Arbeiterbewegung und Nationale Frage: Ausgewählte Aufsätze 9783666359897, 9783647359892, 3525359896, 9783525359891


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Arbeiterbewegung und Nationale Frage: Ausgewählte Aufsätze
 9783666359897, 9783647359892, 3525359896, 9783525359891

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KRITISCHE STUDIE N ZUR GE SCHICHTSWISSE NSCHAFT

Herausgegeben von Helmut Berding, Jürgen Kocka, Hans-Ulrich Wehler

Band 34 Hans Mommsen Arbeiterbewegung und Nationale Frage

G Ö T T I N G E N • V A N D E N H O E C K & R U P R E C H T ■ 1979 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35989-2

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Arbeiterbewegung und Nationale Frage Ausgewählte Aufsätze

VON HANS MOMMSE N

GÖTTINGEN • VANDENHOECK & RUPRE CHT • 1979

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35989-2

Stastsetbiothek

Severleacne Mensher

ClP-Kurzûtelaufnahme der Deutschen Bibliothek Mommsen, Hans: [Sammlung] Arbeiterbewegung und nationale Frage: ausgew. Aufsätze/von Hans Mommsen. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1979. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 34) ISBN 3-525-35989-6

© Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1979. - Printed in Germany. Ohne aus­ drückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. - Satz und Druck: Guide-Druck, Tübingen. - Bindearbeit: Hubert & Co., Göttingen

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Zum Gedenken an Georges Haupt

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Inhalt Einleitung

9 TEILI: NATIONALE FRAGE UND SOZIALISTISCHE POLITIK

1. Der Nationalismus als weltgeschichtlicher Faktor. Probleme einer Theorie des Nationalismus 15 2. Sozialismus und Nation. Zur Beurteilung des Nationalismus in der marxi­ stischen Theorie 61 3. Nationalitätenfrage und Arbeiterbewegung in Mittel- und Ostmitteleuropa 81 4. Friedrich E ngels und die politische und nationale Taktik der Sozialdemo­ kratie in Österreich 102 5. Nationalismus und nationale Frage im Denken E duard Bernsteins 109

TEIL II: NATIONALITÄTENFRAGE UND ÖSTE RRE ICH-UNGARISCHE

MONARCHIE

6. Zur Beurteilung der altösterreichischen Nationalitätenfrage 7. Die Rückwirkungen des Ausgleichs mit Ungarn auf die zisleithanische Verfassungsfrage 8. Das Problem der internationalen Integration in der böhmischen Arbeiterbewegung 9. Victor Adlers Weg zum Sozialismus 10. Otto Bauer, Karl Renner und die sozialdemokratische Nationalitätenpolitik in Österreich 1905-1914

127 147 166 180 195

TEIL III: AUFSTIEG UND KRISE DE R ARBE ITE RBE WE GUNG

11. 12. 13. 14. 15.

Typologie der Arbeiterbewegung 221 Die geschichtliche Bedeutung Ferdinand Lassalles 260 Friedrich E bert als Reichspräsident 296 Die Bergarbeiterbewegung an der Ruhr 1918-1933 318 Sozialdemokratie in der Defensive. Der Immobilismus der SPD und der Aufstieg des Nationalsozialismus 345 16. Die deutschen Gewerkschaften zwischen Anpassung und Widerstand 1930-1944 366

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Abkürzungsverzeichnis

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Anmerkungen

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Verzeichnis der ersten Druckorte

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Personenregister

424

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Einleitung Die in diesem Bande enthaltenen Aufsätze gruppieren sich um drei Themenkomplexe: Die Bedeutung des Nationalismus im Zeitalter der Durchsetzung der Industriegesell­ schaft, die vielerörterte Frage der Lebensfähigkeit bzw. Strukturkrise der österrei­ chisch-ungarischen Monarchie und das Verhältnis der sozialistischen Arbeiterbewe­ gung zu nationalistischen und faschistischen Mobilisierungsstrategien. Der Zusam­ menhang dieser Thematik ergibt sich gutenteils aus der Sache selbst. Die Nationalitä­ tenfragen hatten entscheidend dazu beigetragen, daß die Habsburgische Monarchie in eine schwere innere Krise hineintrieb, welche den Vorwand und Anlaß zur Auslösung des Ersten Weltkrieges lieferte. Dieser wiederum machte den Zerfall des Kaiserstaates unabwendlich. Die nationale Frage erschwerte eine Lösung der seit der Revolution von 1848 offenen Verfassungsprobleme. Die mangelnde Reformierbarkeit in der ge­ samtstaatlichen Verfassung wie derjenigen Zisleithaniens und Transleithaniens haben, wie in einem Beitrag deutlich werden wird, auch als selbständiger Faktor zum Zerfall der Monarchie beigetragen. Was den dritten Themenkomplex angeht, so knüpfte sich dieses Interesse an meine Studien über die Nationalitätenfrage und die sozialdemokratische Arbeiterbewegung im zisleithanischen Österreich. E inige der nachfolgend abgedruckten Aufsätze zielen darauf ab, das Spannungsverhältnis von nationaler und sozialer Emanzipation und na­ tionaler Loyalität und internationaler Solidarität des Proletariats historiographisch fruchtbar zu machen. Für die abgedruckten Beiträge gilt als Leitthema die Dichotomie zwischen dem ver­ gleichsweise rationalen Charakter der Interessenartikulierung des sich emanzipieren­ den Proletariats und der sozialdemokratischen Agitation überhaupt und der sich einer vordergründigen interessenpolitischen Analyse entziehenden und offenbar nicht mit ökonomisch-materiellen Faktoren primär korrelierbaren Kraft des Nationalismus. E s ist kein Zweifel, daß die mitteleuropäische Arbeiterbewegung - und hier insbesondere die Sozialdemokratische Gesamtpartei im zisleithanischen Österreich - durch ihr ent­ schiedenes E intreten für die internationale Solidarität, durch die Zurückweisung von nationalem Chauvinismus und die Perzeption von supranationalen Formen des Zu­ sammenlebens der Völker ein bleibendes historisches E rbe hinterlassen hat, das in der gegenwärtigen Welt, in der die Nationalismen gerade nicht rückläufig sind, vorbild­ hafte Bedeutung besitzt. Andererseits wird niemand bestreiten, daß die Vorkämpfer des demokratischen Sozialismus, ja die sozialistische Theorie und Praxis überhaupt, die Bedeumng des Nationalismus für die Arbeiterschaft unterschätzt haben. Gerade in den Jahren vor dem E rsten Weltkrieg hat die Mobilisierung nationalistischer Stimmungen gegen die Sozialdemokratie deren politischen E influß ernstlich beeinträchtigt und ihre innere Geschlossenheit zusätzlichen Belastungen ausgesetzt, wobei die sich seit 1905 ver9

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schärfenden Flügelkämpfe in den allgemeinen sozioökonomischen und ideologischen Strukturwandel der imperialistischen E poche, damit auch die Dominanz eines inte­ gralen Nationalismus, hineingestellt werden müssen. E s ist nicht zu leugnen, daß ge­ rade der hybride Nationalismus der imperialistischen Phase die Arbeiterschaft und organisierte Arbeiterbewegung, abgesehen von einer kleinen Gruppe entschlossener linksstehender Sozialisten und einer noch kleineren Gruppe von Pazifisten, quer durch E uropa in seinen Bann gezogen hat. Demgegenüber ist zu beachten, daß der nationale Gedanke die Geschichte E uropas im 19. und noch im 20. Jahrhundert vielfach in ambivalenter Weise beeinflußt hat. Gerade bei den kleinen Nationen und bei den Nationalitäten des Habsburgischen Kaiserstaates zeigten sich auch die sozial und politisch emanzipatorischen Funktionen des nationalen Gedankens, der freilich eben nicht als einmal benützter Katalysator wieder beiseite geschoben werden konnte, sondern mit seinen Vorteilen auch seine gravierenden Nachteile überall zur Durchsetzung brachte, wie im besonderen die Zu­ spitzung der deutsch-tschechischen Frage seit den 90er Jahren beweist. Auf reichsdeutscher Seite sind allzu gern, im Anschluß an die Vorstellungen der sozialdemokra­ tischen Führungsgruppe vor dem E rsten Weltkriege, die nationalen Bestrebungen der kleineren europäischen Nationen und ihrer Arbeiterbewegungen pauschal als Bruch mit dem internationalen Prinzip verurteilt worden. Dahinter verbarg sich vielfach ein naiver deutscher Nationalismus. Dieser nahm internationale Prinzipien in Anspruch, um verdeckt bleibende imperialistische Zielsetzungen, wie wir sie auch in der Mittel­ curopa-Idcc vorfinden, stillschweigend oder explizit zu rechtfertigen. Gerade von heute her wird man die Bedeutung nationaler E manzipationsbewegun­ gen, selbst wenn sie extrem nationalistische und partiell zerstörerische Kräfte freiset­ zen, weit abwägender beurteilen. E ntgegen den E rwartungen der frühen 50er Jahre unseres Jahrhunderts, daß zumindestens E uropa aus dem Zeitalter des Nationalismus endgültig herausgetreten sei, haben nationale Strömungen ein großes politisches Ge­ wicht behalten, auch wenn man hoffen kann, daß die Wiederkehr hybrider nationali­ stischer Ressentiments, die die imperialistische E poche kennzeichneten und den Hin­ tergrund für den Sieg der faschistischen Bewegungen darstellten, jedenfalls in der E in­ flußzone der westlichen Industriestaaten die Ausnahme bilden wird. In der Dritten Welt, zugleich in den sozialistischen Ländern, spielen nationale Faktoren eine zen­ tralepolitische Rolle, und manches spricht dafür, daß deren Bedeutung noch zuneh­ men wird. E s erscheint nicht als Zufall, daß das Interesse gerade an den nationaíitätenpolitischen E ntwürfen der austromarxistischen Schule im letzten Jahrzehnt nicht nur im Westen stark angestiegen ist. Das Stalin'sche Verdikt gegen Otto Bauer, das ursprünglich von Lenin aus taktischen Motiven inspiriert gewesen war, scheint still­ schweigend zurückgezogen zu werden, und zwar in dem Maße, mit dem die nationa­ len Unabhängigkeitsbewegungen einen anderen Verlauf nehmen, als die Leninisten ursprünglich erhofften. Diese Bemerkungen dienen der allgemeinen E inordnung der nachfolgenden Studi­ en, die die erwähnten Probleme von unterschiedlichen Aspekten her aufgreifen und die zu verschiedenen Zeitpunkten entstanden sind. E s war nicht ratsam, etwa durch die Nachtragung der neueren Literatur Veränderungen vorzunehmen, hätte dies doch 10

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nur die situationsgebundenen Akzentsetzungen eingeebnet. Nur in dem Beitrag „Sozialdemokratie in der Defensive“ sind einige statistische Angaben über die in Ju­ gendverbänden organisierten Jugendlichen korrigiert und ergänzt worden. Hingegen sind die Titel der Aufsätze in einigen Fällen präzisiert und ihre Titelei der veränderten Publikationsform angepaßt worden'. Der Beitrag über ,,Nationalismus und nationale Frage im Denken E duard Bernsteins“ ist hingegen grundlegend erweitert und er­ gänzt. Was die Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung angeht, so gehen sie aus von einem Versuch der Typologisierung, der gegen die häufig ganz unreflektiert ver­ tretene Tendenz gerichtet ist, die westeuropäische Arbeiterbewegung, aber auch die Arbeiterbewegungen in der Dritten Welt, ausschließlich oder überwiegend von Kate­ gorien und Ordnungsvorstellungen her zu begreifen, die an der Geschichte der deut­ schen Sozialdemokratie gewonnen bzw. vom Leninismus übernommen und den be­ sonderen Verhältnissen Rußlands angepaßt worden sind. Die spezifische Form der sozialdemokratischen Bewegung stellt vielmehr hier eine Anomalie dar, die mit dem Fehlen einer breiten liberalen Bewegung in Deutschland trotz fortgeschrittener Indu­ strialisierung zusammenhängt und den Primat staatlicher Initiativen im gesellschafts­ politischen Bereich widerspiegelt. Die daran anschließenden Aufsätze sind der Bemühung gewidmet, eine Reihe der Ursachen darzulegen, die dafür maßgebend waren, daß die organisierte Arbeiterbe­ wegung, die sozialdemokratischen Parteien wie die freien Gewerkschaften, unter den Bedingungen der Zwischenkriegszeit in eine Defensive gedrängt wurden und daß sie sich nicht gegenüber den faschistischen Bewegungen, die ihre Mittel imitierten und pervertierten, zu behaupten vermochten, obwohl sie die einzige wirkliche Gegenkraft angesichts fortschreitender Anpassungsbereitschaft des in sich ohnedies zerfallenden bürgerlichen Lagers darstellten. Auch hier stand politische Rationalität gegen politischen Irrationalismus. Gewiß war die emanzipatorische Funktion der modernen Arbeiterbewegung niemals auf die bloße Wahrnehmung von sozialen und ökonomischen Interessen der sich formieren­ den Industriearbeiterschaft beschränkt. Stets stand hinter diesen Klasseninteressen ein bestimmter anthropologischer und humanistischer E ntwurf, der erst eigentlich die Durchsetzungskraft des sozialistischen Gedankens unter noch so verschiedenen so­ zialen Bedingungen zu erklären vermag. Aber gerade indem die Arbeiterbewegung, mit ihren so unterschiedlichen E rscheinungsformen, in dieser Hinsicht der konse­ quente E rbe des Liberalismus wurde, der gerade unter mitteleuropäischen Bedingun­ gen seiner historischen Funktion untreu wurde, stellte sich für diese das Problem un­ gleichmäßiger und „ungleichzeitiger“ Modernisierung. E rnst Bloch hat frühzeitig die Kehrseite des raschen Industrialisierungsprozesses gerade in der Mitte E uropas be­ schrieben, indem er die Bedeutung gesellschaftlicher Residuen herausarbeitete. Mit 1 „Nationalismus, Nationalitätenfrage“ in „Typologie und Theorie des Nationalismus“; „Nationalitätenfrage und Arbeiterbewegung“ in „Nationalitätenfrage und Arbeiterbewegung in Mittel- und Ostmitteleuropa“; „Arbeiterbewegung“ in „Typologie der Arbeiterbewegung“; „Am Beispiel Victor Adlers“ in „Victor Adlers Weg zum Sozialismus“; „Lassalle“ in „Die ge­ schichtliche Bedeutung Ferdinand Lassalles.'“ 11

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dem Begriff der historischen Ungleichzeitigkeit beschrieb er das Nebeneinander von modernen und traditionalen E lementen, von zukunftsweisenden Impulsen und ge­ schichtlichen Belastungen. In der politischen Vernachlässigung dieser Problematik erblickte er eine wesentliche, wenn auch innerlich begreifliche Ursache für die Nie­ derlage der Arbeiterbewegung gegenüber dem Faschismus. Die Dimension dieser Problematik reicht, wie die Bemühungen der Modernisierungstheorie zeigen, bis in die Anfänge der Industrialisierung zurück. Der damit angesprochene Problemkom­ plex stellt eine zentrale historiographische Aufgabe dar, die hinter der Analyse der en­ geren E ntstehungs- und Durchsetzungsursachen der faschistischen Bewegungen nicht vernachlässigt werden darf. Die in diesem Band versammelten Beiträge mögen insoweit auch als Bausteine und einzelne Facetten einer Gesamtanalyse dieses Pro­ blems unter dem Blickpunkt des Verhältnisses von nationaler Frage und Arbeiterbe­ wegung aufgefaßt werden. Den Herausgebern ist für die Anregung, einen solchen Aufsatzband zu veröffentli­ chen, dem Verlag für die entsprechende Publikation, Bärbel Huckenbeck, Barbara Dorn, Monika Korn und Anne-Marie Barton für ihre Hilfe herzlich zu danken. Ich widme dieses Buch Georges Haupt, dem Historiker der Arbeiterbewegung, dessen Arbeiten sich mit den nachstehenden Beiträgen in vielem berühren und dem ich reiche Anregung und temperamentvollen geistigen Austausch verdanke. Georges Haupt ist am 14. März 1978 ganz unerwartet aus einem vielseitigen und ungewöhn­ lich fruchtbaren Forschcrleben gerissen worden. Bochum, im Februar 1979

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H. M.

Teil I

Nationale Frage und sozialistische Politik

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1. Der Nationalismus als weltgeschichtlicher Faktor P r o b l e m e einer Theorie des Nationalismus

1. Der Nationalismus als Forschungsproblem Die Durchsetzung des nationalstaatlichen Prinzips und die bestimmende Rolle des Nationalismus seit dem Zeitalter der Französischen Revolution stellt, ihrem Ur­ sprung nach, eine europäische E rscheinung dar. Die nationalrevolutionäre Formel des Selbstbestimmungrechts der Völker ist jedoch in ihrer politischen Sprengkraft nicht auf den europäischen Raum begrenzt geblieben, sondern hat - analog zur euro­ päischen Ausbreitung über die E rde - das politische Denken der Führungsschichten der im Zug der Aufhebung der Kolonialherrschaft emanzipierten ehemaligen Kolo­ nialländer maßgeblich beeinflußt. Die E rwartung, daß die Übersteigerung des natio­ nalen Gedankens durch die imperialistische Politik der faschistischen Regime das Ende der E poche des bürgerlichen Nationalismus einleiten werde, ist nicht in E rfül­ lung gegangen; das Zentrum seiner Wirksamkeit verlagerte sich nur vom europä­ ischen Kontinent in die E ntwicklungsländer. In beschleunigter Form, gewiß mit er­ heblichen sozialen und politischen Modifikationen, scheinen sich hier die nationalen Kämpfe und Bewegungen des alten E uropa zu wiederholen und gleichartige Nationa­ litätenprobleme aufzutreten. Die Zahl der Nationalstaaten hat sich seit 1945 mehr als verdoppelt, und vieles spricht dafür, daß nationale Separationsbewegungen in Zu­ kunft E rfolg haben werden. In E uropa haben sich die nationalen Tendenzen, die nach dem 2. Weltkrieg abzu­ klingen schienen, ebenfalls neu belebt, obwohl ihnen die Virulenz des integralen Na­ tionalismus abgeht und ihre politische Bedeutung im Zeichen supranationaler wirt­ schaftlicher Zusammenschlüsse und der militärischen Bündnisbeziehungen im westli­ chen wie im sozialistischen Lager rückläufig ist. Die E rwartung, das Bewußtsein na­ tionaler E igenständigkeit werde sich bei den europäischen Nationen des westlichen Lagers in einen europäischen Regionalismus zurückbilden, wie sie E . H . Carr nach dem 2. Weltkrieg ausdrückte, ist durch die weitere E ntwicklung nur begrenzt bestä­ tigt worden. Unter Ch. de Gaulle erfuhr der französische Nationalismus eine Neube­ lebung, und die gaullistische Formel vom „E uropa der Vaterländer“ lenkte zu den Auffassungen der Europabewegung der zwanziger Jahre zurück. Die klassischen eu­ ropäischen Nationalitätenkonflikte, soweit sie nicht durch die Westverschiebung Po­ lens und die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus der ostmitteleuropäischen Völkermischzone gewaltsam bereinigt wurden, sind zwar unter den gegebenen welt­ politischen Bedingungen nicht länger als Krisenfaktoren anzusehen; gleichwohl kön15

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nen sie nicht als endgültig gelöst bezeichnet werden. Sie sind Ansatzpunkt für unter­ schwellige nationale Gegensätze, die bei veränderten machtpolitischen Konstellatio­ nen neu aufbrechen können. Für die Kontinuität des Nationalismus als politischer Faktor spricht auch die E r­ scheinung, daß gerade im Zusammenhang mit der faktischen Preisgabe von Teilen der nationalstaatlichen Souveränität längst erledigt scheinende Nationalismen, die als re­ gionale Sonderbewegungen galten - wie die flämische, die wallisische, die irische, die jurassische, möglicherweise die baskische und die bretonische Bewegung - politische Virulenz gewinnen. Daneben sind E igenständigkeitsbestrebungen der französisch sprechenden Kanadier und als Reaktion darauf ein verstärktes inneramerikanisches Nationalbewußtsein Kanadas zu verzeichnen. Inwieweit es der Sowjetunion gelingen wird, die Integration der nichtgroßrussischen Nationalitäten vermittels der bestehen­ den föderativen Verfassung zu sichern, wird erst erkennbar sein, wenn im Zug der wirtschaftlichen Fortentwicklung die noch überwiegend vorindustrielle Struktur wei­ ter Bereiche zurückgetreten ist. Gerade die jüngsten Entwicklungen zeigen, daß der Nationalismus keineswegs aus­ schließlich als historisches Pendant des bürgerlichen Kapitalismus gewertet werden darf. Die Vorgänge in den ehemaligen Kolonialländern haben das Anschauungsmate­ rial zum Studium des Nationalismus beachtlich vermehrt. Zwar besteht in vieler Be­ ziehung eine bemerkenswerte Übereinstimmung mit der europäischen E ntwicklung im 19. Jahrhundert, aber E xtremformen, wie die E xistenz von Nationalismen ohne Nation, lassen ein breiteres Beobachtungsspektrum zu; zugleich ermöglicht ein ver­ feinertes sozialpsychologisches Instrumentarium, zusammen mit empirischen Feld­ studien, eine detaillierte Analyse der Formen und Bedingungen des Nationalismus. Insbesondere die Sozialwissenschaften haben in den letzten Jahrzehnten dem Pro­ blem des Nationalismus größte Aufmerksamkeit zugewandt und damit die histori­ sche Nationalismus-Forschung neu befruchtet. Der enge Zusammenhang der Natio­ nalismus-Forschung - als wichtiger Zweig der E ntwicklungsländerforschung - mit der E ntwicklungspolitik ist dabei unverkennbar. Die politischen Vorgänge in den Entwicklungsländern zwingen die hochentwickelten Industrieländer, die eigene ge­ schichtliche E rfahrung, die maßgeblich vom Nationalismus bestimmt ist, aufzuarbei­ ten und daraus konkrete Rückschlüsse über die mußtmaßliche E ntwicklung der neuen Nationalstaaten zu gewinnen. Generationen von Historikern und Sozialwissenschaftlern haben die Frage zu be­ antworten versucht, unter welchen Bedingungen Nationalismus entsteht, welches die spezifischen sozialen Träger nationaler Bewegungen sind und wie der Nationalismus bzw. der moderne Nationalismus von verwandten ideologischen und sozialen Inte­ grationsmustern, insbesondere religiösen Solidaritäten zu unterscheiden ist. Die Stu­ fen der Nationalismus-Forschung korrespondieren mit jeweils dominanten zeitge­ schichtlichen E rfahrungen. Unter dem E indruck des E rsten Weltkrieges und der na­ tionalen Spannungen der Zwischenkriegszeit vollzog eine Reihe von Forschern eine ausdrückliche Abkehr vom nationalen Denken der Vorkriegszeit. Der Nationalismus erschien nicht länger als selbstverständlicher Ausdruck einer gegebenen nationalen Kultur, der Nationalstaat nicht mehr als notwendiges E rgebnis der historischen E nt16

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wicklung, die Nation nicht als oberster säkularer W e n . Die damit vollzogene histori­ sche Relativierung des Nationalismus, der als Erscheinung einer bestimmten, jedoch nicht abgeschlossenen Zivilisationsphase betrachtet wurde, schuf die Voraussetzung für die vergleichende Nationalismus-Forschung. Die Ausgangspositionen des 19. Jahrhunderts wirkten jedoch in der Diskussion nach. E inerseits betraf dies die vorwiegend ideengeschichtliche Ableitung des Natio­ nalismus, andererseits blieb die in den zwanziger Jahren präzisierte Unterscheidung zwischen subjektivem und objektivem Prinzip, zwischen westlichem und östlichem Nationalismus auch in denjenigen Ansätzen erhalten, die eine universalgeschichtliche Interpretation anstrebten und die europazentrische Betrachtung des Problems zu überwinden suchten. E benso verharrte die Forschung bei einem evolutionären E nt­ wicklungsgedanken, der sich teils von der Hegeischen Geschichtsphilosophie, teils vom westlichen Positivismus herleitete und den Prozeß nationaler E manzipation als gegeben hinnahm und damit einem ideologischen Verständnis der Nationsbildung Vorschub leistete. Vor und während des Zweiten Weltkrieges gewann die Auffassung an Boden, daß der Nationalismus als bestimmende E rscheinung der europäischen Geschichte rezes­ siv geworden sei. Zugleich vermehrten sich die Stimmen, die Nationalismus mora­ lisch verwarfen und als moral insanity verurteilten (E . Fromm). Der Nationalismus und die Entstehung neuer Nationen in der Dritten Welt haben diese Erwartungen je­ doch widerlegt und zahlreiche bis dahin als gesichert geltende Annahmen relativiert. Die Anziehungskraft des Nationalismus für die dekolonisierten Länder wie die quasi­ kolonialen Gebiete hat alle Erwartungen übertroffen und eine Reihe von Forschern zu der Prognose veranlaßt, daß ein universaler Prozeß nationaler Revolution, ausgehend von E uropa, die gesamte E rde ergriffen habe und unaufhaltsam fortschreiten werde. Diese mit den E rgebnissen zahlreicher Feldstudien korrespondierende Annahme hat der Frage neues Gewicht verliehen, ob Nationalismus als emanzipatorische Bewe­ gung zu begreifen und mit demokratischen Strukturen vereinbar ist oder autoritäre bzw. totalitäre Herrschaftsformen notwendig begünstigt. Zugleich haben die E rfahrungen in den E ntwicklungsländern das Problem der so­ zialen Grundlage des Nationalismus und der Abgrenzung von bloßer Xenophobie neu gestellt und die Schwierigkeit deutlich werden lassen, die einer abschließenden Definition des Begriffs der Nation entgegensteht. Die Bandbreite der E rfahrungswelt ist erheblich erweiten worden: Nationen ( z . B . Pakistan) als willkürliche Schöpfun­ gen, ohne gemeinsame ethnische, religiöse, sprachliche oder historische Grundlagen, relativieren das objektive Nationalitätsprinzip; Nationalismen ohne die Existenz von Nationen, d.h. auf sie bezogene politische Systeme, relativieren das subjektive Prinzip. Erscheinungen dieser Art lenkten das Interesse auf die Frage der Nationsbildung. Damit erweiterte sich die Untersuchung der Grundlagen und E rscheinungsformen des Nationalismus zu einer Analyse der E ntstehung gesellschafdicher Systeme schlechthin. Die Erforschung der nation-building ist damit in einen wesentlich breite­ ren Kontext gerückt, bezieht sich nicht nur auf die E ntstehung moderner National­ staaten, sondern auf die Ausbildung gesellschaftlicher Systeme überhaupt; sie er17 2

Mommsen, Arbeiterbewegung

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scheint als entscheidende Phase von Sozialisation und gesellschaftlicher Transforma­ tion unter dem E influß von Industrialisierung und Modernisierung. Das Nationalis­ mus-Problem gewinnt in einem so weit gespannten Bezugsrahmen grundlegende Be­ deutung für eine Neubestimmung des westlichen historisch-politischen Selbstver­ ständnisses, zumal die nationalen Bewegungen in den E ntwicklungsländern als Reak­ tion auf die Herausforderung durch die westlichen Industrieländer verstanden wer­ den müssen und durch die Ambivalenz von grundsätzlicher Ablehnung westlicher Einflüsse bei gleichzeitiger Adaption an die gesellschaftlichen Systeme der modernen Industrieländer geprägt sind. Westliche Forscher räumen offen ein, daß trotz verstärkter interdisziplinärer Zu­ sammenarbeit und zahlloser Einzelstudien, die unsere Kenntnis namentlich der nicht­ europäischen Nationalismen erheblich erweitert haben, eine befriedigende Beantwor­ tung der Frage noch aussteht, worauf die E ntstehung des Nationalismus im vorrevo­ lutionären E uropa zurückzuführen ist und welche E ntwicklung er einschlagen wird 1 . Wohl besteht E inigkeit darüber, daß Nationalismus trotz unterschiedlicher sozialer und historischer Bedingungen ein einheitliches Phänomen darstellt; aber bereits in der Frage, ob es sinnvoll ist, eine übergreifende Definition, d.h. Theorie des Nationalis­ mus anzustreben, differieren die Ansichten. E bensowenig ist über die Frage E inmü­ tigkeit erzielt worden, von welcher geschichtlichen Phase an von Nationalismus ge­ sprochen werden kann. E ine Reihe von Autoren sucht sich diesem Problem durch eine definitorische Abgrenzung zwischen Nationalismus und Patriotismus zu entzie­ hen, andere lassen mit der Begriffsbildung moderner Nationalismus Vorformen des nationalen Bewußtseins zu oder eliminieren das Problem, indem sie ausschließlich nach den sozialen Grundlagen der Nationsbildung fragen und den Nationalismus als von der Nation unmittelbar abzuleitenden ideologischen Faktor werten. Die Schwierigkeiten, die einer einheitlichen Theorie des Nationalismus entgegen­ stehen, treten klar hervor, wenn man versucht, die wichtigsten Ansätze der modernen Nationalismus-Forschung typologisch zu beschreiben. E s handelt sich dabei um Theorien von unterschiedlicher Reichweite; bemerkenswert erscheint, daß deren Generalisierungsgrad in historisch aufsteigender Linie zunimmt, womit sich der Nach­ teil verbindet, daß die analytische Schärfe im konkreten Anwendungsfall nachlaßt. Bevor man diesen Ansätzen nachgeht, ist es notwendig, die Anforderungen anzuge­ ben, die an eine interdisziplinär anwendbare Theorie des Nationalismus zu stellen sind. E ine solche Theorie muß vor allem: 1. den Nationalismus hinreichend gegen­ über religiösen und ideologischen Strömungen abgrenzen, die vergleichbare Soli­ daritätshaltungen erzeugen, diesen jedoch transzendieren; 2. Formen spezifisch vor­ nationalen landschaftlichen Zusammengehörigkeitsbewußtseins (Patriotismus, Stammesbewußtsein, Heimatgefühl) und bloßer Fremdenfeindschaft (Xenophobie) ausschließen; 3. die sozialen Bedingungen angeben, unter denen Nationalismus ent­ steht und politische Virulenz entwickelt, und damit auch das Verhältnis zwischen Na­ tionalismus und Nation bzw. Nationalität bestimmen; 4. die nationalen Bewegungen des neuzeitlichen E uropa ebenso umfassen wie die nationalen Unabhängigkeitsbewe­ gungen der E ntwicklungsländer; 5. eine historisch abgestützte Typologie der ver­ schiedenen inhaltlichen Ausprägungen des Nationalismus enthalten. 18

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Die Nationalismus-Forschung ist bis in die Gegenwart in starkem Maß von einer vergleichsweise traditionellen, geistesgeschichtlich-deskriptiven Analyse des Natio­ nalismus ausgegangen und insbesondere darauf gerichtet gewesen, eine historische Typologie nationaler Bewegungen zu entwickeln. Dabei überwiegt eine vom westli­ chen Nationsverständnis ausgehende Methode. Ihr steht eine stärker vom objektiven Nationsbegriff geprägte Forschungsrichtung gegenüber, die den Nationalismus in engem Zusammenhang mit der Herausbildung moderner Nationen analysiert und ideengeschichtliche mit soziologischen Kategorien in Verbindung zu bringen sucht. Von dieser überwiegend historischen Betrachtungsweise hebt sich eine Reihe neuerer, primär soziologischer Analysen ab, die, wie besonders die Schule von K. W. Deutsch 2 , interdisziplinär vorgehen. Daneben fehlt es nicht an sozialpsychologischen Erklärungsversuchen. Bei allen Analysen tritt die Schwierigkeit hervor, daß Nationa­ lismus sich einerseits als soziale Bewegung darstellt, andererseits als spezifische, in­ haltlich freilich keineswegs eindeutige Ideologie, beide Aspekte jedoch nur begrenzt zur Deckung gebracht werden können. Die notwendig unterschiedlichen nationalen Züge der Nationalismen haben K. B. Minogue dazu bewogen, die Selbständigkeit des Nationalismus als universale E r­ scheinung in Zweifel zu ziehen und ihn nur als „Komplex von Ideen“ jeweils unter­ schiedlicher Färbung zu bezeichnen, die sich ebensowenig wie ihre konkreten Wir­ kungen in eine Theorie zusammenfassen lassen 3 . Damit ist jedoch das Problem der vergleichenden Analyse des Nationalismus nur auf eine andere E bene verlagert. Zu­ gleich wirft die Ungleichzeitigkeit der E ntstehung nationaler Bewegungen grundle­ gende methodische Probleme auf. Die Verschiedenheit der sozialen, politischen, gei­ stigen Bedingungen, unter denen der europäische Nationalismus im Vergleich zu dem der neuen Nationen entstanden ist, läßt sich mit einer globalen Theorie der histori­ schen Phasenverschiebungen nur schwer bewältigen; für einen exakten interkulturel­ len Vergleich fehlen zudem vielfach die konzeptionellen Voraussetzungen. Zugleich erschwert die Akzeleration des historischen Prozesses die vergleichende Analyse. Zwar hängt die Geschichte des Nationalismus mit dieser offenbar eng zu­ sammen: langfristigen, über mehrere Jahrhunderte sich erstreckenden Nationsbil­ dungen, die der Nationalismus gleichsam fertig vorfindet, folgen zunehmend kurzfri­ stigere nationale E manzipationsbewegungen, die erst sekundär nationalstaatliche Tradition schaffen. Gerade die Sprunghaftigkeit der Nationsbildungsprozesse in den Entwicklungsländern deutet auf einen qualitativen Wandel der sozialen und politi­ schen Voraussetzungen, der vor allem auf der ökonomisch, politisch und ideologisch hervortretenden globalen Interdependenz zu beruhen scheint.

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2. F r ü h e E ntwicklungsstufen des N a t i o n a l i s m u s Nationalismus hat es nicht immer gegeben. In der Antike finden sich zwar ausge­ prägte Bekundungen der Fremdheit gegenüber nicht zum eigenen Kulturkreis gehö­ renden ethnischen Gruppen, aber es fehlt jede Tendenz zu kultureller Ausschließlich­ keit und ethnischer Absonderung. Nur das Judentum weist mit der „Idee der Auser­ wähltheit eines Volkes“, dem „Bewußtsein einer nationalen Geschichte“ und einem „nationalen Messianismus“ 4 Züge auf, die im Nationalismus eine Parallele besitzen. Hingegen sind für das Mittelalter bestimmte Vorformen des späteren Nationalismus zu konstatieren, die sich von diesem jedoch insofern abheben, als sie in ein unbestrit­ tenes, universalistisches Weltverständnis eingebettet sind und daher keine selbstän­ dige Wirkung entfalten können. Das gilt auch für die Formen nationalen Bewußtseins im späten Mittelalter und in der Renaissance. Im Hundertjährigen Krieg spielten na­ tionale Faktoren nur eine marginale Rolle und blieben unter monarchischer Loyalität verborgen. Die unzweifelhaft nationalistischen Züge im Hussitismus, der moderne soziale Emanzipationsbewegungen antizipiert, lösen sich nicht von der konfessionel­ len Zielsetzung. Seit der Renaissance wird die Herausbildung eines säkularen Nationalbewußtseins deutlich sichtbar, wenn auch in unterschiedlicher Intensität, die bald von der stän­ disch-absolutistischen Verfassung zurückgedrängt wird. Die Reformation setzte un­ bezweifelbar nationale Tendenzen frei, die jedoch durch die sozialen Konflikte des Bauernkrieges und durch die Gegenreformation rasch wieder überdeckt wurden. Ebenso blieb der Ansatz eines gemeinitaiienischen Nationalbewußtseins, der Dante d'Alighieris E ntdeckung der Volkssprache als Literatursprache zugrunde liegt, ohne unmittelbare Folgen. Dasselbe gilt für die im 16. Jahrhundert vielfältig hervortreten­ den Äußerungen eines deutschen Gemeingefühls, das mit dem Vordringen des fran­ zösischen E influsses im 17. und 18. Jahrhundert in die volkstümliche Kultur absank. Sowohl ein Bewußtsein nationaler (und sprachlicher) E igenart, d. h. der Nationali­ tät, wie ein über den partikulären Territorialstaat hinausreichender Patriotismus fin­ den sich im 18. Jahrhundert, komplementär zum Kosmopolitismus der Aufklärung in breiten Kreisen der Bevölkerung, nicht allein in der bürgerlichen Bildungsschicht. Im Pietismus, der als Unterströmung zum Rationalismus erhebliche Breitenwir­ kung entfaltete, sind wesentliche E lemente des modernen Nationalismus vorge­ prägt. Die Forschung datiert daher die Entfaltung des Nationalismus in der Regel in die Mitte des 18. Jahrhunderts und erblickt in der Französischen Revolution den Zeitpunkt, an dem der Nationalismus als maßgebender politischer Faktor wirksam geworden ist. E . Kedourie beschreibt hingegen den Nationalismus als Erfindung des beginnenden 19. Jahrhunderts und als Synthese von französischem Jakobinismus und deutschem Idealismus. Die Deutung des Nationalismus als Kennzeichen des postrevolutionären E uropa richtet sich gegen die vor allem von der deutschen Forschung 5 entwickelte Vorstel­ lung eines allmählichen Wachstumsprozesses, der von der Bindung an Familie und Stamm über den territorialstaatlichen Patriotismus zur vollen E ntfaltung des Natio­ nalbewußtseins führt. Insbesondere angelsächsische Autoren heben hervor, daß der 20

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Nationalismus - im Unterschied zum Bewußtsein der Nationalität- der spezifischen Konstellation des ausgehenden 18. Jahrhunderts in E uropa entsprang. E r ist demzu­ folge ein Komplexphänomen, das verschiedene schon vorhandene, aber auch unab­ hängig vorî den modernen nationalistischen Bewegungen denkbare ideologische Komponenten bzw. Bewußtseinsinhalte verknüpfte. C. Hayes, der zusammen mit H . Kohn als Nestor der modernen, historischen Nationalismus-Forschung gelten kann, definierte: „Im modernen Nationalismus kommen zwei sehr alte Phänomene, Nationalität und Patriotismus, stark übertrieben zum Ausdruck“ 6 , und sprach in ei­ nem anderen Zusammenhang von einer „Kombination von Nationalität, National­ staat und nationalem Patriotismus“ 7 . Ähnlich betont Kohn, daß Nationalismus nicht mit dem ihm vorausliegenden Nationalbewußtsein verwechselt werden dürfe. E ine „Idee des Nationalismus“ glaubt Kohn schon in der griechischen und jüdischen Ge­ schichte erblicken zu können; der seit dem Spätmittelalter herausgebildete National­ staat stelle den „wichtigsten äußerlichen Faktor“ zur Bildung einer Nationalität dar 8 . Unter modernem Nationalismus, den er mit dem „Zeitalter des Nationalismus“ als er­ ste Epoche „mit einer universalen Geschichte“ 9 in Zusammenhang bringt, begreift er hingegen eine „Geisteshaltung der Bevölkerung“ 10 , welche die Idee der Volks­ souveränität, die Herausbildung des modernen zentralistischen Staates und den Aufstieg des Dritten Standes zur Voraussetzung habe. Nationalismus ist diesen Inter­ pretationen zufolge, die im Kern von den zeitgenössischen Historikern übernommen werden, ein Syndrom von Vorstellungen, das erst im Feuer der demokratischen Revo­ lution zusammengeschmiedet wurde. B. C. Shafer 11 bezeichnet daher die Anwen­ dung des Begriffs „Nationalismus“ auf E reignisse vor dem 18. Jahrhundert als Ana­ chronismus. Die Bestimmung des Nationalismus als spezifisch neuartige, mehrheitliche Be­ wußtseinshaltung lehnt sich an den klassischen westlichen Nationsbegriff an, wie er von E . Renan mit der Formulierung desplébiscite de tons les jours und in den zwanzi­ ger Jahren von R. Johannet 12 vorgetragen wurde, und betrachtet die freiwillige E nt­ scheidung des einzelnen für die nationale Loyalität als Kriterium. Beides erscheint an­ gesichts der beträchtlichen manipulativen Möglichkeiten des Nationalismus und der Tatsache, daß wichtige Teilgruppen innerhalb der europäischen Nationalstaaten, vor allem Bauernschaft und Proletariat, zunächst national indifferent eingestellt waren, als wenig überzeugend. Die Entwicklung der neuen Nationalismen bietet reiches An­ schauungsmaterial dafür, daß Nationalismus nicht als subjektives Bekenntnis der großen Mehrheit der Bevölkerung zur nationalen Großgruppe aufgefaßt werden kann. Überdies ist die ideologiegeschichtliche Abgrenzung zwischen Nationalismus und Patriotismus, die sowohl Hayes wie Kohn, wenngleich mit wechselnder Termi­ nologie, vornehmen, nicht voll einleuchtend. Denn die Ersetzung traditionaler Legi­ timierungsmuster für staatliche Herrschaft durch die nationale Loyalität, die sich in der Französischen Revolution vollzog, war erst möglich, nachdem sich durch die bürgerliche Emanzipation und Entstehung eines inneren Marktes ein breites Potential nationaler Solidarität gebildet hatte; dieses Kontinuum überregionaler Gruppenbe­ ziehungen läßt bei starken ideologiegeschichtlichen Differenzierungen im einzelnen eine Tendenz aufsteigender sozialer Integration erkennen. Die Annahme L. L. Sny21

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ders 1 3 , der moderne Nationalismus beruhe auf der Ausweitung der insbesondere in der Renaissance sich entfaltenden Idee des Stadtstaates, zeichnet sich durch eine grö­ ßere Flexibilität sowohl bei der Bestimmung der Inkubationsphase als auch der ideen­ geschichtlichen E inordnung des Nationalismus aus. Betont man, wie schon H . O. Ziegler (1931) 14 , die integrative Funktion des Natio­ nalismus, so bietet sich zur Abgrenzung von vornationalen Gruppensolidaritäten der Rückgriff auf das frühneuzeitliche Prinzip der Repräsentation an. Der spezifische Unterschied des Nationalismus gegenüber älteren Integrationsformen, die stets an das Überschaubare (Familie, tribus, Landschaft) anknüpfen oder, wie bei dem territorial­ staatlichen Patriotismus, in der Person des Herrschers den konkreten Verknüpfungs­ punkt finden (während die vom Nationalismus als oberster säkularer Wert gesetzte Nation stets nur eine abstrakte, gedachte oder vorgestellte Solidarität ist, die sich mit unterschiedlichen ideologischen E lementen auffüllen kann), unterstützt einen sol­ chen Abgrenzungsversuch. Denn anders als bei der ständischen Verfassung, in der die Stände sich selbst und nicht die Gesamtheit vertreten, beruht das Repräsentations­ prinzip darauf, daß die dem Herrscher oder der Kurie gegenübertretenden Repräsen­ tanten nicht einfach sich selbst - auch nicht im Sinne konkreter Stellvertretung parti­ kularer Interessen - , sondern die Gesamtheit vertreten. Das mit der Vertragstheorie, der Lehre vom body politic und der civil society und dem Souveränitätsprinzip J . Bo­ dins sich artikulierende moderne Staatsdenken mußte notwendig die Idee der Reprä­ sentation aus sich heraus entwickeln. Sie bildet die entscheidende theoretische Brücke zwischen der in partikularen Interessenschichten gegliederten ständischen Gesell­ schaft und der modernen Staatsbürgergesellschaft, die sich als Einheit begreift, wenn­ gleich die Entwicklung von der Rechtsgleichheit bis zur Durchsetzung sozialer Chan­ cengleichheit einen bis in die Gegenwart nicht abgeschlossenen Prozeß darstellt. Äu­ ßerer Ausdruck der sich bildenden bürgerlichen Gesellschaft ist die Nation. Schon beim Konzil von Konstanz (1414-18), dann im England des 17. und 18. Jahrhunderts und im vorrevolutionären Frankreich verknüpft sich die Repräsentationsidee mit dem Nationalstaatsprinzip und mündet in die Forderung einer Nationalrepräsentation. Die Idee der Repräsentation ermöglicht erst die Vorstellung der Nation als werthaf­ ter, ideeller E inheit. Daß es sich hierbei nicht einfach um eine hypothetische Figur handelt, die von den sozialen Bedingungen abstrahiert, ergibt sich aus der Korrelation zwischen vordringender Repräsentationsidee und erhöhter sozialer Mobilität unter dem Einfluß modernisierender Faktoren im wirtschaftlichen und kulturellen Bereich, durch welche die ständische Gesellschaft zunehmend ausgehöhlt wird. Die Freiset­ zung des Repräsentationsprinzips durch den Funktionsverlust tradierter Herrschafts­ strukturen verwandelt es aus einer bloß reaktiven Form kollektiver Interessenwahr­ nehmung in eine potentielle politische Kraft, die sich im Nationalismus ihre äußere Legitimationsgrundlage schuf. Der in der Idee der Volkssouveränität verkörperte, vom subjektiven Nationalitätsprinzip abgeleitete Typus der Nation ist damit als eine bedeutsame Variante des Nationalismus zu betrachten und bildet einen neuartigen, von vorausgehenden Formen sozialer Integration qualitativ verschiedenen Integra­ tionsrahmen.

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3. Nationalismus und westlicher Nationalstaat In der Konfrontation mit der Nationalismus-Kritik der 20er Jahre, die vielfach be­ strebt war, diesen als überlebte Ideologie hinzustellen, sah sich die historische For­ schung darauf verwiesen, dessen anhaltende politische Wirksamkeit und emanzipato­ rische Kraft - trotz seiner destruktiven sozialen und politischen Auswirkungen - her­ auszustellen. Im Gegensatz zur älteren Forschung, welche die Ambivalenz zwischen demokratischen und autoritär-aggressiven E lementen des Nationalismus durch die formaldefinitorische Abgrenzung von (negativem) Nationalismus gegenüber (kon­ struktivem) Nationalbewußtsein, von nationalistischer gegenüber nationaler Gesin­ nung, von patriotischer Vaterlandsliebe gegenüber nationalem Chauvinismus, aufzu­ lösen versuchte, hat sich die Bestrebung durchgesetzt, die Phänomene nationaler Po­ litik einheitlich als „Nationalismus“ zu bezeichnen. Dies ist konsequent, da der emanzipatorische Inhalt nationaler Bewegungen zwar gewöhnlich mit fortschreiten­ der E ntwicklung in mobilitätsfeindliche Traditionsbewahrung umschlägt, aber die Kontinuität der sie tragenden sozialen Gruppen trotz allen ideologischen und politi­ schen Wandels unabweisbar ist. Hingegen ist in den grundlegenden Arbeiten der Schulen von Hayes und Kohn die Polarität von subjektivem und objektivem Prinzip, von westlichem und östlichem Nationsbegriff in modifizierter Form beibehalten worden. Dies tritt bei der vielerör­ terten Dichotomie des von Kohn postulierten Nationalismus-Modells klar hervor. Kohn arbeitet zwei Grundtypen des Nationalismus heraus, deren regionale Verbrei­ tung sich auf Westeuropa und die angelsächsisch beeinflußten Länder einerseits, auf Mittel- und Ostwuropa sowie Asien andererseits erstreckt. Die unterschiedlichen Typen des westlichen und des nichtwestlichen Nationalismus führt Kohn auf gegen­ sätzliche politische und sozialökonomische E ntstehungsbedingungen zurück. Die­ sem Schema zufolge stehen politischer Nationalismus gegen kulturellen Nationalis­ mus, Rationalität gegen Irrationalismus, pragmatischer Realitätssinn gegen romanti­ schen Historizismus, offene, pluralistische, auf die Freiheitsrechte des Individuums gestützte Gesellschaften gegen autoritäre, kollektivistische und antiliberale Sozial­ strukturen. Während der westliche Nationalismus auf innenpolitische Freiheit ge­ richtet ist, bleibt es Kennzeichen nichtwestlicher Nationalismen, abgesehen von eini­ gen westlich beeinflußten Ländern wie der Tschechoslowakei, die nationale Unab­ hängigkeit gegenüber bürgerlicher Freiheit zu betonen und sich auf eine vielfach künstlich geschaffene, in der Regel emanzipationsfeindliche historische Tradition zu berufen. Kohn vermag jedoch die Frage nicht hinreichend zu beantworten, warum auch in unterentwickelten europäischen und außereuropäischen Regionen der Nationalismus dominant hervortreten konnte. Sowenig er antiemanzipatorische E lemente des west­ lichen Nationalismus, wie sie z. B. in der Action française hervortreten, unterschlagt, so sehr hält er an der Überzeugung fest, daß dieser grundsätzlich als Faktor evolutio­ när-demokratischer Fortbildung betrachtet werden müsse; die nicht-westlichen Na­ tionalismen bringt er hingegen mit autoritären, totalitären und faschistischen Ten­ denzen in unmittelbaren Zusammenhang und führt deren spezifisch antiliberale Aus23

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richtung und Aggressivität auf mangelnde gesellschaftliche E manzipation, auf die un­ gebrochene Führungsrolle nichtbürgerlicher E liten und auf kollektive, sozialpsycho­ logische Minderwertigkeitsgefühle zurück. Diese unter dem E indruck der faschistischen E xpansionspolitik entwickelte Theo­ rie hat vor allem die Kritik von Vertretern der ostmitteleuropäischen Nationen gefun­ den, deren Nationalismen ex definitione demokratischer Charakter abgesprochen wird; zugleich unterschätzt Kohn die antiliberalen Züge des westlichen Nationalis­ mus und trägt der Ausprägung des Nationalismus in der imperialistischen E poche nicht hinreichend Rechnung. Zudem ist als ein theoretischer Mangel der Kohnschen Dichotomie hervorzuheben, daß die nationalistischen Bewegungen der asiatischen Länder schwerlich auf eine Stufe mit den mittel- und ostmitteleuropäischen Nationa­ lismen gestellt werden können. Gleichwohl stimmen noch viele angelsächsische Hi­ storiker dem Kohnschen Nationalismus-Modell zu 1 5 . Auch die von Hayes in den zwanziger Jahren entwickelte Typologie, auf die Kohn in vieler Hinsicht aufbaut, ist aufs stärkste vom westlichen Nationsbegriff beeinflußt. Während Kohn soziologische und sozialpsychologische Gesichtspunkte berücksich­ tigt, beschränkt sich Hayes auf eine ideologiekritische Ableitung des Nationalismus, die allerdings auf breitem historischem E rfahrungsmaterial beruht. Die entscheidende ideologische Voraussetzung des Nationalismus erblickte Hayes in der Lehre der Volkssouveränität; als revolutionäre Kraft schien für ihn der Nationalismus unzer­ trennlich mit der demokratischen Revolution verknüpft zu sein, wenn er auch ein­ räumte, daß eine Verbindung des Nationalismus mit monarchischen Institutionen ebenso möglich sei wie mit der politischen Demokratie. Moralische Gesichtspunkte bestimmten ihn dazu, zwischen einem „ursprünglichen“ und einem „abgeleiteten“ Typus des Nationalismus zu unterscheiden 16 . Danach erschien der Nationalismus unterdrückter bzw. ihre E inheit erkämpfender Nationalitäten humanitär und demo­ kratisch und mit kosmopolitischen Prinzipien vereinbar; diesem ursprünglichen Na­ tionalismus stand der abgeleitete Nationalismus gegenüber, der nach der E rlangung der nationalen Unabhängigkeit in den Vordergrund trete und in der Regel reaktionä­ ren, militaristischen und imperialistischen Charakter annehme. Hayes hat diese Dif­ ferenzierung jedoch nicht weiter vertieft. Sie nimmt insoweit den Kohnschen Ansatz vorweg, als im Urteil von Hayes die westeuropäischen Nationalismen, zumindest den grundsätzlichen geistesgeschichtlichen Voraussetzungen nach, der Gefahr der Ver­ formung weniger ausgesetzt waren. E ine derartige idealtypische Unterscheidung ist aber deshalb wenig befriedigend, weil demokratische und imperialistische E lemente schon beim frühen Nationalismus eng miteinander verschränkt sind. Die von Hayes vorgelegte historische Typologie verzichtet, im Gegensatz zu Kohns Modell, auf eine regionale Differenzierung und bleibt auf E uropa beschränkt; sie unterscheidet zwischen humanitärem, jakobinischem, traditionellem, liberalem und integralem Nationalismus. Diese vertikal angeordneten Stufen decken sich im Prinzip mit Kohns Klassifikation eines demokratischen, eines liberalen und eines in­ tegralen Nationalismus, nur daß bei ihm der zeitlichen Abfolge eine lediglich sekun­ däre Bedeutung zukommt. Hayes' Typologie ist von der Forschung in weitem Um­ fang rezipiert worden. Ihre Schwäche beruht, abgesehen von der problematischen 24

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Zuordnung des kulturellen und des romantischen Nationalismus zum humanitären Typus, vor allem darauf, daß sie gegenüber den ideologischen Kriterien die sozialen Triebkräfte vernachlässigt und mit den Erfahrungen des neuen Nationalismus nur be­ grenzt in Einklang gebracht werden kann. Sie ist jedoch schematischen Klassifikatio­ nen überlegen, die unterschiedliche Nationalismen in bezug auf die jeweilige Funk­ tion bzw. Zielsetzung postulieren, wie bei L. Wirth, der einen hegemonialen, einen partikularistischen, einen Grenzlands- und einen Minderheiten-Nationalismus unter­ schied und bei letzterem drei Untertypen herausarbeitete: einenpluralistischen y auf kulturelle Autonomie gerichteten, einen sezessionistischen und einen militanten, Minderheitsherrschaft anstrebenden Nationalismus 17 . Dasselbe gilt von dem jüngst unternommenen Klassifikationsversuch von K. Symmons-Symonolewicz 1 8 , der Minderheitenbewegungen von Befreiungsbewegungen abhebt, um im einzelnen nach den konkreten politischen Zielsetzungen zu differenzieren. Indessen gehört es zur Ei­ genart des Nationalismus, daß seine programmatische Ausrichtung in starkem Um­ fang taktischen Bedingungen unterworfen ist; die Frage, ob die jeweilige nationale Bewegung nationale Autonomie, also einen Pluralismus gleichberechtigter Nationali­ täten in çinem supranationalen Staatsverband, Sezession im Sinn des Irredentismus oder nationale Minderheitsherrschaft anstrebt, ist, wie die Geschichte der europä­ ischen Nationalitätenkonflikte zeigt, von sekundären äußeren Bedingungen abhän­ gig, die der vollen Verwirklichung der Selbstbestimmungsforderung vorübergehend oder dauernd entgegenstehen. Die Problematik der dargelegten Definitions- und Klassifikationsversuche besteht jedoch vor allem darin, daß über die Trägerschichten des Nationalismus und über den Zusammenhang zwischen Nationalismus und Na­ tion keine zureichenden Aussagen gemacht werden.

4. N a t i o n a l i s m u s u n d N a t i o n Anders als bei der westeuropäischen nationalstaatlichen E ntwicklung, die von der Verknüpfung des Nationalismus mit dem demokratischen Prinzip geprägt ist, er­ scheint die vornehmlich an ideologischen Kriterien ausgerichtete Deutung des Natio­ nalismus als Mittel staatlicher Integration wenig geeignet zur E rklärung der nationa­ len E manzipationsbewegungen im ostmittel- und osteuropäischen Raum. Nicht das Prinzip der Volkssouveränität und nicht eine breite bürgerliche E manzipationsbewe­ gung stehen am Beginn des „nationalen E rwachens“ der in übernationalen Staatsge­ bilden lebenden Nationalitäten; und dies gilt auch noch für die Phase des integralen Nationalismus. Nicht politischer Nationalismus, sondern das Bewußtsein sprachli­ cher und kultureller E igenständigkeit bildet den entscheidenden auslösenden Faktor für die E ntstehung eines sich allmählich aus dem vornationalen Landespatriotismus herausschälenden Nationalismus. Kriterien, die für die west- und mitteleuropäische Nationalstaatsbildung evident erscheinen - wie die Schaffung eines breiten inneren Marktes oder die Notwendigkeit sekundärer Integration des nicht mehr auf Legiti­ mität und monarchisches Prinzip begründeten Staates - , stehen in vieler Hinsicht im 25

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Gegensatz zu dem sich vollziehenden nationalen Desintegrationsprozeß, auch wenn sie in späteren Phasen Nationalismus fördern können. Westliche Autoren haben, anknüpfend an Renan, die Nation als Resultat des sub­ jektiven Willens zur Nationswerdung hingestellt. Johannet 18a definierte „Nation“ als Ausdruck der Idee einer kollektiven Persönlichkeit, deren Intensität letztlich Aus­ druck staatlicher E nergien sei. F. Hertz 1 9 , ursprünglich Vertreter der objektiven Theorie der Nationalität, plädierte nach 1945 entschieden für den Primat des subjekti­ ven Prinzips. Indessen liegt die Herausbildung eines nationalen Sonderbewußtseins, so unklar und widerspruchsvoll dieses sich äußern mag, vor der Epoche des modernen Nationalismus und knüpft gerade bei den angeblich „unhistorischen“ Völkern in ho­ hem Maße an historische Traditionen an, die z. T. erst unter dem E influß der Roman­ tik neu rezipiert wurden. Der zunächst auf enge Trägergruppen begrenzte Nationa­ lismus beruft sich sowohl auf das landsmannschaftliche Bewußtsein als auch auf die bestehenden ethnisch-sprachlichen E inheiten. Dabei t r i t t - und dies wird sich in den ehemaligen Kolonialländern wiederholen - eine eigentümliche Ambivalenz der in­ haltlichen Zielsetzung hervor. Die Verfechter des Panslawismus träumten noch von der Möglichkeit einer nationalen Gemeinschaft der slawischen Völker; eingeengt auf die Österreich-Ungarische Monarchie und den Balkan, begrenzten sie ihre Ambitio­ nen auf die südslawische Region und propagierten den Gedanken der nationalen Zu­ sammengehörigkeit der südslawischen Völker, um sich bereits auf dem Slawenkon­ greß 1848 in Prag in nationale Richtungen aufzufächern. Überall dort, wo der entstehende Nationalismus nicht an moderne zentralistischc staatliche E inheiten anknüpfen kann, erweisen sich Inhalt und Geltungsanspruch der nationalen Identifikation als eigentliches Problem sowohl der wissenschaftlichen Analyse als auch der nationalen Bewegungen selbst. Dies gilt für den ostmitteleuropä­ ischen Raum im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert ebenso wie für die neuen Nationalismen. E s tritt die E rfahrung hinzu, daß auch in Ländern, in denen eine starke nationalstaatliche Identifikation bestanden hat, wie z.B. in Belgien oder in Spanien, ältere regionale und sprachlich-kulturelle E inheiten zu einem späteren Zeit­ punkt dem Prozeß der Nationsbildung unterworfen werden und daß sich die vorhe­ rige nationale Identifikation wieder auflöst. Das ist ein Prozeß, der in Afrika mit ge­ steigerter Geschwindigkeit verläuft und auch in Mittelasien beobachtet werden kann. Dem stehen moderne Panbewegungen, wie der Panarabismus, gegenüber, die durch ältere kolonialterritoriale Aufteilung bedingte Identifikationen zugunsten umfassen­ der Zusammenschlüsse aufzulösen bestrebt sind. Ähnliche E rscheinungen begleiten von Anfang an den Weg der nationalen Aufglie­ derung E uropas. Die Entstehung der europäischen Nationen stellte niemals einen ein­ förmigen, teleologisch verstehbaren Prozeß dar, wie es die nationalstaatlich geprägte Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts angenommen hat. Gescheiterte, abgebro­ chene, unter völlig andersartigen sozialen Bedingungen fortgesetzte Nationsbildun­ gen stehen unmittelbar neben erfolgreichen Nationalstaatsgründungen; partikulare Nationen werden zu Großnationen integriert, andere zerfallen aufgrund äußerer und innerer E inflüsse. Insoweit ist die an J . G. Herder anknüpfende idealistische Auffas­ sung, die den einzelnen Völkern, oder den - wie es in bezeichnender liberaler Veren26

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gung des Gesichtsfeldes heißt -,Kitltumationen genuine geschichtsbildende Kraft zu­ schrieb und die im Vorhandensein ursprünglicher volkstümlicher Kultur eine Recht­ fertigung für die Bewahrung oder E rringung nationaler E igenständigkeit erblickte, ebenso obsolet wie die vom Sozialdarwinismus genährte Vorstellung der für die mo­ derne Nation konsumtiven Abstammungsgemeinschaft - ein Kriterium, das freilich die frühe Nationslehre (J. G. Fichte, C. S. Zachariae, W. Maurenbrecher, F. J . Stahl, C. Rössler, C. Frantz, R. v. Mohl u. a. m.) maßgeblich bestimmt hat. Denn es ist un­ zweifelhaft, daß die Vorstellung gemeinsamer Abstammung, so wenig sie mit der hi­ storischen Wirklichkeit übereinstimmt, verbreitete Grundlage des frühneuzeitlichen Nationalbewußtseins gewesen ist. Die Untersuchungen von A. Borst 20 haben ge­ zeigt, daß diese pseudoethnische Vorstellung im Mittelalter allgemein verbreitet war. Sie knüpfte ursprünglich an die Stämme Israels, dann auch an die antike Überlieferung an. Bedeutsam daran ist die durchgängige Tendenz, sich - lange vor der E ntstehung des modernen Geschichtsbewußtseins - einen Platz in der herkömmlichen Völkerge­ nealogie zu sichern. Das ist eine Vorform der später allgemein üblich werdenden Ab­ leitung der nationalen Identität von gemeinsamer historischer Tradition. Die Auffassung, daß die modernen Nationen Resultat einer langfristigen aufstei­ genden E ntwicklung vom engeren landsmannschaftlichen Verband über den Stamm zur modernen Nationalität seien, ist gleichermaßen unhaltbar. Weder sind die früh­ mittelalterlichen gentes ethnisch einheitliche Gruppen (R. Wenskus) 2 1 , noch sind die deutschen Stämme Untergliederungen der Nation, sondern selbständige gentes gewe­ sen (K. Werner), und bereits die aus der gentilizischen Mobilität heraustretenden frühmittelalterlichen Völker können nicht als Abstammungsgemeinschaften begriffen werden. Der von ihnen repräsentierte Nationstypus hat sich neben dem frühabsoluti­ stischen „älteren“ Nationalstaat im ethnisch durchmischten Ost- und Ostmitteleu­ ropa in der Form der „Personalnationen“ (Reichsnationen) - als spezifische Ausprä­ gung der älteren „Landesnationen“ - bis tief in die Neuzeit hinein erhalten. Die kom­ plexen historischen Wurzeln der modernen Nationsbildung werden an dieser E r­ scheinung deutlich. Unzweifelhaft haben historische Faktoren direkt und indirekt den Charakter der jeweiligen nationalen Identifikation maßgebend beeinflußt. Zu ihnen gehört nicht zu­ letzt der Glaube an gemeinsame Abstammung und eine vorgestellte nationale Ge­ schichte. Die Bedeutung der Tradition für den Nationalismus besteht daher in dop­ pelter Beziehung: E inerseits ist es Kennzeichen jedes Nationalismus, sich an der Tra­ dition zu legitimieren; wo sie fehlt, wird sie in der Regel durch historische Mythen oder pseudowissenschaftlich gewonnene nationale Geschichtsbilder ersetzt, die meist ältere Landespatriotismen umdeuten. Andererseits ist eine nationale Identifikation nur durch den Rückgriff auf eine wirklich oder angeblich gemeinsame Geschichte er­ reichbar, wie sich denn auch Liberalismus und Demokratie an der frühmittelalterli­ chen Gemeinfreiheit bzw. der angeblich egalitären Urgesellschaft orientiert haben. Gemeinsamkeit der Tradition kann sich in objektiv fortwirkenden Integrationsfakto­ ren, wie gemeinsamer Sprache, Religion und Kultur, niederschlagen, kann aber auch verschiedene Nationalitäten in einem gemeinsamen Staatswesen integrieren und na­ tionales Bewußtsein vermitteln. Die normative Kraft des Nationalismus erwächst aus 27

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der Ausfüllung des Anspruches auf Repräsentation der Gesamtheit mit traditional le­ gitimierten, individualisierten Wertvorstellungen. Die vom idealistischen Denken geprägten Ansätze, das Wesen der Nation inhaltlich zu bestimmen, sind durchweg von dem Bemühen getragen, diesen Zusammenhang von Tradition und Nationsbildung zu präzisieren. Schon F. J . Neumann definierte Nation als „eine größere Bevölkerung, die infolge eigenartiger Kulturleistungen ein eigenartiges gemeinsames Wesen gewonnen hat, das sich auf weiten Gebieten von Generation zu Generation überträgt“ 22 . E ben dies ist der Ausgangspunkt für die ob­ jektive Nationalitätstheorie, die nicht nur der gemeinsamen Staatlichkeit, sondern auch der gemeinsamen Herkunft, Sprache, Kultur, Siedlungs- und E rziehungsweise eine konstitutive Bedeutung für die Nationsbildung zumißt. E s handelt sich dabei durchweg um historisch vermittelte Faktoren, die jedoch für sich genommen keine notwendige Bedingung für die E ntstehung eines nationalen Identitätsbewußtseins sind. Vielmehr müssen erhöhte soziale Mobilität, Auflösung tradierter sozialer Struk­ turen und gesellschaftliche Antagonismen hinzutreten, um nationale Bewegung und damit Nationalismus in spezifischem Sinn freizusetzen. Dieser Tatbestand hat Hayes veranlaßt, zwischen Nation im Sinn gemeinsamer Staatsbürgerschaft und Nationalität zu unterscheiden; kleinere ethnische Gruppen, die (wie Katalanen, Schotten, Bretonen) mit größeren Nationen verbunden sind, be­ zeichnete er als „Subnationalitäten“; auch die lateinamerikanischen Völker kategori­ sierte Hayes in dieser Weise. Ähnlich differenzierte J . - T . Delos 23 zwischensocieté als staatlichem Verband und communauté als volkstümlich verbundener Gruppe. Unter dem E influß Meineckes hat sich in der deutschen Forschung die Unterscheidung zwi­ schen Staats- und Kulturnation durchgesetzt; in Analogie dazu spricht O. Pflanze 24 vom Gegensatz zwischen Staatsnation und Nationalstaat. Dieser immer wiederkeh­ rende Versuch begrifflicher Scheidung von subjektivem und objektivem Nationali­ tätsprinzip muß jedoch grundsätzlich in Frage gestellt werden, zumal sich in fast allen Nationalismen objektive und subjektive Kriterien vermischen. Denn angeblich ob­ jektive, von den Individuen unabhängige Kriterien nationaler Zusammengehörigkeit lösen sich bei genauerer Analyse in historisch vermittelte Bewußtseinsinhalte auf. Auch das wegen seiner kaum überschätzbaren Zähigkeit in erster Linie angeführte Kriterium der Sprache kann nicht durchweg als objektiver, vom Willen der einzelnen unabhängiger Faktor betrachtet werden. Unter der Bedingung der Bilinguität, insbe­ sondere in Völkermischzonen, aber auch in Gebieten, in denen auf eine dritte Füh­ rungssprache nicht verzichtet werden kann, beruht die Zugehörigkeit zur Sprachge­ meinschaft vielfach auf subjektiver E ntscheidung, und diese ist weit weniger fiktiv als das subjektive Bekenntnis zum Nationalstaat des westlichen Typus. Subjektives und objektives Nationalitätsprinzip erweisen sich daher, ebenso wie die naturrechtliche und die historische Begründung nationaler Zugehörigkeit, nur als zwei Seiten derselben Sache. E s ist evident, daß nationale Bewegungen sich zur Aus­ weitung des nationalen Territoriums dort subjektiver Argumente bedienen, wo eine historische Legitimierung des nationalen Anspruchs nicht möglich erscheint, und umgekehrt. Die häufige Gegenüberstellung eines historischen und eines demokrati­ schen Nationalismus führt, wie die Beispiele Polens und der Tschechoslowakei zei28

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gen, in die Irre; auch der Appell an das Selbstbestimmungsrecht erfolgte in der Regel unter Hinweis auf die historische E igenständigkeit der Nation. Eine ähnliche Aporie tritt bei der Bestimmung des Verhältnisses von Nationalismus und Nation entgegen. Während von der subjektiven Nationalitätstheorie her Natio­ nalismus als der Wille einer bestimmten Bevölkerungsgruppe erscheint, Nation zu sein, betonen die Anhänger der objektiven Theorie das Bewußtsein kollektiver Zu­ sammengehörigkeit, das von einer gegebenen oder zurückzugewinnenden nationalen Identität ausgeht. So spricht E . Barker von der spiritual superstructure der Nation, Hertz vom Nationalismus als einem Streben nach einer Kollektivpersönlichkeit, und im gleichen Sinne argumentiert L. Sturzo 2 5 . Ähnlich wie Hertz die Bindung des Na­ tionalismus an ein bestimmtes Territorium hervorhebt, betont H . L. Koppelmann, daß Nationalismus stets „von der Vorstellung einer natürlichen Volkseinheit aus­ geht“ 26 . Shafer erblickt „die Realität des Nationalismus“ in einem Nationalgefühl (feeling ofpeople), das auf „den historischen Mythen und Realitäten jedes Volkes“ be­ ruhe 2 7 . W. Sulzbach leitet demgegenüber das Nationalbewußtsein, das er mit Natio­ nalismus identifiziert, im Anschluß an M. Weber nicht von vorfindlichen oder vorge­ stellten Identitäten oder „gemeinsamer Zuneigung“ ab und betont statt dessen den vo­ luntaristischen Charakter des Nationalismus, dessen E thik „in der Jahrtausende alten kriegerischen Stammesmoral“ wurzele 2 8 . Die Reihe von jeweils auf unterschiedliche empirische Anschauung zurückgehen­ den Bestimmungsversuchen des Verhältnisses von Nationalismus und Nation ließe sich leicht fortsetzen, wobei sozialpsychologische, wissenssoziologische, historische, ethnologische und anthropologische Kategorien mit politiktheoretischen Überlegun­ gen vermengt erscheinen, ohne daß eine hinreichende Präzision der Begriffsbildung zu erlangen ist. Angesichts des sich hier ausdrückenden Dilemmas ist es bezeichnend, daß unter den neueren Autoren eine Polarisierung stattgefunden hat, die in gewisser Hinsicht als erkenntnistheoretische Resignation gedeutet werden kann. E ine Gruppe verzichtet auf eine inhaltliche Bestimmung der Triebkräfte des Nationalismus und de­ finiert ihn als Streben nach gemeinsamer staatlicher Zusammenfassung nur formal, oder, wie Lemberg, als „Hingabe“ an ein überpersönliches Ganzes, als „Bindekraft“, die „nationale oder quasinationale Großgruppen integriert“ 2 9 , und ist bestrebt, durch vergleichende Analyse der verschiedenen Nationsbildungen Aussagen über die jewei­ lige Erscheinungsform und Funktion des Nationalismus als Ausdruck einer bestimm­ ten Lage der Nation zu machen. E ine andere Gruppe, vornehmlich angelsächsische Forscher, verzichtet auf eine inhaltliche Bestimmung der Nation angesichts der Viel­ falt historischer Formen und identifiziert sie mit staatlicher Organisation schlecht­ hin 3 0 , während sie im Nationalismus den entscheidenden Integrationsfaktor erblickt. Eine pragmatische Synthese, die beide Ansätze verbindet, stellt Shafers Katalog der für die E xistenz einer Nation gewöhnlich notwendigen Vorstellungen und histo­ risch-politischen Bedingungen dar, den er, in Anlehnung an den 1939 publizierten Bericht des Royal Institute of International Äff airs 3 1 auf der Basis empirischen Mate­ rials vorgelegt hat. Konsumtiv für den Begriff der Nation sind demnach: a) ein ein­ heitliches Territorium, das real oder virtuell vorhanden ist; b) gemeinsame Züge wie Sprache, Literatur, Sitten; c) ein Mindestmaß gemeinsamer sozialer, darunter religiö29

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ser, und ökonomischer Institutionen; d) eine virtuell oder real vorhandene gemein­ same souveräne Regierung; e) der Glaube an Gemeinsamkeit von Geschichte und Ab­ stammung; f) relative Wertschätzung zwischen Nationszugehörigen; g) Hingabe an ein wie immer aufgefaßtes Ganzes; h) Stolz über Errungenschaften, Trauer über Miß­ erfolge der nationalen Politik; i) Geringschätzung oder Feindseligkeit gegenüber fremden Nationalitäten; k) Hoffnung auf zukünftigen nationalen Machterwerb. Die­ ser Katalog, den Shafer nicht als abschließend ansieht, dient ihm als Grundlage für eine historische Deskription der Varianten des Nationalismus und stellt Kriterien zur Bestimmung des Begriffs der Nation mit solchen des Nationalismus nebeneinander. Das Royal Institute beschränkte sich auf die Formulierung von sechs inhaltlich mit Shafers Katalog weitgehend übereinstimmenden, nur stärker formalisierten Kriteri­ en. Der dialektische Zusammenhang zwischen Nationalismus und Nationsbildung hat jedoch in derartigen deskriptiven Modellen keinen Raum, die überdies die spezifi­ schen sozialgeschichtlichen Bedingungen und Trägerschichten des Nationalismus nicht näher bestimmen. Beide Probleme sind jedoch gerade für die Analyse der natio­ nalen Bewegungen in den ehemaligen Kolonialländern von grundlegender Bedeu­ tung, desgleichen für die Beantwortung der Frage, unter welchen Bedingungen die bisherige nationalstaatliche Gliederung E uropas zugunsten supranationaler E inheiten überwunden werden kann.

5. S o z i o l o g i s c h e T h e o r i e n des N a t i o n a l i s m u s Das Problem des Nationalismus wurde von den Sozialwissenschaften vor dem E r­ sten Weltkrieg überwiegend im Rahmen organisationssoziologischer Studien zum Begriff der Nation behandelt. Die von Renan, F. J . Neumann und F. Kirchhoff auf­ geworfene Frage nach den Grundlagen der Nationalität löste eine intensive Diskus­ sion über das Verhältnis subjektiver und objektiver Faktoren aus, die ihren Höhe­ punkt in den Verhandlungen des Zweiten Deutschen Soziologentags 1912 fand. Die Erkenntnis, daß Nation weder ausschließlich auf Gemeinsamkeit der Rasse noch auf Abstammungsgemeinschaft beruhe und daß „Nation“ ein historischer, kein biologi­ scher Begriff sei, ließ divergierenden Deutungen freien Raum, die vom Begriff „Kul­ turnation“ (Meinecke), der Nation als „hochorganisierte Gruppe“ (F. Oppenhei­ mer), als „Gefühls- und Zweckgemeinschaft“ (A. Vierkandt), als „Siedlungsgemein­ schaft“ (L. Gumplowicz, F. Ratzel) bis zur Identifizierung von Nation und staatli­ chem Verband (M. Weber) und der Betonung des nationalen Bewußtseins (M. Laza­ rus, G. Jellinek) oder des bewußten Willens zur Zugehörigkeit (Oppenheimer, Johannet, R. Michels) als konsumtivem Merkmal reichten. O. Bauers Schrift „Die Na­ tionalitätenfrage und die Sozialdemokratie“ (Wien 1907) hat dabei nachhaltigen E in­ fluß ausgeübt. Das Problem des Nationalismus trat hinter den vor allem durch die el­ saß-lothringische Frage politisierten terminologischen Auseinandersetzungen zu­ rück. In den zwanziger Jahren wurde durch die Publikationen von Johannet, J . Fels, Hertz, Ziegler, M. Scheler, O. Spann und W. Sulzbach 32 der gewonnene Diskus30

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sionsstand erheblich vertieft. Doch verharrte die Forschung bei einer fast ausschließ­ lich geisteswissenschaftlichen Methode, auch wenn völkerpsychologischen und an­ thropogeographischen Gesichtspunkten größere Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Parallel dazu entwickelte sich im Zusammenhang mit der europäischen Minderhei­ tenbewegung und als Reaktion auf die als einseitig betrachtete Anwendung des Na­ tionalitätenprinzips in den Pariser Friedensschlüssen die am objektiven Nationalitä­ tenprinzip ausgerichtete Volksgruppenforscbung. Sie leugnete den staatlichen Cha­ rakter der modernen Nation und fand in M. H . Boehm (1932) 33 ihren prononcierte­ sten Verfechter. Für die übergroße Mehrheit der soziologischen Arbeiten zum Nationalismus-Pro­ blem gilt, daß sie sich im wesentlichen auf eine sozialpsychologische Vertiefung histo­ rischer Ansätze beschränkten. Insbesondere ist die auf die Geschichtsphilosophie Hegels und Herders zurückzuführende Auffassung von der Nation als einer allmähli­ cher Bewußtwerdung unterworfenen Größe weitgehend übernommen worden, nur daß die spekulative Idee des Volksgeistes durch psychologische Faktoren wie Natio­ nalgefühl und Gemeinschaftsbewußtsein ersetzt wurde. Die für die deutsche Soziolo­ gie typische Dichotomie von Gemeinschaft und Gesellschaft (F. Tönnies) 34 wirkte hier nach; Nation wurde vornehmlich als Vergemeinschaftung angesprochen. Max Weber nahm eine gegenteilige Position ein: Nation war für ihn in erster Linie politischer Verband, der Nationalstaat „die weltliche Machtorganisation der Na­ tion“ 35 , Nationalismus die Folge und Ausdruck „bewußter Anteilnahme am macht­ politischen Schicksal des eigenen Staates“ 36 . Als pointierter Anhänger des subjektiven Nationalitätenprinzips betrachtete Weber das Problem des Nationalismus ausschließ­ lich dezisionistisch und lehnte den Gedanken der „Kulturnation“ ebenso ab wie ob­ jektive Kriterien der Nationalität und identifizierte den Nationalismus mit den Inter­ essen der jeweils am Nationalstaat partizipierenden und von diesem privilegierten Schichten. Konsequent hielt er den Begriff „Volk“ für wissenschaftlich unbrauchbar und leugnete die Anwendbarkeit objektiver Kriterien wie Abstammungs- und Sprachgemeinschaft auch für ethnische Gebilde. Somit grenzte Weber den Problem­ komplex Nation und Nationalismus auf den modernen (imperialistischen) Machtstaat ein, während der Problemkreis der frühen Vergesellschaftung der E thnosoziologie zufiel. Damit blieb für eine selbständige Thematisierung des Nationalismus wenig Raum. Der Dualismus zwischen der Interpretation des Nationalismus als ideologische Spiegelung des modernen Repräsentativstaats und ethnosoziologisch-anthropologi­ scher Erforschung der Entstehung ethnischer Gruppen hat die soziologische Behand­ lung des Nationalismus-Problems auf lange hinaus geprägt. Abgesehen von der Volkskunde, die im Westen als Ableger romantisch-idealistischer Traditionen wenig Ansehen besaß, blieb die soziologische Analyse der Nationsbildung zunächst auf das Studium der kulturellen und ethnischen Grundlagen für die E ntstehung von Völkern beschränkt. Die unmittelbaren Übergänge von archaischen Integrationsformen zum modernen Nationalismus in den E ntwicklungsländern haben jedoch die Notwendig­ keit interdisziplinärer Zusammenarbeit deutlich gemacht. Arbeiten zum Problem des Nativismus (E . Mühlmann) 3 7 , zur Stellung ethnischer Minderheiten innerhalb mo31

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derner industrieller Gesellschaften (W. L. Warner, E . Francis) 38 und Studien zum Problem der Akkulturation in Völkermischzonen (L. W. Doob) 3 9 lassen die Schwa­ chen einer überwiegend am westlichen Nationalstaat orientierten soziologischen Theorie des Nationalismus deutlich hervortreten. Der in der Soziologie Webers erkennbaren Ausgangslage entspricht es, daß bei der Erörterung des Nationalismus die Frage der inhaltlichen Bestimmung nationaler Identität (und damit der Aspekte der objektiven Theorie) gegenüber dem Integra­ tionsgesichtspunkt in den Hintergrund trat. Dem Nationalbewußtsein kam die Rolle eines abgeleiteten Faktors zu, der innenpolitisch zur Legitimation nicht mehr tradi­ tional abgestützter Herrschaft herangezogen wurde, nach außen hin die Funktion der Abgrenzung von Fremdgruppen besaß. Diese vom bürgerlich-liberalen Nationalstaat abgeleitete Theorie des Nationalismus, wonach herkömmliche ingroup- und outgroup-Vorstellungen in kollektive Solidaritätshaltungen transformiert werden, ist je­ doch insofern unbefriedigend, als Nationalismus nicht notwendig mit Staatsbewußt­ sein zusammenfällt und die Existenz eines die national solidarische Gruppe umschlie­ ßenden staatlichen Verbandes nicht voraussetzt. Gleichwohl findet sich die Reduzie­ rung des Nationalismus auf ein Problem von ingroup- und outgroup-Beziehungen, die schon von Hertz angezweifelt wurde, noch in der neuesten Forschung; eine Reihe von Autoren neigt dazu, den Nationalismus als bloßes „Wir-Gruppengefühl'' (E mer­ son) zu formalisieren. Parallel dazu besteht die Tendenz, den Prozeß der Nationsbildung als im wesentli­ chen sich kontinuierlich vollziehende „Übertragung von sozialen Primärbindungen auf Sekundärgebilde** 40 anzusehen, die mit zunehmender Rationalität und Abstrak­ tion verknüpft ist. Die Nation ist damit notwendiges Produkt fortschreitender Sozia­ lisation, die sich in innergesellschaftlicher Arbeitsteilung, Ausweitung der Kommu­ nikation, E inbeziehung der Unterschichten sowie in der E galisierung gesellschaftli­ cher Institutionen und des kulturellen Lebens ausdrückt. Nationalismus erscheint damit als Korrelat der Ausbildung einer arbeitsteiligen Klassengesellschaft (Oppen­ heimer) 41 . Dem Prozeß der gesellschaftlichen E galisierung entsprach die Ausweitung der Trägerschichten des Nationalismus, der in der Phase des Liberalismus vorwiegend auf Intelligenz und gebildetes Bürgertum beschränkt blieb, seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts jedoch durch einen „populistischen“ Nationalismus (E . H . Carr) 4 2 abgelöst wurde. Voraussetzung der vollen integrativen Wirksamkeit des Nationalis­ mus bildete nach K. Mannheim die „Fundamentaldemokratisierung** 43 , die von ei­ nem Abbau traditionaler Autoritätsbindungen begleitet war. Die E ntwicklung des Nationalismus korrespondierte daher mit dem Prozeß fortschreitender Modernisie­ rung und Industrialisierung; der Nationalismus war zugleich das Resultat zunehmen­ der sozialer und damit verbundener psychischer Mobilität (W. Gellner) 44 . Der in der E poche des Imperialismus auftretende integrale Nationalismus, der von marxistischer Seite als bürgerliche Herrschaftsideologie und als Mittel zur Ablenkung von sozialen Konflikten gedeutet wurde, ließ sich jedoch in dieses spezifisch evolu­ tionäre Modell sozialer E ntwicklung schwer einfügen. Daher interpretierte J . Schumpeter 45 , der mit Weber die irrationale Struktur des Nationalismus hervorhob, diesen, wie den Imperialismus, als atavistische E rscheinung, die aus der den sozialen 32

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Verbänden eigentümlichen, kriegerischen Mentalität zu erklären sei. Schumpeters Auffassung, daß der Nationalismus als „bejahende Bewußtheit der nationalen E igen­ art plus aggressivem Herrengeführ 4 6 ein spezifisch vorkapitalistisches Phänomen sei, das mit der vollen Durchsetzung kapitalistischer Strukturen zugunsten internationa­ ler Klassensolidarität zurücktreten werde, stimmte in mancher Beziehung mit dem ursprünglichen Ansatz von K. Marx überein, war aber andererseits von dem Bestre­ ben getragen, die marxistische Uberbautheorie zu modifizieren. Demgegenüber leugnete W. Sulzbach jeglichen Zusammenhang zwischen imperialistischem Nationa­ lismus und wirtschaftlichen Interessen und führte den Nationalismus auf das psycho­ logische Bedürfnis des Menschen zurück, aggressive Instinkte in Konflikte mit Au­ ßengruppen abzuleiten und zugleich die sich abschwächenden religiösen Bindungen zu ersetzen. Durchweg überwog in der soziologischen Forschung der Zwischen­ kriegszeit die Tendenz, den Nationalismus teils als traditionales Relikt, teils als so­ zialpsychologische Verhaltensdisposition, teils als von der Klassenstruktur unabhän­ gige solidarische Übereinstimmung der gesellschaftlichen Mehrheit zu interpretieren. Diese von einer doppelten Apologetik bestimmte Position - Abwehr des Marxis­ mus und Verteidigung der liberalen Tradition gegenüber dem Vorwurf, selbst Urhe­ ber der nationalistischen Perversion von Imperialismus und Faschismus zu sein - ist von der neueren soziologischen Forschung nur begrenzt rezipiert worden. Nationa­ lismus wurde vielmehr als spezifische Form sozialer Integration aufgefaßt, die den Auflösungsprozeß der traditionellen, alteuropäischen Gesellschaft begleitete. Nicht die Funktion des Nationalbewußtseins als Legitimitätsgrundlage rationaler Herr­ schaft, sondern dessen konstkutive Bedeutung für die E rmöglichung gesellschaftli­ cher Umschichtungsprozesse trat in den Mittelpunkt der soziologischen Analyse, die den Begriff des sozialen Wandels in die Theorie des Nationalismus einführte. Sozialer Wandel als Charakteristikum der modernen Gesellschaft verlangt die Fä­ higkeit zu rascher Adaptation an neue Situationen, diese wiederum das Vermögen, sich in die Lage anderer zu versetzen. D e r - wie Lerner 47 ihn nennt- Mechanismus der Empathie setzt das Vorhandensein einer transpersonalen nationalen Ideologie als Grundlage für eine gesellschaftliche Konsensusbildung voraus. Nationalismus ist da­ her nicht, wie Schumpeter meint, atavistischer Fremdkörper in der zu Rationalität und E ffizienz drängenden bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, sondern der ideo­ logische Bezugsrahmen für soziale Mobilität und E manzipation. Im E inklang mit einem solchen sozialpsychologischen E rklärungsmodell spricht K. H. Silvert von einer „Massifikation“ 48 der nationalen Identifikation im Zug der Ausweitung des industriellen Sektors, des Kommunikationssystems und der techni­ schen E ntwicklung, die den Nationalismus der Intelligenz und des Bürgertums zum gesamtgesellschaftlichen macht. In diesem Sinn betonte E . H. Carr, daß die Soziali­ sierung der Nation notwendigerweise mit der Nationalisierung des Sozialismus korreliere 49 . Dem Nationalismus fällt damit sowohl die Funktion zu, traditionale, d.h. modernisierungsfeindliche Strukturen abzubauen und die organisierte Austragung von Klassenkonflikten sicherzustellen, als auch die mit erhöhter sozialer Mobilität verbundene Ausdehnung der Marktbeziehungen zu ermöglichen. E r ist damit Begleiterscheinung und zugleich notwendiger Stabilisierungsfaktor der infolge des 33 3

Mommsen, Arbeiterbewegung

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industriellen take off (W. Rostow) 5 0 entstehenden bürgerlichen Klassengesellschaft. Insbesondere die moderne Systemtheorie tendiert dazu, Nationalismus und Na­ tionsbildung vornehmlich als Aspekt der Herausbildung der modernen westlichen Industriegesellschaft zu begreifen. Nation ist unter diesem Gesichtspunkt nicht allein eine nationale Souveränität beanspruchende Bevölkerungsgruppe, sondern impliziert „ein System von Wertorientierungen, das den Mitgliedern eines sozialen Systems ge­ meinsam ist“ 5 1 . E in derartiges System schließt nach der Auffassung von Parsons in­ nergesellschaftliche Konflikte nicht aus, bildet aber die Grundlage für die E rreichung eines politischen Konsensus bei gleichzeitiger pluralistischer Strukturierung. Dabei muß der Nationalismus nicht in einen gesamtgesellschaftlichen Konsensus einmün­ den; als offenes System konzipiert, umfaßt der nationale Konsensus vor allem die Form und den institutionellen Rahmen der Austragung innergesellschaftlicher Kon­ flikte. E in Anschauungsbeispiel für eine derartige Verknüpfung von Systemtheorie und Nationbildung ist S. M. Lipsets Studie über die USA als „The First New Na­ tion“ 52 . Die grundlegende Problematik der systemtheoretischen Deutung des Nationalis­ mus als des entscheidenden Legitimitätsaspekts der modernen demokratisch-indu­ striellen Gesellschaft und ihrer bürgerlich-liberalen Vorstufen liegt darin, daß sie zwar dessen Bindung an bestimmte Klassenstrukturen in den jeweiligen E ntwick­ lungsstadien einbezieht und die Existenz fragmentarischer, d.h. keine volle Klassen­ struktur besitzender Nationen zugibt, tendenziell aber davon ausgeht, daß der Pro­ zeß der E rweiterung der nationalen Identifikation mit einem Abbau oder doch einer Begrenzung der Klassenkonflikte verbunden ist. Zugleich fällt der Nationalismus in seinen konkreten E rscheinungsformen aus der Analyse heraus, wie beispielsweise R. Bendix' Studie zum Problem des gesellschaftlichen Wandels über „Nation-Building and Citizenship“ 53 zeigt, und tritt einerseits in der Gestalt einer nur formal bestimm­ ten Bejahung des bestehenden politischen Systems, andererseits in jeweils charakteri­ stischen, dominanten Stereotypen über andersnationale Gruppen hervor. Der Ver­ such, ihn als den spezifischen Ausdruck der Spannungen zwischen den verschiedenen politischen, ökonomischen und kulturellen Sektoren des gesellschaftlichen Systems zu deuten (S. N. E isenstadt) 54 , stimmt zwar mit der Funktion des integralen Nationa­ lismus im Zeitalter des Imperialismus und in faschistischen und totalitären Regimen überein; indem er aber gleichzeitig als Faktor tendenziell demokratischer Stabilisie­ rung moderner gesellschaftlicher Systeme interpretiert wird, bleibt die methodisch fragwürdige Kohnsche Dichotomie in abgewandelter Form erhalten. Unanwendbar erscheint aber eine derartige unlineare Interpretation des Nationa­ lismus dort, wo er nicht an bestehende historische Nationalstaaten anknüpft, sondern der Geltungsbereich nationaler Identität notwendig kontrovers ist. Das gilt in erster Linie für die ostmitteleuropäischen Nationalitäten, die zunächst ein gesellschaftliches Subsystem im Rahmen multinationaler Reiche errichteten und erst sekundär den ei­ genen Nationalstaat forderten; denn es war durchweg strittig, welche Kriterien der postulierten nationalen Identität zugrunde lagen und in welchem territorialen Kon­ text sich die Nationbildung zu vollziehen habe. Analog gilt dies für die neuen Natio­ nen. Zwar besitzt hier der Nationalismus trotz extremer Kritik an westlicher Uber34

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fremdung durchaus die Funktion der Modernisierung und des Abbaus lokaler Stam­ mespatriotismen und bildet so ein entscheidendes Vehikel zur Schaffung des inneren Marktes, jedoch besteht kein Anlaß zu der Annahme, er müsse notwendig zu politi­ schen Systemen führen, die dem Typus der westlichen Industrienation oder des kommunistischen Systems entsprechen. Darüber hinaus erscheint der Nationalismus im Rahmen eines derartigen gesamtgesellschaftlichen Wandlungsmodells jeglicher in­ haltlicher Bestimmung entleert; am E nde steht dann doch die Nation als kohärente, geschlossene soziale E inheit, deren System sozialer Wertvorstellungen im Nationa­ lismus Niederschlag findet. Die Sprengkraft des modernen Nationalismus, die gerade zur Zerschlagung anscheinend stabilisierter Gesellschaften führt, gerät aus dem Blick. Nationalismustheorien, die entweder eine auf objektiven Faktoren gegründete na­ tionale Solidarität postulieren oder Nationalismus als verbindlichen Komplex von in­ nergesellschaftlichen Wertvorstellungen definieren, versagen in der Regel bei der Ab­ grenzung gegenüber vergleichbaren Phänomenen, wie Religionsgemeinschaften, landsmannschaftlichen und regionalen Solidaritäten, aber auch ideologischen Syste­ men. Dies gilt auch für den von E . Lemberg 55 aufgestellten Katalog von typischen Merkmalen des Nationalismus. Danach gehören dazu: a) der E ntwurf eines Gesamt­ bildes der zu integrierenden Gruppe, b) eine der Großgruppe spezifisch zugewiesene Rolle, c) ein Überlegenheitsbewußtsein derselben gegenüber anderen Gruppen, d) ein spezifisch normiertes Gruppenverhalten, e) ein Gefühl des Bedrohtseins, f) die E in­ heit als zentraler Wertbegriff, g) die Forderung und Belohnung der Hingabe des ein­ zelnen an die Großgruppe. Neuartig ist die Kategorie des Bedrohtseins, die jedoch als konstitutives E lement des Nationalismus nur begrenzt gelten kann. Richtig daran ist, daß Nation und Nationalismus keineswegs allein Resultate innengeleiteter, sondern gleicherweise auch äußerer Faktoren sind und äußere Bedrohung nationalen Bewe­ gungen Auftrieb verschafft. Dieses sozialpsychologische Modell, das sich weitgehend mit dem Katalog Shafers deckt, aber die subjektiven Faktoren in den Vordergrund stellt, wird bei Lemberg mit der geschichtsphilosophischen Hypothese verknüpft, die wechselnde Bildung (natio­ naler) Großgruppen unterliege einer Art „geistigen Regelmechanismus“, während die Summe der E nergetik der sozialen Bindekräfte konstant bleibe, letztere jedoch stets neue Formen entfalteten: „Der ständige, offensichtlich in Schüben vor sich gehende Strukturwandel der menschlichen Gesellschaft ist von der Ausbildung neuer Natio­ nen und Nationsbegriffe begleitet“ 56 . Der Gedanke, die Vielfalt der Nationalismen als regeltechnisches System flüssiger Integrations- und Desintegrationsprozesse zu beschreiben, die wiederum von der Auflösung regionaler und sozialer Integrationen im engeren Bereich abhängig sind, ist insofern bestechend, als er für verschiedenste Ausprägungen des Nationalismus Raum läßt, darunter auch für pathologische Va­ rianten, wie sie durch die faschistischen Systeme verkörpert werden 5 7 . Andererseits ist die von Lemberg im Anschluß an K. W. Deutsch entwickelte funktionale Theorie des Nationalismus schwer zu operationalisieren und auf die römische Reichsidee, den mittelalterlichen Universalismus und das frühneuzeitliche Staatsbildungsprinzip des cuius regio eins religio ebenso anwendbar wir auf die ideologischen Blockbildungen im Zeichen des kalten Krieges. So spricht Lemberg davon, daß sich innerhalb des soziali35

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stischen Lagers „ein übervölkischer und überstaatlicher Nationalismus der sowjeti­ schen und sowjetgeführten Großnation“ auszubreiten beginne 58 . Bei dem Versuch, dieses Nationalismusmodell konkret anzuwenden, greift Lem­ berg daher ungewollt zu dem Herderschen E volutionsbegriff zurück. Die romanti­ sche Volksgeistlehre klingt deutlich an, wenn Lemberg staatlich geformte und staa­ tenlose Großgruppen nur als verschiedene „Aggregatzustände“ des gleichen Phäno­ mens bezeichnet und gerade den von den Großgruppen (Nationalstaaten) nicht aufge­ saugten Randgruppen (Nationalitäten) die Funktion zuschreibt, Ferment oder Keim­ zelle künftiger sozialer Konstruktionen zu sein; die Vorstellung, daß die nicht natio­ nalstaatlich verfaßten Nationalitäten einen zukünftigen Zustand vorwegnehmen, der durch national-kulturelle Autonomie und supranationale politische und ökonomi­ sche Integration bestimmt ist, nimmt Ideen der Volksgruppenbewegung neu auf. Indessen stehen einer Auflösung des Nationalismussyndroms in einen regionalen und vorwiegend kulturellen Patriotismus und einen bewußt angestrebten Internatio­ nalismus neben sozialökonomischen Hindernissen erhebliche psychologische Wider­ stände entgegen. Die Untersuchungen von L. W. Doob 5 9 haben auch für nationale Minderheiten einen hohen Grad sozialer Kohäsion, eine vergleichsweise geringe Rückläufigkeit negativer Stereotype gegenüber Fremdgruppen und anhaltende Ten­ denzen zu sozialer Konformität nachgewiesen, die nicht vermuten lassen, daß der von Lemberg erwartete Integrationsprozeß zu supranationalstaatlichen E inheiten und su­ pranationalen Nationalismen innerhalb absehbarer Zeit größere Chancen besitzt. Der Umstand, daß unter den Bedingungen des nuklearen Patts nationalistische Tendenzen eher stärker hervorbrechen, deutet darauf hin, daß dem Faktor des Bedrohtseins, dem auch Deutsch erhebliche Bedeutung für die E ntscheidung für nationale Bindung und Identität beimißt 60 , gegenüber traditionalen E lementen untergeordnete Wirksamkeit zukommt.

6. Nationalismus und soziale Kommunikation Angeregt von der Nationalitätstheorie O. Bauers und unter dem E indruck der böhmischen Nationalitätenfrage sowie den E rfahrungen des amerikanischen melting pot und den nationalen Problemen der Dritten Welt hat K. W. Deutsch versucht, in einer vielbeachteten Studie über „Nationalism and Social Communication“ 62 den Zirkel der Nationalismustheorie zu durchbrechen. E ntscheidende Bedeutung besitzt das von Deutsch entwickelte Modell der Nationbildung vor allem deshalb, weil es zumindest prinzipiell die Dichotomie zwischen Nation und Nationalismus überwin­ det und präzisere Angaben über die sozialen Mechanismen zuläßt, welche die Kohä­ sionskraft des Nationalismus bewirken. Deutsch bemüht sich um eine interdiszipli­ näre Methode, die quantifizierende Verfahren einschließt und damit die Möglichkeit schafft, durch exakten interkulturellen Vergleich empirisch abgesicherte Aussagen über die E ntwicklungstrends der jeweiligen Nationalismen zu machen. Deutsch geht von zwei Grundannahmen aus: a) daß für die Analyse des Nationa­ lismus Modelle, die statische bzw. mechanistische Gleichgewichtssysteme zugrunde 36

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legen, unzureichend sind, diese vielmehr vom historischen Strukturwandel ausgehen müssen; b) daß nationale Identität nicht auf eine bestimmte, prinzipiell gleichartige Mentalität ihrer Träger zurückgeführt werden kann, sondern auf Interaktion, auf ei­ nem System komplementärer Rollen (interlocking roles) beruht. Dieses Vorgehen er­ möglicht es, die in den meisten Nationalismustheorien vorausgesetzte E inheit der Na­ tion, ob sie nun auf subjektiven oder objektiven Faktoren beruht, mit konkreten so­ zialen Beziehungen in Verbindung zu setzen. Bauers Theorie von der Arbeiterschaft als „Hintersassen der Nation“, seine Hervorhebung des Kriteriums der Verkehrsge­ meinschaft der Nationsgenossen und Oppenheimers Hinweis auf das Prinzip der Ar­ beitsteilung als notwendige Bedingung der Nationsbildung standen bei diesem Ansatz Pate. Die objektiven Merkmale der Nationalität, deren nachweisliche Austauschbarkeit den theoretischen Zugang erschwert, führt Deutsch auf das Prinzip sozialer Kommu­ nikation zurück. Gemeinsamkeit der Kultur, als wichtiges Merkmal der Nationalität, definiert Deutsch als Kommunikationsgemeinschaft. Sie besteht in sozial-stereotypen Verhaltensformen, die durch E rziehung und gesellschaftliche Lernprozesse vermittelt werden. Kultur als bestimmter Komplex von Wertvorstellungen erlangt soziale Gel­ tungskraft nur im Zusammenhang eines Kommunikationssystems, das diesen Wert­ vorstellungen Geltung verschafft. Statt Nationalität unmittelbar auf Gemeinsamkeit der Sprache, E rinnerungen und Geschichte zurückzuführen, geht Deutschs funktionale Theorie der Nationalität davon aus, daß die betreffenden Bevölkerungsgruppen durch ein hohes Maß von sozialer Kommunikation gegenüber Fremdgruppen inte­ griert werden. „Mitgliedschaft in einem Volke beruht wesentlich auf ausgedehnter Komplementarität der sozialen Kommunikation. Sie besteht in der Fähigkeit, mit den Mitgliedern einer großen Gruppe in bezug auf einen weiten Bereich von Gegenstän­ den effektiver zu kommunizieren als mit Außenseitern“ 62 . Die Möglichkeiten einer Gesellschaft zu erhöhter sozialer Kommunikation beste­ hen in der Schaffung eines sozial standardisierten Systems von Symbolen, zu denen die Sprache, aber auch sekundäre Normensysteme, Gewohnheiten, historische E rin­ nerungen gehören; Verschiedenheit der Sprache, wie im Fall der Schweiz, kann hinter der Gemeinsamkeit komplementärer Gewohnheiten und sozialer E instellungen zu­ rücktreten. Kulturelle Faktoren sind relevant nur in Verknüpfung mit einem effekti­ ven Kommunikationssystem, das, wie Deutsch anhand der Informationstheorie zeigt, auf der E ntwicklung bestimmter nationaler patterns basierend, soziale Kon­ takte speziell zwischen Angehörigen einer Nationalität erleichtert. Effektive Kommunikation setzt zugleich soziale Komplementarität voraus. Letz­ tere ist ein entscheidender Faktor, der die sozialen Barrieren in einer notwendig ar­ beitsteiligen Gesellschaft, wenn auch in unterschiedlichem Maß, durchbricht und darauf beruht, daß Arbeitsteilung und erhöhte soziale Kommunikation einander be­ dingen. Sie besteht zunächst aus der Komplementarität der Kommunikationsge­ wohnheiten, welche die Gesamtheit der sozialen und kulturellen E rfahrungen umfas­ sen, sekundär auf gemeinsamen sozialen und ökonomischen Präferenzen, die durch Klassenspannungen aufgehoben werden können, aber, in der Regel im gegebenen ökonomischen Bezugssystem dominieren. 37

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Die dialektische Verknüpfung von Kultur als Wertsystem und sozialer Kommuni­ kation als Integrationsfaktor unter den Bedingungen komplementärer Verhaltensmu­ ster ist die Grundlage für das von Deutsch entwickelte, prozeßhafte Modell der Na­ tionalität. E rhöhte soziale Kommunikation einer Bevölkerungsgruppe beruht ur­ sprünglich auf geographischen Faktoren und spezifischen Siedlungsbedingungen, die mit sozialer und ökonomischer Abschließung von Nachbarlandschaften verknüpft sind. Der unter diesen Bedingungen eintretende Prozeß des sozialen Lernens führt zu territorialer Konsolidierung der sozialen Kommunikation, zu einer E rweiterung ge­ sellschaftlicher Komplementarität, damit zu nationaler Assimilation lokaler und re­ gionaler Verbände. Diese erfolgt im Zusammenhang mit Markt- und Handelsbezfe­ hungen von führenden Zentren aus und durch führende soziale Gruppen, die den komplementär kommunizierenden Gruppen Sprache und Verhaltensnormen der sich bildenden Nationalität aufprägen. Damit entstehen potenzierte Kommunikations­ muster, die mit der relativen Abschließung nach außen die Integration nach innen ver­ stärken. Durch die Unterscheidung von Gesellschaft und Gemeinschaft vollzieht Deutsch den wichtigen Schritt von genereller Vergesellschaftung zur Nationsbildung, wobei mehrere Stufen idealtypisch herausgearbeitet werden: Während Gesellschaft durch arbeitsteilige Funktionalität definiert ist, unterschiedliche Kulturen verknüpfen und verschiedene Kommunikationsgemeinschaften umfassen kann, ist die durch erhöhte komplementäre Kommunikation von anderen Teilen der Gesellschaft sich abhebende Gemeinschaft Grundlage der Nationsbildung. Kommukationsbarriercn, die sich in­ folge von Veränderungen der ökonomischen Struktur und durch relativen Abbau in­ nergesellschaftlichen Informationsaustauschs ergeben und sich in unterschiedlichen Graden des sozialen Lernens und der Adaptierung an Innovationen auswirken, resul­ tieren in sekundären Segregationsprozessen, während umgekehrt rascher sozialöko­ nomischer Fortschritt soziale Mobilisierung auslöst, die andersnationale Gruppen zu nationaler Assimilation disponiert. Deutsch verdeutlicht dies u.a. am Beispiel Böhmens, wo trotz gesellschaftlicher Einheit keine geschlossene Nationsbildung erfolgte. Die geringe soziale Kommunika­ tion zwischen Deutschen und Tschechen bewirkte, zusammen mit dem Prozeß verti­ kaler Substituierung, d.h. der Begrenzung des sozialen Aufstiegs auf die eigene Kommunität und der daraus entspringenden sozialen Uberschichtung der deutschen Nationalität über die tschechische, die Spaltung der ursprünglich einheitlichen Ge­ sellschaft entlang den Barrieren von Nationalität und Klasse. Umgekehrt haben die für die expandierende Gesellschaft der USA typischen Bedingungen erhöhter sozialer Kommunikation einen raschen Assimilationsprozeß der einzelnen E inwanderer­ gruppen - mit Ausnahme der blacks (wie der einheimischen Indianer) - ermöglicht. Die Umsetzung erhöhter sozial-komplementärer Kommunikation in Nationalbe­ wußtsein führt Deutsch auf den Prozeß der Modernisierung und industriellen Revo­ lution zurück. Der mit raschem sozialem Wandel eintretende Zwang zu verstärktem sozialem Lernen, der mit wachsender Mobilität zusammenhängt, vermittelt den Indi­ viduen notwendig ein verändertes Bewußtsein, indem sie des unmittelbar sozial rele­ vanten Wertes sozialer Lernvorgänge innewerden. Die E rgebnisse des interkommu38

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nikativen sozialen Lernens gewinnen die Funktion nationaler Symbole, die den Be­ zugsrahmen für Nationalbewußtsein darstellen. Die Durchsetzung dieser Symbole als normative Muster durch führende Sozialgruppen leitet den Prozeß der Nationali­ sierung ein. Der durch die Führungsgruppe unternommene Versuch, das Verhalten der ihrer Nationalität angehörenden Personen effektiver Kontrolle zu unterwerfen, erfolgt durch die E ffektuierung der Techniken sozialer Kommunikation und durch die Sanktionierung kultureller und sozialer Präferenzen; kulturelle Autonomie kann daher allenfalls vorübergehendes Ziel einer Nationalität sein, zumal kulturelle Bezie­ hungen aus dem Gesamtbereich sozialer Kontakte nicht herauszulösen sind. Auf der Basis des Nationalbewußtseins, das den Prozeß der Nationbildung wert­ haft reflektiert, ruht sekundär der nationale Wille. E r wird zur Durchsetzung auto­ nomer Kontrolle von sozialen Führungsgruppen, die sich dazu staatlicher und gesell­ schaftlicher Machtpositionen bedienen, der Nation mit den Mitteln des nationalen Kommunikationssystems aufgeprägt und kann pathologischen Abweichungen un­ terworfen sein, wie im Falle des Nationalsozialismus. Dieser Prozeß stufenhafter Na­ tionalisierung ist sozialökonomisch verursacht und steht in unmittelbarem Zusam­ menhang mit dem Übergang von lokalen und agrarischen Strukturen zu von Handel und Frühindustrialisierung bestimmten Gesellschaftsformen, die von wachsender Mobilität geprägt sind. Die Ausnützung dieser sozialen Disposition sich emanzipie­ render Gesellschaften durch nationale Parteien führt zu einem umfassenden Nationa­ lisierungsprozeß, der durch technologische Fortschritte und die dadurch bedingte Verbesserung des Kommunikationssystems noch verstärkt wird. Hingegen ist die qualitative Seite dieses Prozesses, d. h. die konkrete Form der je­ weiligen Nationsbildung, davon abhängig, in welcher Richtung die durch Mobilität und ökonomischen Fortschritt ausgelösten Assimilations- und Differenzierungsten­ denzen verlaufen. Mobilisierungsgrad und Assimilationsrate lassen nach der Auffas­ sung von Deutsch hinreichend gesicherte Aussagen darüber zu, ob die in den einzel­ nen Ländern hervortretenden nationalen Bewegungen sich abschwächen oder ver­ stärken werden. Starke regionale Differenzen im ökonomischen E ntwicklungsstand werden in der Regel, da sie sich als Kommunikationsbarrieren erweisen, nationale Se­ paratismen begünstigen; ökonomische Angleichung hingegen ist geeignet, das Gefälle zwischen Systemen erhöhter Kommunikation zu verringern, wozu wachsende so­ ziale Kontakte und nationale Durchmischung durch Heirat und internationale Mobi­ lität beitragen können. Unabhängig von der Frage, ob die von Deutsch vorgeschlagene Quantifizierung der einzelnen E lemente der von ihm entwickelten Theorie des Nationalismus den dazu erforderlichen Aufwand rechtfertigt, tritt die Überlegenheit seines Modells ge­ genüber vergleichbaren historischen und soziologischen Nationalismustheorien deutlich hervor. Nation und Nationalismus erscheinen als soziale Gebilde und Ver­ haltensformen, die verschiedene Stufen der Abhängigkeit von dem jeweiligen öko­ nomisch-sozialen System und dessen Veränderung, den historisch gewonnenen E le­ menten nationaler Kommunikation - wie Sprache, Vorstellungswelt, Geschichte, Lebensformen und ethnische E igenart- und des politisch-ökonomischen Kontextes, in dem sie sich jeweils befinden, aufweisen. Die relative Verselbständigung nationaler 39

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Integration von dem bestehenden ökonomischen System infolge der Archaisierung des Kommunikationssystems ist damit durchaus vereinbar. Allerdings ist auch bei Deutsch die Abgrenzung zu anderen Integrationsformen staatlicher und gesellschaftlicher Art fließend. Hier erweist sich Nationalismus erneut als spezifisch historische Kategorie, die sich ausschließlich formalen Definitionen entzieht und werthafte Beurteilung voraussetzt. Die Schwächen des von Deutsch vor­ gelegten Modells, dessen quantifizierende Aspekte am Beispiel national-gemischter Staaten entwickelt werden, liegen zugleich darin, daß die funktionalen Beziehungen zwischen nationaler Struktur und Assimilations- bzw. Mobilisierungsprozessen nicht hinreichend präzisiert werden 63 . In geschlossenen Nationalstaaten, in denen Assimi­ lation im Sinne der E inbeziehung nicht erfaßter Bevölkerungsgruppen in das natio­ nale Kommunikationssystem insignifikant erscheint, ist anhaltende soziale Mobilisie­ rung keineswegs immer mit wachsender Intensität des Nationalismus verknüpft. Umgekehrt findet nationale Assimilation gerade in jenen Perioden verstärkt statt, in denen der Störfaktor nationaler Agitation nicht auftritt. Ferner wird die Rolle politi­ scher Impulse, die von nationalen Zentren, d.h. nationalen Parteien, Bewegungen oder Regierungen, ausgehen, innerhalb dieses im wesentlichen auf Massenwirkungen abgestellten Modells unterbewertet. E s verwundert daher nicht, daß die durch die Arbeiten von Deutsch ins Leben gerufene Forschungsrichtung, die sich auf ein in Yale und Harvard, und analog in anderen Ländern, aufgebautes Datenarchiv (Yale Politi­ cal Data Program) stützen kann, überwiegend den Aspekt des sozialen Wandels, und hier insbesondere den des wirtschaftlichen Wachstums, aufgegriffen hat und ihn weit mehr am Beispiel der E ntwicklungsländer und der an die Spitze des Industrialisie­ rungsprozesses tretenden „Kulturnationen“ verfolgt als an dem der kleinen europä­ ischen Nationen, für die der Aufbau eines nationalen Bildungswesens und eigener so­ zialer Institutionen weit größere Bedeutung besessen hat als die ökonomische Fort­ entwicklung. In dem Modell des political development, das die Forschungsgruppe von G. A. Al­ mond und L. Pye 6 4 vorgelegt hat, wird der Nationalismus konsequent als Form der Überwindung einer staatlichen bzw. gesellschaftlichen Identitätskrise auf eine spezi­ fische Phase der „politischen E ntwicklung“ eingeschränkt, womit der Faktor „Natio­ nalismus“ zu einer Integrationstechnik führender E liten instrumentalisiert und die im Verlauf des historischen Prozesses sich verselbständigenden E lemente der Nationali­ tät auf Attribute vorausgehender staatlicher Organisation reduziert werden. Auch die bemerkenswerte Studie von M. Hroch 6 5 über die Sozialgeschichte der nationalen Be­ wegung bei den kleinen Völkern Europas, die wesentliche Aufschlüsse über die Struk­ tur der den Nationsbildungsprozeß tragenden Patriotengruppen erbringt, setzt das Vorhandensein objektiver ethnischer E inheiten bzw. historischer Staatsgebilde vor­ aus und übernimmt die Kategoriedes „nationalen E rwachens“ im Sinn eines teleologi­ schen Verlaufsmodells. Neben der von der Forschung entschieden verfolgten vergleichenden Analyse so­ zialer Wandlungsprozesse und áespolitical development ist einevergleichende histori­ sche Analyse der politischen Nationalbewegungen notwendig, die sich nicht in den generalisierenden Aspekten der allgemeinen E litenforschung erschöpft und Nationa40

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lismus nicht als Herrschaftsstrategie formalisiert. Nur dann wird die Interdependenz zwischen sozialen Ursachen des Nationalismus, die sich in Form von spezifisch ge­ prägten Kommunikationssystemen verfestigen und sich zunehmend gegenüber den sozialökonomischen Faktoren als objektive historische Bedingungen verselbständi­ gen, und dessen politischer Motivation, die auf dem subjektiven Willen handelnder Individuen beruht, adäquat beschrieben werden können.

