ludwig von Maurer, Mitglied der bayerischen Regentschaft in Griechenland. Während die Bibliothek auch immer wieder durch Erwerbung bedeutender Einzelautographen oder Konvolute diesen Altbestand aus dem 19. Jahrhundert abzurunden sucht, ist das Sammeln von Politikernachlässen des 20. Jahrhunderts eine Domäne der Archive. Getreu dem Auftrag des Hauses, als zentrale bayerische Landes- und Archivbibliothek zu fungieren, lag und liegt der Schwerpunkt der Sammeltätigkeit auf dem landesgeschichtlichen Aspekt, von den Zeugen der großen bayerischen Klosterkultur vor der Säkularisation bis hin zum gegenwärtigen Kulturbetrieb und wissenschaftlichen Leben an den bayerischen Hochschulen. Ein Viertel bis ein Drittel des derzeitigen Bestandes aber weist seiner Provenienz nach über Bayern hinaus. Materialien zu italienischen Humanisten wie Angelus Politianus und Petrus Victorius oder zu französischen Gelehrten des 17. bis 19. Jahrhunderts wie Etienne Marc Quatremere bezeugen die enge kulturelle und politische Ausrichtung Bayerns nach dem Süden und nach Frankreich in vergangener Zeit. Zu den Erwerbungen des 19. Jahrhunderts zählen die Nachlässe norddeutscher Dichter und Gelehrter wie Ludwig Heinrich Christoph Hölty, Johann Heinrich Voß (mit wertvollen Briefkonvoluten von Claudius, Klopstock, den Brüdern Stolberg usw.) und Immanuel Kant. Für die Gegenwart ist beispielsweise das seit den 1980er Jahren aufgebaute Archiv zur klassischen Altertumswissenschaft mit rund 60 Nachlässen, darunter auch etwa aus Tübingen (Wolfgang Schadewaldt), Köln (Günther Jachmann), Hamburg (Bruno Snell) und Berlin (Eckart Mensching) zu nennen.

II. Aspekte des Platen-Nachlasses in der BSB Plateniana, also schriftliche Zeugnisse von der Hand August von Platens oder ihn betreffende Schriftstücke und Dokumente sind heute in sehr vielen deutschen Gedächtnisinstitutionen unterschiedlichster Art zu finden, wie ein Blick in die zentrale deutsche Nachlassdatenbank Kalliope zeigt.2 Die maßgeblichen Sammlungen sind

2

Plateniana sind derzeit in 25 deutschen Bibliotheken, Archiven und Museen nachgewiesen [Zugriff auf Kalliope am 16.12.2010]. Ich möchte an dieser Stelle Herrn Kollegen Dr. Maximilian Schreiber für die Endlektüre und die Überprüfung sowie die Vervollständigung der im Text verwendeten online-Zitate herzlich danken.

Klaus Kempf

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jedoch im Stadtarchiv der Stadt Erlangen, in der Universitätsbibliothek ErlangenNürnberg und vor allem an der Bayerischen Staatsbibliothek zu finden. Will man die Geschichte des Nachlasses von Platen sowie aller im Zusammenhang mit Platen in die Bibliothek gelangten und heute dort befindlichen Schriftzeugnisse und Materialien rekonstruieren, so gilt es, unterschiedliche Nachweisinstrumente der Bibliothek zu konsultieren. a.

Die Nachweise im Zugangsbuch der Handschriftenabteilung

Die Einträge im Zugangsbuch der Handschriftenabteilung, dem wesentlichen Nachweisinstrument für alle Erwerbungen dieser Abteilung bzw. dieser Schrifttumsgattung, weist für den Erwerb der Plateniana folgende, in chronologischer Reihenfolge aufgeführte Zugänge nach: 1870

Plateniana:

1882

Platens Briefe von 1806–1832 u. dazu Gehöriges. Plateniana

1899

Mai: Plateniana 20 b: Gedichte von Platen (Polenlieder u. ähnliches)

Geschenk von Hofrath G. v. Liebig, aus dem Nachlaß seines Vaters v. Liebig. Justus

1907

Febr.: 2 Briefe von Platen Plateniana

gekauft um 45 M vom Antiquariat Liepmannsohn in Berlin

Febr.: 1 Brief von Platen Plateniana

ersteigert um 37 M bei der Auktion 87 von C. G. Börner, Leipzig

1908

Nov.: 4 Briefe von, 1 an Platen von Nees v. Esenbeck Plateniana 66 u. 69

gekauft bei der Versteigerung ZeuneSpitta, (Berlin, Stargardt)

1909

Juli: 6 Briefe Platens Plateniana 66 c

gekauft von Liepmannssohn u. Bär

Juli: 3 Platen-Autographen Plateniana 24/13

gekauft von Dr. Paul Bornstein, Gräfelfing

9. Febr.: 3 Platen-Briefe Plateniana

ersteigert bei der Auktion Henrici in Berlin, 25.–27. 1. 1911

3.–6. Mai: 2 Platen-Briefe Plateniana

ersteigert bei Börner

1912

9.10.: Brief Platens an G. Schwab. 3. 8. 1826 Plateniana

gekauft von Henrici

1917

19. 9.: 6 auf Platen bezügliche Schriftstücke Plateniana

Geschenk von Baronesse Stephanie v. Crailsheim. B.n.2825

1918

23.11.: Autographen-Slg. des Reg.Rats Marggraff, dabei u. a. Briefe von und an Platen Autogr. Plateniana, Cgm 7120–21

gekauft von der Witwe – Div.p.187

1911

Aus dem Rücklasse des ObermedizinalRathes Dr. Pfeuffer gekauft.

Geschichte des Platennachlasses in der Bayerischen Staatsbibliothek

b.

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Der »Rücklass« des Obermedizinalrhates Dr. Pfeufer

Erst mit den Materialien, die über den »Rücklass« – heute sprechen wir von Nachlass – des Obermedizinalrhats Dr. Pfeufer in die Bibliothek gelangten, wurde eine eigene Nachlaßsignatur »Plateniana« eingerichtet. Gleichzeitig wurden erstmals in der Geschichte des Autographen- und Nachlassreferats eigene Mappen verfertigt, in die die losen oder teilweise nur sehr schlecht gebundenen Materialien systematisch ein- und abgelegt wurden. In den einschlägigen Erwerbungsakten sind keinerlei Hinweise oder Korrespondenzen zu den näheren Umständen des Erwerbs und den Überlasser zu finden. Gleiches gilt für etwaige Vermerke oder Korrespondenz im Nachlass des zu dieser Zeit im Amt befindlichen Leiters der Bibliothek, Prof. Dr. Karl von Halm, der nicht nur für die Bibliothek erwarb, sondern auch selbst, für private Zwecke sehr aktiv sammelte und dies auch detailliert vermerkte.3 Einträge im Repertorium von Cgm (Codices Germanici Monacenses) zeigen, dass es sich bei dem Obermedizinalrhat Dr. Pfeufer um Karl von Pfeufer handelt. Letzterer war ein enger Freund Platens und über Graf Friedrich von Fugger Erbe eines wesentlichen Teils des Platenschen Nachlasses geworden.4 Karl von Pfeufer, ein anerkannter Seuchenexperte, der das bayerische Gesundheitswesen nachhaltig reformierte, war eine renommierte Persönlichkeit des öffentlichen und kulturellen Lebens im damaligen München. Er gehörte zum weiteren Umfeld des sog. Pocci-Kreises, insbesondere war er von 1852–1869 Mitglied der Gesellschaft der Zwanglosen, der auch Franz Graf von Pocci angehörte.5 Karl von Pfeufer muss dabei durchaus eine aktive Rolle gespielt haben oder anderweitig in Erscheinung getreten sein, denn ansonsten wäre er sicher nicht von Pocci in mehreren Karikaturen zusammen mit anderen sehr namhaften Zeitgenossen und Mitgliedern der Zwanglosen, wie etwa dem Chemiker Justus von Liebig oder dem Dichter Emanuel von Geibel verewigt worden.6