7. N a t i o n a l i s m u s u n d Nationalitätenfrage i m Verständnis des klassischen M a r x i s m u s K. Marx und F. E ngels haben sich niemals systematisch mit dem Problem des Na­ tionalismus befaßt; in dem von ihnen entwickelten politisch-ökonomischen System hat es nur periphere Bedeutung. E rst in späterer Zeit hat Engels die Gefahren erkannt, die der E inheit der sozialistischen Bewegung durch den Nationalismus erwuchsen. Beide Denker gingen vom westlichen Nationbegriff aus und übernahmen die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geläufige Terminologie. „Nation“ und „Gesell­ schaft“ wurde von ihnen wechselweise im Sinn von Staatsbürgergesellschaft ge­ braucht. Auch der Begriff „Nationalität“ hatte für Marx zunächst nur den Sinn von Staatszugehörigkeit. E rst in der Revolution von 1848 erkannten die beiden Redak­ teure der „Neuen Rheinischen Zeitung“ die Problematik der nationalen Selbstbe­ stimmung und des Nationalitätenprinzips. Analog zu der westeuropäischen Orientierung beurteilten Marx und E ngels den Nationalismus ausschließlich vom Standpunkt der Durchsetzung des bürgerlichen Nationalstaats, d.h. der Überwindung rückschrittlicher Kleinstaaterei und feudaler Restbestände zugunsten der Schaffung eines breiten inneren Markts als Vorausset­ zung für die kapitalistische Akkumulation. Die Identifikation von Nation und bür­ gerlichem Nationalstaat ließ die Nationalitätenprobleme und die Fragen des Nationa­ lismus als „ein mit der kapitalistisch-bürgerlichen Welt heraufkommendes und mit ihr verschwindendes Prinzip“ erscheinen 66 . So konnte Marx in der „Deutschen Ideolo­ gie“ die revolutionäre Bewegung des Proletariats als Ausdruck „der Auflösung aller Klassen, Nationalitäten etc. innerhalb der jetzigen Gesellschaft“ bezeichnen 67 . Marx' Standpunkt transzendierte den bürgerlichen Kosmop olitismus und zielte auf die Beseitigung der Nationalität als materiellem wie psychologischem Faktor. Marx war der Auffassung, daß unter allen Völkern „das Beharren auf der Nationalität nur noch bei den Bourgeois und ihren Schriftstellern“ zu finden sei 68 ; wiederholt wies er auf die zersetzende Wirkung hin, die vom Freihandel auf die Nationalitäten ausgehe: er beseitige die Monopolisierung einzelner Absatzgebiete durch den Merkantilismus und die Abgeschlossenheit der Nationen voneinander, und das selbst dort, wo die Be­ dingungen für die E ntwicklung des modernen Industriesystems noch in den Anfän­ gen stünden. Angesichts wachsender ökonomischer Abhängigkeit zwischen den Na­ tionalstaaten glaubte Marx, die E ntstehung einer einheitlichen Weltgesellschaft im Zug der Ausweitung der kapitalistischen Marktbeziehungen innerhalb absehbarer 41

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Zeit vorhersagen zu können. Mit der vordringenden kapitalistischen Produktions­ w e i s e - h i e ß es im „Manifest der Kommunistischen Partei“ - w ü r d e n Produktion und Konsumtion aller Länder „kosmopolitisch“ gestaltet; „allseitiger Verkehr“ und „all­ seitige Abhängigkeit der Nationen voneinander“ würden die „nationalen Absonde­ rungen und Gegensätze der Völker“ zurücktreten lassen; desgleichen werde aus der Vielfalt der lokalen und nationalen Literaturen eine Weltliteratur hervorgehen 69 . Vor allem im Freihandel und in der europäischen Auswanderungsbewegung er­ blickte Marx ein entscheidendes Motiv dieser E ntwicklung, von der er annahm, daß sie nicht in jedem Land die ganze historische Stufenfolge durchlaufen müsse. Von der Rückständigkeit Ostmitteleuropas und des zaristischen Rußland überzeugt, setzte er auf die rasche kapitalistische E xpansion der „Neuen Welt“. Denn Länder, die „in ei­ ner schon entwickelten Geschichtsepoche von vorn anfangen“ - d.h. im Kapitalis­ mus - , hätten nicht mit „anderen naturwüchsigen Voraussetzungen“ zu rechnen und konnten mit der „entwickeltsten Verkehrsform“ beginnen, „noch ehe diese Verkehrs­ form in den alten Ländern sich durchsetzen kann“ 7 0 . Auch „die barbarischsten Na­ tionen“ würden im Verlauf dieses Prozesses von der Bourgeoisie gewaltsam zur Zivi­ lisation, d . h . zu weitgehender E ntnationalisierung, gezwungen. Vermittels dieser Überlegung glaubte Marx, eine rasche Angleichung der Nationen voraussagen zu können; durch Ausschaltung der E xploitation, d. h. der Konkurrenzwirtschaft, wür­ den dann auch äußerlich die nationalen Unterschiede eingeebnet. Die bürgerliche Gesellschaft „umfaßt das gesamte kommerzielle und industrielle Leben einer Stufe und geht insofern über den Staat und die Nation hinaus, obwohl sie andrerseits wieder nach Außen hin als Nationalität sich geltend machen, nach Innen als Staat sich gliedern muß“ 71 . Diese Zwischenstufe des bürgerlichen Nationalstaats trug nach Marx den Keim zu seiner Überwindung in sich, sowohl nach der herrschaft­ lichen als auch nach der nationalen Seite. Desgleichen mußte der „alte naturwüchsige Nationalegoismus“, wie E ngels 72 1845 formulierte, gegenüber kosmopolitischen Tendenzen zurücktreten; die „ursprüngliche Abgeschlossenheit der einzelnen Natio­ nalitäten“ 73 wird durch die Arbeitsteilung zwischen den modernen Kulturnationen aufgebrochen. Die entscheidende Funktion hatte auch hier das Proletariat; als welthistorische Klasse war es dazu prädestiniert, auch in bezug auf die Nationalität die Negation der Negation zu sein: „die Proletarier sind der großen Masse nach schon von Natur ohne Nationalvorurteile, und ihre ganze Bildung und Bewegung ist wesentlich humanita­ risch, antinational. Die Proletarier allein können die Nationalität vernichten, das er­ wachende Proletariat allein kann die verschiedenen Nationen fraternisieren lassen“ 74 . Während die pathetische Forderung der „Verbrüderung der Nationen“ in Wahrheit nur die „Verbrüderung unter den Bourgeoisklassen aller Nationen“ darstelle und die Überwindung nationaler Gegensätze nur theoretisch, nicht praktisch zu vollziehen vermöge, werde die Verbrüderung der Arbeiter aller Völker die Vereinigung der Na­ tionen möglich machen 75 . Denn die Abschaffung der kapitalistischen E igentumsver­ hältnisse werde die gemeinschaftlichen Interessen der Völker freisetzen und die Be­ dingungen der „E xploitation der Völker unter sich“ aufheben, welche die eigentliche Ursache nationaler Konflikte (und damit des Nationalismus) sei. 42

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Es ist umstritten, ob Marx und E ngels die völlige Auslöschung nationaler Beson­ derheit und die Verschmelzung der Nationen ins Auge gefaßt haben. Die berühmte Formel des Kommunistischen Manifests: „Die Arbeiter haben kein Vaterland. Man kann ihnen nicht nehmen, was sie nicht haben“ 7 6 , beantwortete die Frage nach dem Schicksal der Nationalität, welche die Herrschaft des Proletariats noch mehr „ver­ schwinden machen“ werde 7 7 , eher ausweichend. Sie geht offenbar auf den ursprüngli­ chen Programmentwurf des Bundes der Kommunisten zurück, den E ngels in diesem Punkt in seinen „Grundsätzen des Kommunismus“ nicht abänderte 78 . E s stimmt da­ mit überein, daß der in einem - mit den Feuerbachthesen im Zusammenhang stehen­ den - E xpose von Marx zum Verhältnis von bürgerlicher Gesellschaft und kommuni­ stischer Revolution enthaltene Punkt „DieNationalität und das Volk“ im Kommuni­ stischen Manifest nicht explizit aufgegriffen wurde und auch sonst unausgeführt blieb 7 9 . Marx und E ngels teilten, wenn auch in modifizierter Form, die Illusion von J . G. Herder und J . - J . Rousseau, daß die E manzipation der Völker nationale Konflikte hinfällig machen würde. „Der Sieg des Proletariats über die Bourgeoisie ist zugleich der Sieg über die nationalen und industriellen Konflikte, die heutzutage die verschie­ denen Völker feindlich einander gegenüberstellen“, erklärte Marx 1847 anläßlich des Jahrestags des polnischen Aufstandes von 1830 80 , und im Kommunistischen Manifest hieß es: „Mit dem Gegensatz der Klassen im Innern der Nation fällt die feindliche Stellung der Nationen gegeneinander“ 81 . Folgerichtig ordnete Marx die nationale der sozialen E manzipation unter und formulierte, daß Polen „daher nicht in Polen, son­ dern in England zu befreien“ sei 82 . Später wird Engels dagegen von der Pflicht der Po­ len und Iren sprechen, national zu sein, bevor sie international sein könnten 83 . Die scheinbare Unklarheit des Kommunistischen Manifests hinsichtlich der natio­ nalen F r a g e - einerseits ist von der Aufhebung der Nationalität, andererseits von der Notwendigkeit des bürgerlichen Nationalstaats und der Konstituierung des Proleta­ riats als Nation, seiner E rhebung zur „nationalen Klasse“ die Rede 84 - entspringt der Konvergenz zweier begrifflich klar geschiedener historischer E ntwicklungsphasen: der vollen Durchsetzung des kapitalistischen Systems im durch die bürgerliche Revo­ lution geschaffenen Nationalstaat und dessen Überwindung durch den dialektischen Zusammenhang zwischen dem Aufstieg des klassenbewußten Proletariats und der wachsenden inneren Widersprüche des kapitalistischen Systems. Der bürgerliche Na­ tionalstaat - Marx spricht hier von den „modernen“, d. h. den industrialisierten Völ­ kern - ist Grundlage des Kommunismus, der „empirisch nur als die Tat der herr­ schenden Völker ,auf einmal' und gleichzeitig möglich“ sei 85 . Die Herrschaft des Pro­ letariats als „nationale Klasse“ in Analogie zur Souveränitätserklärung des Dritten Standes in der Französischen Revolution ist der Form nach noch national, dem Inhalt nach international, d.h. durch die internationale Klassensolidarität des Proletariats geprägt, und nur bei den führenden Nationen gleichzeitig möglich. Zweifellos neigten Marx und E ngels dazu, den Faktor des Nationalismus innerhalb des revolutionären Gesamtprozesses weitgehend zu negieren. Trotz frühzeitig anklingender nationaler Töne, insbesondere bei Engels 86 , standen beide im Bannkreis kosmopolitischer Ideen 43

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, sosehr sie auch bemüht waren, den proletarischen Internationalismus davon deutlich abzusetzen. Die Beurteilung der nationalen Frage durch Marx und E ngels, die in ihren Grund­ zügen noch vor der bürgerlichen Revolution von 1848 feststand, hatte die Intensivie­ rung der nationalen Bewegung in Europa im Zusammenhang mit der Verstärkung der demokratischen Tendenz nicht hinreichend antizipiert. Die revolutionäre Situation von 1848/49 stellte ihre Prognosen in doppelter Weise in Frage. E rstens trat die inter­ nationale Interdependenz der revolutionären Bewegungen nicht in dem Maß in E r­ scheinung, wie Marx erwartet hatte, der noch Anfang 1849 einen neuen revolutionä­ ren Anstoß von Frankreich und England erhoffte. Zweitens wirkte der Nationalismus nicht bloß bei den kleinen ostmitteleuropäischen Völkern als fortschrittshemmender Faktor. Der revolutionäre Völkerkrieg zur Befreiung Polens und zur Niederringung des zaristischen Rußland erwies sich als Utopie; liberale Polenbegeisterung verwan­ delte sich in einen scharfen deutsch-polnischen Konflikt; im Zeichen des Panslawis­ mus mobilisierte, nach Auffassung von Marx und E ngels, das Zarentum die slawi­ schen Völker der Donaumonarchie für die Kräfte der Konterrevolution. Die E inengung des revolutionären Tableaus, die nicht mit dem erwarteten Fort­ schreiten des kapitalistischen Systems zusammenstimmte, erklärt die radikale Posi­ tion von Marx und E ngels gegenüber den aufbrechenden Nationalitätenfragen. Wäh­ rend sich vor 1848 vor allem bei E ngels Anklänge an das nationale Selbstbestim­ mungsrecht finden - „E ine Nation kann nicht frei werden und zugleich fortfahren, andre Nationen zu unterdrücken“, hatte er 1847 erklärt 87 - und die E rhebung der Südslawen von der „Neuen Rheinischen Zeitung“ zunächst begrüßt wurde, traten Marx und E ngels in der Revolution als schärfste Gegner des Nationalitätenprinzips hervor. Mit Klarheit erkannten sie die Gefahr, die von der politischen Mobilisierung des vorindustriellen Potentials der ost- und südostmitteleuropäischen Nationalitäten für die bürgerliche Revolution erwachsen würde. Während Marx 1845 an dem univer­ sellen Charakter der revolutionären E ntwicklung nicht zweifelte, trat nun deren par­ tikularer, auf die „herrschenden Völker“ begrenzter Charakter deutlich in E rschei­ nung. Gegenüber der Alternative, den bei den slawischen Völkern einsetzenden Pro­ zeß der Nationalstaatsbildung abzuwarten, d.h. zuerst die universelle Ausbildung der bürgerlichen Klassengesellschaft als Voraussetzung der proletarischen Revolution geschehen zu lassen, entschieden sie sich für die isolierte Revolutionierung der dazu fähigen großen Kulturvölker und für eine rücksichtslose Niederkämpfung derjenigen Emanzipationsbewegungen, die diesen Prozeß behinderten. Das Prinzip der vorzeitigen Revolution, das von den Londoner Revolutionären nach der Niederlage der bürgerlichen Demokratie in Mitteleuropa auf die proletari­ sche Bewegung übertragen wurde, war mit der prinzipiellen Ausklammerung der emanzipatorischen Funktion des Nationalismus der kleinen V ö l k e r - mit Ausnahme der Iren und der Rumänen-verknüpft. E rstV. I. Lenin hat, mit der in klarem Gegen­ satz zu den nationalitätenpolitischen Auffassungen von Marx und E ngels stehenden Übernahme des Selbstbestìmmungsrechts in die sozialistische Revolutionstheorie, diesen epochalen Fehler zu korrigieren versucht. Von Marx und E ngels wurde das Selbstbestimmungsrecht konsequent abgelehnt, trotz vereinzelter Konzessionen an 44

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den Generalrat der Internationalen Arbeiter-Assoziation, dessen Mehrheit auf diese vulgärdemokratische Parole eingeschworen war. E ngels setzte ihr den von der De­ mokratie wie von der Arbeiterklasse seit jeher verfochtenen Anspruch „der großen europäischen Nationen auf selbständige und unabhängige E xistenz“ entgegen 88 , schränkte die Gültigkeit des Prinzips also auf die Kulturnationen ein. ' Die Frontstellung gegen Napoleon III. erleichterte es Marx und E ngels, an ihrer ri­ gorosen Zurückweisung des nationalen Selbstbestimmungsrechts als eines generellen Prinzips auch in der Folgezeit festzuhalten. E ngels sprach vom „abstrakten Nationali­ tätenprinzip“, das den Gesichtspunkt der Vitalität und europäischen Bedeutung der Völker verleugne und das nicht erst eine bonapartistische, sondern eine russische, ge­ gen die polnische Unabhängigkeit gerichtete Erfindung gewesen sei. Nur in Osteuro­ pa, wo E bbe und Flut asiatischer Invasionen ein Jahrtausend hindurch Völkersplitter angeschwemmt hätten, habe es erfunden werden können. Ohne Zweifel verkannten Marx und E ngels die autochthonen demokratischen Bestrebungen, welche die Selbst­ bestimmungsrechtsforderung zu einer sozialen Realität machten. Vielmehr neigte Marx dazu, diese im Sinn der sonst von ihm so nachdrücklich bekämpften Agenten­ theorie zu interpretieren. E r konnte daher Metternich als den größten „E rhalter der Nationalitäten“ 89 bezeichnen, Louis Napoleon als „den entrepreneur der Finte von der Emanzipation der Nationalitäten“ 90 . Noch in den achtziger Jahren warnte E ngels die deutsche Sozialdemokratie davor, sich aus humanitären Gründen für die Südsla­ wen einzusetzen: „Wir haben an der Befreiung des westeuropäischen Proletariats mitzuarbeiten und diesem Ziel alles andere unterzuordnen“, äußerte er im Februar 1882 gegenüber E . Bernstein und fügte hinzu, es habe ihn viel Zeit und Mühe geko­ stet, die Sympathien für die „unterdrückten“ Nationalitäten loszuwerden 91 . Von Sympathien kann jedoch, trotz anfänglich positiver Beurteilung der südslawi­ schen E rhebung durch die „Neue Rheinische Zeitung“, wirklich nicht die Rede sein. Vielmehr war die Polemik, die E ngels 1848/49, aber auch in den darauffolgenden Jahrzehnten gegen die nationalen E manzipationsbewegungen der habsburgischen Nationalitäten richtete, von beispielloser Schärfe. Diese „Völkerruinen“ und „Völ­ kerabfälle“, „ohnmächtige, ihrer Nationalkraft beraubte Stämme“, seien „die fanati­ schen Träger der Konterrevolution“ und müßten den großen Nationen einverleibt werden 92 . Die harte Forderung, ganze konterrevolutionäre Völker, die durch ihre Existenz allein schon reaktionär seien, im Sturm der europäischen Revolution zu ver­ nichten, der Appell an nationale Instinkte und Leidenschaften, der Ruf nach rück­ sichtslosem terroristischem Vernichtungskrieg - all dies erklärt sich wohl teilweise aus dem ungezügelten Haß, den Marx und E ngels dem zaristischen System, das sie hinter den panslawistischen Bestrebungen witterten, entgegenbrachten. Aber es ist unzwei­ felhaft, daß dabei auch national-deutsche E rwägungen (bei E ngels stärker als bei Marx) einwirkten. Bei aller schonungslosen Kritik an der eigenen Nation, bei allem „eingefleischten Westeuropäertum“ - so G. Mayer - , ist doch bei Marx und E ngels eine nie offen eingestandene nationale Grundhaltung im Spiel, die ihre nationalitätenund außenpolitischen Urteile beeinflußt hat. Das gilt nicht zuletzt für die Begründung, die Engels der Nationalitätenpolitik der „Neuen Rheinischen Zeitung“ gab. Er knüpfte dabei sowohl an die Volksgeistlehre G. 45

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W. F. Hegels als auch an die in der „Deutschen Ideologie“ entwickelte Unterschei­ dung zwischen den modernen industriellen Völkern und bloß naturwüchsig sich bil­ denden Nationalitäten an. Die Gegenüberstellung von historischen und unhistori­ sehen Völkern lag in einer Linie mit Hegels Vorstellung, daß die Slawen, durch die Herr-Knecht-Beziehung geprägt, zur Ausbildung einer eigenen Staatlichkeit unfähig und damit bloß Objekt der Geschichte seien. Die Marxsche Analyse kam Hegels idea­ listischer Deutung nahe: die ostmitteleuropäischen Nationalitäten waren - im Gegen­ satz zu den großen europäischen Kulturvölkern - nicht nur in dem Sinn „geschichts­ los“, daß sie (wie E ngels zunächst glaubte) keine historische Tradition besaßen; viel­ mehr stellten sie Relikte dar, die vor der E ntstehung der modernen Nationen lagen, die im Zug bewußter Veränderung der Produktionsverhältnisse erfolgt war; sie waren naturwüchsig, nicht geschichtlich, Hindernisse auf dem Weg zur Aufhebung der Herrschaft der Natur über den Menschen. „Völker, die nie eine eigene Geschichte ge­ habt haben“, schreibt E ngels 1849, „haben keine Lebensfähigkeit“; im gleichen Zu­ sammenhang nennt er die Tschechen eine geschichtlich gar nicht existierende ,Na­ tion*“ 93 . F. Lassalle argumentierte später ähnlich und bezeichnete die Nationalität als „ein Naturprodukt“; ein Recht auf historische Existenz habe sie nur dann, wenn sie es vermöge, „die ihr in natürlicher Weise innewohnende Bestimmtheit zum Ausgangs­ punkt und Prinzip einer eigenen historischen Selbstproduktion zu machen“ 94 . Im Licht des historischen Materialismus mutet es befremdlich an, daß diese ideali­ stische Argumentation mit - wie man später sagen wird - sozialdarwinistischen Ar­ gumenten abgestützt wird. So suchte E ngels die „Lebenskraft“ einer Nation an ihrer Fähigkeit zu messen, sich fremde Nationalitäten zu assimilieren (eine Vorstellung, die sich mit denselben nationalimperialistischen Untertönen auch bei Lassalle findet). Wiederholt kritisiert er die Polen, die im Gegensatz zu den Großrussen nicht im­ stande seien, sich fremde E lemente zu assimilieren. Mit diesem Argument fiel E ngels hinter die gemeinsam mit Marx entwickelte theoretische Position zurück: denn es ist evident, daß der Prozeß nationaler Assimilation von sozioökonomischen Ursachen bestimmt ist, die mit nationaler Vitalität oder Kulturentwicklung nicht in Zusam­ menhang stehen. Wie problematisch die in diesen Auffassungen implizierte Aufforde­ rung zu nationaler Unterdrückung war, ist E ngels wohl nie ganz klar geworden. In einem Brief an J . Weydemeyer vom April 1853 gestand er widerwillig den Zusam­ menhang ein, der zwischen der Wiederherstellung Polens in dessen historischen Grenzen und der Aufrichtung der polnischen Adelsherrschaft in den überwiegend ru­ thenisch bzw. litauisch besiedelten östlichen Provinzen gegeben war 95 , kehrte jedoch zur Forderung des jagellonischen Polen zurück. Es geht unter diesen Umständen nicht an, die Nationalitätenpolitik der „Neuen Rheinischen Zeitung“ als konsequente Unterordnung der nationalen Frage unter die revolutionären Notwendigkeiten in der spezifischen Situation des Revolutionsjahres zu rechtfertigen 96 . Gewiß spielte für Marx und E ngels das Motiv, daß die aufbrechen­ den Nationalitätenkonflikte das revolutionäre Konzept vollständig zu verderben drohten, eine gewichtige Rolle. Die Grundlagen für ihre Beurteilung der Nationalitä­ tenfragen waren jedoch schon vorher gelegt und sind später nicht wesentlich modifi­ ziert worden. Gewisse Meinungsunterschiede - etwa bei der Beurteilung der rumäni46

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sehen Nation, deren E manzipation E ngels als absurd verwarf, während Marx 1878 positive Worte für sie fand - berühren die prinzipielle Position nicht. Fragwürdig war insbesondere der praktische Bewertungsmaßstab. Widerspruchsvoll erwies sich die Unterscheidung zwischen revolutionären und konterrevolutionären Nationen auch im Fall Polens, das Marx als „»auswärtigen' Thermometer“ der europäischen Revolu­ tion betrachtete 97 . Während E ngels den Tschechen eine nationale Zukunft bestritt „ . . . welch ein Slawenreich, in dem schließlich doch die deutsche Bourgeoisie der Städte herrschen würde“ 9 6 - , weil sie wegen der fehlenden Ausbildung der Klassen­ struktur zur Rückständigkeit verdammt seien, nahm er Magyaren und Polen von die­ sem Argument aus. Die Wiederherstellung Polens sei notwendig, nicht um der bür­ gerlichen, sondern der agrarischen Demokratie zum Sieg zu verhelfen. Das aber konnte, worauf M. Bakunin hinwies, ebensogut für die übrigen slawischen Völker gelten. Für die relative Wertschätzung Polens waren der Gegensatz zum Zarismus und die damit verknüpften radikalen Polensympathien maßgebend, denen Marx und Engels im Generalrat der I. Internationale schon aus taktischen Gründen nachgaben. Demgegenüber bezweifelte E ngels bereits 1851 lebhaft die progressive Funktion der polnischen „nation foutue“, die nur so lange eine raison d'etre haben werde, „bis Ruß­ land selbst in die agrarische Revolution hineingerissen“ w ü r d e “ , und in „Revolution und Konterrevolution in Deutschland“ (1851-53) pries er die Germanisierung im Osten 1 0 0 . Die entscheidende Defizienz der Nationalitätentheorie von Marx und E ngels ist darin zu sehen, daß sie, abgesehen von zahlreichen sachlichen Irrtümern im einzel­ nen, die sozialen Antriebe der ost- und südostmitteleuropäischen Nationalismen ver­ kannten oder falsch einschätzten. Die allzu grobe Analyse der Rolle der „kleinen“ Nationen in der Revolution von 1848 ließ deren Nationalismus als atavistisches, nicht als emanzipatorisches Phänomen erscheinen, zumal E ngels ihnen eine Bourgeoisie in nennenswertem Umfang absprach. Die später zum sozialistischen Stereotyp wer­ dende Formel vom „bürgerlichen Nationalismus“ als Mittel zur Harmonisierung so­ zialer Konflikte kann sich auf frühe Äußerungen von Marx berufen. Jedoch betrach­ tete er den bürgerlichen Nationalismus der Bourgeoisie im wesentlichen als rezessiv, während er ihn bezeichnenderweise als Merkmal des Bonapartismus herausstellte, ei­ nes Systems, das auf spezifischer Schwäche der Bourgeoisie und auf der Manipulation kleinbürgerlicher und kleinbäuerlicher Massen beruhte. Die spätere Deutung Schum­ peters, der den Nationalismus als vorkapitalistische E rscheinung begriff, entspricht durchaus der Nationalitätentheorie von Marx und E ngels. Auf der anderen Seite ist ein durch die zeitgeschichtliche E rfahrung vermittelter, zunehmender Realismus in der nationalen Frage zu konstatieren. Die völlige Zurück­ stellung der nationalen vor der sozialen Befreiung wurde zugunsten der Unterstüt­ zung der polnischen, der magyarischen und der irischen Nationalbewegung aufgege­ ben. In der gleichen Linie liegen der Bruch mit der kosmopolitischen Tradition der I. Internationale und die Anerkennung des Prinzips, daß „eine internationale Bewegung des Proletariats“ nur zwischen „selbständigen Nationen“ möglich sei 101 . Damit paß­ ten sich Marx und Engels der allgemeinen Tendenz an, die entgegen den euphorischen Prognosen des Vormärz auf nationale Absonderung der Nationalstaaten drängte, 47

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damit zugleich die innenpolitischen Interdependenzen zwischen den europäischen Mächten verringerte. Damit war jedoch der Ansatz, die revolutionäre E manzipation auf der Basis der herrschenden Völker gleichzeitig zu vollziehen, fragwürdig gewor­ den. Die Hoffnung von Marx, die irische Frage als auslösenden Faktor für Sozialrevo­ lutionäre Entwicklungen in Großbritannien benützen zu können, war daher nicht viel mehr als eine Reminiszenz an die Illusion einer gesamteuropäischen Revolutionie­ rung. Angesichts der nationalstaatlichen Wirklichkeit begegnete Marx allen Bekundun­ gen eines naiven Antinationalismus mit Skepsis. Als P. Lafargue den später von Ren­ ner aufgenommenen Gedanken propagierte, Nationalitäten und Nationen in Ge­ meinschaften unterhalb der staatlichen E bene zu konstituieren, nannte Marx das in einem Brief an Engels vom 30. Juni 1866 verächtlich „Proudhonisierten Stirnerianis­ mus“ 1 0 2 und meinte, daß hinter diesem prononcierten Internationalismus ein handfe­ ster französischer Chauvinismus verborgen sei. Andererseits war Lafargues Stand­ punkt, den Marx ironisch in die Formel faßte: „D'ailleurs sind alle ,Reaktionäre*, die die ,soziale' Frage mit den »superstitions' der Alten Welt inkumbieren“ 1 0 3 , nicht sehr weit von den von ihm bis in die fünfziger Jahre vertretenen Auffassungen entfernt. Diese Äußerung, aber auch die positive Hervorhebung des Nationalbewußtseins der englischen Arbeiter in der Zeit des Krimkrieges deuten darauf hin, daß für Marx der Nationalismus in seiner demokratisch interpretierten, westeuropäischen Variante nicht problematisch war. E r dachte in dieser Hinsicht stärker in den Kategorien des vornationalistischen europäischen Denkens. Im 1. Band von „Das Kapital“ brand­ markte er die inhumanen Methoden des Kolonialsystems; gleichwohl betrachtete er die gewaltsame kapitalistische Zivilisierung und damit E ntnationalisierung der Kolo­ nialvölker als historisch notwendig. Konsequenterweise brachte Marx für nationale Unabhängigkeitsbewegungen kein Verständnis auf. Um der Priorität der sozial nivel­ lierenden kapitalistischen Ausbreitung willen rechtfertigte er nicht nur die Annexion großer Teile Mexikos durch die USA, sondern auch die britische Herrschaft in Indien, welche die Funktion hatte, den „asiatischen Despotismus“ zu überwinden 1 0 4 . Auch bei Engels findet sich, von Ansätzen abgesehen, keine systematische Analyse des Nationalismus. Seine von L. H. Morgan 105 beeinflußten Studien zur Gentilverfassung ließen das Problem der Nationsbildung unberücksichtigt. Obwohl E ngels wiederholt von den mitteleuropäischen Arbeiterparteien mit dem Problem des Na­ tionalismus konfrontiert wurde, der die Einheit der Bewegung bedrohte, blieb er bei der ursprünglichen Auffassung, daß die Lösung der Nationalitätenfrage bis zum Zeit­ punkt der sozialistischen Revolution aufgeschoben werden müsse; eine Ausnahme bildeten Iren und Polen, zumal letztere nur mit dem Versprechen baldiger Unabhän­ gigkeit im Lager der revolutionären Kräfte zu halten seien. Trotz der Befürchtung, daß durch einen Krieg „der patriotische Chauvinismus wieder vollständig Oberwas­ ser“ bekommen werde 1 0 6 , hat auch E ngels geglaubt, die sozialistische Bewegung würde sich vom E influß des Nationalismus freihalten können.

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8. S o z i a l d e m o k r a t i e u n d N a t i o n Die nationale Frage spielte bereits im Konsolidierungsprozeß der deutschen Arbei­ terbewegung eine bedeutsame Rolle, und dies galt auch für die Bestrebungen und Entwicklungschancen der I. Internationalen. Die Spaltung der Internationalen Arbei­ ter-Assoziation über den Gegensatz zwischen Marx und Bakunin entsprang auch der unterschiedlichen E instellung zur nationalen Frage. Bakunin hatte sich in seinem „Aufruf an die Slawen“ (Köthen 1848) für die rückhaltlose Durchführung des Selbst­ bestimmungsrechtes eingesetzt und eine Föderation der europäischen Republiken un­ ter Einschluß einer slawischen Föderation propagiert, die mit der Beseitigung staatli­ cher Grenzen und zentralistischer Herrschaftsformen zur friedlichen Völkerverbrü­ derung führen werde. Marx und E ngels äußerten sich über dieses utopische Pro­ gramm mit Spott und Hohn und traten Bakunins demokratischen Panslawismus schärfstens entgegen, der die europäische soziale Revolution auf den Maßstab der „slawischen Agrikultur- und Hirtenvölker“ herabdrücke 107 . Trotz der wirklichkeits­ fremden Idealisierung der bäuerlichen Demokratie schätzte Bakunin jedoch den Pro­ zeß des nationalen E rwachens der Völker Ost- und Ostmitteleuropas weit richtiger ein als E ngels, der bis in die achtziger Jahre hinein an seinem Verdikt gegen die Süds­ lawen und die tschechischen Autonomiebestrebungen festhielt. Bakunin, der die Internationale als sein Vaterland bezeichnen konnte und doch glühender russischer Patriot war, repräsentierte jene Stufe des modernen Nationalis­ mus, der wie beim Jungen E uropa und beim Giovine Italia, bei G. Mazzini und L. Kossuth durch Vermischung kosmopolitischer und nationalistischer Ziele geprägt war. Während Marx und E ngels, obwohl in der Frage der Überwindung des Nationa­ lismus kosmopolitischem Denken verpflichtet, sich mit dem Bekenntnis zum proleta­ rischen Internationalismus, der die E xistenz selbständiger Nationen voraussetzte, bewußt von diesem lossagten, verharrten die meisten Anhänger der I. Internationale auf dieser Stufe des vornationalstaatlichen Denkens. Das gleiche dürfte auch für die Arbeiterschaft gelten, die bis zur Jahrhundertwende den proletarischen Internationa­ lismus als einen naiven Kosmopolitismus auffaßte. „Die Zeit der Nationalitätenabson­ derung ist vorüber, das Nationalitätsprinzip steht heute nur auf der Tagesordnung der Reaktionäre“, hieß es in einem 1868 vom Wiener Arbeitertag beschlossenen „Mani­ fest an das arbeitende Volk in Österreich“ 108 . Die Meinung, daß nationale Fragen die Arbeiterklasse nichts angingen und daß der Sozialismus unmittelbar zur Mensch­ heitsnation führen werde, war bei den frühen Trägergruppen der Arbeiterbewegung weit verbreitet. B. Beckers Broschüre über den „Mißbrauch der Nationalitäten-Leh­ re“ 1 0 9 ist für diese Stimmung repräsentativ. Für die Unklarheit bezüglich der nationalen Frage ist es bezeichnend, daß die Mehrheit der I. Internationale gleichwohl dem Selbstbestimmungsrecht der Völker zuneigte, wenn sie auch nicht so weit ging wie Bakunin. Das galt nicht minder für die sozialistische Arbeiterbewegung in Deutschland, die am Ausgang der Reaktionspe­ riode als Erbin der demokratisch-liberalen E inigungsbewegungen neu ins Leben trat und das Programm der sozialen und demokratischen Republik von der bürgerlichen Demokratie übernahm. Trotz der Bündnisgenossenschaft mit Marx und E ngels hiel49 4

Mommsen, Arbeiterbewegung

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ten A. Bebel und W. Liebknecht an ihren großdeutschen Zielsetzungen fest, die bei Liebknecht durchaus sozialimperialistische Färbung besaßen. Nicht die Forderung nach einer machtvollen deutschen Republik, die bis zur Adria reicht, schied - abgese­ hen von persönlichen und organisatorischen Differenzen - Lassalleaner und E isen­ acher, sondern die Frage, ob Preußen die Führungsrolle im nationalen E inigungspro­ zeß gebühre; Bismarcks kleindeutsche Reichsgründung führte beide Fraktionen not­ wendig zusammen, zumal sie in der Ablehnung des Bonapartismus einig waren. Aus taktischen Gründen sympathisierten beide Gruppen mit der I. Internationale; in der Sache war das jedoch kaum mehr als ein Lippenbekenntnis. Die abweichenden Stel­ lungnahmen zum Deutsch-Französischen Krieg und zur Annexion von E lsaßLothringen entsprangen einer unterschiedlichen Beurteilung der nationalen Frage; Engels' Unterscheidung zwischen „deutschnationalen Interessen und den dyna­ stisch-preußischen“ 110 , mit der er die Oppositionsrolle der Arbeiterpartei begründe­ te, trug jedoch keineswegs zu größerer Klarheit bei. W. Bracke, der vor einem Über­ maß an Kosmopolitismus wie an Nationalgefühl warnte, hatte vollauf recht, wenn er sich von der national intransigenten, gleichwohl patriotisch motivierten Haltung Be­ beis und Liebknechts mit der Bemerkung distanzierte: „Die reine Negation ist in so wichtigen Dingen der Tod“ 1 1 1 . Die innenpolitische Isolierung der deutschen Arbei­ terbewegung nach der Schlacht bei Sedan, die durch ihre Ablehnung der Annexion und ihr E intreten für die Pariser Kommune noch zementiert wurde, hat maßgeblich dazu beigetragen, daß die 1875 vereinigte Partei von dem Standpunkt nationaler Ne­ gation nicht loskam und die trotz des Sozialistengesetzes unaufhaltsam fortschrei­ tende Integration in den deutschen Nationalstaat ignorierte. Die Apostrophierung der Sozialdemokraten als „Reichsfeinde“ und „vaterlandslose Gesellen“ bestärkte sie darin, den Nationalismus als bürgerliches Phänomen zu betrachten. Dies spiegelte sich in den frühen Ansätzen des orthodoxen Marxismus zu einer theoretischen Bewältigung der nationalen Frage. Die Gegensätze zwischen den polni­ schen E migranten über die Restaurationsfrage und ein mehr akademisches Interesse an der E ntwicklung in Österreich veranlaßten K. Kautsky, 1887 in der „Neuen Zeit“ die Frage der historischen und sozialen Grundlagen des Nationalismus aufzugreifen und das hier bestehende ideologische Vakuum zu füllen. Die Zwiespältigkeit des ur­ sprünglichen Marxschen Ansatzes, aber auch die Unsicherheit der Sozialdemokratie in ihrem Verhältnis zur Nation tritt in seiner Stellungnahme klar zutage. Kautsky kri­ tisierte den „kolossalen E influß“ der nationalen Idee 112 und widersprach der bei der Arbeiterschaft verbreiteten Vorstellung, der Nationalismus sei bloßes Instrument po­ litischer Manipulation. Die Frage nach dem Wesen der Nation suchte er, in vergrö­ bernder Fortführung des Marxschen Nationalstaatsbegriffs, mit der Herausarbeitung von zwei Stufen der Nationsbildung zu beantworten. Aus dem Zusammenschluß zahlreicher gentes unter eine gemeinsame Zentralgewalt seien die historischen Völker erwachsen, daher könne von einer Blutsverwandtschaft nur begrenzt gesprochen werden; auch bestünden die Nationen in der Regel aus verschiedenen Volksstämmen, mitunter auch unterschiedlichen Rassen. Die moderne Nation hingegen betrachtete Kautsky als „Kind der kapitalistischen Waarenproduktion und des Waarenhan­ dels“ 113 , als Resultat der Arbeitsteilung, horizontaler Klassenschichtung, der Uber50

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windung des Gegensatzes zwischen Stadt und Land und der Entstehung des Fernhan­ dels. Den Ursprung der Nationalsprache erblickte er im Idiom der Kaufleute. Durch die Schaffung des inneren Markts und den Übergang zur freien Lohnarbeit umfasse die moderne Nation alle Klassen der Bevölkerung. Den Nationalismus führte Kautsky auf die Interessengegensätze des Handelskapitals zurück und bezeichnete ihn als eine wesentlich bürgerliche Idee; in dem Maß, in dem die revolutionäre Rolle der Bourgeoisie als Schöpfer des Nationalstaats zurücktrete, würden die ökonomi­ schen Grundlagen der nationalen Idee offenkundig; diese werde zunehmend zum „Deckmantel für die faulsten Profithaschereien“ 114 . Angelpunkt seiner eklektisch zusammengefügten Theorie der Nationalität bildete für Kautsky die Sprache als grundlegender Faktor der gesellschaftlichen Produktion: „Jeder zieht es naturgemäß vor, mit denen zu arbeiten und überhaupt ökonomische Verbindungen einzugehen, mit denen er sich verständigen kann“ 1 1 5 . Folgerichtig er­ schienen ihm die Nationalitätenstaaten den Nationalstaaten unterlegen; wo die Ten­ denz zur Loslösung an dem unzureichenden Umfang des Binnenmarktes scheitere, wie bei der tschechischen Frage, empfahl er den Übergang zur Doppelsprachigkeit. Nur großen Nationalstaaten, die Zugang zum Meer besäßen, sagte er eine wirtschaft­ liche Zukunft voraus. Die entscheidende Frage nach der Stellung der Arbeiterschaft zur Nation beant­ wortete Kautsky eher ausweichend. Das nationale Interesse des Proletariats bestehe vor allem in der Schaffung und Sicherung der nationalen E inheit. Überdies bilde es der Zahl, der Intelligenz und der Energie nach den Kern der Nation, und „eine der Nation feindliche Politik“ sei daher „der reinste Selbstmord seitens des Proletariats“ 116 . Im Gegensatz zu den nationalistischen Klasseninteressen der Bourgeoisie vertrete das Proletariat die wirklichen ökonomischen Interessen der Nation. Damit stützte Kautsky das Bekenntnis der Sozialdemokratie zur Vaterlandsverteidigung theoretisch ab, während er gleichzeitig den bürgerlichen Nationalismus als im Grund aufge­ bauschtes Produkt zunehmenden Konkurrenzdrucks zu bagatellisieren suchte. Zwar räumte er ein, daß sich der Nationalismus infolge der Herausbildung einer nationalen Tradition gegenüber den ökonomischen Interessen verselbständigen und sich gegen diese wenden könne, aber er zweifelte nicht daran, daß die international solidarische Arbeiterschaft dem Sog nationaler Agitation standhalten werde. Mit dieser die marxistische Tradition und die positivistische Zeitströmung versöh­ nenden Interpretation rückte Kautsky vorsichtig von dem radikalen, den Nationalis­ mus der großen Nationen als Kampfmittel benutzenden Standpunkt von Marx und Engels ab und deutete an, daß die Aufhebung der Klassengegensätze den inneren, na­ tionalen Zusammenhalt verstärken werde. Widerspruchsvoll genug hielt er gleichzei­ tig an der These fest, daß die Nation als soziale Formation peremptorischen Charakter habe. In diesem Zusammenhang hob er die internationalisierende Wirkung des Kapi­ tals im Zeitalter der internationalen Ausstellungen, des internationalen Verkehrs und der internationalen Kongresse euphorisch hervor und meinte, daß im Zug dieser E nt­ wicklung die gegenwärtigen Nationalsprachen zu Dialekten zurückgebildet würden und eine Universalsprache an ihre Stelle treten werde. Zugleich prophezeite er ein schmerzloses Ineinanderaufgehen der Nationen 117 . An dieser Vorstellung hielt er 51

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noch zwei Jahrzehnte später fest: „Sind wir aber einmal so weit, daß die Masse der Be­ völkerung unserer Kulturstaaten neben ihren nationalen Sprachen noch eine oder mehrere Weltsprachen beherrscht, dann ist auch die Grundlage gegeben zum allmäh­ lichen Zurücktreten und völligen Verschwinden zunächst der Sprachen kleinerer Na­ tionen; zur schließlichen Zusammenfassung der gesamten Kulturmenschheit in einer Sprache und einer Nationalität“ 118 . Das bedeutete in der Sache ein völliges Zurückweichen vor den zentralen nationalen Problemen, deren Lösung bis zum Sieg des Sozialismus vertagt wurde. Die bei Kautsky hervortretende Unterschätzung des politischen Gewichts der nationalen Faktoren sowohl im innenpolitischen als auch im außenpolitischen Zusammenhang war für die in rascher Aufwärtsentwicklung befindliche deutsche Sozialdemokratie der neunziger Jahre symptomatisch; sie spiegelte sich in der völligen Verständnislo­ sigkeit der Parteiführung gegenüber den nationalen Minderheiten in den eigenen Rei­ hen. Das formelle Festhalten am Internationalismus führte dabei zur Ignorierung be­ rechtigter andersnationaler Interessen und diente auf der E bene der II. Internationale zur Legitimierung des von J . Jaurès, R. Michels, J . Guesde, G. Hervé, E . Vaillant, K. Hardie und E . Vanderveldc mit Recht zurückgewiesenen, von Marx und E ngels im Prinzip unterstützten Hegemonialanspruchs der reichsdeutschen Sozialdemokratie. Außenpolitisch verharrten die Marx-E pigonen, zumal nach dem Tod von E ngels, in einer exorbitanten Hilflosigkeit, vor allem was die orientalische Frage und die Kon­ flikte auf dem Balkan anging. Mit guten Gründen wandte sich E . Bernstein gegen diese Politik der Ignorierung des Nationalismus, sowohl innerhalb der eigenen Nation wie gegenüber dritten Völ­ kern: „Kein Volk, keine Nationalität wird sich auf den Tag einer allgemeinen Befrei­ ungvertrösten lassen“ 119 . 1898 warf er die Frage auf, ob die marxistische Revolutions­ theorie, indem sie die nationalen Faktoren ignoriere, nicht von falschen Vorausset­ zungen ausgehe; er sei „mehr wie je der Ansicht, daß die nationalen Unterschiede, das geschichtliche, im Temperament der Überlieferungen wurzelnde E lement von weit größerer Bedeutung sind, als wir und unsere wissenschaftlichen Lehrer ursprünglich angenommen haben“ 120 . Österreich werde nicht durch eine soziale, sondern eine na­ tionale Revolution zerschlagen werden; im E rnstfalle würden die Massen nicht inter­ national, sondern chauvinistisch reagieren. Die harmonisierende Auffassung Kauts­ kys, die den Nationalismus auf Bürgertum und Intelligenz begrenzte, das Proletariat gleichwohl mit dem bestehenden Nationalstaat identifizierte, hat zu der verfehlten Selbsteinschätzung der Sozialdemokratie vor dem 1. Weltkrieg maßgebend beigetra­ gen. Trotz ihres formell bekundeten Internationalismus und ihrer kosmopolitischen Ursprünge spiegelte die II. Internationale die zunehmende nationalstaatliche Segmen­ tierung der Arbeiterbewegung. Mit dem Bekenntnis zum Selbstbestimmungsrecht der Völker (London 1896), dessen Anwendung freilich der politischen Opportunität überlassen wurde, und der selbständigen Mitgliedschaft der Polnischen Sozialistischen Partei (Polska Partia Socjalistyczna) für die drei polnischen Teilgebiete nahm sie die Wiederherstellung des polnischen Nationalstaats vorweg. R. Luxemburgs Kritik am Sozialpatriotismus der polnischen Sozialisten und ihr E intreten für eine national un52

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geschiedene Parteiorganisation im Königreich Polen fand weder die Zustimmung der deutschen Partei noch der Internationale. Mit der von Jaurès geprägten Formel, daß wenig Patriotismus von der Internationale entfernte, viel Patriotismus zu ihr hinfüh­ re 1 2 1 , half man sich über die zahlreichen nationalen Interessenkonflikte in der Wehr-, der Generalstreik- und Kolonialfrage hinweg und bezog man gegenüber der drohen­ den Kriegsgefahr eine pazifistische Haltung, die trotz starker antimilitaristischer Be­ strebungen in der Arbeiterschaft nicht mit konkreten Antikriegsmaßnahmen ver­ knüpft wurde. Der Zerfall der österreichischen Gesamtpartei über der Frage der in­ ternationalen E inheit der gewerkschaftlichen Organisationen nahm 1911 den Zerfall der Internationale vorweg. Während eine Minderheit unter A. Pannekoek, J . Strasser, G. Hervé und dem Lu­ xemburg-Flügel - Lenin nahm eine realistischere, vermittelnde Haltung ein - dem sich in der organisierten Arbeiterschaft ausbreitenden Nationalismus das Programm eines rigorosen Internationalismus entgegensetzte und die Nation als Schöpfung der Bourgeoisie perhorreszierte, näherten sich der reformistische Flügel und die Mehrheit der Revisionisten den dominierenden nationalen Strömungen der wilhelminischen Epoche. Ihr Programm trug teilweise imperialistische Züge und gipfelte nach 1914 in der Äußerung P. Lenschs, daß ein Sieg Deutschlands mit dem Sieg des Sozialismus gleichzusetzen sei. G. von Vollmars Kritik an der „Utopisterei eines Aufhörens der Nationen und ihres Untergangs in einem formlosen Völkerbrei“ I 2 2 deutete das E nde eines Mythos an, der es erleichtert hat, daß die nach der Jahrhunderwende neu ent­ deckte nationale Solidarität der Arbeiterschaft vom äußersten rechten Flügel zum Hauptinhalt des Sozialismus erhoben und diesem die Funktion zugeschrieben wurde, durch den Ausgleich der Klassengegensätze die nationale Kulturgemeinschaft herbei­ zuführen. Gegenüber diesen in der deutschen Partei hervortretenden, aber keineswegs auf sie beschränkten nationalen Tendenzen nimmt sich der Versuch Kautskys und des deut­ schen Parteizentrums, zwischen den national-imperialistischen Zielsetzungen des äu­ ßersten rechten und dem rigorosen Internationalismus des linken Flügels eine mittlere Linie zu steuern und formell an dem E intreten des Proletariats für eine „internationale Kultur“ festzuhalten 123 , als schwächliche Defensivstrategie aus. Die Konservierung der Marx-E ngelschen Nationalitätentheorie durch Kautsky erleichterte es, Marx' Russophobie zur Rechtfertigung der Burgfriedenspolitik anzuführen oder, wie H . Cunow 1 2 4 , sich für die Umdeutung des Selbstbestimmungsrechts im annexionisti­ schen Sinn auf Marx' und E ngels' großdeutsche und antislawische Stellungnahmen zu berufen. In der gleichen Linie liegt Cunows Fehlinterpretation des Kommunistischen Manifests, wonach die darin geforderte Konstituierung des Proletariats zur Nation mit dem Bekenntnis zum bestehenden Nationalstaat gleichzusetzen sei, wobei Cu­ now sich auch auf einzelne Äußerungen Kautskys beziehen konnte. Das Dilemma des orthodoxen Marxismus, dem integralen Nationalismus keine andere Alternative als einen hölzern gewordenen Internationalismus entgegensetzen zu können, beruhte nicht zuletzt auf der Fehleinschätzung des Gewichts nationaler Tradition durch Marx und E ngels.

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9. Die Nationalitätentheorie des A u s t r o m a r x i s m u s Im habsburgischen Vielvölkerstaat versagte die sozialdemokratische Politik der Ignc rierung nationaler Fragen. Die E inbeziehung der ungelernten und ländlichen Arbei­ terschaft machte schon aus agitatorischen Gründen national getrennte Organisatio­ nen notwendig; zugleich mußte die Sozialdemokratie jeden Anschein von Germani­ sierung vermeiden. Die nationale Föderalisierung der österreichischen Gesamtpartei von 1897, die I. V. Stalin später schärfster, aber kaum sachgerechter Kritk unterzog, sanktionierte einen faktisch schon seit den siebziger Jahren bestehenden Zustand. Nur dadurch konnte die deutsche Führungsrolle indirekt aufrechterhalten und eine einheitliche Politik der Partei auch in der nationalen Frage sichergestellt werden. An­ gesichts der Lähmung der inneren Verfassung Zisleithaniens durch die seit der Ba­ den-Krise (1897) offen hervorbrechenden nationalrevolutionären Tendenzen konnte die Partei ihre bisher negative Stellung in der nationalen Frage nicht länger beibehal­ ten; sie mußte zumindest den Versuch machen, durch positive Lösungsvorschläge den innerparteilichen Zusammenhalt zu bewahren und einen nationalen Ausgleich in Gang zu bringen, ohne den politische und soziale Reform unmöglich und die Partei zur politischen Sterilität verurteilt war. Das einstimmig verabschiedete Brünner Na­ tionalitätenprogramm von 1899, das die Umwandlung Österreichs in einen Nationa­ litätenbundesstaat und national-kulturelle Autonomie vorsah, war trotz seiner prin­ zipiellen Bedeutung im wesentlichen ein Formclkompromiß zwischen den divergie­ renden nationalen Zielsetzungen der Gliedparteien. Der überlegenen Taktik V. Ad­ lers gelang es, die äußere E inheit der Partei bis zu den Wahlrechtskämpfen von 1905/06 zu bewahren, freilich nur bei gleichzeitiger Vertagung der dringenden Revi­ sion des Brünner Nationalitätenprogramms und dilatorischer Behandlung der stritti­ gen Amtssprachen- und Minderheitenschulfrage. Die Spaltung der Gewerkschaften machte, trotz Anrufung der II. Internationale, den Bruch in der Partei unumgänglich, der schließlich 1911 erfolgte. Auf dem Hintergrund dieser Erfahrungen muß die grundlegende Revision der mar­ xistischen Nationalitätentheorie durch die austromarxistische Schule, durch K. Ren­ ner und O. Bauer sowie dessen Schüler, den späteren Führer der KPC, B. Smeral, be­ urteilt werden. Renner, dessen erste Publikationen zur Nationalitätenfrage schon vor dem Brünner Programm erschienen waren, ohne daß er an dessen Abfassung beteiligt gewesen wäre, ist insbesondere durch seine Analysen der inneren Struktur des zisleithanischen Staatswesens, die er als „zentralistisch-atomistisch“ charakterisierte, und durch seine konstitutionellen Reformvorschläge hervorgetreten, die eine nationale Föderalisierung vermittels national-kultureller Autonomie auf der Basis des kombi­ nierten Territorial- und Personalprinzips vorsahen. Den „Kampf der österreichischen Nationen um den Staat“ führte Renner auf die unzureichende Konstituierung der österreichischen Nationen zurück, da die nationalitätenrechtlichen Garantien nur den Schutz der nationalen Individuen gewährleisteten, während die Völker jedoch im Stand von „Naturburschen“ belassen, d.h. staatsrechtlich nicht existent seien. Grundlegende Prämisse der Rennerschen Reorganisationsvorschläge war die An­ nahme, daß die Nation „geistige Kultur-, nicht materielle Wirtschaftsgemeinschaft“ 54 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35989-2

sei 1 2 5 . Durch die Herauslösung der kulturellen Agenden aus den gesamtstaatlichen Aufgaben, insbesondere der Wirtschafts-, Wehr- und Außenpolitik, und die Schaf­ fung nationaler Selbstverwaltungseinheiten auf genossenschaftlicher Grundlage (Per­ sonalitätsprinzip) glaubte Renner, die „nationale Machtfrage“ auf ihren kulturellen Kern reduzieren zu können. Die Vorschläge Renners, die z.T. im mährischen und ru­ thenischen Ausgleich Anwendung fanden und später für die estländische Kulturauto­ nomie Pate gestanden haben, zielten auf die Entpolitisierung des Nationalismus durch positive rechtliche Garantien; an die Stelle bloßen Minderheitenschutzes setzte Ren­ ner die staatsrechtliche Konstituierung der Nationalitäten als Körperschaften mit ein­ geschränkten Souveränitätsrechten. Das von ihm vorgeschlagene, mehrstufige Regie­ rungssystem war streng genommen kein Nationalitätenbundesstaat, sondern lief auf einen dezentralisierten E inheitsstaat mit national-föderativer Verwaltung hinaus. Der Grundgedanke des Rennerschen Reorganisationsplans bestand darin, die realen so­ zialen und politischen Interessen von den nationalen freizusetzen. E rstere sollten in den gesamtstaatlichen Organen zum Austrag gebracht werden, während die sich de­ mokratischer Kompromißfindung entziehende nationale Frage der gesamtstaatlichen Kompetenz entzogen war. Der Vorwurf, daß Renner das Territorium als Grundlage der Nation ignoriert habe, der am schärfsten von I. V. Stalin herausgearbeitet wurde, ist nur begrenzt be­ rechtigt, da die von Renner angestrebte Kombination von national einheitlichen Ge­ bietskörperschaften mit Personalverbänden, die in den national durchmischten Terri­ torien zu errichten waren, jeder Nation ein unbestrittenes Territorium einräumte und zudem eine weitgehende Dezentralisierung der Verwaltung trotz alledem auftretende nationale Konflikte auf die lokale E bene begrenzte. Der Nachteil dieses Systems be­ stand vielmehr darin, daß es den über kulturelle E igenständigkeit und regionale Au­ tonomie hinausstrebenden Machtwillen der Nationen durch verfassungstechnische Mittel unter den Bedingungen des innerstaatlichen Imperialismus der österreichi­ schen Nationalitäten nicht wirksam neutralisierte und die im Nationalismus virulen­ ten wirtschaftlichen Faktoren einseitig nur für die E rhaltung eines wirtschaftlichen Großraums in Anschlag brachte. Renner war sich bewußt, daß eine endgültige Beile­ gung der nationalen Konflikte erst nach dem Ausgleich der ökonomischen Niveauun­ terschiede zwischen den Nationalitäten und voller Verwirklichung der Demokratie möglich sei; er betonte daher die Identität von Sozial- und Nationalpolitik und er­ blickte die Aufgabe des proletarischen Internationalismus in der Durchsetzung allsei­ tiger sozialökonomischer E manzipation. Renner hielt seinen aus der Not geborenen Reorganisationsvorschlag, der an die Kremsierer Verfassung von 1849 und die Ideen A. Fischhoffs anknüpfte, gleichwohl für geeignet, als Modell einer künftigen sozialistischen Gestaltung E uropas zu dienen. Den Nationalstaat betrachtete er, zumal unter den Bedingungen der ostmitteleuropä­ ischen nationalen Gemengelage, als überholtes Staatsbildungsprinzip, das den groß­ räumigen wirtschaftlichen Notwendigkeiten nicht mehr angemessen und von der Bourgeoisie zugunsten imperialistischer Großstaaten verlassen worden sei. Die von Renner propagierte Reduzierung des Selbstbestimmungsrechts der Völker auf ein Prinzip der Staatsverfassung kam der Aufrechterhaltung der kulturellen Führungs55

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rolle des Deutschtums im Südosten entgegen, die er keineswegs preisgeben, aber vom Odium der Unterdrückungspolitik befreien wollte. Im 1. Weltkrieg war Renner dann Anhänger der Mitteleuropapläne F. Naumanns 1 2 6 und schärfster Gegner des von Bauer inspirierten Nationalitätenprogramms der österreichischen Linken. Gegenüber Kautsky, der am nationalstaatlichen Prinzip festhielt, bezeichnete Ren­ ner seine Analyse als Versuch, „zu einem wissenschaftlichen Internationalismus als Methode zur Überwindung des Krieges mit den Denkmitteln des Marxismus zu ge­ langen“ 1 2 7 . Von der herkömmlichen marxistischen Position unterschied ersieh durch die grundsätzliche Anerkennung der Nationalität als kulturellem Wert und durch die Auffassung, daß die fortschreitende Sozialisierung und Demokratisierung zu einer Vertiefung, allerdings zugleich auch zu einer Entkrampfung und E ntpolitisierung des Nationalbewußtseins führen werde. Dem in sich widersprüchlichen und in nationalen Imperialismus umschlagenden bürgerlichen Nationalitätsprinzip stellte er das soziali­ stische Nationalitätenprinzip gegenüber, das mit der Verwirklichung der „nationalen Demokratie“ als Vorbedingung der „politischen Demokratie“ die Realisierung des Sozialismus erst ermögliche. Gegenüber dem zum „völkerrechtlichen Anarchismus“ tendierenden bürgerlichen Nationalismus bekannte er sich zum proletarischen Na­ tionalismus, der in der Anerkennung der Nation als Kultur- und Rechtsidee die Be­ dingung für die internationale Solidarität des Proletariats erblickte. In seiner grundlegenden Studie über „Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemo­ kratie“ 128 knüpfte Bauer an Renners Reorganisationsvorschläge an. Ihm ging es in­ dessen nicht primär um eine Lösung des österreichischen Reichsproblems, sondern um eine theoretische Grundlegung der Nationalitätenpolitik der österreichischen So­ zialdemokratie. Gegenüber Kautsky bekannte Bauer, er habe „die Realität der natio­ nalen Gemeinschaft zugegeben“, um „gerade auf dieser Grundlage die Notwendig­ keit unserer internationalen Politik“ abzuleiten 129 . Von der unausweichlichen Durch­ setzung des nationalstaatlichen Prinzips überzeugt, betrachtete Bauer den österreichi­ schen Nationalitätenstaat als Anomalie. Die Interessen der habsburgischen Völker an der Erhaltung eines einheitlichen Wirtschaftsraums waren seiner Ansicht nach stärker als die zentrifugalen nationalistischen Tendenzen, die einander neutralisierten. Von diesem Ausgangspunkt her konnte Bauer die nationale Autonomie als notwendiges, dialektisches Resultat des nationalen Kampfes bezeichnen, das den Interessen aller Nationen, der herrschenden wie der sich emanzipierenden, entspräche; analog emp­ fahl er die Anwendung des Autonomieprinzips für Polen. E r hielt den Zerfall der Monarchie für wenig wahrscheinlich; E ngels' Prognose, Österreich werde nach dem Siege der Revolution in Rußland zerfallen, kehrte er ins Gegenteil: nur die Niederlage der Revolution und eine kriegerische weltpolitische Umwälzung würden dies bewir­ ken. Wenn sich Bauer daher für die E rhaltung der Donaumonarchie einsetzte, ge­ schah dies aus der Erkenntnis, daß es für die Partei eine andere Alternative überhaupt nicht gab. Aus dem taktischen Bedürfnis heraus, der „konservativ-nationalen“, an dem histo­ risch gewachsenen Status quo festhaltenden Politik der Bourgeoisie eine „evolutioni­ stisch-nationale Politik . . . der Arbeiterklasse“ entgegenzusetzen 130 , widersprach Bauer der Auffassung Luxemburgs, die Frage der politischen Unabhängigkeit bis zur 56

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Durchsetzung des Sozialismus zurückzustellen, und trat für das Programm der natio­ nalen Autonomie ein. Das Ideal des modernen Kapitalismus bestünde nicht länger im Nationalstaat, sondern im imperialistischen, auf nationaler Fremdherrschaft beru­ henden Nationalitätenstaat. „Von der Bourgeoisie verraten“, werde das Nationali­ tätsprinzip im Zeitaler des reifen Kapitalismus „zum sicheren Besitztum der Arbei­ terklasse.“ 131 Die Spannung, die sich zwischen diesem Postulat und dem Bekenntnis zur national-kulturellen Autonomie auftat, löste Bauer, indem er die nationale Auto­ nomie als das Nationalitätsprinzip der Zukunft hinstellte und seine zeitgenössische Form als „innerstaatliches Nationalitätsprinzip“ bezeichnete 132 . Implizit enthielt Bauers Interpretation bereits die Hinwendung zum Selbstbestim­ mungsrecht bis zur Loslösung, die er intern schon 1913 vollzog und die seiner vom Bewußtsein der kulturellen Überlegenheit des Deutschtums im Donauraum gepräg­ ten großdeutschen Grundhaltung entsprach. Im Unterschied zu Lenin trat jedoch zum taktischen Motiv ein grundsätzliches: Bauer war davon überzeugt, daß nationale Eigenart auch nach dem Übergang zum Sozialismus erhalten bleiben, ja sogar ver­ stärkt hervortreten werde, und er widersprach entschieden den landläufigen Vorstel­ lungen von der E inschmelzung der Nationen im Zug der wirtschaftlichen E ntwick­ lung. Folgerichtig argumentierte er, daß die sozialistischen Gemeinwesen der Zu­ kunft nicht der Souveränität ermangeln würden. Mittels planmäßiger Investitionslen­ kung und Arbeitsteilung werde die sozialistische Gesellschaft das unter kapitalisti­ schen Bedingungen unlösbare Problem der regionalen Distribution und Güterinvesti­ tion unter Kontrolle bringen und damit auch die Sprachgrenzen fixieren und durch planmäßige Assimilation bzw. Bevölkerungstransfer geschlossene nationale Territo­ rien schaffen können. Die volle Realisierung des Nationalitätsprinzips schien Bauer erst im Sozialismus möglich; folgerichtig definierte er das Nationalitätsprinzip als „Staatsbildungsprinzip der einheitlichen und autonomen Nation in einem Zeitalter gesellschaftlicher Produktion“ 1 3 3 . Damit verknüpfte Bauer die Vision einer über den nationalen Gemeinwesen sich ausbildenden föderativen Struktur, eines sozialisti­ schen Staatenstaats der „Vereinigten Staaten von E uropa“, in dem es wegen des Weg­ falls nationaler Fremdherrschaft und kapitalistischer Konkurrenz Wirtschaft relevante nationale Konflikte nicht mehr geben konnte. Diese gewiß auch mit utopischen E lementen versetzte Konzeption hatte gegenüber den zeitgenössischen Auffassungen des orthodoxen Marxismus, aber auch gegenüber Lenins E rwartung des allmählichen Insignifikantwerdens der Nationen im Kommu­ nismus den Vorzug, von dem Tatbestand auszugehen, daß es durchaus nationale In­ teressen des Proletariats gibt, die nicht primär ökonomisch vermittelt sind. Der Rückgriff auf den Neukantianismus, den Bauer mit der marxistischen Tradition zu verschmelzen suchte (den Revisionisten sprach er das Recht, sich auf Kant zu berufen, rundheraus ab), führte ihn zur Anerkennung des Prinzips nationaler Individualität, das er jedoch nicht als Ausdruck des „Volksgeistes“ oder biologischer Abstammung begriff- er kritisierte die idealistische Position als „nationalen Spiritualismus“ - , son­ dern als Inbegriff der spezifischen Historizität der Nation, als deren „erstarrte“ bzw. „geronnene Geschichte“ 134 auffaßte. In der Tat liegt die Besonderheit des Bauerschen Ansatzes in seiner historischen Ab57

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leitung der Nationalität, die jedoch von dem von ihm verwendeten marxistisch-hege­ lianischen und kantianischen Begriffsapparat verdeckt wird. In dem Bestreben, den geschichtlichen Prozeß der Nationbildung zu begreifen, löste sich Bauer mit der Tönnies verpflichteten - E ntgegensetzung von Gemeinschaft und Gesellschaft von der westeuropäischen Identifizierung von Staat und Nation. Während er den Begriff der Gesellschaft nur auf Gruppen angewandt wissen wollte, die durch Unterwerfung unter äußere Sanktionen zustande kommen, subsumierte er unter die Kategorie Ge­ meinschaft jene sozialen Gruppen, die durch gleiche Daseinsweise und gleiches Schicksal (E rleben) innerlich verbunden sind 135 . Dem entsprach seine Unterschei­ dung zwischen der realen Interessenlage sozialer Gruppen und der jeder Klasse „ei­ gentümliche[n], von ihren sozialen Daseinsbedingungen erzeugte[n] Klassenideolo­ gie“ 136 , die er durch die jeweiligen historischen Bedingungen, d. h. die nationale Tra­ dition, bestimmt sah. Im Unterschied zu Kautsky vermied Bauer eine mechanistische Bestimmung des Nationbegriffs, die anscheinend objektiven, in Wirklichkeit nur historisch vermittel­ ten Kriterien folgte, und lehnte deshalb die „Sprachgemeinschaft“, ohne deren grund­ legende Bedeutung zu verkennen, als Konstituens der Nation ab. Auf Kautskys Kri­ tik (die sich später im Leninismus wiederfindet), Bauer leugne die Bedeutung der Sprachgemeinschaft, entgegnete dieser mit Recht, daß er gerade bemüht sei, deren keineswegs selbstverständliche Ursachen zu analysieren 1 3 7 ; ein Ansatz, den die ge­ genwärtige Nationalismustheorie wiederaufnimmt 138 . Ausgehend von der E inheit der Nation in der kommunistischen Urgesellschaft, nahm Bauer deren Zerfall in der Periode des Sondereigentums und die Herausbildung von Sonderkulturen an; mit der Entwicklung des Kapitalismus setzte für ihn ein umgekehrt verlaufender Integra­ tionsprozeß ein, der aber zunächst auf die herrschenden Klassen beschränkt blieb und die Bauern und später das Proletariat als „Hintersassen der Nation“ ausklammerte. Im Zug der Veränderung der Produktionsweisen werde die ursprünglich aristokrati­ sche Kultur von den aufsteigenden sozialen Klassen rezipiert. Im Verlauf dieses Pro­ zesses hatten sich zugleich die Nationalsprachen durch die Angleichung lokaler Dia­ lekte herausgebildet. Durch die Historisierung des sozialdarwinistisch gefaßten Begriffs der Abstam­ mungsgemeinschaft gelangte Bauer zur Definition der Nation als (historischer) „Schicksalsgemeinschaft“, auf die der jedem Volk eigentümliche Nationalcharakter zurückgehe. Schicksalsgemeinschaft bedeutete für Bauer gerade nicht Gleichartigkeit der Klassenlage, sondern ruhte auf arbeitsteiliger Verkehrsgemeinschaft, deren Werkzeug die gemeinsame Sprache ist, ohne damit die „Bürgschaft nationaler E in­ heit“ zu sein 139 . Bauer antizipierte damit in der Sache den späteren Begriff der Kom­ munikationsgemeinschaft. Aus Schicksals- und (dauernder) Verkehrsgemeinschaft erwächst die Kulturgemeinschaft als spezifischer Inhalt der Nation. Diese führt wie­ derum zu einer historisch vermittelten Angleichung der Individuen und damit zu ei­ ner die Klassengrenzen transzendierenden Charaktergemeinschaft, woraus hervor­ geht, daß die Nation als „soziale E rscheinung“ nicht E rgebnis „äußerer Satzung“, auch nicht eine „Summe von Individuen“ sein könnte; vielmehr sei jedes Individuum Produkt der Nation als der verselbständigten historischen E rfahrung, welche die Ge58

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samtheit der Nationsangehörigen präge. Sie ihrerseits entspringe spezifischen gesell­ schaftlichen Bedingungen. Nation wird daher von Bauer als „das Historische in uns“, als „eine E rscheinung des vergesellschafteten Menschen“ 1 4 0 verstanden. Damit hat sich der K reis geschlossen: die Verwirklichung der Nation im Sozialismus ist objektiv das Zu-sich-selbst-Kommen, die Aufhebung der bisherigen durch Klassenkämpfe be­ stimmten Geschichte, subjektiv die Freisetzung der Nation als Willensgemeinschaft und die Identität von innerer Gemeinsamkeit und äußerer Machtausübung. Diese auf kantianischen und hegelianischen Ansätzen beruhende Konzeption ver­ anlaßte Bauer zur Parallelisierung von nationaler und sozialer E manzipation, die bei den historischen Nationen notwendig anders verlaufe als bei denjenigen Völkern, die im Sinn Hegels vorübergehend eine eigene Geschichte entbehrt hätten, deren Histori­ zität von ihm jedoch ausdrücklich hervorgehoben wird. Das „E rwachen der geschichtslosen Nation“ deutete Bauer, indem er die Zeitbedingtheit der E ngelsschen Auffassungen betonte, als „eine der zahllosen E rscheinungsformen der kapitalisti­ schen E ntwicklung“ 1 4 1 . Dort, wo sich die soziale und nationale E manzipation gegen eine fremdnationale herrschende Klasse richte, stelle der nationale Haß nur eine Transformation des Klassenhasses dar 142 . Notwendig besitze die Klassenideologie der Arbeiter bei den bisher unterdrückten Nationen nationalen, bei den herrschenden Nationen internationalen Charakter. Die soziale E manzipation, d.i. der Klassen­ kampf des Proletariats, ziele im geschlossenen Nationalstaat mit der Vergesellschaf­ tung der Produktionsmittel jedoch zugleich auf die Teilnahme der Arbeiter als „Hin­ tersassen der Nation“ an den Gütern der nationalen Kultur, die erst im Sozialismus in vollem Umfang gewährleistet sei. Gegenüber Kautsky betonte Bauer, daß die Über­ nahme (Apperzeption) fremder Kulturinhalte nationale E igenständigkeit nicht besei­ tige: „Die nationalen Kulturen sind die Gefäße, in denen auch die internationale Kul­ tur, das heißt die allen oder mehreren Nationen gemeinsamen Kulturelemente, ge­ borgen sind.“ Internationale Kultur trete nur in „nationalen Sonderkulturen“ in E r­ scheinung 143 . Klassenkampf sei daher immer Kampf um den Besitz der nationalen Kultur. Aus der nationalen Pariah-Situation des Proletariats leitete Bauer den bei diesem ur­ sprünglich vorherrschenden naiven Kosmopolitismus (bzw. naiven Nationalismus bei unterdrückten Völkern) ab. E s gäbe keine Klasse, die vom Nationalismus „voller be­ freit“ sei als das „vom Genuß der nationalen Kulturgüter ausgeschlossene, im Kampfe gegen alle geschichtlich überlieferten Mächte emporkommende Proletariat“ 144 . Die in dieser Formulierung zugrunde liegende Deutung des Proletariats als eine außerge­ schichtliche Klasse verknüpfte Bauer dialektisch mit der in Analogie zum Kommuni­ stischen Manifest formulierten Prognose, daß das Proletariat die eigentlich „nationale Klasse“ darstelle, welche die kulturellen und geistigen Kräfte der Nation erst zu voller Ausbildung bringe. H. Heller kritisierte nicht ganz zu Unrecht den hiermit postulier­ ten Umschlag von der rational-internationalistischen Klassenpolitik des Proletariats in seine wahre Bestimmung als Träger des Reichtums der nationalen Kultur als „To­ dessprung der Bauerschen Logik“ 1 4 5 . Indessen bestritt Bauer nicht, daß auch das Pro­ letariat national empfinde, nur erstrebe es, im Gegensatz zum bürgerlichen Nationa­ lismus, der zum Mittel der politischen und wirtschaftlichen Machtausübung degene59

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riere, die Nation als demokratische Kulturgemeinschaft - eine Auffassung, die G. Radbruchs „Kulturlehre des Sozialismus“ 146 zugrunde liegen wird. Bauer geriet da­ mit in die Nähe eines betont nationalen Sozialismus. Heller konnte sich auf Bauer di­ rekt berufen, wenn er zugespitzt erklärte: „Sozialismus bedeutet keineswegs das Ende, sondern die Vollendung der nationalen Gemeinschaft, nicht die Vernichtung der nationalen Volksgemeinschaft durch die Klasse, sondern die Vernichtung der Klasse durch eine wahrhaft nationale Volksgemeinschaft.“ 147 Insofern endete Bauers Versuch, den internationalen Klassenkampf des Proletariats mit der Anerkennung na­ tionaler Werte zu verknüpfen, in einer Aporie. Sein E intreten für das Selbstbestim­ mungsrecht bis zur Loslösung im Nationalitätenprogramm der Linken von 1918 und später für den Anschluß Deutsch-Österreichs an das Deutsche Reich erschien ihm als folgerichtige Konsequenz aus der veränderten gesamtpolitischen Lage; er sah darin zugleich ein Gebot des internationalen Klassenkampfs. Andererseits hat Bauer das unbestreitbare Verdienst, ausgehend von der marxisti­ schen Theorie, einer realistischeren Auffassung des Nationalismus den Weg gebahnt und die kosmopolitischen Utopien der sozialistischen Bewegung ebenso wie die Fehl­ einschätzung des nationalen Faktors bei Marx und E ngels überwunden zu haben. E r legte damit die Grundlage für eine wirklichkeitsbezogene E inschätzung nationaler Probleme durch den Marxismus. Wenn Stalin und die leninistische Theorie überhaupt Bauer aufs schärfste bekämpften, wobei taktische Probleme der russischen Arbeiter­ bewegung im Spiel waren, so ist doch unverkennbar, daß die praktische Nationalitä­ tenpolitik der UdSSR ähnliche Wege eingeschlagen hat, wie sie die austromarxistische Schule beschrieb. Desgleichen verdankt gerade Stalin dieser wesentliche Anregungen, und es scheint, daß im Zusammenhang mit dem Problem des besonderen nationalen Wegs zum Sozialismus die theoretischen Anstöße Bauers eher an Aktualität gewinnen werden.

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2. Sozialismus und Nation Z u r B e u r t e i l u n g des N a t i o n a l i s m u s in der marxistischen Theorie

I. Der Zerfall der II. Sozialistischen Internationale beim Ausbruch des E rsten Welt­ krieges brachte ein abruptes Ende jener Illusion, daß sich die internationale Solidarität des Proletariats gegenüber den Kräften des bürgerlichen Nationalismus behaupten und durchsetzen könne. Zwar waren sich die führenden Repräsentanten der II. Inter­ nationale durchaus bewußt, welche Gefährdung von den in der imperialistischen Pe­ riode um sich greifenden nationalistischen Strömungen für die E inheit und Aktions­ fähigkeit des internationalen Proletariats ausging. Aber die E rkenntnis, daß weite Teile der organisierten Arbeiterklasse von den nationalen Stimmungen erfaßt wurden und daß der Chauvinismus nicht auf die bürgerlichen und bäuerlichen Schichten be­ grenzt blieb, kam für sie überraschend. Daß ein europäischer Krieg das Fortschreiten der Arbeiterbewegung wenigstens vorübergehend beeinträchtigen würde, war denje­ nigen, die über die drohenden außenpolitischen Verwicklungen nachdachten, klar. Gleichwohl überwog eine optimistische Grundhaltung. Kautsky äußerte 1907 be­ schwichtigend, daß sich der Kapitalismus letztlich einen Krieg angesichts der steigen­ den Macht der Arbeiterklassen nicht werde leisten können 1 . Indessen gab es seit lan­ gem skeptische Prognosen für den Fall eines Krieges, der nicht nur Rußland, sondern auch die Westmächte einbeziehen würde. 1882 hatte Friedrich Engels gegenüber E du­ ard Bernstein auf die Eventualität eines europäischen Krieges hingewiesen und hinzu­ gefügt: „Daß dabei Deutschland in einen Kampf um die E xistenz gerät, damit auch dort der patriotische Chauvinismus wieder vollständig Oberwasser bekommt, scheint mir evident.“ Auch in Deutschland könne man darauf bauen, „daß unsere Leute ent­ weder ins patriotische Geheul mit einstimmen oder einen Wutausbruch gegen sich hervorrufen müssen, gegen den der nach den Attentaten ein Kinderspiel ist“ 2 . Die Linkssozialistin Henriette Roland-Holst zog 1915 die prinzipielle Konsequenz aus dem kläglichen Versagen der Internationale und der in ihr maßgebenden sozialisti­ schen Parteien: „Der jetzige Weltkrieg hat nicht nur bewiesen, daß der internationale Gedanke unendlich weniger tief im Proletariat verankert ist, als wir vor etwa zehn oder zwölf Jahren glaubten, sondern auch, und dies zumeist, daß dieser Gedanke wie jeder andere ohnmächtig bleibt gegenüber Gefühlen, Stimmungen und Neigungen, Affekten, die mit unwiderstehlicher Gewalt aus dem Unterbewußtsein emporbre­ chen.“ 3 Sie betonte damit eine für die sozialistische Agitation der Vorkriegszeit be­ zeichnende Schwäche, die darin lag, daß sie den aufgewühlten nationalistischen Stimmungen nur den Hinweis auf rationale Interessenlagen entgegenzusetzen ver­ mochte, ohne selbst eine zündende Vision einer neuen Gestaltung vorlegen und an 61

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traditionale E instellungen gleichzeitig appellieren zu können 4 . Die entscheidende Einbruchsstelle irrationaler Affekte in die organisierte Arbeiterbewegung bildete der Bereich nationaler Gefühle, während der Antisemitismus die Arbeiterschaft unbe­ rührt gelassen hatte. Für die praktische Politik der west- und mitteleuropäischen Arbeiterparteien spielte die nationale Frage bis in die 90er Jahre eine untergeordnete Rolle. Die Masse der organisierten Arbeiterschaft vertrat in nationaler Beziehung einen indifferenten Standpunkt. Obwohl die Entstehung der Eisenacher Partei in engem Zusammenhang mit den Bestrebungen des Deutschen Nationalvereins und der wieder erwachenden deutschen E inheitsbewegung gestanden hatte, trat die nationale Frage mit dem Ab­ schluß der Bismarckschen Reichsgründung völlig in den Hintergrund. Das Bekennt­ nis beider Parteifraktionen zur Internationalen Arbeiter-Assoziation und die Soli­ darisierung mit der Pariser Kommune bedeutete zwar nicht die Preisgabe gemäßigter nationaler Gesinnung zugunsten eines rigiden proletarischen Internationalismus, brachte aber eine verstärkte Immunisierung der sozialdemokratischen Arbeiterschaft gegenüber nationalistischen Tendenzen 5 . Die innenpolitische Konstellation im Bis­ marckreich erleichterte eine Ausklammerung der nationalen Frage. Die übergroße Mehrheit der Sozialisten betrachtete den Nationalismus als Ausdruck der bürgerli­ chen Klassengesellschaft, der die Arbeiterschaft nichts anginge. In seiner 1907 veröffentlichten Studie über „Die Nationalitätenfrage und die So­ zialdemokratie“ versuchte Otto Bauer, zwischen dem angestammten „naiven Kos­ mopolitismus“ und dem bewußten proletarischen Internationalismus der Arbeiter­ klasse zu unterscheiden. Theoretisch entsprach dies den Bestrebungen von Marx, der mit aller E ntschiedenheit auf die qualitative Differenz zwischen dem bürgerlich-libe­ ralen Kosmopolitismus und der internationalen Solidarität der Arbeiterklasse hinge­ wiesen hatte. In der sozialdemokratischen Agitation wie in der Mentalität der organi­ sierten Arbeiterschaft trat dieser Gegensatz zugunsten eines nationalen Indifferentis­ mus zurück, der der tatsächlichen Klassenlage der Arbeiterschaft entsprach. Auch in diesem Bereich vollzog sich die Marx-Rezeption nur zögernd und blieb auf Minder­ heiten von Intellektuellen beschränkt. Die entstehende sozialistische Subkultur war in starkem Maße dadurch geprägt, daß sie die Bildungstradition des deutschen Idealis­ mus mit populärem sozialistischen Schrifttum vermengte 6 . E s verwundert daher nicht, daß kosmopolitische Vorstellungen in Kreisen der Industriearbeiterschaft, vor allem aber in den noch handwerklich geprägten Kerngruppen der Arbeiterbewegung auf lange hinaus lebendig blieben. Noch 1897 mußte der Führer der österreichischen Sozialdemokratie auf dem Parteitag gegen den Antrag einiger Organisationen polemi­ sieren, im Reichrat einen Gesetzentwurf einzubringen, daß in den Volksschulen eine geeignete Weltsprache zum obligatorischen Unterrichtsgegenstand gemacht werden solle, was er als „Volapükerei“ abqualifizierte 7 . Auch für Programm und Anschauungen der I. Internationale ist jene Ambivalenz zwischen Kosmopolitismus und Nationalstaatsgedanken kennzeichnend, die Fried­ rich Meinecke für den frühen deutschen Nationalgedanken beschrieben hat 8 ; sie stand in der Tradition der utopischen Vorstellungen der jakobinischen Demokratie, die, wie Miklós Molnàr gezeigt hat 9 , durch den „ungelösten Widerspruch zwischen natio62

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naler Loyalität und internationalem Bekenntnis“ bestimmt gewesen sind. Wenngleich Marx und E ngels bemüht waren, den E influß der radikalen Demokratie in der Inter­ nationalen Arbeiter-Assoziation zurückzudrängen, haben doch die Anschauungen des demokratischen Kosmopolitismus - des „Jungen E uropa“, Mazzinis und Kos­ suths - prägende Bedeutung gehabt. Der Konflikt mit Bakunin, der schließlich zur Auflösung der I. Internationale führte, hing nicht zuletzt mit einer grundlegend ver­ schiedenen Auffassung des nationalen Problems durch die widerstreitenden Gruppen zusammen. Wenn Bakunin und seine proudhonistisch beeinflußten Parteigänger Marx zum Vorwurf machten, daß er mit dem Programm politischer Organisation und zentralistischer Zusammenfassung der Arbeiterschaft in das gerade bekämpfte Auto­ ritätsprinzip zurückfalle, sahen sie in letzterem auch den Keim künftiger nationaler Unterdrückung der nicht nationalstaatlich verfaßten oder nicht zum Kreis der aner­ kannten Kulturnationen gehörenden Völker 10 . Der E ntschluß von Marx und E ngels, für die sich formierenden nationalen Arbei­ terparteien zu optieren und für absehbare Zeit auf eine internationale Dachorganisa­ tion zu verzichten, entsprach einer zutreffenden E inschätzung der durch die Bis­ marcksche Reichsgründung und die italienische E inigung veränderten europäischen Konstellation, der die in der Internationalen Arbeiter-Assoziation erneuerten Struk­ tur der an konspirative Formen anknüpfenden Handwerker- und Intellektuellenzir­ kel obsolet machte. E s war von ihrem Standpunkt aus nur konsequent, wenn sie der „wirklichen Bewegung“ des Proletariats den Vorzug vor internationalen Organisa­ tionsformen gaben, die stets in der Gefahr standen, kosmopolitischen Illusionen, d. h. einer angeblichen „Verbrüderung der Nation“ zu verfallen, statt ein klar antinationa­ listisches Programm zu vertreten. Die Gründung der II. Internationale wurde von Engels lebhaft begrüßt, aber sie vollzog sich ohne dessen Initiative. Marx und E ngels unternahmen keine Anstrengungen, dem von ihnen verfochtenen proletarischen In­ ternationalismus eine institutionelle Grundlage zu schaffen. Sie waren auch nicht be­ müht, potentielle oder tatsächlich bestehende nationale Differenzen zwischen den Arbeiterparteien der einzelnen Länder theoretisch zu bekämpfen. Dies hing mit ihrer Überzeugung zusammen, daß die nationale Frage in geschichtlicher, und das hieß: in revolutionärer Perspektive periphere Bedeutung haben würde, ohne daß sie damit den Einfluß nationaler Faktoren auf die E ntwicklung des Klassenkampfes leugneten. In seinem 1941 erschienenen Buch über Marx und die Welt der Nationen hat Sa­ muel F. Bloom den Versuch unternommen, die wechselnden und verstreuten Stellungnahmen von Marx und E ngels zu nationalen Problemen systematisch zu deu­ ten. Bloom sah es für erwiesen an, daß ihre Beurteilung des nationalen Problems stets vom Blickpunkt der weltrevolutionären Strategie erfolgt und in sich konsequent und widerspruchsfrei gewesen sei 11 . Ähnlich hat Horace B. Davis 1967 in einer Analyse der Beziehungen von Sozialismus und Nationalismus die Ansicht vertreten, daß die Position von Marx und E ngels voll im E inklang mit ihrer materialistischen Ge­ schichtsauffassung gestanden habe 1 2 . Beide Autoren lassen jedoch die Frage beiseite, warum es Marx und E ngels trotz der Fülle ihrer Äußerungen zu nationalen Proble­ men unterlassen haben, eine systematische Analyse des Nationalismus-Problems vorzulegen. Gewiß ist das Problem des Nationalismus auch von bürgerlicher Seite im 63

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19. Jahrhundert ganz überwiegend spekulativ und fast überhaupt nicht wissenschaft­ lich behandelt worden. Gleichwohl ist es gerechtfertigt, die Frage aufzuwerfen, warum dieser Problembereich im theoretisch-philosophischen Werk von Marx und Engels eher marginale Bedeutung einnimmt. Schärfer formuliert läuft diese Frage darauf hinaus, die Ursachen zu bestimmen, die dazu führen, daß die sozialistische Bewegung die politische Virulenz des Nationalis­ mus in vieler Hinsicht unterschätzt und sich irrtümlichen E ntwicklungsprognosen hingegeben hat, die durch die leninistische Theorie zwar abgebaut, aber keineswegs vollständig beseitigt worden sind 1 3 . Die relative Vernachlässigung des Natio­ nalismusproblems in der ökonomischen und politischen Theorie von Marx und Engels hängt in erster Linie damit zusammen, daß die nationale Frage in der E ntste­ hungsphase der Marxschen materialistischen Philosophie von der junghegelianischen Intelligenz wie den Repräsentanten der jakobinischen und der radikalen Demokratie nicht als selbständiges, von der demokratischen und sozialen E manzipation geschie­ denes Problem begriffen wurde. Das nationale Problem wurde zu einem Zeitpunkt als in Überwindung befindlich betrachtet, in dem es begann, zu einem zentralen Faktor nicht nur der europäischen, sondern globalen E ntwicklung zu werden. Die Revolu­ tionen von 1848 warfen das breite Tableau gegensätzlicher politischer Auswirkungen des nationalen Prinzips auf, das bis dahin ganz überwiegend eine Waffe des Fort­ schritts und ein Bündnispartner des Liberalismus gewesen war. Mit dem Panslawis­ mus, aber auch dem Bonapartismus Napoleons III. entpuppte es sich gleicherweise als Instrument gegenrevolutionärer Bestrebungen. Die ungewöhnlich negative, einseitig zugespitzte und vielfach geradezu böswillige Reaktion der Neuen Rheinischen Zeitung, und damit von Marx und E ngels, auf den tschechischen und kroatischen Nationalismus, ist von ihnen selbst immer wieder mit der klaren Gegnerschaft zum zaristischen Rußland begründet worden. Die nationale Emanzipationsbewegung der west- und südslawischen Völker der Habsburgischen Monarchie arbeitete in der Tat dem europäischen E influß des Zarismus in die Hände. Unabhängig von Fehlurteilen im einzelnen, die man unzureichender Information von Engels über bis dahin wenig beachtete europäische Regionen zuschreiben kann 14 , und der beabsichtigten publizistisch-propagandistischen Wirkung überrascht die polemi­ sche Schärfe, mit der Engels urteilte. Zudem hat E ngels seine abschätzige Beurteilung der slawischen Nationalitäten Österreichs stets beibehalten 13 . Der Haß gegen den Za­ rismus, die namentlich bei Engels unterschwellig einwirkenden prodeutschen Sympa­ thien und die Unterstellung reaktionärer Motive bei Tschechen und Kroaten allein er­ klären die polemische Leidenschaftlichkeit von E ngels' Stellungnahme nicht hinrei­ chend. Im Hintergrund der Kritik von Marx und E ngels an den west- und südslawi­ schen Nationalbewegungen ist vielmehr die Einsicht zu suchen, daß eine derartige ge­ schichtliche Wendung des Nationalitätsprinzips, wenn sie erfolgreich war, weit mehr als bloß einen Störfaktor für den erwarteten revolutionären Prozeß bildete, daß sie vielmehr die von Marx und E ngels aufgestellten historischen Verlaufsprognosen prin­ zipiell in Frage stellte.

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II. Die geschichtliche Perspektive von Marx war mindestens bis in die 50er Jahre von der Annahme bestimmt, daß die Kulturvölker, d. h. die zur Ausbildung der moder­ nen Industrie fähigen Nationen, die soziale Revolution, die zur Durchsetzung des Kommunismus führen würde, gleichsam stellvertretend für die übrigen, in ihrem ge­ schichtlichen E ntwicklungsstand zurückgebliebenen Völker vollzögen. Aus seinen umfassenden historischen Studien zog Marx die Schlußfolgerung, daß Völker, wie die in das Römische Reich eindringenden germanischen Stämme oder die europäischen Einwanderer in die USA, nicht den gesamten Zivilisationsprozeß erneut durchma­ chen, sondern auf der Höhe der erreichten E ntwicklungsstufe, d.h. dem Stand der jeweiligen Produktionsverhältnisse fortschreiten würden. Dieser wechselseitige Ko­ onisierungseffekt, den Marx aus ökonomischen Faktoren ableitete, schuf die Mög­ ichkeit, partielle Fortschritte in den Produktionsverhältnissen in globalem Maßstab lurchzusetzen. Die industrielle Revolution und die Entwicklung des kapitalistischen Welthandels stellten die klassischen Anschauungsbeispiele eines solchen Prozesses iar. Die Marxsche E ntwicklungsprognose ist, wie die weltgeschichtliche E ntwicklung bis zur Gegenwart zeigt, im Kern zutreffend gewesen. Die revolutionierenden Wir­ kungen des Industriekapitalismus haben exakt die vorausgesagten nivellierenden Wirkungen in planetarischem Umfang gehabt und zu einer Polarisierung zwischen industrialisierten Nationen einerseits und unterentwickelten Ländern andererseits ge­ führt, die, wenn nicht zusätzliche politische Faktoren einwirkten, den herrschenden Industrievölkern das Monopol zur Durchsetzung ihrer ökonomischen Interessen ge­ genüber der sogenannten Dritten Welt eingeräumt hätte. Fehlerhaft war die Marxsche Prognose deshalb, weil sie die Geschwindigkeit des kapitalistischen Ausbreitungs­ prozesses über die E rde überschätzte und die Gegenwirkungen vernachlässigte, die den autochthonen und in der Regel national motivierten Interessen der historisch zu­ rückgebliebenen Länder entsprangen. Marx hat 1858 einmal die Befürchtung ausge­ sprochen, daß die Revolution auf dem Kontinent im Vergleich zur Weltentwicklung „in diesem kleinen Winkel notwendig gecrusht“ würde, „da auf viel größerem Terrain das movement der bürgerlichen Gesellschaft noch ascendant ist“ 1 6 . Schärfer konnte in der Tat das Problem nicht formuliert werden. Vor allem aber übersah die Prognose, daß die kapitalistische Entwicklung gerade zur Freisetzung und Stimulierung nationa­ ler Impulse führen mußte. Es ist vielfach darauf hingewiesen worden, daß die von E ngels eingeführte Unter­ scheidung von historischen und unhistorischen Völkern eine Nachwirkung der He­ gelschen Volksgeistlehre darstellte und daß E ngels' Kritik an den kleinen slawischen Völkern in der Herr- und Knecht-Theorie Hegels vorgebildet war 1 7 . In der Tat haben Marx und E ngels in dieser Hinsicht zwar das Hegeische System „vom Kopf auf den Fuß“ gestellt, d.h. dessen idealistische Grundannahmen durch materialistische er­ setzt. Aber das Grundschema, wonach die jeweils erreichte höchste E ntwicklungs­ stufe notwendig universellen Charakter besitze, ist von Marx nur modifiziert, nicht überwunden worden. E s entsprach den Auffassungen der Junghegelianer, daß die 65 5

Mommsen, Arbeiterbewegung

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deutsche „philosophische“ Nation, gerade weil sie den Nationalstaat nicht erreicht habe, die eigentliche „Menschheitsnation“ darstelle und an der Spitze des anbrechen­ den kosmopolitischen Zeitalters stehen werde. Marx und E ngels haben in der „Deut­ schen Ideologie“ derartige spekulative Vorstellungen mit Recht als introvertierten Nationalismus entlarvt 18 . Sie übernahmen jedoch die Annahme, daß die historische E ntwicklung in der Hand der vorgeschrittenen Kulturvölker liege. In den „Grundsätzen des Kommunismus“ lehnte E ngels die Möglichkeit der Durchsetzung des Kommunismus in einem Lande ausdrücklich ab und stellte fest, daß sich die Revolution in allen industrialisierten Ländern vollziehen werde, „d.h. wenigstens in E ngland, Amerika, Frankreich und Deutschland“, wobei er davon ausging, daß E ngland zuerst, Deutschland zuletzt in den revolutionären Prozeß eintreten werde 19 . Marx hatte zuvor präziser formuliert, daß die Verwirklichung des Kommunismus „empirisch nur als die Tat der herrschen­ den Völker ,auf einmal' und gleichzeitig möglich“ sei 20 . Dies stellte die Vorausset­ zung dafür dar, daß die Revolution ihre nationale Begrenzung abstreifte und univer­ sellen Charakter erlangte. Die Mittel dazu hielt das kapitalistische System bereit, das mit der Globalisierung der Produktionsverhältnisse der Geschichte welthistorischen Charakter aufprägte, wie die Aktion des Proletariats die welthistorische Antwort auf die kapitalistische E ntfremdung des Menschen bildete. In der Frontstellung gegen Hegel und den spekulativen Idealismus betonte Marx den universellen Charakter des vom Klassenkampf vorangetriebenen historischen Prozesses, ohne sich voll einzugestehen, daß die Bedingungen bestenfalls in West­ und Mitteleuropa dafür vorhanden waren. Die Ereignisse der Revolutionen von 1848 in Ost- und Südostmitteleuropa machten bestürzend deutlich, daß der internationali­ sierenden Tendez des Kapitalismus eine nicht minder starke Gegenbewegung der ostmitteleuropäischen Nationalitäten an die Seite trat, die Marx und E ngels einer hi­ storisch überwundenen, vorwiegend agrarischen E ntwicklungsstufe zuordneten. E n­ gels' berühmte Formulierung von den „geschichtslosen“ Völkern, die nicht lebensfä­ hig seien, implizierte daher nicht notwendig, daß die betroffenen Nationalitäten auf eine unabhängige Staatlichkeit während früherer E pochen nicht zurückblicken konn­ ten; sie waren vielmehr- ganz im Sinne Hegels - ohne historische Zukunft und dazu verurteilt, von den Kulturnationen assimiliert oder kolonisiert zu werden. E s fällt auf, daß E ngels, der sich gerade in der Revolutionsphase zum E xperten in der nationalen Frage mauserte, gerade nicht nach den ökonomischen Ursachen des nationalen E rwa­ chens fragte, sondern letzteres auf das Fortwirken feudaler Strukturen zurückführte; er übersah, daß in Polen und Ungarn feudale E lemente, deren Nationalbewegungen er fortschrittliche Funktionen beimaß, weit mehr zur nationalen Mobilisierung bei­ trugen als in Böhmen, wo der Adel, jedenfalls zunächst, national indifferent blieb. Mit der Unterscheidung zwischen „historischen“ und „unhistorischen“ Nationen fiel E ngels in den idealistischen Begründungszusammenhang zurück, den er sonst überwunden hatte. Das gilt auch für den von ihm angeführten Begriff der „Kulturvöl­ ker“ oder der „zivilisierten“ Nationen. Unter dem E influß des Darwinismus hat E n­ gels dann, in wenig systematisierter und gewiß nicht überzeugender Form die sekun­ däre Argumentation entwickelt, daß nur denjenigen Nationen Lebensfähigkeit zu66

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zumessen sei, welche vermocht hätten, sich fremde Völker zu assimilieren. E ngels ging von der historisch unbegründeten Annahme aus, daß sich nationale Assimila­ tionsvorgänge stets zur entwickelteren Kulturstufe bewegen. Auch in dieser Bezie­ hung verzichtete Engels auf eine empirische Überprüfung, die dazu geführt hätte, be­ stimmte rassistisch anmutende Komponenten aus seiner politischen Analyse zu eli­ minieren 2 1 . Wenn E ngels später Bernstein unwillig wegen dessen Sympathien für die südostmitteleuropäischen Nationalitäten zurechtwies und die Priorität eindeutig auf die „Befreiung des westeuropäischen Proletariats“ legte, wirkte dabei die Befürchtung nach, daß der sich unbestreitbar vollziehende nationale Differenzierungsprozeß die erhoffte revolutionäre E ntwicklung ad calendas greacas vertagte 22 . Der Standpunkt, den Marx und E ngels in der nationalen Frage eingenommen und den sie der europäischen Arbeiterbewegung in weitem Umfang aufgeprägt haben, muß im Lichte einer historischen E ntwicklungsstufe begriffen werden, in der der Prozeß der Nationalstaatsbildung virtuell abgeschlossen zu sein schien und im Be­ griffe war, durch die universalistischen Wirkungen der kapitalistischen Produktion aufgehoben zu werden. Die Marxsche Revolutionstheorie - wie sie im „Manifest der Kommunistischen Partei“ ihren vorläufigen Abschluß gefunden hatte - beruhte auf der Hypothese, daß das Proletariat nicht nur in ökonomisch-sozialer, sondern in uni­ versaler Beziehung die Negation der Negation darstellte, daß es aufgrund seiner Rolle als weltgeschichtliche Klasse die gesamte bisherige, nur als Vorgeschichte der kom­ munistischen Gesellschaft begriffene Geschichte aufheben werde. Die revolutionäre Bewegung des Proletariats, schrieb Marx in der „Deutschen Ideologie“ 23 , resultiere in „der Auflösung aller Klassen, Nationalitäten etc. innerhalb der jetzigen Gesell­ schaft“. Nationalität war im Verständnis von Marx etwas Abgeleitetes, nichts „Na­ turwüchsiges“ und daher keine ethnographische Kategorie. „Die bürgerliche Gesell­ schaft. . . umfaßt das gesamte kommerzielle und industrielle Leben einer Stufe und geht insofern über den Staat und die Nation hinaus, obwohl sie andererseits wieder nach außen hin als Nationalität sich geltend machen, nach innen als Staat sich gliedern muß. “ 24 Staat und Nation erschienen als komplementäre Größen, die nur in bezug auf die Herrschaft des bürgerlichen Privateigentums wirklich sind. In der Auseinander­ setzung mit Hegels Theorie des „politischen Standes“ und der von diesem behaupte­ ten Trennung von „bürgerlicher Gesellschaft“ und „politischem Staat“ führte Marx den Begriff der Nationalität ein, der wiederum nur eine komplementäre Bestimmung zum Begriff der Souveränität darstellte: das ganze Dasein der mittelalterlichen Stände sei „politisch“ und damit staatlich gewesen, ihr „Verhältnis zum Reich war nur ein Transaktionsverhältnis dieser verschiedenen Staaten mit der Nationalität, denn der politische Staat im Unterschied von der bürgerlichen Gesellschaft war nichts andres als die Repräsentation der Nationalität“. Nationalität hat dabei den Sinn von (politi­ scher) Staatsidee: „Die Nationalität war der point d'honneur, der xax èÇoÇv politi­ sche Sinn dieser verschiedenen Korporationen.. .“ 2 5 Dort, wo Hegel seinen Begriff der Volkssouveränität einführte, ersetzte ihn Marx durch den Begriff der Nationalität. „E in Volk, dessen Souveränität nur in der Natio­ nalität besteht, hat einen Monarchen“ 26 , kommentierte er polemisch Hegels Gleich­ setzung von Monarchie und Volkssouveränität. Nationalität war daher in seinem Ver67

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ständnis der gerade Gegensatz zur Wirklichkeit des Volkes, war das eingebildete In­ teresse des Volkes en miniature, d. h. der herrschenden Klassen, im Gegensatz zu den unmittelbaren Bedürfnissen der Individuen. Nationalität war eine der Fesseln des In­ dividuums, die vorzüglich durch die kapitalistische Produktionsweise erzeugt, durch sie gleichzeitig aufgehoben wird. Sie war, jedenfalls in bezug auf die „modernen Völ­ ker“ , nicht mehr eine naturwüchsige, sondern eine historische Kategorie. In der Aus­ einandersetzung mit Stirner betonte Marx, daß die „Naturwüchsigkeit“ der National­ sprache in jeder modernen ausgebildeten Sprache aufgehoben sei, wobei die „auf öko­ nomischer und politischer Konzentration beruhende Konzentration der Dialekte in­ nerhalb einer Nation zur Nationalsprache“ einen entscheidenden Faktor bilde. Die Individuen würden ihrerzeit auch dieses Produkt der Gattung vollständig unter ihre Kontrolle nehmen 27 . Das besagt, daß die vollständige gesellschaftliche Beherrschung des nationalen Problems eintreten werde, zumal „die Besonderheit der einzelnen Na­ tionalitäten“ infolge der Entwicklung der Produktivkräfte bereits jetzt verlorengehe. Marx fügte hinzu, daß zwar die Bourgeoisie jeder Nation noch aparte nationale Inter­ essen behalten werde, für das Proletariat die Nationalität aber schon „vernichtet“ sei 28 . Das Nationalbewußtsein, das diese aparten Interessen spiegelt, gehörte im Ver­ ständnis von Marx und E ngels zu jener illusorischen Gemeinschaftlichkeit einer in Wahrheit durch die Klassengegensätze bestimmten Gesellschaft, die allerdings zu­ gleich auf der realen Basis der familien- und stammesmäßigen Bindungen wie gemein­ samer Abkunft und Sprache beruhe 29 . Das Nationalitätsprinzip war jedoch für Marx und E ngels eine notwendige histori­ sche Durchgangsstufe. Seit dem Ausgang des Mittelalters habe die Geschichte auf die Konstituierung E uropas aus großen Nationalstaaten hingearbeitet, die die unerläßli­ che Vorbedingung für die „Herstellung des harmonischen internationalen Zusam­ menwirkens der Völker“ sei 30 . Diese späte Äußerung, die am Abschluß der europä­ ischen Nationalstaatsbildung lag, steht in einer gewissen Spannung zu den früheren Kommentaren von E ngels in dieser Frage, in denen der Nationalstaat als etwas im Prinzip bereits Überwundenes erscheint. 1844 bemerkte E ngels, daß „die Stellung der Nationalitäten“ in „unserer“ Geschichtsphilosophie bisher ganz ungenügend behan­ delt worden sei. Seine eigenen Ansätze zu einer Theorie der Nationalität verblieben jedoch ganz im Bereich zeitgenössischer Fragestellungen. Im Vordergrund stand be­ zeichnenderweise die Bestimmung der historischen Genesis ganzer Völkergruppen wie der germanischen und romanischen Völker - und der Versuch, die unterschiedli­ che soziale und ideologische Situation der führenden europäischen Völker aus einer verschiedenen Ausbildung der Nationalcharaktere abzuleiten. Die methodische Be­ mühung zielte darauf ab, spekulative Begründungen der Nationalität zurückzuwei­ sen. Ähnlich widersprach E ngels im „Ursprung der Familie“ der im Liberalismus ver­ breiteten Vorstellung von der besonderen staatsbildenden Kraft der Germanen als Rasse. Ihre Gentilverfassung allein habe die Germanen instandgesetzt, „aus dem Schlamm der Römerwelt neue Staaten zu bilden und neue Nationalitäten wachsen zu lassen“ 31 . Dies ist eine der ganz seltenen Äußerungen, wo die Selbstverständlichkeit der E ntstehung der großen europäischen Nationen hinterfragt und das Problem der Nationsbildung in konkreter Form aufgeworfen wird. 68

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Die Schwäche in der theoretischen Behandlung des Problems der Nationalität bei Marx und E ngels liegt einerseits in der unzureichenden Bestimmung der Differenz zwischen „naturwüchsigen“ und „historischen“, d.h. aus der E ntwicklung der Pro­ duktionsverhältnisse selbst abgeleiteten Faktoren. Andererseits wird das nationale Bewußtsein nur als eingebildeter Reflex bereits überwundener sozialer Verhältnisse, nicht als verselbständigter Faktor im politischen Prozeß verstanden. Auch in ihren späteren Arbeiten - so in E ngels' Studien zur Gentilverfassung - klafft eine Lücke zwischen der darwinistischen Interpretation ethnologischer Probleme und der Ana­ lyse des modernen Nationalismus. Über eine theoretische Beschäftigung mit dem Problem der Nationalität finden sich bei Marx seit den 50er Jahren nur spärliche Zeugnisse. Sein Konspekt von Bakunins „Staatlichkeit und Anarchie“ bezeugt, daß er lessen Nationalitätentheorie eingehend exzerpierte, aber an dem ursprünglichen Ge­ geneinwand festhielt, daß Bakunin von den ökonomischen Bedingungen fast gänzlich abstrahiere und nicht zu begreifen vermöge, „daß sie von dem Staat unabhängige Be­ dingungen und Völkerunterschiede gründen“ 3 2 . Man gewinnt jedoch den E indruck, daß Marx über die allgemeine Vorstellung der Abhängigkeit der Absonderung der Nationen von den ökonomischen Bedingungen nicht hinausgelangte und im Grunde immer noch nach einer systematischen Ableitung des Nationalitätsbegriffes suchte. Wie anders wäre seine Äußerung in einem Brief an Engels vom 7. August 1866 zu er­ klären, in der er von P. Trémaux' „Origine et Transformations de PHomme“ meinte, diese Schrift sei in der geschichtlichen und politischen Anwendung „viel bedeutender und reichhaltiger als Darwin“. Für gewisse Fragen, wie die Nationalität, habe er „hier allein Naturbasis gefunden“. Demgegenüber machte sich E ngels über Trémaux' Ab­ leitung der nationalen Unterschiede aus geologischen Formationen mit Recht lustig und wies Marx auf die Unwissenschaftlichkeit dieses sonst unbekannt gebliebenen französischen Autors hin 3 3 . Diese E pisode deutet darauf hin, daß Marx und E ngels zwar bei der praktischen Beurteilung nationaler Probleme zu einer vielfach zutreffen­ den E inschätzung der politischen Kräfteverhältnisse gelangten, aber daß sie sich, was die theoretische Bewältigung der nationalen Frage in dem von ihnen entwickelten um­ fassenden System des wissenschaftlichen Sozialismus anging, auf unsicherem Boden bewegten. Bei aller Skepsis, die sich vor allem bei Marx gegen kosmopolitische Utopien nach­ weisen läßt 34 , besteht kein Zweifel daran, daß beide Denker jedenfalls in letzter Kon­ sequenz von der Aufhebung der Nationalität ausgingen. Man wird jedoch den zeithi­ storischen Kontext beachten müssen, in dem diese Prognose entwickelt wurde. „Wir sprechen nicht von der antinationalen Bewegung, die jetzt in der Welt vor sich geht, wir sprechen von der Aufhebung der Nationalitäten, die sich vermittels des reinen Gedankens - mit Hilfe der Phantasie, in E rmangelung der Tatsachen - in unserem Kopfe vollzieht“, formulierte E ngels ironisch gegenüber kosmopolitischen Illusio­ nen 35 . Die wirkliche Bewegung der Aufhebung der Nationalität lag beim klassenbe­ wußten Proletariat, das allein imstande sei, die Verbrüderung der Nationen praktisch zu vollziehen, statt - wie die bürgerliche Intelligenz - unter diesem Vorwand nur die „Verbrüderung unter den Bourgeoisklassen aller Nationen“ zu betreiben 36 . Denn die wirkliche Überwindung des ohnedies historisch rückläufigen, „alten naturwüchsigen 69

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Nationalegoismus“ könne nicht durch den bürgerlich-kapitalistischen Kosmopoli­ tismus, sondern allein durch das Proletariat erfolgen: „ . . . die Proletarier sind der gro­ ßen Masse nach schon von Natur ohne Nationalvorurteile, und ihre ganze Bildung und Bewegung ist wesentlich humanitarisch, antinational. Die Proletarier allein kön­ nen die Nationalität vernichten, das erwachende Proletariat allein kann die verschie­ denen Nationen fraternisieren lassen 37 . Diese Polemik gegen die Verbrüderungsillusionen der zeitgenössischen radikalen öffentlichen Meinung können jedoch den Tatbestand nicht verdecken, daß Marx und Engels an überkommene Utopien anknüpften, wenn sie - wie Herder und Rousseau von der Emanzipation der Völker - von der Emanzipation des Proletariats und damit der Menschheit die Aufhebung der nationalen Konflikte erwarteten. Das „Manifest der Kommunistischen Partei“ erneuerte die Vorstellung, daß mit dem „Gegensatz der Klassen im Innern der Nation“ auch „die feindliche Stellung der Nationen gegenein­ ander“ fallen werde 3 8 . Die Radikalität ihrer Position geht aus der berühmten Formu­ lierung: „Die Arbeiter haben kein Vaterland. Man kann ihnen nicht nehmen, was sie nicht haben“ - klar hervor, sie richtete sich gegen jede Form des Patriotismus. Die an die Stelle älterer Verbrüderungsphrasen tretende kraftvolle Formulierung: „Proleta­ rieraller Länder vereinigt euch“, zielte darauf ab, die Internationalkat durch Aktion, nicht durch spekulative Kompromisse, durch wirkliche, nicht eingebildete Bewegung herzustellen. Gleichwohl fällt auf, daß das Kommunistische Manifest bezüglich der Nationalität auf ältere Vorlagen zurückgriff, wie denn auch die Frageform des ursprünglich beab­ sichtigten Katechismus noch durchschimmert 39 . Das läßt den Rückschluß zu, daß dieser Problemkomplex für die Verfasser zweitrangige Bedeutung hatte. Das Manifest betonte, die Herrschaft des Proletariats werde die durch die E ntwicklung der Bour­ geoisie zurücktretenden nationalen Absonderungen und Gegensätze der Völker „noch mehrverschwinden machen“. Andererseits hieß es, daß das Proletariat sich zur „nationalen Klasse“ erheben und sich selbst als Nation konstituieren müsse und daß es insoweit noch national, „wenn auch keineswegs im Sinne der Bourgeoisie“, sei 40 . Diese Sätze sind später von den sozialistischen Parteien aufsteigender Nationalitäten zur Rechtfertigung einer national gesonderten Organisation, zugleich zur Legitimie­ rung einer nationalen proletarischen Politik herangezogen worden 4 1 , doch stand im Manifest durchaus das Prinzip der Staatsnation, nicht das der ethnischen Nationalität im Vordergrund. Die Diktatur des Proletariats war national nur insofern, als sie die wirklichen Interessen der Nation gegen die eingebildeten Interessen der Bourgeoisie, die sich fälschlich mit der Nation gleichsetzte, repräsentierte. Unzweifelhaft haben Marx und E ngels mit dieser Analyse des nationalen Problems der später in der kontinentalen sozialistischen Theorie dogmatisierten Gleichsetzung von Nationalismus und bürgerlichem Kapitalismus vorgearbeitet. Demgegenüber kann die Frage, ob Marx und E ngels zeitweise an die völlige Auslöschung nationaler Unterschiede im Zuge der Verwandlung der Geschichte in Weltgeschichte 42 geglaubt haben, vernachlässigt werden. E in derartiges Abgleiten in prognostische Spekulatio­ nen stand ohnedies in klarem Widerspruch zu ihrer kritischen Methode. In der Tat ging es vornehmlich um die Frage, welche Stellung die proletarische Partei zu den 70

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konkreten nationalen Problemen E uropas zu beziehen hatte. Der Standpunkt von Marx und E ngels hat hierbei nicht zur Klarheit beigetragen. Ferdinand Lassalle konnte in Anlehnung an die Marxsche Ausgangsposition, aber unter E inbeziehung der idealistischen Tradition die Vermittlung zwischen proletarischem Klassenkampf und deutschem Nationalgedanken anstreben, ohne sich formell in Widerspruch zum proletarischen Internationalismus zu setzen 43 . Für die Masse der sozialistischen Par­ teigänger aber folgte aus der Marx-E ngelsschen Lehre, daß die nationale Frage nur noch „auf der Tagesordnung der Reaktionäre“ stünde; die nationale E manzipations­ bestrebung der erwachenden Nationalitäten erschien als Ablenkung vom Klassen­ kampf 44 . Die E ntwicklung der europäischen Nationalitätenprobleme bewies hingegen, daß die sozialistische Bewegung sie nicht ohne Schaden ignorieren konnte. Marx und E n­ gels waren im Prinzip konsequente Gegner des von Napoleon III. zum politischen Prinzip erhobenen Selbstbestimmungsrechts der Völker, und sie waren fern davon, gewaltsamer Assimilierung und E ntnationalisierung humanitär-sentimentalische Skrupel entgegenzuhalten oder sie als antidemokratisch abzulehnen, solange eine der­ artige Politik auf der Linie der Durchsetzung entwickelter Produktionsformen lag 45 . Dies führte zu einer sehr weitreichenden Anerkennung kolonialistischer und imperia­ listischer Praktiken. Andererseits mußte E ngels wiederholt einräumen, daß eine in­ ternationale Bewegung des Proletariats nur zwischen selbständigen Nationen möglich sei und daß die nationale Unabhängigkeit die Voraussetzung eines aufrichtigen inter­ nationalen Zusammenwirkens bilde. E ine Nation könne nicht frei sein, wenn sie fort­ fahre, andere Nationen zu unterdrücken 46 . Ursprünglich hatten Marx und E ngels-in Übereinstimmung mit dem europäischen Liberalismus- nur den Polen und Magyaren das Recht auf die Bildung eines unabhängigen Nationalstaats einräumen wollen. Die irische Frage machte ihnen jedoch die enge Verschränkung von sozialer und nationa­ ler Emanzipation bewußt, die sie für Südostmitteleuropa bestritten. Sie setzten sich in der Internationalen Arbeiter-Assoziation mit Nachdruck für die irische Unabhängig­ keit ein. Marx ging so weit zu hoffen, daß der Klassengegensatz des irischen landar­ beitenden Proletariats gegen die englische Landaristokratie, die zugleich als „tödlich gehaßter Unterdrücker der Nationalität“ auftrat, durch den nationalen Gegensatz so verstärkt würde, daß daraus die Initialzündung für die längst erhoffte Revolution in England hervorginge 47 . E ngels erblickte freilich in Irland selbst kaum E ntwicklungs­ chancen zum Sozialismus und hielt die irische Nationalbewegung bestenfalls für kleinbürgerlich bestimmt. E ine grundsätzliche Änderung des ursprünglich einge­ nommenen Standpunktes brachte die Beschäftigung mit der irischen Frage nicht. Al­ lerdings wurde sich E ngels, nicht zuletzt infolge des engen Kontakts mit Victor Ad­ ler 48 , der unmittelbaren Relevanz nationaler Probleme für das Fortschreiten der Ar­ beiterbewegung stärker bewußt.