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5

6

Vgl. den Nachlass von Karl Halm in der Bayerischen Staatsbibliothek, Halmiana II–IX. Auskunft über den etwas verworrenen Weg der Tagebücher Platens in die Bibliothek gibt das Vorwort von Laubmann in dessen Neuveröffentlichung der Platenschen Tagebücher (vgl. TB Bd. 1, S. VIIff.). Danach hatte von Platen vor seinem Aufbruch zur letzten Italienreise im April 1834 seine Tagebücher (17 Bände) K. von Pfeufer in Verwahrung gegeben. Nach Platens Tod händigte dieser sie der Mutter des Dichters aus, die sie ihrerseits an einen anderen Freund Platens, Graf Friedrich von Fugger weiterreichte. Aus dessen Nachlass kehrten sie dann wieder in die Hände von K. von Pfeufers zurück. Zur Person Karl von Pfeufer vgl. NDB 20 (2001), S. 332f. und ADB, Bd. 25, S. 661ff. (Online unter http://www.deutsche-biographie.de/sfz 74508. html). Vgl. Rohmer, Gustav: Die Zwanglose Gesellschaft in München 1837 – 1937. München 1937, S. 149; zu Person und Werk von Franz Graf von Pocci vgl. u. a. näher: Dittmann, Ulrich (Hg.): Franz von Pocci. Schriftsteller, Zeichner, Komponist. Werkausgabe. München 2007. Siehe u. a. in Poccis Traum, Cgm. 8026–5, Nr. 21 abgebildet in: Von Moisy, Sigrid: Franz Graf Pocci. Schriftsteller, Zeichner, Komponist unter drei Königen. München 2007, S. 139.

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Karl von Pfeufer fühlte sich dem Erbe Platens und dessen Pflege nachdrücklich verpflichtet. Vor den »Zwanglosen«, die ab 1855 regelmäßige Vortragsabende mit Themen aus Kunst und Wissenschaft für ihre Mitglieder organisierten, referierte er auch, was hier von Belang ist, über die Tagebücher August Graf von Platens.7 Letztere veröffentlichte er anschließend in Auszügen 1860 bei Cotta zusammen mit einem anderen Freund Platens, Eberhard Veit, in einer viel kritisierten ersten Ausgabe.8 Die Fürsorge, die Karl von Pfeufer dem Erbe von Platens hatte angedeihen lassen, zeigt sich auch darin, dass er der Bayerischen Staatsbibliothek bereits vor seinem eigenen Ableben und der Übergabe bzw. des Verkaufs des eigenen »Rücklasses« durch seine Erben im Jahre 1861 auf dem Geschenkwege zwei bedeutsame Autographen Platens überlassen hatte, nämlich: – Cgm 5110 (war vorher aufgestellt bei Autogr. Cim.) Platen: Ghaselen. Eigenhändiges Manuskript; Vorlage für ersten Druck Ausgabe, Erlangen 1821 – Cgm 5111 (war vorher aufgestellt bei Autogr. Cim) Platen: Die Tochter Kadmus, eine dramatische Dichtung in 3 Akten

c.

Die Geschenke des Staatsrats Dr. von Hermann an die Bayerische Staatsbibliothek

Nicht im Zugangsbuch der Handschriftenabteilung, sondern im Repertorium zu den Cgm wird man fündig, wenn man nach weiteren Zugängen von Plateniana vor 1870 Ausschau hält. Dort stößt man auf die Zuwendungen von »Staatsr(h)at Dr. von Herman«. Dahinter verbirgt sich Friedrich Benedict Wilhelm Hermann (1795–1868).9 Er ist wie Karl von Pfeufer ein enger Freund Platens aus den gemeinsamen Erlanger und Münchner Tagen und findet in Platens Tagebuch häufig Erwähnung.10 Der namhafte Staats- und Wirtschaftswissenschaftler machte auch als Abgeordneter auf Reichs- (Mitglied des Paulskircheparlaments 1848) und Landesebene Karriere. Platen, der ihm rückhaltlos vertraute, hat ihm vor dem Aufbruch zu seiner letzten Italienreise 1834 die Manuskripte aller seiner bis dahin gedruckten und ungedruckten Werke übergeben.11

7

8

9 10 11

Vgl. Rohmer: Die zwanglose Gesellschaft (wie Anm. 5), S. 96, Anhang I: Vortragstätigkeit der Zwanglosen Gesellschaft 1856/57 bis Ende 1936, wo unter 1856/57 der Eintrag »Pfeuffer: Aus den Tagenbüchern von Platen« zu finden ist. Platens Tagebuch 1796–1825, Hg. von Veit Eberhardt und Karl von Pfeufer. Stuttgart 1860 (Online im Bestand der BSB unter dem Permalink http://opacplus.bsb-muenchen. de/search?oclcno=10489410). Vgl. näher in: NDB 8 (1969), S. 654–656 und ADB, Bd. 12, S.170 ff (Online unter http://www. deutsche-biographie.de/sfz57158.html). Vgl. TB Bd 2, Register. Vgl. näher das Vorwort von Laubmann: TB Bd 1, S. VII.

Geschichte des Platennachlasses in der Bayerischen Staatsbibliothek

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Hermann übergab seinerseits in den Jahren 1863 und 1864 aus diesem Bestand der BSB zwei Autographen Platens, die im Repertorium zu den Cgm wie folgt erfasst sind: – Cgm 4717 (jetzt Plateniana 31): Platen: Die Liga von Cambrai. Ein geschichtliches Drama. Nebst einigen lyrischen Gedichten, Epigrammen etc. (Geschenk des k. b. Staatsrhates von Hermann für die Autographensammlung der k. Bibliothek, September 1863) – Cgm ,5127 Platen: Geschichten Neapels von 1414 – 1442 (Vom Tode Ladislaus bis zur Thronbesteigung Alfons I.), eigenh. Ms., zwei Hefte (Geschenk des k. Staatsrates Dr. v. Hermann, 18. 2. 1864)

Hermann hat der Bibliothek darüber hinaus auch den schon 1996 im Rahmen der Jubiläumsausstellung gezeigten Band mit Einblattdrucken venezianischer Volkslieder, die Platen während seines Venedigaufenthalts auf seiner ersten Italienreise erworben hatte, vermacht.12 Der Band ist heute im Bestand unter dem fiktiven Titel »Canzonette Italiane« mit der Signatur P.o.it. 225 (o nachgewiesen. Der (lateinischen) Widmungsrede Hermanns ist leider nicht zu entnehmen, wann er den Band der Bibliothek genau übergeben hat. Im Zugangsbuch der Handschriftenabteilung findet sich darüber auch kein Eintrag (mehr?). Ein Kuriosum am Rande: Der vorstehende Band war bis zum 20. August 2008 über den OPAC der BSB nicht zu finden, auch nicht durch eine sog. Signatursuche. Für die interessierten Nutzer und/oder hilfsbereite (Auskunfts)Bibliothekare existierte das Werk damit de facto nicht mehr. Was war geschehen? Sowohl bei der Konversion des Bandkatalogs, der alle Titel bis zum Erwerbungsjahr 1840 aufführt als auch des nachfolgenden Quartkatalogs (= QK) – dort ist er unter dem Suchbegriff »Canzonetta« nachgewiesen – der die Erwerbungsjahre 1841 bis 1952 verzeichnet, wurde der Titel übergangen. Die Ursachen dafür sind heute nicht mehr genau zu rekonstruieren. Wahrscheinlich wurde das Werk bei der Konversion als ›schwieriger Fall‹ eingestuft, da es nur über einen fiktiven Titel verzeichnet war und man es später eigens verzeichnen wollte. Dies unterblieb jedoch in der Folge, und der Titel geriet in Vergessenheit. Interessant ist, dass der Titel auch im QK nur mit »sine anno« verzeichnet ist, was aber wohl auf das Erscheinungsjahr zu beziehen ist. Das Jahr der Aufnahme in den Bestand ist dem QK leider auch nicht zu entnehmen.

12

Gunnar Och (Hg.): »Was er wünscht, das ist ihm nie geworden«. August von Platen 1796

– 1835. Ausstellung im 200. Geburtsjahr des Dichters (Schriften der Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg). Erlangen 1996, Katalog-Nr. 81, S. 243.

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182 d.