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III. Der theoretische und politische E influß, den Marx und E ngels über die I. Interna­ tionale und die persönlichen und publizistischen Verbindungen zu den nationalen Arbeiterparteien, hier in erster Linie die deutsche Sozialdemokratie, ausübten, hat de­ ren nationalen Indifferentismus bestärkt und es erleichtert, daß die nationale Frage als bürgerliches Übergangsphänomen abgewertet wurde. Diese Einstellung fand sich bei Wilhelm Liebknecht ebenso wie bei Jules Guesde, und sie wurde mehr oder minder von all denjenigen geteilt, die beanspruchten, die marxistische Auffassung zu vertre­ ten 49 . Die Folge davon war, daß sich unter der Decke eines formalen proletarischen Internationalismus massive, aber uneingestandene nationale Ressentiments einstellen konnten, die sich in mangelndem E ntgegenkommen gegenüber nationalen Minder­ heiten in der organisierten Arbeiterbewegung wie in bezug auf die deutsche Sozialde­ mokratie in einem unreflektierten Führungsanspruch auf der E bene der II. Interna­ tionale niederschlugen 50 . Insbesondere für Deutschland war der als Internationalis­ mus getarnte nationale Indifferentismus ein wirkungsvoller Vorwand, um außenpoli­ tische Problemzusammenhänge zu vernachlässigen und die innenpolitische Isolierung gutzuheißen, die die deutsche Sozialdemokratie in der Wilhelminischen Ära zu einer weitgehenden politischen Passivität verurteilte. Die landläufige E inschätzung der nationalen Frage durch die Sozialdemokratie faßte Karl Kautsky 1892 in der „Neuen Zeit“ dahingehend zusammen, daß die natio­ nalen Gegensätze solange anhalten würden, als das Kleinbürgertum und die Bauern­ schaft sich dem Glauben hingäben, unter den Bedingungen des Kapitalismus eine ein­ trägliche E xistenz behalten zu können. „E rst wenn diese Klassen daran verzweifeln, werden Antisemitismus und Nationalitätenkampf nach österreichischem Muster ein Ende nehmen.“ Antisemitismus und Nationalismus seien unausrottbar in der kapita­ listischen Gesellschaft. „Die sozialdemokratischen Proletarier werden von diesen Kämpfen nicht berührt.“ Ihnen sei es gleichgültig, welche Nationen, Rassen oder Konfessionen es am bequemsten hätten, Bourgeois zu züchten 51 . Äußerungen dieser Art zeigen, daß Kautskys Beschäftigung mit nationalen Problemen eher akademi­ schen Charakter besaß. Kautsky neigte von vornherein zu einer schematischen Beurteilung der nationalen Frage. 1879 hatte er in einem Brief an Wittrich betont, daß die nationale Idee „nur auf der Fiktion gemeinsamer nationaler Interessen“ beruhe und nur für die herrschenden Klassen Geltung habe. Die Arbeiter seien nur so lange national, als sie im Banne des kapitalistischen Ideenkreises stünden. Die nationale Idee sei ebenso wie der bürgerli­ che Kapitalismus nur eine geschichtliche Durchgangsstufe, die Internationalität hin­ gegen eine ebenso notwendige Vorbedingung des Kommunismus wie der Kapitalis­ mus. Das entsprach der damaligen marxistischen Auffassung. E s verwundert daher nicht, daß Kautsky Höchbergs Kritik an der Unterschätzung des nationalen Gedan­ kens durch die Sozialdemokratie nicht zustimmen konnte. Höchberg hatte 1884 Kautsky geschrieben, daß die „Übertreibung des internationalen Gedankens, der nach Lassalles Tod die Sozialdemokratie ergriffen hat“, einen beträchtlichen Popula72

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ritätsverlust bedeute. E r plädierte dafür, „daß hierin eine entschiedene Wendung ein­ tritt“ , zumal andere Völker vom Internationalitätsprinzip wenig wissen wollten“ 52 . Kautsky wandte sich erst wieder der nationalen Frage zu, als der Aufstieg der öster­ reichischen Sozialdemokratie die Beschäftigung mit den Nationalitätenfragen des Habsburgerreiches nahelegte, für das sich Kautsky seiner Abkunft wegen in besonde­ rem Maße als Experte empfand. 1887 veröffentlichte er in der „Neuen Zeit“ eine Ab­ handlung über „Die moderne Nationalität“, die als autoritative marxistische Stellungnahme gedacht war. Anlaß dazu gab ein Artikel des österreichischen Publizi­ sten Dr. Guido Lammer über „Die Zersetzung der modernen Nationalitäten“, den Kautsky im gleichen Band abdruckte 53 . Bezeichnenderweise war es ein Außenseiter, der Kautsky darauf aufmerksam machte, daß die Sozialdemokratie in der Nationalitä­ tenfrage über keinerlei positives Programm verfüge, was sie im Fall der Eroberung der politischen Macht vor erhebliche Schwierigkeiten stellen würde. Lammers Beitrag fiel jedoch hinter den Anspruch, hier Wandel zu schaffen, weit zurück; er vertrat die Auf­ fassung, daß der Nationalismus nichts als ein „künstlich forciertes Bourgeoisideal“ sei, mit dem man vom Klassenkampf abzulenken versuche, während die nationalen Kulturen in Wirklichkeit durch eine internationale Kultur ersetzt werden würden. Kautsky nahm dies zum Anlaß, um sich autoritativ zum nationalen Problem zu äu­ ßern. Seine frühen Interessen für die Theorie Darwins fanden in dem Artikel ebenso einen Niederschlag wie sein betont ökonomisches Verständnis der marxistischen Theorie. Neuartig war der Versuch einer typologischen Beschreibung des Prozesses der Nationsbildung. Die Nationalität sei ein „Kind der Warenproduktion und des Handels“ und beruhe vor allem auf der Gemeinschaft der Sprache, die die Grundlage der gesellschaftlichen Produktion darstelle. Die E ntstehung von Nationen führte er auf die Interessen des Handels an der Schaffung einheitlicher Binnenmärkte zurück. Die Nation sei daher keine künstliche Schöpfung. Auch seien die Arbeiter mit dem Übergang zum freien Arbeitsvertrag nicht mehr grundsätzlich vom nationalen Leben ausgeschlossen. Im Gegensatz zur antiken und orientalischen umfasse die moderne Nation alle Klassen der Bevölkerung. Gleichwohl sei die Nation im wesentlichen ein Werk der Bourgeoisie: „Das moderne Bürgertum und die moderne Nationalität sind demselben Boden entsprossen.“ Neben unmittelbaren ökonomischen Interessen der Schaffung eines geschlossenen Binnenmarktes - führte Kautsky militärische Gründe für die Konsolidierung der Nationalstaaten an. Die Form des Nationalstaates sei die notwendige Obergangsphase zur sozialistischen Gesellschaft. In den Nationa­ litätenstaaten Rußland und Österreich-Ungarn werde rückläufiger außenpolitischer Druck zu einer Verschärfung der durch die wirtschaftlichen Gegensätze angeheizten zentrifugalen Tendenzen führen 54 . Kautsky räumte ausdrücklich ein, daß man die nationale Idee nicht einfach als eine Analyse Otto Bauers wiederfinden, deren Abhängigkeit von Kautskys Anregungen denn auch weit größer war, als dessen anschließende Polemik vermuten läßt. Kautsky räumte ausdrücklich ein, daß man die nationale Idee nicht einfach als ein politisches Instrument in den Händen reaktionärer Kräfte werten könne 5 5 . E r gab auch zu, daß ein begrenztes Interesse des Proletariats an der E inheit und Größe der eigenen Nation bestünde, jedenfalls solange die Bourgeoisie noch als revolutionäre Klasse fungiere. 73

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Mit der steigenden Zahl des Proletariats falle dessen Interesse mit demjenigen der Na­ tion zusammen. E ine der Nation feindliche Politik wäre also der reinste Selbstmord seitens des Proletariats. Die Arbeiterschaft einer Nation stünde aber nicht im Gegen­ satz zu den Klassengenossen anderer Nationen, was er am Beispiel des Lohndrucks auswärtiger Arbeitskräfte erläuterte 56 . Das war eine bemerkenswert unscharfe, die revolutionäre Dialektik ausklammernde Interpretation des kommunistischen Mani­ fests. So konnte Kautsky zu der später von Bauer aufgegriffenen Schlußfolgerung ge­ langen, daß sich beim Proletariat ein „echteres nationales Gefühl“ fände als bei der Bourgeoisie. Die Aufhebung der Klassengegensätze werde den nationalen Zusam­ menhalt noch verstärken. Kautsky zeigte sich jedoch nicht bereit, die Konsequenzen aus diesen Überlegun­ gen zu ziehen. E r legte umständlich dar, daß die nationale Idee eine bloß bürgerliche Erscheinung sei; zudem sei sie inzwischen zum „Deckmantel für die faulsten Profithaschereien und Strebereien“ geworden. Die Bourgeoisie verleugne ihre revolutio­ näre Aufgabe und sei damit nicht mehr in der Lage, das nationale Prinzip im progres­ siven Sinne zu vertreten. Allerdings seien in den Kämpfen um die nationale E inheit und Unabhängigkeit ein Instinkt nationaler Zusammengehörigkeit und eine nationale Tradition entstanden, die selbständig, ohne Zusammenhang mit der ökonomischen Entwicklung, wirksam würden und den ökonomischen Tendenzen auch widerspre­ chen könnten 57 . Diese Einsicht ging über entsprechende Ansätze bei Marx und E ngels klar hinaus. E r folgerte jedoch daraus nicht die Bedeutung der nationalen Idee für das Proletariat und damit die Notwendigkeit, die sozialdemokratische Politik in der Na­ tionalitätenfrage zu überprüfen. Vielmehr wies er darauf hin, daß die ökonomische Entwicklung im Widerspruch zur E ntfaltung der Nationalitäten - nicht zuletzt der tschechischen Autonomiebestrebungen - stünde, diese daher zum Scheitern verurteilt seien. Auf lange Sicht gab er der Nation keine Chance. Die Nationalsprachen würden gegenüber den Weltsprachen zu Dialekten herabsinken, und es werde zu einem „schmerzlosen Ineinanderaufgehen“ der Nationen im Zuge der wirtschaftlichen Fortentwicklung kommen 58 . Mit der Beschwörung einer einheitlichen Weltkultur und einer automatischen Lösung der nationalen Frage im Sozialismus lenkte Kautsky zur herkömmlichen Ignorierung der nationalen Frage durch die Sozialdemokratie zu­ rück. Erst ein Jahrzehnt später bewirkte die durch das Aufkommen imperialistischer Strömungen veränderte gesamtpolitische Situation, daß die nationale Frage wieder zum Gegenstand grundsätzlicher E rörterungen wurde. In der deutschen Sozialde­ mokratie ging der Anstoß dazu vor allem von E duard Bernstein aus, dessen Hinwen­ dung zum Revisionismus auch im Zusammenhang mit einer veränderten E inschät­ zung nationaler Faktoren zu sehen ist. E r brachte seine grundsätzlich abweichende Auffassung in der provokativen Formulierung zum Ausdruck, daß der Satz, der Ar­ beiter habe kein Vaterland, nicht in seinem Register stünde 59 . In einem Artikel in der „Neuen Zeit“ zur türkischen Frage ging Bernstein auf die grundsätzliche Haltung der Sozialdemokratie und der II. Internationale zu den Nationalitätenfragen ein und ver­ langte, daß die Sozialdemokratie für die nationale Emanzipation dort eintreten müsse, wo die kulturellen Interessen des Proletariats dies rechtfertigen. „Wir erkennen jedem 74

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Volke das Recht der Nationalität zu, das sich fähig erwiesen hat, eine solche, ein na­ tionales Kulturleben zu entwickeln.“ Dies war eine charakteristische Umdeutung des Engelsschen Standpunktes in dieser Frage. Bernstein kritisierte ausdrücklich die Hal­ tung, die der Internationale Sozialistische Kongreß in London 1896 zur polnischen Frage eingenommen hatte: man könne die Frage der Wiederherstellung Polens nicht bis zum endgültigen Sieg des Sozialismus vertagen. „Kein Volk, keine Nationalität wird sich auf den Tag einer allgemeinen Befreiung vertrösten lassen.“ 60 Im gleichen Zusammenhang warnte Bernstein vor der Illusion, daß das Proletariat keine konkreten nationalen Interessen habe. Das französisch-russische Bündnis sei bei einem großen Teil der französischen Arbeiter bis in die Reihen der Sozialisten hin­ ein populär. „Der Satz, daß der Proletarier kein Vaterland hat, wird von dem Augen­ blick an, so, und in dem Maße modifiziert, als derselbe ein vollberechtiger Staatsbür­ ger ist und über die Regierung und Gesetzgebung seines Landes mitzubestimmen hat.“ 6 1 In einem 1898 an Kautsky gerichteten Brief wurde Bernstein noch deutlicher: er stünde vor der Frage, ob die marxistische Revolutionstheorie nicht von falschen Voraussetzungen ausgehe, wenn sie die nationale Frage als einen Faktor hinstelle, der das Proletariat nichts anginge. E r sei „mehr wie je der Ansicht, daß die nationalen Un­ terschiede, das geschichtliche, im Temperament der Überlieferungen wurzelnde E le­ ment von weit größerer Bedeutung sind, als wir und unsere wissenschaftlichen Lehrer ursprünglich angenommen haben“ 62 . E r wies in diesem Zusammenhang auf die takti­ sche Schwäche der sozialdemokratischen Agitation namentlich in Zisleithanien hin, die darin bestand, daß sie der nationalen Propaganda kein positives Programm entge­ gensetzen konnte. Tatsächlich war die von der Sozialdemokratie befolgte Politik der taktischen Ignorierung der Nationalitätenfrage in Österreich nicht länger haltbar. Daher entschloß sich Victor Adler nach langem Zögern, den Versuch zur E rarbeitung eines Nationalitätenprogramms zu machen, das dann in Brünn 1899 verabschiedet werden konnte. Adler hatte Kautsky absichtlich nicht an den Programmberatungen beteiligt 63 , nachdem dieser mehrfach mit wenig hilfreichen Ratschlägen in die in der österreichischen Parteienpresse geführte Diskussion eingegriffen hatte.

IV. Die entscheidende Revision der marxistischen Nationalitätentheorie erfolgte erst mit Otto Bauers 1907 erschienenem Werk über „Die Nationalitätenfrage und die So­ zialdemokratie“, das, ursprünglich als Agitationsbroschüre geplant, zu einer wissen­ schaftlichen Anspruch erhebenden Veröffentlichung wurde 6 4 . Bauers Arbeit muß im Zusammenhang mit den dann rasch preisgegebenen Bemühungen der österreichi­ schen Parteiführung um eine Revision des Brünner Nationalitätenprogramms gese­ hen werden 65 . Taktisch gesehen handelte es sich um den Versuch, die von Karl Renner seit 1898 entwickelten Lösungsvorschläge zur Nationalitätenfrage in den Rahmen ei­ ner marxistischen Betrachtungsweise zu stellen und ihnen damit eine breitere Zu­ stimmung in der Partei zu verschaffen. Was die praktischen Schlußfolgerungen für die von der österreichischen Partei einzuschlagende Politik anging, unterschied sich die 75

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Auffassung Bauers von derjenigen Renners nur in unwesentlichen Punkten. Die ei­ gentlich innovativen Züge der Bauerschen Analyse ligen im Versuch, eine politisch praktikable Theorie der Nationalität zu entwickeln. Bauer griff dabei auf die Anre­ gungen Kautskys, auch auf die Schriften von Marx und Engels, soweit sie damals vor­ lagen, zurück; es würde jedoch zu weit führen, Anregungen und E ntlehnungen im einzelnen zu kennzeichnen, Bauers Darstellung, die er selbst als „soziale Formenleh­ re“ charakterisiert hat 66 , blieb in hohem Umfange von den konstruktivistischen E le­ menten der kautskyanischen Theorie bestimmt, ja sein Bedürfnis, auf dem Boden des Marxismus zu argumentieren, hat in mancher Beziehung den spezifisch neuartigen Ansatz seiner Analyse verdeckt. Grundlegende Bedeutung für Bauers Nationalitätentheorie hatte der Neukantia­ nismus, der damals auch von Max Adler, mit dem Bauer in engen Beziehungen stand, rezipiert wurde. Zugleich aber spiegelt seine Theorie den indirekten E influß des Hi­ storismus und der Psychoanalyse. Bauer bekannte sich zu einer historischen Ablei­ tung des Prinzips der Nationalität. Dadurch überwand er die Barriere des marxisti­ schen Vulgärökonomismus, der insbesondere für Kautsky bestimmend war und eine empirische Betrachtung der nationalen Frage behinderte. Bauer war bereit, die natio­ nale Individualität als einen selbständig wirksamen geschichtlichen Faktor anzuer­ kennen. E r wehrte jedoch das Mißverständnis ab, daß der nationale Charakter eines Volkes unveränderlich sei, er sei vielmehr ständigem Wandel unterworfen. E r folgerte daraus jedoch nicht das Zurücktreten nationaler Faktoren, sondern eine stetig zu­ nehmende nationale Differenzierung. Der Sozialismus werde daher gerade nicht die Auflösung nationaler E igenart zugunsten einer kosmopolitischen Struktur bringen, sondern die soziale Verwirklichung der Nation und die volle E ntfaltung der nationa­ len Kultur erst gewährleisten. Gegenüber der älteren marxistischen Theorie, die stets von einer Vereinheitlichung der nationalen Kultur im Zuge der Ausbreitung des kapitalistischen Systems gespro­ chen hatte, betonte Bauer, daß gesellschaftliche Formationen, darunter auch die des Sozialismus, bei den verschiedenen Völkern eine jeweils unterschiedliche nationale Ausprägung hätten. „Die nationalen Kulturen sind die Gefäße, in denen auch die in­ ternationalen Kulturen, d. h. die allen oder mehreren Nationen gemeinsamen Kultur­ elemente, geborgen sind.“ 6 7 E ine andere als eine nationale Kultur könne es nicht ge­ ben. Auch die sozialistische Gesellschaft werde verschieden nationale Ausprägungen haben, ja die nationalen Besonderheiten würden erst unter der Bedingung der Aufhe­ bung der Klassengegensätze und des ungehinderten Zugangs der Arbeiter zur natio­ nalen Kultur voll hervortreten. Spätere Kritiker Bauers haben mit Recht hervorgehoben, daß der von ihm ver­ wandte Begriff der „Nationalen Kultur“ wenig eindeutig war und auf residuale E le­ mente einer gegebenen Gesellschaft abstellte 68 . Der maßgebliche Gesichtspunkt Otto Bauers bei der Bestimmung des Wesens der Nation lag jedoch nicht in der Herausar­ beitung der jeweiligen kulturellen Individualität, auch wenn dies aufgrund der öster­ reichischen E rfahrung und der stark kulturellen Färbung des deutschen Nationalge­ dankens in Österreich besonders nahelag. E ntscheidend war die E insicht, daß öko­ nomische und soziale Veränderungen, wie die Entstehung und Überwindung des Ka76

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pitalismus, historisch gewachsene Strukturen nur in begrenztem Umfange zu beseiti­ gen oder zu nivellieren vermögen. Gegenüber Kautsky, der auf die internationalisie­ renden Tendenzen des Kapitalismus abstellte, betonte Bauer, die Verschiedenheit der nationalen Kulturen könne nicht aufgehoben werden, weil „man die Geschichte der Nationen nicht ungeschehen machen kann“. E r definierte den Begriff der Nation als „das Historische in uns“ und sprach von der Nationalität als „erstarrter“ oder „geron­ nener“ Geschichte 69 . Hierin lag die entscheidende Abweichung von der Manischen Position. In der „Deutschen Ideologie“ hatte Marx ausgeführt, „daß ein früheres Interesse, dessen ei­ gentümliche Verkehrsform schon durch die einem späteren angehörige verdrängt ist, noch lange im Besitz einer traditionellen Macht in der den Individuen gegenüber ver­ selbständigten scheinbaren Gemeinschaft (Staat, Recht) bleibt, einer Macht, die in letzter Instanz nur durch eine Revolution zu brechen ist“. Das galt analog auch für die Nationalität. Indem Bauer gleichsam die Nation wieder in ihr geschichtliches Recht einsetzte, durchbrach er Marx' Auffassung der revolutionären Aufhebung der Ge­ schichte in Weltgeschichte. Während Marx die Tradition als etwas Widerständiges zerbrechen wollte, war nach Bauer die geschichtliche Bedingtheit der Individuen und Gruppen, so sehr sie ökonomischen Ursachen entsprang, psychologisch und politisch nicht zu transzendieren, und dafür ist bezeichnend, daß er sich nicht scheute, seiner Ableitung des Nationalen den Begriff der „Schicksalsgemeinschaft“ an die Spitze zu stellen. E r faßte sie nicht im Sinne der Gemeinsamkeit der individuellen Schicksale, sondern der ökonomischen Verknüpfung verschiedener Schicksale in einen zur „Cha­ raktergemeinschaft“ hinführenden sozialen Zusammenhang. In gewisser Weise ver­ allgemeinerte er in bezug auf das nationale Individuum wie die Nation die Marxsche Bemerkung, daß „selbst innerhalb einer Nation die Individuen auch abgesehen von ihren Vermögensverhältnissen ganz verschiedene E ntwicklungen haben“ 70 . In seiner Antwort auf Kautskys ausführliche Kritik hat Otto Bauer die seiner Me­ thode zugrunde liegende doppelte Fragestellung klar bezeichnet. Sie zielte einerseits darauf ab, die Abhängigkeit der E rscheinungsformen sozialer Verbände von den je­ weiligen Produktionsverhältnissen zu beschreiben, andererseits deren Bedingtheit durch die Mannigfaltigkeit historischer individueller Charaktere zu untersuchen 71 . Dies bedeutete die Überwindung eines monokausalen ökonomischen E rklärungsmo­ dells und das Eingeständnis, daß für die Konstituierung von Nationalbewußtsein eine Fülle von nur historisch aufschlüsselbaren sozialpsychologischen Faktoren maßge­ bend ist, die nicht unmittelbar aus den Klassenverhältnissen abgeleitet werden kön­ nen. Bezeichnend für Bauers analytisches Vorgehen war, daß er neben dem in der marxi­ stischen Terminologie festliegenden Begriff der Gesellschaft den Begriff der Gemein­ schaft einführte, um soziale Gruppenbildungen zu bezeichnen, die nicht der Gleich­ artigkeit ihrer Interessenlage, sondern derjenigen ihrer historischen Identität und Le­ bensform entspringen. Das von ihm entwickelte Stufenmodell der Schicksals-, Kul­ tur-, Verkehrs- und Sprachgemeinschaft stellte den Versuch dar, den Prozeß der Na­ tionsbildung konkret nachzuzeichnen und nicht nur, wie das bei Kautsky und später bei Stalin der Fall war, angeblich objektive Kriterien für die E xistenz von Nationen 77

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gegenüber vergleichbaren ethnischen oder sprachlichen E inheiten zu entwickeln. Kautsky kritisierte denn auch, daß Bauer den Faktor der Sprache als „entscheidendes Merkmal der Nation** vernachlässigt habe, ein E inwand, der völlig an der Fragestel­ lung Bauers vorbeiging, unter welchen Bedingungen Nationsbildungsprozesse zu­ stande kommen und welche Richtung sie nehmen. Während Kautsky ganz in der Tra­ dition von Marx und E ngels die E ntstehung des Nationalstaats als irreversiblen Pro­ zeß deutete, der schließlich zugunsten übernationaler E inheiten aufgehoben werden würde, besaß Bauer ein klares Verständnis dafür, daß die nationalstaatliche E ntwick­ lung mit einer zunehmend regionalen Differenzierung einhergehen konnte. Es ist kein Zweifel, daß Bauers vielseitige, wenn auch nicht immer widerspruchsfreie Analyse der nationalen Frage die moderne Nationalismusforschung in starkem Umfang be­ fruchtet hat 72 . Kautsky hingegen war nicht bereit, an der Auffassung zu rütteln, daß die Nationali­ tät eine an die E xistenz des Kapitalismus gebundene E rscheinung sei und daß sie die Interessen des Proletariats nur indirekt tangiere. Die Arbeiter träten nicht für die na­ tionale, sondern für die internationale Kultur ein, auf die auch die E ntwicklung von Wirtschaft und Wissenschaft hinarbeitete. „Sind wir aber einmal soweit, daß die Masse der Bevölkerung unserer Kulturstaaten neben ihren nationalen Sprachen noch eine oder mehrere Weltsprachen beherrscht, dann ist auch die Grundlage gegeben zum allmählichen Zurücktreten und völligem Verschwinden zunächst der Sprachen kleinerer Nationen und zur schließlichen Zusammenfassung der gesamten Kultur­ menschheit in einer Sprache und einer Nationalität.“ 73 Mit der Beschwörung dieser Utopie fiel Kautsky hinter die Beurteilung der nationalen Frage durch Marx und E n­ gels zurück. Diese hatten den Nachdruck auf die wirkliche Bewegung gelegt, die zur Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft führte, und hatten die Rolle der Na­ tionalität dieser Problemstellung untergeordnet. Sie unterlagen ihrerseits dem Irrtum, daß es möglich sei, ganze historische E ntwicklungsstufen - und dazu gehört die Aus­ bildung nationaler E inheiten in globalem Maßstab - überspringen zu können. Die Geschichte der Dekolonisierung und die Entwicklung der Dritten Welt hat diese An­ nahme widerlegt. Gerade die Übernahme industrieller Strukturen hat den nationalen Differenzierungsprozeß nachhaltig angefacht. Die Einschränkung der nationalstaatli­ chen Souveränität zugunsten transnationaler Institutionen hat auch in Europa nur be­ grenzt zum Abklingen nationaler E igenständigkeit, ja vielfach zur Neubelebung re­ gionaler Nationalismen geführt, die noch vor kurzem für historisch erledigt galten.

V. Auch die marxistisch-leninistische Theorie wird nicht umhinkommen, die Denk­ anstöße des Austromarxismus, die sich in Bauers Nationalitätentheorie niederge­ schlagen haben, zu verarbeiten, nachdem sich die am Vorbild Kautskys entwickelte Nationstheorie Stalins als zu starr und wirklichkeitsfern erwiesen hat, um die Vielfalt nationaler Impulse auch innerhalb der sozialistischen Länder hinreichend zu analysie­ ren. Das in den letzten Jahrzehnten zunehmende Interesse an der austromarxistischen 78

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Nationalitätentheorie wird auch in Zukunft noch steigen 74 . Zwar hat sich Marx' Pro­ gnose einer Internationalisierung der Bedingungen moderner Zivilisation erfüllt. Gleichzeitig aber haben die nationalen Faktoren eine unerwartet große Resistenzfä­ higkeit bewiesen, und die wesentlich vervollkommneten Kommunikationstechniken haben ebenfalls eine ambivalente Wirkung gezeigt. Otto Bauers Überzeugung, daß die zukünftige E ntwicklung nicht in Richtung auf nationale Vereinheitlichung, son­ dern nationale Differenzierung verlaufen werde, ist durch die historische E ntwick­ lung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, nicht minder durch diejenige des 20. Jahrhunderts, bestätigt worden. Zugleich erweist sich seine E insicht, daß das jewei­ lige nationale Bewußtsein Ausdruck der unaufhebbaren Geschichtlichkeit der kon­ kreten Individuen ist, die ihre Klassenlage notwendig transzendiert, als unwiderleg­ lich. Damit ist auch die Begrenztheit der historisch-materialistischen Methode für die Analyse nationaler Prozesse bezeichnet. Die bereits bei Marx und E ngels angelegte Unterscheidung zwischen historisch progressiven und historisch regressiven Natio­ nalismen ist, wie die wiederkehrenden Fehlurteile über die geschichtliche Zukunft der südostmitteleuropäischen Nationalitäten zeigen, willkürlich und stellt im Grunde ei­ nen Rückfall in eine nicht empirische Betrachtung dar. E s ist unbestreitbar, daß das nationale Bewußtsein unter bestimmten Bedingungen emanzipatorische Funktionen besitzt, unter anderen der Stabilisierung jeweils herrschender sozialökonomischer In­ teressen dienstbar gemacht werden kann. Ähnliche Schwierigkeiten wirft die Unter­ scheidung zwischen dem Nationalismus unterdrückter Völker und demjenigen herr­ schender Nationen auf. In beiden Fällen wird eine seit dem Ausgang des 18. Jahrhun­ derts prägende geschichtliche Tendenz von außen her rubriziert. Das gilt auch für alle Versuche, den Begriff der Nation anhand einer Reihe angeblich objektiver Kriterien zu bestimmen und damit die wirkliche Selbstbestimmung der Individuen durch ihr Recht auf Selbstbestimmung zu ersetzen 75 . Die Nationalität ist offenbar eine genuin historische E rscheinung, und sie ist getragen von wechselnden Solidarisierungspro­ zessen, die dem Bedürfnis der Individuen nach der Artikulation ihrer geschichtlichen Identität entspringen. E s gibt daher keine sozialwissenschaftlich festlegbaren Krite­ rien für die Existenz der Nation oder den Anspruch auf Nationsbildung. Nationalität ist eine der wechselnden Formen menschlicher Vergesellschaftung. Daraus folgt nicht, daß internationale Solidaritäten notwendig gegenüber den Be­ strebungen nach nationaler E igenständigkeit unterliegen müssen. E s hat sogar den Anschein, daß die durch die Bevölkerungsexplosion und den technologischen Fort­ schritt ausgelösten ökologischen Krisen globale Planung und globale Organisationen erzwingen, die dem Begriff der Internationalität einen neuen Inhalt geben. Vieles spricht dafür, daß sie die Dichotomie zwischen nationalen und internationalen Inter­ essen verstärken, daß zugleich der Gegensatz zwischen hochindustrialisierten und unterindustrialisierten Ländern, ungeachtet ihrer politischen Struktur, auf höherem geschichtlichem Niveau der Vision von Marx gleichen wird, die die führenden kapita­ listischen Nationen den historisch rückständigen Völkern entgegenstellte. Der vorge­ schrittenen Internationalität der ersteren steht, angesichts begrenzter globaler Res­ sourcen, die kollektive Nationalität der letzteren gegenüber. Marx sprach dem Kapi­ talismus, der aus sich heraus den Kommunismus erzeugt, die Fähigkeit zu, den Na79

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tionalismus in den Internationalismus aufzuheben. E ine pessimistische Prognose lau­ tet dahingehend, daß die von E uropa ausgehende, mit der E ntwicklung des liberalen Kapitalismus potenzierte nationale Bewegung, übertragen auf die dritte Welt, den Gegensatz von Kapitalismus und Sozialismus im Gegensatz von Reichtum und Ar­ mut aufheben und damit die europäische Geschichte, die „Vorgeschichte“ der Welt­ geschichte im Sinne von Marx, in globalem Maßstab, wenn auch auf erweiterter Stu­ fenleiter, wiederholen wird.

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3. Nationalitätenfrage und Arbeiterbewegung in Mittel- und Osteuropa Der bis zum E nde des 19. Jahrhunderts geschichtlich nicht voll ausgetragene Ge­ gensatz zwischen dem aufstrebenden industriellen Bürgertum und den traditionalen Führungsschichten des Adels und des bürgerlichen Beamtenstands stellte die Arbei­ terbewegung in Mittel- und Ostmitteleuropa vor spezifische politische Bedingungen. Anders als in E ngland und Frankreich hatte sich in Mittel- und Ostmitteleuropa ein den westlichen Verhältnissen vergleichbarer bürgerlicher Radikalismus nicht entwik­ kelt. E s gab ihn in Ansätzen - in der demokratischen Linken der deutschen Revolu­ tion von 1848, in der polnischen Nationalbewegung in Posen, in den Anfängen der tschechischen nationalen Politik; aufs ganze gesehen, blieb der bürgerliche Radika­ lismus E pisode. Die sich in den 60er Jahren als selbständige politische Kraft formie­ rende Arbeiterbewegung war damit in mehr als einem Sinne der Erbe des bürgerlichen Radikalismus. Sie setzte nicht nur in weitem Umfang dessen demokratisch-republi­ kanisches Programm fort, sondern sah sich zugleich vor die Aufgabe gestellt, jenes Minimum an konstitutionellen Freiheiten und rechtsstaatlicher Verfassung zu er­ kämpfen, das im Westen die Voraussetzung für die Entfaltung der Arbeiterbewegung war. Sie kämpfte gegen die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft, wie sie in der Mitte des Jahrhunderts sich herausbildete; sie kämpfte zugleich gegen die Überbleibsel der altständischen Ordnung, die sich sowohl institutionell wie ökonomisch erhalten hat­ ten. Das Ausbleiben oder das Scheitern der bürgerlichen Revolution konfrontierte die Arbeiterbewegung zugleich mit dem Problem der Durchsetzung des Nationalstaats oder doch der E manzipation der Nationen im mittel- und ostmitteleuropäischen Raum. Sie hatte in dieser Frage keine eigene Konzeption; anfänglich blieb sie von der bürgerlichen Nationalbewegung unbeeinflußt und konzentrierte sich ausschließlich auf die Durchsetzung sozialer Forderungen. In dem Maß, in dem sich die Arbeiter­ bewegung als politische Bewegung begriff, sich vom liberalen Selbsthilfe- und Bil­ dungsgedanken löste, übernahm s i e - mit dem Programm der politischen Demokratie - die nationalen Zielsetzungen der liberalen Tradition der Jahre 1848/49. In der sozia­ listischen Forderung, ein freies Polen wiederherzustellen, erneuerte sich die liberale Polenbegeisterung. Die Freiheit Polens, hatte Marx 1847 auf einer Versammlung der Fraternal Democrats erklärt, sei der Gradmesser der Freiheit Europas 1 . Der polnische Aufstand von 1863 fand allenthalben Sympathie. Zu den reaktionären Ostmächten war Preußen getreten, das mit der gewaltsamen Beendigung des preußischen Verfas­ sungskonflikts die Hoffnungen zerstört hatte, zum Hort der liberalen Bewegung zu werden. Die starke großdeutsche Orientierung der von Bebel und Liebknecht geführ­ ten Arbeitervereine war daher nicht nur national-, sondern auch richtungspolitisch motiviert 2 . Das Programm, eine demokratische deutsche Republik unter E inschluß Österreichs zu errichten, war für alle Gruppen selbstverständlich, auch wenn der All-

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Mommsen, Arbeiterbewegung

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gemeine Deutsche Arbeiterverein unter Führung Lassalles zunächst daran dachte, ein taktisches Bündnis mit Bismarck einzugehen. Die I. Internationale stand gleichfalls noch im Bannkreis der Ideen von 1848. Die Sozialisten, geschweige denn diejenigen der Marxschen Richtung, waren in ihr in der Minderheit. Die Inauguraladresse, die Marx verfaßt hatte, b e w i r k t e - abgesehen von dem E influß der anarchistischen Richtung Bakunins - keine ideologische Klärung. Johann Philipp Becker, der Leiter der „Sektion deutscher Zunge“, verfolgte von Genf aus, nicht ohne Unterstützung der süddeutschen Arbeiterblätter, eine gesamtdeut­ sche Politik. E r stand ganz in der Tradition des bürgerlichen Radikalismus von 1848. Die Arbeiterschaft werde durchsetzen, woran die bürgerlich-liberale Bewegung im Revolutionsjahr gescheitert war: die Beseitigung der einzelstaatlichen Welt, die Zu­ sammenfügung der Nationen, nicht nur-der deutschen, sondern auch der „slawi­ schen“. Denn noch war eine allslawische Tendenz, die zwischen den verschiedenen slawischen Völkern nicht prinzipiell unterschied, dominierend. Die I. Internationale war in ihren Anfängen noch ganz die Internationale der Völker, die gegen die histo­ risch gewachsenen Staaten standen. Selbstbestimmungsrecht im Innern und Selbstbe­ stimmungsrecht der Völker verschmolzen in ein universales, aber durchaus unklares Programm, das noch einmal die Illusionen des europäischen Liberalismus im Vor­ märz erneuerte: daß die Freiheit und E manzipation der Völker mit der friedlichen Verständigung zwischen ihnen harmonieren, ja diese erst ermöglichen werde 3 . Der Arbeiterbewegung sollte nicht erspart bleiben, daß sich dies als politische Illu­ sion erwies und daß sie, wie in der bürgerlichen Revolution von 1848 die liberale Be­ wegung, den Antagonismus von radikalem Nationalismus und demokratischem Prinzip nicht aufzulösen vermochte. Die Vorstellung, daß das Programm der Demo­ kratie die nationale Frage automatisch mit lösen werde, wird das Denken der Arbei­ terbewegung auf lange hinaus beeinflussen. Aus der Sicht der 60er und 70er Jahre, aus dem Blickpunkt einer jungen, von raschen E rfolgen träumenden Bewegung, war es nachgerade selbstverständlich, der sozialen Revolution die Priorität vor der nationa­ len einzuräumen, wie dies Friedrich E ngels mit der berühmten Bemerkung tat, Polen könne nicht in Polen befreit werden, sondern nur durch die geschlossene Aktion des internationalen revolutionären Proletariats 4 . Die Arbeiterbewegung hat zunächst all­ gemein, und Marx und E ngels machten hierin keine Ausnahme, die Geschwindigkeit des revolutionären Prozesses überschätzt. Der Verlauf der Entwicklung Ostmitteleu­ ropas bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges wird jedoch zeigen, daß die Umkeh­ rung von nationaler E manzipation und sozialer Revolution nicht ohne schwere innere Krisen der Arbeiterbewegung abging und daß diese, mit Ausnahme des zaristischen Rußland, in dem die Nationalitätenfrage gegenüber der Agrar- und der Verfassungs­ frage noch untergeordnete Bedeutung besaß, ein politisches Programm in der natio­ nalen Frage entwickeln mußte, das in der Gegenwart praktizierbar war und nicht aus der Realität einer um ihre verfassungspolitischen Voraussetzungen kämpfenden Ar­ beiterbewegung in die abstrakte Traumwelt der sozialistischen Zukunftsgesellschaft hinüberglitt. Die Verzögerung der proletarischen Revolution hat auch die nationalitätenpoliti­ schen Auffassungen von Marx und E ngels widerlegt. Sie glaubten, daß der Klassen82

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kampf des Proletariats gewissermaßen stellvertretend für die sich erst entwickelnden Nationen von der Arbeiterschaft der großen Nationalstaaten vorangetragen und zum Siege geführt werde. Sie wollten dieses Ziel gerade nicht mit dem nationalen Selbstbe­ stimmungsrecht als generell anzuwendendem Prinzip belasten. Die „Völkersplitter“ Ostmitteleuropas, wie E ngels abwertend bemerkte, waren nicht geeignet, Träger der weltgeschichtlichen E manzipation des Proletariats zu sein - und noch spät bemerkte Friedrich E ngels, daß die Tschechen mit dem Programm nationaler Autonomie zu­ friedengestellt werden könnten 5 . Marx wie Engels betonten zwar, eine Nation könne sich nicht selbst befreien, solange sie andere unterdrücke 6 , aber es ist kein Zweifel, daß diese Bemerkungen polemisch zugespitzt waren; sie wollten die nationale E man­ ziptaion durchaus der sozialen Revolution untergeordnet wissen. Die Geschichte ehrte jedoch, daß dies nicht möglich war, daß der Anspruch der sogenannten „unhiîtorischen“ Völker auf nationale Anerkennung und relative Selbständigkeit nicht ad :alendas graecas vertagt werden konnte. Es kann hier außer Acht bleiben, daß in der Haltung von Marx und E ngels zur Na­ tionalitätenfrage zumindestens unbewußt großdeutsche Motive mitgespielt haben 7 . Die praktische Haltung der deutschen und der ostmitteleuropäischen Arbeiterbewe­ gung ist durch ihre nationalitätenpolitische Konzeption ohnehin nicht nennenswert beeinflußt worden, wie sich auch die Marxsche Motivation der internationalen Soli­ darität des Proletariats erst langsam gegenüber kosmopolitischen Ideen liberaler Prä­ gung durchgesetzt hat. Fraglos überwog der naiv demokratische Illusionismus, wie er sich bei Wilhelm Liebknecht fand und in den vielzitierten Vorbildern der Schweiz und Nordamerikas ausdrückte. Die großdeutsche Tendenz der deutschen Arbeiterbewe­ gung unterschied sich nur nach dem Grade der Abneigung gegen Preußen; Lassalles taktischer Schwenkung im kleindeutschen Sinne steht nicht das Werben um die öster­ reichischen Arbeitervereine entgegen, mit dem Johann Baptist Schweitzer der E isena­ cher Richtung zuvorzukommen bestrebt war. Beide Gruppen lehnten die Aufrecht­ erhaltung der habsburgischen Monarchie ab, die damit belastet war, im Verein mit dem zaristischen Rußland den Sieg der Reaktion in Mitteleuropa ins Werk gesetzt zu haben, und daran änderte auch die relative Großzügigkeit der konstitutionellen Ge­ setzgebung nach 1867 nichts. Erst die E ntscheidung des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71 zerstörte die Illusion, eine gesamtdeutsche Republik werde an die Stelle der Vorherrschaft einer oder der beiden deutschen Mächte treten und das demokratische Programm von 1848 zugleich mit den sozialen Forderungen der Arbeiterklasse verwirklichen. Sie ermög­ lichte erst eigentlich eine Klärung der nationalen Haltung der jungen Arbeiterbewe­ gung in Österreich, die zunächst vorwiegend die deutsche Arbeiterschaft umfaßte und dort, wo sie auch nichtdeutsche Arbeiter an sich zog, überwiegend deutsches Ge­ präge trug. Zdenëk Solle hat in seiner verdienstvollen Untersuchung über die I. Inter­ nationale in Österreich mit vollem Recht darauf hingewiesen, daß die Wiener Arbei­ terbewegung der ausgehenden 60er Jahre noch von den Antrieben der deutschen Na­ tionalbewegung der 48er Revolution mitgeprägt war, und daß dies mutatis mutandis auch für die tschechische Arbeiterbewegung Gültigkeit habe 8 . Die Überwindung der spezifisch deutsch-nationalen Strömung unter Heinrich Oberwinder war jedoch 83

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nicht nur auf das internationale Programm der von Marx beeinflußten Arbeitergrup­ pen, das Vorbild der Pariser Kommune und die Haltung der deutschen Sozialdemo­ kratie im deutsch-französischen Konflikt allein zurückzuführen. E s spiegelte sich darin auch das zunehmende Desinteresse des linken Flügels der Deutschliberalen an der Arbeiterbewegung, der - wie die politischen Anfänge Victor Adlers zeigen - zu­ nächst ein Bündnis mit der Arbeiterbewegung aus verfassungs- und nationalpoliti­ schen Motiven für erstrebenswert gehalten hatte 9 . Diese Wendung war ein Resultat der rasch einsetzenden inneren Krise des deutsch-österreichischen Liberalismus. Um der Behauptung der deutschen Führungsrolle im Gesamtstaat willen rückte er zu­ nehmend von seinen konstitutionell-liberalen Grundsätzen ab oder verlor doch seine politische Stoßkraft, was folgerichtig zu seiner politischen Isolierung in der Ära Taaffe geführt hat 1 0 . In ideologischer Hinsicht hat sich die Trennung der österreichi­ schen Sozialdemokratie vom Deutschliberalismus vorteilhaft ausgewirkt; das darf aber die Tatsache nicht verschleiern, daß auch die sozialistische Bewegung in den deutschen Gebieten Zisleithaniens einer tiefen inneren Krise anheimfiel, zu der poli­ zeistaatliche E ingriffe wesentlich beigetragen haben 11 . Umgekehrt profitierte die tschechische Arbeiterbewegung von dem politischen Umschwung, der sich im Kräfteverhältnis der Nationen abzeichnete und zu einem ra­ schen Aufschwung der tschechischen bürgerlichen Nationalbewegung führte. Der Ausgleich mit Ungarn rückte - jedenfalls nach dem Selbstverständnis der tschechi­ schen bürgerlichen Bewegung - das Programm des Trialismus in greifbare Nähe, wie er zugleich bewirkte, daß die moderne Tendenz des nationalen Selbstbestimmungs­ rechts sich in die vergilbten Pergamente des Böhmischen Staatsrechts hüllte. Der Auf­ schwung des politischen Lebens in Böhmen, - er kam in den tabory-meetings aufs deutlichste zum Ausdruck - war zugleich das Startzeichen für die tschechische Arbei­ terschaft, sich vom Gedanken der Selbsthilfe zu lösen, sich zur politischen Partei zu formieren und dem bürgerlichen Liberalismus als Partner, nicht als Gefolgsmann zu begegnen. Im Unterschied zu Wien blieb in Prag die Grenze zum Linksliberalismus, und damit zur tschechischen Nationalbewegung immer fließend, zumal diese stets starke demokratische E lemente einschloß und - wie die Übernahme der hussitischen Tradition anzeigt - einen jakobinischen E inschlag hatte 12 . Bei der raschen politischen E manzipation des sozialistischen Flügels der tschechi­ schen Arbeiterbewegung unter Pecka, der enge Verbindungen zur deutsch-österrei­ chischen Sozialdemokratie aufnahm, spielte nicht nur das Vorbild der nur relativ fort­ geschrittenen deutschen Partei eine Rolle, sondern auch der Gedanke, die organisierte tschechische Arbeiterschaft, die in Nordböhmen und Mähren zunächst an den deut­ schen Organisationen partizipierte, zusammenzuschließen und zu einem Faktor der tschechischen Politik zu machen. Die formelle E ingliederung der tschechischen Ar­ beiterbewegung in die österreichische sozialdemokratische Partei, die auf dem Neu­ dörler Kongreß 1874 beschlossen wurde, fand nur bei einem Teil der tschechischen Arbeitervereine offene Zustimmung. Wie dies für die Veränderungen im österreichi­ schen Parteiensystem unter den Bedingungen des nationalen Konflikts allgemein gilt, bedeutete Peckas klarer Bruch mit der bürgerlich-national beeinflußten Zeitung „Dëlnické Listy“ keineswegs das E nde nationaler E inflüsse, sondern bewirkte, in ei84

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ner Form eines Zurückpendelns der Gewichte, sogleich verstärkte - übrigens durch­ aus gerechtfertigte- Forderungen der tschechischen Sozialisten nach nationalem E nt­ gegenkommen der deutschen Sozialdemokraten, wobei nationales Prestige wie ein gewisser Druck der tschechischen Nationalbewegung eine Rolle spielten 13 . Daß eine derartige Kritik an den Deutschen nicht ungerechtfertigt war, ergibt sich beispielsweise aus der sowohl unrealistischen wie bequemen Identifizierung der sla­ wischen Arbeiter mit Parteigängern der Reaktion. Aber auch unabhängig von der na­ tional pointierten E instellung der Oberwindianer hatten die deutsch-österreichischen Sozialisten - nur in Böhmen war das anders - die grundsätzliche politische Bedeutung der nationalen Probleme noch kaum begriffen, und zwar auch dort nicht, wo sie In­ ternationalismus propagierten. Denn die Abwendung von dem naiven Vorurteil, die slawischen Arbeiter seien Werkzeug des bürgerlichen Nationalismus, führte darum nicht zu einer tieferen Analyse der nationalen Probleme. Gewiß waren die Bemühun­ gen Andreas Scheus, enge Kontakte zu den tschechischen Arbeitern aufzunehmen und damit zu verhindern, daß sie reaktionären politischen E inflüssen erlagen, vor­ bildlich; aber sie waren vereinzelt, und sie blieben bei äußerer Solidaritätsbekundung stehen. Wenn in einzelnen programmatischen Stellungnahmen die Formel des „Selbstbestimmungsrechts“ auftauchte, verband sich doch damit noch keine klare po­ litische Vorstellung, die über eine erhoffte Identität von demokratischer und nationa­ ler E manzipation hinausging. Nach wie vor wurde die Nationalitätenfrage von der deutschen Arbeiterschaft ganz überwiegend bloß als Hindernis für die Entfaltung der Arbeiterbewegung, als eine im Grunde überholte Erscheinung angesehen, die mit der internationalen Solidarisierung der Arbeiterschaft automatisch verschwinden werde. Dem entsprach die anfänglich allgemein vertretene Auffassung, die nationalen Gegensätze würden von den Bour­ geois aller Nationen nur hochgespielt, um die Arbeiterbewegung niederzuhalten. Zweifellos gibt es auch dafür Zeugnisse; in der Regel verhielt es sich umgekehrt, in­ dem die E xistenz der klassenbewußten Arbeiterschaft eine solidarisierende Wirkung auf die nationalen Bourgeoisien ausübte. Problematisch war freilich die Schlußfolge­ rung, die die österreichischen Sozialisten zogen: sie neigten dazu, die nationale Frage zu ignorieren. E s sei eine Frage, die die Arbeiterschaft nichts anginge, nicht ihre Inter­ essen berühre. Das traf selbst für die Frühzeit nur begrenzt zu, wiewohl die offenen Konfliktpunkte - die Schul- und insbesondere die Amtssprachenfrage - die auch we­ gen der damit verknüpften bürgerlich-nationalen Ämterpatronage an Scharfe gewan­ nen, sie nicht unmittelbar betrafen. Die im Vergleich zu der Zuspitzung, die die Nationalitätenkonflikte anderthalb Jahrzehnte später erfuhren, verhältnismäßig ruhige Phase der 70er Jahre ließe am ehe­ sten die Möglichkeit denken, daß die österreichische Arbeiterbewegung eine einheit­ liche, auf den proletarischen Internationalismus fundierte Stellungnahme zur nationa­ len Frage gefunden hätte. E in Programm, das mehr als die unter den damaligen Um­ ständen irreale Forderung des Selbstbestimmungsrechts im Sinne staatlicher Unab­ hängigkeit enthalten hätte, würde an die Tradition von Kremsier angeknüpft und in der Linie der Vorstellungen von Fischhoff gelegen haben. Dafür fehlten aber alle inne­ ren und äußeren Voraussetzungen. Zunächst lenkte der Zerfall der einheitlichen Ar85

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beiterbewegung Zisleithaniens als Folge verschärfter polizeilicher E ingriffe das Inter­ esse der Arbeiter auf die unmittelbaren sozialpolitischen Probleme. Die kontinuierli­ che Führungskrise angesichts der nicht abreißenden Kette polizeilicher Verfolgungen und die Auflösung überregionaler Konferenzen, wie des Delegiertentags von Mar­ chegg, resultierten in einer territorialen und geistigen Zersplitterung der Bewegung. Die zeitweilige Verlegung der Parteileitung nach Reichenberg bewirkte eine enge Zu­ sammenarbeit deutscher und tschechischer Sozialisten; die vorbildliche praktische in­ ternationale Solidarität, die hier geübt wurde, hat gewiß das Vertrauen der Nationali­ täten gegeneinander bestärkt. Aber die hier gewonnenen E rfahrungen und E insichten blieben auf das nationale Mischgebiet beschränkt; die Zentren der Arbeiterbewegung - Wien und Prag - waren aus dieser in gewissem Sinne doch provinziellen E ntwick­ lung ausgeklammert. Auch theoretisch war die hier geübte internationale Solidarität nicht geeignet, zu verbindlichen Formeln für Zisleithanien im ganzen zu führen. Die deutsch-tschechische Zusammenarbeit beruhte auf der E inheit des historischen Böh­ men, damit einem Gefühl landschaftlicher Verbundenheit, das die spätere Bela­ stungsprobe durch den integralen Nationalismus nicht aushielt. Die von den böhmi­ schen Sozialdemokraten vertretene Haltung in der nationalen Frage, die bis zur Un­ terstützung tschechischer Schulforderungen und der Anerkennung der so umstritte­ nen Forderung nach Zweisprachigkeit der Beamten reichte, war eine Art demokrati­ scher Alternative zum „reaktionären“ böhmischen Staatsrecht. Sie war an eine spezifi­ sche geschichtliche Situation gebunden, in der der Nationalitätenkonflikt vor allem in der Form von Minderheiten- und Sprachenfragen ausgetragen wurde. Für die österreichische Arbeiterbewegung hatte dieser Typus internationaler Soli­ darität, wie er sich in den sprachlichen Mischzonen und den industriellen Zentren mit großer fremdnationaler E inwanderung herausbildete, keine prägende Kraft. Zudem konnte sie auf ideologische Vorbilder nicht zurückgreifen; die Proklamationen der I. Internationale betonten zwar den internationalen Charakter des Klassenkampfes, ga­ ben aber keine Antwort auf die spezifischen Bedingungen Zisleithaniens. Sie enthiel­ ten grundsätzlich die Anerkennung der historischen Staatlichkeit. Schon im Kommu­ nistischen Manifest war die Forderung, die Arbeiterschaft müsse sich im „nationalen Rahmen“ organisieren, im Sinne der Staatsnationalität aufgefaßt 14 . Die formale Be­ kundung der internationalen Solidarität auf dem Gothaer Parteitag darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß der zu schaffende demokratische Volksstaat, nicht nur „der Form nach“ national sein würde. Marx' Kritik am verschwommenen Internationalis­ mus der Gothaer war nur zu berechtigt 15 . Ähnlich ging der Standpunkt der Wiener Sozialdemokraten über die Verabscheuung der nationalen Querelen, die Betonung der unabhängig von Sprache und Nationalität gegebenen Solidarität und die Idee einer humanitären Verbrüderung nicht hinaus. Die relative politische Isolation der deutsch-österreichischen Sozialdemokratie in den 70er und 80er Jahren erleichterte es, daß Internationalismus und nationale Indif­ ferenz für identisch gehalten wurden. Der politisch aktive Teil der Arbeiterschaft, der ja zunächst überwiegend Handwerksgesellen, selbständige Handwerker und speziali­ sierte Berufe, also gerade nicht die proletarisierten Schichten umfaßte, war sozial für eine national indifferente Haltung prädisponiert. Das Sprachenproblem tauchte hier 86

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nicht auf; die tschechischen Sozialisten beherrschten das Deutsche, und die Notwen­ digkeit einer zweisprachigen Agitation trat im Mischgebiet, dem ursprünglichen Zen­ trum der Bewegung, nicht hervor. Die Sozialdemokratie erschien zunächst in Böh­ men - und das gilt dann auch für das südslawische Gebiet- als der Form nach deutsche Bewegung, ohne daß dies die anderen Nationalitäten als diskriminierend empfanden. Das war nicht zuletzt eine Auswirkung der starken kosmopolitischen Vorstellungen bei der frühen Führungsschicht der Arbeiterbewegung. Insbesondere im böhmisch-mährischen Raum blieb die humanitär-kosmopoliti­ sche Ideenwelt des deutschen Idealismus, die ja durch Vermittlung Johann Gottfried Herders bei dem E rwachen des modernen Nationalgedankens der slawischen Völker Pate gestanden hatte, auf lange hinaus lebendig. Für das Verständnis der späteren deutsch-tschechischen Konflikte ist die eigentümliche Ambivalenz zwischen humani­ tärer Verbrüderung und nationaler Missionsidee in der Inkubationsphase des nationa­ len Gedankens bedeutsam; beide Möglichkeiten lagen nahe beieinander, die eine konnte plötzlich in die andere umschlagen. Man wird sich erinnern, daß dies auch eine Eigentümlichkeit der „neuen“ Nationalismen des Vormärz gewesen war. Das „Junge Europa“, Mazzinis „Junges Italien“, die radikal-revolutionären Geheimbünde der 30er und 40er Jahre sind gekennzeichnet dadurch, daß der von ihnen vertretene Na­ tionalgedanke, der mit der Vorstellung der Brüderlichkeit der vom Joch des Despo­ tismus befreiten Völker einherging, einen universalen Anspruch geltend machte, der aus jener kosmopolitischen Wurzel stammte. Namentlich im tschechischen Nationa­ lismus finden sich verwandte Züge - ob man an Frühformen, wie Jan Kollaf, oder an Thomas G. Masaryk denkt, der aus ähnlich romantischer Wurzel heraus dem Tschechentum, wie den kleinen Nationen überhaupt, eine besondere demokratische Mission gegenüber den durch Machtstaatspolitik ihrem Wesen entfremdeten großen europäischen Völkern zusprach 16 . Zunächst freilich blieb innerhalb der Arbeiterbewegung die kosmopolitische Va­ riante dominierend. Dies war nicht allein ein E rbe der Romantik, auch jakobinische Einflüsse spielten hinein, wie überhaupt das Vorbild der Großen Französischen Re­ volution die tschechische Nationalbewegung geprägt hat, im Unterschied zu der von 1848 ausgehenden deutschen Bewegung. Die Begriffe „Verbrüderung“, „Brüderlich­ keit“ und „Menschenrecht“, zugleich Formulierungen wie: „Für uns gibt es nur eine Nation, das ist die Menschheit“, weisen auf die Stärke kosmopolitischen Denkens hin, die Otto Bauer veranlaßte, von „naivem Kosmopolitismus“ im Gegensatzu zu dem von ihm neu interpretierten „proletarischen Internationalismus“ zu sprechen 17 . Die Vorstellung einer zukünftigen Verschmelzung der Völker, der Ersetzung der Na­ tionalsprachen durch eine einheitliche Universalsprache, das Zurücktreten der natio­ nalen Unterschiede infolge der Ausbreitung des Welthandels und -Verkehrs hat sich bei der sozialistischen Arbeiterschaft, trotz der nationalen Konflikte, lange erhalten. Noch 1904 bemühte sich Adler ergebnislos, einen Parteitagsbeschluß zu verhindern, der den Arbeitern die Erlernung des Volapük als zukünftiger Weltsprache empfahl 18 . Josef Strasser, dessen 1912 erschienene Schrift „Der Arbeiter und die Nation“ von Lenin hochgeschätzt und in Stalins Analyse der Österreichischen Frage von 1913 zu­ grundegelegt ist, ist ein später, aber typischer Repräsentant dieses Denkens, so be87

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rechtigt seine Kritik an der praktischen Haltung der österreichischen sozialdemokra­ tischen Gesamtpartei in der Nationalitätenfrage in mancher Hinsicht gewesen ist. Strasser trat für eine VermittlungsWeltsprache ein und glaubte an die Eliminierung der einzelnen Volkssprachen wie der nationalen Unterschiede in der sozialistischen Ge­ sellschaft. Das waren Gedankengänge, die auch Kautsky noch am Anfang des 20. Jahrhunderts wiederholte 19 . Es leuchtet unmittelbar ein, daß die österreichische Arbeiterbewegung, solange kosmopolitische Vorstellungen dieser Art überwogen, an einer realistischen E in­ schätzung des Nationalismus gehindert war. Die Phase engster deutsch-tschechischer Zusammenarbeit, die Jiri Koralká in seiner Untersuchung der Reichenberger Arbei­ terbewegung eingehend gewürdigt hat 20 , beruhte gutenteils auf der kosmopolitisch motivierten nationalen Indifferenz der Führungsgruppen. Gewiß vermehrten sich Ansätze einer weniger humanitaristischen, spezifisch der marxistischen Interessen­ analyse folgenden internationalen Solidarität. Aber dies führte nicht zu einer Konzep­ tion in der Nationalitätenfrage. Die prinzipielle Bedeutung der Doppelsprachigkeit der Agitation und der Parteipresse, der Möglichkeit, durch paritätische Besetzung der Führungsgremien nationale Gegensätze zu verhindern, und ähnlicher, später selbst­ verständlicher Methoden wurde nicht gesehen. Die Verknüpfung der nationalen Gruppen geschah mittels Personalunion. Es zeigte sich rasch, daß die Vereinigung von Arbeitern verschiedener Nationalität in derselben Lokalorganisation, was vor allem in Mähren noch lange üblich war, den agitatorischen Bedürfnissen der Partei nicht entsprach. In dem Maße, in dem die So­ zialdemokratie über die kosmopolitisch orientierte, soziale Oberschicht des Proleta­ riats hinausgriff und die arbeitenden Massen zu organisieren bestrebt war, erwies sich das Prinzip internationaler Organisation „von unten“ als obsolet. Dafür waren zu­ nächst sprachliche, dann auch politische Motive maßgebend. Der Ursprung der tschechoslawischen Partei, die am 7. April 1878 in Bfevnov gegründet wurde, lag in der Notwendigkeit, einen Kontrollausschuß für das tschechische Zentralorgan einzu­ setzen. Für die Schaffung einer selbständigen tschechischen Partei waren aber zu­ gleich politische Gründe maßgebend; nur als formell unabhängige politische Gruppe, wenn auch in engem Bunde mit der deutschen Sozialdemokratie, konnte sie der Kon­ kurrenz und dem Druck der bürgerlich-radikalen Bestrebungen erfolgreich gegenübenreten. Denn nun stieß die Arbeiterbewegung in eine soziale Schicht vor, die nicht wie die Vorkämpfer der Bewegung zum Internationalismus spontan tendierten, sondern vielfach zäh an nationalen Vorstellungen festhielten. Charakteristisch für diesen Zusammenhang ist das Problem der Einbeziehung der Bergarbeiterschaft in die sozialdemokratische Bewegung, die später zu Reibungen mit den deutschen Sozial­ demokraten führte; bei den Bergarbeitern hatten national-anarchistische und natio­ nal-soziale Bestrebungen auch später relativ großen E rfolg. Das Bfevnover Programm enthielt in Analogie zum Gothaer Programm die Klau­ sel, daß die Organisation der Arbeiter erst im nationalen Rahmen durchgeführt wer­ den müsse, bevor zur Fusion der internationalen Bewegung geschritten werden kön­ ne 2 1 . In der Tat bemühten sich die tschechischen Arbeitervereine in Wien sehr rasch um einen organisatorischen Anschluß in die tschechische Partei, die ja zunächst auf 88

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Böhmen beschränkt blieb, obwohl sachliche Gründe dafür gesprochen hatten, die enge personelle Verbindung zu den deutschen Organisationen beizubehalten und auszubauen. Das Brevnover Programm nahm daher die spätere Entwicklung vorweg, die auf getrennten nationalen Organisationen „von unten“ und dem internationalen Zusammenschluß auf der Führungsebene sowie der Programmeinheit beruhte. Auf deutscher Seite ist die Bedeutung dieser E ntscheidung nicht erkannt worden. Sie wurde ideologisch auf die im Programm enthaltene Forderung der „freien Selbstbe­ stimmung der Nationen“ gestützt. Die Sympathiekundgebungen der deutsch-öster­ reichischen Sozialdemokraten waren, abgesehen von einem unmittelbaren Solidari­ tätsempfinden, auch von dem Gefühl bestimmt, daß den deutschen Organisationen die lästige Aufgabe, innerorganisatorische nationale Gleichberechtigung zu gewähr­ leisten, damit erspart bleiben würde 2 2 . Gleichwohl ist für diese grundsätzliche E ntscheidung auch die Tatsache maßge­ bend gewesen, daß die deutschen sozialdemokratischen Gruppen bereits eine tiefe Krise durchmachten, die mit dem Vordringen des Radikalismus zur völligen Zersplit­ terung führte. Die Frage, wie die praktische Zusammenarbeit der neuen tschechoslawischen und der deutschen Partei auszugestalten sei, blieb daher in der Schwebe. Die radikale „Propaganda der Tat“, die wie Frantisek Jordan gezeigt hat 23 , trotz einiger Entlehnungen vom anarchistischen Ideengut Johann Mosts nicht als anarchistisch be­ zeichnet werden kann, ist ein Spezifikum der österreichischen Arbeiterbewegung, das auch als Rückwirkung der Nationalitätenkonflikte zu betrachten ist. In dem trotz der Gewährung der Staatsgrundgesetze von 1867 verfassungspolitisch rückständigen und innenpolitisch stagnierenden habsburgischen Staat waren damals die Voraussetzun­ gen für eine Arbeiterbewegung modernen Stils im Grunde noch nicht gegeben. Die Nationalitätenkonflikte bewirkten nicht nur eine wachsende politische Lähmung des deutschen Liberalismus und verschafften damit den konservativ-klerikalen Gruppen überwiegenden politischen E influß, sondern förderten die angesichts der hohen so­ zialen Mobilität vorhandene politische E motionalisierung, die der ihrem Wesen nach rationalen Agitation der Gemäßigten die Wirkung nahm. Die Kritik am parlamentari­ schen Weg entsprang der Verzweiflung darüber, daß die nationalistischen und anti­ semitischen Strömungen die bestehenden interessen- und klassenpolitischen Fronten überdeckten. Victor Adlers Wort, daß die Sozialdemokratie zu ihrer E ntfaltung des modernen bürgerlich-kapitalistischen Klassenstaates bedürfe, gilt insbesondere für die 80er Jahre 2 4 . Die Regeneration der österreichischen Arbeiterbewegung nach 1886, die unauflös­ lich mit der Rolle Victor Adlers und Josef Hybes' verbunden ist, und die Wiederbele­ bung des internationalen Gedankens beruhten gutenteils auf der „Verfolgtengemein­ schaft“ der deutschen und tschechischen Sozialisten. Die Bedeutung, die die radikale Phase für die österreichische Arbeiterbewegung gehabt hat, liegt vor allem darin, daß sie angesichts der polizeilichen Verfolgungen - Herbert Steiner hat die provozieren­ den Methoden aufgedeckt, die damit verknüpft waren 25 - dem Bewußtsein „existen­ tieller“ Solidarität zwischen den Arbeitern aller Nationalitäten entscheidenden Auf­ trieb verschaffte. Andererseits aber mußte die E inigungsbewegung die Nationalitä­ tenfrage ausklammern, um nicht die ohnehin schwierigen Verhandlungen zwischen 89

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Gemäßigten und Radikalen zu belasten. Wenn späterhin am Hainfelder Programm, das ja ursprünglich nur als provisorische Grundsatzerklärung intendiert war, die Kri­ tik geübt worden ist, es habe eine klare Stellungnahme zur Nationalitätenfrage ver­ missen lassen 26 , geschieht dies ohne Kenntnis der Bedingungen, unter denen Victor Adler die Einigung „gemäkelt“ hatte. E s wäre ein klarer Fehler gewesen, die E inigung dadurch zu gefährden - für die Situation von 1888/89 reichte eine deutliche Distanzie­ rung vom bürgerlichen Nationalismus aus, zumal die internationale Solidarität nicht durch programmatische E rklärungen herbeigezwungen werden konnte. Allerdings war in Hainfeld und danach die Nationalitätenfrage, die zunächst in Ge­ stalt des organisatorischen Verhältnisses der nationalen Zweigparteien zur E ntschei­ dung stand, bewußt unbeantwortet geblieben. Die unter der Mitwirkung Adlers voll­ zogene E inigung der tschechoslawischen Partei in Brünn 1887 hatte die 1878 festge­ stellte Organisationsform - national getrennte, aber an der Spitze verbundene Par­ teien - erneuen. Formell gingen sie in Hainfeld in die gesamtösterreichische Partei auf, faktisch blieb die E igenständigkeit der tschechischen Organisationen unangeta­ stet, und dies wird auch für die nun rasch hinzutretenden Arbeiterparteien der übri­ gen Nationalitäten gelten. Hätte Adler, was er bewußt vermied, den Versuch ge­ macht, die Sozialdemokratie in Hainfeld auf eine detaillierte Haltung in der nationa­ len Frage festzulegen, wäre die E inheitlichkeit der Politik, die alle nationalen Grup­ pen unterstützten, von vornherein gefährdet gewesen. Adlers Politik der taktischen Ignorierung der nationalen Frage, ob sie nun mit seiner gemäßigt nationalen E instel­ lung zusammenhing oder nicht, war zweifellos erfolgreich; die Kämpfe um die E rwei­ terung des Wahlrechts, die Sicherung der Koalitionsfreiheit, der Abbau der polizei­ staatlichen Unterdrückung der Arbeiterbewegung und der Sondergerichtsbarkeit so­ wie die wenn auch begrenzte Durchsetzung sozialer Reformen verschafften der Partei als ganzer einen konkreten Fundus gemeinsamer E rfolge und Interessen und ließen die nationalen Antagonismen zurücktreten. Die Hainfelder Partei konnte jedoch, indem sie zu einem gewissen politischen Fak­ tor wurde, die Nationalitätenfrage um so weniger ignorieren, als die entstehenden ra­ dikal-nationalistischen Flügelparteien ihr eine Politik der bloßen Negation der beste­ henden Verhältnisse unmöglich machte. Sie mußte aus der Welt des „reinen revolu­ tionären Prinzips“ in die Sphäre der „Gegenwartsentscheidungen“ hinübertreten, und diese waren fast regelmäßig mit nationalen Problemen belastet. Die Differenzen, die sich allein daraus ergaben, daß sich das politische Klima Prags von demjenigen Wiens gründlich unterschied, - hier eine breite nationalrevolutionäre Tendenz, dort eine nationalreaktionäre - bildeten nur einen Teil der Schwierigkeit, eine einheitliche politische Linie der multinationalen Partei zu gewährleisten; sie bewirkten jedoch an­ haltende organisatorische Reibungen, die nur durch ständiges Ausgleichen und Lavie­ ren zurückgedrängt werden konnten. Die Föderalisierung der formell einheitlichen Partei, die 1897 beschlossen worden war, erschien in doppelter Hinsicht geboten. Sie brachte zunächst taktische E rleichterung. Der von der nichtdeutschen Bourgeoisie erhobene Vorwurf, die Partei sei ein Werkzeug der Germanisierung, hatte die E inbe­ ziehung der nichtdeutschen Gruppen erheblich behindert; die nationale Föderalisie­ rung hat sie wesentlich erleichtert. Zugleich wurde die Gesamtpartei nicht mit der Re90

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gelung nationaler Konflikte belastet, die innerhalb der Gliedparteien auftraten. Zum andern zwang sie die nationalen Gliedparteien zur Klärung ihrer Haltung gegenüber der nationalen Postulatenpolitik, zu der sie, seit der Vertretung der Sozialdemokratie im Reichsrat, konkret Stellung nehmen mußten, während zuvor divergierende Posi­ tionen innerhalb der nationalen Gruppen auch nach außen hin zum Ausdruck ge­ bracht worden waren. Die nationale Föderalisierung ist später aufs schärfste kritisiert worden, weil sie an­ geblich den Zerfall der Gesamtpartei vorweggenommen hätte 27 . Die vielberufene Par­ teieinheit, die 1897 zerstört worden sei, hatte jedoch nie existiert. Das E igengewicht der nationalen Gliederparteien stieg mit deren zahlenmäßigem Wachstum und deren politischem E influß. E s bestand auch keine Möglichkeit, wie Adler wohl gewünscht hätte, zu einer straffen zentralistischen Parteiorganisation ohne Rücksicht auf die na­ tionale Regionalisierung zu gelangen. Der entsprechende Versuch der österreichi­ schen Gewerkschaftsführer, die deutsche Hegemonie zur Zentralisierung auszunüt­ zen, scheiterte auf der ganzen Linie; nur die Vermittlung der föderalisierten Partei verhinderte, daß der offene Bruch von 1907 bereits 1896 eintrat. Adler, den Otto Bauer später einen „Fanatiker der Parteieinheit“ genannt hat 28 , wünschte zunächst, wenigstens an dem bisherigen Zustand festzuhalten, der dadurch gekennzeichnet war, daß die deutsche Partei die Rolle des primus inter pares einnahm und die Ge­ samtpartei repräsentierte. So gab es vor 1897 zwar Parteikonferenzen und Parteitage der nichtdeutschen Gruppen, aber keine selbständigen deutschen Parteitage. Adler willigte nur zögernd in die sich als unvermeidlich aufdrängende nationale Fóderalisie­ rung ein. Aber die Alternative dazu war nicht die Einheit, sondern der Zerfall der Be­ wegung. Die föderative Organisationsform, die der Gesamtparteivertretung und der Reichsfraktion die Führung einräumte, hat unter den Bedingungen steigender natio­ naler Kämpfe ein erstaunliches Maß nationaler Geschlossenheit ermöglicht 29 . Strasser und ihm folgend Stalin wie Lenin haben in der E ntscheidung von 1897 die Auswirkung eines nationalen Opportunismus und eine unzulässige Nachgiebigkeit der revolutionären Partei gegenüber dem bürgerlichen Nationalismus erblicken wol­ len 3 0 . Daß bei Lenins und Stalins Beurteilung der österreichischen Situation taktische Motive mitspielten, ist ebenso unbezweifelbar wie der relative E rfolg ihrer Verknüp­ fung der Forderung des „nationalen Selbstbestimmungsrechts bis zur Lostrennung“ mit der Aufrechterhaltung der Parteieinheit im Sinne des demokratischen Zentralis­ mus. Die Voraussetzungen für eine solche Politik waren 1897 in Österreich nach kei­ ner Richtung hin gegeben. Zunächst existierte die Parteieinheit nicht, und es fehlten, zumal angesichts der abweichenden Praxis der II. Internationale, alle Voraussetzun­ gen, um sie zu erzwingen. E ben die Situation, die Lenin 1922 von den großrussischen „Sozialnationalisten“, er meinte damit in erster Linie Stalin, befürchtete, daß die rus­ sisch geführte KPdSU „in imperialistische Beziehungen zu den unterdrückten Völ­ kerschaften hineinschlittern“ und ihre „ganze prinzipielle Aufrichtigkeit“ im Kampf gegen den Imperialismus verlieren könnte 31 , galt für die deutsch-österreichische So­ zialdemokratie, und der Gewerkschaftskonflikt seit 1906 liefen dafür Anschauungs­ material genug 32 . Zum andern hätte in der damaligen Lage die Forderung des Selbstbestimmungs91

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rechts bis zur Lostrennung keinerlei taktische E ntlastung gebracht, ganz abgesehen davon, daß sie mit dem Verlust der legalen Aktionsbasis der Partei erkauft worden wäre. Anders als in Rußland, wo die Nationalitätenfrage gegenüber der Agrar- und Verfassungsfrage eine noch sekundäre Rolle spielte, beherrschte sie seit der Badeni­ Krise die innenpolitischen Auseinandersetzungen in Zisleithanien. Die Forderung des Selbstbestimmungsrechts hätte den Prozeß der kumulativen Opposition durch die na­ tionalistischen Flügelparteien nur beschleunigt und die Sozialdemokratie überall in eine einheitliche Front mit ihren schärfsten Gegnern gestellt. Selbstbestimmung bis zur Lostrennung bedeutete nicht allein die nationale Zweiteilung Böhmens, sondern zugleich die E rneuerung des großdeutschen Programms, das Anfang der 70er Jahre überwunden worden war zugunsten internationaler Zusammenarbeit zwischen den habsburgischen Nationalitäten. Das wäre von der international gesinnten Arbeiter­ schaft nicht verstanden, von tschechischer Seite als nationalistischer Schachzug aufge­ faßt worden, durch welchen dem Deutschtum die erschütterte Vorherrschaft erneut hätte gesichert werden sollen. E ine solche Politik lief auf die berüchtigte Forderung der „Festlegung des nationalen Besitzstandes“ hinaus, d i e - mit gewissem Recht- von tschechischer Seite als Verewigung der Vorrangstellung der herrschenden Nationen aufgefaßt wurde. Um der großdeutschen Konsequenz des „Selbstbestimmungsrechts bis zur Los­ trennung“ auszuweichen, wird gern die Theorie der „österreichischen Nation“ ange­ führt, die zunächst von Albert Fuchs vertreten wurde, später von einer Reihe kom­ munistischer und bürgerlicher Autoren übernommen worden ist 33 . Sie besagt, daß sich im österreichischen Deutschtum - aufgrund der eigenständigen geschichtlichen Entwicklung der habsburgischen Monarchie und des Ausschlusses Österreichs aus Deutschland ein selbständiges, aber nicht gesamtdeutsches Nationalgefühl herausge­ bildet habe, das aber durch die von Berlin aus beeinflußte deutschnationale Agitation überdeckt worden sei. Diese Konstruktion ex post, die den Bedürfnissen der Zweiten Republik nach einer nationalen Vorgeschichte entspringt, verkehrt jedoch Ursache und Wirkung. Vor Königgrätz fiel für das österreichische Deutschtum gesamtdeut­ sche Orientierung und österreichische Staatsidee zusammen, nachdem sich 1848/49 die Monarchie als überraschend lebensfähig erwiesen hatte. Die privilegierte Stellung, die das Deutschtum zunächst in der Gesamtmonarchie, in begrenztem Umfang auch nach dem ungarischen Ausgleich in Zisleithanien innehatte, sicherte seine Loyalität gegenüber der Dynastie und der schwarz-gelben Idee und verzögerte die Durchset­ zung betont nationalistischer Strömungen. Das Bewußtsein, daß Österreich ein „deutscher Staat“, wenn auch unter E inschluß nichtdeutscher Völker, sei, wich je­ doch nach 1867 der nüchternen E rkenntnis, daß das Deutschtum angesichts des sozia­ len und politischen Aufstiegs der nichtdeutschen Gruppen in Zisleithanien seine bis­ herige beherrschende Rolle nicht nur nicht aufrechterhalten konnte, sondern befürch­ ten mußte, in die Rolle einer Nationalität unter anderen herabzusinken. Das spezifische „österreichertum“, das Albert Fuchs als Quelle einer besonderen deutsch-österreichischen Nationalität betrachtete, war dem Typus nach ein auf die hi­ storische Landschaft bezogener Patriotismus, nicht anders wie dies vom Preußentum gilt, das ja auch ein Gegengewicht gegen den gesamtdeutschen Nationalismus darstel92

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len konnte, aber diesem nicht standgehalten hat. Wie dieses, enthielt das österrei­ chertum übernationale E lemente, war nicht nur auf den engeren Raum Nieder- und Oberösterreichs bezogen, sondern auf die Donaumonarchie als Ganzes. Indem die nichtdeutschen Nationalitäten das Bewußtsein nationaler E igenständigkeit der ge­ samtösterreichischen Solidarität voranstellten, entwickelte sich auch im Deutschtum, zunächst in Böhmen, ein lebhafter Nationalismus, der Anlehnung und Verbindung zum Bismarckschen Reich suchte, obwohl - trotz mancher alldeutscher Bestrebungen - dort nur wenig Sympathien für Österreich lebendig waren 3 4 . Es bedurfte zur nationalen Aktivierung des österreichischen Deutschtums nicht erst des Anstoßes der Schönerianer. Die Radikalisierung der deutschnationalen Be­ wegung war, wie das Scheitern des Linzer Programms und des Versuchs, eine breite liberale und nationale Volkspartei zu schaffen, deutlich zeigt, Resultat der zuneh­ menden Gegensätzlichkeit von österreichischer Staatsidee und deutschem Nationa­ lismus. E s kann unterstellt werden, daß eine rechtzeitige Herausbildung eines auf die deutschen Siedlungsgebiete Zisleithaniens bezogenen deutsch-österreichischen Na­ tionalbewußtseins die Chancen einer nationalen Föderierung der Monarchie vergrö­ ßert hätte; indessen waren in der imperialistischen E poche keine Ansätze dazu vor­ handen. Eine Analyse der politischen Problematik, die sich für die Arbeiterbewegung Österreichs aus der Nationalitätenfrage ergab und die sich hier am frühcsten und am stärksten aufdrängte, wird sich davor hüten müssen, die massive Sprengkraft des inte­ gralen Nationalismus - des „Nationalismus als Massenerscheinung“, wie Friedrich Naumann formulierte 35 - zu unterschätzen. Die unter den Sozialdemokraten verbrei­ tete Meinung, die nationalistischen E xzesse seien ein Nachhutgefecht der im Nieder­ gang befindlichen Bourgeoisie, führte sie zu der unrichtigen Schlußfolgerung, daß sie mit dem Fortschreiten des Klassenkampfes zurücktreten würden 3 6 . Der Massenna­ tionalismus der imperialistischen E poche war jedoch nicht nur ein ideologisches Phä­ nomen und umfaßte keineswegs nur die kleinbürgerlichen Schichten, deren soziale Si­ tuation sie am stärksten für nationalistische Affekte disponierte; vielmehr war er Ven­ til für die aufgestauten sozialen E nergien, die die Industrialisierung und der gesell­ schaftliche E manzipationsprozeß der Nationalitäten freisetzte 37 . Die Formel des „bürgerlichen Nationalismus“ verdeckt häufig den Tatbestand, daß die breiten Mas­ sen der Bevölkerung im Zuge der Demokratisierung von ihm erfaßt worden sind. Friedrich E ngels, den man übrigens zu Unrecht für die Theorie der ,,österreichischen Nation“ anführt (er sprach nur von der „momentanen politischen Trennung“ Öster­ reichs von Deutschland), sah 1882 klar voraus, daß ein möglicher Weltkrieg zunächst eine Hochflut nationalistischer E motionen bei den Massen hervorrufen werde 3 8 . Aus diesen E rwägungen heraus ist es fragwürdig, die nationalen Reibungen wie die Übernahme nationaler Zielsetzungen durch die sozialdemokratische Arbeiterbewe­ gung darauf zurückzuführen, daß kleinbürgerliche Intellektuelle in sie eingedrungen seien und die Führung an sich gerissen hätten. E ine solche Auffassung reduziert die Frage nach den Ursachen des zunehmenden nationalen E ngagements der sozialisti­ schen Bewegung auf ein rein ideologisches Problem. E s ist gewiß richtig, daß Persön­ lichkeiten - wie Pernerstorf er oder Modracek - , die aus der nationalen Bewegung ka93

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men, die internationale Zusammenarbeit der Sozialdemokratie vielfach negativ beein­ flußten. Aber sie konnten nur Gehör und Wirksamkeit finden, weil sie vorhandene Tendenzen repräsentierten. Der deutsch-tschechische Parteikonflikt ist keineswegs in erster Linie von der jüngeren, nichtproletarischen Führerschicht der beiden Parteien ausgetragen worden, sondern zugleich von eben den Persönlichkeiten, die zuvor ent­ schiedene Parteigänger des internationalen Prinzips gewesen waren. Das nationale E ngagement der Sozialdemokraten ergab sich notwendig aus dem parlamentarischen E influß, den sie gewann, der es aber notwendig machte, zu natio­ nalen Streitfragen Stellung zu nehmen, zumal dann, wenn sie - wie hinsichtlich des umkämpften Problems der Minderheitsschulen - die Interessen der Arbeiterschaft di­ rekt betrafen. In der Badeni-Krise trat das Dilemma der Partei offen zutage, das darin bestand, daß sie nicht bei der Bekundung ihrer Internationalität stehen bleiben konn­ te, sondern sie praktisch unter Beweis stellen mußte - und das angesichts der nationa­ len Postulatenpolitik. Die Erklärung der tschechischen Reichtagsabgeordneten gegen das böhmische Staatsrecht war ein solcher Versuch. Diese Stellungnahme setzte die früher von Pecka eingeschlagene Politik fort, führte aber in der kritischen Situation der Badenischen Sprachenverodnungen zu einem stürmischen Protest nicht nur des tschechischen Bürgertums, sondern auch zu lebhafter Kritik innerhalb der eigenen Partei, wie sie von der Führung nicht erwartet worden war. Dem starken bürgerlichen Druck gegenüber stellte die tschechoslawische Partei zunehmend nationale Kompen­ sationsforderungen, die die Notwendigkeit zeigten, endlich eine gegenwartspoliti­ sche Konzeption in der nationalen Frage zu erarbeiten 39 . Die Autonomiebestrebungen der tschechischen Partei, die ihren Höhepunkt im Gewerkschaftskonflikt erreichten, erklären sich aus der Defensivhaltung, in die diese angesichts der nationalen E xzesse gedrängt wurde; nicht anders erging es der deut­ schen Partei nach dem definitiven Scheitern des böhmischen Ausgleichs. Die Vertei­ digung der Parteieinheit erforderte angesichts der nationalen Spannungen eine Politik behutsamer Festigkeit bei Konzessionen in organisatorischer Hinsicht. Paritätische Vertretung der Nationalitäten in den Führungsgremien, finanzielle Unterstützung der nichtdeutschen Gruppen, Mehrsprachigkeit der Gewerkschaftspresse waren gleichwohl nicht geeignet, die tiefere Ursache des deutsch-tschechischen Parteikon­ flikts zu beseitigen, der in der machtpolitischen Rivalität des tschechoslawischen Par­ teiapparats gegenüber dem deutschen lag und der auf der E bene der Gewerkschaften ausgetragen wurde. Trotzdem war die starre Haltung, die Anton Hueber und der reichsdeutsche Gewerkschaftsführer Carl Legien mit der Ablehnung national-födera­ tiver Prinzipien an den Tag legten, falsch, denn sie mußte den Eindruck verstärken, als werde eine deutsche Hegemonie angestrebt. Die 1906 definitiv werdende Gewerk­ schaftsspaltung war keineswegs Resultat der nationalen Förderalisierung von 1896/7; sie bewies vielmehr, daß im multinationalen Staat eine zentralistische Organisation ohne Berücksichtigung nationaler Belange und ohne national-paritätische Besetzung der Führungsgremien nicht lebensfähig war. Selbst unter den weit günstigeren Bedin­ gungen der reichsdeutschen E ntwicklung zeigte es sich, wie Hans-Ulrich Wehler dar­ gestellt hat, daß der Parteivorstand der deutschen Sozialdemokratie die Autonomie­ bestrebungen der Minderheiten nicht abzufangen vermochte 40 . 94

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Die spätere Auffassung Josef Strassers, die Gesamtpartei hätte dem aufbrandenden Nationalismus das Programm eines „intransigenten Internationalismus“ entgegenset­ zen müssen 41 , erscheint angesichts der E rfahrungen des Gewerkschaftskonflikts fragwürdig. Die internationale Zusammenarbeit war möglich auf der Grundlage ge­ meinsamer klassenpolitischer Solidarität, einem Mindestmaß an gegenseitigem Ver­ trauen und - politischer E rfolge. Nur diese konnten die Atmosphäre nationaler Ge­ reiztheit und nationalen Prestigedenkens abbauen und die Arbeiterbewegung aus der Defensive gegenüber den nationalen Kräften herausbringen. »Wir können nichts tun als unsere Internationalität betonen, und das ist auf die Dauer sehr langweilig“, schrieb Adler schon 1890 an E ngels 42 . E s gelang dem österreichischen Parteiführer, die Gesamtpartei im Kampf um die E rringung des allgemeinen und gleichen Wahl­ rechts zusammenzuführen und die antagonistischen nationalen Interessen zurückzu­ drängen. Der entscheidende E rfolg, den die Partei mit der Durchsetzung des Wahl­ rechts verbuchen konnte, führte jedoch nicht zur E ntlastung in nationaler Hinsicht, sondern zum Zerfall der Partei 43 . Nach 1907 zerstob die Hoffnung, das neue Wahl­ recht werde die Klassengegensätze innerhalb der Nationen gegenüber dem Nationa­ lismus begünstigen; statt dessen trat der umgekehrte E ffekt ein - die nationale Postu­ latenpolitik zerstörte auch die Arbeitsfähigkeit des Zentralparlaments. Der von Adler befürchtete „Schrecken ohne Ende“ 44 , die langsame Zersetzung des Kaiserstaats, trat ein, damit war eine positive Politik der Sozialdemokratie unmöglich geworden; sie setzte ihre Hoffnungen, wie Hilferding schrieb, auf Veränderungen von außen, wie die Revolutionierung Rußlands, büßte aber damit ihre international integrierende Wirkung zunehmend ein 45 . Die von Adler verfolgte Politik in der nationalen Frage beruhte im wesentlichen auf zwei Grundsätzen. E r war der Überzeugung, daß die von der Sozialdemokratie ge­ forderte Politik sozialer Reformen im Gegensatz zur nationalistischen Hetze des Bür­ gertums zugleich eine Politik der wohlverstandenen Interessen der Nationen darstel­ le, und er konnte daher die Auffassung vertreten, daß die Sozialdemokraten aller Na­ tionen in Wahrheit nationaler seien als die bürgerlichen Nationalisten. Gegenüber dem irrationalen Nationalismus war diese Auffassung von geringem propagandisti­ schem Wert. Nicht zu Unrecht wandte Josef Strasser ein, man könne die Nationalen nicht überbieten 46 . Gleichwohl wird man nicht übersehen dürfen, daß erst auf der Ba­ sis der Anerkennung der nationalen Interessen der österreichischen Völker eine Inte­ gration der Arbeiterbewegung erreichbar war, während der intransigente Internatio­ nalismus, wie ihn Strasser forderte, an der Tatsache vorbeiging, daß die Arbeiterpar­ teien gerade der nichtdeutschen Gruppen durchaus positive nationale Interessen re­ präsentierten. Der zweite Gesichtspunkt, von dem Adler ausging, bestand in der Annahme, daß die Durchsetzung demokratischer Prinzipien und die Beseitigung des bürokratischen Absolutismus den Nationalismus verringern und die Voraussetzung einer positiven proletarischen Politik schaffen würden. Diese Vorstellung, die der früheren Harmo­ nisierung von demokratischen und nationalpolitischen Zielsetzungen entsprach, er­ wies sich als falsch oder doch insofern als unrichtig, als eine derartige Veränderung der politischen Fronten wesentlich mehr Zeit erforderte, als man angenommen hatte. Die 95

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Partei mußte daher über das Programm der Demokratie hinaus dem Gedanken einer praktischen Lösung der Nationalitätenfrage nähertreten. Ihre Glaubwürdigkeit hing davon ab, ob sie über die vor der Badeni-Krise vertretene negative Haltung ein positi­ ves nationales Programm zu entwickeln vermochte, das die Chance hatte, die Unter­ stützung aller nationalen Gruppen zu finden. Das Brünner Nationalitätenprogramm von 1899 47 war der wenig erfolgversprechende, aber nicht länger aufschiebbare Ver­ such, aus der defensiven Stellung herauszukommen und die Führung in der nationalen Frage nicht den bürgerlichen Gruppen zu überlassen. Das Nationalitätenprogramm konnte jedoch von vornherein kein ausschließlich theoretischer E insicht enspringendes Programm sein; seine Bedeutung hing davon ab, inwieweit es die Zustimmung der nationalen Gliedparteien fand, und es war bewußt als Integrationsprogramm konzipiert. E s steckte daher nur den Rahmen einer mögli­ chen sozialdemokratischen Nationalitätenpolitik ab und vermied es, die Details der Sprachen-, Amtssprachen- und Minderheitsschulfragen zu berühren, die eine E ini­ gung erschweren mußten. Das Brünner Nationalitätenprogramm fand die einstim­ mige Zustimmung des Parteitags, aber es ist unzweifelhaft, daß diese E instimmigkeit manipuliert war und daß sein Inhalt von den nationalen Gruppen nicht übereinstim­ mend aufgefaßt wurde. E s ist daher müßig, an das Programm die Sonde der theoreti­ schen Richtigkeit legen zu wollen; gewisse Widersprüche hatte Adler bewußt beste­ hen lassen, wie er es auch vermieden hatte, die Theoretiker der Nationalitätenfrage Karl Renner, Meissner, Modracek - zu den Programmberatungen hinzuzuziehen. Das Brünner Nationalitätenprogramm stellte sich auf den Boden der gegebenen staatlichen Verhältnisse, erkannte also den Bestand der habsburgischen Monarchie als solchen an. E ine Zerschlagung Österreichs lag nicht nur außerhalb des Bereichs des Möglichen, sondern auch - nach sozialdemokratischer Auffassung - des Wünschens­ werten. Allgemein stimmte man in der Überzeugung überein, daß die Beibehaltung eines großen Wirtschaftsgebiets im Interesse der Arbeiterschaft lag, und es kann daher außer acht gelassen bleiben, ob die wirtschaftlichen Fortschritte Österreich-Ungarns diesen alten Topos sozialistischen Denkens bestätigt und ob sich die Vorzüge der Wirtschaftseinheit im Verhältnis zur Situation der Nachfolgestaaten positiv ausge­ wirkt haben. Die Eventualität eines Zerfalls Österreichs konnte in einem Programm, das als Gegenwartsprogramm taktische E ntlastung bringen sollte, keine Rolle spielen, zumal die nationalstaatliche Aufgliederung nur im Zuge einer schweren nationalen Krise zu erwarten gewesen wäre. „Gelingt es nicht“, so faßte Karl Kautsky den so­ zialdemokratischen Standpunkt zusammen, „Österreich zu einem modernen Staat zu machen, so führt das nicht zum Zerfall Österreichs, zur Freisetzung seiner Nationali­ täten, sondern zu einem Prozeß langsamer Auflösung“, der jeden gesellschaftlichen Fortschritt - in Analogie zum türkischen Reich - verhindern werde 4 8 . Das Nationalitätenprogramm wurde unberechtigterweise von tschechischer Seite zur Begründung „separatistischer“ Forderungen herangezogen. Das im Programm anerkannte Prinzip der territorialen Autonomie (weder Renner noch die Slowenen hatten sich mit der Forderung, das Personalitätsprinzip anzuwenden, durchsetzen können) konnte keineswegs als Argument für die E rrichtung einer national-autono­ men Gewerkschaftsorganisation angeführt werden, ebensowenig für die umstrittene 96

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Forderung der Zweisprachigkeit für ganz Böhmen. Das zeigt, daß die Streitpunkte im innerparteilichen deutsch-tschechischen Konflikt kaum die Fragen betrafen, deren künftige Regelung im Programm skizziert war. Gleichwohl hafteten dem Programm Mängel an, die der Parteiführung durchaus bewußt waren; E tbin Kristan, der Führer der slowenischen Sozialdemokraten, nannte es einen „Nothnagel und nichts wei­ ter“ 4 9 . Die tschechische Kritik, daß das Programm die wirtschaftlichen Fragen, d. h. die nationale Verteilung des Steueraufkommens, nicht berücksichtigt habe, war rich­ tig, aber nicht konstruktiv, da es schlechterdings unmöglich war, den ungleichmäßi­ gen Anteil der Nationalitäten an dem Industrialisierungsprozeß und ihre unterschied­ liche Wirtschaftskraft auf dem Wege einer Steuerneuverteilung auszugleichen, wenn man das föderalistische Prinzip ernst nahm. Die Kontroversen über die Steuerträger­ theorie machten die Schwierigkeiten deutlich, zu einer alle Seiten befriedigenden Lö­ sung zu gelangen, nachdem der Nationalitätenkampf zunehmend imperialistischen Charakter gewann 50 . Das Nationalitätenprogramm ist von tschechischer Seite nicht als zukünftige Gene­ rallösung aufgefaßt worden, sondern als Legitimationsquelle für einzelne nationale Forderungen. E s ist bezeichnend, daß man sich zu gleicher Zeit darauf berief und es ablehnte. Angesichts dieser Lage war es illusorisch, die auch von deutscher Seite ge­ wünschte Programmrevision durchzuführen. Die Parteitage der tschechoslowaki­ schen Sozialdemokratie in Pilsen 1907 und in Prag 1909 bewiesen zugleich, daß auch der tschechische Partner für sich nicht fähig war, sich über den Inhalt der von ihm ge­ forderten Programmrevision einig zu werden. Bohumir Smeral, der sich in Prag um eine Lösung im Sinne der Vorschläge Otto Bauers bemühte, befand sich in der Min­ derheit; er rief die heftige Opposition des nationalen Flügels hervor, der zum Pro­ gramm des böhmischen Staatsrechtes zurückwollte, also einen selbständigen böhmi­ schen Staat nach Analogie Ungarns, ebenfalls unter E inschluß breiter Minderheiten, anstrebte. Daher war es unmöglich, eine Revision des Brünner Programms auch nur zu versuchen; auf dem Innsbrucker Parteitag 1911 sprach Adler offen aus, daß an ein Nationalitätenprogramm, das zwischen den nationalen Gruppen vereinbart sei, nicht mehr zu denken sei, die Partei daher Lösungen suchen müsse, die die Chance hätten, die Zustimmung der bürgerlichen Gruppen zu finden 51 . Im Gegensatz zu Karl Renner und Otto Bauer, die damals noch glaubten, ihre we­ sentlich modifizierten Pläne realisieren zu können, und ihre Hoffnung vorüberge­ hend auf ein Bündnis zwischen Arbeiterschaft und Dynastie setzten, war Victor Adler ausgesprochen skeptisch. In der von Danzer 1908 veranstalteten Rundfrage über mögliche Lösungen des Nationalitätenproblems erklärte er lapidar, er stünde „auf dem Standpunkt der weitestgehenden nationalen Trennung“ 5 2 . Auch hatte man den Gedanken, Ungarn in die fällige nationale Reorganisation einzubeziehen, fallen lassen müssen. Renners detaillierte Vorschläge, die dreißig Jahre früher große Realisierung­ schancen gehabt hätten, fanden zwar die Zustimmung der deutschböhmischen So­ zialdemokraten, waren aber durch die Entwicklung überholt, weil die nichtdeutschen Nationalitäten - ganz abgesehen von den Polen - nicht etwa nur nationalstaatliche Unabhängigkeit (sie hätte eine Föderation noch denkbar erscheinen lassen) anstreb­ ten, sondern die Ausdehnung ihres Herrschaftsbereichs auf fremdnationales Ge-

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Mommsen, Arbeiterbewegung

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biet 53 . E s ist unzweifelhaft, daß der tschechische Separatismus über die Forderung des Selbstbestimmungsrechts hinaus in den einstimmigen Ruf der tschechischen Nation einstimmte, daß die deutschen Siedlungsgebiete in Nordböhmen und in Mähren als angestammter tschechischer Boden gelten und damit zum tschechischen „Besitz­ stand“ gehören müßten. Daß bei derartig divergierenden Auffassungen in zentralen Fragen der nationalen Politik die Einheit der Partei und das einheitliche Vorgehen der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion nicht mehr aufrechterhalten werden konnten, steht außer Frage. Victor Adler verschleppte die fällige E ntscheidung, kam den Tschechen entgegen, so­ viel er konnte, beschönigte die scharfen Spannungen - aber er konnte die Spaltung, die infolge des Gewerkschaftskonflikts unvermeidlich war, nicht verhindern. E r hatte vergeblich versucht, die II. Internationale zu einer zurückhaltenden Stellungnahme, die der tschechischen Partei den Rückzug nicht verbaute, zu bewegen. Das Motiv da­ für war, daß Adler, sehr im Unterschied zu Friedrich Adler, Otto Bauer, Anton Hue­ ber und die orthodox-internationale Gruppe Josef Strassers, keinerlei Möglichkeit sah, den separatistischen Tendenzen wirksam entgegenzutreten. Das nationale Feuer müsse erst einmal ausbrennen, bevor neue Gestaltungen denkbar seien, meinte Adler, und er sah seine Hauptaufgabe darin, die Brücken um einer zukünftigen Verständi­ gung willen nicht ganz abzubrechen 54 . Gegen Adlers erklärte Absicht kam es zur Gründung der tschechischen Zentralisti­ schen Partei, die dieser mit Recht für ein „totgeborenes Kind“ hielt 55 . Strasser hat da­ mals gemeint, die nationale Föderalisierung habe den Separatisten die Bewegungsfrei­ heit gegeben, ohne die ihr überwältigender Wahlsieg von 1911 gegenüber den Zentra­ listen nicht denkbar gewesen sei 56 . E r unterschätzte die Popularität, die die Prager Parteiführung bei den Massen gerade wegen der Trennung von der Gesamtpartei be­ saß, und er übersah, daß die Gesamtpartei aus grundsätzlichen E rwägungen heraus einen solchen Weg nicht wählen konnte. Friedrich Adler, zunächst entschiedener Gegner einer versöhnlichen Politik, bekannte zu Karl Kautsky, daß aktive Schritte gegen den Separatismus nicht möglich wären: „.. .dieser Kampf, der als Kampf für den Internationalismus begonnen würde, wäre in der kürzesten Zeit nichts anderes als ein Kampf gegen die Tschechen.“ 57 Otto Bauer schrieb, die Bekämpfung des Separa­ tismus werde „in nationalistischer Hetze gegen die Tschechen“ enden, in einem „Kampf deutscher und tschechischer Arbeiter gegeneinander wirklich - nicht nur fi­ gürlich - mit dem Messer“ 58 . Diese Zwangslage der Gesamtpartei in nationaler Bezie­ hung wird man berücksichtigen müssen, um nicht E rwägungen anheimzufallen, daß eine veränderte Taktik in der nationalen Frage den Internationalismus hätte sichern können. Die Tatsache, daß in der damaligen Situation der internationale Flügel der tschechi­ schen Sozialdemokratie keine Chance hatte, mehr als eine verschwindende Minder­ heit der Arbeiterschaft für sich zu gewinnen, gibt zu denken. E s wäre verfehlt, der , tschechischen Arbeiterschaft zu unterstellen, sie habe in der Praxis weniger interna­ tionale Solidarität bewiesen als beispielsweise die deutsche, und ebensowenig ist diese Entwicklung damit zu erklären, daß die tschechischen Arbeiterführer schlechte So­ zialisten gewesen waren - so berechtigt Adlers Klage über die mangelnde Festigkeit 98

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von Nemec gegenüber nationalen Strömungen gewesen ist. Nationale Motive be­ herrschten nicht nur die tschechischen Sozialdemokraten. Bei den Polen traten sie weniger deutlich hervor, da ihre Zusammenarbeit mit den nationalen Gliedparteien immer mit dem Vorbehalt der Kündigung versehen war. Auch in der deutschen Partei war, unter analogem Zwang der Verhältnisse, eine Schwenkung zum bürgerlichen Nationalismus unverkennbar, und aus der defensiven Benützung nationaler Argu­ mente wurde rasch die Verteidigung nationaler Ziele. Dieser Prozeß, der im Auftreten von Austerlitz, Danneberg und Pernerstorfer deutlich sichtbar wurde, stand im Zu­ sammenhang mit der sich ausbreitenden Hoffnungslosigkeit, innerhalb Zisleithaniens zu einer nationalen Befriedung zu gelangen. Die Krise der Gesamtpartei, das E indringen des Nationalismus in die Arbeiterbe­ wegung und die zunehmende Anlehnung der nationalen sozialdemokratischen Par­ teien an das Bürgertum ist jedoch nicht das Resultat individuellen politischen Versa­ gens. Von späteren E rfahrungen her wird man gegen die Nationalitätenpolitik der österreichischen Sozialdemokratie manches einwenden. Die Partei hätte, auch wenn dies auf Kosten des Deutschtums ging, das Prinzip der Zwei-, ja der Dreisprachigkeit bis zu den Stationsaufschriften vertreten müssen; sie hätte keinen Zweifel daran lassen dürfen, daß ein deutscher Führungsanspruch weder in politischer, noch in kultureller oder wirtschaftlicher Beziehung ihre Unterstützung nicht finden würde. Die Födera­ lisierung der politischen Organisation war hier nur ein Anfang. Man wird sich jedoch klar darüber sein müssen, daß Stratcgeme dieser Art in der hochgespannten Atmo­ sphäre des Nationalitätenkonflikts eine gegenteilige politische Wirkung haben konn­ ten, und darf nicht vergessen, daß es politische Vorbilder nirgends gegeben hat. Damit ist freilich zugleich gesagt, daß die komplizierten Vorschläge Renners nur dort wirksam werden konnten, wo es sich tatsächlich um Minderheitenprobleme handelte. Bei den nationalen Gegensätzen, die die Auflösung der Monarchie unab­ wendbar machten, handelte es sich jedoch nicht um Minderheitenfragen, sondern um einen mit allen Mitteln geführten Kampf der Nationen um politische und um wirt­ schaftliche Macht. Jede der Nationen wollte ihren Herrschaftsraum erweitern, sich nicht auf die eigenen Siedlungsräume beschränken, und die Nationalisten aller Völker waren daher darauf bedacht, den Nationalitätenkampf offen zu halten, nicht ihn zu beenden, und insofern negativ am Fortbestand der Monarchie interessiert. In einer solchen Lage mußten alle Methoden, den Nationalitätenstreit zu schlichten, versagen. Daher mußte die sozialdemokratische Politik in dem Maße scheitern, als sich im Na­ tionalitätenkonflikt innerstaatliche Imperialismen verbargen. Die Niederlage, die die europäische Arbeiterbewegung gegenüber den Faschismen erleiden wird, hatte in Österreich nur ein Vorspiel. Aus späterer Sicht drängt sich das Urteil auf, daß der Versuch der Sozialdemokra­ tie, Österreich in einen Nationalitätenbundesstaat zu verwandeln und es zum Kern einer allgemeinen ost- und südostmitteleuropäischen Lösung zu machen, utopisch war. Nicht die vorgeschlagene Lösung selbst war das Problematische daran; sie ergab sich aus der Logik der Dinge, - und die nachteiligen Folgen nationalstaatli­ cher Aufsplitterung des Donauraums wirken bis heute nach - aber die Arbeiterbewe­ gung besaß nicht die politische Kraft, um sie gegen die Bourgeoisien aller Nationen, 99

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gegen die jede Reform belastenden historischen Traditionen und die dominierende nationalstaatliche Tendenz der Epoche durchzusetzen. Die Auszehrung des Österrei­ chischen Staatsgedankens, die Unmöglichkeit, noch eine gemeinsame internationale Politik durchzusetzen, veranlaßten Bauer schon 1913, eine grundlegende Kurs­ schwenkung zu erwägen. „Am verständlichsten wäre heute vielleicht eine Propagan­ da, die die Hoffnung der Arbeiter auf den Zerfall Österreichs lenken würde.“ Jedoch setzte er resigniert hinzu: „Aber das ist noch nicht möglich, als ein zu plötzlicher Bruch mit der Vergangenheit der Partei und als eine Vertröstung auf eine nicht nur ferne, sondern doch immer noch, wenigstens nach der Meinung der Menge, Unge­ wisse Zukunft.“ 5 9 Bauer hat diese Linie 1917 mit dem Nationalitätenprogramm der Linken eingeschlagen, während der nationale Flügel unter Renners Führung mit mit­ teleuropäischen Projekten spielte, die bedenklich nahe bei den Kriegszielvorstellun­ gen der deutschen Imperialisten lagen 60 . Schließlich stellte sich auch die Parteifüh­ rung, nachdem es aussichtslos war, die Nationalitäten für eine bundesstaatliche Lö­ sung zu gewinnen, auf den Standpunkt des im Nationalitätenprogramm der Linken geforderten nationalen Selbstbestimmungsrechts. Es darf als sicher gelten, daß eine großdeutsche Lösung - auch wenn sie unter de­ mokratischem, nicht nationalsozialistischem Vorzeichen wie 1938 erfolgt wäre keine Bereinigung der nationalen Konflikte gebracht, vielmehr das ostmitteleuropä­ ische Nationalitätenproblem nur noch verschärft hätte. Die Stabilität der in den Pari­ ser Vorortsverträgen ausgehandelten Regelungen, die ausschließlich auf Kosten der „herrschenden“ Nationen gingen, muß bezweifelt werden. Hitlers maßlose und ver­ brecherische Gewaltpolitik mit ihren Folgen hat es den E xperten erspart, Auskunft darüber zu geben, wie eine gerechte und stabile Lösung des ostmitteleuropäischen Nationalitätenproblems hätte aussehen müssen. Die sozialdemokratischen Vor­ schläge kamen zu spät und wieder zu früh; gleichwohl blieb ihr grundsätzlicher Ge­ halt bis heute bedeutsam. Sie waren Resultat einer eigentümlichen innenpolitischen Lage, die nicht auf eine soziale, sondern eine nationale Revolution hintrieb. Zweifel­ los hat dies die revolutionäre E ntschlußkraft der deutschen Parteiführung, insbeson­ dere des alternden Victor Adler, entscheidend beeinträchtigt und bewirkt, daß die Ja­ nuarstreiks nicht zur allgemeinen revolutionären E rhebung und Beendigung des Weltkriegs ausgenützt worden sind 61 . Daß hierbei maßgeblich nationale Motive, wie schon bei der E ntscheidung vom August 1914, mitgespielt haben, steht außer Frage. Wie in der II. Internationale erwies sich bei allen zisleithanischen Arbeiterparteien, daß sie in kritischen Situationen stärker zu der Seite der bürgerlichen Parteien tendier­ ten als zu der Seite der Bruderparteien; es wäre verfehlt, dieses Faktum zu leugnen. Ausnahmen, wie die Politik der italienischen Sozialdemokratie, die angesichts des Weltkriegs eine betont internationale Haltung einnahm, aber damit auch wieder die neutralistische Haltung der eigenen Bourgeoisie reflektierte, dürfen nicht überbewer­ tet werden 62 . Indem sich die sozialdemokratische Bewegung aus einer Sekte in eine Massenpartei verwandelte, vertrat sie nicht nur die Interessen des Proletariats, sondern zugleich diejenigen der Nation. Die Konflikte, die sich daraus notwendig ergaben, konnten nur durch die praktische Bemühung zu nationaler Verständigung und den Willen zu : 100

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nationaler Toleranz, nicht durch einen formalen Internationalismus ausgeglichen werden, der die E xistenz materieller nationaler Interessen des Proletariats leugnete. Über dem Zerfall der „kleinen österreichischen Internationale“ darf nicht vergessen werden, daß die von den Sozialdemokraten vieler Nationen in Zisleithanien unter den schwierigsten Bedingungen praktizierte internationale Solidarität nicht nur wesentli­ che politische und soziale Fortschritte, die vor allem den nichtdeutschen Völkern zu­ gute kamen, ermöglicht, sondern auch über den Zerfall der Donaumonarchie hinaus ein Vorbild gesetzt hat, das damals keine geschichtliche Parallele aufzuweisen hatte. Auch nach der gewaltsamen Bereinigung der europäischen Völkerkarte in und nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich offene und latente Nationalitätenkonflikte in gro­ ßer Zahl erhalten, die, unter geänderten sozialen und ideologischen Bedingungen, gleichwohl ähnliche Probleme aufgeben, wie sie die österreichische Sozialdemokratie zu bewältigen versucht hat. In diesem Sinne gilt vielleicht Adlers Wort, daß Öster­ reich eine „E xperimentierkammer der Weltgeschichte“ sei 63 , bis heute.