Plateniana als Teil des Orientbestandes der Bibliothek

Plateniana sind nicht nur über Cgm oder als Autogr. Cim nachzuweisen, sondern sie finden sich verstreut auch in den übrigen Bestand der Bibliothek eingearbeitet wieder, sofern es sich um gebundene Werke handelt. So sind unter der Signaturgruppe Cod. pers. 17, 76, 78–80 Plateniana verzeichnet, die bereits lange vor dem Erwerb des »Kernnachlasses« (aus dem »Rücklasse« von Karl von Pfeufer) und damit vor der Schaffung dieser Nachlasssignatur ihren Weg in die Bayerische Staatsbibliothek gefunden hatten. Nähere Auskunft über den Weg dieser Werke in die Bibliothek liefert ein Blick in die A(lte) Registratur der Bibliothek, die das gesamte 19. Jahrhundert betrifft. Dort findet sich unter der Signatur: A-Reg. B VII. Schelling ein kleineres Konvolut von Briefen und Entwurfsschreiben (=Kopien), dem man entnehmen kann, dass Pauline von Schelling, die Witwe des namhaften Philosophen und Platenfreundes, Friedrich Wilhelm Schelling (27. 1. 1775 Leonberg – 20. 8. 1854 Bad Ragaz/ Schweiz), nach dem Tode ihres Mannes, dem seinerzeitigen bayerischen Gesandten in Berlin, Konrad Adolf Freiherrn von Malsen, acht persischsprachige, davon sechs von Platen selbst verfertigte Handschriften übergibt. Schelling hatte sie von Platen vor dessen Abreise nach Italien selbst zur Aufbewahrung erhalten und mit nach Berlin genommen. Auf Wunsch Pauline von Schellings sollten die Werke an die königliche Bibliothek oder die königliche Akademie der Wissenschaften – vgl. hierzu unten das Schreiben des oben genannten Gesandten vom 9. November 1854 an König Maximilian II. – übergeben werden. Der Vorgang wurde dann – so die Aktenlage – zuständigkeitshalber vom Staatsministerium des Innern für Kirchen- und Schulangelegenheiten übernommen und weiter bearbeitet. Mit Schreiben vom 23. November werden die Bücher an die königliche Bibliothek weitergereicht und gleichzeitig angeordnet, der bayerischen Gesandtschaft in Berlin die erwünschte Empfangsbestätigung zu übersenden.

III. Exkurs: Der Umgang mit Nachlassstücken an der vorm. Königlichen Bibliothek13 Die Rücksendung der Platenschen Handschriften aus Berlin nach München auf Veranlassung von Schellings Witwe hat einen intensiven Schriftwechsel in der bayerischen Verwaltung zur Folge, der nachfolgend hier kurz wiedergegeben werden soll, gewährt er doch einen höchst interessanten, nicht ganz alltäglichen und sicherlich nur Archivfachleuten einigermaßen vertrauten Einblick in die damalige (bayerische) Verwaltungskultur. Am Anfang steht das oben schon erwähnte, den

13

Übertragen von Sigrid von Moisy aus: Alte Registratur der BSB, 19. Jhdt., Signatur: A-Reg. B VII. Schelling.

Geschichte des Platennachlasses in der Bayerischen Staatsbibliothek

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Nachlassstücken beigegebene Begleitschreiben des bayerischen Gesandten in Berlin an König Maximilian II:

Allerdurchlauchtigster etc. etc. Persische Handschriften aus dem Nachlaße des Geheimen Rath von Schelling betr. Die Wittwe des Geheimen Rath von Schelling hat mir die mitkommenden acht Bände persischer Handschriften, welche ihr seliger Mann aus dem Nachlaße des Grafen von Platen s. Zt. überkommen hatte, mit der Aeußerung zugestellt, daß sie glaube der Intention ihres verlebten Gatten nachzukommen, wenn sie diese Manuscripte behufs der Hinterlegung derselben bei der K. Hof- Bibliothek oder der kgl Akademie der Wissenschaften in München der k. Regierung zur Disposition stelle. – Ich habe nicht entstanden der Geh. Räthin von Schelling die rücksichtsvolle Deutung der Willensmeinung ihres Gemahls vorläufig zu verdanken und ihr eine Empfangsbestätigung von Seiten derjenigen Bibliothek zuzusagen, bei welcher die gedachten werthvollen Manuscripte hinterlegt werden möchten. – In Bezug auf die Bücher selbst, welche aus zwei Codices von fremder Hand – der Eine mit Goldverzierungen in der Schrift – und zwei Quart- und vier Oktavbänden bestehen, bemerke ich, daß letztere 6 Bände von des Grafen von Platen eigener Hand geschrieben sind – eine verhältnißmäßige koloßale, in sehr kurzer Zeit vollbrachte Arbeit. Der oben bezeichneten Empfangsbestätigung s. Zt. entgegensehend, ersterbe ich in tiefster Ehrerbietung Eurer Königl. Majestät Berlin d. 9. Nov. 1854. allerunterthänigst treugehorsamster /: gez:/Malzen

Der Vorgang gelangte vom Schreibtisch des Königs schließlich zur weiteren Behandlung in das Staatsministerium des Innern für Kirchen- und Schul-angelegenheiten; dort hat man schließlich eine weitere Abschrift des Malsen-Briefes verfertigt und mit dem nachfolgenden Begleitschreiben vom 23. November 1854 an die dem Staatsministerium damals nachgeordnete Bibliothek weiter gereicht: Königreich Bayern Staats-Ministerium des Innern für Kirchen- und Schul-Angelegenheiten Durch die k. Gesandtschaft in Berlin sind mittels des in Abschrift /:gegen Remission angebotenen Berichtes vom 9ten 1. M. 8 Bände persischer Handschriften aus dem Nachlasse des geheimen Rathes von Schelling eingesendet worden. Die k. Hof- und Staats-Bibliothek-Direktion empfängt diese 8 Bände hieneben zur Aufbewahrung mit dem Auftrage, die von der k. Gesandtschaft in Berlin gewünschte Empfangs-Bestätigung anher vorzulegen. München, den 23ten November 1854 Auf Seiner Koeniglichen Majestaet allerhoechsten Befehl An die k. Hof- und Staats-Bibliothek-Direktion Durch den Minister der General-Sekretär Persische Handschriften aus dem Nachlasse des geheimen Raths von Schelling von BezoldBetreffend

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Die Sache findet hier aber noch nicht ihr Ende. Der nachfolgende Notenwechsel zwischen den mit dieser Angelegenheit befassten Verwaltungsebenen sei nur verkürzt wiedergegeben: Die Bibliothek schickt am 27. November – zusammen mit einem Brief an den König (d. h. das zuständige Ministerium) – eine dankende Bestätigung für den Erhalt der Handschriften. Interessant: Die beiden Schreiben (Entwürfe?) sind offenkundig während des Urlaubs des damaligen Direktors von einem Vertreter, dem Bibliothekar Krabinger unterzeichnet worden. Am 5. Dezember erinnert das Staatsministerium des Innern für Kirchen- und Schulangelegenheiten die Bibliothek daran, den Bericht der k. Gesandtschaft in Berlin, also v. Malsens, wieder zurückzuschicken. Am 7. Dezember kommt die Bibliothek dieser Aufforderung nach. Offensichtlich hat sie vor dem Rückversand die uns heute vorliegende Abschrift für sich angefertigt, weswegen es auf dem von Malsen-Brief vom 9. November »Abschrift der Abschrift« heißt. Am 11. Dezember fordert das Staatsministerium des Innern für Kirchen- und Schul-Angelegenheiten die Bibliothek auf, anzuzeigen, was der Inhalt der persischen Handschriften sei. Mit Begleitschreiben vom 12. Dezember schickt die Bibliothek die erbetene, nachfolgende Auflistung: »Inhalts-Verzeichniß der Persischen Manuscripte, welche die k. Hof- und Staatsbibliothek aus dem Nachlasse des Herrn Geh. Raths v. Schelling erhalten hat. 1. Saadi. Gulistan oder Rosengarten. 2. Ein Fragment, ohne Eingang, ohne Schluß, wahrscheinlich eine Abschrift eines Theils von Firdusi’s Schahname etc. 3. Hafis. Divan (ein Theil) 4. Aus dem Divane des Mohammed Schemseddin Hafis (2 Bändchen) 5. Aus Hafis Divan. 6. Codex Persicus bestehend aus einigen Werken Firdusi’s u. Anveri’s und ändern lyrischen Gedichten in 4. 7. Hafis. Divan.«