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4. Friedrich E ngels und die politische und nationale Taktik der Sozialdemokratie in Österreich Nach dem Tode von Friedrich E ngels trat deutlich hervor, welches Gewicht dem Nestor des wissenschaftlichen Sozialismus als praktischem Ratgeber der europäischen Sozialdemokratie zukam. Dies ist von niemandem so eindrücklich hervorgehoben worden wie von Victor Adler, der Engels als „den großen Praktiker der proletarischen Bewegung“ feierte und ihm persönlich bekannte, durch ihn „die Anwendung der Theorie in corpore vivo“ gelernt zu haben 1 . Als überragender Taktiker tradierte Vic­ tor Adler den politischen Realitätssinn, der Engels auszeichnete, und er blieb dem Al­ ten in der Regent's Park Road aufs engste darin verbunden, die sozialistische Bewe­ gung von einem übergeordneten Gesichtspunkt aus zu beurteilen und die Relativität der nationalen Politik der Arbeiterparteien nicht aus den Augen zu verlieren. Friedrich E ngels' politisches Denken blieb auch im Alter von den E rfahrungen ge­ prägt, die er zusammen mit Marx im Zeitalter der bürgerlichen Revolution von 1848 gemacht hatte. Ihre revolutionäre Strategie stand stets im gesamteuropäischen Zu­ sammenhang und ließ die außereuropäische Wirklichkeit nicht außer acht. Das erklärt die ungeheure Spannweite des politischen Denkens von E ngels, der nahezu der ein­ zige Außenpolitiker von Rang war, auf den die Arbeiterbewegung sich stützen konn­ te. Andererseits führte die universale Sehweisc dazu, daß E ngels dem E igengewicht der nationalstaatlichen E ntwicklung weniger Aufmerksamkeit schenkte und an einer internationalen Interdependenz der Politik der europäischen Arbeiterparteien fest­ hielt, die seit dem Beginn der imperialistischen E poche durch die innenpolitische Orientierung der sozialistischen Führungsgruppen und die zunehmende Integration der Arbeiterschaft in die jeweilige nationale Gesellschaft rückläufig war. In richtiger Einschätzung der Bündnisbeziehungen und der Rivalitäten der europäischen Machte prophezeite E ngels früh den Ausbruch eines Weltkrieges und verhehlte sich schon 1882 nicht, daß ein solcher Krieg die sozialistische Bewegung mindestens um ein Jahrzehnt zurückwerfen werde 2 . Andererseits hielt er daran fest, daß eine revolutio­ näre Politik der Arbeiterklasse nur in europäischem Maßstab denkbar war. E r beur­ teilte die sozialistischen Kräfte der einzelnen Länder als Potenzen auf dem Schach­ brett einer gemeineuropäischen Innenpolitik und hielt damit an einer gesamtpoliti­ schen Konzeption fest, die für die erste Hälfte des Jahrhunderts kennzeichnend gewe­ sen war. Die Einschätzung der innenpolitischen Lage Österreichs und der politischen Chan­ cen der zisleithanischen Arbeiterbewegung seit dem Ausgang der 80er Jahre ist ein klarer Beleg für die von den E rfahrungen von 1848 geprägte revolutionäre Strategie von E ngels. Sein Interesse an der österreichischen E ntwicklung ordnet sich zwar ei­ nerseits in seine globale Analyse der internationalen Gesamtlage ein, ist aber anderer­ seits auch durch spezifisch persönliche Sympathien bedingt, unter denen das grund102

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sätzliche Festhalten am großdeutschen Gedanken einen bestimmenden Platz ein­ nimmt 3 . Während E ngels zunächst stärker außenpolitischen Problemen zugewandt war, verfolgte er seit den 70er Jahren auch die innenpolitischen Veränderungen und die Anfänge der sozialdemokratischen Bewegung in Zisleithanien. Seit dem Anfang der 80er Jahre wurde er durch Karl Kautsky eingehend über die inneren Konflikte zwischen Gemäßigten und Radikalen informiert. Kautsky berichtet, daß ihn E ngels, als er ihn zum ersten Mal in London besuchte, von sich aus nach der Lage der Arbei­ terbewegung in der Schweiz und in Österreich befragte 4 . E ngels äußerte sich insbe­ sondere über die internationale Haltung der böhmischen Sozialisten ungewöhnlich positiv 5 , während er die innere Zersetzung der österreichischen Sozialdemokratie in­ folge der Nationalitätenkonflikte und der „Propaganda der Tat“ mit Desinteresse be­ antwortete. Unter Kautskys E influß äußerte Engels noch 1888, der Nationalitätenha­ der sitze den Massen noch zu sehr in den Knochen, um einen allgemeinen Auf­ schwung zu gestatten. E r sei froh, daß er sich nicht einzumischen habe 6 . Indessen wurde E ngels' Interesse an der österreichischen Arbeiterbewegung durch die enge Beziehung zu Victor Adler neu belebt. Adler hatte ihn 1883 aufgesucht, seit 1886 hatte ihn Kautsky über Adlers E inigungspolitik auf dem laufenden gehalten, wenn auch nicht immer positiv über ihn geurteilt; gleichwohl zeigte sich E ngels von Anfang an stark von Adler beeindruckt. E in Zusammentreffen auf dem Pariser Kon­ greß der Internationale von 1889 stiftete intime Freundschaft zwischen beiden Politi­ kern, wie sie E ngels allenfalls mit August Bebel verknüpfte. Fortan kam es zu engen taktischen Fühlungnahmen, die sich in dem nur teilweise überlieferten Briefwechsel widerspiegeln. Daß die beiden „Hofräte der Revolution“ in vieler Hinsicht konge­ niale Persönlichkeiten waren, geht aus dem Briefwechsel wie aus ihrer häufig überein­ stimmenden politischen Situationsbeurteilung hervor; insbesondere waren sie durch den großdeutschen Ausgangspunkt verbunden 7 . Zugleich faszinierte E ngels die Aktivität, die die Österreichische Sozialdemokratie unter Adlers Führung entfaltete. Mit ungeteiltem Beifall reagierte er auf den Mut der jungen Partei, den Beschluß des Pariser Kongresses zur Maifeier in die Wirklichkeit umzusetzen, während er nur mühsam Verständnis für die zurückhaltende Politik der reichsdeutschen Partei aufbrachte. In einem Artikel für die „Arbeiter-Zeitung“, der sich mit der Maifeier in London 1890 befaßte, räumte E ngels ein, auf dem ganzen Kontinent sei der Festtag des Proletariats in Österreich „am glänzendsten und wür­ digsten“ begangen worden. Die österreichische Sozialdemokratie habe sich damit „eine ganz andere Stellung in der Bewegung erobert“ 8 . E ngels erblickte gerade in der Mai-Agitation einen Hinweis darauf, daß eine neue revolutionäre Bewegungsphase das Bild E uropas zu verändern begann; triumphierend berichtete er Bebel, die Mai­ feier von 1890 in London sei der Anfang einer „wirklichen sozialistischen Massenbe­ wegung“ 9 . Abgesehen von der persönlichen Bindung an Victor Adler ging das starke Interesse von E ngels an der österreichischen Bewegung, das in seinen Adressen an die österrei­ chischen Parteitage von 1891 und 1892 Ausdruck fand 10 , darauf zurück, daß er hoffte, die österreichische Bewegung werde der deutschen neue Impulse liefern. Jedenfalls tat er alles, um die österreichische Partei und Victor Adler, der sein ganzes Vermögen in 103

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die „Gleichheit“ gesteckt hatte, finanziell zu unterstützen, ja er trat sogar seine E in­ nahmen aus den Publikationen beim Dietz-Verlag an sie ab. In einem Brief vom 19. Februar 1892 suchte er Adlers Sorgen zu beschwichtigen, daß die österreichische Be­ wegung an einem toten Punkt angelangt sei. E r versprach Adler, noch im gleichen Jahr nach Wien zu kommen, und es ist charakteristisch, daß er nur widerwillig auf die Bitte Bebeis einging, Berlin aufzusuchen, das er seit der Revolution nicht mehr gese­ hen hatte, während er Adler schrieb: „Denn nach Wien muß ich.“ 1 1 Seine ge­ schwächte Gesundheit zwang ihn, die Reise um ein Jahr zu verschieben. Im Sommer 1893 kam er von der Schweiz in Begleitung Bebeis nach Wien und wurde dort mit stürmischen Ovationen der Arbeiterschaft im Zusammenhang mit der Gedächtnis­ feier von Marx empfangen. Einen spezifischen Akzent erhielt das Interesse von E ngels durch die Wahlrechts­ bewegung, die Adler 1892 eröffnete und die ein Jahr später mit der Taaffeschen Wahl­ reformvorlage reellen E rfolg versprach. Die glänzenden agitatorischen Leistungen der Sozialdemokratie riefen bei E ngels einen, wie sich zeigen sollte, übertriebenen Optimismus hervor. In der Volksversammlung in den Drehersälen in Wien am 14. September 1893 rief E ngels aus, die Arbeiterbewegung sei zur Großmacht geworden, und fügte den aufschlußreichen Satz hinzu: „Wir haben nicht umsonst gelebt.“ 1 2 In einem Brief an Adler vom 11. Oktober 1893 gab er über seine Beurteilung der Lage in Österreich eingehende Rechenschaft. E r erwartete hier „ganz besondere Erfolge“ und begründete dies einmal mit dem temperamentvollen Charakter der Österreicher, de­ ren Rassengemisch er den Reichsdeutschen vorzog, zum andern mit einer innenpoliti­ schen Analyse, die grundsätzliches Interesse verdient. Der industrielle Aufschwung erfolge ohne gleichzeitige Rationalisierung. Dies werde bei dem Abbau der Zollmau­ ern, den Engels aufgrund der Entwicklung der Weltwirtschaft für die nächste Zeit er­ wartete, wirtschaftliche Krisen auslösen. In der Landwirtschaft sah er den Prozeß der Aufsaugung des Kleinbesitzes voll im Gange. Die wirklich herrschende Klasse bilde der Großgrundbesitz, der sich mit einer kleinen, aber einflußreichen großbourgeoi­ sen Gruppe verschränke. E ngels folgerte daraus, daß bei den herrschenden Gruppen jedes Interesse fehle, Österreich in einen konstitutionellen Staat zu verwandeln. Sei­ ner Ansicht nach verharrte das Kleinbürgertum in politischer Indifferenz und legte „kein ernsthaftes Streben nach wirklicher Beteiligung an der politischen Macht“ an den Tag. Unter diesen Bedingungen müsse „eine Arbeiterpartei, die ein Programm und eine Taktik hat, die weiß, was sie will und wie sie es will“ mit hinreichender Zä­ higkeit und Ausdauer „schließlich immer siegen“, zumal sie sich in einer Linie mit den Ökonomischen Bedürfnissen und dem modernen Staatsprinzip befinde 13 . Unzweifelhaft übernahm hier Engels die Argumentation von Adler, der wiederholt erklärt hatte, die Sozialdemokratie müsse erst den modernen Klassenstaat schaffen, um ihn beseitigen zu können. Andererseits rückte er von der früheren Revolutions­ theorie von Marx ab, die den Sieg der Arbeiterbewegung von der vorherigen Durch­ setzung der bürgerlichen Demokratie abhängig gemacht hatte. Die Chancen der So­ zialdemokratie lagen nach seiner Ansicht gerade in der ökonomisch-politischen Rückständigkeit Österreichs begründet. Damit sprach E ngels den Gedanken aus, daß der politische Primat der Arbeiterbewegung der fortgeschrittenen Industrieländer 104

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keineswegs immer gegeben war und unter bestimmten taktischen Konstellationen an die zurückgebliebenen Länder übergehen konnte. Die von den belgischen Wahl­ rechtsdemonstrationen angeregte österreichische Wahlrechtsbewegung schien die Prognose von E ngels zu bestätigen, daß das Ende der 90er Jahre einen grundlegenden politischen Umschwung in E uropa bringen werde. Es ist faszinierend zu sehen, daß E ngels die Lage der beginnenden 90er Jahre mit der Situation des Vormärz in eine Linie rückte. E s scheint, daß er im Alter wieder zu der Überschätzung der revolutionären Geschwindigkeit neigte, wie dies in seinen und Marx' Revolutionshoffnungen der 50er und 60er Jahre zum Ausdruck gekommen war. E s kann kein Zweifel sein, daß E ngels für das Jahr 1898/99 einen grundlegenden Umschwung erwartete. Diese von Bebel auf dem E rfurter Parteitag 1891 mitgeteilte Prognose wurde von Adler mit Skepsis aufgenommen, und er fragte den Freund aus­ drücklich danach mit dem Kommentar, daß er für Österreich nichts mehr befürchte als eine „vorzeitige E xplosion“, die die Bewegung um Jahrzehnte zurückwerfen wür­ de 1 4 . E s scheint, daß E ngels die Frage nach dem Zeitplan nicht direkt beantwortet hat - d e r entsprechende Brief scheint verloren 15 - , aber es ist unzweifelhaft, daß er an der kurzfristigen Revolutionserwartung festhielt. Zwar räumte er ein, daß die industrielle Entwicklung „die einzige solide Basis für den Fortschritt unserer Bewegung“ darstel­ le 16 , womit eine langfristige E ntwicklung ins Auge gefaßt war, konnte aber im glei­ chen Brief von der „momentanen politischen Trennung“ Österreichs von Deutsch­ land sprechen. Die österreichischen Vorgänge vcranlaßten E ngels dazu, die 1893 bestehende Kon­ stellation mit der Lage vor dem Ausbruch der Revolution von 1848 in unmittelbare Analogie zu stellen. Die belgische Wahlrechtsbewegung verglich er mit dem Sonder­ bundskrieg, Taaffes Wahlreform und die Lage in Österreich mit der vorrevolutionä­ ren Situation in Italien. Deutschland, so hoffte er, werde die Rolle des Frankreich der Februarrevolution einnehmen. „Brüssel-Wien-Berlin ist jetzt die natürliche »Ord­ nung im Abc*.“ E ngels war überzeugt, daß die österreichischen Vorgänge nicht iso­ liert bleiben würden: „Die Rückwirkung auf Deutschland ist natürlich unvermeid­ lich. Ganz wie 1848 Wien am 13. März losschlug und dadurch Berlin nötigte, am 18. zu folgen.“ Gegenüber Bebel sprach er die Erwartung aus, daß das preußische Drei­ klassenwahlrecht so wie die übrigen Wahlrechtsbeschränkungen alsbald fallen wür­ den 1 7 . Die Wahlrechtsbewegung stand für E ngels im revolutionären Zusammenhang. Sie würde eine allgemeine Mobilisierung der revolutionären Kräfte bringen, Österreich nur der Zündpunkt der gesamteuropäischen Umwälzung sein: „ . . . ist der Stein ein­ mal im Rollen, so wirkt der Anstoß nach allen Seiten fort, und ein Land wirkt dann zurück aufs andere.“ 18 Daß dies keine E intagsidee E ngels' war, diese ihn vielmehr bis zu seinem Tode bestimmte, zeigen zahlreiche briefliche Äußerungen. „Wir kommen in ganz Europa wieder ins revolutionäre Fahrwasser - vive la fin de siècle“, schrieb er Kautsky am 1. Juni 1893 19 . Gewiß setzte Engels große Hoffnungen auf die deutschen Reichstagswahlen, aber entscheidendes Gewicht maß er den Österreichischen Vorgängen bei, die immerhin auch Kautsky veranlaßten, seine Übersiedlung nach Wien ins Auge zu fassen. „Österreich ist jetzt das wichtigste Land in E uropa, wenig105

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stens für den Moment“, und die Initiative werde in ein bis zwei Jahren Deutschland ergreifen 20 . In der Tat dachte Engels an eine allgemeine revolutionäre Situation. „Die alte Ord­ nung, ohnehin so wacklig, ist jetzt auf immer dahin, und wir haben nur dafür zu sor­ gen, daß die Geschichte nicht wieder zur Ruhe kommt“, schrieb E ngels dem wesent­ lich skeptischer urteilenden Bebel, und er glaubte feststellen zu können, daß man am Anfang „einer lebendigen politischen Bewegung im Volk“ stehe, „in deren Hinter­ grund wir sitzen und die wir-negativ hier, positiv d o r t - bestimmen“ 21 . In seiner Si­ tuationsanalyse kehrte E ngels zu dem ursprünglichen Bewegungsbegriff zurück, der Marx und ihn bis zum Anfang der 70er Jahre geprägt hatte und der in den österreichi­ schen Wahlrechtsdemonstrationen und dem durch sie erzeugten „Gärungsprozeß“ sich erneut realisiert zu haben schien 22 . Es fällt schwer, E ngels' Optimismus zu begreifen, den der anfänglich hoffnungs­ frohe Victor Adler in keiner Weise für angemessen hielt: „Die Hoffnungen, die Du auf die österreichische Bewegung setzt, möchte ich teilen können“, schrieb er E ngels Ende November 1893. Gleichwohl blieb dieser bei seiner Überschätzung der revolu­ tionären Lage. In einem Brief vom 27. Juli 1894 sprach er geradezu von der österrei­ chischen „Avantgarde des europäischen Proletariats“, von der der Anstoß für Frank­ reich, Deutschland und Italien ausgehen müsse, der nötig sei, „um die viel zu früh sich bildende ,cine reaktionäre Masse' momentan wiederum zu sprengen“ und „einige bürgerliche Reformen im Sinne der Bewegungsfreiheit der Massen ins Leben zu ru­ fen“ 23 . E ntscheidendes Gewicht legte er auf den Gedanken, daß die von Österreich ausgehende „allgemeine Offensive des Proletariats“ flüssig gehalten werden müsse. Abgesehen davon, daß der leidenschaftliche Wunsch nach revolutionärer Verände­ rung sich bei E ngels in einer Verkürzung der zeitlichen Perspektive niederschlug, las­ sen diese Äußerungen seinen grundsätzlichen Standpunkt hervortreten, der äußerlich von dem Widerspruch geprägt war, daß er einerseits die Anpassung an die Legalität für taktisch notwendig hielt, andererseits, wie das Vorwort zu den „Klassenkämpfen in Frankreich“ von 1895 zeigt, gewaltsame revolutionäre Aktionen nicht ausschließen wollte, expressis verbis nicht für Frankreich, Italien und Österreich. Schon 1883 hatte Engels gegenüber Bernstein die Revolution als „mehrjährigen E ntwicklungsprozeß der Massen, unter beschleunigenden Umständen“ charakterisiert 24 . Diese Vorstel­ lung übertrug er auf die Situation der 90er Jahre und verknüpfte sie ausdrücklich mit der revolutionären E rfahrung von 1848, nur daß nach seiner Ansicht nunmehr das Proletariat die Stellung einnehme, die 1848 die Bourgeoisie innehatte 25 . Aufgrund der Annahme, daß die Krise in fünf bis sechs Jahren reif sein werde, erschien es sinnvoll, Provokationen von seiten des Proletariats zu vermeiden, die eine verfrühte Gegenre­ volution auslösen mußten und zu einem taktisch ungünstigen Zeitpunkt das Proleta­ riat auf die Barrikaden führen würden. Konsequent hat daher E ngels die Anregung von Adler aufgenommen, ein unzeitgemäßes Aufrollen der Generalstreikfrage zu verhindern. E ngels beschwor Bebel und Kautsky, die Wiener Parteiführung nicht in eine schwierige Situation zu bringen, da Adler große Mühe habe, der Zaubermacht des Generalstreiks entgegenzuwirken 26 . E ngels hob dabei hervor, daß die Kraft der Bewegung weder in Belgien noch in Österreich ausreiche, um den Generalstreik er106

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folgreich anzuwenden. E s war bezeichnend, daß er die Analogie von 1848 beschwor und darauf hinwies, wie leicht es sei, die Arbeiterbewegung in Wien durch Tschechen, Kroaten und Ruthenen über den Haufen zu schießen. E r sprach sich für Adlers Taktik aus, den Generalstreik auf die lange Bank des Parteitags zu schieben 27 . Allerdings un­ terschied sich E ngels von Adler in der gegenüber Taaffe einzuschlagenden Politik. Nachdem es klar war, daß die Wahlreformvorlage keine Mehrheit finden würde, bremste Adler die Wahlrechtsagitation im Gegensatz zu den E rwartungen der Partei ab und war nicht bereit, die Reform mit den Mitteln des Generalstreiks durchzuset­ zen, wie es E ngels erwartete. In der Tat konnte sich die österreichische Sozialdemo­ kratie nicht gut für Taaffe, den Urheber des Ausnahmezustands in Wien und Prag, einsetzen und seinen Sturz mit einem politischen Streik verhindern. E ngels hingegen war überzeugt, daß die Regierung nicht mehr zurück könne, und rechnete mit einer Wahlreform, die das allgemeine Stimmrecht, wenn auch in stark eingeschränkter Form, realisieren werde 2 8 . Adler urteilte richtiger, wenn er von der Annahme aus­ ging, daß Generalstreikmaßnahmen der Regierung eine bequeme Schwenkung gegen die Wahlrechtsvorlage ermöglichen würden. Tatsächlich sollte es noch zweieinhalb Jahre dauern, bis die Wahlreform durch das Ministerium Badeni mit wesentlich schlechteren Bedingungen für die Arbeiterschaft verabschiedet wurde; ein revolutio­ nierender E ffekt ging von ihr, was Deutschland anging, in keiner Weise aus. Bebel hatte dies richtig prognostiziert und die Wahlreform eine „Seeschlangc“ genannt, aus der nichts herauskäme 29 . Es ist gleichwohl bemerkenswert, daß E ngels in dieser Frage zu einer opportunisti­ schen Haltung riet, die selbst von dem betont reformistisch eingestellten Adler als ge­ fährlich bezeichnet wurde. In der Tat wäre eine Stützung Taaffes nur dann zu recht­ fertigen gewesen, wenn reale Anhaltspunkte vorhanden gewesen wären, die für den Übergang E uropas aus einer Phase gouvernementaler Stagnation in eine Periode revo­ lutionärer Mobilisierung der Massen gesprochen hätten. Davon war jedoch nicht die Rede. Auch E ngels sprach nun von der Sicherung des allgemeinen Stimmrechts. Die von ihm empfohlene parlamentarische Tätigkeit war jedoch nicht die Negation, son­ dern die Antizipation der erwarteten revolutionären Lage, die im Unterschied zu 1848 die Chance hatte, nicht mehr Minderheits-, sondern Majoritätsrevolution zu sein. Diese Überlegungen von E ngels deuten darauf hin, daß er einen revolutionären Um­ bruch im Sinne der „Katastrophentheorie“ nicht erwartete, wohl aber eine Bürger­ kriegssituation, die die proletarische Bewegung auf der einen, die geschlossene reak­ tionäre Masse auf der andern Seite vorfinden würde. Engels ignorierte bei seiner Lagebeurteilung, in welchem Maße nationalstaatliche Bindungen und nationalistische Affekte den Fortgang der Arbeiterbewegung behin­ derten, was sich auch in seinen optimistischen Urteilen über die internationale Soli­ darität der österreichischen Sozialdemokraten bekundete. Tatsächlich erwies es sich als unmöglich, die Rückständigkeit der gesellschaftlichen und politischen Verfassung Österreichs zu überspringen und für das Proletariat in einem Zuge die Führungsrolle zu erobern. Der Rückschlag äußerte sich in erbitterten Nationalitätenkonflikten und in verschärftem Antisemitismus, und es war nur eine Frage der Zeit, wann der Natio­ nalismus die Partei ebenfalls erfassen würde, wie dies Engelsfür den Fall kriegerischer 107

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Verwicklungen vorausgesetzt hatte. In der nationalen Spaltung des Bürgertums hatte Engels den entscheidenden Vorteil der Arbeiterklasse erblickt; es zeigte sich, daß es auch innerhalb der sozialdemokratischen Bewegung in Österreich nicht gelang, dem Nationalitätenhader einen Damm vorzusetzen, wie E ngels Adler 1893 schrieb 30 . In Analogie zum Revolutionsjahr von 1848 verunklärte die nationale Frage die soziale Frontbildung. Dies war einer der Faktoren, die E ngels' revolutionäres Timing wider­ legten. Die Wechselbeziehung zwischen den europäischen Staaten, von der Engels ei­ nen Sozialrevolutionären Kumulationsprozeß in Analogie zur Revolution von 1848 erwartete, trat nicht ein; vielmehr kam es zu einer zunehmenden Isolierung der natio­ nalen Arbeiterparteien und zu einer neuerlichen Stabilisierung des alten E uropa, und damit notwendig zu der schweren Katastrophe des E rsten Weltkrieges, den zu ver­ hindern E ngels immer wieder als Überforderung des Proletariats empfunden hatte.

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5. Nationalismus und nationale Frage im Denken Eduard Bernsteins Mit der Frage nach der Haltung E duard Bernsteins zu den nationalen Konflikten seiner Zeit betreten wir einen Nebenpfad in der politischen E ntwicklung dieses neben Karl Kautsky und Franz Mehring bedeutendsten sozialdemokratischen Publizisten der Vorkriegszeit. Bernstein hat sich niemals mit dem Verhältnis von sozialer und na­ tionaler E manzipation systematisch beschäftigt; er hat auch nicht den Anspruch er­ hoben, verbindliche Aussagen über das Problem des Nationalismus zu machen. Wenn er zur nationalen Frage Stellung nahm, geschah dies auf Grund von äußerer An­ lässen, nur vereinzelt im Zusammenhang mit der ihm zugefallenen Funktion, die Nachlässe von Lassalle, Marx und E ngels zu edieren. Man kann darüber streiten, ob Bernstein jemals Theoretiker in einem stringenten Sinn gewesen ist; vieles spricht da­ für, daß erst der Konflikt mit dem Parteizentrum ihn vor die Notwendigkeit stellte, seine Auffassungen in systematischer Form vorzutragen und sie erkenntnistheore­ tisch und philosophisch abzustützen. Auch seine nationalökonomischen und sozial­ statistischen Analysen sind eher als dilettantisch zu bezeichnen 1 . Wie immer dies sich verhalten mag, jedenfalls spielt die nationale Fragc, mindestens dem äußeren Anschein nach, in der Auseinandersetzung zwischen Zentrismus und dem sich formierenden Revionismus, durch die Bernstein zu einer Schlüsselfigur in der internationalen sozialistischen Diskussion wurde, eine untergeordnete Rolle; die meisten Biographien und Darstellungen des Revisionismus-Problems erwähnen das nationale Problem nicht oder nur am Rande 2 . Bernsteins konsequente Haltung wäh­ rend des Ersten Weltkriegs, die ihn den meisten revisionistisch und reformistisch ein­ gestellten Gesinnungsgenossen der Vorkriegsepoche entfremdete, und seine damit zusammenhängende Distanz gegenüber den die Sozialdemokratie nicht aussparenden nationalistischen Stimmungen deuten darauf hin, daß es sich lohnt, seinem Stand­ punkt in der nationalen Frage nachzugehen. Dazu bedarf es allerdings der Auswer­ tung eher perîpherer Äußerungen. Anders als Karl Kautsky, der sich seit dem Tode von Friedrich E ngels der Rolle eines Präzeptors der mitteleuropäischen Sozialdemo­ kratie wohl bewußt war, vermied es Bernstein, in die vor allem seit dem E nde des Jahrhunderts, im Zusammenhang mit der E ntstehung der austromarxistischen Na­ tionalitätentheorie 3 , geführte Debatte über die Grundlagen des Nationalismus einzu­ greifen. Dabei mag mitgespielt haben, daß Bernstein seit dem offenen Konflikt mit Kautsky die „Neue Zeit“ für wichtige theoretische Abhandlungen verschlossen war; diese Diskussion wurde jedoch überwiegend in derselben ausgetragen 4 . Man wird sich zugleich darüber im klaren sein, daß das Problem des Nationalismus in den theoretischen E rörterungen der deutschen Sozialdemokraten allenfalls eine marginale Rolle gespielt hat. Dies ging auch auf den Einfluß von Marx und Engels zu­ rück. Die Marxsche Revolutionstheorie abstrahierte vom nationalen Faktor weitge109

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hend. Das galt in geringerem Maße von der politischen Analyse der Väter des „wissen­ schaftlichen“ Sozialismus, wie die Berücksichtigung der polnischen Frage oder ihr starkes Interesse für die deutsche Nationalstaatsbildung zeigen. Ihre Vorstellung, daß die nationalen Probleme, deren grundlegende Bedeutung sie für ihre Gegenwart nicht leugneten, noch in der Phase des Kapitalismus zurücktreten würden, wirkte bei der mitteleuropäischen Sozialdemokratie lange nach und vermischte sich mit der kosmo­ politischen Überlieferung des frühen Republikanismus 5 . In den Anfängen der organi­ sierten Arbeiterbewegung in Deutschland hatten in den miteinander konkurrierenden Lagern - dem der Eisenacher und dem der Lassalleaner - nationale E rwägungen eine wichtige Rolle gespielt; es ist zugleich daran zu erinnern, daß die Gründung des ADAV nur möglich war, nachdem der Deutsche Nationalverein und die Preußische Fortschrittspartei der kleindeutschen Politik Bismarcks unterlegen waren 6 . Trotz der Beziehung beider Fraktionen zur IAA wurde das Verhältnis von nationalem und in­ ternationalem Gedanken nie grundsätzlich geklärt. Die Solidarisierung mit der Pari­ ser Kommune und die von Bismarck eingeleitete Unterdrückungspoìitik bestärkten die deutschen Sozialisten in einem formalen Internationalismus, der weniger einem konkreten Bedürfnis nach internationaler Solidarität, so sehr es sie gab, entsprang als dem Gegensatz zum Bismarckschen Reich, das den deutschen Nationalgedanken für sich und die Interessen der herrschenden Klassen exploitierte 7 , gleichzeitig aber die großdeutschen Strömungen, die ja auch in der Arbeiterbewegung nachdrückliche Be­ fürworter besaßen, zumalten E isen warfen 8 . Für E duard Bernstein, der im Laufe des Deutsch-französischen Krieges zur Sozial­ demokratie stieß, und zwar, wie er berichtet, unter dem E indruck des von ihr voran­ getragenen Protests gegen die Fortführung des Krieges nach dem Sturz Napoleons III., bestand die Problemlage nicht mehr, die durch den Gegensatz zwischen Bis­ marcks kleindeutscher Politik und den großdeutsch-republikanischen Traditionen, welche vorübergehend Napoleon III. in die Hände spielten, charakterisiert gewesen war. Bernstein betrachtete fortan die europäische E ntwicklung vom Gesichtspunkt der vollzogenen Nationalstaatsbildung in der Mitte E uropas. Im Schweizer E xil be­ gegneten ihm die Reste jener noch die E ntstehung der I. Internationale kennzeich­ nenden Vermengung kosmopolitischer und nationaler Denkhaltungen und deren an die jakobinische Tradition anknüpfende Ambivalenz, die zur Verwerfung der innen­ politischen Frontbildung im Revolutionsjahr 1848/49 beigetragen hatte. Aber diese Konstellationen waren Vergangenheit. Im nunmehr nationalstaatlich geprägten E u­ ropa, auf das sich nun auch Marx und E ngels bei ihrer strategischen Beratung der so­ zialistischen Arbeiterbewegung einstellten, war dafür kein Platz mehr. Zwar wird Bernstein in Anknüpfung an die Auffassungen von Friedrich E ngels an einer maßvoll großdeutschen E instellung festhalten. In der elsaß-lothringischen Frage sollte er - in Übereinstimmung mit den republikanischen Traditionen von 1848 - im E rsten Welt­ krieg für die Anwendung des nationalen Selbstbestimmungsrechtes auf das Reichs­ land eintreten 9 . Im ganzen aber stellte sich für ihn, wie für seine Generation, die na­ tionale Frage überwiegend als ein Bündel ungelöster europäischer Nationalitätenpro­ bleme dar. Soweit sich dies ermitteln läßt, konservierte Bernstein, obwohl er 1878 Sekretär des 110

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durchaus national eingestellten Karl Höchberg 1 0 wurde, zunächst eine eher kosmo­ politisch gefärbte Denkhaltung. Sie muß im Zusammenhang mit seinen in den frühen 70er Jahren lebhaften Sympathien für die Pariser Kommune, vor allem aber mit dem Einfluß des liberal geprägten jüdischen E lternhauses und der weiteren Familie gese­ hen werden, in der das Reformjudentum eine maßgebende Rolle spielte. Hier mag ein tieferer Grund für seinen Parteieintritt liegen, der gleichsam eine Gegenbewegung zu der stark nationalistischen Strömung darstellte, die die Reichsgründungspolitik Bis­ marcks begleitete 11 . Als Redakteur des in Zürich erscheinenden „Socialdemokrat“ verfolgte Bernstein eine betont internationalistische Linie, was sich mit dem in der sozialdemokratischen Bewegung verbreiteten Gefühl nationaler Indifferenz deckte. Das Bekenntnis zu Internationalität, hieß es im „Socialdemokrat“, stelle keine „Gefühlsduselei“ dar, son­ dern beruhe „auf der E rkenntnis der Solidarität der Interessen der modernen Kultur­ völker in politischer und sozialer Beziehung“. Der Leitartikel von 1885, der diese Formulierung enthielt, wandte sich gegen die Kritik Paul Frohmes, daß die Partei die Bedeutung der nationalen Frage unterschätze. Bernstein vermischte darin die strin­ gente proletarische Interessenanalyse der marxistischen Theorie mit bürgerlich-kos­ mopolitischen E rwägungen 12 . Tatsächlich gab sich die Partei und der „Sozialdemo­ krat“ einer Stimmung nationaler Indifferenz hin. Trotz des grundsätzlichen Desinteresses ergab sich für Bernstein und seine Ko-Re­ dakteure wiederholt die Notwendigkeit, zu nationalen Konflikten Stellung zu neh­ men. Sie scheuten sich nicht, hierbei den Rat des in London weilenden Friedrich E n­ gels einzuholen, und dies zumal dann, wenn sie sich im Blatt vorschnell und nach Meinung von E ngels unklug geäußert hatten. E inen Anlaß dazu bildete die Behand­ lung der südslawischen Frage anläßlich des böhmischen Aufstandsversuchs in der Herzogowina von 1882 gegen die habsburgische Okkupation. Bernstein sympathi­ sierte offen mit den Aufständischen, „selbst wenn der Russische Rubel ihnen zu Hilfe kommen sollte“. Gegenüber E ngels rechtfertigte er seine Sympathien „für das arme Naturvölkchen“ damit, daß das slawisch beherrschte Österreich des Grafen Taaffe eine Mißgeburt sei. E in großserbischer Staat werde „Rußland mindestens einen ebenso starken Widerstand leisten“ wie das sterbende Österreich. Bernstein mochte ahnen, daß er mit einer solchen Äußerung geradezu ins Fettnäpfchen trat; jedenfalls fügte er beschwichtigend hinzu, daß man die Gefahr des Panslawismus nicht über­ schätzen dürfe. Seine Beurteilung der Balkanfragen, meinte er gegenüber E ngels, be­ ruhe „weder auf größeren geschichtlichen Studien noch auf besonderen Sympathien bzw. Antipathien gegenüber bestimmten Völkern“, womit er einräumte, daß es ihm an Sachkenntnis durchaus fehlte 13 . Bernsteins Bemerkung, von keinerlei Sympathien geleitet zu sein, traf nicht eigent­ lich zu. Unter dem E influß des jungen Karl Kautsky, der sich damals beim „Socialde­ mokrat“ seine ersten journalistischen Sporen verdiente und der damals noch ausge­ prägte Sympathien für die tschechische Nationalbewegung empfand 14 , hatte Bern­ stein eine klar ablehnende Haltung gegenüber der Österreich-ungarischen Monarchie eingenommen. In seiner Kritik an den österreichischen innenpolitischen Verhältnis­ sen nahm der „Socialdemokrat“ kein Blatt vor den Mund. Das Parteiorgan pflegte 111

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über Österreich unter der Rubrik: „Aus dem Lande der Niedertracht und Heuchelei“ zu berichten. E ine Lösung der Verfassungsfrage erwartete Bernstein nur vom Zerfall des Habsburgerreiches. E r betrachtete die zunehmende nationale „Verhetzung der Arbeiterschaft“ mit gewisser Sorge. Dies stand jedoch nicht im Vordergrund. In sei­ ner Beurteilung der ostmitteleuropäischen Nationalitätenfrage spielte damals eine humanitäre und moralische Komponente hinein, in der romantische E inflüsse nach­ wirkten. Engels, der in jenen Jahren als geistiger Mentor Bernsteins fungierte, reagierte auf derlei Vorstellungen in einem grundsätzlich gehaltenen Brief, der von der Absicht ge­ tragen war, Bernsteins Sympathien mit „den ,unterdrückten' Südslawen“ ein für al­ lemal zu zerstören. „Wir alle haben ja ursprünglich, soweit wir erst durch Liberalis­ mus oder Radikalismus hindurchgegangen, diese Sympathien für alle ,unterdrückten' Nationalitäten mit herübergenommen, und ich weiß, wieviel Zeit und Studium es mich gekostet hat, diese, dann aber auch gründlich, loszuwerden“ 1 5 . Mahnend wies er Bernstein darauf hin: „Wir haben an der Befreiung des westeuropäischen Proleta­ riats mitzuarbeiten und diesem Ziel alles andre unterzuordnen.“ In der Sache argumentierte E ngels damit, daß die südslawischen Völker, so sympa­ thisch sie immer sein mochten, im Kriegsfalle auf der Seite des Zarismus zu finden sein würden. Solange diese Konstellation anhalte, seien sie „unsre direkten Feinde“. Das war die Wiederaufnahme der seinerzeit in den Artikeln der „Neuen Rheinischen Zei­ tung“ und der „New York Tribune“ enthaltenen Attacken gegen die angeblich „ge­ schichtslosen“ Völker. Bernsteins Hinweis auf die sich abschwächende Kraft pansla­ wistischer Bestrebungen in Südostmitteleuropa beantwortete E ngels dahingehend, daß die eigentliche Gefahr des Panslawismus nicht so sehr in dessen Ausstrahlung auf den Balkan als vielmehr in dessen innenpolitisch mobilisierender Funktion für das za­ ristische Regime zu erblicken sei 16 . Es war indessen schwerlich zu rechtfertigen, wegen einer solchen innenpolitischen, prekären Konstellation eine Politik des Status quo auf dem Balkan zu verfolgen, zu­ mal sie auf der Linie der konservativen Außenpolitik Bismarcks lag. Trotzdem fügte sich Bernstein und sprach in seinem Antwortbrief an E ngels von einer „schnellen Be­ kehrung“ und gab beschwichtigend zu, „in vieler Beziehung auf dem Holzwege“ ge­ wesen zu sein 17 . Unter dem E influß des Londoner Mentors wurde Bernstein im Laufe der Jahre zu einer Art von E xperten für die Balkanfrage. Unter den deutschen Partei­ journalisten verfügte er in der Tat mit über die größte Sachkenntnis. Das hinderte ihn nicht, immer wieder Rat von E ngels einzuholen, wobei nun freilich vorsichtige Di­ stanzierungen erkennbar sind. 1886 legt er E ngels die Frage vor, „ob wir noch Ursa­ che haben, den E manzipationsbestrebungen der Südslawen grundsätzlich entgegen­ zutreten. Solange der Zar die Rolle des Befreiers spielte, war das natürlich etwas ande­ res . . .“ 1 8 . Anlaß dazu war der bulgarisch-serbische Konflikt in der mazedonischen Frage von 1885/86, der die anwachsenden inneren Gegensätze auf dem Balkan deut­ lich machte. E ngels verharrte bei seiner grundsätzlichen Zurückweisung südslawi­ scher Sympathien. Bernstein beherzigte diese Lektion 1 9 . Als 1897 die Frage der terri­ torialen Zugehörigkeit Kretas zur Debatte stand, sprach sich Bernstein gegenüber Liebknecht für den Anschluß an Griechenland mit der Begründung aus, daß letzteres 112

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der einzig mögliche Opponent Rußlands sei. Allerdings verlangte er im gleichen Atemzuge die E ntwicklung der Balkanvölker zu „selbständigen Nationalitäten“ und bewies damit, daß er die innere Konsequenz der Engels'schen Position nicht wirklich begriffen hatte 2 0 . Die Unsicherheit Bernsteins in der Beurteilung der Nationalitätenprobleme und seine Tendenz, jeweils mit der radikalen Partei zu sympathisieren, trug ihm auch in bezug auf die irische Frage den ausdrücklichen Tadel von Friedrich E ngels ein. Bern­ stein hatte im „Socialdemocrat“ deutliche Sympathien gegenüber den Feniern bekun­ det. E ngels wies auf die Notwendigkeit hin, eine neutrale Position zu beziehen. E r gab einem auf gewaltsame Mittel gestützten Protest der irischen Unabhängigkeitsbe­ wegung keine Zukunft; nur auf „konstitutionellem Wege“ werde sie Erfolge erzielen können 21 . Umgekehrt stellte sich der Dissens in der Beurteilung der polnischen Frage dar. Bernstein hatte der in der reichsdeutschen Sozialdemokratie verbreiteten Über­ zeugung Ausdruck gegeben, daß es einstweilen nicht an der Zeit sei, die polnische Frage aufzurollen. E r machte aus seiner Überzeugung keinen Hehl, daß die frühere Beurteilung der Polenfrage durch Marx und Engels überholt sei 22 . Als Engels dagegen protestierte, schrieb Bernstein mit entschuldigendem Unterton: „Ich verkenne, wie Sie sehen, durchaus nicht, ein wie eminent revolutionärer Hebel das nationale Unab­ hängigkeitsstreben sein k a n n . . . “ Indessen sei die nationale Unabhängigkeit der Polen nur dann möglich, „wenn das heutige Rußland, das heutige Österreich und das heu­ tige Deutschland nicht mehr sind“; die Polen müßten sich daher eng „an die revolu­ tionären Parteien dieser Länder anschließen“ 23 . Bernstein hatte sich bei seiner Interpretation der polnischen Frage mit dem radika­ len Flügel der polnischen E migration in der Schweiz identifiziert, der die Trennung von den bürgerlichen Kräften in Polen und ein doktrinär-internationales Vorgehen verlangte, wie dies später für Rosa Luxemburg und die Sozialdemokratische Partei des Königreichs Polen gelten wird 2 4 . E ngels wies diesen Standpunkt energisch zurück, vor allem die an die polnischen Sozialisten gerichtete Forderung, mit den linksbürger­ lichen Gruppierungen zu brechen; er distanzierte sich damit implizit von der sich aus­ breitenden Vorstellung von der einen „reaktionären Masse“. Bernsteins Ausflucht ließ er keinesfalls gelten: „Ob eine Herstellung Polens vor der nächsten Revolution möglich ist, ist nicht von Bedeutung. Keinesfalls haben wir den Beruf, die Polen von Anstrengungen abzuhalten, sich die Lebensbedingungen ihrer Fortentwicklung zu erkämpfen oder ihnen einzureden, die nationale Unabhängigkeit sei, vom internatio­ nalen Standpunkt, eine sehr sekundäre Sache.“ 25 E ben dies war die überwiegende Meinung in deutschen Parteikreisen. Bernstein hat diesen Kommentar von E ngels wieder aufgegriffen, als er die ambiva­ lente Stellungnahme des Londoner Kongresses der Internationale von 1896 zur Polen­ frage einer kritischen Analyse unterzog. E s sei unstatthaft, die Frage der polnischen Unabhängigkeit mit dem Sieg des Sozialismus zu koppeln. „Wenn die Italiener und andere Völker ohne diesen endgültigen Sieg zu ihrer nationalen Befreiung gelangt sind, so ist gar nicht abzusehen, warum die Polen und andere noch nicht befreite Na­ tionalitäten auf ein E reignis verwiesen werden sollen, das sicher nicht in der Form ei­ nes ,endgültigen Sieges des Sozialismus' eintreten wird.“ Ironisch sprach er von einem 113 8

Mommsen, Arbeiterbewegung

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„utopischen Hinweis auf das jüngste Gericht“ 26 . Bernstein deckte damit die grund­ sätzliche Problematik der gerade in der deutschen Partei notorischen Tendenz auf, die darin bestand, nationale Forderungen unter Hinweis auf die künftige sozialistische Gesellschaft ad calendas graecas zu vertragen. Sie hat das Vertrauen der nichtdeut­ schen Nationalitäten in die Politik der reichsdeutschen Sozialdemokratie nicht gerade bestärkt 27 . Bernstein wird dieses Argument später in grundsätzlichem Zusammen­ hang gegen die „Zusammenbruchstheorie“ des Parteizentrums aufgreifen 28 . E s ist da­ her nicht zuletzt dem E influß von Friedrich E ngels zuzuschreiben, daß Bernstein den nationalen Interessen der nichtdeutschen Völker mit größerem Verständnis gegen­ übertrat als das Gros der deutschen Sozialdemokraten. Seine Äußerung: „Kein Volk, keine Nationalität wird sich auf den Tag einer allgemeinen Befreiung vertrösten las­ sen“, klingt deutlich an E ngels' zehn Jahre zurückliegende Stellungnahme an 2 9 . Gleichwohl ergab sich zunehmend die Notwendigkeit einer grundsätzlichen Revision der Marx/E ngels'schen Sehweise, die zwar die taktische Ausnutzung nationaler Be­ strebungen guthieß, sie aber letztlich ausschließlich im Zusammenhang mit der er­ hofften sozialen Revolution in West- und Mitteleuropa beurteilte. Bernstein zweifelte immer stärker an der grundsätzlichen und praktischen Richtigkeit dieses Standpunkts und tendierte dazu, das Selbstbestimmungsrecht der Völker zu unterstützen, von dem er wußte, daß es von E ngels und Marx stets kategorisch abgelehnt worden war 3 0 . Der dialektische Zusammenhang, der bei Marx und E ngels zwischen der bürgerli­ chen Nationalstaatsbildung der fortgeschrittenen europäischen Nationen und dem Vorantreiben der proletarischen Revolution bestand 31 , rückte bei Bernstein in den Hintergrund. E rhalten blieb hingegen die E inschränkung auf diejenigen Völker, die, wie Bernstein formulierte, „kulturfähig“ waren. Das „Recht der Nationalität“ stehe nur den Völkern zu, die in der Lage seien, ein „nationales Kulturleben“ zu entwickeln oder aufrechtzuerhalten. Die Bewahrung unzivilisierter Stämme liege nicht im Inter­ esse des Sozialismus, und es sei unsinnig, die Kolonialpolitik aus solchen Gründen zu verurteilen. „Die Freiheit einer unbedeutenden Nationalität in außereuropäischen oder halbeuropäischen Gegenden wiegt nicht die freiheitliche E ntwicklung der hoch­ zivilisierten großen Kulturvölker E uropas auf.“ 32 Diese Formulierung lehnt sich an ähnliche Äußerungen von Friedrich E ngels an, bedeutet aber deren Verwässerung, weil der revolutionäre Kontext als wie immer fragwürdige Rechtfertigung der Be­ schränkung des historischen Fortschritts auf die europäischen Kulturnationen dabei gänzlich zurücktritt. Andererseits ist die besondere Wertschätzung der zivilisierten gegenüber den unzivilisíerten Völkern auch in den frühen Äußerungen von E ngels zu finden; das gilt ebenfalls für Lassalle, der in dieser Frage stark von der Hegeischen Geschichtsphilo­ sophie beeinflußt war 3 3 . Bezeichnenderweise konnte Bernstein Lassalle zitieren, der 1863 an Johann Karl Rodbertus geschrieben hatte, daß er kein „Nationalitätsprinzip­ ler“ sei und „das Recht der Nationalität nur den großen Kultur-Nationen“, hingegen nicht den Rassen einzuräumen bereit sei, „deren Recht vielmehr nur darin besteht, von jenen assimiliert und entwickelt zu werden“ 3 4 . E ngels dachte nicht viel anders. Bernstein, der das Zitat zur Zurückweisung eines rassisch motivierten Nationalismus verwandte, übersah freilich, daß namentlich bei Engels derlei Implikationen durchaus 114

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vorhanden waren. E r selbst tendierte zu einem betont kulturellen Nationsbegriff. Dieser blieb freilich unscharf. E r konnte sowohl Herdersche E lemente in sich auf­ nehmen als auch ein ausgeprägt westliches Bewußtsein zivilisatorischer Überlegenheit Europas gegenüber der übrigen Welt. Vorstellungen dieser Art beeinflußten Bernsteins Stellung zum Problem des Impe­ rialismus. In dessen liberaler Variante - dem britischen Freihändlerimperialismus glaubte Bernstein einen progressiven Zug zu erblicken. Im gleichen Atemzuge lehnte er den Imperialismus Friedrich Naumannscher Prägung als freiheitsgefährdend ab 3 5 . Im Rückgriff auf entsprechende Aussagen von Marx und E ngels wies er darauf hin, daß die E ntstehung großer politischer E inheiten und die Bildung von Imperien im Sinne des wirtschaftlichen Fortschritts liege. Insoweit widerstrebte er einer pauscha­ len Verwerfung der kolonialen Ausdehnung der Großmächte. Ganz im Stile der Zeit rechtfertigte er die Kolonialpolitik mit der überlegenen abendländischen Kultur 36 . Im Zusammenhang mit dem China-Problem kam Bernstein im einzelnen auf das von ihm postulierte Recht der höheren Kultur und die Bedürfnisse der Kulturvölker nach technischem Fortschritt zu sprechen 37 . Bernsteins Begründungen - wie diejenigen seiner Zeitgenossen - fielen reichlich brüchig aus: die europäischen Völker könnten ohne die E inführung fremder, d.h. tropischer Produkte nicht auskommen, und es bedürfe ständiger Ausdehnung des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Für die betroffenen Völker bedeute die Kolonisierung „große Kulturfortschritte in rechtlicher Hinsicht“; sie falle mit einer „E inschränkung von Ausbeutungssphären und Ausdehnungvon Rechtsgleichheitsgebieten'' zusammen 38 . Bernsteins Argumen­ tation mutet künstlich an. Sie ist weit entfernt von der Marx/E ngels'schen Position, die die Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise, gegebenenfalls mit ge­ waltsamen Mitteln, auch in der Perspektive der revolutionären Machtergreifung des Proletariats sahen, so sehr sie im Banne des Bewußtseins prinzipieller Überlegenheit der abendländischen Kultur standen. Sie waren konsequent genug, um auf moralische Scheinrechtfertigungen gewaltsamer Unterdrückung zu verzichten. Aber sie lieferten die Stichworte dazu. Bernstein konnte sich für das „Recht der höheren Kultur“ auf Marx, E ngels und Lassalle berufen, aber auch auf Darwin und Nietzsche. Bernstein entwickelte wenig überzeugende Kriterien kultureller Überlegenheit, darunter dieje­ nigen, daß die „größere materielle, intellektuelle und ästhetische Bereicherung des Lebens“ und „die größere Wertung des Menschen als Persönlichkeit“, die „Verfeine­ rung der Sitten“, die höhere Kultur begründe 3 9 . Bernstein prägte in diesem Zusammenhang, im Anschluß an Lassalle, den Begriff der „größeren Bevölkerungsfähigkeit“, der jedoch nicht, wie das Wort nahelegt, auf das bloße Bevölkerungswachstum abstellte, sondern auf die intensive Nutzung des verfügbaren Bodens zur Sicherung des Lebensunterhalts einer möglichst großen Po­ pulation. Schon in den „Voraussetzungen des Sozialismus“ postulierte Bernstein, daß die dauernde Bebauung des Bodens einen „geschichtlichen Rechtstitel“ für Territorialerwerb begründe - eine nicht wirklich konsistente Variante der Kolonisa­ tionstheorie 40 . Dabei fehlte es nicht an sozialdarwinistischen Nebentönen: er sprach von einer „zugleich humanitären und vernünftigen Auffassung vom Kampf ums Da­ sein zwischen Völkern und Rassen“ und einer E ntbarbarisierung des „Rechts des 115

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Stärkeren“ durch den „Gang der Kultur“ 4 1 . E s würde sich lohnen, die Vorstellungs­ welt des späten 19. Jahrhunderts bezüglich dessen, was man heute das Verhältnis zur „dritten Welt“ nennen würde, systematisch zu untersuchen. Bernsteins Gedanken­ gänge erschienen dann weder besonders originell noch besonders radikal. Sie atmen den Geist einer selbstzufriedenen europäischen Zivilisation, die den Begriff der Hu­ manität dazu mißbrauchte, einen schal gewordenen Fortschrittsglauben zu zementie­ ren. Diesen terminologischen und grundsätzlichen Schwächen in den Überlegungen Bernsteins zur kolonialen Frage und der zivilisatorischen Berechtigung des Imperia­ lismus steht jedoch der Vorzug gegenüber, daß er mit dem Mythos aufräumte, daß die Arbeiterklasse als solche national indifferent sei und der Nationalismus nur ein Ober­ bauprodukt des bürgerlichen Kapitalismus und eine Ablenkungsideologie der Bour­ geoisie darstelle- eine bis zur Jahrhundertwende innerhalb der organisierten Arbei­ terbewegung verbreitete Auffassung 42 . Bernstein hatte ein deutliches Gefühl dafür, daß auch die Arbeiterschaft in ihrer politischen Mentalität und Reaktionsweise in ho­ hem Maße von nationalen Besonderheiten beeinflußt war. „Der Proletarier der Theo­ rie ist der lediglich mit den Attributen der Klasse ausgestattete Arbeiter, der wirkliche Arbeiter hat neben ihnen auch die der Nationalität, die Reflexe der nationalen Ge­ schichte und E inrichtungen.“ 43 Bernstein warnte vor der gerade bei den deutschen Sozialdemokraten zu beobach­ tenden Unterschätzung des Nationalgefühls der Arbeiterklasse. „Der Satz, daß der Proletarier kein Vaterland hat, wird von dem Augenblick an, wo, und in dem Maße, modifiziert, als derselbe als ein vollberechtigter Staatsbürger über die Regierung und Gesetzgebung seines Landes mitzubestimmen hat, und dessen E inrichtungen nach seinen Wünschen zu gestalten vermag.“ 4 4 In dieser Äußerung spiegelt sich Bernsteins Überzeugung von der integrativen Kraft demokratischer Institutionen. Sein Be­ kenntnis zur Demokratie bedingte die Anerkennung eines maßvollen Nationalge­ fühls. Das Nationalbewußtsein mache vor der Arbeiterklasse nicht Halt, ja die Arbei­ terschaft habe sich gutenteils mit der Durchsetzung der sozialen E manzipation das Vaterland selbst erobert. Nationales Bewußtsein schließe jedoch, betonte Bernstein, internationales Denken und Handeln keineswegs aus „und umgekehrt“. Später sollte er Jean Jaurès' Wort zustimmend zitieren, daß wenig Patriotismus von der Interna­ tionale entferne, viel Patriotismus zu ihr hinführe 45 . Worin sich Bernstein zugleich von den meisten seiner Parteikollegen unterschied und er sich auch wieder als Schüler von Friedrich E ngels entpuppte, war seine E in­ schätzung der geschichtlichen Rolle des Nationalismus. Gerade weil er nicht eigent­ lich ein Theoretiker und, wie E ngels sich ausdrückte 46 , kein „Universitätsmensch“ war, hielt Bernstein sich den Blick für irrationale und psychologische Faktoren im po­ litischen Prozeß offen. E r warnte Engels davor, den Antisemitismus bloß als wahltak­ tisches Strohfeuer oder als nützlichen sozialen Mobilisierungsfaktor zu betrachten, und erblickte darin eine langfristige Gefährdung der sozialdemokratischen Agita­ tion 47 . Desgleichen trat er der Überschätzung der internationalen Solidarität der Ar­ beiterschaft für den Fall eines kriegerischen Konflikts entgegen. Vielleicht war es überspitzt, wenn er darauf hinwies, daß das russisch-französische Bündnis bei einem 116

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großen Teil der französischen Arbeiterschaft „bis in die Reihen der Sozialisten hinein“ populär sei 48 . Dahinter stand die ernstliche Sorge einer Durchkreuzung der sozialde­ mokratischen Machteroberungsstrategie durch die allenthalben aufflackernden na­ tionalen Konflikte. Auch hier lagen Warnungen von E ngels zugrunde. Als 1882 die bulgarische Frage vorübergehend einen europäischen Konflikt auszulösen drohte, hatte er die Prognose gemacht, daß im Falle eines europäischen Krieges in Frankreich wie in Deutschland „der pratriotische Chauvinismus wieder vollständig Oberwasser“ gewinnen würde und daß „unsere Leute entweder ins patriotische Geheul mit ein­ stimmen oder einen Wutausbruch gegen sich hervorrufen müssen, gegen den der nach den Attentaten ein Kinderspiel ist“ 4 9 . Man wird derartige- wie sich im Juli 1914 erweisen soll - berechtigte Befürchtun­ gen E duard Bernsteins mit der generellen Abwendung in Beziehung setzen müssen, die er seit den frühen 90er Jahren von wesentlichen Teilen der Marxschen Theorie, insbesondere ihrer revolutionären Perspektive, vollzog. Manches spricht dafür, daß die Erfahrungen der sich zuspitzenden inneren Krise Österreich-Ungarns neben dem Einfluß der Fabian Society und der englischen Situation eine katalysatorische Funk­ tion gehabt haben. Seit seiner Tätigkeit als Redakteur in Zürich hatte Bernstein die Entwicklung in Zisleithanien mit besonderem Interesse verfolgt. Victor Adler, dem österreichischen Parteiführer, fühlte er sich eng verbunden; die gemeinsame Freund­ schaft mit Friedrich E ngels festigte das Band, das beide Persönlichkeiten, ungeachtet lebhafter politischer Differenzen 50 , miteinander verknüpfte. E s ist bezeichnend, daß Bernstein auf dem Höhepunkt des Konflikts mit Bebel und Kautsky sich dem öster­ reichischen Genossen vorbehaltlos anvertraut hat 5 1 . Angeregt durch Äußerungen des „Generals“, die allerdings diese Schlußfolgerun­ gen gerade vermieden, bezweifelte Bernstein seit der Mitte der 90er Jahre, daß sich die soziale Revolution in der von Marx und E ngels vorhergesagten Form vollziehen wer­ de. Die Grundvoraussetzung einer erfolgreichen revolutionären E rhebung des Prole­ tariats bestand für ihn darin, die Masse der Bauern und des Kleinbürgertums auf des­ sen Seite zu bringen. Die Voraussetzungen dafür schienen ihm jedoch keineswegs durchweg gegeben, die Reaktionen der potentiellen Bündnispartner vielmehr höchst unsicher zu sein. Die wachsende Rolle irrationaler Faktoren in der Politik schien ihm darauf hinzudeuten, daß sich die Massen in einer künftigen Revolution ganz anders verhalten würden „als die jetzigen Kerntruppen des Proletariats“ 52 . Gewiß war auch ein Hang zur Schwarzseherei mit im Spiel, wenn er Bebel gegenüber äußerte, daß hin­ ter „dem Satz von der ,Besitzergreifung der Produktionsmittel durch die Gesell­ schaft'“ ein grandioser Fehler verborgen sei, der offenbar werden würde, „wenn ir­ gendein E reignis der Sozialdemokratie in nächster Zeit die Herrschaft in die Hand spielt“. E r warnte den deutschen Parteiführer nachdrücklich vor dem „Vergessen der wahren Natur dessen, was heute summarisch als einheitliche Masse proletariat' ge­ rechnet wird“ 5 3 . An Kautsky schrieb er vielsagend, im Paris der Februarrevolution seien es nicht nur das Lumpenproletariat und das Kleinbürgertum gewesen, die „in den Ruf, ,vive l'armée* eingestimmt“ hätten 54 . Hier soll der Frage nicht nachgegangen werden, ob Bernsteins grundsätzliche E in­ wände gegen die marxistische Revolutionstheorie voll berechtigt waren und wie weit 117

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sie nur Hilfsargumente darstellten, um das von ihm leidenschaftlich vertretene demo­ kratische Reformprogramm gegenüber dem unklaren Revolutionarismus der meisten Marx-Epigonen abzustützen. Unzweifelhaft liegt diesen Äußerungen die klare E r­ kenntnis zugrunde, daß die sozialdemokratische Politik mit den nationalen Implika­ tionen sozialer Machtverschiebungen sehr viel ernsthafter rechnen müsse als bisher. „Ich bin mehr wie je der Ansicht“, schrieb er Kautsky unmittelbar vor dem Höhe­ punkt der Auseinandersetzung über die Revisionismusfrage, „daß die nationalen Un­ terschiede, das geschichtliche, im Temperament der Überlieferungen wurzelnde E le­ ment von weit größerer Bedeutung sind, als wir und unsere wissenschaftlichen Lehrer ursprünglich angenommen haben“ 55 . Als Kautsky auf dem Stuttgarter Parteitag von 1898, auf dem Bernsteins „Ketzereien“ zum erstenmal öffentlich zur Debatte standen, die Möglichkeit einer baldigen Katastrophe der kapitalistischen Gesellschaftsordnung in E uropa mit dem Hinweis auf den drohenden Zerfall Österreich-Ungarns begrün­ dete, antwortete ihm Bernstein aus London: ein eventueller Zusammenbruch Öster­ reichs, so wenig er konkret erwogen werden könne, würde „auch wieder kein sozialer, sondern ein politischer und obendrein nationalpolitischer sein und die nationalen und nicht die sozialen Leidenschaften entfachen“ 56 . In der Tat bewies das österreichische Beispiel, daß die internationale revolutionäre Sozialdemokratie mit dem Vordringen des integralen Nationalismus nicht nur zu­ nehmend in die Defensive, sondern zugleich unwillkürlich in eine „staatserhaltende“ Rolle gedrängt wurde. Die österreichische sozialdemokratische Gesamtpartei sei, hob Bernstein hervor, durchaus „auf einen langsamen, systematischen Kampf mit allen ihr zu Gebote stehenden propagandistischen und parlamentarischen Mitteln“, keines­ wegs aber auf einen revolutionären Umsturz eingerichtet, der in einer unübersehba­ ren Katastrophe enden müsse 57 . Diese Analyse wurde stillschweigend vom österrei­ chischen Parteiführer geteilt. Allerdings konnte Victor Adler kein Interesse daran ha­ ben, daß die von ihm verfolgte pragmatische Strategie von Bernstein zum Kronzeugen für dessen Angriff auf das deutsche Parteizentrum gemacht wurde 5 8 . In der Sache gab es keinen Zweifel: Seit den schweren inneren Auseinandersetzungen über die Badeni­ schen Sprachenverordnungen war eine isolierte soziale Revolution „alten Stils“ in Österreich undenkbar. Auch die österreichischen Sozialdemokraten begannen - ohne eine wirkliche Perspektive damit zu verbinden - auf den Zusammenbruch des alten Kaiserstaates zu setzen. Bernstein hatte in dieser Beziehung frühere Illusionen begra­ ben. E r glaubte an einen baldigen politischen Zusammenbruch Österreichs nicht mehr und meinte, daß derselbe, wenn er einträte, überdies die Rebellion des deut­ schen Volksteils, nicht die der Arbeiterklasse zur Voraussetzung haben würde. Die „Möglichkeit eines nationalen Zusammenbruchs Österreichs“ stelle daher keinen Grund dar, die reformistische Taktik der österreichischen sozialdemokratischen Ge­ samtpartei zu ändern 59 . Bernstein führte die nationale Frage gleichsam „negativ“ gegen die Vorstellung ei­ ner sich punktuell vollziehenden sozialen Revolution ins Feld, die zugleich als chimä­ rische Patentlösung der bestehenden innen- und außenpolitischen Konflikte benutzt wurde. Die veränderte Zukunftsperspektive bedingte eine Revision der Haltung, die die Sozialdemokratie zu den erst vor oder im Prozeß der nationalen E manzipation 118

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stehenden Nationalitäten in Südosteuropa eingenommen hatte. Wiederholt brachte Bernstein ein von E ngels entlehntes, allerdings seiner sarkastischen Zuspitzung be­ raubtes Argument gegen die deutsche Balkanpolitik vor: Deutschland sei bisher nur als Unterdrücker, niemals als Befreier der Nationalitäten aufgetreten und müsse sich dem Vorwurf stellen, im Osten und Südosten E uropas Eroberertraditionen aufrecht­ zuerhalten. „Ich halte es als deutscher Sozialdemokrat für national, auf die E ntfer­ nung dieses Odiums vom deutschen Namen hinzuwirken.“ 60 Der gesinnungsethische Grundzug seiner Stellungnahmen zu den europäischen Nationalitätenfragen, der durch die vorübergehende Anlehnung an die Vorstellungen von Engels nur überdeckt worden war, tritt am klarsten in Bernsteins 1902 veröffentlichter Broschüre über „Die Leiden des armenischen Volkes“ hervor, in der er gegen die Genozid-Methoden der Türkei gegenüber den christlich-armenischen Minderheiten protestierte und das Deutsche Reich auf die Garantiepflicht hinwies, die es, zusammen mit den Groß­ mächten, im Berliner Vertrag 1878 auf sich genommen hatte 61 . Mit der zunehmenden Durchsetzung nationalistischer und imperialistischer Be­ strebungen in der deutschen Innenpolitik, die Teile der Sozialdemokratie, vor allem den Bernstein theoretisch und politisch nahestehenden Flügel umfaßten, ergab sich für Bernstein das Problem einer doppelseitigen Abgrenzung in nationaler Beziehung. Mit Schärfe wandte er sich gegen den integralen Nationalismus der imperialistischen Periode: „E s gibt keine Lebensfrage der Nationen mehr, die nicht auf friedlichem Wege gelöst werden kann.“ Allerdings blieb er trotz seiner pazifistischen Grundhal­ tung in dieser Hinsicht nicht immer ganz konsequent, wie seine vermittelnde Haltung in der Frage der Militärpolitik und seine Verteidigung der Kolonialpolitik zeigt 62 . Andererseits machte er deutlich Front gegen chauvinistische Tendenzen in der eige­ nen Partei. Gegenüber Karl Leuthner, der eine starr antienglische Linie verfocht, wies Bernstein auf den Widersinn hin, der darin bestand, daß bei einer beständigen Aus­ weitung der deutsch-britischen Handelsbeziehungen in der Öffentlichkeit der E in­ druck der Unversöhnlichkeit beider Nationen erweckt werde. E r warnte vor einer Überbewertung der kolonialen Interessen 63 . Bernstein setzte sich vor allem dort zur Wehr, wo eine Verkehrung der ursprüngli­ chen Positionen einzutreten schien und Argumente, die ursprünglich zugunsten in­ ternationaler Gesichtspunkte entwickelt worden waren, in den Dienst des deutschen Imperialismus gestellt wurden. Mit Scharfe polemisierte er gegen die von Wolfgang Heine vertretene Auffassung, daß durch den E rsten Weltkrieg die Idee des „reinen Nationalstaats“ ad absurdum geführt werde. Imperialistische Blockbildungen, wie sie am Beispiel der Mitteleuropapläne Friedrich Naumanns erörtert wurden, stünden der Entwicklung zum nationalen Ausgleich und zur E rrichtung einer künftigen Völker­ republik gerade entgegen 64 . Im gleichen Zusammenhang revidierte er die sich auf Marx und E ngels berufende Vorstellung von der geschichtlichen Inferiorität der klei­ nen Völker. E s sei ein Irrtum, bemerkte Bernstein in Analogie zu seiner Analyse der Konzentrationstendenz, den großen Wirtschaftsgebieten von vornherein den Vorzug zu geben; die Lebensfähigkeit der kleinen Nationalstaaten hänge von dem wirtschaft­ lichen Absatzgebiet ab, auf das sie sich stützen könnten. Dieses freihändlerische Ar­ gument verband sich mit einer grundsätzlichen Wertschätzung der kleinen Nationen. 119

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Diese wiesen nicht nur vielfach eine kulturelle Überlegenheit gegenüber den großen Nationalstaaten auf; sie seien auch die entschiedensten Vorkämpfer für den „Gedan­ ken des internationalen Rechtes“, den er als Baustein eines künftigen Bundes der Völ­ ker betrachtete 65 . Mit E ntschiedenheit wandte sich Bernstein gegen die „Kreuzigung des nationalen Selbstbestimmungsrechtes“ durch die Mehrheitssozialdemokratie 66 . Vor allem während des Ersten Weltkrieges trat Bernstein den Bestrebungen entge­ gen, durch die Anknüpfung an angebliche lassalleanische Traditionen die deutsche Arbeiterbewegung für nationalistische Argumente empfänglich zu machen. E r prote­ stierte gegen Versuche, Lassalle und Fichte als „Vorläufer des expansionslüsternen Nationalismus unserer Tage“ hinzustellen 67 . Seine Lassalle-Interpretation vermied nun jede Hervorhebung der nationalen E instellung des Parteiführers. So eng sich Bernstein den Forschungen des nationalliberal eingestellten Hermann Oncken ver­ bunden wußte 6 8 , so entschieden kritisierte er das sich ausbreitende Klischee einer an­ geblich vaterlandsfeindlichen E instellung von Marx und E ngels und einer positiv na­ tionalen Gesinnung von Lassalle. Demgegenüber hob er deren gemeinsame, nur durch unterschiedliches taktisches Vorgehen in der deutschen Frage voneinander ab­ gehobene großdeutsche Grundhaltung hervor. Versuchen, Lassalle in die Nähe Fichtes zu rücken und für eine nationalistisch verstandene deutsche Geistesgeschichte zu reklamieren, in dem deutschen Arbeiterführer gleichsam eine „teutonische“ Ader zu entdecken, setzte er die Betonung der französischen Wurzeln der Lassalleschen Theo­ rie entgegen. Der nationalistischen Umdeutung Fichtes gegenüber beschwor Bern­ stein dessen im Kern kosmopolitische E instellung. Bernstein kann daher mit den neo­ lassall eani sehen Strömungen der 20er Jahre nicht direkt in Verbindung gebracht wer­ den 69 . Andererseits war Bernstein nicht bereit, einem formalistischen Internationalismus das Wort zu geben und einer mehr oder minder pauschalen Verurteilung nationaler Gesinnung zuzustimmen. Gustave Hervés „Leur Patrie“ wurde von ihm als Ausfluß utopischen Denkens und, wie dessen spätere chauvinistische E instellung zeigte, mit guten Gründen zurückgewiesen 70 . Das Wunschbild einer Aufhebung des Nationa­ lismus im Zuge der Durchsetzung des Kapitalismus, wie es Kautsky noch nach der Jahrhundertwende wiederholt beschwor 7 1 , teilte Bernstein ebensowenig wie die Vor­ stellung, daß der historische Prozeß zu einer Beseitigung der nationalen Unterschiede führen werde. Im Gegensatz zu Kautsky, dessen Äußerungen freilich nicht wider­ spruchsfrei waren, meinte er, daß es nicht darum gehen könne, den Nationalismus abzuschaffen, sondern darum, ihn unterschiedlich auszufüllen. Die Arbeiter seien vom Bürgertum nicht dadurch unterschieden, daß sie nicht national seien, sondern daß sie einen der internationalen Solidarität geöffneten Nationalgedanken verträten. Keineswegs bedeute die Anerkennung der Tatsache, daß die Arbeiterklasse national eingestellt sei, die kritiklose Übernahme der bürgerlichen nationalen Überlieferung. Ähnlich wie Otto Bauer, aber ohne die bei diesem mitschwingenden Untertöne, warnte Bernstein davor, den Patriotismus als soziale E rscheinung zu negieren und damit einer rückständigen Abart desselben - dem nationalen Chauvinismus in seiner imperialistischen Form - das Monopol auf die Sache selbst zuzuspielen 7 2 . Ohne auf Otto Bauer zurückzugreifen, der von den Arbeitern als „Hintersassen der Nation“ 120

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gesprochen und die Verwirklichung der Nation im Sozialismus postuliert hatte, ge­ langte Bernstein zu ähnlichen, freilich weniger pathetisch vorgetragenen Schlußfolge­ rungen 7 3 . Zugleich glaubte Bernstein, eine allmähliche Veränderung der Beziehungen zwi­ schen den Völkern konstatieren zu können, der gegenüber die nationalistische Hetze schlechthin um Jahrhunderte zurückliege. Die Internationalität des Lebens der Kul­ turvölker habe bereits die Begriffe und Regeln eines internationalen Rechts geschaf­ fen, „die dem Nationalismus nur noch einen beschränkten Spielraum lassen, und ge­ genüber denen vieles, was sich als national ausgibt, als entwicklungsfeindlicher Parti­ kularismus bezeichnet werden muß“ 7 4 . Der „ethnologische“ Nationalismus, worun­ ter Bernstein die „Tendenz zur Errichtung von neuen Nationalstaaten auf der Grund­ lage des Sprachen- und Abstammungsprinzips“ verstand, sei nicht nur in seinen Kon­ sequenzen reaktionär, sondern auch gegenüber einem „soziologischen“ Nationalis­ mus, der als progressives soziales Gliederungsprinzip größerer Bevölkerungseinhei­ ten erscheine, rückläufig. Damit spielte Bernstein auf eine Konzeption europäischer Neuordnung an, die er in seiner noch vor dem Novemberumsturz verfaßten Schrift über „Völkerbund oder Staatenbund“ im Zusammenhang mit der Diskussion über Wilsons Völkerbundidee umrißhaft skizzierte 7 5 . Bernstein erblickte die primäre Aufgabe des von ihm erstrebten Bundes in der E rar­ beitung eines internationalen Rechtes, das die Grundlage für eine Stufenhaft sich voll­ ziehende Internationalisierung einzelner Bereiche - wie der großen Verkehrswege bilden sollte, die bis dahin der nationalstaatlichen Souveränität unterstanden. E s war nur konsequent, daß Bernstein - unabhängig von seiner Beurteilung der Verantwor­ tung für die Urheberschaft am Kriege - den Versailler Vertrag keineswegs ausschließ­ lich negativ beurteilt hat, so sehr er bedauern mußte, daß durch den Rückzug der USA von der Friedenskonferenz die Völkerbundidee von vornherein in verwässerter Form aufgegriffen wurde. Schon im Kriege rügte er die Halbherzigkeit, mit der der Ge­ danke der Überwindung des nationalstaatlichen Prinzips von der westlichen Diplo­ matie behandelt wurde. Sowohl im Programm Wilsons als auch in den Gegenvor­ schlägen der Reichsregierung sah er den von ihm angestrebten Völkerbund zu einem bloßen „Staatenbund“ reduziert. Darin vermochte er - und wohl doch zu Recht keine wirkliche Veränderung der nationalstaatlichen Struktur zu sehen. Neu und zukunftsweisend an Bernsteins Vision einer künftigen europäischen Ord­ nung war seine Kritik an einer übertriebenen Staatsgläubigkeit, für deren Durchset­ zung in der deutschen Sozialdemokratie er vor allem Lassalle verantwortlich mach­ te 7 6 . Darin spiegelten sich seine langjährigen angelsächsischen E rfahrungen. „Wir müssen“, schrieb er, „den mystischen Glauben an den Staat abstreifen, um reif für den Völkerbund zu werden.'' 7 7 Gewiß sind Bernsteins Überlegungen über den Weg zu ei­ ner künftigen Völkergemeinschaft, die er zunächst auf E uropa beschränken wollte, wo die politischen und sozialen Voraussetzungen am weitesten herangereift seien, nicht voll durchdacht gewesen. Sie atmen etwas von dem produktiven Dilettantismus, der Bernstein sein ganzes Leben hindurch ausgezeichnet hatte und der ihn befähigte, liebgewordene Vorstellungen der eigenen Partei selbstkritisch in Frage zu stellen. E s ist sicherlich zweifelhaft, ob Bernsteins Annahme berechtigt war, daß der E xpan121

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sionswille der zu schaffenden nationalen Gliederungen des skizzierten europäischen Völkerbundes durch die Sozialisierung des Kapitals beseitigt werden könnte, und ob die Übertragung der freihändlerischen Vorstellungen auf die Nachkriegsordnung überhaupt angemessen war. „E in Bund der Völker“, schrieb Bernstein 1918, „kann nur ein Bund freier Republiken der Völker sein, gegründet auf das gleiche demokrati­ sche Recht aller, auf volle nationale Selbstbestimmung der Völker und auf jene Herr­ schaft der Menschheit über ihr soziales Geschick, die nur zur Verwirklichung ge­ bracht werden kann durch den Sozialismus“ 78 . Bernstein hatte in Abwendung von der E ngels'schen Nationalitätenpolitik seit der Jahrhundertwende zunehmend entschiedener die Forderung des nationalen Selbstbe­ stimmungsrechts erhoben. In den „Leitsätzen für den theoretischen Teil eines sozial­ demokratischen Parteiprogramms“ von 1909 verfocht er den „Grundsatz der Interna­ tionalitäty der zum Ziel hat ácnfreien Bund der Völker auf der Grundlage des Rechtes der nationalen Selbstbestimmung im Rahmen der Solidarität der Kulturmensch­ heit“ 79 . E r blieb diesem Standpunkt auch unter den Bedingungen des E rsten Welt­ krieges treu. Die von ihm in der gemeinsamen Sitzung von Reichstagsfraktion und Parteiausschuß vom 14. August 1915 vorgelegten Leitsätze postulierten „das natio­ nale Selbstbestimmungsrecht der Völker im Rahmen des für alle gleichmäßig gelten­ den internationalen Rechts“ als obersten Grundsatz der Völkerbeziehungen. Ge­ bietsveränderungen dürften nicht ohneZustimmung der betroffenen Bevölkerung er­ folgen. Dies zielte nicht zuletzt auf eine Volksabstimmung in E lsaß-Lothringen. Bernstein trat damit der Mehrheitsresolution Davids entgegen, in der alle E rwägun­ gen einer Wiederangliederung von E lsaß-Lothringen an Frankreich brüsk zurückge­ wiesen wurden 8 0 . Indirekt warnte er vor einer wie immer gestalteten deutschen An­ nexionspolitik, insbesondere in bezug auf Belgien. Die irische Frage diente ihm als Beispiel, um darzulegen, daß sich kein Volk, das eine eigene Geschichte und ein eige­ nes Nationalbewußtsein habe, von einem anderen beherrschen lasse 81 . In der Frage des Selbstbestimmungsrechts ergab sich eine weitgehende Übereinstimmung mit den Auffassungen Liebknechts, die Bernstein innerhalb der Fraktion zu verteidigen such­ te 8 2 . An der Politik der Mehrheitsfraktion übte er vernichtende Kritik: „Die Sozial­ demokratie kann nicht zugleich ihrer Mission gerecht werden, die ihr als Glied des in­ ternationalen Proletariats obliegt, und die Vertraute von Persönlichkeiten sein, die durch Geburt, Beruf und Interesse Gegner der proletarischen Weltpolitik sind. Sie hat diese Mission am wirksamsten erfüllt, und damit dem eigenen Volk und Land den be­ sten Dienst geleistet, den sie ihnen leisten konnte, als sie noch als vaterlandslose Rotte verschrien ward.“ 8 3 E r wandte sich klar gegen die Politik des Interfraktionellen Aus­ schusses und rügte mit Schärfe, daß in der Friedensresolution das Selbstbestimmungs­ recht gefehlt habe. Gerade unter Hinweis auf die internationalen Aufgaben der So­ zialdemokratie forderte er von der Sozialdemokratie eine Politik der „splendid isola­ tion“. Die innere Konsequenz seiner international solidarischen und gleichwohl ge­ mäßigt nationalen Haltung geht aus dieser Stellungnahme eindrücklich hervor. Bernstein suchte das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das für ihn eben nicht nur taktischen Wert hatte, an übernationalen Zwecken auszurichten. Gleichzeitig be­ kämpfte er jene Spielart des Nationalismus, die einen atavistischen Rückfall in vorde122

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mokratische E pochen darstellte und auf einen „vollständigen Nativismus“ hinauslau­ fe, wie Bernstein gegenüber Ludwig Quessel hervorhob 8 4 . Mit großem Nachdruck wehrte er eine Auffassung ab, die die Nationalität als Rassen- und Stammesfrage, nicht als Kulturfrage betrachtete 85 . E s fällt auf, wie stark Bernstein die Rolle des Staa­ tes für den Nationsbildungsprozeß betonte. E rst durch die E ntstehung überregiona­ ler und zugleich differenzierter E inheiten hätten sich die Völker aus der früheren In­ differenz gelöst und ein nationales Bewußtsein, damit aber auch die Möglichkeit na­ tionaler Gegensätze entwickelt. Als Träger des sozialen und wirtschaftlichen Fort­ schritts seien die „großen, geschichtlich entstandenen Nationen“ unentbehrlich; sie stellten administrative Gebilde dar, die der modernen Infrastruktur entsprächen. Trotz zunehmender Internationalisierung bewahrten sie ihre Individualität. E s könne sich auch in der künftigen sozialistischen Gesellschaft nicht darum handeln, „die Ein­ heit der geschichtlich gewordenen großen Nationen aufzulösen, sondern sie auf eine neue Grundlage zu stellen“ 86 . Bernstein bekannte sich damit ausdrücklich zu dem westeuropäischen, nationalstaatlich geprägten Nationsbegriff. „Der Staat ist ge­ schichtlich der Schöpfer der Nationalität. Rasse und Sprachgemeinschaft haben ihm das Material geliefert, aber es wäre nie zur Bildung von Nationen gekommen, wenn der Staat nicht gewesen wäre“, betonte er im Gegensatz zu Spekulationen über eine Aufhebung der Nationalität. Im Unterschied zu Kautsky erblickte er in der Sprach­ gemeinschaft nur einen sekundären Faktor: das Gefühl nationaler Zusammengehö­ rigkeit sei nicht „an die Rassenzugehörigkeit oder Sprachgemeinschaft gebunden“ 87 . Gerade deshalb glaubte Bernstein, den territorialen Streitfragen untergeordnete Bedeutung beilegen zu sollen. E r polemisierte dagegen, daß die Sozialdemokratie Ge­ bietsfragen nach Art der herrschenden Bourgeoisien oder Dynastien erörterte; das zeige nur, fügte er mit einem deutlichen Hieb gegen die Politik der Mehrheitsfraktion im E rsten Weltkriege hinzu, daß diese „die in absehbarer Zeit zu vollziehende Um­ wandlung des Staatswesens im sozialistischen Sinne“ faktisch preisgegeben habe und sich daher konsequent mit den Vertretern der alten Gesellschaft fraternisiere. Die Umwandlung des Staates im Sinne der Sozialdemokratie werde „keineswegs eine Ab­ nahme des nationalen Zusammengehörigkeitsgefühls“ zur Folge haben. Andererseits aber werde jeder „Zwang zur Nationalität“ verschwinden. E r wies in diesem Zusam­ menhang auf die Politik der Bolschewiki hin. Mit E ntschiedenheit wandte er sich ge­ gen das „Festhalten am Nationalismus der Bourgeoisie“. Dieses bedeutete das „Fest­ halten an einem wesentlichen E lement des Staates der Bourgeoisie mit dessen notwen­ digen Begleitern, der E xistenz getrennter Gesellschaftsklassen“ 88 . So sehr Bernstein die E igenständigkeit nationaler Faktoren gegenüber den ökonomischen Gegebenhei­ ten erkannte, so wenig war er bereit, sich einem nationalistischen Fatalismus zu ver­ schreiben, der bewußte politische Gestaltung und damit die Schaffung des von ihm angestrebten sozialistischen Gemeinwesens im Grunde ausschloß 89 . Mit der folgenden Formulierung suchte Bernstein den Standpunkt der Sozialdemo­ kratie zusammenzufassen, und man wird sie, gerade im Vergleich zu den vielfach überzogenen Definitionsbemühungen Karl Kautskys und den konstruktivistischen Ableitungen Otto Bauers 90 und im Hinblick auf ihren zukunftsweisenden Grundzug besonders zu beachten haben: „Wir leugnen nicht die Nationalität, wir leugnen auch 123

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nicht die E xistenz spezifisch nationaler Interessen des die Nationalität reprä­ sentierenden Staates und sind bereit, ihnen gegebenenfalls Genüge zu leisten. Aber diese Anerkennung und Bereitwilligkeit würden uns zu einer verhängnisvollen Preis­ gabe der großen geschichtlichen Aufgabe der Sozialdemokratie treiben, wenn wir darüber vergessen wollten, daß die Nation nur ein Glied eines größeren Organismus ist, der, wenn er auch noch nicht zum staatlichen Gebilde sich verdichtet hat, doch genug entwickelt ist, um für seine Angehörigen einen hohen Grad geistiger und mate­ rieller Solidarität zu bedeuten... Wenn man sagen kann, daß das, was wir schlechthin Menschheit nennen, noch zu formlos ist, um als politische Wesenheit irgendwie in Be­ tracht kommen zu können, so kann man dies nicht von der europäischen Menschheit sagen« Ihre Glieder stehen heute in so engem geistigen und ökonomischen Verkehr, zwischen ihnen laufen so viele Fäden von Verbindungen aller Art, daß sie heute schon in höherem Maß eine E inheit darstellen als einst große, durch Waffengewalt zusam­ mengehaltene Weltreiche. Als Glied dieser E inheit haben wir die Nationalität zu be­ greifen, wenn wir nicht zwischen der Skylla des Nationalismus und der Charybdis ei­ nes amorphen Internationalismus kompaßlos hin und her lavieren wollen.“ 9 1 Diese Worte haben auch heute noch ihre Gültigkeit.