Die Nummern 3–7 sind mit einer Klammer und einem Sternchen für eine Fußnote versehen: »* NB. Band 3–7 sind von H. Grafen v. Platen eigenhändig geschrieben.«

IV. Fundstellen weiterer Plateniana in der Bayerischen Staatsbibliothek Da in der Nachlassverwaltung das Provenienzprinzip im Vordergrund steht, fehlen am Fach der Plateniana zahlreiche Briefe Platens, die seit geraumer Zeit zum Bestand der Bibliothek gehören. Sie sind von einzelnen Ausnahmen abgesehen, die, aus welchen Gründen auch immer, als Autographen gesondert aufgestellt sind, im wesentlichen in den Nachlässen von vormaligen Korrespondenzpartnern von

Geschichte des Platennachlasses in der Bayerischen Staatsbibliothek

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Platens zu finden. Erwähnt seien hier vor allem die Nachlässe folgender Persönlichkeiten: Justus von Liebig,14 Heinrich und Eduard von Schenk15 und Johann Leonhard Schrag.16 Der Platennachlass harrt noch einer systematischen Erschließung. Dies gilt jedoch für die meisten der sich im Besitz der Bayerischen Staatsbibliothek befindlichen Gelehrten- und Schriftstellernachlässe. Formal- und Sacherschließung heißt heute Online-Katalogisierung. Mit dem bundesweiten Projekt Kalliope und der sich daraus entwickelnden, kooperativ betriebenen gleichnamigen Datenbank hat es hier seit den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts gewisse Fortschritte hinsichtlich der Sichtbarkeit und damit indirekt auch hinsichtlich der Zugänglichkeit von Nachlässen gegeben. Diese sind aber zu bescheiden, um von einem wirklichen Durchbruch sprechen zu können. Außerdem haben sich die Ansprüche an die Zugänglichkeit und die Präsentation von Nachlassmaterialien beträchtlich gesteigert. Eine bloße Katalogisierung im Sinne der Erstellung von dann online verfügbaren Metadaten reicht den meisten Wissenschaftlern heute nicht mehr aus. Gefragt ist der möglichst direkte Online-Zugang zu den Materialien selbst. Letzteres heißt aber, dass eine Digitalisierung und anschließend eine entsprechende, komfortable Datenbereitstellung (einschl. Archivierung) erfolgen müssen. Was Not tut, ist folglich der Aufbau eines Fachportals, das die Einstellung aller Platen betreffenden, heute noch verfügbaren Dokumente erlaubt und damit eine elegante Vernetzung aller Nachlassteilbestände in den unterschiedlichsten Einrichtungen ermöglicht. Dies könnte die organisatorisch-technische Plattform für weitere Unterthemen, wie z. B. ein Modul mit einer virtuellen Platenschen Reiseroute sein. Spätestens hier ist dann die enge Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Bibliothek gefordert, zwischen Platenforschern und den Verwaltern seines Nachlasses.

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Liebigiana: 38 große, 3 flache Schachteln, 4 Mappen – Briefe von und an Liebig, Manuskripte und Konzepte, biographisches Material (Nachlassrepertorium). Schenkiana: Heinrich und Eduard von Schenk; Cgm 5108, 5109: 4 gr. Schachteln, 2 Bde.; Briefe von und an Heinrich von Schwenk, Briefe an und literarische Manuskripte von E. von Schenk (Nachlassrepertorium; Handschriftenkatalog). (1783–1858) Verlagsbuchhändler in Nürnberg. – Schragiana: 134 Schachteln = 45 lfd. m Verlagsarchiv mit Briefen an den Verlag und Geschäftspapieren (Nachlassrepertorium).

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Reisepass Platens (Bayerische Staatsbibliothek

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