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Teil II

Nationalitätenfrage und Österreich-ungarische Monarchie

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6. Zur Beurteilung der altösterreichischen Nationalitätenfrage Die altösterreichische Nationalitätenfrage ist bis heute ein bevorzugter Gegenstand der historischen Forschung. Gleichwohl erscheint ein abschließendes Urteil, das zwi­ schen den jeweils national mitbedingten Standpunkten gerecht abwägt, noch nicht möglich. E ine Fülle von Detailproblemen harrt einer genaueren Untersuchung, ins­ besondere was die soziale E ntwicklung der außerdeutschen Nationalitäten angeht. Die Schwierigkeit der altösterreichischen Nationalitätenfrage besteht nicht zuletzt darin, daß sie nicht bloß nach ihren äußeren E rscheinungsformen - Sprachenkampf und Ämterstreit- beurteilt werden kann. Das Studium des österreichischen Nationa­ litätenrechts gibt nur geringen Aufschluß darüber, wie es in der Praxis durch die loka­ len Verwaltungsbehörden gehandhabt wurde. Die Programme und Zielsetzungen der einzelnen nationalen Gruppen und Parteien lassen im allgemeinen nicht erkennen, welche konkreten sozialen und ökonomischen Interessen dafür maßgebend waren. E s ist daher notwendig, das Wechselverhältnis der politischen Gruppen und Kräfte, die die innenpolitische Krise des habsburgischen Staates in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mitbedingt haben, zu berücksichtigen. Die altösterreichische Nationa­ litätenfrage ist nicht nur insofern eine Verfassungsfrage gewesen, als es unerläßlich war, bestimmte nationale Mindestforderungen konstitutionell zu sichern. Sie war Verfassungsfrage vor allem im Sinne der staatlichen Integration von auseinanderstre­ benden Nationalitäten. Die durch die industrielle Revolution freigesetzten sozialen Triebkräfte wirkten sowohl zugunsten des modernen Staatsgedankens wie des Natio­ nalismus. Der nationalen E manzipationsbewegung der habsburgischen Völker lief ein teilweise erstaunlicher sozialer und ökonomischer Aufstieg der vorher politisch rela­ tiv einflußlosen Nationalitäten parallel. Denn im Kern der altösterreichischen Nationalitätenfrage steht das Problem der Umbildung des aus der Kraft fortwirkender Tradition bestehenden Habsburgerrei­ ches in einen modern verwalteten, föderativ gegliederten und sozial ausreichend fundamentierten Großstaat. Damit ist die Frage der Lebensfähigkeit der habsburgischen Monarchie aufgeworfen. Lebensfähigkeit heißt hier vor allem: daß der Kaiserstaat seiner politischen und sozialen Struktur nach fähig war, sich den jeweils neuen Anfor­ derungen der gesellschaftlichen Fortentwicklung anzupassen. Wie weit konnte er dem übermächtigen demokratischen Prinzip nachgeben, ohne seinen Bestand zu ge­ fährden? Wie weit konnte er den nationalen Wunschzetteln entsprechen, ohne dabei revolutioniert zu werden? Besaß er die innere Kraft zu umfassender Reorganisation, ohne damit seine spezifische Tradition und damit die Grundtatsachen seines Daseins zu verleugnen? Die Beantwortung dieser Fragen, die sich beim Studium der Nationa­ litätenkonflikte des ausgehenden 19. Jahrhunderts aufdrängen, setzt die Kenntnis der wirtschaftlichen und sozialen Struktur der habsburgischen Monarchie ebenso voraus 127

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wie die richtige E inschätzung ihrer außenpolitisch, also durch die europäische Mäch­ tekonstellation und deren Veränderung bedingten Beschränkung der innenpoliti­ schen Handlungsfreiheit. Es ist unmöglich, den Umkreis eines dergestalt komplexen Problems gleichmäßig auszufüllen und seine E ntwicklungsphasen zuverlässig zu beschreiben. Wir be­ schränken uns daher auf eine gewiß unvollkommene und fragmentarische Skizzierung derjenigen Probleme, die für die historische Forschung der Gegenwart von besonde­ rer Relevanz erscheinen. E s ist dafür nötig, sich über die veränderte Problemstellung klar zu werden, die der gegenwärtige E ntwicklungsstand der mittel- und ostmittelcu­ ropäischen Nationalitätenfragen herbeigeführt hat. Heute sind die Vorbedingungen für eine national unvoreingenommene Betrachtung des österreichischen Nationalitä­ tenproblems weitgehend vorhanden. Nicht nur größere geschichtliche Distanz, son­ dern auch der Niedergang des nationalstaatlichen E uropa haben die Beurteilung des österreichischen Reichsproblems aus der E nge nationalistischer Schuldvorwürfe her­ ausgehoben. Die nationale Aufteilung des habsburgischen Reiches erscheint nicht länger bloß als Ergebnis eines ,falschen' Friedensvertrages; desgleichen lassen sich die nationalen Konflikte, welche den habsburgischen Vielvölkerstaat in den Untergang getrieben haben, nicht einfach als ideologische Fehlentwicklung abtun, die bei einer richtigen Politik der Zentralregierung hätten ausgeglichen werden können. Das vor­ dergründige Argument, daß bei größerem E ntgegenkommen der herrschenden Na­ tionalitäten ein nationaler Ausgleich möglich gewesen sei, kann uns ebensowenig be­ friedigen wie das Bestreben, die Zuspitzung der Nationalitätenkonflikte vorwiegend der mangelnden E insicht und politischen Sterilität der verantwortlichen Staatsmänner zuzuschreiben. Die umstürzenden sozialen und ökonomischen Wandlungen seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts-das Vordringen der modernen Industrie, der relative Prosperi­ tätsrückgang der Landwirtschaft, die Bevölkerungsvermehrung, die Binnenwande­ rungen und die beginnende politische E manzipation der unteren Bevölkerungs­ schichten - bewirkten eine tiefgreifende Strukturkrise Mittel- und Ostmitteleuropas, die insbesondere mit dem Gegensatz von agrarisch-ständischer und índustriell-bür gerlicher Lebensform zusammenhing 1 . Im Vielvölkerstaat verknüpften sich die sozia­ len Spannungen unvermeidlich mit nationalen Gegensätzen; das erklärt deren Ge­ walt, zugleich die Aussichtslosigkeit, seit dem Anbruch der imperialistischen E poche zu einem dauerhaften nationalen Ausgleich zu gelangen. Der im Innern territorial aufgefächerte, politisch, national und sozial am meisten differenzierte und doch von der industriellen Revolution mit Macht erfaßte habsburgische Staat wurde als erster von den gleichen Krisenerscheinungen betroffen, die nach dem E rsten Weltkrieg die innenpolitische Stabilität des Deutschen Reiches und zahlreicher anderer europä­ ischer Länder in Frage gestellt haben. Von einem solchermaßen weitgespannten Blickwinkel aus erhält die Diskussion, die während der 20er Jahre und auch noch in der nationalsozialistischen Zeit über die Lebensfähigkeit der habsburgischen Monarchie geführt wurde, problematische Züge. Mit Ausnahme einzelner grundlegender Arbeiten, vor allem der Untersuchungen von Oscar Jaszi und Josef Redlich 2 , zeigte sich die damalige Forschung von der zeitge128

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schichtlichen Problematik, die sich an die umstrittene Realisierung des Selbstbestim­ mungsrechts für die ostmitteleuropäischen Nationen knüpfte, einseitig beeinflußt. Der unhaltbaren These von dem „Völkerkerker“ Österreich-Ungarn und seiner Rolle als Träger deutschen Hegemoniewillens im europäischen Südosten wurde insbeson­ dere von deutscher Seite die nationale Weitherzigkeit der habsburgischen Regierun­ gen entgegengehalten, welche zur Unterdrückung der nationalen Minderheiten in den Nachfolgestaaten eigentümlich kontrastiere. Dabei wurde gern verkannt, daß diese Weitherzigkeit häufig mehr Anzeichen der Schwäche als nationales E ntgegenkom­ men war und daß die habsburgische Nationalitätenpolitik allzu oft eine straffe und feste Hand vermissen ließ. Überhaupt wirkten die politischen Gruppierungen, die sich in den österreichischen Nationalitätenkämpfen herausgebildet hatten, noch lange nach. Auch das von Karl Hugelmann herausgebrachte Sammelwerk über das österreichische Nationalitäten­ recht war nicht frei von solchem E influß 3 . E s zeigte, daß das altösterreichische Natio­ nalitätenrecht, unbeschadet seiner Unvollkommenheiten und Widersprüche, nicht zuletzt gegenüber der tschechischen Behandlung der Minderheitenfragen politisch konstruktiv gewesen ist. Damit wurde indessen nur die eine Seite der Österreichischen Problematik sichtbar. Denn auch ein großzügiges Nationalitätenrecht mußte poli­ tisch erfolglos bleiben, wenn es nicht innerhalb eines geordneten und stabilen Verfas­ sungszustandes zur Anwendung kam. Vor allem aber löste eine bloß individualrechtliche Behandlung der nationalen Materien nicht das Problem, daß die Nationalitäten politischen E influß und Anteil an der Regierungsgewalt erstrebten. Der Irrtum, daß die Sicherung der nationalen Rechte des Individuums ausreichen könne, setzte sich von den Deutschliberalen der 60er Jahre des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart fort. Es muß demgegenüber betont werden, daß bloße national-kulturelle Garantien den österreichischen Nationalitäten schon zur Zeit des Ausgleichs mit Ungarn nicht mehr genügten. E s ging im Grunde um eine Form der politischen Konstituierung der Na­ tionalitäten als nicht staatlichen Schutz bedürfende, sondern staatlichen E influß er­ strebende Gruppen. Diese Tendenz lag nicht nur im Zuge der demokratischen E nt­ wicklung und war nicht nur von konkreten ökonomischen Interessen des national ge­ sinnten Bürgertums unterstützt, - sie war auch insofern berechtigt, als national- kul­ turelle Garantien an sich wertlos waren, wenn die Nationalitäten nicht die politische Kraft besaßen, den Assimilierungswillen der Mehrheitsnation zu paralysieren. Das Beispiel der Kroaten, die sich trotz des ungarischen Nationalitätengesetzes von 1868 rücksichtsloser Magyari sie rung ausgesetzt sahen, mußte auch die übrigen Nationali­ täten mißtrauisch machen. E s verwundert daher nicht, daß bis heute die Verfechter einer vom Individuum ausgehenden nationalitätengesetzlichen Lösung von Seiten der Nachfolgestaaten dem Vorwurf ausgesetzt sind, Verteidiger des deutschen Imperia­ lismus und einer planmäßigen Germanisierung zu sein. Es ist zu wünschen, daß die wissenschaftliche E rörterung des habsburgischen Reichsproblems aus einer solchen Atmosphäre gegenseitiger nationaler Unterstellun­ gen heraustritt. Der versachlichende E influß soziologischer Analysen wird dabei gute Dienste tun. Alle nationalen Gruppen der Monarchie standen unter dem Zwang be129 9

Mommsen, Arbeiterbewegung

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stimmter sozialer Interessen, alle erlebten wechselseitig das gleiche Schicksal, als Minderheit, nicht als gleichberechtigter Partner betrachtet und behandelt zu werden. Es wäre verfehlt, den Grad nationalistischer E instellung bei den verschiedenen Völ­ kern der Monarchie gegeneinander aufrechnen zu wollen. Man wird vielmehr die na­ tionalen Parteien mit modernen Interessengruppen vergleichen, die in der Regel um so heftiger reagieren, je geringer ihr tatsächliches politisches Gewicht ist. Die heiß umkämpften Sprachen- und Ämterfragen entsprangen nicht zuletzt konkret nach­ weisbaren ökonomischen Interessen der beteiligten nationalen Bourgeoisien. Die In­ teressenbindung erwies sich stets als mächtiger als die vordergründige nationale Ziel­ setzung. So kam es im deutsch-tschechischen Konflikt zu ständigem Stellungswechsel beider Parteien, wie etwa in der Frage der Zweiteilung Böhmens. Infolge der ungenügenden staatlichen Integration des habsburgischen Reiches kon­ stituierten sich die Nationalitäten im politisch-sozialen Raum als machtvolle soziale Einheiten, als umfassende nationale Verbände, während die Staatsgrundgesetze nur die E xistenz nationaler Individuen anerkannten. E s ist eine wesentliche Ursache für den Zerfall Österreich-Ungarns, daß es unfähig war, politische Formen zu schaffen, die diesen nationalen Verbandsdruck staatsrechtlich fixieren und politisch wirksam kontrollieren konnten. Die von der multinationalen Zusammensetzung des habsbur­ gischen Staates abstrahierenden parlamentarischen Institutionen waren dazu um so weniger in der Lage, als die einreißende Politik der nationalen Konzessionen unter Ausschaltung des Parlaments zustande kam. Die Nationalitätenkonfliktc erscheinen somit als ein unter den gegebenen Bedingungen unvermeidlicher Konkurrenzkampf zwischen den nationalen Bourgeoisien, der sich allerdings rasch auf die Gesamtheit der Bevölkerung ausweitete. Von einer solchen nüchternen E inschätzung der österreichischen Nationalitäten­ kämpfe her erledigt sich eine Widerlegung der Auffassung vom „Völkerkerker“, weil diese Auffassung derartige Phänomene im Grund ausschließt. Die Gegenposition, die in Abwehr des in den Vorortsverträgen verstümmelt zur Anwendung gelangten Selbstbestimmungsrechtes der Völker eingenommen wurde, ist nicht minder einsei­ tig. E s ist die Auffassung, daß die habsburgische Monarchie ein „übernationales“ Prinzip repräsentiert habe, das dem heute zu wesentlichen Teilen überwundenen Na­ tionalstaatsgedanken grundsätzlich überlegen sei. Diese Auffassung tritt gelegentlich in Verbindung mit einem politischen Wunschdenken auf, das auf eine wie immer gear­ tete Restaurierung des habsburgischen Staatenbundes hinausläuft. Gedankengänge wie die Paul Wilhelm Wengers und E mil Franzeis, die universale habsburgische Staat­ sidee zum Kernstück einer antibolschewistischen, christlich-abendländischen Kon­ zeption zu machen, sind sowohl der heutigen politischen Realität nach wie in ihren Voraussetzungen fragwürdig 4 . Zum einen ist die Auflösung der habsburgischen Mo­ narchie angesichts der Teilung E uropas in zwei supranational sich gliedernde und zu enger Integration tendierende Machtblöcke unwiderruflich. Zum andern wird dabei übersehen, daß die vielbeschworene österreichische Staatsidee seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht mehr die Kraft hatte, die auseinanderstrebenden Nationa­ litäten wie die gegensätzlichen sozialen Gruppen so weit zusammenzuschließen, daß eine konstruktive Politik möglich gewesen wäre. 130

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Andererseits wird man sich nach reiflicher Betrachtung der E ntwicklung, die die ostmitteleuropäischen Völker in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts genommen haben, nicht mit dem Gleichmut wappnen, mit dem die Zeitgenossen- mit Ausnahme einiger deutscher Bevölkerungskreise - den Zerfall der habsburgischen Monarchie hingenommen haben. Die nationalstaatliche Atomisierung E uropas liegt für uns heute nicht mehr eindeutig auf der Linie des historischen Fortschritts, sondern er­ scheint allenfalls als unvermeidliche Zwischenphase. Das gilt insbesondere für die na­ tionalen Verhältnisse Ostmitteleuropas, die auch für die kommunistische Herrschaft ständige Reibungsflächen darstellen, auch wenn nach außen davon nicht gesprochen wird. Die nationalen Probleme haben die habsburgische Monarchie überdauert, und sie sind im Bereich der alten Monarchie heute nicht immer zufriedenstellender gelöst als damals. Es ist kaum zu bestreiten, daß die nationalsozialistische Großraumpolitik wie das Vordringen des Bolschewismus in die Mitte E uropas durch die unbefriedigende poli­ tisch-nationale Neuordnung Ostmitteleuropas wesentlich erleichtert wurden. „Die nationalstaatliche Organisation ohne verbindende E lemente, ohne übernationale gei­ stige und institutionelle Ordnungsfaktoren, die ein Gegengewicht gegen den unbe­ schränkten Souveränitätswillen hätten schaffen müssen, ist den Völkern Osteuropas und Gesamteuropas nicht zum Segen geworden“, - urteilte Theodor Schieder 5 . Die Schuld an der unheilvollen Zuspitzung nationaler Gegensätze in der Zwischenkriegs­ zeit kann gewiß nicht einseitig bei den neugeschaffenen Nationalstaaten gesucht wer­ den, auch wenn sie mit einer für politische Neubildungen charakteristischen Betrieb­ samkeit, die Ausdruck innerer Unsicherheit war, die Minderheitenfragen auf kaltem Wege zu bereinigen suchten. Die tiefere Ursache des Scheiterns der friedlichen Ver­ ständigung über diese Frage lag auch nicht allein in dem Mangel an konstruktiven Konzeptionen auf alliierter Seite. Immerhin bleibt es bedeutsam, daß die Westmächte von den Bestrebungen, die Regelung der nationalen Spannungen auf der Basis der Ge­ genseitigkeit zu versuchen, wie dies für die europäischen Minderheitenkongresse gilt, keine Notiz nahmen. Völkerbund und Kleine E ntente gingen vielmehr von der Vor­ stellung aus, daß die nationalen Gegensätze innerhalb der neugeschaffenen National­ staaten durch natürliche Assimilation der Minderheiten innerhalb absehbarer Zeit zu­ rücktreten würden. Der Minderheitenschutz sollte nur die Funktion haben, den Pro­ zeß friedlicher Assimilation reibungsloser zu gestalten 6 . Der Mangel an konstruktiven Vorstellungen darüber, wie die anwachsenden natio­ nalen Spannungen im ostmitteleuropäischen Raum isoliert und befriedigt werden konnten, machte sich mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus empfindlich be­ merkbar. Die nationalsozialistische „Lebensraumpolitik“ vermochte allzuleicht den vom Völkerbund und von der Kleinen E ntente doch nur künstlich aufrechterhaltenen status quo durch geschickte Ausnützung der nationalen Rivalitäten zu zerbrechen. Weder die britische noch die französische Politik besaß hinreichende Klarheit dar­ über, welche Form eine dauerhafte nationale Ordnung Ostmitteleuropas besitzen mußte. Die Westmächte begegneten deshalb den ersten gewaltsamen Schritten Hitlers ungewöhnlich zurückhaltend; sie hatten seiner sich ursprünglich auf das Selbstbe­ stimmungsrecht berufenden E xpansionspolitik keine zündende Alternative entge131

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genzustellen. Die Appeasementpolirik war insofern nicht nur der Ausdruck des ern­ sten britischen Friedenswillens, sie war zugleich Resultat politischer Verlegenheit. Hitlers Gewaltpolitik, die den gordischen Knoten des ostmitteleuropäischen Natio­ nalitätenproblems zerhieb, ersparte den europäischen Kabinetten die mühevolle Be­ antwortung der Frage, wie die Stabilität dieses Raumes dauerhaft erreichbar gewesen wäre. Wären diese Probleme, die in der Zwischenkriegszeit fast unlösbar schienen und die nach 1945 durch die gewaltsame Austreibung deutscher Bevölkerungsgruppen und die Westverschiebung Polens nur fragmentarisch und selbst vom Standpunkt Polens und der Tschechoslowakei nicht in jeder Hinsicht vorteilhaft gelöst wurden, durch einen rechtzeitigen Umbau der Österreich-ungarischen Monarchie, der damit für E u­ ropa vorbildlich gewesen wäre, zu verhindern gewesen? Diese Frage steckt im Grunde hinter allen Versuchen, die E rfahrungen des österreichischen Vielvölkerstaa­ tes zu aktualisieren. Unter Hinweis auf die mangelnde politische Stabilität der Nach­ folgestaaten wird dabei häufig auf die trotz aller Erschütterungen konstruktive Natio­ nalitätenpolitik der habsburgischen Monarchie verwiesen, die ihren Völkern einen ra­ scheren sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg ermöglichte als den außerhalb ihres Machtbereiches siedelnden slawischen Volksteiíen 7 . So richtig dies in mancher Hin­ sicht ist, so kann daraus nicht gefolgert werden, daß erst der Untergang der Monar­ chie die ostmitteleuropäischen Nationalitätenfragen unlösbar gemacht hat. Bis in die Gegenwart besteht die Tendenz, die verhängnisvolle europäische E nt­ wicklung der Zwischenkriegszeit mit dem Zerfall der habsburgischen Monarchie in kausalen Zusammenhang zu bringen. E s sei kein Zufall, schrieb Hugo Hantsch, „daß Europa seit dem Untergang des Donau-Reiches nicht zur Ruhe kommen kann, daß seitdem die rohe Gewalt zu Lösungsversuchen von Problemen gegriffen hat, die nur in der allmählichen und konstanten E ntwicklung des Rechtsbewußtscins eine wahre, sittliche und humanitäre Lösung hätten finden können“ 8 . Hantsch beruft sich dabei auf die Redlichkeit und E rnsthaftigkeit der nationalen Ausgleichsversuchc im alten Österreich. In sehr vergröberter Form findet sich diese These bei E mil Franzeí: „Die Ereignisse, die sich seit der Zerstörung Österreich-Ungarns abgespielt haben, folgen ja aus dieser herostratischen Tat“ 9 . Die Zerschlagung Österreich-Ungarns wird von ihm als Grundursache der Katastrophen dargestellt, die im Zweiten Weltkrieg und im Vordringen der bolschewistischen Herrschaft gipfelten. Allen derartigen Argumentationen, die im einzelnen zahlreiche Spielarten aufwei­ sen, ist eine vorwiegend monokausale Betrachtung des geschichtlichen Prozesses ei­ gentümlich; bei allen findet sich die Tendenz, die Kette der Kausalität da abreißen zu lassen, wo ein vorgefaßtes Schema es nahelegt. Das zeigt sich zunächst bei der verbrei­ teten Neigung, weniger vom Zerfall als von der „Zerschlagung“ Österreich-Ungarns zu sprechen und damit den Eindruck zu erwecken, daß die Auflösung der Monarchie vor allem andern auf das Schuldkonto der Alliierten geht. Der Zerfall Österreich-Un­ garns war jedoch zum geringsten das E rgebnis diplomatischer Konferenzen. E s ist bekannt, daß man auf alliierter Seite zunächst durchaus nicht bereit war, auf Masaryks und Beneschs Drängen auf die E rrichtung eines selbständigen tschechoslowakischen Staates einzugehen, und daß man bis Anfang 1918 den Fortbestand der Monarchie für 132

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eine europäische Notwendigkeit hielt. Bei einer auch nur im begrenzten Maß vorhan­ denen außenpolitischen Manövrierfähigkeit hätte die Monarchie noch Mitte 1918 die alliierte Zustimmung zum äußeren Fortbestand einhandeln können; es war indessen ein klares Symptom des inneren Zerfalls, daß diese Manövrierfähigkeit und noch mehr die E ntschlußkraft, diese letzte Chance wahrzunehmen, nicht mehr bestand. Von einer mutwilligen Zerschlagung der Monarchie durch die Westmächte kann da­ her keine Rede sein - was allerdings nicht bedeutet, daß diese nicht schwere und irre­ parable Fehler bei der Behandlung des habsburgischen Problems auf den Friedens­ konferenzen gemacht haben. Aber selbst bei einem anderen Gang der internationalen Diplomatie wäre der Be­ stand des Reiches nicht gesichert gewesen. E s bedurfte keines gewaltsamen Aktes von alliierter Seite, um die militärisch besiegte Monarchie auseinanderfallen zu lassen. Der habsburgische Staat verschwand verblüffend rasch von der Bildfläche, die Auflösung war das Werk weniger Tage 10 . Darin zeigte sich, wie weit der nationale Disintegrationsprozeß bereits gediehen war. Nur die Gefahr militärischen Ausnahmezustandes und - in Hinsicht auf die böhmischen Länder - der militärischen Besetzung durch reichsdeutsche Truppen hatte eine relative Stabilität bewirkt. Man mag einräumen, daß die Monarchie trotzdem noch einige Jahre weiter existiert hätte; gewiß aber nicht unter demokratischem Vorzeichen, sondern unter autoritärer Regierung, wie dies von christlichsozialer Seite der Dynastie vorgeschlagen wurde“. Innere Stabilität verhieß diese schwache Aussicht gewiß nicht. Der österreichische Sozialistenfiihrer Victor Adler, der bis zuletzt von dem starken Bestreben erfüllt war, die staatliche Gemeinsamkeit der Völker der Monarchie zu er­ halten, hat mit aller E ntschiedenheit die Auffassung zurückgewiesen, daß der Zerfall der Monarchie nur mit der außenpolitischen und militärischen Niederlage zu erklären sei; die Zersetzung habe dem alten Staate „im Blute“ gelegen 12 . Man könnte Stimmen dieser Art häufen und damit bekräftigen, was die nüchterne Analyse der inneren Ver­ hältnisse der Monarchie seit der Badenikrise von 1897 klar ergibt, daß ein fortschrei­ tender Zustand staatlicher Desorganisation nur mit halben, überdies rückwärts ge­ wandten Maßnahmen überbrückt werden konnte. Es ist deshalb schlechthin unverständlich, wenn ein so guter Kenner der habsburgi­ schen Reichsprobleme wie Wenzel Jaksch die Donau-Monarchie als das große „E r­ folgsbeispiel einer großen übernationalen Staatlichkeit“ bezeichnet und davon spricht, daß die geschichtliche Rechtfertigung des Österreich-ungarischen Staates un­ aufhaltsam im Gange sei 13 . Die historischen Verdienste der Monarchie sollen und können nicht geschmälert werden, aber sie liegen auf einem anderen Felde als dem der Lösung des Problems supranationaler Organisation, d.h. der politischen Zusammen­ fassung von ihrer nationalen E igenart bewußter Völker, nicht nur verschiedene Spra­ chen sprechender Individuen. E s ist in anderem Zusammenhang darauf zurückzu­ kommen, ob die habsburgische Monarchie mit dieser Aufgabe nicht überfordert war und ob sie bereits 1848 mit der Ablehnung des Kremsierer Verfassungsentwurfs, der einen Ansatz zu tatsächlicher supranationaler Staatsbildung hätte sein können, sich dieser Aufgabe aus politischer Kurzsichtigkeit entzogen hat. Wenn der Chefredak­ teur der Arbeiter-Zeitung, Friedrich Austerlitz, gewiß einer der schärfsten, zugleich 133

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aber qualifiziertesten Kritiker des österreichischen politischen Lebens, einmal davon sprach, daß Österreich nur deshalb nicht zerfallen könne, weil es davon lebe, daß die Abneigung der einzelnen Völker sich nicht zu einer Gesamtabneigung verdichten könnte, machte er sich zum Sprachrohr der politischen Öffentlichkeit überhaupt 14 . Supranational war die Monarchie in negativer Hinsicht, indem in der zisleithanischen Reichshälfte, nicht in Ungarn, gegen den Willen einer der maßgebenden Nationalitä­ ten nicht mehr regiert werden konnte. Der Deutschliberale Adolph Fischhof beschrieb schon in den 60er Jahren den für die Monarchie typischen Zustand nationaler Interdependenz, wie wir heute sagen würden. „Keine der großen Nationalitäten kann für sich allein den Bestand der Mo­ narchie sichern, aber jede derselben vermag durch ihren Widerstand das Reich zu ge­ fährden; destruktiv eingreifen kann jede einzeln, konstruktiv vorgehen können nur alle vereint“ 15 . Fischhofs Absage an alle Versuche, die deutsche Vorherrschaft in Zis­ leithanien durch politische Manipulation zu sichern, war nur sinnvoll im Zusammen­ hang mit entschiedenen nationalen Reformen, für die er ernsthafte Vorschläge unter­ breitete. Die österreichischen Regierungen trennten sich vom deutschliberalen Zen­ tralismus, versäumten aber rechtzeitige Reform und verlegten sich auf eine nationale Schaukelpolitik, die keine der Nationen zufriedenstellen konnte. Nirgendwo er­ blickte man einen Versuch, aus der Not der nationalen Interdependenz eine Tugend zu machen und aus der bloß multinationalen zu einer supranationalen Staatsbildung vorzudringen, will man nicht die halbherzigen Föderalisicrungsdekrete Kaiser Karls anführen, die mit der Signatur des „Zu spät“ vom Gang der Geschichte hinweggefegt worden sind. In der Tat standen alle Pläne, die Österreich-ungarische Monarchie in ein freies Ge­ meinwesen gleichberechtigter Völker umzuwandeln, auf dem Papier, nachdem die Dynastie die einmalige, wenngleich mit stärksten Risiken verknüpfte Chance des Kremsierer Verfassungsentwurfs brüsk ausgeschlagen hatte. Seit 1848, im Grunde seit der Ära Metternich 16 , waren die habsburgischen Regierungen ganz überwiegend an der E rhaltung des status quo interessiert; alle Reformversuche und verfassungspoliti­ schen E xperimente richteten sich auf dieses Ziel. Die daraus folgende politische Steri­ lität machte sich insbesondere bei der Behandlung der Nationalitätenfrage bemerk­ bar. Die durchgängige Praxis, die Nationalitäten gegeneinander auszuspielen und sie jeweils in „wohltemperierter Unzufriedenheit“ zu belassen, führte zwar zu einer Ver­ stärkung der Stellung der Dynastie, aber zugleich dazu, daß sich die Völker der Reihe nach der Mitverantwortung für den gemeinsamen Staat entledigt sahen. Adler charak­ terisierte diesen Zustand einmal mit der sarkastischen Bemerkung, es sei ein seltsames Land, wo der Staat keinen anderen Anwalt fände als den Staatsanwalt 17 . Nur sporadisch tauchen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Ansätze zu ei­ ner konstruktiven, politisch weitsichtigen Lösung der nationalen Rivalitäten auf. Re­ gelmäßig hat die Dynastie in der Furcht, ihre Machtstellung einzubüßen, die wenigen schöpferischen Staatsmänner fallen lassen, die nicht bereit waren, sich der Politik des „Fortwursteins“ zu unterwerfen. Die Vorschläge einer umfassenden nationalen Re­ form, wie sie von Seiten der Sozialdemokratie, der sozialistischen Theoretiker Karl Renner und Otto Bauer, von den Liberalen Lang, Offermann, Herrnritt, von dem 134

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Rumänen Popovici unter teilweiser Verwertung der Gedankengänge von Kremsier vorgelegt worden sind, wurden von den zuständigen Behörden kaum beachtet. Wo sie teilweise zum Inhalt der offiziellen Politik gemacht wurden, wie etwa mit der An­ wendung nationaler Matrikeln im Mährischen Ausgleich, wurden sie sogleich in reak­ tionärem Sinne verwässert. E s dauerte dreizehn Jahre, bis der sozialdemokratische Antrag, eine Nationalitätenkommission im österreichischen Abgeordnetenhaus ein­ zusetzen, von der Mehrheit angenommen wurde. Angesichts des Mangels an positiven nationalitätenpolitischen Konzeptionen bei den verantwortlichen Führungsgremien der Monarchie ist es zweifelhaft, in ihr einen geschichtlichen Vorläufer des heute politische Gestalt annehmenden supranationalen Prinzips zu sehen. Gewiß ist die Bemerkung von Hugo Hantsch zutreffend, daß „die Problematik der Österreich-ungarischen Monarchie sich als die Problematik einer eu­ ropäischen Völkergemeinschaft darstellt, die eben daran geht, eine ihren modernen Anschauungen und Lebensbedürfnissen angepaßte Lösung zu suchen“ 18 . Nur wird man hinzufügen müssen, daß von Seiten der Dynastie und der politisch führenden Gruppen keine Anstalten gemacht worden sind, eine zeitgemäße Lösung des Pro­ blems nationaler Interdepcndenz zu suchen. So richtig es ist, daß in der österreich­ ungarischen Monarchie die tiefe Problematik übernationalen Zusammenschlusses studiert werden kann, so wenig darf ihr tatsächlicher Zustand wie die innenpolitische Behandlung der Nationalitätenfrage idealisiert und als leuchtendes Vorbild für eine europäische Integration hingestellt werden. Der Gedanke Renners, aus dem österreichischen Nationalitätenchaos eine Form supranationaler Staatsbildung zu entwickeln, die das Vorbild für eine europäische E i­ nigung abgeben könnte, erscheint von heute her verlockend; indessen fehlten zu sei­ ner Realisierung alle Voraussetzungen. Auch in seiner eigenen Partei war Renner mit diesen Anschauungen isoliert, und das mit gutem Grund; seine Konzeption mußte von vornherein daran scheitern, daß die Dynastie nicht entschlossen, vielleicht auch nicht mächtig genug war, um die ungarische Frage aufzurollen und den magyarischen Nationalstaat, das entscheidendste Hindernis jeglicher nationaler Reform, zu zer­ schlagen. Renners supranationales Programm war in jeder Beziehung mit der öster­ reichischen Staatsidee unvereinbar. Die Monarchie verkörperte kein übernationales, sondern ein pränationalstaatliches Prinzip. Der österreichische Staatsgedanke ne­ gierte seinem Wesen nach die E xistenz nationaler Solidaritäten und Gruppeninteres­ sen und im Grunde auch die Aufgabe, die kulturelle und soziale Entfaltung der Öster­ reichischen Völker als nationales Gebilde voranzutreiben. Übernational war die schwarz-gelbe Idee nur in dem Sinne, daß sie mit keiner nationalen Tendenz, auch mit der deutschen nicht, zur Deckung gebracht werden konnte. Sie stand auf älterem tra­ ditionalistischem Grunde und vermochte die modernen nationalistischen Bestrebun­ gen nicht in eine positive Staatsgesinnung umzuwandeln. Nationalismus und schwarz-gelbe Dynastietreue standen beziehungslos nebeneinander. Von den Vorzügen der multinationalen Struktur war in den Zeiten der Monarchie wenig die Rede, jaszi hat geradezu einen der entscheidenden Gründe für deren innere Zersetzung darin erblickt, daß die habsburgischen Regierungen es unterlassen haben, ein lebendiges Staatsbewußtsein auf dem Wege der Volksbildung und des E rzie135

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ahungswesens zu erzeugen 19 . Während der Schulunterricht im wilhelminischen Reich in starkem Maße der Verherrlichung des deutschen Kaisertums diente, hatte er in Österreich-Ungarn einen betont nationalen, gänzlich antidynastischen Akzent. Von einer „supranationalen“ Ideologie, die die Vorzüge des multinationalen Staatsver­ bands ins allgemeine Bewußtsein rief, war die dynastische Staatsidee himmelweit ent­ fernt. Supranationale Gedankengänge im modernen Sinne wurden höchstens von kleinen Intellektuellenzirkeln vertreten; sie hatten jedoch in der Regel einen natio­ nal-deutschen, meist sogar imperialistischen E inschlag, womit sie ihre Werbekraft weitgehend einbüßten. E s war bezeichnend, daß seit den 80er Jahren der Vorwurf, antinational eingestellt zu sein, eine der schlimmsten politischen Verunglimpfungen bedeutete. Selbst die internationale Sozialdemokratie erblickte in der multinationalen Struktur des habsburgischen Staates nur ein notwendiges Übel, eine Anomalie, die definitive Lösungen ausschließe 20 . Man wird die Österreich-ungarische Monarchie daher nicht gedankenlos als überna­ tionales Staatsgebilde bezeichnen können. Das ist schon deshalb unmöglich, weil sie keineswegs von nationaler Unterdrückung frei gewesen ist. Die Dynastie unternahm nichts, um die systematische und übrigens begrenzt erfolgreiche Magyavisierungspoli­ tik in Ungarn zu unterbinden. Sie unterließ dies auch angesichts der Tatsache, daß sich dadurch die südslawische Frage bis zur Unlösbarkcit zuspitzte. Der Friedjungprozeß wirft helles Licht auf die damaligen Praktiken der ungarischen Behörden, die von Wien durchaus gedeckt wurden. Dabei bestanden bei einer einigermaßen weitsichti­ gen, die Interessen der südslawischen Nationalitäten berücksichtigenden Politik er­ hebliche Chancen, die in ihrer sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen E ntwicklung vergleichsweise zurückgebliebenen jugoslawischen Völker an die Monarchie heran­ zuziehen. Daß das Zentrum der jugoslawischen Staatsbildung in Belgrad und nicht in Sarajewo lag, war ein politisches Versäumnis der Monarchie. Desgleichen hat die Dynastie in der galizischen Frage trotz der Sympathien, die ihr die Ruthenen seit 1848 entgegenbrachten, die Hände in den Schoß gelegt und nichts getan, um die faktische nationale Unterdrückung der nichtpolnischen Gruppen durch die galizische Schlachta zu beseitigen. Galizien blieb eine wirtschaftlich wie politisch vernachlässigte Provinz, die der Obhut eines kaiserlichen Statthalters anvertraut war, der in der Regel mit der herrschenden Oberschicht aufs engste verbunden war. Die Dynastie duldete zugleich, daß die italienische Beamtenschaft der Küstenländer die Entwicklung des slowenischen Volksteils behinderte, obwohl die großzügige Natio­ nalitätengesetzgebung Zisleithaniens dem entgegenstand. Andererseits reagiert sie auf den berechtigten Wunsch der italienischen Nationalität, eine eigene Universität im italienischen Sprachgebiet zu besitzen, zu spät und dann mit halben, den politischen Wert eines solchen Schrittes neutralisierenden Maßnahmen. Auch in der Minderheits­ schulfrage in den deutschen E rbländern hielt die Dynastie keine klare Linie durch und duldete die Lex Kolisko, die nichts anderes als die Kodifizierung nationalistischer Grundsätze war. Es ist leicht, ex post auf Versäumnisse und Mißstände hinzuweisen, die das flecken­ lose Bild der „supranationalen“ habsburgischen Monarchie zu trüben vermögen. Die Schwierigkeit, in einem Staate mit zwei unabhängigen Zentralparlamenten, mit einer 136

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Vielzahl national gemischter Ländervertretungen, mit dem komplizierten System des Dualismus, unter der Androhung nationaler Obstruktion aller nationalen Parteien zu irgendwie,reinen' und umfassenden Lösungen vorzudringen, liegtauf der Hand. Das ändert aber nichts daran, daß die Österreich-ungarische Monarchie nationale Unter­ drückung oder doch nationale Zurücksetzung gekannt hat, gleich ob diese bewußten nationalen Motiven, Gesichtspunkten der Staatsräson oder bloßen Versäumnissen entsprangen. Gewiß unterschieden sich die Verhältnisse in Zis- und Transleithanien grundlegend. Während Ungarn bewußt den Weg des magyarischen Nationalstaats einschlug und mit allen Mitteln die nationale Assimilation der nichtmagyarischen Mehrheit anstrebte, war Zisleithanien in der Behandlung einer ganzen Reihe nationa­ litätenpolitischer Probleme geradezu liberal. Seit dem Beginn der 70er Jahre kann von einer deutschen Vorherrschaft ernstlich nicht gesprochen werden, auch wenn der deutsche E influß in der Zentralbürokratie der überwiegende blieb. Daß sich gleich­ wohl in Zisleithanien der Gedanke des nationalen Föderalismus nicht verwirklichen ließ, scheiterte vor allem anderen an Ungarn. Die Befürchtung, daß die magyarische Aristokratie das staatsrechtliche Verhältnis zu den „im Reichsrat vertretenen König­ reichen und Ländern“ in einem solchen Falle aufkündigen und auf die bloße Persona­ lunion reduzieren würde, hinderte Kaiser Franz Joseph daran, auf diesem, ursprüng­ lich einmal eingeschlagenen Wege fortzuschreiten. Jede nationale Umgestaltung Zisleithaniens hätte die Stabilität des ungarischen Nationalstaates in Mitleidenschaft ge­ zogen; die dualistische Verfassung gab den Magyaren den längeren Hebelann. Alle schweren parlamentarischen Krisen Zisleithaniens nahmen ihren Ausgang von den Verhandlungen um die periodische E rneuerung des ungarischen Ausgleichs. Der ein­ zige Staatsmann, der den Versuch unternahm, die Uhr dieses Dualismus richtig zu stellen, E rnst von Koerber, wurde darüber von Franz Joseph fallengelassen, nachdem er allerdings in der Frage des böhmischen Ausgleichs und der Niederringung der Ob­ struktion unterlegen geblieben war. Die alte Monarchie war kein moderner supranationaler Staat, ja ihr fehlten die Vor­ aussetzungen, um den Weg dahin zu gehen. Otto Brunner hat die Situation der Mo­ narchie wie die Chancen der national-föderativen Reformvorschläge mit Recht skep­ tisch eingeschätzt und darauf hingewiesen, daß sie den Aufstieg der Massendemokra­ tie bedeutet und damit auf derselben geschichtlichen E bene gelegen hatten wie der Er­ ste Weltkrieg, der Zerfall der Monarchie und die E ntstehung der Nachfolgestaaten. Eine moderne Donaumonarchie wäre nur unter dem Verlust des spezifisch österrei­ chischen an ihr ins Leben getreten 21 . Nicht zufällig liegt bei all denjenigen Betrach­ tern, die der habsburgischen Monarchie eine echte Chance zumessen, sich innerlich zu regenerieren und supranational umzugestalten, die Vorstellung zugrunde, daß es eine praktische Alternative zur modernen Massendemokratie hätte geben können, die einen organischen Übergang von dem noch mit starken ständischen E lementen behaf­ teten österreichischen Verfassungstypus zur modernen parlamentarischen Demokra­ tie zu sichern imstande war. Wie immer ein solcher nationalständischer Staatsaufbau die Denkschriften Friedrich Funders wiesen in diese Richtung 22 - ausgesehen haben mag, im Zeitalter des allgemeinen Wahlrechts und der beginnenden Revolutionierung Rußlands hatte ein solcher Weg nichts Verheißungsvolles. Das zeigt auch eine Ana137

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lyse der politischen Wirkungen, die vom Mährischen Ausgleich ausgingen. Kr wird gern zum Vorbild einer solchen Lösung genommen, und er hat in der Tat auf einigen Gebieten des nationalen Konflikts eine gewisse Beruhigung gebracht. Aber es haftete ihm der Makel rückschrittlicher Verfassungsprinzipien an. E r trat in Kraft, als die Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts für den zisleithanischen Reichs­ rat in Sicht stand, und er konservierte durch ein abgestuftes Zensuswahlrecht und durch ein nationales Kuriensystem die privilegierte Stellung der großgrundbesitzen­ den Schicht deutscher und tschechischer Nationalität. Auf Böhmen wäre dieser Aus­ gleich nicht zu übertragen gewesen 23 . Überhaupt darf bei der E rörterung der nationalen Ausgleichsversuche nicht über­ sehen werden, daß sie in den Augen der aufstrebenden Völker in einem Punkte nie ge­ nügen konnten, indem sie das Prinzip des bürokratischen Zentralismus, das Maria Theresia in den zisleithanischen Territorien durchgesaetzt hatte, in seinem Wesen nicht antasteten. Auch die E inrichtung nationaler Landsmannminister und weitreichende Konzessionen in der Amtssprachenfrage konnten den E indruck nicht verwischen, von einer fremdnationalen Bürokratie regiert zu werden. Josef Redlich hat darauf hingewiesen, daß der österreichische Staat als Verwaltungsstaat ins Leben getreten sei, daß also der den Völkern gemeinsame Staat nicht als politische Schicksals- und Ar­ beitsgemeinschaft, sondern als bürokratische Organisation aufgefaßt wurde. Mit dem Aufstieg des demokratischen Gedankens bei den nichtdeutschen Nationalitäten er­ hielt die österreichische Form der bürokratischen Herrschaft auch dann das Odium der Unterdrückung', wenn die Beamtenschaft die Interessen und die Wohlfahrt des Landes vorbildlich wahrnahm. Man wird sich dabei erinnern, daß die Ausbildung des konstitutionellen und parlamentarischen Systems durchweg daran krankte, neben ei­ ner selbstbewußten und gerade die für die nationalen Fragen wichtigen Materien selbstherrlich handhabenden Verwaltung zu politischer Ohnmacht verurteilt zu sein. Staatsrechtlich gesehen war der Wiener Reichsrat das einigende Band zwischen den zisleithanischen Ländern, faktisch ist diese einigende Wirkung nur geringfügig zutage getreten, und zwar nicht so sehr wegen der Selbstausschaltung der Volksvertretung durch die Obstruktionskämpfe des Reichsrats. Die E igenart der durch den ungari­ schen Ausgleich präjudizierten zisleithanischen Verfassung erlaubte allenfalls ein se­ miparlamentarisches System, weil die entscheidenden Ressorts der Außenpolitik und des Heerwesens in den Händen der gemeinsamen Minister lagen, die sich auf keine parlamentarische Mehrheit stützten, sondern höchste Beamte der Krone waren. Die Einheit Zisleithaniens beruhte im wesentlichen auf der E xistenz einer durch spezifi­ schen österreichischen Korpsgeist ausgezeichneten Bürokratie, die stets bereit war, den berühmten § 14 zur Anwendung zu bringen und Österreich absolutistisch zu re­ gieren. Der Kampf der österreichischen Nationen um den Staat, also ihr Ringen um staatlichen E influß, nahm daher notwendig die Gestalt des Ämterstreites an. Nach der Zeit der Verfassungsexperimente, die deshalb verhängisvoll waren, weil sieden Glau­ ben der Österreichischen Völker in die Stabilität verfassungsmäßiger Regelungen mit Recht zerstörten, genügten weder Rechtsgarantien noch Konzessionen in der Frage der nationalen Mandatsverteilung, um den Völkern das Gefühl zurückzugeben, daß ihre nationale E igenständigkeit unangetastet bleiben werde. 138

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Es ist immer wieder auf die ausgleichende, national indifferente Funktion der öster­ reichischen Beamtenschaft verwiesen worden; im ganzen blieb sie auch bis zum Un­ tergang der Monarchie erhalten. Vom Gesichtspunkt der Völker her, die politische Macht durch Anteil an der Verwaltung erstrebten, war damit gar nichts gewonnen, sie fühlten ihre politische Mediatisierung nur um so stärker. Mit dem Durchbruch des in­ tegralen Nationalismus wurde diese bürokratische Struktur allenthalben als nationale Unterdrückung gedeutet. Die Beschwörung der historisch-politischen Individualitä­ ten, insbesondere des böhmischen Staatsrechtes, das eine so zentrale Rolle in den na­ tionalen Auseinandersetzungen zwischen Deutschen und Tschechen spielte, war eine natürliche Folge der affekthaften Ablehnung der Zentralverwaltungsorganisation. Die Reminiszenzen an die alte, durch den habsburgischen Absolutismus teilweise ge­ waltsam zerbrochene ständische Oppostition, konnten sich dadurch mit dem moder­ nen Nationalismus in einer Art Gegentradition zur österreichischen Staatsidee ver­ binden. Die E rscheinung, daß die Nationalitäten im Grunde gegen die bürokratische Struktur Österreichs Sturm liefen, konnte durch noch so große Konzessionen in der Ämterbesetzung und Amtssprachenfrage nicht beseitigt werden, und auch der Aus­ bau der Landesbürokratien konnte den von nationaler Seite als schmerzlich empfun­ denen E indruck nicht verdecken, daß diese Verwaltung der jeweiligen Nation ent­ fremdet gegenübertrat. E s ist bezeichnend, daß bei der E rrichtung einer zentralen Gewerkschaftsbürokratie genau die gleichen Vorbehalte der nichtdeutschen soziali­ stischen Parteien zum unüberbrückbaren Konflikt führten, welche gegen den öster­ reichischen Staat als ganzes von der nationaldemokratischen Bewegung geltend ge­ macht wurden 2 4 . Die Mediatisierung der österreichischen Nationalitäten durch einen spezifisch dy­ nastisch ausgerichteten Beamtenapparat machte einen Ausgleich der Nationalitäten­ gegensätze ungemein schwierig, auch nachdem das deutsche Übergewicht und damit ein mehr oder minder zur nationalen Assimilation drängender Faktor teilweise wenig­ stens beseitigt und die Beamtenschaft auch in den zentralen Instanzen übernational zusammengesetzt war. Solange die Machtstellung dieser national indifferenten Büro­ kratie, und mit ihr stand und fiel auch die Macht der Dynastie, erhalten blieb, konnte ein noch so fortschrittlich konstruiertes parlamentarisches System und auch das all­ gemeine Wahlrecht keinerlei E ntlastung in nationaler Beziehung bringen. Auch ein nationaler Ämterproporz war ohne Demokratisierung der Verwaltung und ohne E in­ führung weitreichender Selbstverwaltungsbefugnisse auf lokaler E bene erfolglos, weil der Beamte in erster Linie Vertreter der dynastischen Interessen, nicht politischer Amtswalter seines Volkes war. Dieser Zwiespalt zwischen dynastischer und nationa­ ler Solidarität hat seit der Badenikrise auch diese bis dahin unangefochtene Säule der habsburgischen Herrschaft fortschreitend zersetzt. Die Nachfolgestaaten konnten daher auf weite Strecken eine intakte Verwaltungsorganisation übernehmen. Die Vorstellung der gemäßigten Deutschliberalen, daß sich dieses bürokratische System so weit entnationalisieçen lasse, daß es die Zustimmung der Mehrheit der Na­ tionalitäten finden würde, hat in der historischen Behandlung der österreichischen Nationalitätenfrage deutlich nachgewirkt. So richtig es ist, daß der österreichische Verwaltungsstaat. alles andere im Sinn hatte als bewußte E ntnationalisierung der 139

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nichtdeutschen Nationalitäten, so unrichtig ist es, in diesem Zustand den Keim für eine supranationaleUmbildung des habsburgischen Reiches zu erblicken. Das typisch bürokratische, wohlfahrtsstaatliche Denken, das den habsburgischen Staatsapparat bestimmte, konnte den Völkerstreit nur unter dem Gesichtspunkt des nationalen Ausgleiches, des dem jeweiligen E ntwicklungsstand angepaßten nationalen Kom­ promisses, nicht unter dem Gesichtspunkt schöpferischer Neubildung erblicken. Alle Ausgleichsversuche blieben daher im wesentlichen in bürokratischen Regelungen stecken und tendierten zu einer möglichst gerechten Aufteilung der Segnungen des Wohlfahrtsstaates unter die nationalen Interessenten, die wohl wußten, daß sie ein Vielfaches zu fordern hatten, um ein Geringes durchzusetzen. Das Problem einer ver­ antwortlichen Mitwirkung der Völker an den Staatsaufgaben konnte vom bürokrati­ schen Blickwinkel aus gar nicht erfaßt werden. Der Weg zu umfassender nationaler Reform hätte über das bürokratisch-zentralistische Prinzip hinwegführen müssen, eine wirkliche Reform die Zerschlagung des hergebrachten Verwaltungsapparats nicht nur auf der unteren, durch Selbstverwaltung im Sinne der Vorschläge Karl Ren­ ners und der Reformversuche v. Koerbers umzugestaltenden E bene, sondern in den Zentralinstanzen bedeutet. E s ist charakteristisch, daß sich auch Renner zu solch ra­ dikalen Konsequenzen nicht durchzuringen vermochte und deshalb ein künstliches System eines doppelten Instanzenzuges, einer nationalen Verwaltung der politisch verbundenen nationalen Territorien und einer zentralistischen Gesamtstaatsverwal­ tung in nicht nationalen Angelegenheiten vorschlug, obwohl das Prinzip einer norma­ len bundesstaatlichen Kompetenzenauftrennung den Vorzug größerer Übersicht­ lichkeit und E infachheit gehabt hätte. Aber auch Renner war sich bewußt, daß die Zerschlagung der gesamtstaatlichen Bürokratie das E nde Österreichs bedeuten wür­ de, und er scheute mit Recht, da zu seiner Zeit ein solcher Ausgang nicht vorhergese­ hen werden konnte, vor solchen spekulativen Konsequenzen zurück. Die sachlich vielfach unberechtigte Unterstellung, daß die Verteidiger des habsbur­ gischen Gesamtstaates verkappte deutsche Imperialisten seien, rührt von grundlegen­ den Auffassungsdifferenzen in dieser Frage her. E ine solche polemische Zuspitzung der Auseinandersetzung zwischen den Verfechtern eines supranationalen Prinzips und den Vertretern des nationalen Selbstbestimmungsrechtes ist vor allem bei der tschechoslowakischen Geschichtswissenschaft üblich gewesen. E s ist allzu verein­ facht, die Probleme des habsburgischen Reiches samt und sonders über den einen Lei­ sten zu schlagen, daß der deutsche Hegemoniewille im südosteuropäischen Raum seit den Zeiten Josephs II. den wirtschaftlichen und kulturellen Aufstieg der ostmitteleu­ ropäischen Völker gelähmt, ja gewaltsam zurückgedrängt habe 25 . Neuere Arbeiten zeigen, daß der von tschechoslowakischer Seite in den 20er Jahren vertretene, begreif­ licherweise ressentimenthafte Standpunkt inzwischen eine gewisse Modifizierung er­ fährt; die Allergie, mit der auf supranationale Ideengänge mit dem Schlagwort einer Erneuerung des deutschen Imperialismus reagiert wurde 2 6 , ist um so unverständli­ cher, als heute der Bestand des tschechoslowakischen Staates nicht angezweifelt wird. Es grenzt an bewußte Irreführung, wenn einige Autoren die E rsetzung des ange­ stammten böhmischen Adels durch dynastietreue Aristokraten, die soziale Lage der Bauernschaft in frühabsolutistischer Zeit und die politische Stellung der tschechischen 140

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Bourgeoisie in den letzten Dritteln des 19. Jahrhunderts undifferenziert mit dem Be­ griff der nationalen Unterdrückung umschreiben, der weder auf die Auseinanderset­ zung zwischen Ständetum und Monarchie noch auf die soziale Struktur der absoluti­ stischen Herrschaft anwendbar ist, weil nationale Motive im modernen Sinne eine un­ tergeordnete Rolle spielten. Daß darin eine faktische Behinderung der tschechischen Nationsbildung gelegen hat, ist ohnehin unbestritten. Unhaltbar wird ein solcher Standpunkt aber dort, wo der habsburgischen Monarchie für die Zeit nach 1848 planmäßige nationale Unterdrückung des tschechischen Volkes und zielbewußte Germanisierung nachgesagt wird. Von einer richtigen Anwendung des marxistisch-leninistischen Geschichtsbegriffs her sind derartige nationalistische Vorurteile, die dem Nationalitätenkampf der 70er und 80er Jahre entsprangen, schlechterdings als erledigt zu betrachten. Das tschechi­ sche Volk hat in demselben Zeitraum einen bewundernswürdigen sozialen und öko­ nomischen Aufstieg genommen, der seinesgleichen in der Geschichte sucht. Dieser Aufstieg war möglich, weil ein ganzes Volk, nicht nur seine Oberschicht, alle Kräfte daran setzte, dem nationalen Rivalen ebenbürtig zu werden. Zugleich aber hat gerade die tschechische Nation auf Grund der verhältnismäßig fortgeschrittenen Gewerbetä­ tigkeit Böhmens mit am stärksten am allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung der Monarchie teilgenommen. Die tschechischen Parteien haben seit 1879 eine entschei­ dende Schlüsselstellung im Parlament eingenommen. E s ist weiter gelungen, wesent­ lichen E influß auf den Verwaltungsapparat in den böhmischen Ländern zu nehmen alles E rscheinungen, die mit dem Schlagwort von der nationalen Unterdrückung un­ vereinbar sind 27 . Namentlich das oft verfochtene Argument der wirtschaftlichen Ausbeutung Böh­ mens durch das Deutschtum hält einer historischen Nachprüfung nicht stand. Die führenden tschechischen bürgerlichen Politiker wie Karel Kramáf, E duard Rieger und Thomas G. Masaryk, aber auch ein Mann wie BohumirSméral, wußten sehr gut, daß das tschechische Volk aus der Zugehörigkeit zum habsburgischen Gesamtstaat wesentliche wirtschaftliche Vorteile zog, auch wenn vor allem die Großbetriebe sich überwiegend in deutschem E igentum befanden. Die böhmischen Länder sind bei der Verteilung des Gesamtsteueraufkommens - im Unterschied etwa zu Galizien - über­ durchschnittlich gut weggekommen, und gerade in der Zeit der semiabsolutistischen Kabinette sind die Tschechen so günstig behandelt worden, daß die von Kramáf ent­ wickelte Steuerträgertheorie, die eine optimale Aufteilung der Steuereinnahmen auf die Nationalitäten vorsah, sogleich wieder zurückgezogen wurde, weil die böhmi­ schen Länder bei Anwendung dieser Theorie ihre Ausgaben für national-kulturelle Angelegenheiten hätten reduzieren müssen. Der Aufbau des tschechischen Schulwe­ sens, gewiß eine selbstverständliche Forderung im Vielvölkerstaat, war alles andere als ein Zeichen nationaler Unterdrückung. Daß das deutsche Bürgertum in den böh­ mischen Ländern mehr aus sozialen als aus nationalen E rwägungen um die Bewah­ rung seiner privilegierten Position kämpfte, während das tschechische Bürgertum stärker von den demokratischen Impulsen erfaßt war und gutenteils für das allgemeine Wahlrecht eintrat, hat nichts mit Germanisierungsbestrebungen zu tun. Daß der deutsche Liberalismus dadurch in inneren Widerspruch zu sich selbst trat, seine poli141

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tische Stoßkraft verlor und so zum gouvernementalen Anhängsel der Regierungs­ mehrheit wurde, ist schon damals von deutscher Seite lebhaft kritisiert worden. E s geht daraus hervor, daß sich das böhmische Deutschtum in einer Defensivstellung be­ fand, die bei einer ernsthaften Zurückdrängung des tschechischen E influsses durch die Dynastie gar nicht möglich gewesen wäre 2 8 . Die ebenso traditionelle wie unhaltbare Beurteilung der habsburgischen Monarchie als Hindernis des sozialen Aufstiegs der ostmitteleuropäischen Nationalitäten ist auch innerhalb des Ostblocks nicht ohne Widerspruch geblieben. Nicht zufällig geht hier die ungarische Forschung voran, die die innere Verwobenheit der ungarischen E nt­ wicklung mit den Schicksalen des habsburgischen Reiches nicht bloß negativ einzu­ schätzen bereit ist. So hat E rik Molnár darauf hingewiesen, daß in der ausschließli­ chen Orientierung der historischen Forschung auf den Prozeß der E rringung der na­ tionalen Unabhängigkeit eine unzulässige methodische Verengung Hege. Molnár kri­ tisierte den „halbnationalistischen Standpunkt“, wonach „das Interesse der nationa­ len Unabhängigkeit immer, unter allen Umständen, unbedingt mit dem Interesse des geschichtlichen Fortschritts zusammenfällt“. Die leninistische These, daß die natio­ nale Unabhängigkeit notwendige Bedingung für den gesellschaftlichen Fortschritt sei, gelte fraglos für die Epoche des Imperialismus, dürfe aber nicht wahllos auf alle Perio­ den und E ntwicklungsstufen der verschiedenen Völker der habsburgischen Monar­ chie ausgedehnt wcrden 29 . Gerade für die Beurteilung der E ntwicklung der habsburgischen Monarchie führt die Gleichsetzung von nationaler Unabhängigkeit und gesellschaftlichem Fortschritt zu unauflöslichen Widersprüchen. Molnár hat diesen Sachverhalt an einigen heraus­ gegriffenen Beispielen verdeutlicht. Die gesellschaftlich fortschrittlichsten und poli­ tisch aktivsten E lemente des ungarischen Volkes hätten wiederholt auf der Seite der Habsburger gestanden. E benso sei die Politik Josephs II. im Vergleich zur rück­ schrittlichen und klassenegoistischen Haltung des ungarischen Feudaladcls positiv zu bewerten, obwohl sie germanisierenden Charakter gehabt habe. Noch deutlicher zeige sich das Problem des Verhältnisses von nationaler Unabhängigkeit und gesell­ schaftlichem Fortschritt bei einem Vergleich zwischen der E ntwicklung Polens und Böhmens. Das polnische Volk habe seine Unabhängigkeit länger erhalten können als das tschechische, sie sei aber von der „polnischen feudalen herrschenden Klasse“ dazu benützt worden, die E ntwicklung des städtischen Bürgertums zu brechen. „Böhmen hingegen verlor zwar seine nationale Unabhängigkeit, wurde aber im Rahmen der Habsburger-Monarchie zu einem der industriell meistentwickelten Territorien, je­ denfalls zum industriell meistentwickelten Land der Donaumonarchie, wenn auch die ausgebaute kapitalistische Industrie in erster Reihe in die Hände der deutschen Bour­ geoisie überging“ 30 . Die marxistisch-leninistische Geschichtsschreibung, fuhr Molnár fort, müsse par­ teilich die Kräfte verteidigen, die in der gegebenen Periode das Interesse des gesell­ schaftlichen Fortschritts vertreten hätten. Das gelte auch dann, wenn die Interessen des Fortschritts nicht mit den Interessen der nationalen Unabhängigkeit zusammen­ fielen. E ine solche, ohne Frage differenzierende Betrachtung, widerspricht der zu­ nächst von der marxistisch-leninistischen Forschung generell vertretenen Auffassung, 142

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daß die späte soziale und ökonomische E ntfaltung der ostmitteleuropäischen Natio­ nalitäten auf die Rolle des habsburgischen Absolutismus zurückgeführt werden müsse und daß sie ohne diesen den Anschluß an die westeuropäische Entwicklung, die durch das Nationalstaatsprinzip bestimmt war, weit früher gefunden hätten. Vom Standpunkt der westlichen Historie, die den Begriff des historischen Fort­ schritts nicht verleugnet, aber keineswegs so schematisch auffaßt wie der historische Materialismus, wird man der Auffassung Molnárs im Prinzip durchaus zustimmen. In der Tat ist die eigentliche Schwierigkeit jeder Analyse des habsburgischen Nationali­ tätenproblems, in jedem einzelnen Falle zwischen den Vorzügen, die die Durchset­ zung des modernen Staatgedankens in seiner absolutistischen wie seiner deutsch-libe­ ral-zentralistischen Form ohne Zweifel gehabt hat, und den damit verbundenen Nachteilen, insbesondere für die betroffenen Nationalitäten, abzuwägen und zu ei­ nem über den nationalen Fronten stehenden Standpunkt vorzudringen. Die Ge­ schichte des habsburgischen Reiches, das niemals die Geschlossenheit und innere Homogenität der übrigen europäischen Großmächte erlangt hat, in dem antiquiert er­ scheinende historische Traditionen, wie beispielsweise das böhmische Staatsrecht, in Verbindung mit geschichtlich jungen Phänomenen, wie dem integralen Nationalis­ mus, auftreten, wo überhaupt die E xtreme sich berühren, die revolutionäre Sozial­ demokratie sich als „einzige staatserhaltende Partei“ bezeichnet, der greise Kaiser Franz Joseph gegen den Willen seiner Berater und den entschiedenen Widerstand des dynastietreuen Hochadels die E inführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts in Zisleithanien durchsetzt, wo der 1848 in effigie gehängte Julius Andrassy Öster­ reich-ungarischer Minister des Äußeren wird, wo nationale Unterdrückung und planmäßige Förderung der nationalen Kulturentwicklung nebeneinander existierten, - entzieht sich allen schematisierenden Verfahren. Auch die heutigen Volksdemokratien vermögen nicht über den Schatten ihrer na­ tionalen Überlieferung zu springen, und die Konturen aus der habsburgischen E po­ che schimmern auch bei der Anwendung der allen gemeinsamen marxistisch-leninisti­ schen Terminologie deutlich hervor. Es ist zu erwarten, daß sich in der kommunistischen Forschung die propagandisti­ sche These von der fortwährenden politischen Unterjochung und wirtschaftlichen Ausbeutung der habsburgischen Nationalitäten, die ja auf die Auslandspropaganda der Zeit vor dem E rsten Weltkriege zurückgeht, jedenfalls in ihrer antideutschen Zu­ spitzung, auflöst und einer sachlichen Analyse der sozialgeschichtlichen Probleme des Vielvölkerstaates Raum gibt 31 . Um das komplexe Problem der habsburgischen Monarchie schärfer zu analysieren, bedarf es eingehender Untersuchungen der na­ tionalen und sozialen E ntwicklung insbesondere der „unhistorischen“ Nationalitä­ ten. Die Geschichtsforschung dieser Länder, die vor allem den wirtschafts- und so­ zialgeschichtlichen Faktoren nachgeht, ist für die westliche Geschichtsschreibung von stärkstem Interesse, auch wenn sich in der grundsätzlichen Beurteilung klare Dif­ ferenzen ergeben. Sie sind nicht so ausschließlich, daß nicht im Bereich der so­ zial-ökonomischen Analyse gegenseitige Befruchtung eintreten könnte, wenn auch die terminologische Behandlung der zur Frage stehenden Probleme völlig entgegen­ gesetzt ist. 143

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Die westliche Forschung sieht sich hier vielfach neuartigen Problemstellungen ge­ genüber. Die Frage der historischen Rechtfertigung der habsburgischen Monarchie tritt für sie zurück, ebenso die E rörterung der notwendig vordergründig bleibenden Schuldfrage, die in der Zwischenkriegszeit auch hinsichtlich des Untergangs der habsburgischen Monarchie aufgeworfen wurde. Daß die Dynastie wie die ihr zuge­ ordnete traditionsbewußte Beamtenschaft die wenigen Ansätze zu zielbewußter na­ tionaler Reform nicht ergriffen, ist von ihren Voraussetzungen her begreiflich; daß der deutsche Liberalismus weithin versagte, indem er sich gegen die Grundbedingung übernationaler Staatlichkeit, die grundsätzliche Mehrsprachigkeit der Verwaltung sträubte und damit seine politische Führungsrolle im habsburgischen Staat einbüßen mußte, ist nur ein Sonderfall der Krise des mitteleuropäischen Liberalismus über­ haupt, der über der doppelten Frontstellung gegen die Kräfte der Tradition und die Bedrohung seiner sozialen Interessen zerbrach. Die Tatsache, daß gerade die deutsche Führungsnation im habsburgischen Staat, der ja durch die Oberschichtung der stän­ disch-nationalen Individualitäten durch ein deutsches, zentralistisch gesinntes Be­ amtentum erst wirklich geschaffen wurde, sich im allgemeinen als unfähig erwies, die Probleme des Nationalitätenstaates von der Seite der zu sozialer und kultureller Gleichstellung strebenden nichtdeutschen Nationalitäten zu durchdenken, muß da­ bei freilich festgehalten werden. Noch heute ist es nicht immer klar, daß die Vor­ schläge Karl Renners in ihrer Gesamtheit, zumindest in ihrer Begründung, den slawi­ schen Gruppen als sublimer Ausdruck deutsch-nationaler Gedankengänge erscheinen mußten. Das historische Interesse richtet sich heute vor allem darauf, am habsburgischen „Sonderfall“ die spezifische Wirkungsweise und Verknüpfung derjenigen Tendenzen zu studieren, die die E ntwicklung des moderenen E uropa bestimmt haben. Der Na­ tionalismus in seinen verschiedenen Spielarten - vom bloß kulturellen Nationalbe­ wußtsein bis hin zu seiner imperialistischen integralen Form - , das demokratische Prinzip in seiner liberalen und seiner jakobinischen Prägung, Sozialdarwinismus und Rassenideologie wie die Vorstellung christlich-abendländischer Kulturmission, sind hier auf engstem Raum nebeneinander wirksam gewesen. Das Verhältnis von traditionaler Herrschaft und modernem, egalitär-plebiszitarem Prinzip, die Spannung zwischen agrarisch-ständischer und bürgerlich-industrieller Struktur treten unter dem vom normalen europäischen Typus abweichenden Donaureich in ein eigentümli­ ches Licht, welches einer vergleichenden gesamteuropäischen Analyse gewiß neuar­ tige Akzente geben würde. Der Gegensatz zwischen dem vorrevolutionären Gesell­ schafts- und Staatstypus und der gesellschaftlichen und politischen Dynamik, die von der industriellen Revolution ausgelöst und angetrieben wurde 3 2 , tritt auf dem Boden der Monarchie anschaulich zutage. Die traditionalen Faktoren - Dynastie, ständische Gesellschaft, bürokratischer Absolutismus, provinzielle E igenständigkeit - und die Tendenzen der modernen Gesellschaft - Nationalismus, demokratisches Prinzip, im­ perialistische Bestrebungen, plebiszitar-totalitäre Faktoren, moderne Massengesell­ schaft- sind in dem ehrwürdigen Kaiserstaat miteinander auf das engste verschränkt gewesen. Die Deutung der habsburgischen Monarchie als Schnittfläche zweier geschichtli144

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eher E pochen, die auch in Heinrich Benedikts Wort von der „Monarchie der Gegen­ sätze“ zum Ausdruck kommt, führt folgerichtig zur Frage nach dem Verhältnis von integrierenden und desintegrierenden Kräften in dem losen Staatszusammenhang, den die Monarchie seit der Veröffentlichung der Pragmatischen Sanktion von 1713, also in einem Zeitraum von zweieinhalb Jahrhunderten, gebildet hat. Robert A. Kanns Studie über „Werden und Zerfall des Habsburgerreiches“ 33 hat von dieser Fra­ gestellung her die Monarchie zum Gegenstand einer ebenso unorthodoxen wie fruchtbaren case study gemacht, die die E rgebnisse der Forschung konzentriert zu­ sammenfaßt. Sie führt zu dem klaren Resultat, daß ein Fortbestand des habsburgi­ schen Reiches über den E rsten Weltkrieg hinaus ebensowenig in seinen geschichtli­ chen Möglichkeiten gelegen hat wie eine umfassende demokratische Föderalisierung nationaler Territorien, die im 20. Jahrhundert allein die Bedürfnisse seiner Völker be­ friedigen konnte und den gewandelten außenpolitischen Bedingungen entsprochen hätte. Das heißt nicht, daß zahlreiche E rfahrungen, die der Disintegrationsprozeß des habsburgischen Reiches mit sich gebracht hat, nicht auch für zukünftige Problemstel­ lungen bedeutsam sein können. Im ganzen aber entzieht sich das habsburgische Reichsproblem der politischen Aktualisierung, und es Öffnet sich ganz nur dem, der tiefere historische Einsicht erstrebt. Die erregende Faszination, die die Geschichte des habsburgischen Reiches ausströmt, liegt in der Zähigkeit, mit der dieser immer wieder totgcglaubte Staat, der niemals gleichen Schritt hielt mit der Staatenentwicklung des übrigen E uropa, der immer rückständig war, dem Ansturm der konfessionellen, so­ zialen und nationalen Spaltung getrotzt hat, ohne seine spezifische E igenart preiszu­ geben. Der Untergang der Monarchie bedeutete den Verlust der letzten Reste univer­ saler Staatlichkeit in E uropa, ebenso wie mit dem Tode Kaiser Franz Josephs der letzte Monarch alter europäischer Schule, wie er sich in einem Gespräch mit dem Prä­ sidenten Theodore Roosevelt selbst bezeichnete, aus dem europäischen Dasein trat. Das von seinem Wesen her altertümliche, in der kapitalistischen und nationalstaat­ lichen Umwelt des 20. Jahrhunderts fossil anmutende Vielvölkerreich ist deshalb, wie abschließend mit gewisser E inschränkung zu sagen ist, von den Kategorien soziologi­ scher, ökonomischer, institutioneller und ideologiekritischer Analyse nicht voll er­ faßbar; die Patina eines über viele Jahrhunderte reichenden, der älteren Generation noch bewußten Traditionszusammenhanges entzieht sich einem bloß diagnostischen Verfahren. Wenn Jan Huizinga klagte, daß sich die neuere Geschichte nicht mehr von ihrer Form begreifen, nicht mehr anschaulich zur Tragödie verdichten lasse, so macht die österreichisch-ungarische Monarchie eine Ausnahme davon. In der schon zu sei­ nen Lebzeiten legendär gewordenen Gestalt Franz Josephs, der fast 70 Jahre an der Spitze dieses Reiches gestanden hat und noch bis zuletzt die höchste E ntscheidung nicht aus der Hand gab, läßt sich, wie Joseph Redlichs eindrucksvolle Biographie 34 zeigt, der Weg der Monarchie seit ihrer ersten schweren E rschütterung durch die Re­ volution von 1848 bis zu ihrem Untergang anschaulich verdichten. Größe und Be­ grenztheit, Leistung und Versagen liegen dicht nebeneinander. Untadeliges Herr­ schertum und doch nur bürokratische Führungsbegabung, Standhaftigkeit gegenüber schweren, immer häufiger eintretenden Schicksalsschlägen und Fatalismus gegenüber 145 10

Mommsen, Arbeiterbewegung

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drohend hereinbrechender Zukunft - diese durch die Kraft historischer Tradition, durch das Bewußtsein der historischen Verwurzelung der habsburgischen Dynastie zusammengeschmolzenen Gegensätze spiegeln Struktur und E ntwicklung des alten Kaiserstaats und machen erklärlich, daß er erst zerbrach, als der Nationalstaatsge­ danke seinen Zenith schon überschritten hatte.

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7. Die Rückwirkungen des Ausgleichs mit Ungarn auf die zisleithanische Verfassungsfrage Die eigentümliche Form der Staatenverbindung, die mit dem Österreich-ungari­ schen Ausgleich von 1867 entstanden ist, stellt verfassungsgeschichtlich ein Unikum dar. Mit dem Wiederaufleben der ungarischen Verfassung von 1848 und dem Inkraft­ treten der Dezembergesetze trat der habsburgische Kaiserstaat aus dem durch Okto­ berdiplom und Februarpatent mit konstitutionellen Formen dekorierten neoabsoluti­ stischen System heraus. Der Ausgleich brachte insofern einen wesentlichen Fort­ schritt. Nach dem Willen der Vertragspartner, zunächst der Krone und der magyari­ schen Oberschicht, die den ungarischen Reichstag beherrschte, dann den Vereinba­ rungen mit dem später beigetretenen zisleithanischen Abgeordnetenhaus, in dem da­ mals noch die deutsche liberale Verfassungspartei entscheidenden E influß besaß, sollte fortan nunmehr konstitutionell regiert werden und regiert werden können. Der deutschliberale Abgeordnete Berger hatte anläßlich der Beratungen im Reichs­ rat über die Annahme der Ausgleichsgesetze optimistisch erklärt: „Der Dualismus aber wird bewähren, daß es unmöglich sein wird, zwei dualistische konstitutionelle Verfassungen zu vernichten, zwei Verfassungen in den Absolutismus zu verkehren und ihren konstitutionellen Wirkungskreis, ihre konstitutionelle Funktion zu beseiti­ gen.“ 1 Der Analyse Josef Redlichs zufolge war auch Franz Joseph entschlossen, das konstitutionelle Prinzip ernst zu nehmen, den Ausgleich als ein Definitivum zu be­ trachten - im Unterschied zu den vorangegangenen Verfassungsexperimenten, bei denen die Krone sich allzu leicht entschlossen hatte, konstitutionelle Zusagen einsei­ tig zurückzunehmen 2 . Die Furcht, daß sich die Anhänger einer straffen, absolutistischen Staatsführung erneut durchsetzen könnten, hatte bei den Ausgleichsverhandlungen beiderseits der Leitha eine Rolle gespielt. Der § 25 in Gesetzesartikel XII, der den Ausgleich davon abhängig machte, daß im zisleithanischen Reichsteil ein konstitutionelles Zentralpar­ lament eingerichtet würde, trug nicht zuletzt dem Bedenken Rechnung, daß der unga­ rische Reichstag und die gewonnene magyarische E igenstaatlichkeit ernsthaft bedroht sein würden, wenn Zisleithanien zum System des Neoabsolutismus zurückkehrte. Umgekehrt war das Motiv, dies zu verhindern, für die Zustimmung der Verfassungs­ partei zu den Ausgleichsgesetzen von größter Bedeutung, und es fand in dem Junktim zwischen der Annahme des Ausgleichs und der Schaffung der liberalen Dezemberge­ setze sichtbaren Ausdruck. Gleichwohl war die mit dem Ausgleich geschaffene Gesamtverfassung der habs­ burgischen Monarchie in mehrerer Hinsicht keine rein konstitutionelle. Die faktische Selbständigkeit, die der ungarische Reichstag erstritten hatte, war von vornherein darauf angelegt, zu einem parlamentarischen System nach englischem Vorbild zu füh147

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ren, auch wenn das formelle Prinzip des Parlamentarismus, wonach die Regierung des Vertrauens der zweiten Kammer bedurfte, verfassungsrechtlich nicht vorgesehen war. Wichtiger und bezeichnend für die verfassungsgeschichtliche Mischform der Ausgleichsverfassung war die eigentümliche Regelung der beiden Staaten gemeinsa­ men Angelegenheiten. Bekanntlich war der Versuch, eine beiden Staaten übergeord­ nete Vertretung gleich welcher Art zu schaffen, die in gesamtstaatlichen Angelegen­ heiten entscheiden sollte, am zähen Widerstand der Magyaren gescheitert. Das Insti­ tut der Delegationen, denen die gemeinsamen Minister im konstitutionellen Sinne verantwortlich waren, war seiner Form nach eine Ständevertretung und wurde nach dem Vorbild der älteren ständischen Verfassung Ungarns gebildet. Das ständischen Gremien eigentümliche Verfahren, in getrennten Kurien zu beraten und diese nur im Konfliktfalle zur Abstimmung, nicht zur Debatte, zusammentreten zu lassen, wurde hier zur Regelung der beiden Staaten gemeinsamen Angelegenheiten angewandt. Die Delegationen waren formell keine Ausschüsse der beiderseitigen Parlamente, ihre Mitglieder hatten kein imperatives Mandat. Auf Grund des ein Drittel der Mitglieder betragenden Anteils der ersten Kammern und des Prinzips der Ländervertretung ent­ sprachen die Delegationen in keiner Weise der parteimäßigen Zusammensetzung der Volksvertretungen, die sie entsandten. E s war daher schon nach der Art ihrer Bildung die Gewähr dafür gegeben, daß sie als Gremium kein selbständiges verfassungspoliti­ sches Gewicht erhielten. Ihre Kompetenzen, auch auf Grund ihrer Trennung, waren noch geringer als diejenigen altständischer Körperschaften. Sie hatten das Recht, das gemeinsame Budget zu genehmigen und die gemeinsamen Ausgaben zu kontrollieren, ihnen fehlte jedoch das Steuerbewilligungsrecht, sie waren allein darauf beschränkt, die Verfassungsmäßigkeit der Akte der gemeinsamen Minister zu kontrollieren und etwa in der Außenpolitik - beratend tätig zu sein 3 . Der ständischen Struktur der gemeinsamen Organe des Gesamtstaates entsprach es, daß die Prärogative des Monarchen hinsichtlich der Außen- und Wehrpolitik gewahrt blieb. Das Recht des Monarchen, für den Fall, daß die von beiden Parlamenten ent­ sandten Quotendeputationen sich nicht einigen konnten, für jeweils ein Jahr die Quote festzusetzen, ist ein Indiz für das Übergewicht der Krone bei der Wahrneh­ mung der gemeinsamen Angelegenheiten. Von den Delegationen ging keine politische Initiative aus; sie waren Adressaten von Maßregeln, die von den gemeinsamen Mini­ stern oder den Regierungen der beiden Reichsteile unterbreitet wurden. Die Tatsache, daß die gemeinsamen Minister ihre Politik nicht vor den Reichsparlamenten vertreten durften und mit Ausnahme des Außenministers keinen eigenen Verwaltungsunterbau hatten, rückte sie in einen Zustand wechselseitiger Abhängigkeit. Sie blieben oberste Beamten der Krone, dem Monarchen persönlich verpflichtet, ihre sachliche Kompe­ tenz war hingegen davon abhängig, inwieweit sie sich mit der Regierung des jeweili­ gen Reichsteils arrangierten. Der Außenminister und die Diplomatie machte hier eine Ausnahme; sie blieben der Mentalität und der sozialen Zusammensetzung nach ,schwarz-gelb', Vertreter des Gesamtstaatsgedankens in einem doktrinären Sinne, und sie hatten keine Verbindung zu den praktischen Problemen der inneren Politik, die auf Grund ihrer Verflochtenheit mit dem nationalen Gegensatz von erstrangiger außenpolitischer Bedeutung waren 4 . Die Österreichisch-ungarische Außenpolitik vor 148

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1914 ist in weitem Umfang durch die relative innenpolitische Isolierung ihrer Träger möglich geworden 5 . Die Staats- und völkerrechtliche Komplexität des ungarischen Ausgleichs, die eine Flut von Literatur hervorrief 6 , darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß der verfas­ sungspolitische Sachverhalt, der ihm zugrunde lag, auf eine vergleichsweise einfache Formel gebracht werden kann: der innere Widerspruch der Ausgleichsverfassung be­ ruhte darauf, daß sie zwei konstitutionelle Staatsgebilde durch ein System absoluter Prärogative der Krone überschichtete. Die Regelung der gemeinsamen Angelegenhei­ ten - die Außenpolitik und die Wehrpolitik - war Sache des Kaisers, die Delegationen übten nur eine formelle Kontrolle. Mit dem zunehmenden Fortgang der Industriali­ sierung, dem steigenden Einfluß der kapitalistischen Interessen auf die Wirtschaftspo­ litik und der maßgeblichen Bedeutung der Schutzzollpolitik für das Verhältnis Öster­ reich-Ungarns zu Serbien wirkte sich die Isolierung des außenpolitischen Ressorts nachteilig aus und führte zu einer Verwischung der Verantwortlichkeiten. Der wirt­ schaftliche Ausgleich - die E rneuerung des jeweils für zehn Jahre abgeschlossenen Zoll- und Handelsbündnisses - bedurfte der Zustimmung der Parlamente beider Reichsteile; auch unabhängig von den Konflikten, die den magyarischen Bestrebun­ gen entsprangen, die Unabhängigkeit Ungarns von der zisleithanischen Reichshälfte voranzutreiben, und die auf die in der unterschiedlichen Wirtschaftsstruktur begrün­ deten Interessengegensätze zurückgingen, hätte eine solche Regelung kritische Situa­ tionen heraufbeschwören müssen; sie traten freilich deshalb nicht voll hervor, weil die Österreich-ungarische Außenpolitik angesichts der Schwäche des zisleithanischen Partners weitgehend den magyarischen Interessen folgte, was unter anderem dazu führte, daß sie sich nicht fähig zeigte, in der südslawischen Frage eine realistische Hal­ tung einzunehmen 7 . Es ist mit guten Gründen betont worden, daß es verfehlt ist, den ungarischen Aus­ gleich für die schweren nationalen Konflikte der achtziger Jahre verantwortlich zu machen und ihn mit Maßstäben zu messen, die für die Verhandlungspartner in den Jahren 1865-1867 gar nicht bestanden haben 8 . Der Ausgleich war nicht als Lösung der Nationalitätenfrage konzipiert, sondern diente der Stabilisierung der innenpoliti­ schen Kräfteverhältnisse und der Sicherstellung der Interessen einer schmalen politi­ schen Führungsschicht. Die Privilegierung der Magyaren und Deutschen als „herr­ schenden Nationen“ war von Franz Deák keinesfalls als Freibrief für die spätere rück­ sichtslose Magyarisierung gedacht gewesen, wie auch das ungarische Nationalitäten­ gesetz von 1868 durchaus nicht von vornherein eine Farce darstellte 9 . Der Ausgleich brachte eine relativ stabile politische Lösung, allerdings auf Kosten der politischen Forderungen der Nationalitäten mit Ausnahme der Polen, deren faktische Autono­ mie in internen Verhandlungen sichergestellt wurde. Der entscheidende Nachteil der Ausgleichsverfassung bestand ohne Zweifel darin, daß sie, wie R. A. Kann bemerkt hat, „besseren Lösungen die Zukunft verbaute“ l 0 . Das gilt nicht nur für den grundle­ genden Widerspruch, daß mit dem Ausgleich grünes Licht für die Ausbildung eines magyarischen Nationalstaats gegeben war, während die multinationale Struktur Zisleithaniens eine solche Lösung auf Grund der stärkeren sozialen E ntwicklung der nichtdeutschen Gruppen von vornherein ausschloß. Auch in verfassungspolitischer 149

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Hinsicht verhinderte der Ausgleich eine organische konstitutionelle Fortentwicklung beider Reichsteile. Wie Alfred v. Offermann und Karl Renner betont haben 11 , setzte die Ausgleichs­ verfassung das Festhalten beider Volksvertretungen am strengen konstitutionellen Prinzip voraus, das ihnen zwar wesentliche Kontrollrechte, aber keinen E influß auf den politischen E ntscheidungsprozeß gestattete. Franz Joseph hat die Regelung von 1867 auch in diesem Sinne aufgefaßt; er war nicht bereit, am Ausgleich zu rütteln; vielmehr war er entschlossen, die Prärogativen der Krone in den entscheidenden Fra­ gen des Reiches nicht anzutasten, ja sie zu befestigen und dem parlamentarischen Zu­ griff zu entziehen. Als die magyarische Unabhängigkeitspartei mit der deutschen Kommandosprache im Verständnis Franz Josephs auch in die königliche Prärogative eingriff, scheute er sich nicht, durch die E rnennung eines parlamentarisch nicht ge­ deckten Ministeriums, durch die gewaltsame Auflösung des ungarischen Reichstags und politische Pressionen aller Art die konstitutionellen Rechte der Krone durchzu­ setzen. In dem Augenblick, in dem die Parlamente beider Reichshälften aus einer poli­ tisch passiven Rolle heraustraten, die Regierung, obwohl das verfassungsgesetzlich nicht vorgesehen war, an die Parlamentsmehrheit banden sowie volle parlamentari­ sche Souveränität verlangten - und das war in Ungarn von Anfang an erkennbar - war die Koordination der drei Funktionen des Monarchen als Herrscher des Gesamt­ staats, als konstitutionellem König von Ungarn und Regenten der zisleithanischen Länder grundlegend in Frage gestellt. Während sich in den konstitutionellen Monarchien im übrigen E uropa die E nt­ wicklung vom streng konstitutionellen System zum Parlamentarismus schrittweise vollzog, die Parlamente nach und nach die ihnen ursprünglich versagten Kompeten­ zen - etwa der Außenpolitik - ergriffen und die faktische parlamentarische Verant­ wortlichkeit der Regierung durchsetzten, ließ die Ausgleichsverfassung eine organi­ sche Fortbildung nicht zu. Die parlamentarische Souveränität ist ihrem Wesen nach bestrebt, politische und rechtliche Beschränkungen nicht auf die Dauer hinzuneh­ men. Die trialistisch konstruierte Ausgleichsverfassung verbot es jedoch, die gemein­ samen Angelegenheiten direkt der E ntscheidung des Parlaments zu unterwerfen, zu­ mal die gemeinsamen Minister in den Kammern der beiden Reichshälften nicht auftre­ ten durften. Der Machtwille des Parlaments, das die Lasten der gemeinsamen Angele­ genheiten mitzutragen hatte, ohne sie direkt beeinflussen zu können, wurde daher auf die Bahn politischer Repressalien und indirekten Druckes gewiesen, um dadurch die gemeinsamen Ministerien an sich zu binden oder deren politische Bedeutung auszu­ höhlen. Auf lange Sicht konnte es daher gar keine andere Lösung geben, als die Aus­ gleichsverfassung auf eine reine Personalunion zu reduzieren und die beiden Staaten gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen durch völkerrechtliche Verträge zu regeln. Absolutistische Herrschervollmachten auf der E bene der gemeinsamen Angelegen­ heiten waren auf die Dauer mit einem voll entwickelten parlamentarischen System unvereinbar; daß selbst das Prinzip der Personalunion keine endgültige Bereinigung bedeutete, lehrt das Beispiel der schwedisch-norwegischen Krone 12 . Daß der offene Konflikt zwischen ungarischem Reichstag und der Krone, nachdem er 1905-1907 noch einmal überbrückt werden konnte, erst mit der Kündigung der 150

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Pragmatischen Sanktion im Oktober 1918 aufbrach, ist ein Resultat der politischen Schwäche des zisleithanischen Partners und der außenpolitischen Konstellation, die beide Reichshälften zusammenband. Diese Lage gab den Magyaren die Möglich­ keit, politische und wirtschaftliche Kompensationen durchzusetzen, die bis an die Grenze der staatlichen Unabhängigkeit reichten. Sie profitierten von der Ausgleichs­ krise, ohne befürchten zu müssen, vor die ultima ratio der reinen Personalunion ge­ stellt zu werden, da eine solche Lösung für die maßgebenden poltischen Gruppen und die Dynastie als Preisgabe der Großmachtstellung Österreich-Ungarns erschien, die sie nicht hinnehmen konnten. Die ungeklärte Frage, wie weit die Verpflichtungen Ungarns dem Gesamtstaat gegenüber mit seiner nationalen Souveränität vereinbar seien, hat zugleich zu der relativen Stabilität des ungarischen parlamentarischen Sy­ stems beigetragen; die maßgebenden politischen Gruppierungen im Reichstag ent­ standen über die Frage, auf welchen Wegen und mit welchen Mitteln das allen Rich­ tungen gemeinsame Ziel der Unabhängigkeit Ungarns vorangetrieben werden sollte. Die interessenpolitische Zersplitterung, die im gleichen Zeitraum die Mehrheitsbil­ dung im zisleithanischen Reichsrat erschwerte, wurde dadurch zurückgedrängt und die enge soziale und promagyarische Grundlage des Wahlrechts beibehalten. Die Krise des dualistischen Systems ist häufig damit erklärt worden, daß die zisleithanische Reichshälfte auf Grund der nationalen Konflikte und des Eigengewichts der historisch-politischen Individualitäten ein funktionsfähiges Zentralparlament nicht ausbilden konnte, Österreich sei, betonte Offermann 13 , „das vom Monarchen künst­ lich zum E inheitsstaat umgewandelte alte Staatswesen“ geblieben, in dem der Herr­ scher sich „noch persönlich als Träger der ,Souveränität' erweist“. E s ist unzweifel­ haft, daß die Beibehaltung bzw. E rneuerung der zentralistischen Verfassung in Zis­ leithanien auf denkbar größten Widerstand stieß, nicht zuletzt deshalb, weil im Un­ terschied zu Ungarn der soziale E manzipationsprozeß der Nationalitäten weit mehr vorgeschritten war als in Ungarn. Die Krise des Dualismus ist jedoch nicht auf die hi­ storischen Behinderungen der konstitutionell-parlamentarischen E ntwicklung Zisleithaniens zurückzuführen; die relative Stabilität des ungarischen Ausgleichs ist ge­ rade dadurch erleichtert worden, daß Ungarn ein gleichgewichtiger Partner nicht ge­ genübertrat, obwohl Zisleithanien wirtschaftlich und sozial der transleithanischen Entwicklung weit voraus war. „Auf der anderen Seite der Leitha steht uns ein mit voller Macht ausgestattes Parla­ ment entgegen und eine wirkliche parlamentarische Regierung“, erklärte Max Menger anläßlich der Ausgleichsberatungen von 1886 14 . Dagegen herrschte in Österreich ein durch Scheinkonstitutionalismus verdecktes absolutistisches Regiment. Man kann füglich an der Auffassung Mengers zweifeln, daß der ungarische Reichstag das parla­ mentarische Prinzip, wie es sich in Westeuropa durchgesetzt hatte, repräsentierte, da Wahlsystem und Mehrheitsbildung auf unzureichend sozialen und politischen Grundlagen beruhten. Daß aber der Reichstag erhebliches politisches Gewicht besaß oder doch ein wirkungsvolles Instrument in den Händen der magyarischen Füh­ rungsgruppen darstellte, um die magyarischen Interessen nach innen und nach außen durchzusetzen, ist nicht zu bestreiten. Je mehr sich der Reichstag als bestimmende politische Institution in Ungarn durchsetzte, desto stärker war die Ausbildung einer 151

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politisch selbstbewußten und auf Ausdehnung ihrer konstitutionellen Rechte bedach­ ten Volksvertretung in Zisleithanien beeinträchtigt. Dieser paradox erscheinende Sachverhalt geht bereits aus der E ntstehungsgeschichte des Ausgleichs hervor - die Verhandlungen der Krone mit Ungarn bedingten die Sistierung der geltenden Verfas­ sung auch in den zisleithanischen Ländern; die Ausgleichsverhandlungen wurden zwischen der Krone und den Vertretern der Deák-Partei geführt, ohne daß die zislei­ thanischen Länder beteiligt wurden, wie dies im kaiserlichen Manifest vom 20. Sep­ tember 1865 ausdrücklich vorgesehen war 1 5 . Die Vorlage der Ausgleichsgesetze im neugebildeten zisleithanischen Reichsrat stellte diesen vor ein fait accompli, da sie be­ reits mit der kaiserlichen Sanktion versehen waren und an Modifikationen der ge­ meinsamen Institutionen nicht gedacht werden konnte. Damals erklärte der Deutschliberale von Skene für die zentralistischen Gegner des Ausgleichs: „In der Behandlung der gemeinsamen Angelegenheiten, da liegt die Un­ terordnung der diesseitigen Länder unter Ungarn, das Aufgeben des Budgetrechts, welches Recht der einzige wahre Hebel ist, um einen freiheitlichen Zustand zu ent­ wickeln, endlich als Schlußstein des Gebäudes ein ruhiger Absolutismus, dem man eben die Delegation als Maschine beigibt, die wirken wird wie eine gewöhnliche Or­ gelpfeife.“ I6 Skenes Prognose, die die spätere Entwicklung in vollem Umfang voraus­ nahm, traf mit dem Hinweis auf die faktische Preisgabe des Budgetrechts einen ent­ scheidenden Punkt, so wenig davon die Rede sein konnte, daß die Krone dem zislei­ thanischen Parlament das Budgetrecht absprechen wollte. Das Budgetrecht als Kampfmittel eines liberalen Parlaments gegen eine im Besitz der E xekutive befindli­ che, zu außerkonstitutionellen E xperimenten tendierende Krone war wesentlich ent­ schärft, wenn es bei den sogenannten Staatsnotwendigkeiten, in erster Linie der Be­ willigung der Ausgaben für die Armee und die gemeinsamen Institutionen, nur be­ grenzt angewandt werden konnte. Das Prinzip der paktierten Gesetzgebung bedeu­ tete daher faktisch einen E ingriff in die Budgetrechte der beiderseitigen Parlamente. Die Auseinandersetzungen über die Armeevorlage von 1879 sind ein aufschlußrei­ ches Beispiel für diese Problematik. Die Wehrfrage war stets ein neuralgischer Punkt des konstitutionell-monarchischen Systems und der „Hebel“, um Verfassungsgaran­ tien wirklich durchzusetzen. Die außerkonstitutionelle E inwirkung Kaiser Franz Jo­ sephs auf die der Wehrvorlage widerstrebenden deutschen Abgeordneten macht deut­ lich, daß die Parallelordnung zweier formell souveräner Parlamente ein Mittel sein konnte, den Machtanspruch der Krone wirksam zu behaupten. In der bekannten Un­ terredung des Kaisers mit August Weeber am 13. Dezember 1879 wies dieser auf das Motiv hin, das die Regierung veranlaßt habe, den Wehretat für zehn Jahre festzule­ gen. Man müsse eine Regelung vermeiden, die zu jährlichen Auseinandersetzungen zwischen beiden Parlamenten führen werde. Der Monarch hob nachdrücklich her­ vor, daß das österreichische Herrenhaus und die beiden ungarischen Kammern dem Gesetz bereits zugestimmt hätten und daß eine abweichende Stellungnahme des öster­ reichischen Abgeordnetenhauses vom Gesichtspunkt des Staatsinteresses nicht hin­ genommen werden könne 1 7 . Der Druck, der in dieser Beziehung auf die Verfassungs­ partei ausgeübt wurde, wurde durch die Drohung Tiszas verstärkt, dem Kaiser das von beiden ungarischen Kammern verabschiedete Wehrgesetz zur Sanktion vorzule152

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gen, noch bevor das zisleithanische Abgeordnetenhaus entschieden hatte 18 . Die Aus­ einandersetzung, in der die Verfassungspartei eine wesentlich parteipraktisch moti­ vierte Kraftprobe anstrengte, die sie verlieren mußte, beleuchtet gleichwohl die durch den Ausgleich geschaffene Situation: die Beschlüsse des einen Reichsparlaments machten es dem Monarchen unmöglich, jene Konzessionen zu machen, die den Deutschliberalen die Möglichkeit gegeben hätten, jenem umstrittenen § 2 des Wehr­ gesetzes zuzustimmen, für den die Zweidrittelmehrheit notwendig war, ohne ihr Ge­ sicht zu verlieren. Die mit politischen Druckmitteln fragwürdiger Art „zusammenge­ kaufte“ Majorität, zu deren Bildung Taaffe sechs Monate brauchte, nachdem er die Deutschen mit weitreichenden E ntgegenkommen gegenüber den tschechischen Wün­ schen mürbe gemacht hatte, löste das Wehrproblem, legte aber gleichzeitig einen Grundstein für die innere Zersetzung eines Abgeordnetenhauses, in dem sich selbst die Opposition dem Zwang der durch den Ausgleich geschaffenen konstitutionellen Lage beugen mußte. Die grundsätzliche Problematik, die im Dualismus zweier unabhängiger Parla­ mente angelegt war und in der Regel zur Einengung des Entscheidungsspielraums des Reichsrats geführt hat, ist von Alfred von Offermann und von Karl Renner herausge­ arbeitet worden. Renner bemerkte, daß der Ausgleich zwar eine Reihe von Institutio­ nen geschaffen habe, die für die Vereinbarung gemeinsamer Interessen zuständig sei­ en, dagegen kein Entscheidungsorgan, das die Willenseinheit zwischen beiden Staaten gewährleiste. Das sei um so bedeutender, als eine Interessenhomogenität beider Part­ ner nicht vorausgesetzt werden könne. „Zwei souveräne Staaten, die nebeneinander­ gestellt sind, können zufällig einmal ganz gemeinsame Interessen haben, aber keine Garantie besteht für die Dauer dieser Interessengemeinschaft, es ist vielmehr die Ab­ weichung der Interessen der Normalfall'' 19 . Der Verknüpfungspunkt beider Staaten sei allein die Krone; diese aber sei in der Doppelrolle des Königs von Ungarn und Herrschers der zisleithanischen Reichshälfte überfordert, denn die Herstellung des Interessenausgleichs sei nur in absoluten Staaten möglich. In der voll ausgebildeten konstitutionellen Monarchie - Renner bezog sich auf das Beispiel E nglands - sei der Monarch „nur Chef der E xekutive, bevorrechtigter Vollstrecker des Parlamentswil­ lens“ und besitze im Grunde nur jene „vierte, vermittelnde Gewalt**. Renner folgerte aus dieser Überlegung, daß der Ausgleich nur mit einem kräftigen E inschlag absoluti­ stischer E lemente funktionieren könne. „Solange der Absolutismus offen oder ver­ steckt in Österreich fortdauerte, ferner in der Spanne Zeit, für welche er in Ungarn wiedergekehrt ist, solange ist der Dualismus möglich.**20 Die vielbeklagte Prävalenz Ungarns entsprang nach der Auffassung Renners keineswegs nur den vorgegebenen außenpolitischen Interessen der Monarchie und der Loyalität, mit der der Monarch sich den ungarischen Verfassungsgesetzen fügte, sondern war im Ausgleichswerk von Anfang an angelegt. Ähnlich hatte Offermann den Mangel einer „über den souveränen Staaten stehen­ den Zentralgewalt'' hervorgehoben, die im konstitutionellen System nicht durch den Monarchen ausgefüllt werden könne, da dieser ohne die verfassungsmäßig notwen­ dige Zustimmung des Parlaments politisch nicht handlungsfähig sei. „In einer nur völkerrechtlichen Realunion zweier konstitutioneller Staaten ist also die Krone dem 153

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verdoppelten parlamentarischen Antagonismus ausgesetzt, und sie könnte als das ge­ meinsame, aber doppelseitige Organ bei divergierenden Interessen der Staaten die ihr, nicht de jure (verfassungsmäßig), sondern nur de facto, zufallende Vermittlungsrolle bloß in dem Falle erfolgreich und unbefangen ausführen, wenn ihre politische Vor­ herrschaft in jedem E inzelstaate unbestritten fest begründet wäre“ 2 1 . E ine solche Konstellation sei jedoch unwahrscheinlich, da „jedem wirklich konstitutionellen Sy­ stem die Tendenz zur parlamentarischen Vorherrschaft“ innewohne. Die volle E nt­ faltung des parlamentarischen Systems in den beiden Reichesteilen mache die Ver­ mittlungsrolle des Monarchen unmöglich; daher ergebe sich als dritte Möglichkeit ge­ genüber der reinen Parlamentherrschaft und dem reinen Absolutismus nur diejenige, „daß er den Forderungen des seinem E inflüsse entrückten Staates in dem seiner Vor­ herrschaft unterstehenden Staate zur Geltung verhilft“ 22 . Diese Regierungspraxis sei es, die die innere Politik der Österreich-Ungarischen Monarchie maßgeblich be­ stimme und der Praxis der Ausgleichsverfassung entspreche. Off ermann gelangte zum gleichen E rgebnis wie Renner: hätte sich, wie der § 25 des Gesetzesartikel XII von 1867 voraussetzt, in Zisleithanien ein lebenskräftiges parla­ mentarisch-konstitutionelles System gebildet, wäre „die Ausgleichung der bei jeder Erneuerung des Zoll- und Handelsbündnisses divergierenden Interessen der beiden Staaten unmöglich geworden“ und wäre jeder der beiden Staaten eigene Wege gegan­ gen, „Nicht ein wirklich konstitutionelles System in ,Österreich' ist eine Grundbe­ dingung für den Bestand der Union in dem 1867-er Umfange, sondern nur ein schein­ barer Konstitutionalismus, in welchem die Krone der allein ausschlaggebende Faktor bleibt... Nur solange dem allvermögenden ungarischen Parlamente ein solches orga­ nisch schwaches ›österreichisches' Parlament gegenübersteht, dem geringen E inflüsse der Krone jenseits der Leitha ihr überwiegend mächtiger E influß diesseits zu Hilfe kommt, ist der Bestand der Union in ihrem gegenwärtigen Umfange gesichert“ 23 . Diese Diagnose entsprang der richtigen E insicht, daß die Entwicklung zum parlamen­ tarischen Prinzip auf die Dauer nicht abgewehrt werden konnte; die ungarischen Selb­ ständigkeitsbestrebungen ergaben sich folgerichtig aus dieser Tendenz. Off ermann warnte davor, eine Lösung mittels einer weiteren E inschränkung der gemeinsamen Angelegenheiten zu suchen, ohne freilich der Möglichkeit einer bundesstaatlichen Verfassung, die Ungarn weitgehende Sonderrechte nach Analogie Preußens im Deut­ schen Reich geben müßte, viel Hoffnung einzuräumen 24 . Das Bedeutsame dieser zeitgenössischen Analysen der Rückwirkungen des Aus­ gleichs auf die zisleithanische Verfassungsfrage ist darin zu sehen, daß sie den Schlüs­ sel zur Beantwortung des Problems enthalten, warum sich weder Franz Joseph noch die ihm persönlich nahestehenden politischen Gruppen entschließen konnten, durch eine umfassende Reform dem inneren Zerfall der zisleithanischen Monarchie zu be­ gegnen. Der Ausgleich stand einer national-föderativen Verfassungsrefom, die allein Chancen für eine Reintegration der auseinanderstrebenden Nationalitäten und histo­ risch-politischen Individualitäten der zisleithanischen Reichshälfte geboten hätte, nicht nur in dem Sinne entgegen, daß die Magyaren jeden solchen Versuch unter Hinweis auf § 25 des XII. Gesetzesartikels mit der Kündigung des Ausgleichs unter­ binden konnten, wie dies anläßlich der föderalistischen Ziele des Kabinetts Hohen154

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wart-Schäffle der Fall war 2 5 ; vielmehr zerstörte der Ausgleich fortwährend die struk­ turellen Voraussetzungen einer umfassenden Regelung der Nationalitätenfrage, sei es im zentralistisch-autonomistischen Sinne oder auf der Linie eines Territorialen Fö­ deralismus. Die nationalen Kämpfe im alten Österreich waren nicht einfach ein auf den Mangel an rechtlichen Garantien für die kulturelle E ntfaltung der zisleithanischen Nationali­ täten zurückzuführen. Sie erhielten ihre Schärfe durch das wachsende Mißverständnis zwischen sozialer E manzipation und effektiv gesicherter politischer Macht der Na­ tionalitäten. Karl Renner bemerkte 1899 zutreffend, die österreichischen Nationalitä­ ten befänden sich gleichsam im Stande von ,Naturburschen'; sie seien zwar zum aus­ schlaggebenden Faktor in der inneren Politik der Monarchie geworden, staatsrecht­ lich aber gäbe es sie nicht, sondern nur nationale Individuen 26 . Artikel XIX des Staatsgrundgesetzes sicherte allen ,Volksstämmen' freie und ungehinderte national­ kulturelle E ntfaltung zu und garantierte ihnen die zur Ausbildung ihrer Sprache er­ forderlichen Mittel 27 . Abgesehen davon, daß Artikel XIX ohne nähere gesetzliche E r­ läuterung einer höchst unterschiedlichen Auslegung fähig war 2 8 , blieb die Frage of­ fen, welche die politische Form sei, in der die Nationalitäten Ansprüche dieser Art geltend machen konnten. Die Wahlkörper des Kurienparlaments berücksichtigten die nationalen Unterschiede formell nicht; auch in der parlamentarischen Praxis kam es nicht zur Sonderung spezifisch nationaler Materien von den allgemeinen Aufgaben des Parlaments. Karl Renner sah in der fehlenden verfassungsrechtlichen Konstituierung der Na­ tionen eine entscheidende Ursache dafür, daß sich der Nationalitätenkampf zusehend aus einem Kampf für nationale Rechte in den „Kampf der österreichischen Nationen um den Staat“ verwandelt habe 2 9 . Solange die einzelnen Nationen befürchten müß­ ten, daß wesentliche nationale E rrungenschaften durch wechselnde Parlamentsmehr­ heiten oder einseitige Akte der Regierung in Frage gestellt seien, bliebe ihnen nur der Ausweg, sich einen möglichst großen Anteil an der politischen Macht zu sichern. Nur eine grundsätzliche Sicherstellung des nationalen Besitzstandes im Wege parlamenta­ rischer Übereinkunft konnte nach der Auffassung Renners den Nationalitätenkampf aus einem überwiegend mit negativen Mitteln - zur Behinderung des nationalen Geg­ ners - geführten Kampf in einen friedlichen Wettbewerb der Nationen untereinander verwandeln 30 . Sicherlich fiel Renner in dieser Beziehung einer Illusion zum Opfer; das Bestreben der Nationalitäten, politische Macht zu gewinnen, war auch durch die Realisierung seines Programms der national-kulturellen Autonomie nicht einzudämmen. Gleich­ wohl berührte Renners Analyse das Haupthindernis, das einer Zurückdrängung der nationalen Konflikte entgegenstand. Die Nationalitätenfrage war in erster Linie eine Verfassungsfrage, obwohl sie in der Monarchie überwiegend in der Form des Spra­ chen- und Amtssprachenkonflikts, des Minderheitenschulproblems und der nationa­ len Bildungseinrichtungen entgegentrat. Darin lag bereits eine Defomierung der na­ tionalen Politik in Österreich. Das zisleithanische Abgeordnetenhaus wurde zwar immer mehr zum Schauplatz nationaler Konflikte, aber nicht zur Stätte der national­ politisch relevanten E ntscheidungen, die hier in der Regel nur indirekt, im Zusam155

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menhang mit der Bewilligung des Budgets, zur Debatte standen. Die für die Nationen wichtigen E ntscheidungen fielen teils in den Landtagen, teils in dem Bereich der Ver­ waltung, die auf Grund der Organisationsgewalt der E xekutive vorbehalten waren. Die Sprachenverordnungen, die grundlegende E ingriffe in die nationale Machtvertei­ lung bedeuteten und keineswegs sachlichen E rfordernissen, als vielmehr politischen Bedürfnissen entsprangen, fielen nicht in die Zuständigkeit des Abgeordnetenhauses; es konnte zwar nachträglich ihre Aufhebung verlangen, doch wäre die Regierung an diese E ntscheidung formell nicht gebunden gewesen. Die Behandlung der Schulfra­ gen gehörte wesentlich in die Zuständigkeit der Landtage; die deutsch-tschechischen Ausgleichsverhandlungen von 1890 wurden ohne direkte Beteiligung des Reichsrats geführt 31 . Es lag im Sinne der dualistischen Regelung von 1867, daß der zisleithanische Reichsrat ein entscheidendes Instrument der Integration der Nationalitäten und der historisch-politischen Individualitäten bilden werde. Infolge der tschechischen Rechtsverwahrungen, vorher der tschechischen Abstinenz, zugleich der starken inne­ ren Vorbehalte, mit denen die Polen in den Reichsrat eintraten, war diese Funktion von vornherein gefährdet. Die Aufgabe der zisleithanischen Kabinette hätte in erster Linie darin bestehen müssen, alles zu tun, um die Arbeitsfähigkeit des Reichsrats zu gewährleisten und ihm volle konstitutionelle Verantwortlichkeit zu geben. Im Ge­ gensatz zu den Plänen Belcredis und Hohenwarts konnte die Zurückdrängung der na­ tionalen Spannungen nicht von einem Föderalismus crwartet werden, der an die histo­ risch-politischen Individualitäten anknüpfte und die politische Konstituierung der Nationalitäten gerade verhinderte. E ine nationale Reform konnte nur von einem mit weitgehender parlamentarischer Souveränität ausgestatteten Reichstag ausgehen, der die politisch relevanten E ntscheidungen in seine Kompetenz zog. Die Umgestaltung des Reichsrats in ein politisch voll ins Gewicht fallendes Integra­ tionsorgan ist jedoch auf der ganzen Linie gescheitert. Statt daß das zisleithanische Abgeordnetenhaus dahin tendierte, seinen politischen E influß gegenüber der Krone und der ihr unterstehenden Bürokratie tatkräftig durchzusetzen, trat, wie schon Of­ fermann formulierte 32 , „zeitweise eine Art Selbstvernichtung“, eine Selbstausschal­ tung des Parlaments ein, die die kaiserlichen Kabinette zwang, verfassungswidrig mit dem umstrittenen § 14 zu regieren. Die Ursachen dafür, daß sich das zisleithanische Abgeordnetenhaus politisch nicht durchzusetzen vermochte, lagen teils in der über­ kommenen politischen Struktur Zisleithaniens. Sie räumte der Krone und der Büro­ kratie ein hohes Maß politischen E influsses ein. Das Kurienwahlrecht sicherte dem Großgrundbesitz und dem Großbürgertum eine unangemessen starke Stellung. Die Fixierung der gesellschaftlichen Interessen mittels des Kurienwahlrechtes behinderte die Entstehung eines modernen Parteiwesens, die Ausdehnung des Wahlrechts auf die kleine Bourgeoisie bei unzureichender parlamentarischer Vertretung der breiten Mas­ sen der Bevölkerung führte zu einer E motionalisierung der Wahlkämpfe. Die E igen­ ständigkeit der Kronländer wurde durch nationale Konzessionen in der Ära Taaffe noch erweitert. Zugleich aber hat die 1867 geschaffene Verfassungsstruktur die E nt­ stehung eines modernen Konstitutionalismus und das Funktionieren des parlamenta­ rischen Systems entscheidend behindert. 156

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Die dualistische Verfassung bedeutete für die slawischen Nationalitäten einen star­ ken Anreiz, dem Zentralparlament entweder fernzubleiben oder doch die politischen Entscheidungen in den Landtagen zu suchen, in denen sie entweder die Mehrheit be­ saßen oder die Chance hatten, zur Mehrheit zu werden. Trotz der Warnung Palackys vor den Konsequenzen des Ausgleichs für die tschechische Politik 33 und trotz des verhangisvollen Fehlers der Krone, die böhmische Krönung erst zuzusagen und dann zu verweigern, konnte die tschechische Abstinenz von den Reichsratsverhandlungen überwunden werden. Zwar beruhte die dualistische Verfassung in den Augen der tschechischen Parteien nach wie vor auf einem Rechtsbruch, gegen den sie feierlich Verwahrung einlegten, aber sie bot gesteigerte Möglichkeiten, durch direkte E inwir­ kung auf die zentrale Bürokratie nationale Forderungen schrittweise durchzusetzen. Die ursprüngliche Konstruktion des Ausgleichs, die deutsche Vorherrschaft in Zisleithanien zu sichern, wurde nicht nur durch die praktische E ntwicklung widerlegt, sie hat auch das Einleben des konstitutionell-parlamentarischen Systems entscheidend verzögert. Die politische Schwäche des zisleithanischen Abgeordnetenhauses trat in aller Schärfe bei der Behandlung der gemeinsamen Angelegenheiten, insbesondere anläß­ lich der E rneuerung des auf 10 Jahre geschlossenen Zoll- und Handelsbündnisses, hervor. Die Verhandlungen über das Zoll- und Handelsbündnis mit Ungarn führten beinahe regelmäßig zu schweren parlamentarischen Krisen, die auch bei den Anhän­ gern der zentralistischen Verfassung ein Gefühl der politischen Ohnmacht des Abge­ ordnetenhauses hervorrufen mußten. Das zeigte sich bereits 1877. Die Ausgleichs­ vorlagen wurden von der liberalen Mehrheit des Hauses einhellig abgelehnt. Die De­ mission des Ministeriums Auersperg führte zu keiner E ntlastung, da eine sichere Ma­ jorität für die Ausgleichsvorlagen nicht bestand. Die Kraftprobe, die die Deutschlibe­ ralen, in Überschätzung ihres tatsächlichen E influsses, anstrengten, war gleichwohl zum Scheitern verurteilt. Die Okkupation Bosniens und der Herzegowina erfolgte in der bewußten Absicht, die beiderseitigen Parlamente vor vollendete Tatsachen zu stellen. Das Parlament war gezwungen, unter dem Druck der außenpolitischen Ver­ hältnisse, der Unnachgiebigkeit der Krone und der Einwirkung des ungarischen Part­ ners die Mehrforderungen zu bewilligen, ohne seine Verantwortlichkeit für die Rege­ lung der gemeinsamen Angelegenheiten durchgesetzt zu haben. E s blieb bei der unbe­ friedigenden Regelung, daß die Delegationen über ein Budget verfügten, dessen Auf­ bringung die unpopuläre Aufgabe des Reichsrats war. Die Vorgänge von 1877-1879 hinterließen eine geschlagene und zersplitterte deutschliberale Partei. Sie war dem Dilemma, durch die Bildung eines liberalen Kabi­ netts den Fortgang der auf Abbau der feudalen und klerikalen E lemente der österrei­ chischen Gesetzgebung gerichteten Politik sicherzustellen, andererseits für die durchaus unpopulären Ausgleichsvorlagen eintreten zu müssen, nicht gewachsen. Die Haltung der Verfassungspartei ist mit guten Gründen als wirklichkeitsferner Doktrinarismus verurteilt worden, obwohl die Ablehnung der Okkupation von spä­ ter her in ein anderes Licht rückt. E ine andere Haltung der Deutschliberalen hätte je­ doch ihren politischen Niedergang nur verzögern, nicht verhindern können. Denn die Krise von 1877-1879 hatte eine grundsätzliche Seite; sie bewies, daß das Abgeord157

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netenhaus nach Lage der Machtverhältnisse nicht fähig war, seine Rechte hinsichtlich der gemeinsamen Angelegenheiten gegenüber der Krone und der ungarischen Regie­ rung zu behaupten und auszudehnen. Es ist in diesem Zusammenhang nicht möglich, den parlamentarischen Verwick­ lungen und Konsequenzen, die aus der mit dem Dualismus geschaffenen Zwangslage des zisleithanischen Abgeordnetenhauses entsprangen, im einzelnen nachzugehen. E s gelang auch in der Ära Taaffe nicht, den Reichsrat angesichts der wachsenden wirt­ schaftlichen und finanziellen Belastungen des Ausgleichs von einer Politik der Nega­ tion abzubringen. Unabhängig von der politischen Zusammensetzung der zisleithani­ schen Kabinette wurden sie fast unvermeidlich auf den Weg geführt, die Zustimmung zum Ausgleich mit sachfremden Konzessionen an einzelne Parteien und massivem Druck der Krone zu erreichen. „Alle Transaktionen der inneren Politik“, schrieb Of­ fermann 34 , „ mußten jederzeit einzig mit Hinblick auf dieses Hauptziel vollbracht werden.“ E s sei daher ungerechtfertigt, den österreichischen Kabinetten den Vorwurf der Unklarheit und Unbestimmtheit ihres innenpolitischen Programms zu machen; angesichts der Lage, die durch den Ausgleich entstanden sei, wäre nicht nur eine par­ lamentarische Regierung, sondern auch eine andere „als die vielgerügtc Schaukelpoli­ tik“ schlechterdings nicht möglich 35 . Man wird aus der späteren Sicht der Dinge nicht ganz so weit gehen. Der Schein­ konstitutionalismus, der in Zisleithanien praktiziert worden ist, entsprang zu guten Teilen auch politischer Bequemlichkeit und einer verhüllten Kritik am konstitutionel­ len System selbst, das man im Falle des Konflikts mit den sogenannten „Staatsnot­ wendigkeiten“ allzu leicht auszuschalten bereit war. Aber der Druck, der von der dualistischen Verfassung ausging, hat wesentlich dazu beigetragen, daß der natürliche Gegensatz von Parlament und Krone, wie die Vorgänge von 1877-1879 zeigen, stets in schiefer Frontstellung ausgefochten worden ist. Die Konsequenzen der von Taaffe beschrittenen Politik, die Rechte des Abgeordnetenhauses durch administrative Maß­ regeln zu beschneiden, sind den Verantwortlichen kaum klar gewesen, und bis zu Körber hat es an mutigen Ministerpräsidenten gefehlt, die gegenüber dem Kaiser die Interessen des zisleithanischen Abgeordnetenhauses vertraten. Die nationale Postulatenpolitik und das Prinzip wechselnder nationaler Konzes­ sionen ist gewiß nicht ein Resultat der dualistischen Verfassung gewesen, aber es ist unzweifelhaft, daß diese sie wesentlich begünstigt hat. E s ist unbestritten, daß die intransigente Haltung der Deutschen in der Nationalitätenfrage auf die Dauer un­ fruchtbar war. Die Verlagerung des Nationalitätenstreits auf die E bene der Verwal­ tungsorganisation und die Politik der Sprachenverordnungen, die ihrem Wesen nach nicht zu stabilen Lösungen führen konnte, war jedoch zugleich ein Zeichen dafür, daß Taaffe und seine Nachfolger nicht bereit waren, das Zentralparlament als Instrument politischer Integration ernst zu nehmen. Die Methode schrittweiser nationaler Kon­ zessionen zerstörte die Grundlage für eine gesetzliche Lösung, die dem Gesichts­ punkt der Gegenseitigkeit Rechnung trug. Alle nationalen Gruppen, schließlich auch die Deutschen, gewöhnten sich daran, daß es vom Standpunkt der nationalen Taktik zweckmäßiger war, die Regierung in den Fragen, die das Interesse der Krone unmit­ telbar tangierten, politisch unter Druck zu setzen, als im Parlament positive Schritte 158

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zur Lösung der nationalen Antagonismen zu tun. Der Ausgleich mit Ungarn gab das Modell dafür ab; vor dem massiven magyarischen Protest gegen Lösungen, die den Interessen der zisleithanischen Reichshälfte entgegenkamen, wichen die Krone und die österreichische Regierung regelmäßig zurück. Dieses Spiel wiederholte sich, wenn das zisleithanische Abgeordnetenhaus vor die Notwendigkeit gestellt wurde, die fi­ nanziellen Konsequenzen zu tragen und stieß auf die Bereitwilligkeit der Regierung, nationale Sonderinteressen zu befriedigen. Die nahezu unüberwindlich scheinenden Schwierigkeiten angesichts der nationalen Spannungen in Böhmen und bald auch in der Steiermark, zu geordneten innenpoliti­ schen Verhältnissen zu gelangen, lassen eine Politik verständlich erscheinen, die be­ wußt mit diktatorischen Mitteln arbeitete. E s hätte gleichwohl erster Grundsatz der österreichischen Politik sein müssen, die parlamentarische Behandlung der Staats­ notwendigkeiten - der Ausgleichsvorlagen und der Wehrgesetzgebung - von den na­ tionalen Konflikten zu isolieren. Das Gegenteil war der Fall: die Zustimmung zum Ausgleich wurde von den nichtdeutschen Gruppen von der Gewährung nationaler Konzessionen abhängig gemacht. Nationalitätenpolitische Reformen oder Reform­ versuche in Zisleithanien entsprangen daher nicht einer langfristigen Konzeption der jeweiligen Regierung, sondern erwiesen sich stets als illegitime Kinder der vorange­ gangenen Ausgleichsverhandíungen. Taaffes Bemühungen um einen deutsch-tsche­ chischen Ausgleich, die infolge des jungtschechischen Radikalismus scheiterten und seinem Sturz präludierten, war nichts anderes als ein später Versuch, die Folgen der nationalen Konzessionen der Regierung abzuwenden, welche aus Anlaß der Aus­ gleichsverhandlungen von 1886-1887 gewährt worden waren. Den Anfang der Krise bildete der Sprachenerlaß Prazáks an die Oberlandesgerichte in Prag und Brünn, ihren offenen Ausbruch bewirkte der Sprachenerlaß für Böhmen und Mähren vom 23. Sep­ tember 1886, der bezeichnenderweise herausging, bevor der Sprachenausschuß des Reichsrats seine Tätigkeit aufgenommen hatte 3 6 . Diese entscheidenden E ingriffe in das bis dahin geltende Prinzip der deutschen inneren Dienstsprache - wobei ihre Be­ rechtigung dahingestellt sein kann - liegen parallel mit den Beratungen über die Ab­ änderung des allgemeinen Zolltarifs und die Auseinandersetzungen über den Petro­ leumzoll, und sie hatte den Sinn, der Regierung eine sichere Mehrheit für diese um­ strittenen Vorlagen zu schaffen. Der Ausgleich wurde parlamentarisch verabschiedet, dagegen waren die Fronten im deutsch-tschechischen Konflikt verhängnisvoll verhär­ tet. Die Abstinenz der Deutschen vom böhmischen Landtag war die Antwort auf eine im Grunde ziellose Haltung der Regierung in nationalitätenpolitischen Fragen und offenbarte, wie gering das Vertrauen in eine über den nationalen Interessen stehende Regierung geworden war. Die Verhandlungen, die 1886-1887 unter Taaffe über den gemeinsamen Zolltarif geführt wurden, sind für die beengte Lage, in die sich das Kabinett manövriert hatte, bezeichnend. Der Finanzminister Dunajewski hatte sich gegenüber den Ungarn die Hände gebunden. Die Regierung war daher nicht in der Lage, nennenswerte Ände­ rungen am Zolltarif zuzulassen. Da dieser die Ungarn begünstigte, war selbst der sonst so regierungstreue Polenklub erst nach langen Verhandlungen und nach Ge­ währung ökonomischer Kompensationen zur Zustimmung zu bewegen. Taaffe hatte 159

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keinen anderen Ausweg gesehen, als interne Verhandlungen mit den Parteien zu su­ chen und nationale Konzessionen anzubieten. Auch Taaffe war sich darüber klar, daß ein solcher Handel unter Zeitdruck zwar eine kurzfristige E rleichterung bringen konnte, aber keineswegs zu stabilen Mehrheiten führen würde. Angesichts der Not­ wendigkeit, die auf die Zustimmung zum Ausgleich gezogenen politischen Wechsel einzulösen, ergab sich alsbald als eine empfindliche Schwächung des Kabinetts Taaffe, das sich als Beamtenkabinett deklarierte, praktisch aber gänzlich von den Parteien der Rechten abhängig wurde. Die von ihm 1893 vorgelegte Wahlreform traf daher auf den Widerstand von allen Seiten, nicht zuletzt auf den E inspruch der Magyaren, die gegen den österreichischen Ministerpräsidenten erfolgreich bei Franz Joseph intervenier­ ten 37 . Man wird Taaffe - und insofern wird man der eingehenden Würdigung seiner Poli­ tik durch Jenks 3 8 folgen k ö n n e n - nicht das Verdienst absprechen, eine relative innen­ politische Stabilisierung in den anderthalb Jahrzehnten seiner Regierung erreicht zu haben. Sachlich war es geboten, den tschechischen nationalen Forderungen begrenzt zu entsprechen, die tschechische Universität in Prag zu bewilligen, den Ausbau des tschechischen Mittelschulwesens zu fördern und auch in der Amtssprachenfrage von dem doktrinären Grundsatz der deutschen inneren Dienstsprache abzugehen - aber die Methoden, mit denen dies unternommen wurde, führten nicht zu einer Milderung der nationalen Spannungen, sondern mußten umgekchrt die Wirkung haben, alle na­ tionalen Gruppen mit E inschluß der Deutschen dazu zu provozieren, parlamentari­ sche Krisen auszulösen. E s kann kein Zweifel sein, daß in der Ära Taaffe die verfas­ sungsmäßige Stellung des Reichsrats in wesentlichem Umfang ausgehöhlt worden ist. Das war jedoch - und insofern war Taaffe nur eine Figur auf dem Schachbrett, das von anderen Faktoren beherrscht w a r - in der dualistischen Verfassung von 1867 bereits angelegt. Allein der Umfang und die Dauer der parlamentarischen Behandlung der Aus­ gleichsfragen läßt erkennen, wie sehr die übrige gesetzgeberische Arbeit durch sie blockiert worden ist. Das „Gespenst“ des Ausgleichs, die Koordination der prakti­ zierten Gesetzgebung, die Durchbringung von Delegationsbeschlüssen haben die physische Kraft der zisleithanischen Kabinette vorzeitig erschöpft. In der Vielfalt von Delegationswahl, Quoten- und Wehrgesetzdeputationen, der mit dem Ausgleich verbundenen komplizierten wirtschafts- und steuerpolitischen Probleme sind die Ansätze von nationalen Reformen geradezu erstickt worden; die Praxis ergab über­ dies, wie Hanák gezeigt hat 39 , daß für alle relevanten E ntscheidungen eine informelle Gruppe in der Umgebung des Kaisers zunehmendes Gewicht erhielt. Das Interesse der Krone räumte dem Ausgleich mit Ungarn, von dem die habsburgische Groß­ machtstellung abhängig schien, stets Vorrang vor den nationalen Problemen Zisleit­ haniens und selbstverständlich auch Ungarns ein. Der unmittelbare Zusammenhang der E rneuerung des Ausgleichs und der Ver­ schärfung der Parlamentskrise in Zisleithanien tritt am deutlichsten bei der E ntste­ hung der Badenischen Sprachenverordnungen hervor. In seiner detaillierten Analyse dieser schicksalsentscheidenden E tappe in der E ntwicklung der Österreichisch-Un­ garischen Monarchie hat Berthold Sutter gerade auf diesen Zusammenhang entschei160

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denden Nachdruck gelegt. Badeni war, wie Sutter darlegt, „von der Vorstellung be­ sessen, daß er für den Ausgleich mit Ungarn eine feste Majorität brauche und daher die Tschechen gewinnen müsse“. E s ist strittig, ob dies in der damaligen Situation er­ forderlich gewesen ist: Molisch hat die Ansicht vertreten, Badeni hätte „ebenso wie bisher weiterarbeiten können“, und es spricht manches dafür, daß die deutsch-böh­ mischen Abgeordneten am E nde doch aus wirtschaftlichen Beweggründen vor einer parlamentarischen Ablehnung der Ausgleichsvorlagen zurückgescheut wären 4 0 . Ba­ deni mag auch vom Gedanken bestimmt worden sein, auf der Grundlage einer festen Regierungsmehrheit bei den Quotenverhandlungen erfolgreicher zu sein. Aber das entscheidende, wenn auch kurzsichtige Motiv Badenis war doch, daß man durch Schaffung vollendeter Tatsachen, die die Deutschen schließlich „schlucken“ würden, aus der unbequemen Situation herauskam, daß die Regierung sich schließlich doch auf bestimmte Fraktionen des Hauses stützen mußte und damit nach Auffassung Badenis kein „konstitutionelles“, über den Parteien und Nationen stehendes Kabinett dar­ stellte. Das war eine für die Mentalität der Umgebung des Kaisers bezeichnende Vor­ stellung von dem Verhältnis zwischen Regierung und Parlament. Mit dem Junktim von Sprachenverordnungen und Ausgleich befolgte Badeni ein politisches Rezept, das von seinen Vorgängern stammte, nur fehlte dem ehemaligen Statthalter von Galizien die Kenntnis der parlamentarischen Partner und das notwen­ dige Fingerspitzengefühl, um es „erfolgreich“ anzuwenden. Kramáf hat Badeni mit der Bemerkung zu verteidigen gesucht, daß es eine Ungerechtigkeit sei, diesem zu un­ terstellen, er habe die Sprachenverordnungen nur veranlaßt, „um sich der böhmischen Stimmen für den österreichisch-ungarischen Ausgleich zu vergewissern« 41 . Obwohl die Sprachenverordnungen in ihrer ursprünglichen Fassung in vieler Hinsicht sachlich vertretbar erscheinen, entsprangen sie nicht dem Motiv, eine nationale Befriedigung auch nicht auf lange Sicht - zu erreichen, sondern sie hatten eine ausschließlich takti­ sche Funktion. Das geht auch daraus hervor, daß Badeni in den späteren Verhandlun­ gen mit dem Tschechenclub schwerwiegende und sachlich nicht zu rechtfertigende Konzessionen allein deshalb gemacht hat, weil sonst sein Ziel, eine rechtzeitige Ge­ währ von tschechischer Seite zur Zustimmung zu den Ausgleichsvorlagen zu erhalten, unerreichbar gewesen wäre. Badeni sprach offen aus, daß die Ausgleichsvorlagen so oder so angenommen werden müßten, und wahrte nicht einmal das parlamentarische Dekor. Durch seine ultimativen Forderungen, die praktisch darauf hinausliefen, den Ausgleich dazu zu benützen, durch Schaffung einer breiten Mehrheit die politische Unabhängigkeit des Kabinetts vom Parlament zu verstärken, machte sich Badeni zum Gefangenen einer von ihm gar nicht gewünschten parlamentarischen Mehrheit der Rechten. Im Grunde verhielt sich Badeni als „Kaiserminister“ schlechthin; er ging durchweg von den spezifischen Interessen der Krone aus. Aus dem bei Sutter 42 wiedergegebe­ nen Ministerratsprotokoll vom 4. April 1897 tritt der Sachverhalt klar hervor, daß sich Kaiser Franz Joseph ausschließlich vom Gedanken an die E rledigung des Ausgleichs und der Militärvorlagen, die sachlich ja eng zusammenhingen, leiten ließ, während auch er die Regelung der bömischen Frage vornehmlich unter dem Gesichtspunkt be­ trachtete, wie sich eine Mehrheit für die Ausgleichsvorlagen erreichen ließe. Der Kai161 11

Mommsen, Arbeiterbewegung

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ser bemerkte ganz richtig, daß man vielleicht gar nicht erst hätte versuchen sollen, eine feste Mehrheit zu schaffen - in der Tat strebte auch Badeni keine Mehrheit im Sinne einer festen parlamentarischen Verwurzelung der Regierung an - aber er stellte sich trotz der scharfen Kritik einzelner Minister an dem Vorgehen Badenis hinter seinen Ministerpräsidenten. Badeni setzte sich auch über die unüberhörbaren Warnungen von deutscher Seite, nicht zuletzt über den Rat Chlumeckys hinweg, die insbesondere das Verfahren bemängelten, die deutschen Parteien unzureichend und teilweise unzu­ treffend über die sprachenpolitischen Pläne zu unterrichten. Darin zeigte sich, daß Badeni die Sprengkraft des Sprachenstreits in Böhmen völlig unterschätzte, wie er auch - und er war hierin ein Repräsentant der bei Hofe herrschenden Mentalität - das Abgeordnetenhaus mit dem üblichen Instrumentarium - Beeinflussung und Beste­ chung der Presse, persönlicher Druck auf die Abgeordneten, strafrechtliche Verfol­ gung der Reichsratsmitglieder wegen regierungsfeindlicher Äußerungen nach Ses­ sionsschluß, Auflösung regierungsfeindlicher Versammlungen, schließlich durch straffe Reform der Geschäftsordnung - sich gefügig machen zu können glaubte. Es gelang Badeni nicht einmal, vom Tschechenclub völlige Sicherheit zu erhalten, daß dieser die Regierung rückhaltlos unterstützen werde, nachdem er eine deren Wünsche weitgehend erfüllende Sprachenverordnung für Böhmen und eine gleiche für Mähren in Aussicht gestellt hatte 43 . Indessen war nicht nur die Taktik Badenis, die Tschechen zu gewinnen und die gemäßigten Deutschen nicht abzustoßen, gänzlich verfehlt; vielmehr war seine Politik grundsätzlich gesehen widerspruchsvoll und ohne jede weiterreichende Zielsetzung. Wenn man einerseits am Prinzip der einheitlichen deutschen Armeesprache unter allen Umständen festzuhalten entschlossen war, konnte man nicht gleichzeitig die Amtssprachenfragc zu einem Kompensationsobjekt der Parteien herabwürdigen. Aber auch abgesehen von diesem Widerspruch, auf den der Kriegsminister im Kabinett ausdrücklich hinwies, war es schlechthin widersinnig, das Verordnungsrecht der Regierung zu einem indirekten Werkzeug der Durchset­ zung von Parteiinteressen zu machen. Die Sprachenverordnungen einerseits aus weit­ reichenden Verhandlungen mit dem Tschechenclub hervorgehen zu lassen, anderer­ seits aber die darin geregelten nationalen Materien der parlamentarischen Beratung und Beschlußfassung zu entziehen, war die tatsächliche E rsetzung der Souveränität des Parlaments durch eine Nebenregierung einflußreicher Parteien. Es war daher eine Farce, eine arbeitsfähige Mehrheit im Parlament dadurch schaffen zu wollen, daß man es vor vollendete Tatsache stellte. Die manipulatorischen Metho­ den, die man auf deutscher Seite nicht ganz zu Unrecht als „Roßtäuschermanieren“ hinstellte, führten am Ende zu einer massiven Schwächung der Regierung. Das Hand­ schreiben Franz Josephs vom 4. Mai 1897, in dem er die Demission des Kabinetts Ba­ deni zurückwies, beleuchtet die üblich gewordene Unterstützung der im Abgeordne­ tenhaus repräsentierten politischen Kräfte. Der Monarch hob hervor, „daß eine von mir gewählte Regierung, unbeirrbar durch zeitweilige Parteischwierigkeiten, ihre Tä­ tigkeit ausschließlich durch das allgemeine staatliche Interesse bestimmen lasse“ 44 . Dabei konnte kein Zweifel daran sein, daß es sich bei der von Badeni geschaffenen parlamentarischen Konstellation nicht um „zeitweilige Parteischwierigkeiten“ han­ delte, sondern um eine strukturelle Krise des zisleithanischen konstitutionellen Sy162

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stems, welche die Anhänger des Zentralismus und der bestehenden Verfassung in die Opposition drängte und zu einer widersinnigen Mehrheitsbildung führte. Diese Krise ging nicht zuletzt auf den Widerspruch zurück, einen Parlamentarismus nach außen (gegenüber Ungarn) durch einen verhüllten Absolutismus im Innern funktionsfähig zu erhalten. Auch für die Nichtannahme der Demission Badenis spielten, wie Sutter an Hand der Kabinettsprotokolle nachweist 45 , die Ausgleichsverhandlungen eine entschei­ dende Rolle. Badeni hatte die Verhandlungen mit den Magyaren geführt und, abgese­ hen von der Quotenfrage, zum Abschluß gebracht, allerdings mit vom Standpunkt der zisleithanischen Reichshälfte aus dürftigen Resultaten. Die Ausgleichsvorlagen konnten kaum von einem anderen Ministerium parlamentarisch eingebracht werden, zumal sich, wie Sutter bemerkt, „auch nur unter den größten Schwierigkeiten ein Staatsmann“ hätte finden lassen, „der diese E rbschaft zu übernehmen bereit war, selbst wenn er vom Vertrauen der Krone und dem der parlamentarischen Majorität getragen worden wäre“. Badeni hatte nicht einmal den Versuch gemacht, die zu er­ wartenden parlamentarischen Schwierigkeiten in den Verhandlungen mit der ungari­ schen Regierung ins Feld zu führen. So hatte er die Anträge im Reichsrat auf Kündi­ gung des Zoll- und Handelsbündnisses, die durchaus taktischen Sinn hatten, nicht verwertet 46 . Die katastrophalen Folgen des Badeni-Experiments sind bekannt. Sie führten nicht nur zu einer tiefgreifenden Verfassungskrise in Zisleithanien. Darüber hinaus ver­ schärften sie die Spannungen zwischen beiden Reichshälften. Die E nttäuschung über die innenpolitische Stagnation schlug nicht nur bei den Christlichsozialen in eine of­ fene Magyarenfeindschaft um. Andererseits gab die Unmöglichkeit, die Ausgleichs­ vorlagen parlamentarisch zu verabschieden, den Magyaren freie Hand, um wesentli­ che Sonderinteressen durchzusetzen. Die verhängnisvollsten Auswirkungen hatte die Badenikrise in der unerwarteten revolutionären Zuspitzung der nationalen Gegensät­ ze. Angesichts der völligen politischen Diskreditierung des Abgeordnetenhauses wurden die nationalen Gruppen wechselseitig zur Obstruktion veranlaßt, die, indem sie die zisleithanische Verfassung als solche in Frage stellte, das einzige Mittel zu sein schien, um eine nach dem § 14 schielende Regierung zur E rfüllung von politischen Versprechen zu zwingen. E s hätte oberster Grundsatz der kaiserlichen Regierung sein müssen, so weitgehende Maßregeln, wie die Badenischen Sprachenverordnungen, aus dem Zeitdruck, der durch die Kündigung des Zoll- und Handelsbündnisses entstand, herauszunehmen und als Bestandteil einer angestrebten Gesamtlösung, die nur auf ge­ setzlichem Wege erreichbar war, zu behandeln. Davon konnte bei Badeni keine Rede sein. Die Badenikrise machte die weitgehende Abhängigkeit der zisleithnischen inneren Politik von den Problemen des Dualismus offenkundig. Die Weigerung der ungari­ schen Regierung, eine Verabschiedung der Ausgleichsvorlagen nach § 14 anzuerken­ nen, stand im Hintergrund der Bemühungen der wechselnden nachbadenischen Ka­ binette, die Arbeitsfähigkeit des zisleithanischen Abgeordnetenhauses wiederherzu­ stellen. Schon deshalb kam die Sprachenpolitik der Regierungen über ein wider­ spruchsvolles Lavieren nicht hinaus, auch wenn sich die richtige E rkenntnis durch163

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setzte, die Gautsch'schen Sprachenverordnungen, die an die Stelle der Badenischen getreten waren, durch ein Sprachengesetz zu ersetzen 47 . Körber charakterisierte die beschränkte Bewegungsfreiheit der zisleithanischen Kabinette in einer Bemerkung zu Baernreither: „In Österreich ist so lange keine ordentliche Regierung möglich, so­ lange von Zeit zu Zeit der ungarische Ausgleich alles in Frage stellt und die Regierun­ gen zu Verhandlungen und Konzessionen nötigt.“ 4 8 Wie entschieden die nationalen Parteien die Zwangslage der Regierung in den Ausgleichsmaterien auszunützen be­ strebt waren, hat Kramáf, der gewiß zu den gemäßigten tschechischen Politikern ge­ hörte, offen eingestanden, wenn er in den „Anmerkungen zur böhmischen Politik“ zur Rechtfertigung der tschechischen Billigung der Vornahme der Delegationswahlen die Formulierung einflocht, „wir wollten Dr. Körber das Messer an die Kehle erst beim Ausgleich setzen“ 49 . Körber war bemüht, den schiefen Weg der nationalen Teil­ konzessionen zu vermeiden, ohne diesen Grundsatz allerdings ganz durchzuhalten, und tat dies auf Kosten einer starken Beeinflussung der Presse gegen das Parlament. Nach gleichwohl hoffnungsvollen Ansätzen stürzte Körber im Grunde wieder über den Gegensatz zu Ungarn. Nachdem die Nachgiebigkeit der Krone gegenüber dem ungarischen Reichstag eine Bloßstellung in der umkämpften Frage des Rekrutenkon­ tingents für das zisleithanische Abgeordnetenhaus gebracht hatte, wurde Körbers Stellung infolge der Intervention Szélls und Kállays gegen seine Plane einer Parla­ ments- und Wahlrechtsform unhaltbar, zumal auch ihm nicht gelungen war, für den Badenischen Ausgleich, an dem Franz Joseph starr festhielt, eine Mehrheit zu fin­ den 50 . Überblickt man die politische E ntwicklung der österreichischen Reichshälfte von 1867 bis 1907, wird man die Auffassung, daß die dualistische Regelung maßgebend dazu beigetragen hat, die E ntstehung eines funktionsfähigen konstitutionell-parla­ mentarischen Systems zu verhindern, kaum zurückweisen können. Gewiß bildete der Ausgleich mit Ungarn von 1867 nur einen Faktor unter den Ursachen der latenten, seit 1897 offenen Verfassungskrise der „im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder“. Die Selbstausschaltung des zisleithanischen Abgeordnetenhauses beruhte zunächst auf der Unvernunft der nationalen Parteien, die der Dynamik einer „kumu­ lativen Opposition“ 51 erlagen, darunter vor allem der deutschen Liberalen, die blind an politischen Privilegien festhalten wollten, die ihnen nur ein kryptoabsolutistisches System, wie es Schmerling ausgebildet hatte, sicherstellen konnte. Aber die Arbeits­ unfähigkeit und vorher der mangelnde Wille, sich politisch in den Vordergrund zu spielen, wodurch sich der Reichsrat grundlegend von den Parlamenten anderer kon­ stitutioneller Staaten unterschied, waren auch das Resultat einer unzureichenden Ver­ fassungskonstruktion, die die Anpassung an veränderte innenpolitische Kräftever­ hältnisse und den vordringenden demokratischen Gedanken nicht zuließ. Daß das allgemeine Wahlrecht, von dem weite Kreise eine Regenerierung des öster­ reichischen Abgeordnetenhauses erhofften, auch wieder auf dem Umwege einer Aus­ gleichskrise in Österreich gesetzlich eingeführt werden konnte, widerlegt diese Beob­ achtung nicht. Auch für die Wahlrechtsreform war die ungarische Frage der entschei­ dende Motor, während die an sich richtige Forderung von deutscher Seite, die Wahl­ reform mit umfassenden nationalen Reformen zu koppeln, erst in die zweite Reihe 164

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rückte. Wenn es Ministerpräsident Baron Beck gelang, die Ausgleichsvorlagen 1907 parlamentarisch zu verabschieden und den Ausgleich durchzuführen, womit der Ex-Lex-Zustand der Széllschen Formel beseitigt werden konnte, so war dies durch die vorübergehende Schwächung der ungarischen Regierung wesentlich erleichtert. Auch für die Regierung Beck galt die fragwürdige Regel, daß die politische Qualifika­ tion eines österreichischen Ministerpräsidenten in den Augen der Krone vor allem da­ von abhing, ob er imstande war, die Ausgleichsmaterien zu regeln. Die großen Schrit­ te, die unter Beck in Richtung auf ein funktionierendes parlamentarisches System ge­ tan worden sind, wurden nicht nur durch den unheilbaren deutsch-tschechischen Konflikt gebremst, sondern auch durch das zunehmende Desinteresse der Krone. Letztlich war der Sturz dieses fähigsten österreichischen Ministerpräsidenten darauf zurückzuführen, daß man in offiziellen Kreisen nach der E rledigung der gemeinsa­ men Angelegenheiten wenig Interesse daran hatte, der Politik einer Reaktivierung des Parlaments und der Reform der Landtage zuzustimmen 52 . Die Neigung, sich der be­ quemeren Herrschaft mit dem § 14 zu bedienen und die entscheidenden Materien auf dem Verordnungswege zu regeln, mußte die parlamentarischen Verfallstendenzen ge­ radezu unterstützen. Becks Wort, daß man auch „parlamentarisch wollen“ müsse, traf genau den Tatbestand, der dazu führte, daß das zisleithanische Staatswesen in die schwere Belastung des ersten Weltkriegs mit teils funktionsunfähigen, teils ausge­ schalteten parlamentarischen Institutionen trat, und es ist keine Ironie, sondern eine Folgerichtigkeit der österreichischen inneren E ntwicklung, daß das Zentralparlament im Frühjahr 1917 vor allem deshalb einberufen wurde, weil die E rncuerung des Aus­ gleichs zum parlamentarischen Verfahren zwang - im übrigen stellte man sich darauf ein, mit Oktrois zu regieren. Die spekulative Frage, ob eine Reform der zisleithanischen Verfassung möglich gewesen wäre, die das Verlangen der Völker, ihre wesentlichen Angelegenheiten selbst zu regeln, da eine noch so liberale Nationalitätengesetzgebung eine positive Si­ cherung ihrer Interessen nicht darstellen konnte, mit den Bedürfnissen des Gesamt­ staats und den Wünschen der Krone in E inklang hätte bringen können, läßt vielleicht eine Teilantwort zu: eine derartige Lösung konnte nur mittels eines tatsächliche poli­ tische Verantwortung tragenden Zentralparlaments erreicht werden. Nur dieses hätte ein Gegengewicht gegen den E inspruch Ungarns und die zentrifugalen Bestrebungen der Nationalitäten bilden können, welche die historischen Kronländer nach magyari­ schem Vorbild zu Bastionen nationaler Macht auszubauen bestrebt waren. Da aber die zisleithanische Reichshälfte gegenüber Ungarn im „Zugzwang“ blieb, war allen Ansätzen zum nationalen Ausgleich die institutionelle Grundlage entzogen, auf der sie hätten wirksam werden können, und mußte der zisleithanische Reichsrat, statt ein Instrument politischer Gestaltung zu sein, zu einem Hebel der Disintegration des Na­ tionalitätenstaates werden.

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8. Das Problem der internationalen Integration in der böhmischen Arbeiterbewegung Für die Erforschung der Ursachen und Formen des Nationalitätenkonfliktes im al­ ten Österreich ist die sorgfältige Analyse der Entwicklungsstufen und Besonderheiten des Industrialisierungsprozesses in den böhmischen Ländern von grundlegender Bedeutung. Wie sehr wirtschaftliche und damit untrennbar verknüpfte soziale Fakto­ ren die Nationalitätenpolitik des habsburgischen Vielvölkerstaates beeinflußt haben, hat mit als erster der führende Theoretiker des Austromarxismus, Otto Bauer, nach­ zuweisen versucht, jedoch ist die bürgerlich-liberale Geschichtsschreibung ihm hierin kaum gefolgt. Nach der bisherigen herrschenden Meinung kommt den sozialen und wirtschaftlichen Faktoren für die Nationalitätenkonflikte im alten Österreich viel­ mehreine nur untergeordnete Rolle zu. E in so herausragender Fachmann wie Harold Steinacker hat geglaubt, den wirtschaftlichen Faktoren überhaupt keine Bedeutung für den Nationalitätenkampf zumessen zu können, und der bereits erwähnte Natio­ nalökonom und Soziologe Friedrich Hertz hat die Auffassung vertreten, daß die wirt­ schaftlichen Tendenzen ganz überwiegend im Sinne der Stabilisierung des Völkerstaa­ tes eingewirkt hätten. So wenig hier einer marxistischen sozialökonomischen Analyse das Wort zu reden sein wird und so wenig die Macht der wirtschaftlichen Verhältnisse einseitig für die Gestaltung der politischen Konstellationen in Anschlag gebracht werden darf, so sehr erfordert eine Analyse des österreichischen Nationalitätenpro­ blems eine vorausgehende Untersuchung der soziologischen und wirtschaftlichen Bedingungen. Im folgenden soll dieser Frage am Beispiel der Beziehungen zwischen der deutschen und tschechischen Sozialdemokratie in den böhmischen Ländern nachgegangen wer­ den 1 . E s ist eine bekannte Tatsache, daß die österreichische internationale Sozialde­ mokratie mit dem Anspruch aufgetreten ist, die einzige staatserhaltende Partei in Österreich zu sein, und daß sie nicht ohne Stolz die Vorwürfe von deutschnationaler und christlichsozialer Seite von der „k. u. k. privilegierten Sozialdemokratie“ bewußt ins Positive gewendet hat. Das Programm der Bewahrung des Vielvölkerstaates be­ durfte in der politischen Alltagsarbeit der Bestätigung im Zusammenschluß eines viel­ sprachigen Proletariats. Daß die Integration namentlich der deutschen und tschechischen Arbeiterschaft in allererster Linie mit der wirtschaftlichen Interessensolidarität zusammenhängt, braucht kaum gesagt zu werden. E s wäre aber falsch, die aus der Tatsache der niedrig bezahlten Lohnarbeit entspringende Interessengemeinschaft des vielsprachigen Pro­ letariats nur für die Entwicklung einer internationalen Arbeiterbewegung in Anschlag zu bringen, vielmehr konnten wirtschaftliche Faktoren die nationale Aufspaltung der Arbeiterbewegung ebensosehr bedingen, wie dies für das Bürgertum selbstverständ­ lich erscheint. 166

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Das Problem der Integration des vielnationalen Proletariats ist eng verknüpft mit den Folgen der industriellen Revolution. Hier ist vor allem hinzuweisen auf die un­ vorstellbar großen sozialen Mißstände in Böhmen und Mähren. Wer heute das Buch von Wollschak (unter dem Pseudonym Teiff en): „Das soziale Elend und die besitzen­ den Klassen“ in die Hand nimmt, der wird finden, daß die sozialen Verhältnisse in Nordböhmen bis in die 80er Jahre hinein durchaus denjenigen des englischen Man­ chestertums entsprochen haben. Diese Dinge ließen sich an unzähligen Beispielen weiter belegen, und ich möchte nur noch ergänzen, daß es in einzelnen Bezirken Nordböhmens eine Kindersterblichkeit von bis zu 50 % gegeben hat. Für uns stellt sich die Frage, warum die für die frühkapitalistische E ntwicklungs­ stufe charakteristischen sozialen Mißstände sich in Böhmen fast durch 40 Jahre hin­ durch gehalten haben. Wir stoßen dabei auf die Besonderheit des böhmischen Pro­ blems, eben die Verknüpfung wirtschaftlicher und sozialer E rscheinungen mit der Nationalitätenfrage. Die Industrialisierung erfaßte ja zunächst nur die Randgebiete des böhmischen Kessels, also nur das deutsche Siedlungsgebiet, während das tsche­ chische Böhmen mit Ausnahme der Bergbaubezirke zunächst rein agrarisch blieb. Nur in Prag zeigten sich unter dem E influß des zunächst noch eine führende Rolle spielenden deutschen Bürgertums frühe industrielle Ansätze. Die Tatsache, daß in den deutschen Industriegebieten Nordböhmens, in denen ursprünglich die Heimar­ beit überwog, schlechte soziale Verhältnisse bestanden, wirkte sich in einer unge­ wöhnlich starken Bevölkerungsauswanderung und in einer rückläufigen Bevölke­ rungsbewegung aus. Die Folge davon war eine doppelte: eine faktisch soziologische wie eine ideologisch-politische. Die Zuwanderung tschechischer Bevölkerung in die deutschen Gebiete und die gleichzeitige Abwanderung deutscher Arbeiter nach Niederösterreich oder nach Deutschland hatte naturgemäß nationalpolitische Folgen. Die Siedlungseinbrüche der Tschechen in die nordböhmischen Gebiete, die im Frühstadium der industriellen Entwicklung geschahen, sind jedoch auf das Ganze gesehen verhältnismäßig gering­ fügig geblieben, und sie haben nur an einzelnen Stellen die Sprachgrenze wirklich ver­ schoben. Denn die mit der industriellen E ntwicklung zusammenhängende slawische Einwanderung setzte sich nicht kontinuierlich fort. Das war ein Resultat der wirt­ schaftlichen E ntwicklung selbst. Man muß sich dazu klar machen, daß die industrielle Entwicklung in ganz Österreich, vor allem aber in den böhmisch-mährischen Län­ dern keinen organischen Prozeß dargestellt hat. Vielmehr setzte eigentlich erst in der Mitte der 60er Jahre der rasche Industrialisierungsprozeß ein, vollzog sich aber nun mit ungeheurer Macht und Geschwindigkeit. E r erfuhr dann am Anfang der 70er Jahre eine gewisse Abschwächung, um dann bis in die 90er Jahre hinein beständig zuzunehmen. Der Industrialisierungsprozeß in Böhmen bewirkte eine erhebliche Bevölkerungs­ verschiebung. Der Zuzug der Landbevölkerung in die innerböhmischen Städte be­ wirkte, daß hier über Nacht die Mehrheit des deutschen Bürgertums verloren ging. Wie umfassend diese Bevölkerungsverschiebung in den Jahrzehnten verstärkter Indu­ strialisierung gewesen ist, zeigt die Tatsache, daß 1890 von den Einwohnern Böhmens und Mährens gut die Hälfte sich nicht mehr an ihrem Heimatort befand. Die indu167

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strielle Revolution war nicht nur eine Revolution im technischen, sondern auch im soziologischen Sinne. Die Fluktuation großer Teile der Bevölkerung brachte es mit sich, daß weithin die althergebrachte Bindung an den Boden und an die Heimat verlo­ ren ging. Das hat die Aufnahmefähigkeit für Ideologien nationalistischer und antise­ mitischer Prägung erheblich vermehrt und hat das ganze gesellschaftliche Gefüge, das bis in die Mitte des Jahrhunderts von einer ständisch-agrarischen Struktur geprägt war, in fortwährende Bewegung gebracht. Das Beispiel Brünns mag zeigen, wie rasch die Bevölkerungsverschiebung vor sich ging: Brünn hatte 1843 2380 Einwohner, 1890 19234, 1910, also innerhalb eines Zeitraums von 20 Jahren, bereits 36 774 E inwohner. Der Zuzug von tschechischer Landbevölkerung in die deutschen Industriegebiete war ein Vorgang, der vom Unternehmertum, das an sich deutschnational dachte, be­ wußt herbeigeführt wurde. Man hatte den Lohndruck durchaus in die Rechnung der frühkapitalistischen Betriebe eingestellt, und man war sogar bestrebt, die Fluktuation von Arbeitskräften noch zu verstärken. Man war weiter daran interessiert, den natio­ nalen Assimilationsprozeß der tschechischen Bevölkerung im deutschen Siedlungs­ gebiet aufzuhalten. Denn indem man den tschechischen von dem deutschen Arbeiter isolierte, beugte man der Gefahr von Arbeiterkoalitionen vor. Die fremde Arbeiter­ schaft war wegen ihrer fehlenden Schulbildung, wegen mangelnder deutscher Sprach­ kenntnissc und wegen geringen politischen Verständnisses nur schwer gewerkschaft­ lich zu organisieren. Die Praxis des Unternehmertums, die Arbeiter in werkseigenen Wohnungen, d.h. provisorischen Unterkünften allerprimitivstcr Art, ohne jede hy­ gienischen E inrichtungen, unterzubringen, gab der sozialen Abschließung nationalen Charakter und verhinderte die Assimilation zum Deutschtum. Weiter wurde der Prozeß der nationalen Assimilation der tschechischen Zuwande­ rer durch die unkluge Reaktion des deutschen Bürgertums beeinträchtigt, welches diese Isolierung bewußt anstrebte und sich mit dem Schlagwort „Wahrung des deut­ schen Charakters der Stadt“ gegen tschechische Minorítätsschulen, gegen tschechi­ sche Firmenschilder und dergleichen wehrte. Die gesellschaftliche Ausschließung der nichtdeutschen Arbeiterschaft führte dazu, daß sie aus dem heimatlichen Gebiet den Kleingewerbetreibenden und den Kleinhändler, schließlich auch den Akademiker nachzog und eine eigene nationale Sozialstruktur entwickelte. Im nordböhmischen Raum entwickelten sich ganz überwiegend Industriedörfer, und ebenso entstehen in den Jahren nach 1860 tschechische Industriedörfer im deutschen Gebiet. Gewiß ver­ lief diese E ntwicklung nicht so rasch, wie man damals auf beiden Seiten anzunehmen geneigt war. Die tschechische Wanderungsbewegung hat bei den deutschen Gruppen und auch bei anderen Nationalitäten den Eindruck hervorgerufen, daß in Österreich eine Slawi­ sierung bevorstehe, daß die Sprachgrenzen in Auflösung begriffen seien. Damals sprach E duard von Hartmann von der Gefahr eines slawischen Wien, damals ent­ deckte man, daß die Geburtenziffern des tschechischen Volkes erheblich höher lagen als die des deutschen. Heinrich Rauchberg hat - leider viel zu spät - diese Frage stati­ stisch untersucht und gelangte zu dem Resultat, daß das zunächst stärkere Bevölke­ rungswachstum bei den Tschechen nicht etwa nach einer verbreiteten Meinung auf eine größere Vitalität der Slawen zurückzuführen war, sondern seine Ursache in den 168

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sozialen Verhältnissen hatte, die durch die Industrialisierung bewirkt worden waren. Damals verbreitete sich auf deutsch-nationaler wie auf tschechisch-nationaler Seite die Auffassung, daß der Prozeß der Slawisierung auf Grund ethnischerUrsachen wei­ terhin ansteigen werde. Tatsächlich aber verlief die E ntwicklung umgekehrt: In dem Augenblick, wo die Tätigkeit der Gewerkschaften und Gewerbeinspektoren eine ge­ wisse Anhebung der sozialen Bedingungen in Deutschböhmen bewirkte, verlor Deutschböhmen seine im Verhältnis zum inneren Böhmen passive Bevölkerungsbi­ lanz. Vielmehr kehrte sich das Verhältnis um, zumal nach 1890 das innertschechische Gebiet in einer gewissen Phasenverschiebung im Vergleich zum deutschen vom Indu­ strialisierungsprozeß erfaßt wurde und sich dessen zunächst negative soziale Folgen im relativen Bevölkerungsrückgang bemerkbar machten. Die Diskrepanz zwischen der gängigen Vorstellung von der Unaufhaltsamkeit des Slawisierungsprozesses und der tatsächlichen ökonomischen E ntwicklung, die seit 1890 den tschechischen Bevölkerungszustrom soweit reduzierte oder regional streu­ te, daß er durch die Assimilationsrate aufgefangen werden konnte, hat wesentlich zur Verschärfung der Nationalitätenkonflikte beigetragen. E s ist eigentümlich, daß man weder auf deutscher noch auf tschechischer Seite den ökonomischen Ursachen der Bevölkerungsverschiebung nachgegangen ist. Nur eine Reihe deutscher Liberaler, vor allem Wollschak, Hainisch und Rauchberg, haben dies verhältnismäßig früh er­ kannt und aus den Bevölkerungsstatistiken gefolgert, daß es in Österreich keine kluge Nationalpolitik gebe, die nicht zugleich Sozialpolitik sei. Es ist in diesem Zusammen­ hang von einigem Interesse, daß ein Mann wie Viktor Adler auf Grund der Kenntnis der ökonomischen und sozialen Grundlagen der Nationalitätenfrage den E ntschluß faßte, sich zum Sozialismus bekennen und an die Spitze der Sozialdemokratie zu tre­ ten. Viktor Adler war davon überzeugt, daß es keinen Sinn hatte, mittels des Deut­ schen Schulvereins und der deutschnationalen Agitation der befürchteten E ntnationa­ lisierung deutschen Landes entgegenzutreten, daß man vielmehr die sozialen Ursa­ chen der Bevölkerungsverschiebungen beseitigen oder doch einschränken müßte. Adler konnte mit dieser Auffassung, in der er sich ursprünglich auch mit Georg von Schönerer vereint wußte, durchaus den Gedanken verbinden, das Deutschtum natio­ nal zu fördern. Denn jede Sozialpolitik mußte sich zunächst zugunsten des deutschen Bevölkerungsclementes auswirken, da es relativ und absolut bei weitem stärker vom Industrialisierungsprozeß erfaßt war als die anderen Nationalitäten und da die Arbei­ terschaft zunächst auch in Nordböhmen vorwiegend deutsch war. E s liegt also eine doppelte Identität vor: die Identität von nationaler und sozialer Bewegung beim Tschechentum und die Identität von Sozialpolitik und Nationalpolitik in den deut­ schen Industriegebieten. Diese Gleichung enthielt die Möglichkeit, eine internationale Arbeiterbewegung in den böhmischen Ländern zu schaffen, die bewußt die Vereinigung beider Nationalitä­ ten in e i n e r politischen sowie gewerkschaftlichen Organisation anstrebte. Um die Anfänge der sozialdemokratischen Integrationspolitik in Böhmen und Mähren zu be­ greifen, ist es notwendig, sich die soziologischen Bedingungen in den einzelnen Indu­ strialisierungsphasen ins Gedächtnis zu rufen. Für die sozialdemokratische Organisa­ tion, die am E nde der 60er Jahre einsetzte, konnte das Lumpenproletariat, d.h. jene 169

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breiten verelendeten Gruppen deutscher wie tschechischer Arbeiter im deutschen und im gemischtsprachigen Gebiet, nicht in Frage kommen. Vielmehr mußte sich die böhmische Arbeiterbewegung ursprünglich auf die Arbeiteraristokratie stützen, die aus den alten handwerklichen Berufen kam und die im Vergleich zu den Massen des ungelernten Proletariats ökonomisch besser gestellt war. Der tschechische Arbeiter im gemischtsprachigen oder im deutschen Gebiet stand nicht nur deutschen Unter­ nehmern, sondern auch deutschen Werkmeistern und Vorarbeitern gegenüber. In dem Moment, wo er sich sozial von der Masse der häufig slawischen, ungelernten Ar­ beiter abhob, war er bereit, national zum Deutschtum zu assimilieren. Sozialer Auf­ stieg und nationale Assimilation oder zum mindesten nationale Indifferenz gingen zu­ sammen. Der E intritt des tschechischen Arbeiters in die der Form nach deutsche so­ zialdemokratische Organisation oder Gewerkschaft bedeutete für ihn zunächst die Anerkennung der nationalen Gleichberechtigung. In der ersten Stufe internationaler Zusammenarbeit der Arbeiterschaft beider Nationen war der Tscheche national zu­ friedengestellt, wenn man ihn gleichberechtigt in die deutsche Organisation aufnahm. Der Internationalismus in den Anfangen der Sozialdemokratie war daher rein formal und bedeutete nicht die Preisgabe des deutschen oder doch ganz überwiegend deut­ schen Charakters der Organisation. Diese Form internationaler Integration genügte für die Zeit bis zur Mitte der 70er Jahre, in der die Arbeiterbewegung im wesentlichen nur eine sozial angehobene Schicht des Proletariats erfaßte, während die fluktuierende ungelernte Arbeiterschaft überhaupt noch nicht gewerkschaftlich und politisch orga­ nisiert werden konnte. Die E rfolge der Gewerkschaftstätigkeit, zugleich aber die Umstrukturierung des Industriebetriebs auf Grund größerer technischer Spezialisierung brachten eine Ver­ änderung der internationalen Integrationsformen in der sozialdemokratischen Bewe­ gung. Während der Industriebetrieb in seiner ersten Entwicklungsphase auf den alten, handwerklich ausgebildeten Arbeiter nicht verzichten konnte, neben ihm aber in gro­ ßer Zahl fluktuierende ungelernte Arbeitskräfte verwandte, ging in der zweiten Stufe eine gewisse Nivellierung innerhalb der Arbeiterschaft vor sich, indem handwerklich vielseitig ausgebildete Kräfte weniger gebraucht wurden und an die Stelle einer fluktu­ ierenden Arbeiterschaft ein schon stärker spezialisierter Arbeiterstamm trat. Für die sozialdemokratische Organisation ergab sich daraus die Notwendigkeit, die Massen der Arbeiterschaft, nicht nur, wie vorher, die Arbeiterelite, einzubeziehen. Die Folge davon war, daß die Organisationen auf die sprachlichen Bedürfnisse Rücksicht neh­ men mußten, da die jetzt einbezogene Schicht nicht mehr selbstverständlich die deut­ sche Sprache beherrschte. Die Tendenz ging jetzt auf eine nationale Untergliederung der Organisation im politischen Raum. Dagegen blieb die Gewerkschaftsorganisation nach wie vor national gemischt. Die Spezialisierung der industriellen Produktion und die Differenzierung der Löhne wirkte sich auf die Dauer auch national aus. Bis zum E nde der 70er Jahre ist das allgemeine Bild derart, daß Deutsche und Tschechen in denselben Betrieben tätig wa­ ren und die internationale Gewerkschaft daher die unerläßliche und unbestrittene Vorbedingung für die erfolgreiche Durchführung von Arbeitskämpfen darstellte. Seit den 80er Jahren setzte aber eine Tendenz zur nationalen Differenzierung der Berufs170

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gruppen hin ein; seit der Jahrhundertwende ist eine weitgehende Trennung der Be­ triebe unter nationalem Gesichtspunkt erreicht. In gewissen Sparten wanderte das deutsche E lement ganz ab, sie blieben den Tschechen vorbehalten. Daraus folgte die Notwendigkeit einer getrennten Organisation der Arbeiterschaft beider Nationalitä­ ten. Seit den 80er Jahren entstanden neben den deutschen Arbeitervereinen selbstän­ dige tschechische Organisationen, die, da sie nicht mehr durch sprachliche Schwierig­ keiten in der Agitation behindert waren, die Masse des tschechischen Proletariats zu erfassen begannen. Die Auswirkungen der nationalen Wanderungsbewegung, des Lohndrucks und der nationalen Reibungen im sprachlichen Mischgebiet haben in der ersten Periode der sozialdemokratischen Parteientwicklung die Disposition für die internationale Zu­ sammenarbeit verstärkt. Die Arbeiterbewegung stand unter der Führung einer Arbei­ teraristokratie, die kosmopolitisch eingestellt war, während die unteren Schichten des Proletariats sich entweder politisch noch gänzlich indifferent verhielten oder aber un­ ter den E influß der nationalistischen kleinbürgerlichen Strömungen gerieten, was vor allem bei den Arbeitern der Konsumgüter- und Nahrungsmittelindustrie der Fall war, also in durchschnittlich kleinen Betrieben, die stark handwerklich geprägt blieben. Die durch die Industrialisierung ausgelöste Wanderungsbewegung hatte also eine na­ tional ambivalente Wirkung: sie verstärkte die nationalistischen Bestrebungen der klein- und großbürgerlichen Gruppen, erzeugte aber demgegenüber bei der Indu­ striearbeiterschaft ein ausgesprochen antinationalcs Bewußtsein internationaler Soli­ darität. Diese E ntwicklung brach jedoch mit dem Beginn der 90er Jahre ab. In dem Maße, wie die Industrialisierung in das tschechische Gebiet hinübergriff, veränderte sich das Verhältnis zwischen deutscher und tschechischer Arbeiterbewegung in Böhmen. Einmal gewann die Industriestadt Prag eine zunehmende Bedeutung innerhalb der tschechischen Sozialdemokratie, während die tschechischen Organisationen Rei­ chenbergs und Brunns, die in engem Zusammenhang mit den deutschen Vereinen ent­ standen, an E influß verloren. Zum andern erhielt die tschechische Arbeiterbewegung ein größeres zahlenmäßiges Gewicht. Gleichzeitig veränderte sich auch der Charakter des Nationalitätenkampfes als sol­ cher. An die Stelle des Minoritätenkampfes im gemischtsprachigen Gebiet trat nun der Völkerkampf, trat, nach der Formulierung Karl Renners, „der Kampf der öster­ reichischen Nationen um den Staat“. Gewannen jetzt die einsprachigen Gebiete, so­ wohl für das Kräfteverhältnis zwischen den Nationen als auch für die politische Zu­ sammenfassung der Nation, steigende Bedeutung, so wurde Prag der Vorort der tschechischen Sozialdemokratie. Man kann fast eine Gesetzmäßigkeit darin erblik­ ken, daß in dem Moment, wo die Führung von Mähren an Prag abgegeben wird, die nationalen Tendenzen innerhalb der tschechischen Arbeiterbewegung zunehmen, die nationalen Selbständigkeitsbestrebungen beginnen und die reibungslose Zusammen­ arbeit mit den deutschen Sozialisten in Frage gestellt ist. E s ist im Rahmen dieser Dar­ legungen unmöglich, die Motive zu erörtern, die dazu führten, daß die tschechische Arbeiterpartei, welche unter der Führung Peckas und Zápotockys in engstem An­ schluß an die deutsche Bewegung entstand, in steigendem Maße nationale Zielsetzun171

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gen in ihr Programm aufnahm. E ine wichtige Rolle spielte dabei der soziale Aufstieg des tschechischen Proletariats, der es erst möglich machte, daß sich die Arbeiter für Schul- und Bildungsfragen interessierten, womit der nationale Schulkampf für die Arbeiterschaft relevant wurde. E ntscheidend war aber für die E ntwicklung des Na­ tionalitätenproblems der Sozialdemokratie, daß die Ausbildung von bürokratischen Parteiapparaten in Prag wie in Wien den Verständigungsprozeß zwischen deutschen und tschechischen Arbeitern erschweren mußte. Die Vorstellung, die man häufig an­ trifft, die Reibungen zwischen deutschen und tschechischen Arbeitern in Böhmen hätten sich vorwiegend innerhalb der Betriebe und im gemischtsprachigen Gebiet ein­ gestellt, ist falsch. Ganz im Gegenteil war die nationale Integration, war das Prinzip der internationalen Solidarität, im gemischtsprachigen Gebiet wie in den national ge­ mischten Betrieben selbstverständlich, und war die proletarische Internationalität hier weniger als irgendwo anders in E uropa bloße Phrase und Lippenbekenntnis. Die nationalen Konflikte innerhalb der österreichischen Arbeiterbewegung hatten ihre Ursache nicht etwa in divergierenden ökonomischen Interessen der einzelnen Orga­ nisationen. Sie waren die Folge des steigenden politischen E ngagements der Sozialde­ mokratie, durch das sie notwendig in die nationalen Kämpfe des Bürgertums hinein­ gezogen wurde. In der tschechoslawisehcn Sozialdemokratie, die, 1878 begründet, die Wirren des Radikalismus der 80er Jahre leichter überstand und sich schon vor dem Hamfelder Parteitag neu konstituierte, setzte sich die Vorstellung durch, daß der tschechische Bevölkerungsüberschuß auf lange Sicht zur territorialen E xpansion führen werde. Als die tschechischen Sozialdemokraten 1897 im Reichsrat, in dem sie durch die Wahlre­ form Badenis zum ersten Mal vertreten waren, die berühmte E rklärung gegen das böhmische Staatsrecht abgaben, da waren ihre Motive nicht einfach nur von interna­ tionalen Gesichtspunkten bestimmt. Für die tschechischen Sozialisten standen inter­ nationales proletarisches Programm und nationale Emanzipationsbewegung immer in engem Zusammenhang. Diese Identität erklärt auch ihre Stellung zum Staatsrecht. Sie wehrten sich gegen das staatsrechtliche Programm nicht zuletzt deshalb, weil sie die tschechischen Minderheiten, die überwiegend aus Arbeitern bestanden, in Wien und Niederösterreich nicht preisgeben wollten. E rst in zweiter Linie war für die tschechi­ sche Stellungnahme die E rwägung maßgebend, daß ein wirtschaftlich isoliertes Böh­ men grauenhafte soziale Zustände aufweisen würde. Die Vorstellung, daß durch die wirtschaftliche E xpansion die tschechischen Minderheiten im deutschen Sprachgebiet weiter anwachsen würden, hat die Politik der tschechischen Sozialdemokraten durchweg beeinflußt. Die Rücksicht auf die tschechischen Minderheiten in den E rbländern bewirkte eine eigentümliche Zwiespältigkeit der nationalen Zielsetzungen der tschechoslowaki­ schen Sozialdemokratie. Als die Gesamtpartei in Brünn 1899 an die Abfassung ihres Nationalitätenprogramms schritt, vermochten sich die tschechischen Delegierten aus Böhmen und diejenigen aus Mähren nicht auf eine einheitliche Linie zu einigen. Dafür war einerseits der mährische Provinzialismus maßgebend, der sich gegen die E inbe­ ziehung in einen böhmischen Zentralismus wehrte und die Verbindungen nach Wien nicht abreißen lassen wollte. Zum andern aber sträubte man sich gegen die Festlegung 172

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eines Nationalitätenprogramms, weil man glaubte, daß die soziale und ökonomische Entwicklung zugunsten der Tschechen verlaufen werde. E ine nationale Abgrenzung, wie sie in Brünn vorgeschlagen wurde, erschien den tschechischen Parteiführern als verfrüht, da sie damit rechneten, daß die tschechischen Minderheiten sowohl in Nordböhmen als auch in Niederösterreich und Wien weiterhin wachsen würden, und damit die Möglichkeit gegeben schien, das tschechische Siedlungsgebiet weiter auszu­ dehnen. Da man auf tschechischer Seite mindestens territoriale Autonomie anstrebte, zum Teil bereits von einem tschechischen Bundesstaat in Österreich träumte, konnte das Personahtätsprinzip nicht befriedigen, owohl es für den Augenblick günstiger schien als das Programm der territorialen Autonomie. Daher versuchte die Prager Parteiführung zunächst, den Programmvorschlag der Gesamtparteivertretung, der unter maßgeblicher Beteiligung Victor Adlers zustande gekommen war, zu verwäs­ sern und das Programm als bloßes Zukunftsprogramm erscheinen zu lassen. Im Grunde wollte man kein Programm, da man eine definitive Lösung des Nationalitä­ tenproblems und eine Feststellung des „nationalen Besitzstandes“ für inopportun hielt. Zwei Gesichtspunkte spielten dabei eine hervorragende Rolle: einmal die er­ wähnte nationale Wanderungsbewegung, zum andern die berechtigte Hoffnung auf ein stärkeres industrielles Wachstum des tschechischen Raumes. Nur die Uneinigkeit in den taktischen Zielsetzungen, die zwischen den mährischen und den böhmischen Delegierten bestand und die die Abfassung eines Gegenpro­ gramms verhinderte, ermöglichte es, daß das Nationalitätenprogramm in Brünn auch von den tschechischen Delegierten einstimmig angenommen wurde. Schon deshalb kam dem Programm wesentlich nur die Funktion eines Integrationsprogramms zu, und auch das war nur beschränkt der Fall, indem Deutsche und Tschechen es bereits verschieden interpretierten, als der Parteitag auseinanderging. Victor Adler war sich darüber im klaren, daß es kaum möglich war, in den Detailfragen wie den bereits poli­ tisch konkreten Problemen, vor allem dem der Minderheitsschulen, zu einer Überein­ stimmung zwischen Tschechen und Deutschen zu gelangen, und er vermied es, wegen dieser unlösbar erscheinenden Fragen einen inneren Parteikonflikt heraufzubeschwö­ ren. Es war nicht nur Prestigepolitik, sondern auch die falsche E inschätzung des Aus­ maßes der österreichischen Binnenwanderung dafür verantwortlich, daß es innerhalb der Sozialdemokratie 1907 über die Frage des tschechischen Mandats in Wien zu ei­ nem schweren Konflikt kam. 1897, vor der formellen Föderalísierung der Partei, hatte Nemec im 12. Bezirk kandidiert. Bei den Wahlen für den nach dem allgemeinen Stimmrecht zu wählenden Reichsrat verlangte die tschechische Führung die Berück­ sichtigung der starken tschechischen Minderheit in Wien durch einen tschechischen Kandidaten. Damals sprach man von Wien als der größten tschechischen Stadt und übersah die Wirksamkeit der nationalen Assimilation, zumal man die offiziellen, nach der Umgangssprache angefertigten Statistiken für verfälscht hielt. Das Problem, daß die Nationalitätsgrenzen fließend und die Minderheitenfragen in ständiger Veränderung begriffen schienen, rückte jedoch seit der Jahrhundertwende in den Hintergrund, wiewohl die nationale Agitation die Minderheitenprobleme, vor allem die Schulfragen, nach wie vor ausschlachtete. Mit dem wirtschaftlichen Aufstieg 173

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der nichtdeutschen Völker, insbesondere der Tschechen, spielte nunmehr in allen Ausgleichsbemühungen die Frage der wirtschaftlichen Abhängigkeit und wirtschaft­ lichen Konkurrenz eine zunehmende Rolle. Negativ galt das vor allem für die verbrei­ teten Methoden des Boykotts, die vielfach nur nationale Parolen zum Deckmantel für wirtschaftliche Interessen der Mittelindustrie, namentlich der Konsumgüterproduk­ tion, nahmen. Daß die nationale Autarkiepolitik im Rahmen eines einheitlichen Wirt­ schaftsgebietes wenig E rfolg haben und gerade ökonomisch nachteilig sein mußte, ist unbestritten. Dagegen aber erschwerten die wirtschaftlichen Fragen alle Ausgleichs­ versuche beträchtlich. Das war um so mehr der Fall, als die nationalen Bestrebungen weithin von privaten Gruppen getragen waren, die der finanziellen Hilfe der Industrie und des Handels bedurften. Die wirtschaftliche Problematik war, wie sich nach der Jahrhundertwende zeigte, der heikelste Punkt bei allen Versuchen nationaler Reform. Das beweist auch die so­ zialdemokratische Nationalitätenprogrammdiskussion. Die Revision des Pro­ gramms, die nach der E rlangung des allgemeinen Wahlrechts und nach dem mähri­ schen Ausgleich notwendig wurde, war nicht zuletzt dadurch erschwert, daß man auf die Frage, wie man einen Ausgleich zwischen den wirtschaftlichen Interessen beider Völker herbeiführen könnte, keine rechte Antwort wußte. Auf den Parteitagen der tschechischen Sozialdemokratie von 1907 und 1909 wies man wiederholt darauf hin, daß die kulturelle Autonomie im Sinne des Brünner Nationalitätenprogramms nicht ausreiche, da die wirtschaftlichen Fragen damit ungelöst bleiben würden. Die Tsche­ chen forderten mit einem gewissen Recht, daß das deutsche Kapital in den tschechi­ schen Gebieten der böhmischen Länder einen Beitrag für die Unterhaltung des tsche­ chischen Schulwesens und der tschechischen kulturellen E inrichtungen zu leisten habe, da die Gewinne der deutschen Unternehmer weitgehend auf der Verwendung tschechischer Arbeitskräfte beruhten. Karl Kramáf hat damals eine „Steuerträger­ theorie“ entwickelt, derzufolgefürdas tschechisch-nationale Steueraufkommen auch das deutsche Unternehmertum herangezogen werden sollte, und zwar im Verhältnis zur Kopfzahl der beschäftigten tschechischen Arbeiter. Diese Maßnahme hätte frei­ lich das wirtschaftliche und finanzielle Übergewicht des deutschen Bürgertums nicht beseitigt, und sie war angesichts der Verflechtungen der großen Wirtschaft technisch kaum durchführbar. Renner hatte zunächst die Frage des nationalen Steueraufkom­ mens vernachlässigt; die Vorwürfe, daß er auf indirektem Wege die Ausbeutung der Tschechen durch die Deutschen unterstütze, waren jedoch nicht gerechtfertigt, zumal Renner seine Vorschläge im Sinne von Kramáf adaptierte. Nichtsdestoweniger zeigte sich, daß die Neuordnungsvorschläge Renners, die etwa in dem agrarischen E stland durchaus konkret verwertet werden konnten, nicht auf die Bedingungen einer mo­ dernen Industriegesellschaft zugeschnitten waren. Die Lösung der wirtschaftlichen Rivalitäten durch die Anwendung der Steuerträ­ gertheorie traf jedoch auch auf politische Schwierigkeiten, die die Ursache waren, daß die tschechische Nationalbewegung darauf nicht wieder zurückkam. Auf dem tsche­ chischen sozialdemokratischen Parteitag in Prag erkannte man recht gut, daß durch die E inführung der nationalen Autonomie unter vollständiger Trennung des nationa­ len Steueraufkommens und Berücksichtigung der Steuerträgertheorie die tschechì174

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schen Ansprüche nicht erfüllt werden konnten. Das war darin begründet, daß die Konzessionspolitik von Badeni bis Körber den Forderungen auf dem Gebiet natio­ nal-kultureller Institutionen so weit nachgegeben hatte, daß das immerhin beträcht­ lich angestiegene tschechische Steueraufkommen auch unter Heranziehung des deut­ schen Unternehmertums niemals dazu ausgereicht hätte, Schulen, Universitäten und Nationaltheater wie die kommunalen Bedürfnisse zu finanzieren. An dieser Frage mußte deshalb jeder Ausgleichsversuch scheitern. Diese wirtschaftspolitischen Konflikte bedrohten in zunehmendem Maße die Inte­ gration der österreichischen sozialdemokratischen Gesamtpartei, ohne freilich aus­ schlaggebend zu sein. In unserem Zusammenhang interessieren im besonderen einige, mit der wirtschaftlichen Gliederung des böhmischen Raums zusammenhängende so­ ziologische Faktoren. Hugo Hassinger 2 hat auf die alte zünftlerische Tradition der böhmischen Bergarbeiter hingewiesen. Das eigentümliche berufsständische Bewußt­ sein, das hier in Anknüpfung an die überkommene Bruderladenorganisation fortleb­ te, hatte für die E ntwicklung der böhmischen Sozialdemokratie und das Problem der internationalen Integration erhebliche Bedeutung. Die Bergarbeiterschaft, die ganz überwiegend tschechisch war, stand im Unterschied zum industriellen Proletariat von vornherein unter dem E influß nationaler Strömungen, ja es kam hier zu dem bemer­ kenswerten Phänomen, daß nationale und anarchistische Strömungen ineinanderflos­ sen. Für die tschechische Sozialdemokratie war es eine wichtige Frage, ob es ihr gelang, die Bergarbeiter, die sich der sozialdemokratischen Agitation unzugänglich zeigten, für den Sozialismus zu gewinnen. Als 1893 in der sozialdemokratischen Führung der Gedanke erörtert wurde, das Wahlrecht durch die Anwendung des Generalstreiks durchzusetzen, erklärten sich die tschechischen Mitglieder der Gesamtparteivertre­ tung entschieden dafür, verlangten aber, daß gleichzeitig für den 8-Stunden-Tag ge­ streikt werde. Denn sonst werde man die Bergarbeiterschaft nicht zum Generalstreik bewegen können. Als die deutsche Parteileitung dies aus taktischen Gründen ablehn­ te, löste das auf tschechischer Seite eine starke Mißstimmung aus; in der Folge be­ mühte sich die Prager Parteiführung, sich von der deutschen unabhängig zu machen. Später kam gerade aus den Kreisen der Bergarbeiter das Bestreben, die tschechische Sozialdemokratie der tschechischen Nationalbewegung einzugliedern. Das führte mit Persönlichkeiten wie Meissner, Modrácek und Soukup zu einer ausgesprochen natio­ nalpolitischen Zuspitzung der tschechischen sozialdemokratischen Politik. Bei­ spielsweise kehrte Modrácek die Marxsche Theorie des internationalen Klassenkamp­ fes um und erklärte, die tschechische Arbeiterschaft habe in Übereinstimmung mit dem marxistischen Programm zunächst die Aufgabe, gemeinsam mit dem Bürgertum einen eigenen nationalen, und das hieß: kapitalistischen Staat zu erkämpfen, und es sei die historische Rolle der deutschen Arbeiterschaft in Österreich, sie bei diesem Kampfe zu unterstützen. E rst nach Beendigung dieses Kampfes sei dann der gemein­ same Klassenkampf der deutschen und tschechischen Arbeiter für die soziale Revolu­ tion möglich. Ganz gewiß zeigte sich hierin, daß im tschechischen Proletariat nationale E inflüsse sich mehr und mehr geltend machten; nichtsdestoweniger enthielt Modráceks Auffas175

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sung insoweit einen berechtigten Kern, als die tschechische Arbeiterschaft naturge­ mäß an der Fortentwicklung der tschechischen Industrie interessiert war. Das tsche­ chische Genossenschaftswesen, das sozialistischen Vorstellungen ziemlich nahe kam, mußte derartige Anschauungen unterstützen. Wenn man einmal einräumte, daß die nationale Autonomie nicht nur für kulturelle Angelegenheiten, sondern auch für die wirtschaftspolitischen Fragen galt, war mit dem Zukunftsprogramm der Sozialisie­ rung der Produktionsmittel keineswegs das Problem des Anteils der Nationalitäten an denselben und an der mit ihnen verknüpften politischen Macht gelöst. Diese Konse­ quenz der Verwobenheit wirtschaftlicher und politischer Fragen stand im Hinter­ grund der schweren innerparteilichen Auseinandersetzungen, die schließlich den Zer­ fall der österreichischen sozialdemokratischen Gesamtpartei herbeigeführt haben. Die österreichische Sozialdemokratie, die formell 1889 als Einheitspartei begründet worden war, faktisch aber bereits eine Sonderstellung von Tschechen und Polen zu­ ließ, wurde 1897 in eine Parteienföderation umgebildet, ohne daß zunächst die ein­ heitliche Vertretung im Parlament und die einheitliche Führung wesentlich beein­ trächtigt worden wären. Diese Föderalisierung war auf politischem Gebiet möglich, auf gewerkschaftlichem aber begegnete sie erheblichen Schwierigkeiten, da Zentrali­ sation Vorbedingung erfolgreicher Arbeitskämpfe war. Wenn andererseits die tsche­ chischen Sozialdemokraten seit der Mitte der 90er Jahre eine selbständige tschechi­ sche Gewerkschaftsorganisation anstrebten, so war neben Prestigemomenten maßge­ bend, daß die Gewerkschaften das finanzielle Rückgrat der Partei darstellten, zumal man erst spät die gesetzlichen Voraussetzungen zur E inhcbung von Mitgliederbeiträ­ gen durch die Partei erlangte. Zugleich aber waren die mit der gewerkschaftlichen Or­ ganisation eng verbundenen Arbeiterbildungsvereine spezifische Träger der nationa­ len Kulturarbeit innerhalb des tschechischen Proletariats. Als die Wiener Reichs­ kommission daran ging, die Gewerkschaftsorganisation zu zentralisieren und die bis­ herigen Berufsverbände durch Industrieverbände zu ersetzen, begegnete sie scharfem Widerstand von tschechischer Seite. Denn die Neuorganisation bedeutete die Ab­ schaffung der alten Arbeiterbildungsvereine, die in Ortsvereine der Gewerkschafts­ kommission Österreichs umgewandelt werden sollten. Der Gewerkschaftsführer An­ ton Hueber bedachte nicht, daß die Arbeiterbildungsvereine im tschechischen Gebiet wichtige nationale Bildungsfunktionen versahen und daß es daher unglücklich war, diese unter deutscher Führung zu zentralisieren. An die Frage der Arbeiterbildungsvereine und das finanzielle Interesse der Partei­ organisation an eigenen Gewerkschaften knüpfen dann die nach 1896 auftauchenden Gewerkschaftskonflikte an, die zunächst zur Gründung einer tschechischen Gewerk­ schaftskommission in Prag mit einem auf Böhmen beschränkten Wirkungsbereich führten. Unter dem E influß der schweren Arbeitskämpfe um die Jahrhundertwende setzte sich die Tendenz zur Vereinigung noch einmal durch, wurde aber, unmittelbar vor den entscheidenden Zusammenschlußverhandlungen, von der erstarkenden na­ tionalistischen Strömung besiegt. In dem schweren innergewerkschaftlichen und in­ nerparteilichen Kampf um die Gewerkschaftseinheit, der auf mährischem Boden aus­ getragen wurde, verbarg sich jedoch neben den auf beiden Seiten - gewiß stärker auf der tschechischen - einwirkenden nationalistischen Kräften ein außerordentlich 176

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schwieriges grundsätzliches Problem. E s handelt sich dabei um die Frage der Hetero­ genität von politischen und wirtschaftlichen Zukunftszielen, die als Grundproblem der deutschen sozialistischen Theorie auch heute nicht ganz gelöst ist. Was die politi­ schen Zukunftsforderungen des sozialdemokratischen Programms anging, so waren sie, unter dem E influß Karl Kautskys und Friedrich E ngels*, bestimmt von der Idee der genossenschaftlichen Organisation, der politischen Selbstverwaltung, und auch bei Marx ist der Gedanke eines dezentralisierten staatlichen Apparates unverkennbar. Der sozialistische Zukunftsstaat tendierte also zu weitgehender Autonomie der ein­ zelnen Bereiche, und es war ganz konsequent, wenn Bauer die Lösung der nationalen Autonomie in einem alle Interessen befriedigenden Sinne erst von der Durchsetzung der sozialistischen Gesellschaft erwartete. Wie aber verhielt sich zu dieser Konzeption die gewerkschaftliche Organisation? Hier richtete sich das Zukunftsziel auf stärkste Zentralisierung des wirtschaftlichen Apparates. Für die tschechischen Sozialisten war aber die gewerkschaftliche Organisation das Rückgrat der späteren Organisation des sozialistischen Staatswesens. Vereinfachend kann man sagen, daß man auf tschechi­ scher Seite nicht einsah, warum man den Kampf für den sozialistischen Staat auf dem Wege zentralistischer Zusammenfassung aller Kräfte führen sollte, wenn danach die deutsche Führung mittels des Zentralismus bestehen blieb. Dem Gewerkschaftskon­ flikt lag daher neben nationalistischen Prestigerücksichten und dem Konkurrenz­ kampf bürokratischer Apparate das grundsätzliche Problem zugrunde, daß wirt­ schaftliche Zentralisierung und nationale Selbständigkeit im Vielvölkerstaat in Wider­ spruch zueinander traten. Dieses Problem, mit dem die austromarxistischen Theoretiker immer wieder ge­ rungen haben, ist weder von Karl Renner noch von Otto Bauer, desgleichen nicht von dem tschechischen Sozialisten Bohumir Smeral, zureichend gelöst worden. Gerade im Zuammenhang mit der österreichischen, speziell der böhmischen Industriege­ schichte ist es von Belang, sich die Frage vorzulegen, wie die Durchführung einer na­ tionalen Föderalisierung mit den wirtschaftlichen Interessen der einzelnen Völker in Einklang gebracht werden konnte. Denn es ist unzweifelhaft, daß die Tschechen auf die Dauer nicht darauf verzichten konnten, eine eigene Industriegesellschaft aufzu­ bauen, und dies mußte notwendigerweise auf Kosten des Deutschtums gehen. Die Tendenzen dazu und zu wirtschaftlicher Autarkie der nationalen Gruppen spiegeln sich in dem Grad der Integration des vielsprachigen Proletariats in der sozialdemokra­ tischen Gesamtpartei Österreichs. Ohne allen Zweifel waren in der österreichischen Wirtschaftsentwicklung positive Tendenzen erkennbar, die der Heterogenität der habsburgischen Ländermasse - des, wie Andrassy es formulierte, „Nationalitäten- und Provinzenmosaiks ohne innere Einheit“ - entgegenwirkten und den Prozeß der sozialen und kulturellen Angleichung beförderten. Indem durch die industrielle E rschließung und die modernen Verkehrs­ mittel die einzelnen Provinzen aneinanderrückten, ergaben sich gewisse Chancen, Zisleithanien in einen dezentralisierten E inheitsstaat umzubilden. Ansätze dazu sind jedoch stecken gebliegen, wie sich das besonders in der Ära Körber gezeigt hat, deren umfangreiche wirtschaftliche Projekte die nationalistischen Ressentiments nicht mehr überwinden konnten. In Verkennung der wahren wirtschaftlichen Interessen, die die 177 12

Mommsen, Arbeiterbewegung

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Nationalitäten zur engen Zusammenarbeit hatten veranlassen müssen, verbreitete sich beim Bürgertum der nichtdeutschen Völker die irrige Vorstellung von einer Aus­ beutung durch das Wiener Großkapital, der sich auch die tschechischen Sozialisten auf die Dauer nicht zu entziehen vermochten. In Wirklichkeit richtete sich die indu­ strielle Erschließung auf alle nationalen Bereiche, ja sie erfolgte seit der Mitte der 80er Jahre vielfach zuungunsten des Deutschtums, da sie sich im Zusammenhang mit einer verringerten Standortgebundenheit der Industrie vorwiegend den „unterentwickel­ ten“ Gebieten zuwandte, in denen das Lohnniveau geringer war als im deutschen Siedlungsbereich. Freilich blieben die krassen sozialen Unterschiede der einzelnen Provinzen, blieb das zivilisatorische Gefälle von West nach Ost, bis zum Untergang der Monarchie weitgehend erhalten. Der Machtkampf der österreichischen Völker entsprach in dem Maße, in dem er auf das Gebiet der Wirtschaft hinüberschlug, durchaus den Strukturen, die sich in der im­ perialistischen E poche in ganz E uropa ausbildeten. An die Stelle der Minderheiten­ konflikte und des Schul- und Ämterstreites trat ein innerstaatlicher Imperialismus. Seine Formen erinnern an die bekannte Definition Schumpeters, der das Wesen des Imperialismus im „objektlosen E xpansionsstreben“ begriffen sah. Tatsächlich ging es den nationalen Gruppen aller Lager darum, die Nationalitätenfrage offen zu halten, nicht sie zu lösen, da sie sich vom Fortgang des nationalen Kampfes, in dem das Deutschtum in der Defensivc war, weiterreichende E rfolge versprachen. Daher ge­ langten die allen Nationen gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen in der Phase des innerstaatlichen Imperialismus, die nationalistische und antisemitische Massenideo­ logien freisetzte, nicht zur Geltung, sie wurden vielmehr einseitig in den Dienst na­ tionalistischer Bestrebungen gestellt. E s war der Monarchie nicht mehr beschieden, daß diese Ubergangsstufe durch die Ausbildung eines stärker stationären, hochkapi­ talistischen Wirtschaftssystems überwunden wurde. Die österreichische, international geeinigte Sozialdemokratie hat diesen Prozeß, der in manchem den Strukturen der untergehenden Weimarer Republik ähnelt, nicht überstanden und scheiterte an dem Problem, die tschechischen Separationswünsche mit den Interessen der Gesamtbewegung zu vereinbaren. Sie hat mit wechselnden Mitteln und unermüdlicher Ausgleichsarbeit versucht, den politischen Zusam­ menschluß der Arbeiterschaft von acht Nationalitäten zu verwirklichen, ohne die vi­ talen nationalen Interessen zu verleugnen. Daß dies bis 1905 im wesentlichen gelang, war vor allem das Verdienst Victor Adlers. Ursprünglich von deutschnationaler E in­ stellung, wurde er im Lauf der E ntwicklung zum unparteiischen Vermittler, der im­ mer wieder für die berechtigten Wünsche der nichtdeutschen Gruppen eintrat. Seine Vermittlungskunst zerbrach freilich an der Gewalt der nationalistischen Leidenschaf­ ten, die sich nach 1905 auch in der tschechischen Sozialdemokratie durchsetzten. Für die ungeheure Schwierigkeit, in der nationalen Hochspannung der Jahre nach dem Scheitern des böhmischen Ausgleichs zur Verständigung zu gelangen, mag an dieser Stelle eine etwas gereizte Äußerung Adlers von 1911 stehen, die zugleich auch ein kla­ res Licht auf die Leistung wirft, welche der nationale Ausgleich innerhalb der Arbei­ terbewegung bedeutet hat. „Nun ist's mit den Tschechen ein Jammer, weil sie alle La­ ster der kleinen Nation haben: eine fabelhafte E itelkeit u(nd) eine unleidliche Manie 178

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des ewig Gekränktseins. Sie waren unterdrückt, das ist wahr, aber sie verlangen dafür fortwährend Kompensationen von uns vor allem, die wir nach ihrer Meinung die Pflicht hätten, uns an die Spitze des Kampfes für ihre nationalen Forderungen zu set­ zen. Das meinen sie im E rnst, ganz naiv drücken sie das mit dem Schlagwort der ,Ge­ rechtigkeit' aus - ein Wort, das man ebenso hassen lernt, wie das Wort,Gleichberech­ tigung', wenn man dazu verdammt ist, ein Österreicher zu sein!“ Gewiß ist die Nationalitätenpolitik der österreichischen Sozialdemokratie nicht in allem konsequent gewesen und vielfach von irrigen Voraussetzungen ausgegangen. Dennoch bleibt dieser Partei das Verdienst, durch vier Jahrzehnte hindurch eine vor­ bildliche Ausgleichs- und Vermittlungsarbeit zwischen den Nationalitäten innerhalb und außerhalb ihrer Organisation durchgeführt und den Versuch gemacht zu haben, durch gewiß nicht in allen Punkten realisierbare, aber im Ansatz fruchtbare Reform­ vorschläge das ihrige zu einer Lösung des habsburgischen Nationalitätenproblems beizutragen. Daß alle diese Lösungsvorschläge erst spruchreif wurden, als sich der ge­ samte gesellschaftliche Unterbau im Gefolge der verspäteten, aber um so hastigeren industriellen E xpansion im Umbruch befand und emotionale Triebkräfte wie wirt­ schaftspolitische Friktionen eine organische Umbildung des überalterten Staatswe­ sens in Anpassung an die Bedürfnisse der mündig gewordenen „unhistorischen“ Na­ tionalitäten verhinderten, gehört zur Tragik der österreichischen Arbeiterbewegung sowohl wie der des habsburgischen Staates. Nichtsdestoweniger haben die Ansätze zu umfassender Reform und zur E rkenntnis der sozialen und wirtschaftlichen Grundla­ gen der Nationalitätcnkonflikte auch heute Bedeutung, so wenig sie einer Aktualisie­ rung zugänglich sind.

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9. Victor Adlers Weg zum Sozialismus Die Hinwendung des Wiener Nervenarztes Dr. Victor Adler zur sozialistischen Arbeiterbewegung unterscheidet sich von den bürgerlichen Konversionen zum Mar­ xismus, die sich während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts häuften. Adler vollzog die politische Kehrtwendung auf der Höhe seines Lebens, nachdem er in der deutsch-liberalen Partei bereits eine prominente Stellung erreicht hatte. Seinem Schritt lagen auch keine Karrieremotive zugrunde, ebensowenig jene unklaren philan­ thropischen Neigungen, die bei bürgerlichen Renegaten nicht selten den Ausschlag gaben und die sein Biograph Max Ermers 1 fälschlich auch für ihn in Anspruch nimmt. Der E ntschluß des späteren Führers der österreichischen Sozialdemokratie, aus dem deutschnationalen Lager zu dieser überzuwechseln, ging auch nicht allein auf das konkrete sozialreformerische Interesse zurück, das sich bei ihm schon in jungen Jah­ ren zeigte. Vielmehr waren es vor allem handfeste politische und nicht zuletzt natio­ nalpolitische E rwägungen, die seine ungewöhnliche E ntscheidung bestimmten. Da­ her sind seine Motive - über ihre persönliche Bedingtheit hinaus - von allgemein-hi­ storischer Bedeutsamkeit. Von ihnen fällt ein helles Licht auf die besonderen Verhält­ nisse des habsburgischen Vielvölkerstaates. Victor Adler entstammte einer Prager deutsch-jüdischen Familie von ausgeprägt großbürgerlichem Zuschnitt. Nachdem sie um die Mitte der fünfziger Jahre (Adler wurde 1852 geboren) nach Wien übersiedelt war, hatte sie am gesellschaftlichen Leben der Hauptstadt keinen unwesentlichen Anteil. Der „Adlerhorst“ - erst in der Döllin­ gergasse (Oberdöbling), dann in der Liechtensteinstraße - war ein anerkannter Mit­ telpunkt des künstlerischen wie politischen Lebens und wohl imstande, dem jungen Adler als Ausgangspunkt einer raschen Karriere zu dienen. Adler besuchte zusammen mit Heinrich Friedjung und E ngelbert Pernerstorfer das berühmte Schottengymna­ sium. Mit beiden - dem späteren liberalen Historiker wie insbesondere dem späteren deutschnationalen und sozialdemokratischen Politiker - verband ihn eine enge Freundschaft über Schul- und Hochschulzeit hinaus. Adler studierte seit dem E nde der sechziger Jahre an der Wiener Universität zunächst Chemie und Mathematik, spä­ ter Medizin und Psychologie. Mit Sigmund Freud gehörte er zu den engsten Schülern des Psychiaters Theodor Meynert, an dessen Klinik er einige Jahre lang arbeitete. Die eigene Praxis, die er sich vorübergehend im väterlichen Haus in der Liechtenstein­ straße einrichtete, vermittelte den ersten direkten Kontakt mit dem Notstand der ar­ beitenden Klassen. Die politischen Anfänge Victor Adlers vollzogen sich unter dem E influß des deutsch-bürgerlichen Liberalismus. Mit Pernerstorfer war Adler zu Beginn der sieb­ ziger Jahre Mitglied der Progreßburschenschaft „Arminia“, in welche der Rassenanti­ semitismus und deutschnationale Chavinismus noch keinen E ingang gefunden hat­ ten. Pernerstorfer und wohl auch Adler bemühten sich, der Verbindung eine profi180

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liertere deutschnationale Linie zu geben. Zugleich drangen sie auf eine Beschäftigung mit der sozialen Frage, doch blieb dies vergeblich. Deshalb - und nicht weil sie, wie später behauptet wurde, die verschärften Mensurbestimmungen der reichsdeutschen Burschenschaften in die „Arminia“ einführen wollten und damit keinen E rfolg hatten - verließen Adler und Pernerstorfer zusammen mit einigen Freunden die Verbindung. In der Folge gründeten sie eine eigene Gruppe, einen Lesezirkel zur Besprechung so­ zialistischer Schriften, dem auch Adlers älterer Bruder Siegmund (der spätere Rechts­ historiker), Max Gruber (der spätere Münchener Hygieniker), ferner Heinrich Fried­ jung und der Bankier Simony angehörten. Die Seele des Freundeskreises war Perner­ storfer, durch dessen unerschöpfliche Aktivität er zustande kam und aufrechterhalten wurde. Nachdem Pernerstorfer nach Berlin übersiedelt war, löste sich der Zirkel all­ mählich auf2. Adler trat als jüngstes Mitglied des Lesezirkels zunächst wenig hervor, rückte je­ doch späterhin als bester Kenner des zeitgenössischen Sozialismus in den Mittel­ punkt. Die erste Beschäftigung Adlers mit der sozialen Frage widerspiegelt die Be­ strebungen des damaligen fortschrittlichen Liberalismus. Nicht aus bloßer Modenei­ gung, sondern auch aus richtiger politischer E insicht befaßte sich der Studentenzirkel mit den sozialen Problemen. Schon damals bestanden Verbindungen zur Wiener Ar­ beiterbewegung. Pernerstorfer war Obmann des Wiener Arbeiterbildungsvereins, welcher freilich im Juli 1870 aufgelöst wurde. Adler hatte seine Mitgliedschaft ange­ meldet und in einer Versammlung des Vereins gesprochen. Pernerstorfer und Adler sammelten im Diskussionskreis Unterstützungsgelder für die Angeklagten des Hoch­ verratsprozesses (1870) und übergaben sie unter dem Motto eines revolutionären Ver­ ses von Freiliggrath dem Redakteur des „Volkswillen“, Heinrich Scheu 3 . Die Brüder Adler drängten darauf, daß sich der Lesezirkel eingehend mit der öster­ reichischen Arbeiterbewegung befasse. Sie setzten sich jedoch nicht durch, da Fried­ jung, der intellektuell zunächst dominierte, für eine eher theoretisch gefärbte Diskus­ sion eintrat. Immerhin befand sich unter der Lektüre, die dem Zirkel von seinen Teil­ nehmern zur Verfügung gestellt wurde, nicht nur die theoretische Literatur des zeit­ genössischen Sozialismus, sondern auch die Wiener sozialdemokratische Presse. Ad­ ler besaß bereits eine umfangreiche Bibliothek von Socialistica. Bezeichnenderweise fehlten darin die in Österreich damals fast unbekannten Schriften von Marx und E n­ gels - mit Ausnahme des Kommunistischen Manifestes. Adler hielt vor den Mitglie­ dern des Lesezirkels mehrere Referate, in denen er sich mit Schulze-Delitzsch ausein­ andersetzte, welcher mit seiner Idee der genossenschaftlichen Selbsthilfe des Arbei­ terstandes beim liberalen Bürgertum viel Zustimmung gefunden hatte. Adler wandte sich gegen dessen Auffassung, daß auf diese Weise die sozialen Probleme sich von selbst lösen würden. Anhand statistischer Unterlagen zeigte er den Umfang der Miß­ stände und bekannte sich zu Lassalles Forderung nach Staatshilfe für den Arbeiter­ stand. Die Diskussionspartner stimmten ihm darin zu. Adler wollte bei dieser akade­ mischen E rörterung nicht stehenbleiben, sondern schlug vor, man möge den Leipzi­ ger „Volksstaat“, das Organ der E isenacher Partei, sowie den Wiener „Volkswillen“ auffordern, ihre konkreten politischen Ziele bekanntzugeben. E r wollte feststellen, ob auf dieser Basis eine Zusammenarbeit möglich sei 4 . Der Plan einer öffentlichen po181

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litischen Wirksamkeit des Kreises scheiterte jedoch am E inspruch Friedjungs. Als Kompromißlösung beschloß man die Herausgabe einer Broschüre, in der das Volk zu verstärkter politischer Aktivität aufgerufen werden sollte. Die Beschäftigung mit der politischen Arbeiterbewegung blieb für die meisten Teilnehmer des Diskussionskreises eine bloße Episode. An die Stelle der Sozialpolitik trat das vom deutsch-französischen Krieg neubelebte nationale Gefühl. Auch Adler schrieb damals an Pernerstorfer, er wolle seine Beziehungen zur Arbeiterbewegung abbrechen, aber das politische und soziale Interesse des jungen Arztes blieb in den siebziger Jahren erhalten, obgleich es von literarischen und anderweitigen künstleri­ schen Neigungen sowie von reger Geselligkeit zurückgedrängt wurde. Neben den privaten Zirkel im „Adlerhorst“ trat ein weltoffener Intellektuellenkreis im Café Griensteidl am Michaelerplatz. Als leidenschaftlicher Wagnerianer beteiligte sich Ad­ ler auch an der Aktivität des Akademischen Richard-Wagner-Vereins. Das Ramhar­ tersche vegetarische Restaurant (E cke Wallnerstraße) war der Treffpunkt seines enge­ ren Kreises von Freunden, zu denen die späteren deutschen Sozialdemokraten Fried­ rich E ckstein, Heinrich und Adolf Braun gehörten, desgleichen Hugo Wolf und Gu­ stav Mahler. E nge Beziehungen bestanden auch zu Hermann Bahr und Siegfried Lipi­ ner (dessen frühe Dichtung von Adler sehr geschätzt wurde), ferner zu den Liberalen Michael Hainisch (dem späteren Sozialpolitiker und Bundespräsidenten), Th. G. Ma­ saryk, Otto Steinwender (dem späteren Führer der Deutschen Volkspartei) und Wit­ telshöfer (dem späteren Direktor der E scomptebank), schließlich zu den Sozialisten Emanuel Sax (dem Freunde Friedrich E ngels') und Leo Frankel (dem Mitglied der Pa­ riser Commune). Georg von Schönerer stand diesem Kreis nahe. Man diskutierte lei­ denschaftlich über naturwissenschaftliche und medizinische Fragen, über Wagner, Ibsen und Nietzsche. Adler gehörte zu den ersten, die das Werk Nietzsches in Öster­ reich bekannt machten 5 . Diese spannungsreichen gesellschaftlichen Kontakte zu Künstlern und Intellektu­ ellen, zu kosmopolitischen Liberalen, betont Deutschnationalen und Anhängern des modernen Sozialismus haben Adlers politisches Weltbild geformt. Zunächst schien der (schon vom E lternhaus vertraute) deutschnationale E influß zu obsiegen. 1871 wurde Adler ein Mitglied des durch Franz von Liszt gegründeten „Lesevereins deut­ scher Studenten“, aus dem später der „Deutsche Club“ hervorging. 1880 nahm Adler am deutsch-fortschrittlichen Parteitag in Wien teil. Damals gehörte er bereits zur füh­ renden Gruppe der deutschnationalen Bewegung, die sich langsam vom Gesamtlibe­ ralismus löste. Adler und Pernerstorfer schlössen sich Georg von Schönerer an und wirkten bei der Gründung des „Deutschnationalen Vereins“ mit. Adler war gelegent­ licher Mitarbeiter der von Pernerstorfer redigierten „Deutschen Worte“, welche da­ mals das offizielle Organ der Deutschnationalen waren. In einem seiner ersten Artikel wandte er sich gegen die altliberale „Neue Freie Presse“ wegen ihrer kosmopoliti­ schen, freilich auch wegen ihrer manchesterlichen E instellung. Im Kampf gegen die „graue Internationale des kosmopolitischen Liberalismus“ beteiligte sich Adler an den Bestrebungen zur Gründung einer nationalen deutschen Volkspartei. E r war Mitglied des Komitees zur Ausarbeitung des „Linzer Programms“, mit dem Schönerer 1882 an die Öffentlichkeit trat 6 . 182

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Der deutschnationale Honoratior Victor Adler war jedoch weiterhin für sozialisti­ sche E inflüsse empfänglich. Über die Brüder Braun, deren Schwester E mma er 1878 geheiratet hatte, kam er in ständige Berührung mit sozialistischen Gedankengängen, und während der siebziger Jahre beschäftigte er sich sehr intensiv mit den sozialen Verhältnissen in Zisleithanien. Die Präzision und E ntschiedenheit der sozialpoliti­ schen Forderungen, durch die sich das „Linzer Programm“ von den üblichen natio­ nalliberalen Plattformen der Zeit unterscheidet, gehen zum Gutteil auf Adlers E influß zurück, wenngleich auch Schönerer damals viel stärker als späterhin für sozialpoliti­ sche Ziele eintrat. Sie unterschieden sich freilich von denen Adlers, doch erst die Hinwendung Schönerers zum militanten Rassenantisemitismus zerstörte die E inheit der eben geschaffenen deutschnationalen Bewegung. Adler und Pernerstorfer trenn­ ten sich von Schönerer, aber an ihrer maßvoll nationalen Zielsetzung wurde dadurch zunächst nicht viel geändert. Sie blieben im Vorstand des „Deutschen Schulvereins“, einer Gründung Pernerstorfers. E rst 1884 schied Adler aus, nachdem sich die antise­ mitische Unterwanderung des anfänglich gegen Schönerer eingestellten Vereins be­ merkbar zu machen begann. Während sich Schönerer dem antisemitischen und chauvinistischen Radikalismus zuwandte, setzte eine verhältnismäßig kleine Gruppe unter der Führung Heinrich Friedjungs die Tradition der ursprünglichen deutschnationalen Bewegung fort. Sie vertrat einen gemäßigten deutschen Zentralismus, erklärte sich für weitgehende so­ zialpolitische - nicht nur mittelständische - Reformen und forderte ein selbständiges Österreich im Bunde mit dem Deutschen Reich. Das Organ dieser Gruppe war die von Friedjung herausgegebene „Deutsche Wochenschrift“, welche seit 1885 auch dem „Deutschen Club“, dem parlamentarischen Verband der gemäßigt nationalen Deutschliberalen zur Verfügung stand. Friedjung und seine Parteigänger wollten die deutsche Arbeiterschaft durch sozialpolitische Zugeständnisse für einen maßvollen Nationalismus als Gegengewicht zur nationalen Bewegung der Slawen gewinnen. Adler und Pernerstorfer standen zu Beginn der achtziger Jahre Friedjungs „Deutscher Wochenschrift“ nahe, zeigten sich aber über ihre sozialpolitische Lauheit enttäuscht. Vor allem gilt dies von Adler, der dagegen opponierte, daß man der Arbeiterschaft an­ stelle des allgemeinen Wahlrechts nur eine beschränkte Vertretung mittels einer durch Arbeiterkammern zu wählenden Kurie zugestehen wollte. E r sah in dieser Haltung der Gruppe um Friedjung die von Friedrich E ngels geäußerte Ansicht bestätigt, daß auch sozial aufgeschlossene Vertreter des liberalen Bürgertums die Hürde der Klas­ sengebundenheit nicht überspringen können 7 . Unter dem E indruck der unzureichenden bürgerlichen Sozialpolitik näherte sich Adler der sozialdemokratischen Arbeiterpartei, ohne zunächst mit seinen liberalen Freunden zu brechen. 1881 berichtete er seinem Bruder Siegmund, er fange an, „kon­ sequent hinunter- oder hinaufsteigend (sich) mit den hiesigen Arbeiterführern be­ kanntzumachen“. Und er fügte hinzu: „Wer da große agitatorische Begabung und Energie hätte, könnte Wunder tun.“ 8 Durch Heinrich Braun, der damals die Züricher E xilzeitung der deutschen Sozial­ demokratie redigierte, wurde Adler 1882 mit Karl Kautsky bekannt, welcher eben daranging, in Stuttgart die „Neue Zeit“ als theoretisches Organ der deutschen Partei 183

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herauszugeben. Heinrich Friedjung forcierte „ermutigt durch V. Adler“ Kautsky zur Mitarbeit an der „Deutschen Wochenschrift“ auf und versicherte, daß diese mit vol­ lem E rnst auf die Reform der sozialen Verhältnisse dringen werde 9 . Diese Bemerkung scheint darauf hinzuweisen, daß Adler bei seiner politischen Fühlungnahme mit der Arbeiterbewegung noch keine weiterreichenden Ziele im Auge hatte. Vielleicht mochte er an eine vorübergehende Vermittlerrolle im Streit zwischen den Fraktionen der Radikalen und Gemäßigten innerhalb der österreichischen Partei denken. Dennoch rechnete Adler nicht mehr mit der ernsthaften Unterstützung durch seine liberalen Freunde. E r entschloß sich, in den Staatsdienst zu gehen und von dorther für die soziale Reform zu wirken. Als die Regierung ihren Plan bekanntgab, staatliche Gewerbeinspektoren nach deutschem Vorbild anzustellen, bewarb er sich um ein sol­ ches Amt, für das ihn seine medizinische Vorbildung qualifizierte. E ine längere Stu­ dienreise, die ihn im Sommer 1883 in die Schweiz, nach Deutschland und nach E ng­ land führte, erweiterte seine sachlichen Vorkenntnisse. Die radikalen Reformvor­ schläge, die er in einem E rfahrungsbericht niederlegte, hatten allerdings zur Folge, daß die Regierung den unbequemen Kandidaten auf später vertröstete. Adler besuchte auf seiner Reise Friedrich E ngels, dem er von Leo Frankel und den Brüdern Braun empfohlen worden war. Auch Kautsky hatte den Besuch Adlers ange­ kündigt; er sei zwar kein Parteigenosse, aber ein „uns sehr nahestehender und - soweit ich ihn kenne - auch ehrlicher Philanthrop“ 10 . E ngels zeigte sich von Adlers Persön­ lichkeit sehr beeindruckt und meinte, daß dieser Mann in einer kommenden Revolu­ tion von großem Nutzen sein könnte. E r unterstützte Adlers Berufsplan, der ihm die Möglichkeit gebe, den Verwaltungsapparat zu studieren; er nahm in Kauf, daß dies Adler daran hindern würde, öffentlich für die Partei tätig zu sein 11. Adler besuchte auf seiner Reise auch Bebel und Liebknecht in Borsdorf, wo diese sich wegen des über Leipzig verhängten Ausnahmezustandes aufhielten 12 . E s entstand ein gutes E inver­ nehmen, doch blieben bei beiden erhebliche Bedenken gegen Adlers bürgerliche Her­ kunft zurück. Was hingegen E ngels betrifft, so verdichtete sich seine Bekanntschaft mit Adler nach 1889 zu einem intimen Vertrauensverhältnis, dessen sich - seit Marx gestorben w a r - kein anderer, auch nicht Kautsky oder Bernstein, hätte rühmen kön­ nen. Adlers Politik behielt lange Zeit einen zwielichtigen Charakter. Seine Mittelstel­ lung zwischen der „Deutschen Wochenschrift“ und der Sozialdemokratie blieb auch dann noch bestehen, als er der Partei bereits seine persönliche Unterstützung zuge­ wandt hatte. E rst 1885, als er die Hoffnung, Gewerbeinspektor zu werden, endgültig aufgeben mußte, faßte Adler den E ntschluß, sich gänzlich der sozialdemokratischen Partei zu widmen. Aus Rücksicht auf den schwerkranken Vater, der diesen Schritt nicht verstanden hätte, vermied er jedoch bis zu dessen Tod im Jänner des folgenden Jahres den offiziellen Parteibeitritt. Obwohl Adler 1885 in Pernerstorfers „Deutschen Worten“ unter dem Pseudonym Fritz Tischler gegen das Sozialistengesetz Stellung genommen hatte und obwohl der 1886 in einer Broschüre „Die Arbeiterkammern und die Arbeiter“ gleichfalls für die Partei eingetreten war, begegnete er bei den Sozialdemokraten zunächst großem Miß­ trauen. Die Beziehungen zu Kautsky hatten seit 1884 freundschaftlichen Charakter 184

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angenommen. Dennoch warnte Kautsky vor Adlers „Doppelrolle“, und er schrieb an Engels noch im August 1886, Adlers Plan, ein Wochenblatt (die „Gleichheit“) her­ auszugeben, habe den „Vorteil, daß Adler binnen kurzem gezwungen sein wird, aus seiner bisherigen Vermittlerstellung herauszutreten und entweder entschieden für oder gegen uns aufzutreten“. Adlers sachliche Qualifikation hielt Kautsky für wenig ausreichend: „Übrigens ist er ein fauler Strick, der keine vierzehn Tage lang die Re­ daktion selbst führen wird.“ 1 3 Im wesentlichen betraf Kautskys Kritik an Adler zwei Punkte: die deutschnationale Herkunft und die vermittelnde Haltung zwischen dem radikalen und dem gemäßigten Flügel der österreichischen Arbeiterbewegung. Merkwürdigerweise wog der erste Einwand bei Kautsky weniger schwer als der zweite. Was diesen betraf, so handelte es sich darum, daß der gemäßigte Flügel unter dem E influß Kautskys und Liebknechts die Auffassung vertrat, die österreichische Partei könne nur in enger organisatorischer und programmatischer Anlehnung an die deutsche „aus dem Sumpfe kommen“ 1 4 . Die Einigung der streitenden Fraktionen habe die Schaffung eines Programms zur Vor­ aussetzung, dem beide Seiten zustimmen müßten. Adler neigte hingegen dazu, die grundsätzlichen Differenzen zwischen den Fraktionen zurückzustellen und den Weg zu einer „langsam sich entwickelnden prinzipiellen Verständigung“ nicht durch vor­ zeitige programmatische Festlegung zu versperren 15 . Adler bewies schon damals seine großartigen taktischen und diplomatischen Fähigkeiten, die er späterhin (1908) in charakteristischer Selbsteinschätzung folgendermaßen beschrieb: „Du weißt, mein Laster ist, in allen Dingen auch die andere Seite zu sehen und eine Abneigung gegen alle schroffen E ntscheidungen zu haben, die man ,prinzipielle' nennt, die aber nur zu oft ein ,logisch' richtiges, politisch aber falsches Generalisieren sind“ 1 6 . Adler scheute nicht davor zurück, Verbindungen mit den Führern der Radikalen aufzunehmen und sich ihre Forderungen zu eigen zu machen, obwohl er grundsätz­ lich mit den Gemäßigten sympathisierte. Dies verstärkte das Mißtrauen jener, die sol­ ches Verhalten für „unmoralisch und parteischädigend“ hielten und sich darüber bei Kautsky bitter beklagten. Josef Bardorf, der Führer der Wiener Gemäßigten (er war mit Adlers Hilfe Sekretär der 1884 gegründeten Gesellschaft für Arbeitsvermittlung in Wien geworden), meinte damals, daß Adler gerade die alten Anhänger aus der Bewe­ gungvertreibe. Das eifersüchtige Mißtrauen gegen den Intellektuellen war bei solcher Kritik mit im Spiel. Noch 1887 polemisierte Bardorf gegen Adlers „jüdische Zweck­ mäßigkeitstheorie“, gegen sein „auffälliges Kokettieren“ mit den Radikalen und das „demagogische Spiel“, mit dem er die „prinzipiellen Leute der gemäßigten Richtung“ abstoße und die „Bewegung trotz des scheinbaren äußerlichen Aufschwungs einer schärferen Spaltung (entgegenführe), als dies noch vor kurzem der Fall war“ 1 7 . Auch Kautsky arbeitete insgeheim kräftig gegen Adler und schrieb E ngels noch im Juli 1888, er fürchte, Adler sei „zu sehr von der Sucht besessen, E rfolge zu sehen, die Par­ tei groß zu machen um jeden Preis“ 1 8 . E rst unmittelbar vor dem Hainfelder E ini­ gungsparteitag (31. Dezember 1888 und 1. Jänner 1889) ließ Kautsky seine Bedenken gegen Adler fallen. Der zweite E inwand der deutschen Parteiführer gegen Adler betraf seine nationale Einstellung. Sie gedachten, daraus den Testfall für seine sozialdemokratische Uber185

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zeugungstreue zu konstruieren. Zunächst hatte freilich auch Kautsky eine Zusam­ menarbeit mit den gemäßigt nationalen Deutschliberalen um Friedjung in der Wahl­ rechtsfrage erwogen. E r vollzog seine eindeutige Distanzierung von Friedjungs „Deutscher Wochenschrift“ erst dann, als E duard Bernstein E inspruch erhob und Heinrich Mandl - der damals in der österreichischen Arbeiterbewegung eine Rolle zu spielen versuchte - ihm mitteilte, daß die Gruppe um Friedjung in ihrer Mehrheit rein national denke und daß nur ein sehr kleiner Teil „nationalsozialistisch à la Dr. Adler gesinnt ist“ 1 9 . Mandl, der selbst national eingestellt war und deshalb wie auch wegen seiner politischen Unfähigkeit bei Kautsky bald in Mißkredit geriet, informierte die­ sen, daß Adler noch bis vor kurzem „ultranational“ gewesen sei, und ihm gegenüber betont habe, daß er seine nationalen Prinzipien vollständig mit seinen sozialdemokra­ tischen vereinbaren könne 2 0 . Diese Auffassung, die von den Deutschen nicht verstan­ den wurde, trug Adler den Spott des Züricher „Socialdemokrat“ ein; das Blatt wandte sich gegen „eine Gruppe von Männern, welche sich nationale Sozialdemokraten nen­ nen; die Arbeiter jedoch heißen sie Sozialdemokraten, welche es nicht sagen dür­ fen“ 21 . Auch Adlers Schwager, Heinrich Braun, äußerte sich noch Anfang 1886 sehr skeptisch über dessen politische Haltung und versah die Polemik des „Socialdemo­ krat“ mit dem Kommentar: „Die Betreffenden scheinen nicht anders zu sein und, was schlimmer ist, nicht anders werden zu wollen“ 2 2 . Adler hatte sich damals bereits für die sozialdemokratische Bewegung entschieden. Aber er wollte seine Beziehungen zur Gruppe um Friedjung nicht ohne weiteres ab­ brechen, da er der Meinung war, daß ihre Hilfe unter dem gegen die Sozialdemokratie gerichteten Ausnahmegesetz nicht zu entbehren sei. Die von ihm E nde 1886 heraus­ gegebene Wochenzeitung „Gleichheit“ vertrat zwar eindeutig sozialdemokratische Prinzipien, aber sie wurde nicht nur von ihm, sondern auch von einigen liberalen Fi­ nanzleuten unterstützt. Adlers Auffassung von der Vereinbarkeit des nationalen und des sozialdemokra­ tisch-internationalen Standpunkts verwickelte ihn im Herbst 1886 in eine heftige Aus­ einandersetzung mit E duard Bernstein, dem leitenden Redakteur des „Socialdemo­ krat“. Adler hatte zur Behebung eines Sprachfehlers eine Reise ins Rheinland unter­ nommen und bei dieser Gelegenheit Bernstein in Zürich aufgesucht, um ihn zur Mit­ arbeit an dem geplanten Wochenblatt zu gewinnen. Der Streit, von dem Bernstein so­ gleich an Kautsky berichtete, entzündete sich am Nationalitätenproblem und be­ rührte freilich weniger die grundsätzlichen Auffassungen als die Frage, ob es möglich sei, den nationalen Gedanken agitatorisch für die Sozialdemokratie zu nützen. Zu die­ sem Zeitpunkt war es Adler bereits gelungen, seinen Schwager Heinrich Braun von der Aufrichtigkeit seiner Absichten zu überzeugen. Braun schrieb im Juli an Kautsky, Adler habe sich in der letzten Zeit zu seinem Vorteil entwickelt und sehe bezüglich seiner „deutschnationalen Schrullen doch jetzt wenigstens soweit klar, daß er es für einen Verrat an der Arbeiterbewegung halte, wollte jemand die nationalen Streitigkei­ ten in sie hineintragen“. Glücklicherweise, so meinte Braun, käme es auf derartige Ansichten und Absichten gar nicht an: „Der gesunde Klasseninstinkt der Arbeiter macht dergleichen Velleitäten von vornherein unmöglich, aber es ist immerhin gut, daß V. Adler selbst darüber keinen Zweifel hegt“ 2 3 . Die weitere E ntwicklung zeigte 186

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freilich, daß die nationale Frage für die österreichische Sozialdemokratie sehr viel mehr als eine „Velleität“ war. Die Differenzen in der taktischen Behandlung des Gegensatzes von Gemäßigten und Radikalen wie auch die anscheinend grundsätzlich verschiedene Haltung zur na­ tionalen Frage machen die Bedenken Kautskys gegen Adlers Tätigkeit in der sozial­ demokratischen Partei begreiflich. Sobald Adler hievon Kenntnis erhielt - es war dies nach dem Tode seines Vaters, als Kautsky an Bardorf und Heinrich Braun schrieb, er betrachte Adler als „außerhalb der Partei stehend“ 24 - , antwortete er, daß dies unrich­ tig sei; er habe schon vor Jahren die Entscheidung getroffen, „einfach als Soldat im so­ zialdemokratischen Lager zu kämpfen“. Der einzige Punkt, der Kautsky zu seiner Meinung veranlassen könnte, sei der Umstand, daß er national sei. Adler gab aus­ drücklich zu, daß er „die Bewahrung der deutschen Volksindividualität für etwas an sich Werthabendes und die Slovenisirung oder Czechisirung von deutschen Kindern für ein denselben zugefügtes Unrecht“ halte, denn dies bedeute „ein Herabdrücken ihrer geistigen Lebenshaltung“. E r vermöge aber nicht einzusehen, warum ihn „diese Anschauungen von der Partei trennen müssen“. Denn seine nationale Haltung unter­ scheide sich nicht von jener Liebknechts. E r habe niemals daran gezweifelt, „daß man in diesem Sinne gut national und dabei doch internationaler Sozialdemokrat sein kön­ ne. Ja noch mehr, ich darf sagen, daß, wer ernst national ist, consequenterweise Communist werden muß“. Mit solchen E rwägungen, setzte er hinzu, pflegte Perner­ storfer „unseren nationalen Philistern die Gänsehaut auf den Buckel zu jagen“ 25 . Adler enthüllte mit dieser, wie er einleitend sagte, „schuldigen Confession“ einen wichtigen Beweggrund für seine Hinwendung zur internationalen Sozialdemokratie. Die Auffassung, daß, wer „ernst national“ sei, eben deswegen Sozialdemokrat wer­ den müsse, trennte ihn von seinen deutschnationalen Freunden, die ihn vergeblich von einem solchen Schritt abzuhalten versuchten. Das nationale Motiv, das doch ein bedeutendes Hindernis für Adlers Wirksamkeit in der Sozialdemokratie war - zu­ mindest anfänglich und in den Augen der reichsdeutschen Sozialdemokraten - , wurde von ihm selbst für seinen Übertritt zur Arbeiterbewegung in Anschlag gebracht. Um dieses Paradoxon zu verstehen, muß man sich den innigen Zusammenhang der natio­ nalen und sozialen Probleme in Österreich-Ungarn vor Augen halten. Adler war tief durchdrungen vom Glauben an die kulturelle Überlegenheit und an die daraus entspringende Mission des Deutschtums. Aber er gelangte immer mehr zu der Überzeugung, daß die Stellung des deutschen E lementes im habsburgischen Ge­ samtstaat durch den nationalen Machtkampf gefährdet werde. Nationalität erschien ihm als der Ausdruck einer „geistigen Lebenshaltung“ 26 . Daher lag ihm der Gedanke des nationalen Machtkampfes, der nationalen Herrschaft oder der rassischen Überle­ genheit durchaus fern. Die Betonung der national-kulturellen Individualität verband ihn mit seinen liberalen Freunden. Was ihn von diesen trennte, war die Konsequenz, mit der er den Nationalgedanken zu E nde dachte. E r wehrte sich mit aller Heftigkeit gegen die übliche liberale Gleichsetzung der bürgerlichen Bildungsschicht mit der Nation. Die rasche Industrialisierung Böhmens betraf in den achtziger Jahren nur dessen deutsche Gebiete. Dorthin ergoß sich ein anschwellender Strom tschechischer Ar187

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beitskräfte. E s drohte eine Verschiebung der Sprachengrenze und die Slawisierung ehemals rein deutscher Städte. Die sozialen Mißstände in der österreichischen Indu­ strie hatten zur Folge, daß die Geburtenziffern der industriellen Gebiete erheblich un­ ter denen der agrarischen lagen. Die Kindersterblichkeit betrug in manchen Bezirken Deutsch-Böhmens mehr als 50 Prozent. Die Last dieser Verhältnisse wurde in den er­ sten Jahrzehnten der Industrialisierung vorwiegend vom Deutschtum getragen, wel­ ches anfänglich die große Mehrheit der Arbeiterschaft stellte. Die fragwürdige Pro­ gnose einer Slawisierung Österreichs wurde damals durch die Statistik vorübergehend bestätigt. Die deutschen Unternehmer waren einerseits streng deutschnational, an­ derseits begünstigten sie den Zuzug der billigeren nichtdeutschen Arbeitskräfte und damit die Abwanderung des sozial höher stehenden deutschen Proletariats. Diese Tatsachen waren Adler schon sehr früh klar geworden. Das geht auch aus ei­ nigen Bemerkungen hervor, die sein Schwager Heinrich Braun gegenüber Kautsky machte: „Die Verdrängung der Deutschen, speziell der deutschen Arbeiter, von altem deutschem Boden und die Besetzung desselben mit slawischen Kulis“ sei das wichtig­ ste Moment des Nationalitätenkonfliktes. Besonders in Niederösterreich bevölkere die „Profitwuth“ deutschnationaler Fabrikanten weite Landstriche mit Tschechen. Diese E ntnationalisierung deutscher Teile Österreichs sei die gründlichste, die man sich denken könne, und sie sei von denselben Industriellen verursacht, die den Schul­ verein unterstützen 27 . Freilich neigte Braun aufgrund dieser E rfahrungen dazu, den nationalen Kampf als „Schwindel“ abzutunund ihn auf das Bestreben des Bürgertums zurückzuführen, die Massen von der sozialen Frage abzulenken. Hingegen zog Adler daraus die Konsequenz, daß die wichtigste Aufgabe einer „ernsthaften“ nationalen Politik darin bestehe, durch energische soziale Reformen die Position der deutschen Arbeiterschaft zu festigen und damit sowohl dem Geburtenrückgang wie der Abwan­ derung zu steuern. E r hielt die Tätigkeit des „Deutschen Schulvereins“ und die deutschnationale Propaganda solange für zwecklos, als man nicht den gesellschaftli­ chen Ursachen der nationalen Kräfteverschiebung zu Leibe ging. Daher hatte Adler schon bei der Ausarbeitung des „Linzer Programms“ darauf ge­ drängt, die nationalen Forderungen mit sozialpolitischen zu verbinden. In den fol­ genden Jahren wurde ihm die E rfahrung zuteil, wie wenig das deutsche Bürgertum bereit war, aus seiner nationalen Haltung die sozialen Konsequenzen zu ziehen. Statt dessen versuchte es, die sozialen Schäden mit antisemitischer Propaganda und natio­ nalistischen Phrasen zu überdecken. Rückblickend sprach Adler von seiner „jugend­ lichen Illusion, der nationale Gedanke vermöge eine nationale Bourgeoispartei über das Klasseninteresse hinwegzutragen zur Vertretung und Verfechtung der Interessen des ganzen Volkes“ 28 . Später wandte er sich wiederholt mit äußerster Schärfe gegen das vom Bürgertum beanspruchte Privileg auf nationale Gesinnung. Daß die internationalen Sozialdemo­ kraten nicht national seien, bezeichnete er als ein „altes Ammenmärchen“. Im Gegen­ satz zur „internationalen“ Ausbeutungspolitik des bürgerlichen Unternehmertums müsse die Sozialdemokratie als Trägerin einer wahrhaft nationalen Politik gelten. Während „die Herren Bourgeois aller Nationen die Volksinteressen ihren schmutzi­ gen Geldsackinteressen unterordnen“, vertrete die Sozialdemokratie die Interessen 188

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der ganzen Nation und eröffne dem Arbeiter durch Befreiung aus seiner sozialen Not­ lage den Zugang zu den Gütern der nationalen Kultur 29 . Adlers E ntschluß, seine politische Begabung in den Dienst der internationalen So­ zialdemokratie zu stellen, enthielt ein gewisses E lement der Resignation. Als Deutschnationaler mußte er sich eingestehen, daß eine nationale Politik, die sich im Gegensatz zur demokratischen und sozialen Bewegung befand, über kurz oder lang zum Scheitern verurteilt war. In einer Polemik gegen das klerikale „Vaterland“ schrieb er 1888: „Sozialist bin ich allerdings, seit ich politisch und Ökonomisch zu denken lernte, aber erst, seit ich erfahren, wie der Klassenegoismus die alten Parteien, bürgerliche wie feudale, absolut unfähig macht, das soziale Problem ernst zu fassen, bin ich Sozialdemokrat“ 30 . Als man ihn wegen seiner früheren Zugehörigkeit zum „Deutschnationalen Ver­ ein“ der Unaufrichtigkeit beschuldigte, antwortete er: „Die politischen E rfahrungen, die ich in den Reihen der vorgeschrittensten E lemente des Bürgertums (darunter auch Schönerer) kämpfend machte, sind es nicht zum geringsten, die mich belehrt und be­ kehrt haben“ 31 . Für Adler war der Traum eines deutschen Österreichs zu E nde. Das Deutschtum hätte seine traditionelle Vorrangstellung nur bewahren können, wenn es an die Spitze der sozialen und politischen E manzipationsbewegung aller österreichischen Völker getreten wäre. Daß diese Hoffnung unerfüllt blieb, bestimmte ihn zum E intritt in die Sozialdemokratische Partei, welchen er nüchtern, fast pragmatisch vollzog. Für ihn ging es, schrieb er an Kautsky, um „die rein persönliche Frage, ob ich meine Fähigkeit zur politischen Arbeit, so klein oder so groß ich sie auch immer schätzen mag, im na­ tionalen oder sozialen Kampfe verwenden sollte“. Die Entscheidung für den sozialen Kampf fiel Adler um so leichter, als er einerseits von der Unfruchtbarkeit des Natio­ nalitätenstreites überzeugt war, anderseits auch im sozialen Kampf nationale E le­ mente erblickte, welche die Bewahrung der Volksindividualität begünstigten. E r habe, teilte er Kautsky mit, „in dieser Hinsicht eine Entwicklung durchgemacht“ und den nationalen Kampf früher für aussichtsreicher gehalten. „Was aber die Hauptsache ist, ich habe niemals den nationalen Kampf, wie er heute in Österreich zur traurigen Notwendigkeit geworden, für eine Aufgabe des Proletariats gehalten, würde im Ge­ genteile jeden aus der Partei ausschließen wollen, der in den Klassenkampf nationale Elemente hineintragen wollte - so weit sie nicht darin liegen“ 32 . Aufgrund seiner Analyse der nationalpolitischen Folgen des Industrialisierungs­ prozesses konnte Adler mit Recht seine „nationalen Principien vollständig mit seinen socialdemokratischen vereinbaren“ und sogar zu dem vorerst bedenklich scheinenden Schluß gelangen, daß „die nationalen E lemente (des Klassenkampfes) durchaus im Sinne der Internationalität unserer Bestrebungen sehr naturgemäß“ anwendbar seien. Tatsächlich brachte der international geführte E manzipationskampf des Proletariats den Arbeitern aller Nationalitäten auch nationale Gewinne, wobei die deutschen Ar­ beiter, die zunächst in der überwiegenden Mehrzahl waren, am besten wegkamen. Adler glaubte, daß der Klassenkampf die nationalen Spannungen mildern und sie auf die Stufe eines kulturellen Wettbewerbs der Nationen zurückführen würde. E r hoff189

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te, die Arbeiterschaft vom politischen Nationalitätenkampf - wie er sich im Sprachen­ und Ämterstreit manifestierte - isolieren zu können. Adler war jedoch realistisch genug, um den Nationalismus nicht einfach als Begleit­ erscheinung des bürgerlichen Kapitalismus aufzufassen und nationale Forderungen in Bausch und Bogen zu verwerfen, wie das damals (übrigens im Gegensatz zu Marx und Engels) die von Kautsky angeführte offizielle sozialistische Theorie tat. Adler wandte sich gegen jeden doktrinären Internationalismus, der dem nationalen Gedanken die selbständige historische Wirkung bestreitet. E r sprach gelegentlich davon, daß der Sozialismus den „blutleeren“ Internationalismus der siebziger Jahre überwunden habe. Vom Standpunkt seines lediglich kulturellen und nicht mit der Machtfrage ver­ koppelten Nationalismus bestand kein Widerspruch zwischen der internationalen So­ lidarität aller Arbeiter und ihrer Loyalität gegenüber der eigenen Nation. E ine solche Haltung erforderte freilich Disziplin nach allen Seiten hin. Als die Jungtschechen dar­ angingen, eine selbständige tschechische Arbeiterbewegung aufzuziehen, erklärte Adler, daß die Deutschen ihre Pflicht als Genossen der internationalen Arbeiterpartei erfüllen, doch müsse dies von anderer Seite mit ebensolcher E ntschiedenheit gesche­ hen, da sonst auch die deutschen Arbeiter genötigt wären, den Kampf für das aufzu­ nehmen, „was sie ihrem Volk als Deutsche schulden“ 33 . Adler war nicht geneigt, die nationalen Motive aus bloßem Opportunismus zu­ rückzustellen. Vielmehr wollte er durch die Anerkennung der berechtigten nationalen Emanzipationsforderungen zu einer Zusammenarbeit mit dem slawischen Proletariat gelangen. Seine in den achtziger Jahren begonnene Politik hatte anderthalb Jahr­ zehnte hindurch bedeutende E rfolge und ermöglichte die Gründung einer Gesamt­ partei der Arbeiterschaft aller österreichischen Nationalitäten. Freilich war für Adler die deutsche Führungsrolle in der österreichischen Arbeiter­ bewegung zunächst selbstverständlich. In einer Polemik gegen die jungtschechische Partei äußerte er, daß es die deutsche Sprache gewesen sei, die den Tschechen die so­ zialistischen Ideen erschließe; für Österreich sei die Sprache der Sozialdemokratie die deutsche. Die reichsdeutsche Sozialdemokratie sei „in ihrer E ntwicklung und ihren Lebensbedingungen die uns am nächsten stehende und am engsten verbündete. Als Deutsche also kann es uns sehr gleichgültig sein, ob die Tschechen deutsch lernen, als Sozialdemokraten müssen wir es geradezu wünschen“ 3 4 . Diese unvorsichtige Formu­ lierung hat Victor Adler den leidenschaftlichen Vorwurf eingetragen, daß er die an­ geblich in Österreich bestehenden Germanisierungstendenzen indirekt unterstützte. Adler hat sich später in nationaler Beziehung sehr viel zurückhaltender geäußert und seine anfängliche Aversion gegen die Slawen überwunden. Als Parteiführer war er unermüdlich bestrebt, den Wünschen der nichtdeutschen sozialistischen Gruppen Rechnung zu tragen und die innerparteilichen nationalen Gegensätze auszugleichen. Er war von Haus aus großdeutsch eingestellt gewesen, und er konnte sich dabei mit Recht auf Marx und Engels berufen, die an der Lebensfähigkeit und E xistenzberechti­ gung Österreichs zweifelten und den Zerfall der Monarchie beim Ausbruch der russi­ schen Revolution vorhersagten. Gleichwohl hielt es Adler für eine unverantwortliche Politik, auf diesen Zerfall zu setzen. Aber er war davon überzeugt, daß eine Lösung des Österreichischen Nationalitätenproblems im Wege der politischen Vorherrschaft 190

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des Deutschtums nicht mehr in Betracht kam. Seine großdeutsche Gesinnung trat hin­ ter d e r - seiner politischen E insicht entspringenden - E ntscheidung zurück, im Rah­ men des habsburgischen Staates sozialdemokratische Politik zu treiben, doch sie blieb als eine Art verhinderten Österreichertums in ihm lebendig. Adler hat Österreich niemals als politisches Vaterland empfunden. Auf dem Konstanzer Verbrüderungs­ fest sprach er die bitteren Worte: „Wir Österreicher kommen so gern über die Grenze - wir haben ein Land, aber ein Vaterland haben wir nicht. E s gibt keinen Staat Öster­ reich. E in deutscher Dichter hat zwar einmal gesagt: ,Der Österreicher hat ein Vater­ land und liebt's und hat auch Ursach', es zu lieben.' Aber, Genossen, der das gesagt hat, war kein Österreicher und war - ein Dichter“ 3 5 . Die Spannung zwischen Adlers tiefem Glauben an die Größe deutscher Nation und Kultur einerseits und der von ihm konsequent verfochtenen internationalen Klassen­ solidarität des Proletariats andererseits läßt sich nicht reinlich auflösen. Der eigentüm­ liche Reiz seiner an Gegensätzen so reichen Persönlichkeit beruht darauf, daß er zwi­ schen diesen beiden Polen seines politischen Denkens eine fruchtbringende Verbin­ dung herstellte und als nationalbewußter Politiker dennoch zu einem wirklichen Ver­ ständnis für die nationalen Wünsche der nichtdeutschen Völker gelangte. Man konnte seine Politik sowohl als raffinierte Form der Germanisierung verstehen wie auch als eine fortlaufende Kette von Konzessionen an den tschechischen Nationalismus. Aber dieser Mann, den man in allen Sprachen des alten Österreich einen Verräter hieß, war niemals ein bloßer Opportunist. Gerade bei ihm darf man die verantwortungsbe­ wußte staatsmännischc Anpassung an das jeweils politisch Mögliche nicht mit Prinzi­ pienlosigkeit verwechseln. Die marxistische Lehre trat Adler zunächst als sozialökonomisch bestimmte Ge­ schichtsauffassung und als Lehre vom Klassenkampf entgegen. Beides fand er durch seine Analyse der nationalen Verhältnisse in Österreich bestätigt. Somit schien ihm die sozialistische Theorie jedenfalls praktikabel zu sein, und die Gegenwartsforde­ rungen des sozialdemokratischen Programms entsprachen ohnehin seit langem seinen Anschauungen. Den Marxismus betrachtete er nicht als abgeschlossenes System, ge­ schweige denn als starres Lehrgebäude. Der humanistische Ausgangspunkt (der erst ein halbes Jahrhundert später durch die Veröffentlichung der Marxschen Frühschrif­ ten völlig deutlich wurde) fesselte ihn weit mehr als die krönende gesellschaftspoliti­ sche Theorie. „Der Sozialismus von Marx und E ngels ist nicht eine ökonomische Doktrin, er ist eine Weltanschauung. Die Bewegung des revolutionären Proletariats ist nur ein Teil der Umwälzung der Gehirne, die unser Jahrhundert zu einem Zeitalter der Revolution macht“ 36 . Für Adler war der Sozialismus vor allem eine Sache der Hal­ tung und des Handelns, und erst in zweiter Linie eine theoretische Angelegenheit. Der Gedanke eines automatischen Ablaufs der sozialen E ntwicklung, auf den Kautsky und der späte Engels - unter dem E influß des naturwissenschaftlichen Den­ kens der Z e i t - besonderen Nachdruck legten, findet sich gelegentlich auch bei Adler. Er kam seiner skeptischen E inschätzung der Möglichkeiten individuellen Handelns entgegen. Aber wie kaum ein anderer erkannte Adler die Gefahr, die darin lag, daß diese Vorstellung im Sinne eines die revolutionäre Schlagkraft lähmenden Fatalismus ausgelegt werden konnte. Der notwendige Ablauf des Ökonomischen Geschehens 191

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stand für ihn im dialektischen Zusammenhang mit dem politischen Tun der Arbeiter­ klasse. Insofern war er ein tieferer Marxist als Karl Kautsky, über dessen „Doktrina­ rismus und Buchstabenreiterei“ er sich in seinen Briefen an Bebel mokierte. E r ver­ wahrte sich gegen eine einseitige materialistische Deutung des Marxismus: „E s ist der Fluch derjenigen, die den historischen Materialismus falsch verstanden oder nicht recht durchgedacht haben, die dabei steckengeblieben sind, daß sie zu jeder Sache ir­ gendeine ökonomische Ursache suchen“ 3 7 . E r nahm in diesem Zusammenhang das bekannte Wort von Marx, daß er kein Marxist sei, für sich in Anspruch. Adler leugnete wiederholt, ein politischer Theoretiker zu sein, obgleich er die so­ zialdemokratische Theorie wesentlich beeinflußt hat. Seine eigentliche Fähigkeit lag darin, die politische Praxis und die grundsätzlichen Ziele dialektisch zu vereinen. Dem befreundeten Friedrich E ngels schrieb er, daß dieser für ihn „definitiv rich­ tungsgebend“ gewesen sei; ihm verdanke er mehr als Marx, nämlich „Politik und Tak­ tik, Anwendung der Theorie in corpore vivo“ 3 8 . E r feierte E ngels als den großen Praktiker der proletarischen Bewegung. Als Praktiker gelang es Adler, den in der reichsdeutschen Sozialdemokratie aufbrechenden Gegensatz zwischen Revisionis­ mus und Kautskyanismus von Österreich fernzuhalten und auch die Parteispaltung im E rsten Weltkrieg abzuwenden. Was Adler zum Vermittler zwischen den sozialistischen Richtungen qualifizierte und seine dominierende Stellung in der Zweiten Internationale begründete, war eine eigentümliche Distanz gegenüber allem bloß Ideologischen, welches für ihn nur eine Seite der Wirklichkeit war. Dies kam schon in einem Brief an Kautsky 1886 zum Aus­ druck, als er den Übergang zur Sozialdemokratie damit motivierte, daß er glaube, ein „ganz brauchbarer Colporteur zu sein“, wie denn die Juden überhaupt „zur Colpor­ tage geradezu prädestínirt“ seien 39 . E r warnte häufig davor, die politischen Vorgänge nur aus dem Gesichtswinkel der sozialdemokratischen Partei zu beurteilen und diese mit der Gesamtheit des Proletariats gleichzusetzen. Die „Revolution der Gehirne“ die Vorbedingung für eine sozialistische Umgestaltung des Staates - erschien ihm als umfassender geschichtlicher Vorgang, von dem die sozialdemokratische Politik nur ein Teil, wenngleich ein entscheidender, war. Adler blickte stets über den Parteihorizont hinaus, wofür selbst die Führungs­ gruppe der österreichischen Sozialdemokratie wenig Verständnis aufbrachte. Auch auf der Höhe seines E rfolges gab es nur wenige, die imstande waren, sein politisches Wollen voll zu begreifen; Friedrich E ngels gehörte dazu. In einem Brief an Karl Kautsky klagte er: „Aber wahr ist, daß ich, der ich täglich mit Dutzenden von Men­ schen rede, eigentlich in beständigem Wirbel dahintaumele, doch sehr einsam bin ich könnte fast sagen allein“ 40 . Zu Bebel äußerte er: „Darunter leide ich ja mit am.mei­ sten, daß ich hier eigentlich keinen Menschen habe, mit dem ich die Sache besprechen könnte, daß er mich versteht. - Im besten Falle verstehen sie die Philosophie der Be­ wegung, aber naiv von innen - die E piphilosophie von Darüber - verstehen sie nicht“ 41 . Diese Bemerkung macht deutlich, wie weit Adler vom Zeitstil der liberalen Gesin­ nungspolitik - und die sozialistische Theorie der Kautskyaner unterschied sich grund­ sätzlich nicht davon - bereits entfernt war. Sein politisches Denken trägt insofern mo192

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derne Züge, als er sich nicht nur der soziologischen und wirtschaftlichen Bedingthei­ ten des politischen Handelns bewußt war, sondern auch - unter dem Gesichtspunkt der „E piphilosophie von Darüber“ - die Begrenztheit ideologischer und prinzipien­ politischer Motive erkannte. Die marxistische Lehre hatte für Adler als praktischen Politiker immer den Charak­ ter eines Pars pro toto. E r bekannte sich zu ihr schon 1885, und sie beeinflußte sein Denken bis zu seinem Tode (1918) in starkem Maße. Doch verbarg sich hinter der Übernahme dieser „fremden Ideen“ sein Wille, sich von ihnen nicht überwältigen zu lassen. „In einer Art unbewußter, aber sehr energisch wirkender Ökonomie meines Hirns“, schrieb er einer Wiener Freundin, „nimmt es nur auf und hält es nur fest, was ich praktisch für meine Arbeit gebrauchen kann. Alles andere läuft durch wie durch ein Sieb“ 4 2 . Adlers eminenter Sinn für konkretes, sachbezogenes Handeln war das Resultat hartnäckiger Arbeit an sich selbst. Äußerste Sensibilität, die manchmal ins Sentimen­ tale umschlug, war die eine Seite seines Wesens. Höchste Rationalität, wie sie in sei­ nem Wort vom „Hirn als Hemmungsorgan“ zum Ausdruck kommt, war die andere Seite. Mit großartiger E nergie widerstand er seiner Neigung zur Spekulation und Selbstbespiegelung. Seiner Veranlagung nach ein Skeptiker, der die Tatlähmung durch den Verstand vielfach an sich erfahren hatte, empfand er den stärksten Wider­ willen gegen allen Dogmatismus, der die Verbindung zur Wirklichkeit verliert. Der Gefahr eines Wertrelativismus wurde er im Geistigen wie im Politischen dadurch Herr, daß er die unvermeidliche E inseitigkeit des Handelnden bewußt auf sich nahm. Nicht im Denken, nur im Tun, in einer aktuellen menschlichen Situation, konnte er seinen spekulativen Relativismus überwinden. Übersetzt in die politische Situation des Jahres 1885, bedeutete diese Haltung Ad­ lers: Soziale Reformen größeren Stils, von deren Notwendigkeit er überzeugt war, konnten nur durch die Arbeiterbewegung selbst durchgesetzt werden. Soweit auf dem Gebiet der nationalen Politik die bisherige Stellung des Deutschtums aufrechtzu­ erhalten war, stand dies nicht im Widerspruch zur Politik der internationalen Sozial­ demokratie, die den berechtigten kulturellen Interessen aller Nationalitäten entge­ genkam. Nur auf dem Felde der sozialen Politik waren noch konkrete Resultate für die Erhaltung des deutschen E influsses im österreichischen Gesamtstaat zu erwarten. Die Preisgabe nationalpolitischer Ziele großdeutscher Prägung war die Vorausset­ zung für eine solche konstruktive Politik. Adler nahm eine gewisse E inseitigkeit in Kauf, als er sich an die Spitze der sozialdemokratischen Bewegung in Österreich stell­ te. Sein Handeln war bestimmt von der E insicht in die E rfolglosigkeit liberaler Ge­ fühls- und Ideenpolitik angesichts unaufhaltsamer ökonomischer und sozialer Um­ wälzungen sowie vom persönlichen Pflichtgefühl und vom Streben nach politischer Wirksamkeit. In ihm war ein Stück von jenem Tatwillen lebendig, mit dem Nietzsche die zivilisatorische E rschlaffung der abendländischen Gesellschaft durchbrechen wollte. Seinem Bruder Siegmund schrieb Adler 1881: „Daß ein Mensch wie Du sich in das vierzehnte Jahrhundert verliert und gelehrten Staub frißt, statt in der goldenen Sonne der Gegenwart zu kämpfen und zu bluten, ist traurig, sehr traurig“ 4 3 . Adler war weit davon entfernt, die Politik zu idealisieren. E r wußte, daß sie ein 193 13

Mommsen, Arbeiterbewegung

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„schmutziges Handwerk“ und weithin „Routine“ ist. Seine Sarkasmen und Zynis­ men, mit denen er weder sich selbst noch seine Freunde verschonte, überdeckten eine persönliche E rgriffenheit und Leidenschaft, aber sie traten niemals an deren Stelle. Im Jahre 1887 meinte ein freilich fernstehender Beobachter, daß Adler „jede Spur von Herzlichkeit und sichtbarer Begeisterung“ fehle; dies sei der Grund, „weshalb er nicht populär ist noch populär werden kann“ 4 4 . Das war ein Fehlurteil. Die Masse der Arbeiterschaft, ob Deutsche oder Tschechen, war von tiefer Anhänglichkeit gegen­ über ihrem „Doktor“ erfüllt. Seine Autorität war in den Führungsgremien der Partei bis zum Ersten Weltkrieg unumstritten. Friedrich Austerlitz legte in seinem Nachruf vom 12. November 1918 davon Zeugnis ab: „Daß man mit allen wichtigen Dingen zum Doktor geht, daß man erst dann die Zuversicht empfängt, das Richtige zu tun, wenn es Adler geprüft habe, war in der Partei die allgemeinste Überzeugung.“ 4 5 Adler hatte es nicht nötig, den Massen zu schmeicheln, um ihre Gefolgschaft zu er­ werben. Seine persönliche Autorität verschaffte ihm auch in den turbulenten Ob­ struktionsszenen des österreichischen Parlaments Gehör. E r scheute vor Manipula­ tionen nicht zurück und handhabte die Methoden der politischen Intrige mit Meister­ schaft. Aber er war kein Interessenpolitiker und kein Parteimann im gewöhnlichen Sinne. Seine unvergleichliche taktische Begabung führte nur darum zum E rfolg, weil sie sich mit äußerster Hingabe an die Sache bis zur Verleugnung der eigenen Person verband. E r nahm das Risiko der Vernichtung seiner finanziellen E xistenz ebenso auf sich wie die Feindschaft seiner einstigen politischen Freunde gegen den „Überläufer aus der Monopolistenklasse zur Sache des Volkes“, wie er sich sarkastisch nannte 46 . Seine Wendung vom deutschnationalen Honoratioren zum sozialdemokratischen Parteiführer und Anwalt des internationalen Gedankens war eine Wendung von der Politik nationaler Illusionen zur Politik sozialer Realitäten. Was ihm noch 1886 als „rein persönliche“ Konsequenz erschien - daß nämlich „ernste“ nationale Gesinnung untrennbar mit dem Kampf für demokratische und soziale Ziele sowie mit dem Aus­ gleich zwischen den österreichischen Völkern verknüpft sei - , war zugleich das Le­ bensgesetz des habsburgischen Vielvölkerstaates in den letzten Jahrzehnten seines Be­ standes.

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10. Otto Bauer, Karl Renner und die sozialdemokratische Nationalitätenpolitik in Österreich 1905-1914 Die sozialdemokratische Gesamtpartei in Österreich trat in den Jahren nach der er­ sten russischen Revolution von 1905, seit dem endgültigen Scheitern der böhmischen Ausgleichverhandlungen und der unheilvollen Verschärfung der nationalen Konflikte durch die Annexion Bosniens und der Herzegowina, in eine tiefgreifende innere Krise ein. Von diesem Zeitpunkt an konnte die Auflösung der sozialdemokratischen Ge­ samtpartei nicht mehr abgewendet werden. Die förmliche Auflösung der sozialde­ mokratischen Gesamtpartei von 1911 bildete den Schlußpunkt einer im Grunde be­ reits vollzogenen E ntwicklung; sie räumte eine Fiktion beiseite, „die längst jedermann als Fiktion bekannt war“ 1 . Bis 1908 hatte die Partei die internationale Zusammenar­ beit in den obersten Führungsgremien, dem Abgeordnetenverband und der Gesamt­ parteivertretung, wenngleich unter immer schwierigeren Bedingungen, fortführen können; aber in den lokalen und regionalen Organisationen hatte sich der Grundsatz der nationalen Trennung bereits vollständig durchgesetzt. Seit 1905 war auch die ein­ heitliche Gewerkschaftsorganisation in Auflösung begriffen. Sie wurde von tschechi­ scher Seite immer mehr als Ausdruck des deutschen Zentralismus und als sublime Form nationaler Fremdherrschaft empfunden. Zweifellos spielte das Machtstreben der nationalen Parteiapparate hierbei eine wichtige Rolle; doch hätten die organisato­ rischen Rivalitäten durch rechtzeitiges E ntgegenkommen von deutscher Seite, nicht zuletzt in der Gewerkschaftsfrage 2 , überwunden werden können, wären sie nicht bloß die Folie tiefergehender, prinzipieller Zielkonflikte zwischen den nationalen Gliedparteien der Sozialdemokratie gewesen. Die russische Revolution von 1905 verstärkte bei allen slawischen Völkern der Mo­ narchie das Verlangen nach sozialer und politischer Gleichstellung mit den „herr­ schenden“ Nationen. Während sich das Interesse der polnischen Sozialdemokraten in erster Linie der Wiederherstellung des polnischen Nationalstaates zuwandte, ver­ langte die tschechoslawische Sozialdemokratie über die formelle nationale Gleichbe­ rechtigung hinaus erhebliche materielle Vorleistungen von deutscher Seite mit dem Ziel, die Gleichstellung des tschechischen Volkes in sozialer und ökonomischer Hin­ sicht zu vollenden. Die deutschen Sozialdemokraten in Österreich, die einen kaum geringeren Druck von der Seite der bürgerlichen Parteien auszuhalten hatten als ihre tschechischen Partner, gelangten an die Grenze ihrer Konzessionsbereitschaft dort, wo die tschechischen Forderungen über den böhmisch-mährischen Bereich hinaus die traditionell deutschen Länder der Monarchie betrafen. Sie lehnten daher die über­ spannten Pläne zur E rrichtung tschechischer Minderheitenschulen in Wien ebenso ab wie das Verlangen nach einer tschechischen Kandidatur im Wahlkreis Favoriten II; trotz gleichzeitiger Konzessionen bezüglich der nordböhmischen Reichsratskandida195

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turen führte dies zu einem anhaltenden Zerwürfnis zwischen der tschechoslawischen Parteiführung und der deutschen Parteivertretung in Wien 3 . Die bedauerliche Verschärfung des deutsch-tschechischen Gegensatzes innerhalb der österreichischen Sozialdemokratie über die Frage der Kandidaturen für den Reichsrat, die Minderheitenschulfragen und das Problem der Zweisprachigkeit der Ämter wurde durch den Gewerkschaftskonflikt in Mähren 1909 auf das Feld der Or­ ganisation übertragen. Die von Prag betriebene systematische Aufspaltung bis dahin multinationaler Organisationsformen stieß auf den Widerstand der gegen das födera­ listische Programm Prags eingestellten zentralistischen mährischen Gewerkschaftler, die Anfang 1909 auf einer Landeskonferenz den Beschluß faßten, weiterhin mit der Wiener Gewerkschaftskommission zusammenzuarbeiten. Ihre Absicht, mit der Un­ terstützung der Gewerkschaftskommission ein eigenes Blatt „Proletár“ herauszu­ bringen, wurde von der tschechoslawischen Parteiführung also offene Kampfansage aufgefaßt und mit dem Ausschluß der Anhänger des zentralistischen Organisations­ prinzips aus der Partei beantwortet, der überdies statutenwidrig erfolgte. Trotz der Vermittlungsbemühungen des österreichischen Parteiführers, Victor Adler, schei­ terte jeder Versuch von Ausgleichsverhandlungen an der Unnachgiebigkeit der Prager Parteileitung und der Starrheit der Mitglieder der Reichsgewerkschaftskommission. Adler war bemüht, die mit diesen Vorgängen vollzogene faktische Spaltung der tsche­ choslawischen Arbeiterpartei zu kaschieren, da er wenig Vertrauen in die Führungs­ qualitätcn der tschechischen Zentralisten in Mähren setzte und sich von der Anrufung der Sozialistischen Internationale, die die Gewerkschaftskommission schließlich er­ zwang, keinerlei durchgreifende Wirkungen versprach. Die Verurteilung des tschechischen „Separatismus“ durch den Internationalen Kongress von Kopenhagen im Herbst 1910 bewirkte denn auch keineswegs ein E in­ lenken der tschechischen E xekutive, verstärkte hingegen die E ntschlossenheit der Wiener Gewerkschaftler, die Bestrebungen zur Gründung einer tschechischen zen­ tralistischen Partei nach Kräften zu unterstützen 4 . Die schließlich am 13. und 14. Mai 1911 vollzogene Konstituierung der Tschechischen Sozialdemokratischen Arbeiter­ partei in Österreich, die auf einem regionalen Parteitag in Brünn beschlossen wurde, machte weitere Ausgleichsversuche illusorisch. Adler stemmte sich, hierin im Gegen­ satz zu der großen Mehrheit der deutschen Parteiführer, darunter Otto Bauer und Karl Renner, vergebens gegen die Anerkennung der tschechischen zentralistischen Partei durch die Gesamtparteivertretung, und suchte noch auf dem Innsbrucker Par­ teitag 1911 einen Weg, dieser neben der Tschechoslawischen Sozialdemokratie ein Vertretungsrecht in der Gesamtexekutive und auf dem Gesamtparteitag zu geben; doch die Prager Parteiführung nahm diesen letzten Kompromißversuch zum Anlaß, um definitiv aus der Gesamtparteivertretung auszuscheiden 5 . Die Befürchtungen Ad­ lers, der die Neugründung für ein „totgeborenes Kind“ hielt, bestätigen sich im Wahlkampf von 1911, in dem die tschechische zentralistische Partei nur etwa 19000 Stimmen gegenüber den 357000 Stimmen der tschechoslawischen Partei zu erringen vermochte, wobei gut die Hälfte des Stimmenanteils auf polnische und deutsche Sym­ pathisanten zurückging. Die österreichische Gesamtpartei war damit „tot“, auch 196

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wenn sich Adler wiederholt gegen diese Formulierung wandte und den tschechischen „Separatismus“ als vorübergehende Verirrung hinzustellen bemüht war. Der Zerfall der österreichischen Gesamtpartei, der für Adler die Vernichtung seines Lebenswerkes darstellte 6 , brachte freilich insoweit eine Erleichterung für die deutsche Sozialdemokratie in Österreich, als sie in der Frage der Fortbildung des Brünner Na­ tionalitätenprogramms nicht mehr auf die in starkem Maße von Prestigegesichtspunk­ ten bestimmten Interessen der Gliedparteien Rücksicht nehmen mußte. Eine Revision des von Seiten der nationalen Gruppen von vornherein unterschiedlich interpretierten Brünner Programms 7 war von Adler usprünglich bewußt auf die lange Bank gescho­ gen worden; er hatte die tschechischen Anträge, die Minderheitenfrage auf dem Ge­ samtparteitag von 1905 zu erörtern, abgelehnt und dafür gesorgt, daß das Thema auf den deutschen Parteitagen nicht behandelt wurde. Nach der Durchsetzung des allge­ meinen Wahlrechts 1906/07 schien es hingegen nicht länger opportun, die Revision des Nationalitätenprogramms zu vertagen. Angesichts der scharfen nationalen Span­ nungen innerhalb der Partei war es eher vorteilhaft, daß über ein gemeinsames Natio­ nalitätenprogramm verhandelt wurde, da dies mindestens eine Versachlichung der Auseinandersetzungen erleichtern konnte. Victor Adler sah freilich wenig Aussicht, durch eine programmatische Verständigung in der nationalen Frage zu einer Beile­ gung der gewerkschaftlichen Konflikte zu gelangen; immerhin mußte diese geringe Chance, durch eine Verständigung der Gliedparteien zu einer E ntspannung zu kom­ men, genützt werden. Daher forderte Adler seit dem Juni 1907 den „Ausbau“ des Brünner Nationalitätenprogramms 8 . E r selbst erwog eine Lösung, die auf der Linie der Kremsierer Verfassungsentwürfe lag. Letztere bezeichnete er als den einzigen ech­ ten Reformversuch, den Österreich bislang hervorgebracht habe 9 . Aber er übersah die grundsätzlichen Schwierigkeiten nicht, die einer Verständigung entgegenstanden; im August 1910 charakterisierte er die schwierige taktische Situation, in der sich die Partei befand, gegenüber August Bebel: „Um zu einer Einigung zu kommen, müssen wir für die nationalen taktischen Fragen entweder eine sehr detaillierte E inigung fin­ den, was sehr schwer, fast unmöglich ist, so lange sie brennend aktuell sind, od(er) wir müßten sie ausschalten, was aus demselben Grunde schwer ist“ 1 0 . Denn es war klar, daß diesmal, im Unterschied zu den Brünner Verhandlungen von 1899, strittige Fra­ gen nicht ausgeklammert werden konnten und die Festlegung einiger prinzipieller Leitlinien nicht ausreichen würde. Anders als 1899 konnte die österreichische Sozialdemokratie 1907 auf umfassende theoretische Vorarbeiten, insbesondere die Studien Karl Renners und Otto Bauers, zurückgreifen. Renner hatte sich seit 1899 intensiv mit den Fragen der Österreich-un­ garischen Reichsreform beschäftigt, zumal er als Parlamentsbibliothekar hinreichend Zeit zu wissenschaftlichen Studien hatte. In seinem Buch „Der Kampf der österrei­ chischen Nationen um den Staat“, das 1902 unter dem Pseudonym Rudolf Springer erschien, legte er eine gründliche staatsrechtliche Analyse der Mängel der bestehenden Verfassung und einen bis in die Details ausgearbeiteten Reformplan vor 1 1 . Seine an­ schließende Studie über die „Grundlagen und E ntwicklungsziele der Österrei­ chisch-Ungarischen Monarchie“ von 1906 muß bis heute als Standardwerk insbeson­ dere hinsichtlich der innenpolitischen Rückwirkungen des Ausgleichs mit Ungarn be197

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trachtet werden; die darin enthaltene Kombination politischer und staatsrechtlicher Gesichtspunkte antizipierte moderne politologische Untersuchungsmethoden 12 . Der leitende Gesichtspunkt Renners bestand in dem Nachweis, daß die von den österreichischen Kabinetten entwickelte Strategie zur Beilegung oder Beschwichti­ gung der nationalen Konflikte den essentiellen Kern der Nationalitätenfrage umging. Renner legte überzeugend dar, daß die umstrittenen Ämter- und Schulfragen nur se­ kundären Charakter hatten und daß das Instrument der Sprachenverordnungen die nationalen Konflikte nur perennierte. Im Gegensatz zur herrschenden Staatsrechts­ lehre betrachtete er die Nationalitäten als „staatsbildende“ Faktoren ersten Ranges. E r gebrauchte daher bewußt den Ausdruck Nationen; da diesen im Rahmen des gelten­ den Verfassungsrechts keinerlei hoheitliche Rechte zustanden, seien sie notwendig auf den Weg des politischen Machtkampfes verwiesen, ohne daß für dessen Austra­ gung institutionelle Ventile vorhanden waren. Renner betonte somit den politischen Charakter des Nationalitätenkampfes, der so lange anhalten werde, als die Nationali­ täten keinerlei institutionell garantierten Anteil an der staatlichen Macht besäßen. Zugleich verwarf Renner die verbreitete Annahme, der nationale Konflikt könne durch grundgesetzliche Garantien für die nationalen Individuen ausgeräumt werden, und wies darauf hin, daß diese von falschen Voraussetzungen ausginge. Die Nation sei keine bloße Summe von Individuen; soziologisch stelle sie ein „Aggregat“ von Men­ schen mit einer gewissen Gleichheit des Denkens und Fühlens, inhaltlich eine Kultur­ und vielfach eine Sprachgemeinschaft dar; von einer bestimmten E ntwicklungsstufe an trete sie jedoch als „Personengesamtheit“ mit dem Willen zu staatlicher Selbstän­ digkeit auf13. E s sei daher nicht zureichend, den Nationalitäten eine staatsfreie Sphäre anzuweisen und das Verhältnis von Staat und Nation auf die Frage der Garantie natio­ naler Grundrechte zu reduzieren. Der entsprechende Art. XIX des Staatsgrundgeset­ zes enthalte bloß eine „Anweisung auf ein goldenes Zeitalter wahrer Gleichberechti­ gung“ und sei „als eine Art legislatives Feuerwerk anzusehen, das nur die Augen blen­ det, aber wirkungslos verlischt. “ Das Wesen des Nationalitätenproblems werde völlig verkannt, wenn man glaube, „der Staat habe genug getan, dem Individuum die Wah­ rung seiner Sprache und E igenart zu garantieren“, man müsse den Nationalitäten vielmehr staatliche Hoheitsrechte, d.h. „Staatsrechte“, einräumen 14 . Das Strebender Nationen nach dauernder, gesicherter Machtausübung könne nur dann befriedigt werden, wenn ihnen die Stellung „staatlicher Rechtsfaktoren“ gewährt werde. Durch die Zusicherung unentziehbarer Rechtspositionen werden den Nationen die Unter­ haltung einer ständigen Kampftruppe im Parlament erspart werden 15 . Renners Forderung, den Nationalitäten die Position von „Staaten im Staate“ zu ge­ ben, d. h. sie als staatsrechtliche Gebilde im Rahmen der Monarchie zu konstituieren, beruhte auf der Annahme, daß damit ein beträchtlicher Teil der bisherigen nationalen Kämpfe überflüssig würde. Auch der junge Otto Bauer, der sich seit 1905 intensiv mit der Nationalitätenfrage beschäftigte, gab sich dieser Illusion hin und meinte, daß der Kampf der Nationen um die staatliche Machte abebben werde, sobald deren An­ spruch auf Wahrnehmung ihrer spezifischen kulturellen Interessen „rechtlich gesi­ chert“ sei. Wie Renner verlangte er eine grundlegende Verfassungsreform: E s sei illu­ sorisch, darauf zu warten, daß die nationalen Parteien vernünftig würden. Der 198

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Machtkampf der Nationen könne nur dann aufhören, „wenn das Recht sich endlich den veränderten nationalen Verhältnissen anpaßt (und) jeder Nation die Macht gibt, deren sie bedarf.. .“; dann werde dem nationalen Kampf „jeder Angriffspunkt feh­ len“ 1 6 . Die Hypothese Renners, daß eine Verrechtlichung der nationalen Interessen die bisherigen Formen der nationalen Auseinandersetzungen hinfällig machen werde, muß vor dem Hintergrund der österreichischen Verfassungswirklichkeit gesehen werden. Die nationale Postulatenpolitik, die die innenpolitische Szenerie Österreichs seit den 80er Jahren beherrschte, hatte zur Folge, daß den nichtdeutschen Nationali­ täten zwar vielfach sehr weitgehende Konzessionen von Seiten der zisleithanischen Kabinette gemacht wurden; aber diese erfolgten fast durchweg durch Verwaltungsak­ te, schufen also Konstellationen, die gesetzlich nicht abgesichert und bei einer Verän­ derung der politischen Kräfteverhältnisse politisch gefährdet waren. Dies hatte zu­ gleich den Nachteil - und Renner wies wiederholt darauf hin - , daß das Prinzip der Gegenseitigkeit nicht wirksam werden konnte; denn die jeweiligen nationalen Lob­ bies verhandelten unabhängig voneinander mit der Regierung; diese war nicht daran interessiert, durch die Hinzuziehung der anderen nationalen Gruppen die Verhand­ lungen zu erschweren. Diese Praxis veranlaßte Renner zu der Forderung, den Natio­ nen „Repräsentativhoheit“ zu verleihen; nur dadurch könne ein vertraglich abgesi­ cherter Friedensschluß zwischen den nationalen Kontrahenden gewährleistet wer­ den 17 . Das Scheitern der böhmischen Ausgleichsverhandlungen in der Ära Taaffe hatte in der Tat bewiesen, daß Verträge zwischen Parteien wirkungslos waren. Nur eine nationale Körperschaft, so folgerte Renner, vermöge die Nation dauernd zu ver­ pflichten, auch wenn ihre Vertreter wechseln. Daher sei jeder Ausgleich, „der nicht zwischen gesetzlich geordneten Repräsentanten der Nationen geschlossen ist“, poli­ tisch wertlos. Renner ging davon aus, daß die angestrebte Verrechtlichung der nationalen Kon­ flikte im Interesse der Nationen selbst liege, und glaubte, daß die Fortführung des na­ tionalen Kampfes bis zur völligen Aufzehrung der politischen Kräfte dem nationalen Interesse gerade widerstrebe. Das wahre Interesse der Nationen bestünde vielmehr in der E rlangung unverrückbarer Garantien für die nationale E xistenz, damit in der „Umwandlung des Kampfzustandes in einen Rechtszustand“ 18 . Diese formalistisch anmutende Argumentation hängt eng mit Renners Politik-Verständnis zusammen. E r hatte schon 1899 Politik primär als „Massen-Wollen“ definiert, das darauf gerichtet sei, den politischen Willen „alsherrschenden Willen, als Norm, als Rechtssatz“ zu fi­ xieren 19 . Diese Formel begrenzte den Bereich der politischen E ntscheidungen, im Sinne des konstituionellen Liberalismus, auf die Sphäre der vom Staat zu ordnenden gesellschaftlichen Bereiche. Sie implizierte zugleich, daß politische Gegensätze letzt­ lich rationalen Lösungen zugänglich seien, sofern es gelang, irrationale Interessenver­ kleidungen zu eliminieren. Mit diesen Auffassungen befand sich Renner keineswegs im Widerspruch zu sei­ nem früh abgegebenen Bekenntnis zur Sozialdemokratie. Die Überzeugung, daß es notwendig sei, den naturwüchsigen Kampf der Individuen untereinander und gegen­ über der Umwelt zugunsten eines konfliktfreien Gesellschaftszustandes zu überwin199

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den, in dem Herrschaft durch eine schiedsrichterlich praktizierte Rechtsordnung er­ setzt wird, bildete einen genuinen Bestandteil der sozialistischen Tradition. Renner war überzeugt, sich bei seiner Analyse der Nationalitätenfrage im E inklang mit der materialistischen Methode zu befinden 20 . Sein originaler Beitrag zur sozialistischen Theorie liegt nicht zuletzt darin, daß er die Grundlagen einer sozialistischen Rechts­ lehre zu konzipieren versuchte 21 . Gleichwohl ist an Renners Überbewertung des libe­ ralen Rechtstaatsgedankens und Überschätzung der politischen Relevanz institutio­ neller Faktoren nicht zu zweifeln. Noch 1902 konnte er schreiben, daß im Leben der Staaten die Weisheit oder die Torheit der Institutionen entscheidend sei 22 . Weniger in seinen analytischen Darlegungen als in seinen Lösungsvorschlägen erweist sich dies als grundlegende Schwäche. Renner hat das verschiedentlich selbst empfunden. So verwahrte er sich dagegen, an die Allmacht gesetzlicher Regelungen zu glauben, und er meinte mit einem resignierten Unterton, die Norm des Staates sei nur ein Hebel in­ nerhalb des sozialen Mechanismus 2 3 . Renners nationalitätenpolitische Lösungsvorschläge gingen von der Voraussetzung aus, daß die nationalen Gruppen an einem rationalen Interessenausgleich, der zu­ gleich den ökonomischen Bedürfnissen der Monarchie entsprach, interessiert seien. Indessen mußte er konstatieren, daß die bürgerlichen Nationalbewegungcn mit dem Eintritt in die Phase des Imperialismus an einer solchen Lösung nicht mehr interessiert waren, sondern die nationalen Konflikte bewußt offen halten wollten. E s lag auf der gleichen Linie, daß sich die Fronten des Nationalitätenkonflikts inzwischen verkehrt hatten; während die in die Defensive gedrängten Deutschen die Wahrung des nationa­ len Besitzstandes, d.h. die Stabilisierung des status quo anstrebten, erhofften die Tschechen weitere Wanderungsgewinne in Nordböhmen, Niederösterreich und selbst in Wien und damit die Ausdehnung ihres nationalen Territoriums. Der öster­ reichische Nationalitätenkonflikt verwandelte sich in einen Kampf innerstaatlicher Imperialismen, auf die Josef Schumpeters bekannte Definition der Tendenz zu „ob­ jektloser E xpansion“ voll anwendbar erscheint 24 . Im „Selbstbestimmungsrecht der Nationen“ trug Renner dieser Entwicklung Rechnung, indem er dem bürgerlichen Na­ tionalismus die E igenschaft zuschrieb, Macht für die eigene Nation und Ausübung dieser Macht über andere Völker zu erstreben, wobei das Recht „höchstens Büttel die­ ser Macht“ würde 2 5 . In der Sache bedeutete dies, daß institutionelle Reformen keine nennenswerte E rleichterung bringen konnten. Auch Renner hatte erwartet, daß die Durchsetzung des allgemeinen Wahlrechts die nationalen Konflikte gegenüber den dringenden ökonomischen und sozialen Problemen in den Hintergrund drängen würde. Das Gegenteil davon trat ein. Umso mehr hoffte Renner, daß die Arbeiter­ schaft zum Träger des nationalen Ausgleichs werden würde. Insoweit partizipierte noch Renner, in abgewandelter Form, an der Illusion, die schon Johann Gottfried Herder hegte, als er von der E manzipation der Völker und der Überwindung der Ka­ binettspolitik die Möglichkeit friedlicher nationaler Verständigung ableitete 26 . 1899 hatte Renner der Meinung Ausdruck gegeben, daß die nationalen Fragen umso ge­ rechter, natürlicher und vorurteilsloser behandelt werden würden, je mehr die Masse des Volkes selbst zu Wort käme 2 7 . Die fortschreitende soziale Emanzipation ließ, wie er meinte, die nur vorgespielten nationalistischen Interessen gegenüber den wahren 200

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Bedürfnissen der Bevölkerung in den Hintergrund treten. Wie Victor Adler glaubte Renner an eine weitgehende Identität von nationalen und sozialen Interessen. Im Gegensatz zu Kautsky 28 teilte Renner nicht die Auffassung, daß im Zuge der Ausbreitung des bürgerlich-kapitalistischen Systems der nationale Faktor bedeu­ tungslos werden und eine internationalistische Kultur sich entwickeln würde. Mit gu­ ten Gründen erblickte er im Prozeß fortschreitender Demokratisierung eine E ntwick­ lung, die nicht zur Nivellierung, sondern zur stärkeren Ausprägung der nationalen Kultur führen werde. E r lehnte daher den doktrinären proletarischen Internationa­ lismus ab, der von einer Minderheit in der Partei, insbesondere von Josef Strasser, propagiert wurde. Bauer griff diesen Gedanken der Intensivierung der nationalen E i­ genart als Folge der Demokratisierung der Bildung auf und gab ihm mit der Theorie des Proletariats als „Hintersassen der Nation“ eine soziologische Begründung 29 . Dies war um so bedeutsamer, als die sozialistische Theorie das Problem des Nationalismus fast völlig vernachlässigt hatte. Auch die Schriften von Marx und E ngels hatten die entscheidende Frage, inwieweit das Proletariat spezifisch nationale Interessen hatte, ausgeklammert. Insbesondere zur Analyse des habsburgischen Nationalitätenpro­ blems trug ihr am westeuropäischen Nationalstaat gebildetes Verständnis des Natio­ nalismus, ganz abgesehen von den irrigen Prognosen in der Revolutionsphase 1848/49, kaum etwas bei 30 . Für die Sozialdemokratie in Österreich war jedoch die prinzipielle Klärung des Verhältnisses von Arbeiterbewegung und Nationalismus eine Lebensfrage. Denn es konnte kein Zweifel sein, daß die Masse der Arbeiterschaft einschließlich der Deut­ schen in zunehmenden Maße von nationalen E rwägungen erfaßt wurde. E s erwies sich als notwendig, eine Mittelposition einzunehmen, die eine Scheidung von berech­ tigten nationalen Interessen und integralen nationalistischen Zielsetzungen ermög­ lichte. Nur so konnte man hoffen, auf die Gestaltung der nationalen Verhältnisse kon­ struktiv E influß zu nehmen. Die Weiterentwicklung des Brünner Nationalitätenpro­ gramms setzte daher eine theoretische Klärung des Nationalismus-Problems voraus. Die Gründung des parteioffiziösen Monatsschrift „Der Kampf“ Anfang 1906 durch eine Gruppe von marxistischen Intellektuellen, darunter Max Adler, Rudolf Hilfer­ ding, Otto Bauer, Friedrich E ckstein, Friedrich Austerlitz und Karl Renner, trug die­ sem Tatbestand Rechnung. Der „Kampf“ setzte sich vorwiegend die Behandlung der Nationalitätenfrage zur Aufgabe 31 . Das Bedürfnis nach einer theoretischen Bewältigung des Nationalismus-Problems fand gleichzeitig einen Niederschlag in Otto Bauers grundlegendem Werk über die Sozialdemokratie und die Nationalitätenfrage 32 . Ursprünglich hatte Bauer diesem Problem wenig Interesse entgegengebracht, zumal Renner als eigentlicher E xperte in diesen Fragen galt. Unter dem E indruck der innerparteilichen Konflikte griff er dieses Thema in mehr publizistischer Absicht auf: „.. .vielleicht entschließeich mich“, hatte er im Januar 1906 an Kautsky geschrieben, „über die nationalen Sorgen einmal ein paar Artikel oder eine Broschüre zu schreiben; mich interessieren zwar andere Dinge viel mehr, aber es wird vielleicht nötig werden, daß einmal ein Marxist den Praktikern und Feulletonisten sagt, wohin die Dinge treiben“ 33 . E s wurde daraus ein gelehrtes Werk, das Bauer in bewundernswerter Schnelligkeit abgefaßt hat. Was ursprünglich 201

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im Vordergrund gestanden hatte - die Rechtfertigung der sozialdemokratischen Na­ tionalitätenpolitik in Österreich - trat gegenüber der grundsätzlichen Frage nach dem Verhältnis von Sozialismus und Nation an die Seite. Dies hing mit dem ausgeprägten theoretischen und historischen Interesse Bauers zusammen und seinem Bemühen, die Marxsche Methode für eine Analyse der Nationalitätenfrage fruchtbar zu machen; al­ lerdings löste er sich, unter dem Einfluß des Neokantianismus, in wichtigen Punkten vom historischen Materialismus. Bauer verlor den Praxisbezug nicht aus dem Auge, ja es ging ihm vornehmlich darum, die Einheit von Theorie und Praxis in der nationalen Frage wiederherzustellen. Dies führte in mancher Hinsicht dazu, daß vielfach takti­ sche Gesichtspunkte in unzulässiger Form prinzipialisiert wurden. Die Besonderheit seines Ansatzes ist in der historischen Ableitung des Nationalitätenprinzips zu sehen, was jedoch durch den von ihm benützten marxistisch-hegelianischen und kantianischen Begriffsapparat verdeckt wird. Indem Bauer den Begriff der Abstammungsge­ meinschaft im historischen Sinne interpretierte, gelangte er zu Definition der Nation als „Schicksalsgemeinschaft“, die gerade nicht auf der Gleichartigkeit der Klassenlage, sondern auf arbeitsteiliger Verkehrsgemeinschaft beruhte und zur Ausbildung einer Kulturgemeinschaft als spezifischem Inhalt des Nationalen hinführte. Diese in vieler Hinsicht moderne soziologische E rklärungsmuster antizipierende Ableitung mündet dort in die politische Praxis zurück, wo Bauer dem sozial begrenzten bürgerlichen Nationalismus das „positive“ Nationalgefühl des Proletariats gegenüberstellte, das sich, indem es sich revolutionär emanzipiert, zugleich als nationale Klasse konstitu­ i e r t und die kulturellen und geistigen Kräfte der Nation erst voll zur E ntfaltung bringt 34 . Von diesem Ansatz her hoffte Bauer, die im Kern reformistischen Reorganisations­ vorschläge Renners und des Brünner Nationalitätenprogramms mit seiner marxi­ stisch-klassenkämpferischen Postition in E inklang bringen zu können. Während Renner glaubte, daß seine Pläne das Organisationsmuster nicht nur der Donaumonar­ chie, sondern des gesamten ostmitteleuropäischen Raumes abgeben könnten, reichte Bauers Perspektive über die gegenwärtige politische Struktur hinaus und antizipierte die Errichtung der sozialistischen Gesellschaft, die erst zur vollen Verwirklichung des Nationalitätsprinzips gelangen und mit der Freisetzung der kulturellen Kraft und des geistigen Reichtums der Nation den friedlichen Austausch zwischen den Völkern gar­ antieren werde. Bauer definierte daher das Nationalitätenprinzip als „Staatsbildungs­ prinzip der einheitlichen und autonomen Nation in einem Zeitalter gesellschaftlicher Produktion“ und verknüpfte damit die Vision einer über den nationalen Gemeinwe­ sen entstehenden föderativen Struktur, eines sozialistischen Staatenstaats der „Verei­ nigten Nationen von E uropa“, in dem es wegen des Fehlens nationaler Fremdherr­ schaft und kapitalistischer Konkurrenz relevante nationale Konflikte nicht mehr ge­ ben konnte 35 . Trotz der stärker sozialistischen Färbung des Bauerschen Modells ist die innere Verwandtschaft seiner Ideen mit denen Renners unverkennbar. Das gilt auch für die Frage der praktischen Überwindung der nationalen Konflikte. Beide Theoretiker gin­ gen von der Überzeugung aus, daß die Nationalitätenfrage mit fortschreitender De­ mokratisierung den Charakter einer „Machtfrage“ verlieren und zu einer lösbaren 202

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Kulturfrage werden würde. In dem Maße, in dem Renner die Hoffnung auf die E in­ sicht der Regierungen aufgab, erwartete er vom Proletariat, das die übergroße Mehr­ heit des Volkes repräsentierte, den entscheidenden Impuls zur E rreichung des natio­ nalen Friedens. E r stellte dem bürgerlichen Nationalismus die „Rechtsidee der Na­ tion“ , d. h. die Forderung nationaler Gleichberechtigung und staatsrechtlicher Absi­ cherung der E xistenz der Nationen als soziale Gruppen gegenüber. Dies mache den spezifischen Inhalt des proletarischen Internationalismus aus 3 6 . Bauer griff diesen Gedanken auf und setzte ihn in die ihm eigentümliche dialekti­ sche Terminologie um. Der „konservativ-nationalen Politik der Bourgeoisie“, die den emanzipatorischen Gehalt des nationalen Gedankens auf Grund ihres Klasseninteres­ ses verrate, stellte er die „evolutionistisch-nationale Politik der Arbeiterklasse“ ge­ genüber, die nicht die Erhaltung des nationalen status quo, sondern die volle Verwirk­ lichung der nationalen Kulturgemeinschaft durch Integration auch der unteren Schichten in die Nation anstrebe. Der taktische Hintergrund dieses Ansatzes geht aus einer Äußerung Bauers gegenüber Kautsky klar hervor. Im Gegensatz zu Kautskys Anschauung, wonach die Nation nur peremptorischen Charakter besäße, habe er die Realität der nationalen Gemeinschaft grundsätzlich zugestanden, um auf dieser Grundlage die Notwendigkeit der internationalen Politik der Sozialdemokratie abzu­ leiten; dies entspräche nicht nur seiner „theoretischen Überzeugung“, sondern sei auch „die einzige Methode, um den bürgerlichen Nationalismus wirksam bekämpfen zu können“ 37 . Bauers Theorie der „evolutionistisch-nationalcn Politik'' der Arbeiterklasse war implizit eine Rechtfertigung der von der österreichischen Sozialdemokratie vertrete­ nen Auffassung, daß sie als einzige Partei eine ernsthafte nationale Politik betreibe, da diese nicht auf nationalistischen Demonstrationen, sondern auf zielbewußter sozialer Reformarbeit beruhe. Die von Bauer theoretisch begründete Gleichsetzung von so­ zialer und nationaler E mpanzipation war seit Hainfeld ein fester Bestandteil der so­ zialdemokratischen Politik 38 . Die Untersuchungen von Rauchberg, Hainisch und Herkner 39 bestätigten, daß die Beseitigung der sozialen Mißstände in Nordböhmen zu einer Stabilisierung der Sprachgrenze weit mehr beigetragen hatte als die fragwür­ digen Abwehrmaßnahmen der deutschen Nationalisten; das gesteigerte Bevölke­ rungswachstum in den industrialisierten Zonen Nordböhmens und Mährens wurde von Renner wiederholt angeführt, um seine Auffassung zu begründen, daß die politi­ sche und soziale E manzipation des Proletariats für die Vermehrung der „materiellen und geistigen Größe er deutschen Nation“ maßgebliche Bedeutung habe, während die lautstarke Agitation der deutschnationalen Parteien deren sozialdreaktionäre und damit antinationale Politik nur verdecke 40 . Nicht zu unrecht wiesen linksstehende Kritiker, wie Josef Strasser und Anton Pan­ nekoek daraufhin, daß eine solche Argumentation darauf hinausliefe, den bürgerli­ chen Nationalismus noch übertrumpfen zu wollen 41 . Dies war in der Tat Bauers Be­ streben. E r formulierte, daß die Arbeiter als „Hintersassen der Nation“ noch nicht „gute Deutsche“ oder „gute Tschechen“ seien, daß aber das Ziel der Sozialdemokratie gerade darin liege, sie zu solchen zu machen 42 . Bauers Auseinandersetzung mit dem bürgerlichen Nationalstaat ist von der gleichen taktischen Grundhaltung geprägt. Die 203

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bürgerliche Demokratie habe das Nationalitätsprinzip des 19. Jahrhunderts zugun­ sten des nationalen Imperialismus preisgegeben. Der moderne Kapitalismus strebe nicht mehr den Nationalstaat, sondern den imperialistischen Nationalitätenstaat an, der auf nationaler Fremdherrschaft beruhe. Demgegenüber bekenne sich die Sozial­ demokratie im Zeitalter des reifen Kapitalismus zu dem von der Bourgeoisie verrate­ nen Nationalitätsprinzip. Hier wird deutlich, daß Bauer in dem unter den Bedingun­ gen des österreichischen Vielvölkerstaates gebotenen Prinzip der nationalen Auto­ nomie, im Unterschied zu Renner, nur eine Notlösung erblickte. Wenn die Sozialde­ mokratie gleichwohl am Programm der nationalen Autonomie festhalte, so nur aus der E rkenntnis, daß die Auflösung der Monarchie dem Imerialismus in die Hand ar­ beite und überdies die Fortführung des Klassenkampfes in Frage stelle 43 . Der spekulative Charakter der Bauerschen Deduktionen ist viel kritisiert worden 4 4 , und ohne Zweifel mutet seine Art, dialektisch zu argumentieren, häufig willkürlich an. Das gilt vor allem für seinen Versuch, die geschichtliche Notwendigkeit der natio­ nalen Autonomie zu begründen. Renners umfassende Reorganisationsvorschläge hat­ ten in erster Linie an die politische Vernunft aller Beteiligten appelliert; angesichts der Verhärtung der nationalen Gegensätze erwies sich dies als wirkungslos. Bauer glaubte demgegenüber, daß nicht „theoretische E insicht, sondern die bittere Not, die uner­ bittliche Notwendigkeit staatlichen Lebens'' der nationalen Autonomie zur Durch­ setzung verhelfen werde. „Weil der Staat die nationale Autonomie nicht entbehren kann, wird sie allmählich zum Programm aller Nationen und sozialen Schichten, die den Staat nicht entbehren können“ 4 5 . Bauer meinte, daß dies selbst für die Bourgeoi­ sie gelte, deren ökonomische Interessen die treibende Kraft des nationalen Macht­ kampfes darstellten; indem dieser in seiner vorgeschrittensten Form, der Obstruktion und der Lahmlegung der parlamentarischen Institutionen, das Herrschaftsinstrument der Bourgeoisie, den kapitalistischen Klassenstaat entmachten werde, ergebe sich mit Notwendigkeit ein Prozeß der Selbstaufhebung der „zentralistisch-atomistischen Verfassung“ Zisleithaniens. In dialektischem Umschlag werde der nationale Haß zum nationalen Frieden führen: „Der nationale Kampf zeugt die nationale Autonomie“ 4 6 . Allerdings machte Bauer zur Voraussetzung, daß die Integrität der Monarchie aus au­ ßenpolitischen Gründen gewahrt bleiben würde. Schon im Winter 1908/09, nachdem klar wurde, daß das allgemeine Wahlrecht in Ungarn nicht würde durchgesetzt wer­ den können 47 , faßte Bauer den Zerfall der Monarchie als mögliche, wenngleich zu­ nächst nicht wahrscheinliche Alternative der politischen Gesamtentwicklung ins Auge. Die innere Entwicklung Österreichs seit der Wahlrechtsreform bestätigte die Hoff­ nungen Renners und Bauers, daß sich die zum Ausgleich bereiten Kräfte politisch durchsetzen würden, in keiner Weise. Die Arbeitsfähigkeit des nach dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht gewählten Reichsrats war von vornherein durch die Obstruk­ tion der nationalistischen Gruppen aufs schwerste beeinträchtigt. Damit war auch die Erwartung, über das Zentralparlament Reformen im Sinne der nationalen Autonomie zu erreichen, gegenstandslos geworden. Symptomatisch dafür ist das Schicksal des Nationalitätenpolitischen Ausschusses. Dieser war nach langen sozialdemokrati­ schen Bemühungen schließlich am 26. November 1909 unter dem Vorstiz E ngelbert 204

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Pernerstorfers konstituiert worden. Nach einer Reihe ergebnisloser Sitzungen ver­ tagte er sich im Juli 1910 auf unbestimmte Zeit und blieb seitdem arbeitsunfähig 48 . Die Haltung der Sozialdemokratie wie die Auffassungen Renners und Bauers zur Nationalitätenfrage gingen trotz zutreffender E inzeldiagnosen in einem entscheiden­ den Punkte von falschen Voraussetzungen aus. Fast alle sozialdemokratischen Theo­ retiker waren geneigt, die nationalen Interessen auf den kulturellen Sektor zu be­ schränken. Dies entsprach ohne Zweifel dem äußeren E rscheinungsbild der Nationa­ litätenkonflikte, in denen Schul- und Sprachenfragen, insbesondere das Problem der nationalen Minderheitsschulen, eine zentrale Rolle spielten. Zugleich war das natio­ nale Selbstverständnis der Deutschen in Österreich primär vom Bewußtsein kulturel­ ler und sprachlicher Zusammengehörigkeit bestimmt. Vielfach verknüpfte sich dies mit einem kulturellen Missionsbewußtsein, das häufig als Begründung für den politi­ schen Führungsanspruch der Deutschen herangezogen wurde. Renner teilte derartige Vorstellungen und wies wiederholt darauf hin, daß die Deutschen die volle nationale Gleichberechtigung der nichtdeutschen Nationalitäten nicht zu scheuen hätten, da auf dieser Basis ein echter Konkurrenzkampf der nationalen Kulturen wieder möglich werde 4 9 . Renners Reorganisationsvorschläge beruhten auf der Gleichsetzung kultureller und nationaler Interessen und auf der Annahme, daß es durch geeignete institutionelle Maßnahmen möglich sei, den national-kulturellen Bereich zu isolieren und in gewis­ sem Grade zu entpolitisieren. E r hatte den Kampf der österreichischen Nationen um staatliche Macht als Anomalie bezeichnet, die durch die antiquierte Verfassungsstruk­ tur hervorgerufen war. Sein Programm der Konstituierung der Nationalitäten als staatsrechtlich anerkannte öffentliche Körperschaften mit selbständiger parlamentari­ scher Vertretung war, technisch gesehen, bis in die Einzelheiten durchdacht und aus­ gereift. In Verbindung mit weitgehender politischer Selbstverwaltung, die die Amts­ sprachenfrage wesentlich entschärfen würde, hätte dieses System den größten Teil der nationalen Konfliktstoffe neutralisieren können, sofern die Nationalitäten bereit wa­ ren, das Prinzip der Gegenseitigkeit, auf dem diese Vorschläge beruhten, zu akzeptie­ ren. Renners Reformpläne, die sich weitgehend an die Verfassungsentwürfe von Kremsier anlehnten, diese aber durch das Prinzip der personalen Autonomie ergänz­ ten, hätten möglicherweise zu einem früheren Zeitpunkt die Nationalitätenfrage ent­ krampfen können. In der imperialistischen E poche kamen sie einfach zu spät, da die nationale Dynamik mit konstitutionellen und demokratischen Mitteln nicht mehr einzudämmen war. Dies gilt im besonderen für das Verhältnis von nationalen und so­ zial-ökonomischen Interessen 50 . Vor allem bei Renner findet sich in dieser Beziehung ein innerer Bruch seiner Ge­ dankenführung. E r war Realist genug, um die Bedeutung finanzieller und ökonomi­ scher Faktoren für die nationale Frage in Rechnung zu stellen. So erkannte er die Schwierigkeit, die in der extremen Verschuldung einzelner Kronländer bestand und deren Aufhebung nahezu unmöglich machte 51 . Zugleich war ihm bewußt, daß der unterschiedliche sozial-ökonomische E ntwicklungsstand der einzelnen Nationalitä­ ten dem nationalen Ausgleich im Wege stand. Daher betonte er 1907, daß ein endgül­ tiger nationaler Frieden erst nach dem wirtschaftlichen Aufstieg der kleineren Natio205

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nen erreicht werden könne. „Bis zur Ausgleichung der ökonomischen E ntwicklung sind alle nationalen Kompromisse nur Vorverträge zum Frieden.“ 52 Daß seine Reor­ ganisationsvorschläge die ökonomischen Fragen nur unzureichend zu lösen vermoch­ ten, ist ihm durchaus klar gewesen, und er plante 1902, einen zweiten Teil seines „Kampfes der österreichischen Nationen um den Staat“ unter dem Titel: „Die Nation als wirtschaftliche und soziale Frage“ zu verfassen, wollte aber das E rgebnis der Volkszählung abwarten 53 . Nach dem E rscheinen von Bauers „Die Nationalitäten­ frage und die Sozialdemokratie“ hat er diese Absicht aufgegeben; in der Neuauflage von 1918, die unter dem Titel „Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen“ erschien, hat er seine diesbezüglichen Auffassungen nur kurz skizziert 54 . Renner neigte dazu, die wirtschaftlichen Faktoren einseitig für die E rhaltung des Gesamtstaats in Anschlag zu bringen, und zweifellos ist die E xistenz eines einheitli­ chen Wirtschaftsraums, trotz der Ökonomisch nachteiligen Wirkungen des Aus­ gleichs mit Ungarn, allen habsburgischen Völkern zugute gekommen. Nach einer re­ lativ spät einsetzenden Industrialisierung konnte die österreichische Volkswirtschaft bis 1914, auch im Vergleich zum Deutschen Reich, erhebliche Fortschritte verzeich­ nen. Das änderte jedoch wenig daran, daß das Schlagwort der ökonomischen und fi­ nanziellen Ausbeutung der slawischen Völker durch die herrschenden Nationen sich wirkungsvoll in das Vokabular des integralen Nationalismus einfügte. Zugleich lag die Tendenz zur Ausbildung innerer, national definierter Märkte durchaus im Inter­ esse mittelständischer Wirtschaftsgruppen, und die nationale Boykottpolitik in Böh­ men war ein Ausdruck davon. Ferner bewirkte die regional begrenzte Industrialisie­ rung jedenfalls zunächst keine E inebnung, sondern eine Verschärfung der E ntwick­ lungsdifferenzen zwischen den einzelnen Kronländern. Renner vertraute auf die differenzierende Wirkung der sozialen und ökonomischen Interessengegensätze innerhalb der einzelnen Nationalitäten; er erwartete, daß die na­ tionale Parteibildung im Reichsrat wie in den regionalen politischen Körperschaften durch transnationale interessenpolitische Frontstellungen abgelöst werden würde. Dies war eine Illusion, selbst wenn in einzelnen Fällen die sozialen Interessengegen­ sätze die nationale Solidarität durchbrachen. Begreiflicherweise tendierten die Par­ teien dazu, nationale Argumente vor allem dann in den Vordergrund zu rücken, wenn sie Gefahr liefen, durch Hervorkehrung spezifischer sozialer Interessen die innere Geschlossenheit ihrer Organisation in Frage zu stellen oder potentielle Wähler abzu­ schrecken. Die österreichische Sozialdemokratie machte diese Erfahrung namentlich in Mähren, wo der Ausgleich von 1905 gerade keine E ntlastung in der nationalen Frage gebracht hatte 55 . Das eigentliche Problem bestand jedoch in der Interdependenz ökonomischer und national-kultureller Interessen. In seinen Reformentwürfen hatte Renner die Bildung von nationalen Doppelkreisen, d.h. getrennte national-kulturelle Verwaltungen, da­ von abhängig gemacht, ob die Minderheit in der Lage war, aus eigener Kraft eine Mit­ telschule zu unterhalten 56 . In der Praxis lief das darauf hinaus, daß der Ausbau des na­ tionalen Schulwesens von der Steuerkraft der einzelnen Nationen abhängig war; dies mußte zu einer Benachteiligung der weniger entwickelten Nationalitäten führen, selbst dann, wenn man dem Vorschlag von Karel Kramaf gefolgt wäre, das soge206

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nannte Steuererträgnisprinzip anzuwenden, d. h. die Kapitaleigner an den Schullasten der von ihnen beschäftigten Arbeiter angemessen zu beteiligen 57 . Unter den Bedin­ gungen der baltischen Randstaaten, in denen eine äußerst wohlhabende deutsche Minderheit vorhanden war, von der die Aufwendungen für ein nationales Schulwesen ohne weiteres getragen werden konnte, bewährte sich Renners System; nicht jedoch unter den innenpolitischen Bedingungen Österreichs in der Phase des Imperialismus, in der sich kulturelle, ökonomische und machtpolitische Interessen der nationalen Parteien untrennbar verknüpften. Im Unterschied zu Renner erblickte Bauer in der von Kramaf aufgeworfenen Frage der Steuerverteilung ein ernsthaftes Problem, und er entwickelte eine eigene Steuer­ trägertheorie, wonach im Kulturbudget das Steueraufkommen der großen wirtschaft­ lichen Unternehmungen zugunsten der von ihr beschäftigten andersnationalen Arbei­ terschaft berücksichtigt werden sollte; zugleich schlug er vor, einen Teil der E rtrags­ steuern im Verhältnis zur Zahl der Schulkinder den nationalen Selbstverwaltungskör­ perschaften zukommen zu lassen 58 . Allerdings warnte er vor einer Überschätzung dieses Problems. Auch gegenwärtig trüge das Siedlungsgebiet jeder Nation den größ­ ten Anteil der Steuerlast, die zur Unterhaltung der öffentlichen Schulen notwendig sei, und die national-kulturelle Autonomie werde keine grundlegende Änderung be­ wirken. Ferner forderte er eine umfassende Steuerreform, die die bislang proagrari­ sche Tendenz der österreichischen Steuergesetzgebung beseitigte; dies hätte freilich das finanzielle Gewicht der relativ stärker industrialisierten deutschen Gebiete noch weiter vermehrt. Die soziale Differenzierung der österreichischen Nationalitäten konnte jedoch durch steuerliche Maßnahmen nicht wesentlich verändert werden; viel wichtiger wäre eine planmäßige Lenkung der Investitionen in unterentwickelte Re­ gionen gewesen, doch fehlte das Instrumentarium für eine derartige langfristige Strukturpolitik vollständig. Die Frage der nationalen Aufschlüsselung der für kulturelle Zwecke verwandten Steuern rückte in zunehmendem Maß in den Mittelpunkt der innerparteilichen Dis­ kussion. Renners Gedanke, den Nationen für kulturelle Zwecke ein begrenztes Steuereinhebungsrecht zu übertragen, traf auf den schärfsten Widerstand der tsche­ chischen Sozialdemokratie, die darin nur die Verewigung der deutschen kulturellen und ökonomischen Führungsrolle erblickte und die Einführung der nationalen Auto­ nomie von materiellen Vorleistungen der Deutschen abhängig machte. Während Bauer in gewissem Umfang bereit war, den tschechischen Kompensationswünschen entgegenzukommen, lehnte Renner derartige Konzessionen scharf ab. Denn die Durchbrechung des Prinzips, daß jede Nation die für ihre kulturellen Bedürfnisse notwendigen Steuern selbst einheben und selbständig über ihre Verwendung ent­ scheiden sollte, hätte das von ihm vorgeschlagene System der national-kulturellen Autonomie in Frage gestellt. Indem die Kulturausgaben teilweise aus dem gesamt­ staatlichen Budget bestritten worden wären, wäre nicht nur die Finanzhoheit der na­ tionalen Parlamente faktisch hinfällig gewesen, sondern auch das Prinzip der Selbst­ verantwortlichkeit der Nationen für ihre kulturellen Investitionen, das für Renner von zentraler Bedeutung war. Die wesentlichen E ntscheidungen hätten dann doch 207

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beim Zentralparlament gelegen, das Renner ja gerade von spezifisch nationalen Mate­ rien entlasten wollte. Angesichts der Verschränkung der Sprachen- und Schulfragen mit dem Macht­ kampf der nationalen Parteien im Reichsrat war es jedoch aussichtslos, die kulturelle Autonomie im Sinne der Rennerschen Vorschläge innerhalb absehbarer Zeit zu errei­ chen; es war bezeichnend, daß die deutschen Sozialdemokraten ihre Hoffnung auf ein Oktroi setzten 59 . Unabhängig davon hielten zahlreiche innerparteiliche Kritiker Renners Programm für zu kompliziert, und es gewann die Anschauung Raum, daß dieses den Autonomiebestrebungen der Nationalitäten nicht mehr genügte und in zu starkem Umfang an zentralistischen E lementen festhielt 60 . Überdies erblickte der na­ tionalistisch eingestellte rechte Flügel der deutschen Partei darin eine ganz unange­ messene Begünstigung der nichtdeutschen Gruppen. Friedrich Austerlitz, der Chef­ redakteur der „Arbeiterzeitung“, betrachtete die von Renner vorgeschlagene Reorga­ nisation, die als erste Stufe die Schaffung autonomer Kreisorganisationen und Perso­ nalverbände, als zweite Stufe die Wahl von Nationalräten vorsah, als unnötigen Um­ weg, und er fand damit allenthalben Zustimmung. Austerlitz war der Meinung, daß die Wahlreform das Problem im Prinzip bereits gelöst habe: die Wahlordnung be­ deute eine Fixierung der Nationsgrenzen. In den Abgeordneten jeder Nation seien die vorgeschlagenen Nationalräte virtuell bereits vorhanden; man brauche sie nur, gege­ benenfalls in den einzelnen Hauptstädten, einzuberufen 61 . Auch Otto Bauer stimmte dem Gedanken zu, auf dem Weg über das Zentralparlament nationale Teilreformen anzustreben, da die Lage in den einzelnen Landtagen konstruktive nationalitätenpoli­ tische Initiativen aussichtslos erscheinen ließ. Dem entsprach der Antrag des Gesamt­ verbandes der sozialdemokratischen Reichtagsabgeordneten vom Herbst 1909, wo­ nach die Regierung einen bestimmten Beitrag für die Unterhaltung der nationalen Minderheitenschulen bereitstellen sollte, der nach der Kopfzahl der Nationalitäten aufzuschlüsseln sei. Die Verwendung dieser Mittel solle durch die Vertreter der ein­ zelnen Nationen im Abgeordnetenhause entschieden werden, die zu diesem Zwecke nationale Abteilungen zu bilden hätten 62 . Bezeichnenderweise blieb dieser Antrag im Nationalitätenausschuß unerledigt, nachdem Stransky mit Unterstützung der deut­ schen und polnischen Nationalisten im Juli 1910 dessen Vertagung auf unbestimmte Zeit durchgesetzt hatte. Prinzipiell gesehen stellte dieser Antrag einen Bruch mit den Grundlagen des Ren­ nerschen Reformplans dar, wenngleich darin an der von Renner immer wieder gefor­ derten Selbstverantwortlichkeit der Nationen für ihre kulturellen Investitionen fest­ gehalten war. Denn er koppelte die Ausgaben der Nationen für kulturelle Zwecke, die diese auf dem Wege der Selbstverwaltung eintreiben sollten, mit dem zisleithanischen Budget. Gleichwohl hätte dieses Verfahren die starren Frontstellungen auflockern können. Indem der Gesetzentwurf die entsprechenden Mittel nach der Stärke der Na­ tionen, nicht nach der der Minderheiten im andersnationalen Gebiet aufschlüsselte, begünstigte er die „unhistorischen“ Nationen. Die Tschechen bekämpften jedoch nachdrücklich das Prinzip der proportionalen Aufschlüsselung der für kulturelle Ausgaben notwendigen Beträge und verfochten den Standpunkt, daß volle kulturelle Ebenbürtigkeit und nationale Gleichberechtigung erst erreicht werden könnten, 208

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wenn die „unterdrückten“ Nationen für die bisherige Ausbeutung durch das Deutschtum finanziell entschädigt würden. Hinter diesen häufig in nationalistischer Zuspitzung vorgetragenen Argumenten verbarg sich ein nahezu unlösbares Problem, das in der gesamtstaatlichen Subventionierung des tschechischen Kulturwesens, ein­ schließlich des Prager Nationaltheaters und der Karls-Universität, bestand. Wenn von tschechischer Seite immer wieder auf die Gelder hingewiesen wurde, die seit der Schlacht am Weißen Berge von Böhmen nach Wien geflossen waren, so wußten sie doch sehr wohl, daß sich dies im Zuge der nationalen Postulatenpolitik ins Gegenteil verkehrt hatte. In der Tat rächten sich nunmehr die nationalen Konzessionen Taaffes, Badenis und Körbers. Sie führen zu der paradox anmutenden Situation, daß die an­ geblich immer noch „unterdrückte“ tschechische Nation bei einer proportionalen Aufteilung des Kulturbudgets unter die zisleithanischen Nationalitäten schlechter ge­ stellt gewesen wäre als zuvor 63 . Die Stagnation des Reichsrats und die Unentschlossenheit der Regierung, die na­ tionale Frage anzufassen, zerstörten die sozialdemokratischen Hoffnungen, einer Lö­ sung auf dem Wege über das Zentralparlament näherzukommen. Zugleich schwanden die Chancen zu territorialen Teillösungen der nationalen Frage. Zwar identifizierte sich der deutschböhmische Landesparteitag im Februar 1908 mit den Vorschlägen Renners zur Reform der Kreisverfassung in Böhmen, allerdings ohne das Prinzip der Doppelkrise und damit der personalen Autonomie aufzugreifen 64 . Aber dies hatte nurmehr demonstrative Bedeutung. Denn es war unmöglich geworden, dic-Zustim­ mung der tschcchoslawischcn Sozialdemokratie zu diesem Programm zu gewinnen. Auf dem Pilsener Parteitag im Sommer 1907 hatte eine überwältigende Mehrheit der tschechischen Sozialisten das Programm der nationalen Autonomie als ganz unzurei­ chend bezeichnet, da es die wirtschaftlichen Fragen nicht regele und nur die kulturel­ len und sprachlichen Probleme berücksichtige 65 . Auf dem darauffolgenden Tsche­ choslawischen Parteitag in Prag-Smichov im September 1909 vertrat Bohumir Smeral im wesentlichen das Programm Renners und Bauers, konnte jedoch damit nicht durchdringen. Die große Majorität der tschechischen Sozialdemokraten drängte auf eine weitgehende staatliche Autonomie der böhmischen Länder, ohne sich entschei­ den zu können, ob man diese Lösung auf der Grundlage der territorialen oder der per­ sonalen Autonomie anstreben sollte. Im Gegensatz zur deutschböhmischen Sozial­ demokratie wollte man auf absehbare Zeit an der Kronländerverfassung festhalten und die Stellung des Prager Landtags nicht antasten. Selbst die nationale Kreiseintei­ lung, die unter diesen Bedingungen auf einen Minderheitenschutz für das böhmische Deutschtum hinausgelaufen wäre, stieß auf Widerstand. In einer gemeinsamen E rklä­ rung des Clubs der tschechischen sozialdemokratischen Reichsabgeordneten und der Parteileitung vom Januar 1908 hieß es, daß eine auf Böhmen beschränkte Lösung nicht möglich sei. E ine Regelung müsse neben Böhmen und Mähren auch Nieder­ und Oberösterreich umfassen und könne nur auf der Basis eines Kollektivvertrags zwischen der deutschen und der tschechischen Nation erfolgen. Bis dahin halte die tschechoslawische Partei an der Einheit und Unteilbarkeit der Landesverwaltung und der Zweisprachigkeit aller Landes- und Staatsämter in den Sudetenländern fest 66 . Damit schwenkte die tschechische Partei in die Linie des böhmischen Staatsrechts ein 209 14

Mommsen, Arbeiterbewegung

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und machte den Ausgleich in Böhmen von deutschen Vorleistungen in Wien, Nieder­ und Oberösterreich abhängig. Diese intransigente Stellungnahme der tschechischen Sozialdemokratie spiegelt die Verkehrung der Fronten zwischen Deutschen und Tschechen, die in der Zeit der böhmischen Ausgleichsverhandlungen sichtbar wurde. Nunmehr wehrten sich die Tschechen gegen die Festlegung des nationalen Besitzstandes und die gesetzliche Neuregelung der Sprachenfrage. Für die tschechischen Parteien erklärte Kramaf, daß Art. XIX des Staatsgrundgesetzes ausreichend und eine eingehendere Regelung der Amtssprachenfrage nicht notwendig sei. In der Tat waren die tschechischen bürgerli­ chen Gruppen entschlossen, die nationale Frage offen zu halten, und die tschechi­ schen Sozialdemokraten konnten sich dem auf sie ausgeübten politischen Druck nicht entziehen, obwohl sie nach außen am Brünner Programm festhielten und sich formell zur internationalen Zusammenarbeit bekannten. Gerade der rasche wirtschaftliche Aufstieg der böhmischen Länder vermehrte den nationalen Appetit; in Überschät­ zung der tschechischen Bevölkerungszunahme und des Ausmaßes der Wanderungs­ bewegung glaubte man, nationales Territorium hinzuerwerben zu können, obwohl dies im Widerspruch zur wirtschaftlichen E ntwicklung stand, die seit der Industriali­ sierung der böhmischen Kernlandschaften in einer bemerkenswerten Fixierung der Sprachgrenzen resultierte. Die durch die nationale Agitation und durch bewußte „Kolonisationsarbeit“ zurückgewonnenen Minoritäten in den deutschböhmisch und deutsch-mährischen Gebieten wie die politische Organisierung tschechischer Grup­ pen in den E rbländern täuschten eine nationale Kraft vor, die in Wirklichkeit nicht be­ stand, aber die Hoffnung verstärkte, rein zahlenmäßig wie territorial die tschechische Stellung in der Gesamtmonarchie entscheidend ausbauen zu können. Nur daraus ist zu erklären, warum die Frage der nationalen Minderheitenschulen in den Mittelpunkt der nationalen Auseinandersetzungen trat 67 . Die nichtdeutschen Nationalitäten erblickten in der Abwanderung zahlreicher Ar­ beitskräfte in die deutschen industriellen Zentren, insbesondere nach Wien und Nie­ derösterreich, und der in der Regel binnen zwei Generationen vollzogenen Assimilie­ rung an das Deutschtum eine gefährliche Schwächung ihrer nationalen Substanz, zu­ mal man sich unter dem E influß sozialdarwinistischer Ideen daran gewöhnt hatte, die Nationen vorwiegend als biologische E inheiten zu betrachten und der Bevölkerungs­ vermehrung übermäßige Bedeutung zuzumessen. Vor allem die tschechischen natio­ nalen Parteien, und die tschechoslawische Sozialdemokratie stimmte im wesentlichen mit ihnen darin überein, gaben sich der Illusion hin, daß es gelingen könne, den Assi­ milationsprozeß zu unterbinden und die nationale Abwanderung in eine Art antideut­ sche Kolonisationsbwegung umfunktionieren zu können. E benso wie die Deutschna­ tionalen das Gespenst einer Slawisierung Wiens an die Wand malten, hofften zahlrei­ che tschechische Nationalisten, mindestens eine ansehnliche tschechische Minderheit in der Reichshauptstadt organisieren und politisch verwerten zu können 68 . Die deutsche Nationalbewegung, die seit den Badeniwirren in die Defensive ge­ drängt war, antwortete mit der Schließung von tschechischen Privatschulen in Wien und den E rbländern und machte damit klar, daß sie an der E insprachigkeit der deut­ schen Gebiete nicht zu rühren trachtete. Die Tschechen reagierten darauf mit begreif210

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licher Gereiztheit; sie verlangten die von den deutschen Parteien stets abgelehnte Zweisprachigkeit aller Landes- und Staatsämter in den deutsch-böhmischen und deutsch-mährischen Bezirken; in der Praxis mußte das Prinzip der Doppelsprachig­ keit der Beamten auf Kosten des Deutschtums gehen, da das tschechische aufsteigende Bürgertum von je her zur Zweisprachigkeit gezwungen war, das deutsche nicht. Auch die tschechoslawische Sozialdemokratie schwenkte auf dieses Programm ein, das auf der Linie des böhmischen Staatsrechts lag, aber eine vorzeitige Abgrenzung des „na­ tionalen Besitzstandes“ vermied 69 . Sie lehnte das Programm der „nationalen Auto­ nomie“ als ungenügend ab und unterstellte den deutschen Genossen, daß sie dieses nur in der Absicht verträten, die nationale Assimilation der nichtdeutschen Gruppen zu beschleunigen. Das Schlagwort der nationalen Assimilation spielte in den Auseinandersetzungen zwischen den deutschen und tschechischen Sozialisten in der Zeit der Parteispaltung eine ausschlaggebende Rolle. Vor allem auf tschechischer Seite überschätzte man die Möglichkeiten, den nationalen Assimilationsprozeß durch technische Maßnahmen, wie die E rrichtung von Minderheitenschulen, den Ausbau der nationalen E rwach­ senenbildung und politische Organisation, unterbinden zu können. Die deut­ schen Sozialdemokraten waren hingegen nicht bereit, ihnen in dieser Frage unbe­ grenzt entgegenzukommen. Sie charakterisierten zwar die Schließung der Wiener Privatschulen als krasse Rechtsverletzung und forderten eine gesetzliche Regelung des Minoritätenschulproblems, lehnten es hingegen ab, den ausgreifenden tschechischen Schulplänen in bezug auf Wien ihre politische Unterstützung zu geben 70 . In einem Artikel über die nationalen Minderheitsschulen nahm Otto Bauer die tschechischen Ansprüche in Wien ausdrücklich aus oder wollte diese Frage zumindestens mit der Minderheitenfrage im Innern Böhmens gekoppelt sehen. Letzteres war ein taktisches Argument, das die tschechischen Partner daran erinnern sollte, daß eine dauernde Lö­ sung nur auf der Grundlage der Gegenseitigkeit erreichbar sein würde 7 1 . In der Sache selbst vertrat Bauer den Standpunkt, daß die nationale Assimilation notwendig und unaufhaltsam sei, und er ließ keinen Zweifel daran, daß er sie auch als wünschenswert betrachtete und im Prinzip der personellen Autonomie nur eine Not­ und Übergangslösung erblickte. E r wollte daher die nationale Assimilation keines­ wegs unterbinden, sondern durch Stillegung der nationalen Gegensätze beschleuni­ gen. E r verurteilte die von tschechischen und deutschen Nationalisten hochgespielte Schulfrage. „Der Kampf um die tschechische Schule, der die pädagogische Zweckmä­ ßigkeitsfrage zur Frage der nationalen E hre aufbauscht, gefährdet die friedliche Assi­ milation von 200000 erwachsenen Tschechen, in denen ihr Nationalbewußtsein ge­ weckt, ihr nationales E hrgefühl aufgestachelt wird, was sie sonst aus nüchterner Zweckmäßigkeitserwägung freiwillig auf sich genommen hätten“ 72 . Der Standpunkt Bauers wäre konsequent gewesen, wenn er sich nicht gleichzeitig für die E rhaltung der deutschen Minderheiten im tschechischen Siedlungsgebiet Böhmens eingesetzt und beispielsweise für die Fortführung der deutschen Mittelschulen im einsprachigen tschechischen Gebiet ausgesprochen hätte, wie ihm von tschechischer Seite mit Recht vorgehalten wurde 7 3 . Die Position, die Bauer und Renner in der Minderheitenschulfrage einnahmen, war 211

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äußerst widerspruchsvoll und verdeckte handfeste nationale Motive hinter hu­ manistisch-emanzipatorischen E rwägungen. E s ist schwer verständlich, warum ge­ rade Bauer, der als einer der wenigen Mitglieder der Parteiführung das Tschechische beherrschte, wiederholt als Vermittler zwischen Prag und Wien fungierte und im „Kampf“ regelmäßig über die tschechische Parteipresse berichtete, auf die gerade in dieser Frage offen hervortretende E mpfindlichkeit der tschechischen Genossen nur sehr begrenzt Rücksicht nahm. E r erklärte sich gegen die gewaltsame Assimilierung der tschechischen Arbeiterschaft, und insoweit wandte er sich gegen unzumutbaren Sprachenzwang und unterstützte die staatliche Trägerschaft nationaler Minderheiten­ schulen, allerdings nur im gemischt-sprachigen Gebiet. Die Begründung dieses Standpunkts war nicht einheitlich: einerseits wies Bauer darauf hin, daß zwangsweise Germanisierung der tschechischen Arbeiterschaft notwendig auf Kosten der deut­ schen Minderheiten im tschechischen Sprachgebiet erfolge und insofern eine „un­ kluge nationale Politik“ darstelle; zudem liege der kulturelle Aufstieg der tschechi­ schen Arbeiter im Interesse des deutschen Proletariats, das diese dann nicht mehr als Streikbrecher zu fürchten habe. Andererseits erklärte er, daß durch die Gewährung von Minderheitenschulen die freiwillige Assimilation zum Deutschtum erleichtert würde. Das traf in der Sache zu, doch mußte die Begründung, die Deutschen seien „die zahlreichste, kulturell höchst entwickelte und reichste Nation in Österreich“ 74 , die tschechischen Partner geradezu vor den Kopf stoßen, die ohnedies den Verdacht hegten, daß das Programm der nationalen Autonomie deutscherseits vor allem des­ halb vertreten würde, um den nationalen Assimilationsprozeß zu beschleunigen. Renner dachte nicht anders. E r forderte positive soziale Arbeit „im Stillen“, da der nationale „Lärm“ die nationale Assimilation beeinträchtigte 75 . Seine Haltung in die­ ser Frage war von einem ausgeprägten kulturellen Nationalismus bestimmt; er zwei­ felte nie an der kulturellen Führungsrolle des Deutschtums im Donauraum, und in gewisser Beziehung zielten seine Reorganisationsvorschläge darauf ab, durch die Bei­ legung der politischen Nationalitätenkonflikte die deutsche Führungsfunktion in kul­ tureller Beziehung zu erneuern. Sein E intreten für die nationale Assimilation steht in unverkennbarer Spannung zu seiner naturrechtlichen Ableitung des Personalitäts­ prinzips. Geknüpft an die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der einzelnen Nationen, mußte das Personalitätsprinzip in tschechischen Augen als eine geschickt eingefädelte Methode erscheinen, die Assimilation der nichtdeutschen Minderheiten zu erleich­ tern, da die in der Regel günstigere wirtschaftliche Lage der deutschen Minderheiten diese erschwerte. Gewiß war das übertrieben: sowohl Renner wie Bauer waren bereit, den Interessen der nichtdeutschen Gruppen weit entgegenzukommen, aber auf der Basis der Reziprozität und nicht, wie die tschechische Nationalbewegung einstimmig forderte, weiterer deutscher Vorleistungen. Andererseits kann kein Zweifel daran sein, daß sich nicht nur Renner, sondern auch Otto Bauer mit ihren Argumenten dem deutschnationalen Lager beträchtlich annä­ herten. Als Ludo Moritz Hartmann, der Vertreter des nationalistischen Flügels der Partei, in einem Artikel im „Kampf“ offen die Notwendigkeit der nationalen Assimi­ lation und die Preisgabe von Minderheitenschulen im gemischtsprachigen Gebiet for­ derte, verfaßte Bauer gleichwohl eine ungewöhnlich polemische Entgegnung, obwohl 212

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er in der Sache nicht wirklich divergierte und nur ein anderes taktisches Vorgehen guthieß 7 6 . Auf dem Innsbrucker Parteitag 1911 wiederholte Hartmann, der von tschechischer Seite als Inkarnation des Nationalismus in der deutschen Sozialdemo­ kratie apostrophiert wurde, seine Forderung. In größter E rregung verwahrte sich Jo­ sef Seliger, der Führer der deutsch-böhmischen Landespartei, gegen Hartmanns Un­ terstellung, daß die deutschen Sozialdemokraten ein Interesse daran hätten, die Assi­ milation der Minderheiten durchzusetzen. »Gegen diese Unterstellung«, erklärte Se­ liger, „müssen wir uns mit Klauen und Zähnen wehren, das heißt uns ja in einen Topf werfen mit den deutschen Nationalisten“ 77 . Gewiß war es ein Unterschied, ob man die Assimilation auf friedlichem Wege, gewissermaßen freiwillig, oder mit Zwangs­ mitteln, wie der Verweigerung eines nationalen Schulwesens, herbeiführen wollte; aber in der Sache war man vom deutschnationalen Standpunkt, der den nichtdeut­ schen Gruppen die national-kulturelle Autonomie in deutschen Siedlungsgebieten kategorisch verweigerte, nicht weit entfernt. Dies zeigte sich insbesondere in der Anpassung der sozialdemokratischen Agitation an die vorherrschende nationalistische Tendenz, und Bauer und Renner machten hiervon keine Ausnahme. Kautsky äußerte sich sehr kritisch zu dieser E ntwicklung: „Die deutschen Sozialdemokraten waren bisher in nationalen Dingen die einzig ver­ nünftigen Leute in Österreich . . . Wenn sie jetzt auch in nationalem E mpfinden, d. h. in nationaler E mpfindlichkeit machen, dann geht die letzte Spur Vernunft in Öster­ reich flöten“ 78 . Indessen eröffnete gerade Bauers Formel, daß die soziale E manzipa­ tion des Proletariats mit dessen Konstituierung als Nation identisch sei, den Weg zu unverhüllt nationalistischen Argumenten. In seiner 1907 verfaßten Schrift „Deutsch­ tum und Sozialdemokratie“ hielt Bauer der deutschnationalen Propaganda entgegen, daß die Sozialdemokratie weit mehr zur Größe und Macht der deutschen Nation bei­ getragen habe als die Gesamtheit der nationalistischen Phrasendrescher. Die Politik der besitzlosen Klassen sei die einzige „wahrhaft nationale Politik“, da die Hebung des Lebensstandards der Arbeiterklasse, die am meisten zum Wachstum der Volks­ zahl beitrage, allein die Macht der Nation zu steigern vermöge. Der Klassenkampf sei zugleich ein Kampf um die Größe der Nation. Jede neue Gewerkschaftsgruppe, jede neue sozialdemokratische Organisation, fuhr er in fataler Logik fort, sei ein neuer Angriffspunkt der deutschen Kultur im Sinne der inneren Kräftigung des nationalen Bewußtseins 79 . E s sei, hatte er ein Jahr zuvor geschrieben, nicht nur eine „infame Lüge“, wenn man der Sozialdemokratie unterstelle, „nationslos“ und „unnational“ zu sein; vielmehr sei die Voraussetzung des proletarischen Internationalismus eine wahrhafte nationale Gesinnung, die sich allein bei der Arbeiterschaft finde 80 . Ebensowenig konnte das immer wiederkehrende Argument überzeugen, daß die sozialpolitischen Ziele der Sozialdemokratie in erster Linie dem Deutschtum zu Gute kämen. „Wollen wir die Volkszahl und die Macht des deutschen Volkes vermehren, uns vollen Anteil an der deutschen Kultur erringen, so müssen wir im Bunde mit den arbeitenden Klassen der anderen Nationen die Ausbeuter und Unterdrücker aller Na­ tionen bekämpfen und besiegen“, schrieb Renner 81 . Gewiß darf die prinzipielle Be­ deutung derartiger Argumente nicht überschätzt werden, da sie vorwiegend agitato­ risch gemeint waren. Andererseits ist schwerlich zu übersehen, daß sich Bauer und 213

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Renner mit derartigen E rwägungen in die Nähe Karl Leuthners begaben, der aus­ drücklich den nationalen Charakter der sozialdemokratischen Agitation bejahte, nicht nur, weil sich die „Werbekraft“ der Sozialdemokratie dadurch erhöhte, sondern weil diese „als Partei des Volkes die Aufgaben der Nation durchzuführen hat“ 8 2 . Und konnte sich nicht auch Friedrich Austerlitz auf Bauer berufen, wenn er die Sozialde­ mokratie als „Erbin des Nationalitätsprinzips, als Erbin des nationalen Ideals der bür­ gerlichen Revolution“ hinstellte und ihr die weltgeschichtliche Aufgabe der Verwirk­ lichung des Nationalitätsprinzips in Österreich zuwies 8 3 . Die sich häufenden Äußerungen dieser Art zeigten, daß nicht nur auf seiten der tschechoslawischen Sozialdemokratie, sondern auch auf seiten der deutschen Partei die Voraussetzungen für eine Revision und Konkretisierung des Brünner Nationalitä­ tenprogramms verloren gegangen waren. Obwohl der Reichenberger Parteitag 1909 die Programmrevision beschlossen hatte und der tschechische Parteitag in Prag vom gleichen Jahre sich für die Aufnahme von Verhandlungen mit den nationalen E xekuti­ ven über ein Gegenwartsprogramm in der nationalen Frage aussprach 84 , fehlten alle inneren Voraussetzungen dafür. In Innsbruck erklärte Adler, indem er die Hauptkri­ tik an die tschechoslawische Partei richtete, die Partei sei „nicht mehr in der Verfas­ sung“ gewesen, „unabhängig von den Stimmungen der bürgerlichen Parteien und un­ beeinflußt von den nationalen Strömungen“ zu einem gemeinsamen Programm zuj;e­ langen, das mehr als allgemeine Grundsätze enthielt 85 . Aber ganz abgesehen davon, daß ein internationales Programm angesichts der übersteigerten tschechischen Forde­ rungen und der nationalistischen Gereiztheit der Prager Parteiführung nicht mehr zu­ standekam, erscheint es zweifelhaft, ob es noch möglich war, die deutsche Partei auf ein gemeinsames Programm in dieser Frage zu einigen, das mehr als bloß taktische Bedeutung besässen hätte. Denn Renners Reorganisationspläne fanden nurmehr sehr geteilten Beifall, und Bauer war nach seinem eigenen späteren Zeugnis bereits skep­ tisch geworden, ob sich eine Lösung auf dem Boden der alten Monarchie noch errei­ chen lassen würde. Auch in den Führungsgruppen der deutschen Partei waren natio­ nale Vorstellungen im Vordringen; sie mischten sich mit dem Gefühl der Resignation, daß Renners umfassende Reorganisation der Monarchie utopisch und das Deutsch­ tum, das eine solche Lösung hätte tragen müssen, im Rückzug befindlich sei. Auster­ litz - und er repräsentierte hierin die Mehrheitsmeinung- wies Renners und Bauers vorübergehende Hoffnungen, Ungarn in das Reorganisationswerk einzubeziehen, mit dem Argument zurück, daß man sich nicht in einem weiteren „Aufmarsch von Völkern“ begraben lassen wolle 8 6 . Vor allem die internationale Situation, die einen Zerfall der Monarchie unwahrscheinlich machte, weniger die staatsbejahende Tradi­ tion hinderte ihn und die Masse der deutschen sozialdemokratischen Politiker daran, sich für den Anschluß der deutschen Teile Österreichs an das Deutsche Reich einzu­ setzen. Das Prinzip der personalen Autonomie wurde überwiegend als assimilations­ hindernd verworfen, jede Lösung, die, wie Renners Vorschläge, an einer zentralisti­ schen Gesamtstruktur festhielt, in Zweifel gezogen. Der Gedanke einer möglichst weitgehenden nationalen Trennung setzte sich immer stärker durch. Zwar blieben die Vorschläge Renners insoweit auf der Tagesordnung, als sie die böhmische Frage betrafen. Dies galt insbesondere für die Schaffung national einheitli214

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eher Kreise; hingegen war an die Beseitigung der herkömmlichen Kronländer schwer­ lich zu denken, zumal auch die deutschen Sozialdemokraten die sich faktisch immer stärker abzeichnende Sonderstellung Galiziens bejahten; zugleich zeigte die enge Zu­ sammenarbeit der tschechischen Parteien unter E inbeziehung der Sozialdemokraten, daß eine weitgehende staatliche Autonomie der böhmischen Länder das erklärte Ziel der tschechischen Nationalbwegung geblieben war 8 7 . Wenn die Reichskonferenz der Deutschen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Österreich im März 1916 unter dem Punkt „Österreich nach dem Kriege“ die Forderung erhob, daß durch Staats­ grundgesetz alle Kreise je einer Nation ermächtigt werden sollten, Zwangsverbände zur gemeinsamen und einheitlichen Verwaltung der nationalen und kulturellen Inter­ essen ihres Volkes zu bilden 88 , so konnte doch kein Zweifel daran sein, daß Renners dualistischer Verwaltungsaufbau, der hiermit zum offiziellen Parteiprogramm ge­ macht wurde, den Interessen der nichtdeutschen Gruppen zu diesem Zeitpunkt nicht mehr entsprach. Das maßgeblich von Otto Bauer beeinflußte, Anfang 1918 vorgelegte Nationalitä­ tenprogramm der Linken trug dem politischen Autonomiestreben der Nationalitäten voll Rechnung, proklamierte das Selbstbestimmungsrecht der Nationen und forderte selbständige nationale Verfassungen und Verwaltungsorganisationen 89 . In mancher Hinsicht tradierte es jedoch die Vorstellung, daß eine Regelung auf der Basis der Ge­ meindeautonomie möglich sei; die Gemeinden sollten durch Volksabstimmung über ihre nationale Zugehörigkeit selbständig entscheiden. In einer charakteristischen Verkehrung der Frontstellung machte jetzt Renner der Linken zum Vorwurf, daß das von ihr vertretene Nationalitätenprogramm die bestehenden öffentlichen E inrichtun­ gen als nicht existent betrachte und das Staatsvolk in „lokale Trümmer“ atomisiere. Das Programm stelle einen Rückfall in die „waschechte, reine Staats- und Gesell­ schaftsanschauung des alten Liberalismus“ dar 9 0 . Demgegenüber verlangte nun Ren­ ner, die ökonomischen Notwendigkeiten zum Ausgangspunkt einer Regelung zu ma­ chen ; gleichzeitig kritisierte er die großdeutsche Orientierung des Programms, das die Illusion der bürgerlichen Demokratie erneuere und in alldeutsche Forderungen ein­ münde. Renner war freilich seinerseits ein Anhänger der Mitteleuropapläne Nau­ manns, die er mit seinem Konzept einer supranationalen Organisation Südostmittel­ europas zu versöhnen hoffte. Richtig an dieser Kritik war die Feststellung, daß im Nationalitätenprogramm der Linken viel von Demokratie, Revolution und Internationalismus, aber nicht von So­ zialismus die Rede war 91 . In der Tat hatte der linke Flügel zwar die Leninsche Strate­ gie, die das Selbstbestimmungsrecht bis zur Lostrennung dialektisch mit straffer Par­ teieinheit verknüpfte, zu kopieren gesucht, sie aber in entscheidenden Punkten ver­ wässert. Die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechtes wurde vom vollen Sieg der internationalen Demokratie abhängig gemacht. Das war, theoretisch gesehen, ein Rückschritt hinter die früher von Bauer eingenommene Position, daß allein der Sozia­ lismus die Selbstbestimmung der Nationen sicherstellen könne. Das Selbstbestim­ mungsrecht war damit nicht mit der sozialistischen, sondern der demokratischen Re­ volution verknüpft, die allerdings mit verschärftem Klassenkampf verbunden war. Hinter dem Programm verbarg sich eine Ambivalenz der Ziele, die keineswegs nur 215

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der Rücksichtnahme auf die Zensur, die einen offenen Angriff auf den Bestand der Monarchie untunlich erscheinen ließ, entsprang. E inerseits hoffte Bauer, durch den Anschluß an die deutsche Demokratie die sozialdemokratische Partei in den deut­ schen Gebieten Österreichs aus der ihr durch die innenpolitischen Bedingungen auf­ gezwungenen politischen Passivität herausführen zu können. Andererseits erhoffte er die Wiederherstellung der sozialdemokratischen Gesamtpartei wie der Gewerk­ schaftseinheit in einer Phase verschärften Klassenkampfs. Beide Ziele schlossen ein­ ander aus. E ine Partei, die sich faktisch zum Anwalt des Anschlußgedankens machte, konnte nicht gleichzeitig der Träger der im Programm vorgeschlagenen institutionel­ len Neuordnung sein, da sie sich auch von den fortschrittlicheren Gruppen des natio­ nalen Bürgertums insbesondere der nichtdeutschen Völker löste. Dahinter verbarg sich die Vorstellung, man könne der bürgerlichen Demokratie die Lösung der Natio­ nalitätenfrage überlassen, um auf dieser Basis den Klassenkampf entschiedener fort­ zuführen. Das Nationalitätenprogramm der Linken war daher, bei aller berechtigten Kritik am überwuchernden Nationalismus in den sozialdemokratischen Gliedparteien der Monarchie, kein grundlegender Wendepunkt der sozialdemokratischen Nationalitä­ tenpolitik in Österreich, und es war keineswegs so weit von der gemäßigteren Posi­ tion des Parteizentrums entfernt, als dies zunächst den Anschein hatte. Im Grunde stellte es nur eine taktische Variante der generell vertretenen Zielsetzung dar, durch eine weitgehende Aufgliederung Österreichs in national möglichst einheitliche Terri­ torien und eine enge Verbindung mit dem Deutschen Reich zu einer pragmatischen Lösung zu kommen, ohne die Vorzüge des einheitlichen Wirtschaftsraums preiszu­ geben. Zwar hielt namentlich Victor Adler an dem Gedanken des Nationalitätenbun­ desstaates fest, ohne ihm noch sehr viel Chancen zu geben; aber die Lösung, die Au­ sterlitz schon 1907 angestrebt hatte, die Konstituierung der Reichsratsabgeordneten jeder nationalen Gruppe als eigene Repräsentativkörperschaft wurde im Spätherbst 1918 von der Sozialdemokratie willig aufgegriffen, nachdem sich gezeigt hatte, daß der Gesamtstaat nicht erhalten werden konnte. Das Nebeneinander des letzten kaiser­ lichen Kabinetts Lammasch und der provisorischen Nationalregierungen, das den Konstituierungsprozeß der Nachfolgestaaten erleichterte, war in gewisser Weise eine Variante der von Renner und Bauer angestrebten Regierungsstruktur; sie beleuchtete den Tatbestand, daß auch bei einem rechtzeitigen E ntgegenkommen der Dynastie die vitalen politischen E nergien bei den neuen nationalistischen E inheiten gelegen und zur Sprengung des gesamtstaatlichen Verbandes geführt hätten. Die von Karl Renner und Otto Bauer verfochtenen Reorganisationspläne, die nie­ mals zum vollen Bestandteil der mit dem Brünner Programm eingeleiteten sozialde­ mokratischen Nationalitätenpolitik in Österreich wurden, waren unter den Bedin­ gungen der alten Monarchie zum Scheitern verurteilt. Renners kultureller Nationa­ lismus und Bauers großdeutsche Haltung traten in den nationalitätenpolitischen Aus­ einandersetzungen innerhalb der Sozialdemokratie nach der ersten russischen Revo­ lution von 1905 zunächst nur indirekt hervor. Ihre Stellungnahme zur Frage der na­ tionalen Assimilation, zum Problem der Minderheitenschulen und der wirtschaftli­ chen Implikationen der Nationalitätenfrage zeigt deutlich, daß sie von der nationali216

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stischen Strömung ihrer Zeit nicht unbeeinflußt geblieben waren. Ihre Lösungsvor­ schläge in der nationalen Frage mündeten in eine Aporie, die darin bestand, daß die anhaltenden nationalen Konflikte, die zunehmend den Charakter imperialistischer Machtkämpfe annahmen, den Weg zu demokratischen Reformen verbauten, die die Voraussetzung jedes dauerhaften nationalen Ausgleichs darstellten. Die Tatsache, daß Renners und Bauers nationalitätenpolitische Programme niemals die Chance gehabt haben, auf österreichischem Boden erprobt zu werden, kann frei­ lich deren prinzipielle Bedeutung nicht verdecken. Renners Vision eines europäischen multinationalen Bundesstaats ist heute in greifbare Nähe gerückt; seine Organisa­ tionsmuster besitzen angesichts der gleichwohl in E uropa anhaltenden Nationalitä­ tenpolitik praktische Bedeutung, zumal die Vorstellung der vollen nationalen Souve­ ränität angesichts der anwachsenden supranationalen Verflechtung eine leere Formel geworden ist. Bauers grundlegende E insicht, daß der Übergang zur sozialistischen Gesellschaftsform die nationalen Züge verstärken werde, ist durch die historische E r­ fahrung bestätigt worden. Die wirkungsvolle Ausnützung nationalistischer Ressen­ timents durch die faschistischen Bewegungen in der Zwischenkriegszeit läßt zugleich die Bestrebung beider Theoretiker, die soziale E manzipation des Proletariats mit ei­ nem positiven nationalen Programm zu verbinden, als sehr viel weitsichtiger erschei­ nen, als dies vom Standpunkt eines rigorosen proletarischen Internationalismus aus der Fall ist, welcher in der Praxis vielfach in nationale Unterdrückung umschlägt.

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Teil III

Aufstieg und Krise der Arbeiterbewegung

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11. Typologie der Arbeiterbewegung 1. Begriff der A r b e i t e r b e w e g u n g Die auf politische und soziale Emanzipation gerichteten Bestrebungen des Teils der handarbeitenden Bevölkerung, der seit der Durchsetzung der industriellen Revolu­ tion vorwiegend in Industrie und Gewerbe abhängiger Lohnarbeit nachging und auf­ grund einer gleichartigen sozialen Lage sich als eigenständige gesellschaftliche Klasse begriff, werden vom zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts an als Arbeiterbewegung bezeichnet. Der Begriff Arbeiterbewegung umfaßt so die Gesamtheit der auf dem Prinzip kollektiven Zusammenschlusses beruhenden Bemühungen der handarbeiten­ den Schichten, ihre soziale Lage zu verbessern und sich politische Rechte zu erkämp­ fen. Die Arbeiterbewegung tritt uns überwiegend in den beiden Formen gewerk­ schaftlicher Organisation und politischer Parteibildung entgegen; jedoch sind beide Ausdruck derselben geschichtlichen Bewegung, der E manzipation der sozialen Un­ terschichten, die aus der „bürgerlichen Gesellschaft“ des ancien régime als „Pöbel­ stand“ ausgeschlossen waren. Der seit Anfang der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts geläufig werdende Begriff Arbeiterbewegung (F. E ngels spricht 1845 von „Arbeiterbewegungen“ in E ngland) streifte die negative Bedeutung (Erhebungen und Unruhen der arbeitenden Schichten) ab und enthielt in Analogie zum liberalen Beivcgungshcgnii eine auf grundlegende Neuordnung gerichtete, progressive Tendenz, die sich deutlich abhob von traditio­ nell geprägten zünftlerischen Zusammenschlüssen der Handwerksgesellen. Die Übernahme des Begriffs „Arbeiter“ als Selbstbezeichnung der die Anfänge der Arbei­ terbewegung tragenden Handwerksgesellen, denen aufgrund der Veränderung der wirtschaftlichen Verhältnisse und der durch das Bevölkerungswachstum bedingten Übersetzung der selbständigen Handwerksberufe der soziale Aufstieg zum Hand­ werksmeister verwehrt war, bezeichnet den Beginn und das spezifisch neuartige Selbstverständnis der Arbeiterbewegung. Neben das herkömmliche Standesbewußt­ sein des Handwerkers trat „ein überkorporatives Zusammengehörigkeitsgefühl als , Arbeiter'“ 1 . Die berufsständische Differenzierung, die in den älteren Vereinigungen des handwerklichen Gehilfenstandes, den „Gesellschaften“ oder den „Gewerken“ der Bergarbeiterschaft zum Ausdruck kam, wich einem Solidaritätsbewußtsein aller der­ jenigen, die durch abhängige und unselbständige Handarbeit ihren Lebensunterhalt bestritten. Die zeitgenössische Verwendung des Begriffs der Arbeiterklasse bzw. der „arbeitenden Klassen“, welcher von Karl Marx mit einem spezifischen politisch-theo­ retischen Inhalt erfüllt wurde, entspricht dem Selbstverständnis wie der sozialen Lage der sich zur Vertretung gemeinsamer Interessen zusammenschließenden Handwerks­ gesellen. Der trotz Differenzierungen zwischen den einzelnen industriellen Sektoren und zwischen gewerblicher und agrarischer Wirtschaft im Zeitalter der Frühindustrialisie221

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rung bestehenden gleichartigen sozialen Lage der Arbeiterklasse standen einschnei­ dende rechtliche Restriktionen zur Seite, die unter dem Druck des sich politisch zu­ nehmend durchsetzenden liberalen Unternehmertums häufig noch verschärft wur­ den. Sie reichten von dem generellen Vereinigungs- und Koalitionsverbot über E in­ schränkungen der Freizügigkeit bis zu demütigenden Armengesetzgebungen und Heiratsverboten für Unbemittelte. Das von der Unternehmerseite unter Hinweis auf die Theorien von R. Malthus und auf die von D. Ricardo und A. Smith verfochtenen Lehren des klassischen Wirtschaftsliberalismus als soziales Grundgesetz hingestellte Prinzip des „freien Arbeitsvertrags“ war zunächst ausschließlich ein Mittel sozialer Unterdrückung. Das sich spontan bildende Solidaritätsbewußtsein in dem zur E rkenntnis seiner so­ zialen Situation gelangenden Teil der Arbeiterschaft war in spezifischem Sinn revolu­ tionär-. E s richtete sich zunächst auf die Beseitigung einzelner sozialer Mißstände, führte aber konsequent zur Forderung nach einer neuen gesellschaftlichen Ordnung, wenngleich die Vorstellungen davon zunächst verschwommen, häufig utopisch und mit religiösen E lementen durchsetzt blieben. Die Arbeiterbewegung unterscheidet sich durch dieses in die Zukunft weisende So­ lidaritätsbewußtsein grundsätzlich von den - von einigen Autoren als Vorläufer inter­ pretierten - Gesellenverbindungen des späten Mittelalters wie von den die E ntstehung des modernen Fabriksystems begleitenden Arbeiterunruhen. Die in E ngland 1811/12 auf den Höhepunkt gelangenden Aufstände gegen die E inführung maschineller Produktionsverfahren (Maschinenstürmer), die Seidenwebererhebung in Lyon (1831/34), die durch F. W. Wolffs Darstellung bekannt gewordenen Hungerauf­ stände in den schlesischen Weberdörfern von 1844 sind Zeugnisse beginnender sozia­ ler Unruhe und Reaktion auf die grenzenlose wirtschaftliche Not, welche die E rset­ zung der vor allem in der Textilindustrie überwiegenden Heimarbeit durch die ma­ schinelle Fabrikproduktion bei den in diesen Berufszweigen Beschäftigten hervorrief. Sofern diese vielfach mit militärischen Mitteln niedergeschlagenen Revolten über­ haupt einen formulierbaren politischen Gehalt hatten, bestand er im Protest gegen die Aushöhlung der älteren Sozial- und Wirtschaftsverfassung, insbesondere die Zerset­ zung der berufsständischen Differenzierung des Handwerks. E in wirksamer Anstoß zur Bildung der Arbeiterbewegung ging von diesen nach rückwärts gerichteten, ange­ sichts der Haltung der Staatsmacht zur Aussichtslosigkeit verurteilten Protest- und Aufstandsaktionen im allgemeinen nicht aus, wiewohl sie die Disposition zur Bildung kollektiver Zusammenschlüsse in der Arbeiterschaft begünstigten. Die Initiatoren und ersten Träger der Arbeiterbewegung waren in der Regel nicht die Fabrikarbeiter und nicht die im zeitgenössischen Sinne des Worts „proletarisier­ ten“ Massen der werktätigen Bevölkerung, sondern die nicht mehr zur Selbständig­ keit aufsteigenden Handwerksgesellen, die in vorwiegend handwerklich bestimmten Betrieben Anstellung fanden. Die Masse des „verelendeten“ Proletariats war über lo­ kale Streikaktionen hinaus für organisatorische Zusammenschlüsse kaum zu gewin­ nen, wobei neben den über jedes vorstellbare Maß hinausgehenden Arbeitszeiten die starke Fluktuation und Unstetigkeit der Arbeit, die Le Play dazu veranlaßte, von ei­ nem „Nomadentum der Industrie“ zu sprechen, hindernd ins Gewicht fielen. Die E r222

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scheinung, daß die ungelernte und vielfach nur zeitweise beschäftigte Arbeiterschaft (Saisonarbeit) von den Organisationen der Arbeiterbewegung nur schwer erfaßt wur­ de, bleibt bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts erhalten und tritt erst zurück, als durch gewerkschaftliche Zusammenschlüsse und infolge der aus Gründen betriebli­ cher Rationalität erzwungenen E rsetzung einer fluktuierenden ungelernten Arbeiter­ schaft durch sozial bessergestellte Stammarbeiter die sozialen Mißstände der Frühin­ dustrialisierung überwunden waren. Gleichwohl ist es Kennzeichen der Arbeiterbewegung, daß sie die Gesamtheit der handarbeitenden Bevölkerung einschließlich der Landarbeiterschaft zu umfassen sucht und trotz der führenden Rolle einer erheblichen Zahl bürgerlicher Intellektuel­ ler durch einen in den jeweiligen E ntwicklungsstufen und den verschiedenen Ländern in unterschiedlichem Maße hervortretenden, grundsätzlich gegebenen Gegensatz zum bürgerlichen Liberalismus charakterisiert ist. Die verschiedenen Übergangsfor­ men, wie die Genossenscbafts- und die Selbsthilfebewegung, widersprechen dem nicht. An die Stelle des für die Anfangsphase der Arbeiterbewegung typischen Soli­ daritätsbewußtseins der Arbeiter als sozial nicht hinreichend integrierter Bevölke­ rungsgruppe tritt seit den sechziger Jahren unter marxistischem E influß ein spezifisch revolutionäres proletarisches Klassenbewußtsein u n d - i n Konkurrenz dazu und häu­ fig davon nur überdeckt - der Gedanke der berufsständischen Interessenvertretung in den Vordergrund.

2. F r ü h f o r m e n der A r b e i t e r b e w e g u n g

Die tiefgreifende Verelendung großer Teile der Heimarbeiter und der neu entste­ henden Fabrikarbeiterschaft, das Absinken zahlreicher selbständiger Gewerbetrei­ bender und Handwerker auf den Status abhängiger Lohnarbeiter, die Abwanderung von Arbeitskräften vom flachen Land in die sich ausbildenden industriellen Zentren sprengten die herkömmliche Sozialverfassung, die das Problem der Landarmut, das in gewissem Umfang immer bestand, durch eine Mischung von patriarchalischer Für­ sorge und polizeilichen Zwangsmaßnahmen zu lösen versucht hatte. Die Unterbrin­ gung des Proletariats in notdürftigen Unterkünften ohne ein Mindestmaß sanitärer Einrichtungen zerstörte zugleich das geringe Maß gesellschaftlicher Integrierung, das den Dienstboten- und Tagelöhnerstand ausgezeichnet hatte. Auch auf bürgerlicher Seite wurde das Problem des Pauperismus, d. h. der zunehmenden, mit den bisherigen Fürsorgeeinrichtungen nicht abzufangenden Massenarmut, als bedrohlich angesehen; jedoch hielt die Mehrheit der liberalen Nationalökonomen unter dem E influß der Malthusschen Warnung vor einer Übervölkerung und der als unabänderliches öko­ nomisches Grundgesetz betrachteten Lehre von Angebot und Nachfrage auch auf dem Arbeitsmarkt das Absinken des Lebensstandards eines Teiles der handarbeiten223

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den Schichten für ein notwendiges sozialökonomisches Regulativ. Diese Vorstellung, die in veränderter Form in der Marxschen Lehre von der industriellen Reservearmee fortgesetzt wurde, erklärt, daß die Arbeiterschaft vielfach zunächst dem Gedanken anhing, durch staatliche Organisation der Arbeit, d. h. der Sache nach durch Arbeits­ beschaffung, die soziale Frage lösen zu können. Die Ansätze einer bürgerlichen Sozialreform hatten daher im Zeitalter der Frühin­ dustrialisierung wenig Aussicht auf E rfolg. Robert Owen versuchte vergeblich, die verantwortlichen Gruppen im Kabinett zu den von ihm als dringlich empfundenen gesetzgeberischen E ingriffen zu bewegen. E r regte die Arbeiter daher zu gewerk­ schaftlichen Zusammenschlüssen an, um ihren Forderungen durch öffentliche Peti­ tionen Nachdruck zu geben. Nicht Owens Ansätze einer Sozialreform auf privater Basis (Genossenschaftsdörfer), sondern sein Gedanke kollektiver Aktionen der Ar­ beiterschaft sind für die Arbeiterbewegung epochemachend geworden. In abgewan­ delter Form gilt dies für die frühen bürgerlichen Sozialreformer überhaupt, die direkt und indirekt die Arbeiterschaft zum organisatorischen Zusammenschluß - durchaus nach dem Vorbild des bürgerlich-liberalen Vereinswesens - veranlaßten. Träger der ersten Arbeiterorganisationen war nicht das verelendete Proletariat und nicht die ungelernte Arbeiterschaft. Vielmehr kämpften gerade die Gruppen gegen ihre Proletarisierung an, bei denen ein berufsständisches Bewußtsein fortlebte, wel­ ches sich in der Folge in das neue Klassenbewußtsein umbildete. Die Streiks der Lyo­ ner Seidenweber von 1831 wurden von den Subkontrakteuren angeführt, die über ei­ gene Maschinen und angestellte Arbeiter verfügten. Die ersten gewerkschaftlichen Zusammenschlüsse finden sich in den Berufszweigen, die an der Spitze der Lohnpy­ ramide standen und in ihrer Struktur am wenigsten durch die industrielle Revolution umgeformt wurden (Buchdrucker, Schiffbauer, Zigarrenmacher u. a.). Die Arbeiter­ bewegung ist aus der Arbeiteraristokratie hervorgegangen; diese hat auf lange Zeit hinaus eine führende Rolle gespielt und stellt den entscheidenden ideologischen Ver­ mittler zwischen den bürgerlichen Theoretikern und den arbeitenden Massen dar. Die Anfänge der Arbeiterbewegung stehen daher notwendigerweise auf dem Boden des bürgerlichen Radikalismus. Vorstufen, wie im E ngland des ausgehenden 18. Jahrhunderts (London Corresponding Society, Norwich Revolution Society, United Englishmen, United Irishmen), gehören zur demokratischen und jakobinischen Be­ wegung. In den USA wie in Frankreich stehen die ersten Arbeiterclubs nicht weniger unter dem E influß der Ideen der Menschenrechte, tradieren sie in starkem Maße indi­ vidualistische Vorstellungen der Aufklärung. Die gewaltsame Unterdrückung der Ansätze einer politischen Arbeiterbewegung führt in E ngland und Frankreich - nach Episoden aufrührerischer Protestbewegungen (Luditten, Lyoner Aufstand u. a.) - im Zusammenhang mit der Verschärfung der Spannungen zwischen Unternehmern und Arbeitern zu gewerkschaftlichen Zusammenschlüssen, häufig im Anschluß an die be­ stehenden handwerklichen Unterstützungskassen. Die Gewerkschaftstätigkeit bleibt in doppelter Weise beschränkt: sie umfaßt ausschließlich Facharbeiter, und sie gelangt nicht zu überregionalen Zusammenschlüssen. Für das Scheitern gesamtnationaler Zu­ sammenschlüsse, wie sie zuerst 1818 in England angestrebt werden, sind lokale Inter­ essen, aber auch die Gefahr politischer Unterdrückung maßgebend gewesen. 224

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Nur in E ngland kommt es vor 1848 mit dem Chartismus zu einem geschlossenen politischen Auftreten eines Teils der Arbeiterschaft zusammen mit den bürgerlichen Radikalen. Die National Union of the Working Classes and Others (1831) und die London Working Men's Association (1836) bilden den Kern einer zunächst lockeren Gesamtverbindung; die 1840 gegründete National Charter Association kann als erste Arbeiterpartei bezeichnet werden. Gleichzeitige Bestrebungen in den USA bleiben isoliert. Die vorwiegend von der Handwerkerschaft getragene, auf E rkämpfung de­ mokratischer Rechte und Reform des Parlaments gerichtete chartistische Bewegung verblieb jedoch unter der Führung des linken Flügels der Whigs und scheiterte, wie das Armengesetz von 1834 zeigt, hinsichtlich der sozialpolitischen Forderungen auf der ganzen Linie. Die lebhaften Ansätze einer selbständigen Arbeiterbewegung im Frankreich nach der Juli-Revolution fielen Assoziationsverbot und der ideologischen und personellen Kräftezersplitterung zum Opfer. Der soziale Flügel des französischen Radikalismus konnte sich vor und in der Revolution von 1848 um so weniger durchsetzen, als er sich im politischen Richtungsstreit aufrieb. Die mit dem Triumph der Konterrevolution endenden Juli-Ereignisse besiegelten den Irrtum der französischen Arbeiterschaft, die „Organisation der Arbeiter“ durch die „Organisation der Arbeit“ ersetzen zu kön­ nen. Für die Schwäche der Arbeiterbewegung war maßgebend, daß größere Ballun­ gen von Fabrikarbeitern fast ausschließlich auf Paris beschränkt waren und der Klein­ und Familienbetrieb bei weitem überwog. Wenn die Radikalen nach 1840 staatlich di­ rigierte Arbeiter-Assoziationen forderten, geschah das aus dem Grunde, daß sie kein Vertrauen in die Lebensfähigkeit freigebildeter Assoziationen hatten. Die französi­ sche Arbeiterbewegung vor 1848 beruhte organisatorisch gesehen auf zahlreichen Unterstützungsvereinen, die vielfach auf die traditionellen Reiseunterstützungskas­ sen der Handwerkergesellen zurückgingen. Die Pariser Buchdrucker besaßen seit 1839 eine geschlossene gewerkschaftliche Organisation, die es zuließ, erfolgreich Streiks durchzustehen. Daneben stand eine Fülle konspirativer, meist blanquistisch oder babouvistisch beeinflußter Arbeiterclubs, die namentlich in Paris die Kristallisa­ tionskerne zahlreicher Streikkämpfe bildeten. Die Verhältnisse in Italien waren angesichts der geringen Industrialisierung und der ausstehenden nationalen E inigung noch weniger geeignet, zu einer selbständigen Ar­ beiterbewegung zu führen. Hier hatte das Unterstützungswesen erhebliche Bedeu­ tung, aber es lag in den Händen bürgerlicher Liberaler, die bemüht waren, die Vereine von dem revolutionären Programm Mazzinis fernzuhalten. E rst in den fünfziger Jah­ ren erhielten die Unterstützungsvereine größere Bedeutung; es kam zu überregiona­ len Kongressen, indessen weder zu dauernden organisatorischen Zusammenschlüssen noch zu Anfängen einer politischen Programmatik. Sozialpolitisch blieben sie auf maßvolle humanitäre Proteste beschränkt, und es überwog das Bestreben, Konflikte und Streiks zu vermeiden. E rst unter dem E influß Bakunins und der I. Internationale kommt es zu Ansätzen einer selbständigen Arbeiterbewegung. In Deutschland bringt der Vormärz die ersten Bestrebungen einer politischen Betä­ tigung, und zwar wegen der polizeistaatlichen Unterdrückung vorwiegend innerhalb der von den wandernden Handwerksgesellen in der Schweiz und in Paris gegründeten 225 15

Mornmsen, Arbeiterbewegung

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Emigrantenvereine, in denen jedoch die verschiedenen Strömungen des Zeitalters bürgerlicher Radikalismus, Junges E uropa, utopischer Sozialismus - vermischt auf­ treten. Unter den bestehenden Geheimbünden hatten der Bund der Gerechten (Wil­ helm Weitling) und dann der Bund der Kommunisten eine wichtige Bedeutung für die Entstehung sozialistischer Strömungen in Deutschland; die erste Arbeiterorganisa­ tion in Deutschland selbst, die Arbeiterverbrüderung von 1848/49 unter der Führung Stefan Borns, erlag alsbald dem Druck der Reaktion. Überall in E uropa brachte der Ausgang der Revolution von 1848 den vorüberge­ henden Niedergang der Arbeiterbewegung und die Unterdrückung ihrer Organe. Nur in England blieb das Bündnis zwischen Arbeiterbewegung und liberalen Parteien bestehen. Hier kam es zur sog. „Lib-Lab“-Phase. Die Frage, in welchem Umfang eine Kontinuität der Arbeiterbewegung von den Ansätzen 1848 zur Neubelebung E nde der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre angenommen werden muß, ist vor allem für Deutschland umstritten. Der Wiederaufschwung der kontinentalen Arbeiterbe­ wegung in den sechziger Jahren findet seinen sichtbaren Ausdruck in der Gründung der Internationalen Arbeiter-Assoziation (IAA) von 1864, die unter dem E influß von Marx und E ngels das Programm einer selbständigen Klassenpartei des Proletariats im Gegensatz zu den sich rasch abspaltenden anarchistischen und syndikalistischen Gruppen - formulierte und damit der Arbeiterbewegung eine klare Richtung wies, nachdem das Kommunistische Manifest nahezu ungehört verklungen war. Die Marx­ sche Fraktion blieb jedoch in der alsbald von schweren ideologischen und personellen Gegensätzen erschütterten Internationale im Grunde in der Minderheit; der E influß des Londoner Generalrats auf die praktische Haltung der Arbeiterparteien in den ein­ zelnen Ländern blieb auch dort gering, wo die anarchische Richtung unterlag. Schon vor der in ihrer Wirksamkeit von den europäischen Kabinetten weit überschätzten In­ ternationale setzte die richtungspolitische Aufsplitterung der kontinentalen Arbeiter­ bewegung zwischen im weitesten Sinne sozialistischen Gruppen einerseits und christ­ lich-konfessionell bestimmten oder dem liberalen Selbsthilfegedanken verpflichten­ den Organisationen andererseits ein.

3. Der angelsächsische T y p u s Die Arbeiterbewegung in Großbritannien und in den Ländern des Britischen Commonwealth, wie auch die der Vereinigten Staaten, unterscheidet sich von der kontinentaleuropäischen - abgesehen von ihrer in vieler Hinsicht andersartigen orga­ nisatorischen S t r u k t u r - durch eine ausgeprägt pragmatische Orientierung (damit ei­ nen geringen E influß ideologischer Theoreme), durch die grundsätzliche Anerken­ nung des demokratisch-parlamentarischen Systems als Grundlage zur Durchsetzung der Interessen der Arbeiterschaft und durch ihren durchgängig evolutionär-reformi­ stischen Charakter. Der Klassenantagonismus führte in keiner Phase, auch nicht in 226

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der des Chartismus, zu einem revolutionären Klassenbewußtsein der Arbeiterschaft. Dies ist nicht die Folge geringerer sozialer Spannungen: Trotz der im Vergleich zum Kontinent fortgeschrittenen sozialen Lage einzelner Teile der englischen Arbeiter­ schaft sind die industriellen Kämpfe mit äußerster Schärfe ausgefochten worden und war die Sozialgesetzgebung im ganzen keineswegs fortschrittlicher als auf dem Konti­ nent, vielmehr blieben in einzelnen, vorwiegend ungelernte Arbeitskräfte beschäfti­ genden Industriezweigen erhebliche soziale Mißstände bestehen. Maßgebend für den evolutionären Charakter der britischen Arbeiterbewegung war vielmehr vor allem die politische Flexibilität des im Unterschied zum Kontinent von keiner Seite mehr ange­ fochtenen konstitutionellen Systems. Trotz massiver E ingriffe des Staates zugunsten der Unternehmer, trotz zahlreicher Fälle von „Klassenjustiz“ vor allem in der Früh­ zeit der Arbeiterbewegung war das Rechtssystem beweglich genug, um ständigen Mißbrauch der Rechtsprechung zur Durchsetzung einseitiger Interessen schrittweise zu unterbinden und damit das grundsätzliche Vertrauen in die Rechtsordnung auf Sei­ ten der Arbeiterschaft zu bewahren. Wiewohl der Laissez-faire-Liberalismus die Ar­ beiterbewegung aufs stärkste behinderte, folgte aus ihm doch das Prinzip der Chan­ cengleichheit, so daß die Aufhebung des Anti-Combination Act schon 1825 erzwun­ gen werden konnte, wenn es an Maßregelungen auch später nicht fehlte. Der bürgerliche Radikalismus ist - wie die Persönlichkeit Keir Hardies zeigen mag bis zur Jahrhundertwende bestimmende Kraft der britischen Arbeiterbewegung ge­ blieben, wie umgekehrt die Parlamentsreform von 1867 mit Hilfe der Gewerkschaften erkämpft wurde. Die an syndikalistische Formen erinnernde Tendenz, sich der „Poli­ tik“, d.h. der E influßnahme auf nicht im engeren Sinne sozialpolitische Fragen zu enthalten, blieb bis in die neunziger Jahre bestimmend. Sie war aber nicht Ausdruck des Mißtrauens in die staatliche Ordnung überhaupt, sondern der zunehmenden poli­ tischen Integration der Arbeiterschaft, die sich - sofern sie nicht konservativ wählte, wie Teile der Bergarbeiter- durch den radikalen Flügel der Whigs hinreichend im Par­ lament vertreten fühlte. Das Parteiensystem war bis in die achtziger Jahre hinein be­ weglich genug, um unabhängigen Parlamentsmitgliedern einen bedeutenden E influß zu verschaffen; zugleich waren die Parteien stets bestrebt, die Unterstützung der Ar­ beiterschaft bei den Wahlen zu erhalten. Die E ntsendung einzelner Arbeitervertreter in das Unterhaus, die mittels lokaler Wahlbündnisse, später der Labour Representa­ tion League, trotz der erst spät überwundenen Wahlrechtsbeschränkungen möglich wurde, hatte praktische politische Bedeutung, wogegen die kontinentalen Arbeiter­ parteien in den parlamentarischen Gremien weit stärker isoliert waren. Neben der E i­ genart des englischen Wahlsystems widersprach auch die politische E instellung der Mehrheit der organisierten Arbeiter der von den sozialistisch beeinflußten Gruppen (Social Democratic Federation, Fabian Society) unterstützten Bildung einer dritten Partei. Bezeichnenderweise trat die Labour Party als selbständige parlamentarische Vertretung der Gewerkschaften- nach dem Vorspiel der Independent Labour Party erst ins Leben, nachdem eine zahlenmäßig ins Gewicht fallende Labour-Gruppe dem Parlament von 1906 bereits angehörte. Die kontinentalen Parteien gingen den umge­ kehrten Weg; sie existierten - jedenfalls dem Anspruch nach - als politische Massen­ organisationen, bevor sie die Chance hatten, sich bei den Wahlen durchzusetzen. Den 227

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syndikalistischen Ansätzen (Guild Socialism) fehlte bezeichnenderweise das Merkmal der kontinentalen Parlamentsfeindschaft. Dem entspricht die ausgeprägt konservative soziologische Struktur der britischen Arbeiterbewegung. An die Stelle der älteren Trade Clubs und Friendly Societies, die in Anlehnung an das liberale Vereinswesen entstanden, und der nach 1825 offiziell be­ stehenden lokalen Gewerkschaftsverbände, traten, vor allem in den sechziger Jahren, nationale Fachverbände nach dem Vorbild der 1851 gegründeten Amalgamated So­ ciety of Engineers. Die Beschränkung der Fachverbände auf gelernte Kräfte, die Bin­ dung der Mitgliedschaft an berufliche Qualifikation, das ausgeprägte Berufsethos, re­ lativ hohe Mitgliedsbeiträge ermöglichten es, ein Instrumentarium friedlichen Aus­ gleichs von Arbeitsstreitigkeiten zu entwickeln, das streikbeschränkend wirkte und auch im Unternehmerinteresse lag. Die pragmatische Ausrichtung der „Unions“ auf Tarif-, Arbeitszeit- und Arbeiter­ schutzprobleme bewirkte, daß die politische Arbeiterbewegung wesentlich sektenar­ tig blieb. Nur um eine erneute Bedrohung des rechtlichen Status der Gewerkschaften abzuwehren, kam es vor 1867, ausgehend von der London Working Men's Assoáa­ tion, zu vorübergehender politischer Aktivierung. Die sozialistischen Gruppen, die z.T. personelle Berührung mit der I. Internationale hatten, verharrten - wie das Ma­ nifest der Association von 1867 z e i g t - im wesentlichen beim Programm der radikalen Demokratie. Die Labour Representation League, die unter Mitwirkung von Anhän­ gern der IAA gegründet wurde, entwickelte sich nicht zur politischen Partei und blieb auf London beschränkt; ihre Aufgaben wurden seit 1869 vom Trade Unions Congress und dem von ihm eingesetzten Parliamentarian Committee wahrgenommen. Die soziale Beschränktheit und die mangelnde politische Profilierung lassen die bri­ tische Arbeiterbewegung bis in die achtziger Jahre nur begrenzt als einheitliche „Be­ wegung“ bezeichnen. E rst der New Unionism der achtziger Jahre führte zu einer ge­ wissen E rfassung der ungelernten Arbeiterschaft; doch setzte sich auch im New Unionism die Form der General Unions (Industriegewerkschaften) nur in E inzelfäl­ len durch. Sozialistische Bestrebungen, wie sie in der Umgründung der Democratic Federation in die Social Democratic Federation (S. D . F . ) , der Fabian Society und der späteren Socialist League zum Ausdruck kamen, bildeten eine wesentliche Triebkraft für die umfassenden Streiks unter dem New Unionism; doch brachten sie keinen so­ zialistischen Gewerkschaftstyp hervor. Die New Unions blieben faktisch „alliances of local closed shops, composed of regular employees“ (Hobsbawm 2 ) und umfaßten nicht die stark fluktuierende Masse der Ungelernten. Das von der S . D . F . vertretene Programm der II. Internationale errang durch die Agitation für den Achtstundentag angesichts der strukturellen Arbeitslosigkeit einen gewissen E influß, jedoch war die Gründung der Independent Labour Party ( I . L . P . ) nur unter weitgehender Verleugnung sozialistischer Programmpunkte möglich; und selbst sie blieb isoliert. Die aus dem Labour Representation Committee 1906 hervor­ gehende Labour Party blieb zunächst von der Zusammenarbeit mit den Liberalen ab­ hängig; die sich seit dem 1. Weltkrieg ergebende politische Profilierung brachte zu­ nächst nur begrenzt die Übernahme sozialistischer Zielsetzungen, hingegen eine zu­ nehmende Spannung zu den sie organisatorisch und finanziell mittragenden Gewerk228

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Schaftsverbänden, die in der MacDonald-Krise von 1931 offenkundig wurde. Die sich in und vor dem E rsten Weltkrieg abspaltenden radikalen Gruppen, die sich zum grö­ ßeren Teil 1920/21 in der zahlenmäßig bedeutungslosen Kommunistischen Partei zu­ sammenfanden, und die E ntstehung eines gewerkschaftlichen Radikalismus, der in dem gescheiterten Generalstreiksversuch von 1926 seinen E ndpunkt fand, haben die Umwandlung der Labour Party in eine breite Schichten des Mittelstandes mitumfas­ sende Volkspartei nicht verhindern können. Unter marxistischem Gesichtspunkt nahm die englische Arbeiterbewegung einen unbefriedigenden Verlauf. 1874 führte F. E ngels, wie schon 1845, lebhaft Klage über die „Gleichgültigkeit gegen alle Theorie“, die er bei den englischen Arbeitern feststell­ te, und er hielt diese für die Ursache, daß „die englische Arbeiterbewegung, trotz aller ausgezeichneten Organisation der einzelnen Gewerke, so langsam vom Flecke kommt“ 3 . Und 1879 äußerte er, eine „eigentliche Arbeiterbewegung, im kontinenta­ len Sinn“, bestünde in England derzeit nicht. Seine Beobachtung in der „Lage der ar­ beitenden Klassen in England“ 4 , daß die sozialistischen Gruppen wesentlich bürgerli­ cher Herkunft seien und keine Verbindung zum eigentlichen Proletariat hätten, be­ stimmte, neben persönlichen Motiven, E ngels' Zurückhaltung gegenüber der S . D . F . , die eine kleine Sekte sei und den Marxismus in eine Orthodoxie verwandelt habe. E ngels unterstützte die Gründung der I. L . P . , schrieb aber an Bebel, man dürfe sie keinesfalls „so ohne weiteres als die unabhängige Arbeiterpartei, die wahre und einzige proklamieren“ 5 . Schon 1911 spalteten sich die Sozialisten von der I . L . P . ab und gründeten die Splittergruppe der British Socialist Party. In richtiger E inschätzung forderte Lenin 1908 - gegen den Widerstand der S.D. F. - d e n Anschluß der Labour Party an die II. Internationale trotz ihres betont reformistischen Charakters. Der marxistische E rklärungsversuch der Tatsache, daß sich in einem ganz ausge­ prägt kapitalistisch orientierten Land der Klassenkampfgedanke nicht durchsetzte, bedient sich der Theorie der vom Kapitalismus bestochenen Arbeiteraristokratie. Zwar sei, erklärte Lenin 1916, das Industriemonopol E nglands am Ausgang des 19. Jahrhunderts vernichtet worden, aber der „E xtraprofit“ durch imperialistische und koloniale Ausbeutung ,aller übrigen Länder durch ein privilegiertes, finanziell rei­ ches Land“ sei geblieben und habe bewirkt, daß die britische Arbeiterbewegung unter dem E influß des Reformismus und Opportunismus geblieben sei 6 . E ngels' E rfahrun­ gen zeigen indessen, daß mit der - auch von westlichen Marxisten diskutierten Theorie der „Arbeiteraristokratie“ eine hinreichende E rklärung der Entwicklung der britischen Arbeiterbewegung nicht möglich ist, zumal die dem E inkommen nach obere Mittelschicht der Arbeiterschaft stets das Reservoir für alle politischen Rich­ tungen innerhalb der Arbeiterbewegung gewesen ist. Weniger die vergleichsweise vorteilhafte Lage der Arbeiter im 19. Jahrhundert als die Anpassungsfähigkeit des po­ litischen Systems ist für den grundsätzlich reformistischen Charakter der britischen Arbeiterbewegung maßgebend gewesen; und die krisenreiche E ntwicklung in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts, die zu schweren gewerkschaftlichen E inbu­ ßen führte, hat daran, trotz der nunmehr weitgehenden E inbeziehung der ungelern­ ten Arbeiterschaft, nichts geändert. Die soziale Zusammensetzung der Anhänger der in der British Communist Party 229

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(B. C. P.) vereinigten radikalen Gruppen deutete ebensowenig auf eine Veränderung der demokratisch-liberalen Grundhaltung in den unteren Schichten der Arbeiter­ schaft hin. Die kommunistische Kritik an der S . D . F . und am sozialistischen Flügel der I. L . P . , daß sie aus linkem Sektierertum heraus den Kontakt mit dem Proletariat nicht erreicht habe, wurde 1920 von Lenin gegenüber der B. C. P. wiederholt und mit der Forderung verknüpft, sich an die Labour Party „unter der Bedingung einer völlig freien und unabhängigen kommunistischen Betätigung“ anzuschließen; diese in der Praxis illusorische, taktische Anerkennung des parlamentarischen Wegs enthielt die Einsicht, daß ein offen antiparlamentarisches Programm und ein die Freiheit der Ge­ werkschaftsverbände einschränkendes Organisationsprinzip der eigentümlichen, in hohem Maße traditionalen Struktur der englischen Arbeiterbewegung widerspricht. Trotz der lange anhaltenden ideologischen E infüsse durch die mit der europäischen Arbeiterbewegung verbundenen E inwanderer hat die Arbeiterbewegung in den USA den gleichen Weg der Anpassung an das kapitalistische System genommen wie die englische. Dabei unterschieden sich die Entstehungsbedingungen der amerikanischen Arbeiterbewegung in vieler Hinsicht von denen des einstigen Mutterlandes; der frühe Fortfall der Wahlrechtsbeschränkung nach 1820 ermöglichte den zahlreichen lokalen Zusammenschlüssen-Handwerkervereinen, örtlichen Fachverbänden, radikalen po­ litischen Vereinen - unmittelbare politische Betätigung, ohne daß sich die rasch ent­ stehenden regionalen Arbeiterparteien (1829 Gründung der Working Men's Party of New York) auf nationaler E bene durchsetzten. Wie der Chartismus in Großbritan­ nien bildete in den USA der Kampf für dìe jacksonian Democracy eine entscheidende Erziehungsphase der Arbeiterschaft. Nach der E rringung politischer Gleichberechti­ gung verlagerte sich ihre Aktivität seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts auf die gewerkschaftliche Organisation der Handwerker und Facharbeiter, doch zerbra­ chen diese Ansätze unter dem E influß der Wirtschaftskrise von 1837, der stürmischen Industrialisierung und dem Lohndruck der E inwanderer. Charakteristisch für die Anfänge der Arbeiterbewegung war der von Owen und dem französischen Frühsozialismus beeinflußte, immer wiederkehrende Versuch, durch die Gründung von Produktionsgenossenschaften und durch Landaufteilung die soziale Frage zu lösen. Diese Tendenz wurde durch das Scheitern der Bestrebun­ gen, auf die Kandidaturen für die Vertretungskörperschaften E influß zu nehmen (Na­ tional Reform Association, 1845), verstärkt und gewann mit dem in den siebziger Jah­ ren bei der Arbeiterschaft und den kleinen Farmern populären Programm, durch eine Währungs- und Geldreform eine soziale Eigentumsstreuung herbeizuführen (Green­ back Labor Party), eine ausgeprägt utopische Färbung. Bestrebungen dieser Art, wie auch die Bodenreformbewegung unter Henry George, deuten auf die starken psycho­ logischen Vorbehalte hin, welche die Arbeiterschaft gegen die Anerkennung ihres Klassenschicksals hatte und damit gegen die Schaffung einer proletarischen Klassen­ partei. Der erste Ansatz dazu - d i e 1866 in Baltimore gegründete National Labor As­ sociation - blieb ebenfalls bei der Forderung von Kooperativen stehen. Die Schwäche der amerikanischen Arbeiterbewegung resultierte zugleich aus dem starken sozialökonomischen Gefälle zwischen den einzelnen Regionen, den dadurch und durch die mit der Einwanderung gegebenen ethnischen und kulturellen Differen230

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zen bewirkten sozialen Stufungen in der Arbeiterschaft selbst sowie aus der anhalten­ den Bevölkerungsfluktuation und der Binnenwanderung. Die sich seit dem Bürger­ krieg verfestigende Tradition des „American way of life“ äußerte sich in einer starken Voreingenommenheit der öffentlichen Meinung gegenüber kollektivem Auftreten der Arbeiterbewegung, und sie wurde durch die im Zusammenhang mit der Krise von 1873 auftretenden, z.T. anarchistisch gesteuerten E xzesse noch verstärkt. Beider Ar­ beiterschaft entwickelte sich zudem kein proletarisches Klassenbewußtsein in europä­ ischem Sinn; das Selbstverständnis des Arbeiters blieb stets an der Chance eines sozia­ len Aufstiegs orientiert, die auch bestand, solange die Erschließung des mittleren We­ stens nicht abgeschlossen war. Die von F. E ngels als Äußerung des Klassenbewußtseins lebhaft begrüßte erste na­ tionale Arbeitervereinigung größeren Stils, dìe Knights of Labor (K. of L . ) , repräsen­ tierte ein individualistisch-demokratisches Standesethos, das sich in an freimaureri­ sche Vorbilder erinnernden Riten und altväterlichen Verfahrensformen bekundete. Ursprünglich vom Kooperativgedanken ausgehend und auf Ausgleich mit dem Un­ ternehmertum bedacht, sahen sich die K. of L. bald in umfangreiche Streikkämpfe verwickelt, die sie anfänglich, dank zentraler Organisation, erfolgreich bestanden, die sie aber in schwere Niederlagen hineinzogen, nachdem sich der Widerstand der Un­ ternehmer versteifte. Die Überschätzung der eigenen Kräfte führte so seit dem Aus­ gang derachtziger Jahre zum Zerfall der Organisation. DieK. of L. legten gleichwohl die Grundlage für eine breite Solidarität der Arbeiter, einschließlich der ungelernten. Die E ntstehung einer auf stabile Gewerkschaftsorganisationen gestützten Arbei­ terbewegung erfolgte erst mit dem New Unionism durch die mit den K, of L. rivalisie­ renden nationalen Fachverbände. Sie verzichteten darauf, die ungelernte Arbeiter­ schaft einzubeziehen; das erleichterte die straffe organisatorische Zusammenfassung, die den K. of L., die ursprünglich auf E inzelmitgliedschaft beruhten, nicht gelungen war. Unter der Führung des früheren Mitglieds der K. of L., Samuel Gompers, kam es zur Zusammenfassung der Fachverbände in der American Federation of Labor (AFL), die in der offiziellen Gründung 1886 einen vorläufigen Abschluß fand. Die AFL ver­ mied jede Option für eine der nationalen Parteien, obwohl sie 1906 und 1910 die de­ mokratischen Kandidaten unterstützte, ging aber auch nicht den Weg einer dritten Partei. Mittels der National Civic Federation (1896) versuchte Gompers, die öffentli­ che Meinung und die Regierung zur Anerkennung der AFL als legitimer Interessen­ vertretung der Arbeiterschaft zu bewegen und durch E influßnahme auf die „Wahlma­ schinen“ die politischen Interessen der Arbeiter wahrzunehmen. Für die Bildung einer sozialistischen Partei von nationaler Bedeutung bestanden zu keiner Zeit ernsthafte Chancen. Die von j. Weydemeyer 1853 gegründete American Workers Alliance blieb im wesentlichen auf deutsche Immigranten beschränkt und war einflußlos; und dies gilt auch für die nach dem Zerfall der Amerikanischen Sek­ tion der IAA gegründete International Labor Union. F. A. Sorge, der Freund von Marx und spätere Berater von Gompers, sah nur in einer starken Gewerkschaftsbe­ wegung Chancen. Die 1877 gegründete Socialist Labor Party, die von dem auch als Theoretiker bedeutenden und von Lenin geschätzten Daniel De Leon geführt wurde, setzte sich nicht durch. Ihr Versuch, die radikalen Kräfte vor allem in der Bergarbei231

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terschaft, die sich 1905 in den Industrial Workers of the World (I WW) zusammenge­ schlossen hatten, an die sozialistische Partei heranzuziehen, scheiterte; sie blieb mit der Forderung politischer Aktionen gegenüber den Anhängern direkten wirtschaftli­ chen Kampfes im syndikalistischen Sinne in der Minderheit. E benso war De Leons Politik des „dual unionism“ erfolglos. Trotz der Radikalisierung eines erheblichen Teils der Arbeiterschaft vor und im Ersten Weltkrieg, die im Aufstieg der I WW sicht­ bar wurde, vermochten die American Socialist Party, die zahlreichen sozialistischen Splittergruppen und die 1919 gegründete Kommunistische Partei keine nennenswerte Anhängerschaft zu gewinnen und blieben vorwiegend Immigrantenorganisationen. Wirtschaftliche Krisenerscheinungen und eine betont offensive Haltung des Un­ ternehmertums führten in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts zu schweren Rückschlägen und starken zahlenmäßigen E inbußen der AFL. Gleichwohl blieben Ansätze zur Bildung einer dritten Partei, die 1920 mit der Chicago Conference for Progressive Political Action beschritten wurden, isoliert. Die konservative Haltung der AFL-Führung, die sich der organisatorischen E inbeziehung der ungelernten Ar­ beiterschaft ebenso wie dem Industriegruppenprinzip widersetzte, führte zur Abspal­ tung des Congress of Industrial Organization (CIO) unter dem radikalen Bergarbei­ terführer Lewis. Dieser bediente sich beim Aufbau der CIO der Hilfe kommunisti­ scher Gruppen. Die CIO verfolgte jedoch eine von der AFL kaum verschiedene Li­ nie, zumal die stärkere Aufgeschlossenheit politischen Fragen gegenüber einfach dar­ auf zurückging, daß sich im Zeichen des New Deal die Roosevelt-Administration mit großem Nachdruck sozialpolitischen Fragen zugewandt hatte. Die im ganzen ge­ werkschaftsfreundliche Politik des New Deal ließ es zu, daß den 1955 vereinigten CIO-AFL, deren Mitgliederzahlen nunmehr alles bis dahin E rreichte weit übertra­ fen, eine ungeheure Macht zuwuchs, was eine völlige Wende gegenüber der Situation in den zwanziger Jahren bedeutete, in denen die Unternehmer den open shop zurück­ erobert hatten. Die kommunistische Kritik an der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung be­ dient sich der Theorie der „Arbeiteraristokratie“ und des kapitalistischen „E xtrapro­ fits“. Lenin stellte den sozialdemokratischen Reformisten Legien und den Pragmati­ ker Gompers auf die gleiche Stufe. Die sanguinischen Hoffnungen, die F. E ngels 1887 auf die Arbeiterbewegung in den USA setzte, „wo keine feudalen Ruinen den Weg versperren“ und wo sich der in E uropa langwierige Prozeß der Bildung des Klassen­ bewußtseins und in der Folge der Bildung einer „besonderen politischen Partei“ in „nur zehn Monaten“ vollzogen habe 7 , erfüllten sich nicht. Die E rfolglosigkeit der marxistischen Gruppen wurde auf eine „falsche sektiereri­ sche Taktik“ vor allem De Leons zurückgeführt. Der „dual unionism“ wurde von der Komintern ausdrücklich verworfen. Aber den kommunistischen Gruppen, die nach der Unterdrückung der zunächst rivalisierenden Communist Party (C. P.) und Com­ munist Labor Party (C. L . P . ) die Workers Party ( W . P . ) gründeten und eine Reihe un­ abhängiger Gewerkschaften beherrschten, gelang es ebensowenig, E influß auf das Gros der in der AFL organisierten Arbeiterschaft zu nehmen. Die W . P . blieb trotz Bündnisversuchen mit der Farmer Labor Party isoliert; ihr antiparlamentarisches Programm begegnete einmütigem Widerspruch aller übrigen Gruppen; es gelang ihr 232

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nicht, die Teilnahme an der Chicago Conference for Progressive Political Action zu erreichen. Die Kritik am Sektierertum der sich 1930 in die C . P . U . S . A. umgründen­ den W . P . und die gleichzeitige Verurteilung der opportunistischen Haltung John Peppers und später £. Browders spiegelt das Dilemma der Partei, daß E influß auf die Massen nur unter Zurückstellung der ideologischen Grundsätze erreichbar war, wo­ durch aber die ideologische „Reinheit“ bedroht wurde. Der Aufstieg der CIO verschaffte den Kommunisten einige Schlüsselstellungen in radikaleren Gewerkschaftsverbänden. Die C . P . U . S . A . selbst blieb ohne Anhang und wandelte sich nach der Auflösung der Kommunistischen Internationale 1944 in die Communist Political Association um. Der Kampf der C . P . U . S . A . gilt in der Hauptsache dem „American E xceptionalism“, d.h. der Überwindung der für die amerikanische Arbeiterschaft selbstverständlichen Überzeugung von einer friedli­ chen Durchsetzung ihrer Interessen im kapitalistischen System. E s fällt schwer, ange­ sichts der einzigartigen politischen Macht der AFL-CIO - des tatsächlichen American Exceptionalism - an den E rfolg der das politische System der USA als faschistisch de­ nunzierenden Propaganda der C . P . U . S . A . zu glauben.

4. Die k o n t i n e n t a l e u r o p ä i s c h e A r b e i t e r b e w e g u n g I. Generelle Übereinstimmungen Während die frühe Arbeiterbewegung bei einer mit der unterschiedlichen E ntfal­ tung der industriellen Revolution zusammenhängenden Phasenverschiebung ihrer Entwicklung gleichartige Züge trägt, ergeben sich seit der Konstituierung selbständi­ ger Arbeiterorganisationen auf nationaler E bene verschiedenartige Verlaufstypen. Während die Arbeiterbewegung in den angelsächsischen Ländern auf der Grundlage eines relativ fortgeschrittenen politischen Systems zu keiner Zeit in einen unüber­ brückbaren Konflikt zur staatlichen Ordnung gerät, nimmt die kontinentaleuropä­ ische Arbeiterbewegung einen krisenhaften Verlauf, der durch wiederholte Versuche polizeistaatlicher Unterdrückung charakterisiert ist. Für alle Spielarten der Arbeiter­ bewegung auf dem Kontinent ist die Spannung zwischen den Anhängern eines legalen politischen Vorgehens und den Verfechtern konspirativer revolutionärer Aktion von vornherein gegeben. In den kontinentaleuropäischen Staaten ergibt sich zugleich die paradoxe Frontstellung, daß die Arbeiterbewegung an der Durchsetzung des von ihr bekämpften kapitalistischen Systems gegenüber den Kräften des ancien régime inter­ essiert sein mußte. Dies gilt auch für die als Ubergangsphase bedeutende liberale Ar­ beiterbewegung (Selbsthilfegedanken) und die seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert auch als Massenorganisation ins Gewicht fallende christlich-konfessionelle Arbeiter­ bewegung. Durchweg bleibt die Führungsschicht der Arbeiterbewegung in starkem 233

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Maße von den Erfahrungen der bürgerlichen Revolution von 1789, 1830 und 1848 ge­ prägt, und sie übernimmt deren E rbe auch dann, wenn sie sich bewußt zur Trennung von bürgerlicher und proletarischer Demokratie bekennt. Der internationale Gedanke, der in den revolutionären Geheimbünden radikaler Emigres (Mazzini, Junges E uropa, Carbonari) des Vormärz seinen Ursprung hat, findet in der Arbeiterbewegung politische Gestalt. Die Solidarität der Arbeiterschaft gegenüber den die Interessen von Besitz und Bildung verteidigenden Kabinetten er­ neuerte die Konstellation, die mit der E rhebung der Völker gegen das vom Geist der klassischen Kabinettspolitik geprägte Konzert der europäischen Großmächte gege­ ben war. Internationale Solidarität und nationale Selbstbestimmung bilden für sie zu­ nächst keinen Gegensatz. Die Arbeiterbewegung konnte daher, und Marx und E ngels haben dies als Voraussetzung ihres Erfolges hingestellt, das Programm des nationalen Einheitsstaates übernehmen. Die auch von Marx und E ngels geteilte Hoffnung, daß nach dem Scheitern der eu­ ropäischen Revolution von 1848 innerhalb eines Zeitraums von wenigen Jahren das Programm der bürgerlichen Demokratie, jetzt gestützt auf eine zu politischem Selbst­ bewußtsein gelangte Arbeiterschaft, siegen werde, ist die Grundlage eines naiven Op­ timismus der Führungsgruppen der Arbeiterbewegung gewesen, der zu einer Über­ schätzung der revolutionären Möglichkeiten der I. Internationale geführt und im Scheitern des Kommune-Aufstandes zu einer schockartigen E rnüchterung geführt hat. Die Gründung der IAA beruhte auf einer unklaren Vermischung sozialistisch­ kommunistischer Zielvorstcllungen mit dem Programm der jakobinischen Demokra­ tie; die E rfahrung, daß beides nicht im ersten revolutionären Anlauf erreichbar sei, daß das Bürgertum in seiner übergroßen Mehrheit auf die Seite der Konterrevolution trat und die Arbeiterbewegung als revolutionäre Kraft auf sich allein gestellt blieb, er­ zwang eine ideologische Klärung, ein anderes Verhältnis zur Frage der Organisation der Arbeiterschaft und eine neue Theorie der revolutionären Aktion. Folgerichtig mußte die Desillusionierung zu einer Aufsplitterung der Arbeiterbe­ wegung in verschiedene, im nationalen Temperament angelegte und von der politi­ schen Verfassung und dem ökonomischen E ntwicklungsstand der einzelnen Länder beeinflußte Tendenzen führen, und die Spaltung der I. Internationale war ein Teil die­ ses Vorgangs. Das von K. Marx vorgetragene Programm politischer Parteibildung in nationalstaatlichem Rahmen trug der veränderten innenpolitischen Situation Rech­ nung, in der angesichts der den Regierungen zur Verfügung stehenden militärischen Mittel ein von einer aktiven Minderheit vorangetragener revolutionärer Umsturz von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Der Marxsche Standpunkt wurde von Ba­ kunin, der Confederation jurasienne und der Mehrheit der französischen Sektion als autoritär verworfen. Die Aufspaltung der Arbeiterbewegung in eine von Marx ent­ scheidend beeinflußte sozialdemokratische und eine syndikalistisch-anarchistische Strömung war, im Gegensatz zur angelsächsischen Arbeiterbewegung, keine Frage der prinzipiellen Bereitschaft zur revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft, sondern eine Frage der Methode. Alle Richtungen stimmten in der grundsätzlichen Ablehnung des bürgerlichen Klassenstaates überein, und alle vertraten ein - allerdings unterschiedlich akzentuiertes-Programm der direkten, genossenschaftlichen Demo234

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kratie als notwendiges Korrelat einer sozialistischen Ordnung. Die Frage war, ob der Weg dahin über die E roberung der Staatsmacht (Diktatur des Proletariats) führen oder ob die ökonomische und moralische Zersetzung der bürgerlichen Gesellschaft durch direkte Aktion der Arbeiterschaft dieser die Herrschaft über die Produktions­ mittel zuspielen würde. Der sozialdemokratische Weg entsprang der Notwendigkeit, das Proletariat als politische Partei zu organisieren und die Gewerkschaften nur als Mittel zur Durchset­ zung der politischen Solidarität des Proletariats, den gewerkschaftlichen Kampf als Diener des politischen Kampfes zu betrachten. Die marxistische Konzeption vom Primat der politischen Arbeit z i e l t e - zusammen mit der von den mitteleuropäischen Arbeiterparteien erst langsam rezipierten ökonomischen Theorie von Marx - auf die Gewinnung der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung im Zuge der kapitalistischen Akkumulation und Proletarisierung der Mittelschichten und Bauern und bedeutete, auf der Grundlage der Notwendigkeit, die politischen Institutionen zu erobern, die Anerkennung des parlamentarischen Weges und die zunächst nur taktische Über­ nahme des Programms der parlamentarischen Demokratie. Diese sozialdemokrati­ sche Richtung setzte sich zunächst im deutschsprachigen Raum als herrschende Ten­ denz durch; von hier ausstrahlend, ist sie das Modell für die Arbeiterbewegung in den südostmittel- und ostmitteleuropäischen Ländern geworden und hat sich auch unter den spezifisch andersartigen politischen Voraussetzungen des zaristischen Rußland vorübergehend durchgesetzt. Die deutsche Sozialdemokratie als größte sozialistische Massenpartei errang, bei allerdings zunehmender Kritik der westlichen Partner, in der II. Internationale eine vorherrschende und prägende Stellung, der ihre tatsächliche Macht keineswegs entsprach. Der revolutionäre Syndikalismus und der Anarchismus entfalteten dagegen im ro­ manischen E uropa beträchtlichen E influß. Die innere Verwandtschaft beider Rich­ tungen lag in einer spontanen Ablehnung der Staatsmacht und zentralistischer Orga­ nisation überhaupt und resultierte in einer grundsätzlichen Kritik am parlamentari­ schen Weg auch als taktisches Mittel. Historische Reminiszenzen heterogener Art, wie die romantische Überbewertung der slawischen Mir-Verfassung, der Gemeinde­ demokratie, des Kommunalismus, der dezentralistisch-individualistischen Reaktion auf die von der Französischen Revolution übernommene zentralistische Tendenz des Absolutismus, flossen dabei ineinander. Der Anarchismus als spontane Reaktion der Massen auf das Scheitern der demokratischen Hoffnungen setzte sich unter dem be­ stimmenden E influß Bakunins insbesondere in Italien als theoretisches Programm durch; er stellte zugleich die ideologische Ummantelung einer spezifischen Krisen­ phase der Arbeiterbewegung in fast allen Ländern dar, in den USA sowohl wie in Österreich-Ungarn, Deutschland (Johann Most) und den osteuropäischen Ländern. Die „Propaganda der Tat“ war vielfach nur spontaner Ausdruck der verzweifelten ökonomischen und politischen Lage der Arbeiterschaft. Als Ubergangssymptom von einer in politischer Apathie verharrenden Arbeiterschaft zu aktiver Mobilisierung des Proletariats bildete er das utopische Gegenstück zum Gedanken liberaler Selbsthilfe, die das soziale Problem wesentlich als Problem der Arbeiterbildung ansprach. Der revolutionäre Syndikalismus hingegen hat als eigenständige Tendenz nament235

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lieh die westeuropäische Arbeiterbewegung bis in das 20. Jahrhundert hinein auf das stärkste beeinflußt und mit dem Programm direkter ökonomischer Aktion die E infü­ gung der Arbeiterbewegung in das parlamentarische Parteiwesen behindert. Wie das sozialdemokratische Programm enthielt auch der Syndikalismus eine zunehmend hervortretende reformistische Komponente. Das Problem, errungene parlamentari­ sche und sozialpolitische Positionen nicht um revolutionärer Zielsetzungen willen in Frage zu stellen, ist somit beiden Grundtendenzen der kontinentaleuropäischen Ar­ beiterbewegung gemeinsam; die Frage des Reformismus und der aktiven Teilnahme am „bürgerlichen“ Parlamentarismus wird zunächst unter dem taktischen Gesichts­ punkt umkämpft, sich der agitatorischen Möglichkeiten innerhalb und außerhalb der Parlamente aufgrund der Immunität zu bedienen. Das E intreten für das allgemeine Wahlrecht bedeutet zunächst nicht die Anerkennung des parlamentarischen Weges; erst seit dem E intritt Millerands in ein bürgerliches Kabinett stehen die Parteien der II. Internationale vor dem grundsätzlichen Problem, ob sie zugunsten der Durchsetzung reformistischer Teilziele aus der reinen Oppositionsstellung heraustreten sollen. Der Revisionismus E duard Bernsteins hob den grundsätzlichen Widerspruch zwischen dem revolutionären Programm und der praktischen Gegenwartsarbeit hervor, der für die Haltung des orthodoxen Zentrums der deutschen Sozialdemokratie (Kautsky) charakteristisch war und auch dem offiziellen Programm der II. Internationale zu­ grunde lag. Die Auseinandersetzung der orthodox-marxistischen Gruppen mit dem von Bernstein theoretisch fundierten Reformismus zeigte, daß die im Sinne des öko­ nomischen Determinismus aufgefaßte marxistische Revolutionstheorie die Funktion einer Integrationsideologie erfüllte, wie die Stellungnahme der marxistischen Füh­ rungsgruppe in der Generalstreikdebatte vor allem nach der russischen Revolution von 1905 erkennen läßt. Die gegenüber dem angelsächsischen Typus hervortretende Bedeutung der theore­ tischen Programmatik für die kontinentaíeuropäische Arbeiterbewegung ist vor allem eine Folge der revolutionären demokratischen Tradition der in hohem Maße der bür­ gerlichen Intelligenz entstammenden Führungsschicht, darüber hinaus aber bedingt durch die überwiegend weltanschauliche Fixierung der kontinentaleuropäischen Par­ teiensysteme. Das Gewicht der revolutionären Theorie steht gemeinhin in umgekehr­ tem Verhältnis zu den von der Arbeiterbewegung erworbenen gewerkschaftlichen und politischen Machtpositionen. Wie der revolutionäre Syndikalismus organisierte Macht durch den „Mythos“ revolutionären E lans (Sorel) zu ersetzen bestrebt war, benützte die deutsche Sozialdemokratie das Zukunftsbild der „sozialen Revolution“ zur Abdeckung eines praktischen Reformismus und einer frühzeitig kritisierten poli­ tischen Lethargie (Jean Jaurès, Robert Michels, Max Weber). Der E influß der russi­ schen Revolution von 1905, die Krise der Arbeiterbewegung in der Frage der Kriegs­ kredite und -ziele, die von der Oktoberrevolution bestärkte innenpolitische Radikali­ sierung im 1. Weltkrieg führen zur Auflösung der internationalen und nationalen Einheit der sozialistischen Arbeiterbewegung und zur Abspaltung des radikalen lin­ ken Flügels, der unter dem Einfluß der Bolschewiki und des Leninismus zu Teilen den Anschluß an die Kommunistische Internationale vollzieht und zum Kern der sich seit 1919 bildenden Kommunistischen Parteien wird. 236

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Die von Lenin erzwungene Trennung der Bolschewiki von der russischen Sozial­ demokratie (Menschewiki) und der Aufbau einer revolutionären Kaderpartei bedeu­ tete den grundsätzlichen Bruch mit der die Parteien der II. Internationale beherr­ schenden Vorstellung, daß die E rrichtung der Diktatur des Proletariats erst möglich sei, nachdem die Arbeiterbewegung die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich habe. Die Bolschewiki prägten den sozialdemokratischen Typus einer straff organisierten, zentralistìsch gelenkten politischen Partei in den einer Partei der Berufsrevolutionäre um und setzten an die Stelle einer offenen innerparteilichen Willensbildung das später mit dem Begriff des demokratischen Zentralismus bezeichnete System autoritärer Führung. Mit der Ausnützung des Rätesystems (Sovety) zur Machteroberung be­ diente sich Lenin syndikalistischer Formen; die Fortführung eines aktiven Terroris­ mus, der auf die in der russischen Sozialrevolutionären Bewegung nachwirkenden anarchistischen Traditionen zurückging, wie die Mobilisierung der Agrarrevolution besaßen wesentlich taktischen Charakter. Gleichwohl deuten sie daraufhin, daß sich die russische Revolution durchaus in Analogie zu der vor dem Scheitern der Kom­ mune gegebenen strategischen Konzeption des radikalen Flügels der noch ungeschie­ denen I. Internationale vollzog, und zwar eher in Anlehnung an die gescheiterten re­ volutionären E xperimente Bakunins als an das Marxsche Modell der Übernahme der politischen Macht durch eine straff organisierte Massenbewegung zum Zeitpunkt der Endkrise des kapitalistischen Systems. Der geniale Rückgriff Lenins auf das Modell einer Action äirecte unter Übersprin­ gung der bürgerlich-kapitalistischen Phase erwies sich erfolgreich aufgrund einer rela­ tiv schwach entwickelten Arbeiterbewegung, die keine langerrungenen Positionen zu verteidigen hatte, eines unüberbrückbaren Gegensatzes zwischen Arbeiterklasse und Staatsapparat, einer extremen Schwächung des zaristischen Systems angesichts der militärischen Niederlage und der Rückständigkeit des kapitalistischen Systems in Rußland. Der Leninismus und die treibenden Kräfte der russischen Arbeiterbewe­ gung des 19. Jahrhunderts sind aufs stärkste von der sozialistischen Arbeiterbewe­ gung Mittel- und Westeuropas geprägt; der mangelnde Unterbau einer spontan sich entwickelnden breiten politischen Bewegung der Industrie- und Landarbeiterschaft bedingte die E ntstehung des sich von den radikalen Flügeln des kontinentaleuropä­ ischen Sozialismus durch die Organisationsstruktur, politische Taktik und zentrali­ stische Lenkung grundsätzlich unterscheidenden Typus der kommunistischen Arbei­ terbewegung. II. Die syndikalistische Arbeiterbewegung Als Unterströmung der verschiedenen sozialistischen Bestrebungen ist die Form der syndikalistischen Arbeiterbewegung, meist in Verbindung mit einem unreflek­ tierten Anarchismus, nicht auf den Kontinent beschränkt und findet sich vor allem in Industriezweigen, die eine relativ geringe Fluktuation der Beschäftigten aufweisen und in denen eine historisch bedingte Eigenständigkeit der Arbeiterschaft - wie vor al­ lem bei den Bergarbeitern - nachwirkt. Ansätze des Syndikalismus finden sich in der Radikalisierung der britischen Arbeiterschaft im Ersten Weltkrieg und bei den IWW. 237

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Als spezifisch ideologische Ausprägung der Arbeiterbewegung, aber auch als typische organisatorische E rscheinung ist die syndikalistische Form vor allem in Frankreich, Italien und Spanien aufgetreten, wobei die E inflüsse des Frühsozialismus, insbeson­ dere Proudhons, mitgewirkt haben. Nach dem schweren Rückschlag, den diefranzösische Arbeiterbewegung in der Re­ volution von 1848 erlitt, entwickelte sie sich - in begrenztem Umfang von Napoleon III. begünstigt - seit der Mitte der sechziger Jahre auf der Grundlage lokaler Syndi­ kate und einzelner Berufsverbände. Die Affiliation einer Reihe von Gewerkschaften mit der IAA bedeutete nicht die Anerkennung der marxistischen Richtung; die fran­ zösische Sektion verblieb unter proudhonistischem E influß und lehnte im Gegensatz zur Resolution IX des Londoner Kongresses der IAA die politische Aktion ab. Die Niederlage der Pariser Kommune, die keineswegs das Werk des Proletariats allein und deren Programm nicht spezifisch sozialistisch geprägt war, bedeutete die definitive Loslösung der Arbeiterbewegung vom bürgerlichen Radikalismus, zugleich aber auch von jeder politisch ausgerichteten ideologischen Zielsetzung, welche der Arbei­ terschaft als Ausdruck bürgerlich-intellektueller Beeinflussung erschien. Das zuerst auf dem nationalen Arbeiterkongreß der Gewerkschaften und Kooperative von 1876 beschlossene Programm des ouvrierisme brachte daher die Abkehr sowohl von dem frühsozialistischen als auch vom marxistischen Programm. Die sich nach Aufhebung des Koalitionsverbotes 1887 entfaltende Gewerkschafts­ tätigkeit knüpfte an lokale Verbände und Zusammenschlüsse auf Betriebsebene an; Kristallisationskerne der Arbeiterbewegung bildeten die staatlich unterstützten Bour­ ses du travail. Gegenüber der sozialistisch eingestellten Fédération Nationale des Syn­ dicats et Groupes Corporatifs (1886) setzte sich die unter der Führung von F. Pelloutier 1892 geschaffene Fédération Nationale des Bourses du Travail rasch durch. Die in Konkurrenz zu beiden Verbänden seit 1895 bestehende Confédération Générale du Travail (C. G. T.) gewann wirkliches Gewicht erst durch die Verschmelzung mit der Fédération des Bourses. Bei einer ausgeprägt föderativen Organisationsform erlangten in der C . G . T., die sich im Gründungsprogramm und ausdrücklich in der Charta von Amiens (1906) für parteipolitische Neutralität und gegen jede Form politischer Ak­ tion ausgesprochen hatte, die Verfechter des revolutionären Syndikalismus gegenüber den reformistischen Kräften größeren E influß, als es der politischen E instellung der Gesamtmitgliedschaft entsprach. Der Dualismus von revolutionärem Generalstreik und praktischer Gegenwartsar­ beit führte zu einer durch die innenpolitische Lage im Kriege zunächst überdeckten, nach dem Scheitern des Generalstreiks von 1920 offenen Krise; zwar setzten sich die Reformisten gegen die anarchistische, syndikalistische und kommunistische Opposi­ tion durch, aber die G.G. T. büßte die Mehrheit ihrer Mitglieder ein, die von der bald kommunistisch gelenkten Confédération Générale du Travail Unitaire ( C . G . T . U.) aufgefangen wurden. Die C. G. T. entwickelte sich zu einer reformistischen Gewerk­ schaftsorganisation des angelsächsischen Typus, schloß sich aber ím Zusammenhang mit der Volksfrontpolitik wieder mit der inzwischen erheblich schwächeren C . G . T . U . zusammen. E s gelang den Führern der früheren C . G . T . U . nicht, den traditionellen Föderalismus der C. G. T. zugunsten des demokratischen Zentralismus 238

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zu überwinden. Ihr E influß steigerte sich aber während der Phase der Resistance bei formeller Zusammenarbeit der C. G. T. mit der Confédération Française des Travail­ leurs Chrétiens (C. F. T. C.) und den Unternehmerverbänden; gestützt auf den aus der sozialistischen Partei hervorgegangenen Parti Communiste, gelang es ihnen, die C . G . T . ganz unter kommunistische Kontrolle zu bringen. Die Überschätzung der revolutionären Chancen durch die französischen Kommunisten veranlaßte die C G . T.-Führung, einen klar kommunistischen Kurs einzuschlagen; dies führte seit 1946 zur Absplitterung erst kleinerer Gruppen, schließlich 1948 mit der Gründung der Force Ouvrière ( F . O . ) zur offiziellen Spaltung der Gewerkschaftsbewegung. Die revolutionäre syndikalistische Tradition und die antiparlamentarische Grund­ haltung eines beträchtlichen Teils der französischen Arbeiterschaft bewirkte eine ge­ fühlsmäßige, nicht ideologisch bedingte Affinität zu der die Organisation der Soziali­ stischen Partei 1920 fortsetzenden Kommunistischen Partei, welche die Gegensätze zwischen marxistischem und reformistischem Flügel geschickt ausnützte. Der Stärke der syndikalistischen Tendenz entsprach die Uneinheitlichkeit der sozialistischen Parteibewegung seit der Gründung der Fédération du Partie des Travaüleurs Sociali­ stes de France (1879) durch Jules Guesde; die Abspaltung der possìbilistischen Rich­ tung unter Paul Brousse, der E influß blanquistischer und allemanistischer Kräfte führte zu rasch wechselnden Gruppierungen, die sich aus Anlaß der Millerand-Frage in die stärker reformistische Parti Socialiste Français und die überwiegend revolutio­ när-sozialistisch orientierte Parti Socialiste de France gliederte, um sich 1905 als Sec­ tion Française de I' Internationale Ouvrière ( S . F . I . O . ) zu vereinigen. Die Entwicklung der italienischen Arbeiterbewegung ist nicht weniger vom E influß syndikalistischer Richtungen bestimmt, die sich zunächst, gestützt auf die bakunini­ stische italienische Föderation der IAA gegenüber den marxistischen Gruppen durch­ setzten. Die bei der kontinentalen Arbeiterbewegung als Zwischenphase auftretenden anarchistischen Bestrebungen bildeten auf der Halbinsel eine breite und nachhaltige Unterströmung, deren Wirksamkeit bis in die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein auf den mangelnden sozialen Fortschritt insbesondere der südlichen Regionen des Landes beruhte. Die italienische Arbeiterbewegung stützte sich in Analogie zu Frankreich auf lokale Arbeiterkammern. Die örtlichen und später die Fachgewerkschaften bildeten das Zentrum der radikalen Strömung, die in den neunziger Jahren gegründete Vereini­ gung der Arbeiterkammern einen energischen Gegenspieler der sozialistischen Arbei­ terpartei. Der im Vergleich zu Frankreich erheblich stärkere Affekt der italienischen Arbeiterschaft gegen den E influß bürgerlicher Intellektueller in der sozialistischen Parteibewegung bedingte deren weitgehende Isolierung von den Massen der Arbeiter; einer betont parlamentarisch-reformistisch eingestellten sozialistischen Partei stan­ den starke, vielfach anarchistisch eingestellte, radikale Gruppen in den Gewerkschaf­ ten gegenüber, die eine Politik der „Intransigenz“ forderten und das syndikalistische Konzept des Generalstreiks vertraten. Die radikale Haltung der Arbeiterschaft, die den ökonomisch zurückgebliebenen Verhältnissen entsprach und in dem spontanen, eindrucksvollen Generalstreik von 1904 einen Ausdruck fand, bewirkte eine innere Schwächung des Partito Socialista Italiano (PSI), in dem die marxistische Richtung 239

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nach 1903 langsam E influß gewann und von dem sich ein reformistischer Flügel unter Bissolati abspaltete. Die im Vergleich zu den übrigen Parteien der II. Internationale klare Ablehnung des Krieges durch den PSI, der wesentlich an den Bestrebungen teilhatte, die Interna­ tionale wieder funktionsfähig zu machen (Konferenzen von Zimmerwald und Kien­ thal), erleichterte es der Partei, die eine starke Genossenschaftsbewegung als Rückhalt hatte, die formale Einheit zu bewahren. Der reformistische Flügel unter Filippo Turati und Claudio Treves unterwarf sich 1919 dem von Serrati durchgesetzten Beschluß, der Komintern beizutreten; doch führte die Überspannung der Forderungen der Ko­ mintern-Führung, welche die revolutionären Möglichkeiten in Italien überschätzte, auch hier zur Abspaltung des Partito Comunista (Kommunistische Partei Italiens) und indirekt zu dem 1922 über der Frage der Regierungsbeteiligung erfolgten Aus­ schluß der Gruppe unter Turati, die den Partito Socialista dei Lavoratori Italiani un­ ter dem Vorsitz des 1924 ermordeten Giacomo Matteotti gründete. Die schwere Krise der italienischen Arbeiterbewegung, die sich in diesen Vorgän­ gen und ihrer Unfähigkeit, die E rrichtung der faschistischen Diktatur des einstigen Sozialdemokraten Mussolini abzuwenden, kundtat, steht im Zusammenhang mit der Schwäche und den offenen Niederlagen, welche die Arbeiterbewegung in der E poche des Faschismus hinnehmen mußte; ihre strukturellen Ursachen sind jedoch in Italien besonders deutlich erkennbar. Die zunächst erfolgreichen Streiks von 1920, die den Übergang zur sozialen Revolution nahelegten, bewiesen andererseits, wie Serrati im Gegensatz zu Lenin zutreffend erkannte, die durchaus unzulängliche ideologische und organisatorische Vorbereitung des italienischen Proletariats für die Übernahme politischer Macht; ob diese nun nach parlamentarisch-republikanischem Muster oder in der Form syndikalistischer Räteherrschaft, wie sie in den Besetzungen der Fabriken durch die Arbeiterschaft 1920 sich abzeichnete, erfolgen würde. Die starke syndikali­ stische und teils anarchistische Tradition genügte zur E rschütterung des bürgerlich­ konstitutionellen Systems, nicht zur Ausschaltung der starken konservativen und an­ tirevolutionären Kräfte. Die im Gegensatz zu dem erst 1923 an die Spitze des Partito Communista gestellten Antonio Gramsci von der Kommunistischen Internationale verfochtene Politik, die sich gegen die konkurrierenden Partito Socialista Massxmali­ sta und Partito Socialista Unitario richtete, beruhte ebenso auf einer Überschätzung der politischen Kraft der syndikalistisch-anarchistischen Strömung wie der Unter­ schätzung des Faschismus, der einen Teil der syndikalistischen Gewerkschaften zu sich herüberziehen konnte. Die nachhaltige politische Schwächung, die im Gegensatz einer vorwiegend auf anarchistisch-syndikalistischen Gesellschaftsvorstellungen verharrenden Arbeiter­ schaft und der Führung der Arbeiterbewegung marxistisch und sozialistisch beein­ flußte Minderheiten liegt, trat am deutlichsten in Spanien hervor. Trotz der aktiven Bemühungen des Marx-Freundes Paul Lafargue siegte auf der Iberischen Halbinsel der anarcho-syndikalistische E influß Bakunins und mit ihm eine bis heute nachwir­ kende antiparlamentarische Tendenz. Der 1879 konstituierte, 1888 formell gegründete Partido Socialista Obrero E spanol entwickelte sich erst in den dreißiger Jahren zu einer organisierten Massenpartei. Ihre 240

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Stärke beruhte auf der Unión General de Trabajadores de E spana (U. G.T.), die je­ doch im Gegensatz zur anarchistisch beeinflußten Confederación Nacional de Tra­ bajo de E spana (C. N . T . ) nur die Minderheit der gewerkschaftlich organisierten Ar­ beiter umfaßte. Der Wahlsieg der marxistisch orientierten, aber 1931 nach der Errich­ tung der Republik an der Regierung beteiligten Sozialistischen Partei beruhte vorwie­ gend auf der Wahlenthaltung der - politische Aktion und parlamentarisches System radikal bekämpfenden -Federación Anarquista Ibérica (F. A.I.)• Sie war ursprüng­ lich aus der spanischen Sektion der I. Internationale hervorgegangen und kontrollierte als Geheimorganisation die C . N . T . Der ausgeprägt syndikalistische Charakter der C. N . T . trat in der 1919 beschlossenen Reorganisation klar hervor: jede Form von Be­ rufs- und Industrieverbänden, die für die konkurrierende U . G . T . charakteristisch waren, sollte vermieden, eine einheitliche Gewerkschaftsorganisation auf der Basis lokaler Syndikate geschaffen werden. Für die Stärke der individualistisch -anarchistischen Tradition in der organisierten spanischen Arbeiterschaft war es bezeichnend, daß nicht nur die ursprünglich stark mit der Komintern sympathisierende U . G . T . und die sozialistische Partei, von der sich in der Folge eine zunächst einflußlose Kommunistische Partei abspaltete, eine Unterwerfung unter die „21 Punkte“ ablehnten, sondern daß auch die C . N . T . nach ergebnislosen Verhandlungen mit Moskau sich von der III. Internationale fernhielt und sich der Anarcho-Syndikalistischen Internationale anschloß. Die Politik beider Richtungen, zu der die trotzkistische (Partido Obrero de Unificación Marxista; P. O . U . M.) hinzutrat, blieb auch unter der konservativen DiktaturenPrimode Riveras streng geschieden; die U . G . T . hielt sich von den Generalstreiksbestrebungen der C. N . T . fern und versuchte zunächst eine begrenzte Zusammenarbeit mit dem Regi­ me, welches die C . N . T . und die F . A . I . schärfsten Verfolgungen unterwarf. Die anarchosyndikalistischen Gruppen, die im Süden und Osten des Landes, dagegen nicht in Madrid, eindeutig dominierten, divergierten in ihren revolutionären Zielset­ zungen nicht nur von den nach dem Rücktritt de Riveras für eine demokratische Re­ volution eintretenden Sozialisten, sondern auch von den Trotzkisten und Kommuni­ sten und lehnten jede Form zentralistischer Zusammenfassung, die auf die Bildung staatlicher Organisationsformen hinausgelaufen wäre, prinzipiell ab. Daraus erklärte sich die gleichwohl zahlenmäßige Schwäche der Kommunistischen Partei. Die dergestalt zerspaltene und nur in der unterschiedlichen radikalen Negation des Staatsapparats zu einigende spanische Arbeiterbewegung, die zudem aufs stärkste re­ gional zersplittert war, mußte gegenüber der faschistischen Nationalen Front von vornherein unterlegen sein, zumal die Anarchisten es ablehnten, sich an der 1936 ge­ bildeten Volksfront zu beteiligen. Ihre revolutionäre und territoristische Aktivität lei­ tete den Bürgerkrieg ein, bevor er durch die faschistische Konterrevolution unter der Führung Francos tatsächlich begann. Die starken Spannungen zwischen dem revolu­ tionären Flügel unter Caballero und dem reformistischen unter Prieto lähmten die so­ zialistische Partei und erleichterten es den kommunistischen Gruppen, die sich for­ mell auf den Boden der Durchsetzung der bürgerlichen Demokratie stellten und durch Moskau und die Internationale Brigade entscheidend unterstützt wurden, Schritt für Schritt die Machtpositionen im republikanischen Lager zu erringen und in 241 16

Mommsen, Arbeiterbewegung

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rücksichtslosem stalinistischem Terror die konkurrierenden Richtungen in der Arbei­ terbewegung auszuschalten. Diese kommunistische Taktik verwandelte den Bürger­ krieg gutenteils aus einem Kampf zwischen Demokratie und Faschismus in einen ter­ roristischen Feldzug der Stalinisten gegen Trotzkisten, Anarchisten und Sozialisten und trug ohne Zweifel zur Niederlage der antifaschistischen Kräfte bei, wirkte sich aber darüber hinaus in einer nachhaltigen Schwächung der spanischen Arbeiterbewe­ gung überhaupt aus. Der syndikalistische Typus der kontinentalen Arbeiterbewegung in der radikalen Spielart der Ablehnung parlamentarischer und parteipolitischer Aktivität und der Forderung der action directe ist in den romanischen Ländern am stärksten hervorge­ treten, findet sich aber in der unterschwelligen Form der einseitigen Betonung ge­ werkschaftlicher Aktivität in einer Reihe anderer Länder, insbesondere den Nieder­ landen, den skandinavischen Ländern und im zaristischen Rußland. In dem Maße, in dem das kommunistische Herrschaftssystem gezwungen ist, den Kommunismus als Zukunftsziel hinzustellen und starke staatliche Autorität als dauernden Zustand zu fordern, dürften syndikalistische Unterströmungen als Quelle innerparteilicher Op­ position hervortreten. III. Die sozialistische Arbeiterbewegung Für die große Mehrheit der europäischen Arbeiterparteien und Gewerkschaftsver­ bände hat sich die Bezeichnung „.sozialistisch“ bei ihren Anhängern und Gegnern ein­ gebürgert, obwohl die von ihnen vertretene Programmatik und praktische Politik nur begrenzt mit diesem Begriff übereinstimmt. Die typologische Unterscheidung von anarchistisch eny syndikalistischen und sozialistischen Strömungen in der Arbeiterbe­ wegung bezieht sich hingegen auf die divergierenden Konzeptionen in der Frage der Methoden des sozialistischen Kampfes, wobei diese Richtungen vielfach überlagert entgegentreten. Unter dem sozialistischen Typus der Arbeiterbewegung sind dem­ nach die Bestrebungen zu verstehen, durch die E roberung des Staatsapparats und durch politischen Kampf die gesellschaftliche Umgestaltung herbeizuführen. Kenn­ zeichnend sind der Primat der politischen Partei der Arbeiterklasse gegenüber der Gewerkschaftsbewegung, die Ablehnung der action directe und die Tendenz zu straf­ fer, zentralistischer Organisation. Der Gedanke einer straff organisierten proletarischen Massenpartei setzte sich - im Gegensatz zu den romanischen Ländern - seit dem 2. Drittel des 19. Jahrhunderts zu­ nächst in Deutschland, Österreich-Ungarn und in Belgien - und unter ihrem E influß - seit den achtziger Jahren in Skandinavien, Ost- und Südosteuropa durch. In der Mehrheit dieser Länder entfaltete sich die Gewerkschaftsbewegung in enger Anleh­ nung an die sozialistische Partei und begriff sich im Prinzip als deren Werkzeug, auch wenn im Zuge der E ntwicklung eine Verselbständigung der Gewerkschaften eintrat. Auch innerhalb der Gewerkschaftsbewegung errang das Prinzip straffer zentralisti­ scher Organisation zunehmende E rfolge. Die im „Kommunistischen Manifest“ anklingende, in der Inauguraladresse der IAA ausdrücklich enthaltene Forderung, daß sich die Arbeiterschaft als selbständige 242

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politische Partei in nationalem Rahmen und unabhängig vom liberalen Bürgertum or­ ganisieren müsse, hat die E ntstehung selbständiger Arbeiterparteien auf dem Konti­ nent beschleunigt, aber keineswegs verursacht. Während die Arbeiterbewegung in den westlichen Ländern - mit der Ausnahme Spaniens - sich relativ gefestigten libera­ len Honoratiorenparteien und einem lebhaften bürgerlichen Radikalismus gegen­ übersah, die Bedingungen für eine selbständige Parteibildung daher verhältnismäßig ungünstig waren, fiel der Arbeiterbewegung in Deutschland und im zisleithanischen Österreich die politische E rbschaft der nur schwach entwickelten und weitgehend zerfallenden liberalen Demokratie zu. Die Gründung des Allgemeinen Deutschen Ar­ beitervereins (ADAV) von 1863 durch F. Lassalle erfolgte zu einem Zeitpunkt, indem sich die erste moderne liberale Parteibildung, die 1861 gegründete „Preußische Fort­ schrittspartei“, im preußischen Verfassungskonflikt weitgehend aufgerieben hatte. Die von August Bebel und Wilhelm Liebknecht aus dem Verband der Deutschen Ar­ beiterbildungsvereine und der Sächsischen Volkspartei 1869 in E isenach (Thür.) ge­ gründete Sozialdemokratische Arbeiterpartei führte die kleinbürgerliche Demokratie und die zunächst noch schwachen und auf die Handwerkerschaft begrenzten soziali­ stischen Kräfte zusammen. Für die Parteibildung bedurfte es nicht des Anstoßes aus London; der Schritt vom lockeren Zusammenhang lokaler Arbeiterbildungsvereine und regionaler Fachver­ bände zur Gründung einer radikal-demokratischen Partei mit einzelnen sozialisti­ schen Zielsetzungen entsprach der allgemeinen Tendenz sowie der Rivalität zum ADAV. Die Gründung der E isenachcr Partei mit Marx' Unterstützung bedeutete zu­ gleich das Scheitern der Pläne BERNHARD Philipp Beckers, die eine unmittelbare E in­ bindung der deutschen Arbeiterbewegung in die I. Internationale und ihre Organisa­ tion unter seiner Führung in der Genfer Sektion deutscher Sprache unter stärkerer Einbeziehung der Gewerkschaften vorsahen. Die miteinander rivalisierenden, auf dem Vereinigungsparteitag in Gotha 1875 zusammengeschlossenen Fraktionen be­ kannten sich zwar formell zur Internationale, verfolgten aber der Sache nach - trotz beiderseitigen Werbens um die Unterstützung durch Marx und E ngels - eine eigen­ ständige Politik. Ideologisch setzten sich Teile des Programms der Internationale das Prinzip des proletarischen Internationalismus, der Gedanke einer selbständigen politischen Organisation der Arbeiterklasse und die grundsätzliche Kritik am kapita­ listischen System - durch, doch vermieden es Bebel und Liebknecht, die reinen De­ mokraten durch ein einseitig sozialistisches Programm abzustoßen, wie sie Marx' vernichtende Kritik am Gothaer Programmentwurf bewußt ignorierten, um die E ini­ gung nicht zu gefährden. Die E ntscheidung darüber, ob die „Sozialistische Arbeiter­ partei Deutschlands“ eine rein proletarische Klassenpartei oder eine alle fortschrittli­ chen Gruppen umfassende Volkspartei sein sollte, war angesichts der Schwäche der bürgerlichen Demokratie verfrüht; erst nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes führte der von vornherein gegebene latente Gegensatz zwischen demokratischen Re­ formisten und den Anhängern einer revolutionären Politik grundsätzlicher parlamen­ tarischer Opposition zum offenen Konflikt. Die Stellung von Marx und E ngels zur neuen Partei blieb zwiespältig. Neben der anerkennenden Äußerung, daß die Führung der internationalen Arbeiterbewegung 243

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von Frankreich auf Deutschland übergegangen sei, stand die scharfe Kritik am fort­ wirkenden E influß des Lassalleanismus, wie sie später bitter beklagten, daß der Mar­ xismus „nicht einmal hauttief“ in die deutsche Arbeiterbewegung eingedrungen sei. Die formelle Übernahme marxistischer Prinzipien in den theoretischen Teil des E r­ furter Programms von 1891 änderte nichts daran, daß die deutsche Sozialdemokratie bei äußerlicher Hervorhebung sozialistischer Forderungen im Kern eine radikal-de­ mokratische Oppositionspartei blieb, die sich zum legalen Vorgehen bekannte und die in weit stärkerem Umfange, als das in den programmatischen E rklärungen zum Ausdruck kam, die Traditionen der bürgerlichen Demokratie von 1848 fortsetzte. Andererseits imponierten Marx und E ngels die straffe, zentralistische Organisation und die E rfolge bei den Reichstagswahlen; auch E ngels unterlag dem Irrtum, die er­ staunlichen Stimmenzahlen, welche die Sozialdemokratie erhielt, für reale politische Macht zu halten. Die spezifische Form der Sozialdemokratie wurde zum Prototyp der sozialisti­ schen Parteibildung in Österreich-Ungarn, in den meisten Balkanstaaten, den skan­ dinavischen Ländern, in Russisch-Polen und im Zarenreich. Ihre Ausstrahlungskraft als „Musterkind“ der II. Internationale stand in krassem Mißverhältnis zu ihrem ge­ ringen E influß im halbkonstitutionellen Wilhelminischen Reich. Die E ntwicklung der Arbeiterbewegung im zisleithanischen Österreich erfolgte seit dem Ausgang der sechziger Jahre, trotz der schweren Rückschläge durch die „Propaganda der Tat“ nach 1882, ganz nach reichsdeutschem Vorbild; die E inigung der Partci in Hainfeld (1889/90), der diejenige der tschechoslowakischen Sozialdemokratie vorausging, legte die Grundlage für eine alle österreichischen Nationalitäten umfassende, seit 1897 föderativ gegliederte Organisation. Die 1890 gegründete, zahlenmäßig bis 1914 kaum ins Gewicht fallende Sozialdemokratische Partei Ungarns übernahm ebenso wie die Sozialdemokratie des Königreichs Serbien (1903) das deutsche Vorbild, während in den übrigen Balkanstaaten mangels eines größeren Industrieproletariats die Arbeiter­ bewegung bis ins 20. Jahrhundert auf rivalisierende Intellektuellenzirkel und wenig koordinierte Gewerkschaftstätigkeit beschränkt blieb. Die traditionelle Arbeiterbe­ wegung der deutschsprachigenSchweiz (1838 Grütliverein, 1873 Schweizer Arbeiter­ bund) näherte sich 1888 mit der Gründung der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz, der sich 1901 der Grütliverein anschloß, dem deutschen Organisationsty­ pus, doch machte sich im Unterschied zu Deutschland ein starker christlich-sozialer Einfluß geltend, ferner eine lebendige Konsumgenossenschaftsbewegung. Noch deutlicher trat der E influß der reichsdeutschen Sozialdemokratie in den skandinavi­ schen Ländern hervor, doch mußten die in den achtziger Jahren entstehenden Arbei­ terparteien ihre oppositionelle Stellung mit starken radikal-demokratischen Gruppen teilen und blieb die Gewerkschafts- und Konsumgenossenschaftsbewegung auch nach der Überwindung syndikalistischer E inflüsse weitgehend selbständig. Das internationale Ansehen der deutschen Sozialdemokratie beruhte nicht zuletzt auf ihrer umfassenden Organisation, ihrer Finanzkraft und ihrer publizistischen Ak­ tivität. An disziplinierter Organisation und (äußerer) ideologischer Geschlossenheit konnte neben der deutsch-österreichischen nur die belgische Arbeiterbewegung sich mit ihr messen. Die zum „Staat im Staate“ tendierende Mitgliederpartei, die über ein 244

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wohlausgebautes Organisationsnetz mit zahlreichen Nebenorganisationen verfügte (Jugendgruppen, Frauenvereine, Bildungsorganisationen, Parteischulen, Arbeiterbi­ bliotheken, Sportvereine usw.) und trotz gelegentlicher Konflikte mit der General­ kommission der Gewerkschaften deren klare Unterstützung besaß, verdankte ihre innere Einheit ganz überwiegend dem Umstand, daß sie angesichts der Mehrheitsver­ hältnisse im Deutschen Reichstag vor 1917 nicht in die Lage kam, aus der Rolle der äußersten Opposition herauszutreten. Die scharfen Spannungen in dem Parti Sociali­ ste Beige über die Frage eines antikatholischen Wahlbündnisses mit den Liberalen, die Spaltung der holländischen Sozialdemokratie von 1908 wegen parlamentarischer Zu­ sammenarbeit mit den Liberalen beruhten darauf, daß hier die Arbeiterparteien auf­ grund ihres tatsächlichen parlamentarischen Gewichts vor grundsätzliche politische Entscheidungen gestellt waren, was der deutschen Sozialdemokratie, die in der II. In­ ternationale ihren dominierenden E influß für eine Politik der Abstinenz von bürger­ lich-liberalen Kabinetten geltend machte, bis zum 4. August 1914 im wesentlichen er­ spart blieb. Das offizielle marxistische Parteiprogramm hatte die Funktion einer Inte­ grationsideologie und ließ es zu, den Bruch mit dem revisionistischen Flügel wie mit der marxistischen Linken unter R. Luxemburg und A Helphand zu vermeiden. Die Polnische Sozialistische Partei (PPS) Pilsudskis und die seit 1896 mit ihr konkur­ rierende Sozialdemokratie des Königreiches Polen und Litauen (SDKPiL) nahmen die SPD zum Vorbild. Das galt auch für die illegale russische Arbeiterbewegung. Die im Gegensatz zu den Sozialrevolutionären stehende Gruppe „Befreiung der Arbeit“, die 1883 in der Schweiz gegründet worden war und die sich ideologisch eng an das Go­ thaer Programm anlehnte, geriet in den neunziger Jahren unter dem E influß Plecha­ novs in Gegensatz zu den „legalen Marxisten“ (P. Struve y M. L Tugan-Baranovski); nach einer mehr formellen Gründung einer Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands (1898) kam es seit der Jahrhundertwende zu wechselvollen Versuchen der Zusammenarbeit aller Gruppen einschließlich des Allgemeinen Jüdischen Arbeiter­ bunds in Rußland und Polen (gegr. 1897), doch zerfiel die Bewegung 1903 auf dem Londoner Kongreß der Russischen Sozialdemokratischen Partei. Lenin war aufs stärkste von der organisatorischen Geschlossenheit der SPD beeindruckt, auch wenn er unter den Verhältnissen im Zarenreich den Aufbau einer geheimen Kaderpartei statt einer legalen demokratischen Massenorganisation anstrebte. E r unterlag wie die führenden marxistischen Theoretiker der II. Internationale dem Irrtum, daß die SPD zur Durchführung der sozialen Revolution organisatorisch vorbereitet sei, und konnte sich daher der Hoffnung hingeben, daß die proletarische Revolution in Ruß­ land nicht isoliert bleiben würde. Tatsächlich waren die sozialdemokratischen Parteien der II. Internationale auf langfristige reformistische Politik eingestellt, und sie entwickelten sich aus proletari­ schen Klassenparteien zu demokratischen Volksparteien. Die offizielle Programma­ tik des orthodoxen Marxismus verwandelte die Forderung nach revolutionärer Ak­ tion in bloße Phraseologie, welche die Scheidelinie zu den bürgerlichen Parteien be­ tonte, und erwartete unter einseitiger Interpretation von E ngels' E inleitung zu den „Klassenkämpfen in Frankreich“ die Revolution nur in Form der reaktionären Kon­ terrevolution gegen den sich legal auf parlamentarischem Wege vollziehenden Uber245

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gang der politischen Macht in die Hände des Proletariats. Die Preisgabe der revolu­ tionären Dialektik zugunsten eines „E ntwicklungsfatalismus“, demzufolge die öko­ nomische Gesetzlichkeit automatisch der Arbeiterklasse die Macht zuspielen würde, bewirkte zunehmende politische Sterilität und führte dazu, daß sich die deutsche Ar­ beiterbewegung nach dem Pyrrhussieg der Novemberrevolution 1918 gegenüber den konservativen und den faschistischen Kräften in eine schwächliche Defensive begab. Die Niederlagen der sozialistischen Arbeiterbewegung nach dem 1. Weltkrieg re­ sultierten nicht einfach aus der Spaltung zwischen reformistischen und marxistisch­ revolutionären Gruppen, die teilweise in den Kommunistischen Parteien aufgingen. Gegenüber den irrationalistischen politischen Strömungen seit der Epoche des Impe­ rialismus erwies sich, wie der Zerfall der II. Internationale im August 1914 und das Eindringen starker nationalistischer Tendenzen in die Arbeiterbewegung gezeigt hat­ ten, die spezifisch rationale Agitation der Sozialdemokratie als unterlegen. Ihre un­ klare und vielfach zwiespältige Haltung gegenüber der bürgerlich-demokratischen Republik, die sie gleichwohl überall lebhaft verteidigte, hinderte sie daran, die errun­ genen Machtpositionen auszubauen, und es bedurfte des Rückfalls in die faschistische und nationalsozialistische Diktatur und der scheiternden Volksfront-E xperimente, um dem Gedanken des demokratischen Sozialismus innerhalb der nichtkommunisti­ schen Gruppen zu ungeteilter Anerkennung zu verhelfen. Die Spaltung der internationalen Arbeiterbewegung in einen probolschcwistisch eingestellten Flügel, der sich der Kommunistischen Internationale anschloß, und die Mehrheit der demokratisch-reformistisch eingestellten Arbeiterparteien, die sich in der Sozialistischen Arbeiterinternationale eine gemeinsame Plattform schufen, wurde in dem Maße unüberbrückbar, als sich die Komintern in ein Werkzeug des Stalinis­ mus verwandelte und, wie schon mit der Durchsetzung des Programms der „21 Punk­ te“, die kommunistischen Parteien in den Dienst der Interessen Moskaus stellte. Die Hoffnung, die in den mittel- und ostmitteleuropäischen Ländern bestehende innen­ politische Labilität zur kommunistischen Machteroberung ausnützen zu können, führte zu einem völligen Fehlschlag der Taktik der Kommunistischen Parteien, die mit Ausnahme Frankreichs und Deutschlands - in den Jahren der Weltwirtschafts­ krise nur eine kleine Minderheit der Arbeiterschaft hinter sich bringen konnten und erst nach dem Sieg des Faschismus durch ihre führende Rolle im antifaschistischen Widerstand die politische Isolierung vorübergehend überwanden. IV. Die christliche Arbeiterbewegung Im Unterschied zur liberalen Arbeiterbewegung, die nach dem Scheitern des Selbsthilfegedankens von Schulze-D elitzsch nur in Deutschland mit den Hirsch­ Dunckerschen Gewerkschaftsverbänden eine selbständige Rolle spielte und ganz überwiegend Angestellte umfaßte, hat sich die christliche Arbeiterbewegung aus un­ scheinbaren Anfängen heraus in einigen westeuropäischen Ländern zu einem ernst­ zunehmenden Partner der sozialistisch beeinflußten Gewerkschaftsbewegung ent­ wickelt. Abgesehen von den Niederlanden (Christelijk National Vakverbond) und der Schweiz (Christlich-Nationaler Gewerkschaftsbund und Schweizerischer Ver246

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band evangelischer Angestellter) ist die christliche Arbeiterbewegung nahezu aus­ schließlich auf katholische Arbeiter und Angestellte beschränkt geblieben, obwohl sowohl in Deutschland wie in Frankreich lebhafte Bestrebungen bestanden haben, die in den meisten Verbänden statutenmäßig vorgesehene Interkonfessionalität auch praktisch zu erreichen und damit die christliche Arbeiterbewegung aus dem „Ghetto“ herauszuführen, in dem sie sich durch die starke Bindung an die Kurie und die katho­ lischen Parteien befand. Die sich seit den sechziger Jahren in Deutschland analog zu den Kolpingvereinen entfaltende katholische Arbeiterbewegung gewann - trotz der Unterstützung einzel­ ner sozial aufgeschlossener Kirchenführer (Bischof E . v. Ketteier) - erst seit den 90er Jahren (1891 Verband süddeutscher katholischer Arbeitervereine) größere Bedeu­ tung. Die Gründung des Gesamtverbands christlicher Gewerkschaften Deutschlands unter Adam Stegerwald (1899) stieß auf den starken Widerstand norddeutscher Gruppen („Sitz Berlin“) und löste den „Gewerkschaftsstreit“ von 1902 aus, der von der Kurie in der E nzyklika „Singulari quadam“ von 1912 nur äußerlich bereinigt, endgültig erst 1931 durch „Quadragesimo anno“ zugunsten einer unabhängigen, von der Bindung an die katholischen Arbeiterorganisationen befreiten, interkonfessionel­ len Gewerkschaftsbewegung entschieden wurde. Während die christlichen Gewerk­ schaften im Deutschland der Weimarer Republik eine gewisse Rolle spielten, blieb die katholische Arbeiterbewegung, die sich 1928 der Fédération Internationale des Mou­ vements Ouvrters Chretiens anschloß, politisch ohne E influß. In noch stärkcrem Maß als in Deutschland behinderte die zunächst betont konser­ vative Haltung der Kurie in Frankreich die E ntfaltung einer christlichen Arbeiterbe­ wegung, abgesehen davon, daß das traditionelle Bündnis von Thron und Altar einen scharfen Antiklerikalismus bei der Arbeiterschaft genährt hatte, der durch die offen gewerkschaftsfeindliche E instellung breiter kirchlicher Kreise noch unterstützt wur­ de. Im Gegensatz zu den Vorstellungen der Kirche, die korporative Zusammen­ schlüsse von Unternehmern und Belegschaften anstrebte, kam es seit den achtziger Jahren unter Jules Zirnheld zu einer selbständigen katholischen Gewerkschaftsbewe­ gung, die sich gegen die zweifache Konkurrenz der C . G . T . und der „gelben“ Ge­ werkschaften behauptete und sich 1919 zur Confédération Française des Travailleurs Chrétiens (C. F. T. C.) zusammenschloß. Begrenzt auf bestimmte Regionen und Be­ rufszweige, vermochte sich die C . F . T . C., vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg (dank ihrer Teilnahme an der Résistance), gegenüber den konkurrierenden C . G . T . und F . O . zu behaupten, unter weitgehender Zurückstellung ihres konfessionellen Charakters und bei betonter „parteipolitischer“ Neutralität. Die Hoffnung Zirnhelds auf eine „dritte“, katholische Arbeiterpartei blieb jedoch Illusion. Anders als in Frankreich und den Benelux-Ländern hat die richtungspolitische Spaltung der Arbeiterbewegung in Italien nicht zu einer christlichen Arbeiterbewe­ gung geführt; die christlichen Arbeiter gehören vielmehr der dem IBFG (Internatio­ naler Bund freier Gewerkschaften), nicht dem IBCG (Internationaler Bund christli­ cher Gewerkschaften) angeschlossenen Confederazione Internationale Sindacati Li­ beri an, neben der nur eine katholische Arbeiterbildungsbewegung besteht. Die der demokratischen Bewegung stärker entgegenkommende und sozial aufgeschlossenere 247

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Haltung des Katholizismus in Belgien ermöglichte dagegen der Confédération des Syndicats Chrétiéns de Belgique ( C . S . C . ) , erheblichen E influß zu erlangen. Das gilt auch für die streng konfessionell eingestellte Katholieke Arbeidersbeweging (KAB) der Niederlande. In allen übrigen Ländern ist die christliche Arbeiterbewegung auf die Rolle von Splittergruppen beschränkt. In Deutschland und Österreich schloß sie sich den nach 1945 gebildeten E inheitsgewerkschaften an. Abgesehen von den Benelux-Staaten, in denen die traditionelle weltanschauliche Gruppierung des Parteiensystems am stärksten nachwirkt, hat die christliche Ge­ werkschafts- und Arbeiterbewegung nur in Frankreich - und hier als Gegenspieler zur kommunistisch beeinflußten C . G . T . - größeres Gewicht erlangt. In ihr kamen starke demokratische Tendenzen zum Ausdruck, doch zerrieben sie sich vorwiegend in der Auseinandersetzung mit den ausgeprägt konservativen Kräften des politischen Katholizismus und im Kampf mit der Sozialdemokratie. In dem Maße, in dem die eu­ ropäische Arbeiterbewegung reformistische Zielsetzungen verfolgt und die pluralisti­ sche Demokratie als solche anerkennt, schwinden die Voraussetzungen einer selb­ ständigen christlichen Arbeiterbewegung, deren Wurzeln ebenso wie die des Antikle­ rikalismus vorwiegend traditionsbedingt sind.

5. A r b e i t e r b e w e g u n g und M a r x i s m u s Das vielschichtige Bild, das sich bei einer Betrachtung der verschiedenen ideologi­ schen Spielarten und nationalen E rscheinungsformen der Arbeiterbewegung ergibt, reduziert sich vom Gesichtspunkt des Marxismus-Leninismus aus im wesentlichen auf die sozialistische Arbeiterbewegung, wogegen die liberale und die christliche Ar­ beiterbewegung als Versuche bürgerlicher und kleinbürgerlicher Gruppen erschei­ nen, die Arbeiterschaft vom Klassenkampf abzulenken und den Antagonismus zwi­ schen Arbeiterklasse und kapitalistischem Bürgertum zu verdecken. Die Arbeiterbe­ wegung umfaßt im Lichte der kommunistischen Theorie die fortgeschrittenen Teile des Proletariats, das sich in zunehmendem Umfang seiner historischen Rolle als Uberwinder des Kapitalismus bewußt wird. E s ist daher für die kommunistische Theorie evident, daß die Arbeiterbewegung notwendig die Entwicklung nehmen muß, die ihr in der marxistischen Klassenkampf- und Revolutionstheorie zugeschrieben ist. Der wissenschaftliche Sozialismus ist daher nicht eine politische Theorie unter ande­ ren, sondern das zu sich selbst kommende Bewußtsein der Arbeiterklasse, d.h. die Einsicht in die wahren, notwendigen Gesetzmäßigkeiten ihrer E ntwicklung. Der E inengung des Begriffs der Arbeiterbewegung auf die Bewegung des revolu­ tionären, klassenbewußten Proletariats entspricht das Bestreben, die Geschichte der Arbeiterbewegung linear auf die siegreiche Oktoberrevolution hin zu interpretieren und die kommunistischen Parteien als deren E rben und Vollstrecker darzustellen. Diese teleologische Deutung führt zu der These, daß die kommunistische Bewegung seit dem Kommunistischen Manifest und dem Bund der Kommunisten unaufhaltsam „ihren Siegeszug über den ganzen E rdball angetreten“ habe, der in der „E rrichtung 248

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des sozialistischen Weltsystems“ zum Abschluß kommen werde 8 . Gegen diese Inter­ pretation, die nicht nur die gegensätzlichen Strömungen innerhalb der Arbeiterbewe­ gung verwischt, sondern auch an der Tatsache vorbeigeht, daß sich der „demokrati­ sche Sozialismus“ mindestens im gleichen Maße auf die Tradition der europäischen Arbeiterbewegung berufen kann wie der Kommunismus, erheben sich jedoch massive historische E inwände, die vor allem die postulierte Identität von Arbeiterbewegung und Marxismus betreffen. Die kommunistische Theorie der Arbeiterbewegung stützt sich auf das Axiom, daß sich die „elementare“ bzw. „spontane“ Arbeiterbewegung mit dem wissenschaftli­ chen Sozialismus verbunden habe. Die marxistisch-leninistische Forschung versucht deshalb den Nachweis zu führen, daß sich die fortgeschrittene Arbeiterschaft in allen Ländern zum Marxismus bekannt habe. Schon die E isenacher Partei habe trotz eini­ ger ideologischer Unklarkeiten über die Bedingungen des Klassenkampfes auf dem Boden des wissenschaftlichen Sozialismus gestanden. Der Lassalleanismus dagegen wird, obwohl er in vieler Hinsicht weit stärker marxistisch beeinflußt war, unter Hinweis auf den von Lassalle und v. Schweitzer „gezüchteten“ Personenkult- übri­ gens im Gegensatz zu Äußerungen Lenins - als opportunistische Abweichung be­ zeichnet, wobei Marx' Kritik, daß Lassalle die E ntwicklung der Gewerkschaften be­ hindert habe, als wichtiges Argument angeführt wird. Die Neigung, marxistische Einflüsse zu überschätzen, zeigt sich charakteristisch bei der von der westlichen For­ schung bestrittenen These, daß der Lassalleanismus unter dem E indruck des 1867 er­ schienenen ersten Bandes des „Kapital“ ideologisch überwunden worden sei; die Schriften E ugen Dührings sind in dieser Beziehung weit wirksamer gewesen. Der zu­ nächst relativ geringe E influß der Theorie von Marx, der von ihm selbst beklagt wur­ de, geht schon daraus hervor, daß das Kommunistische Manifest in Deutschland erst seit den siebziger, in allen übrigen Ländern sogar erst seit den achtziger Jahren neu aufgelegt worden ist (Bert Andréas 8 a ). Die Beantwortung der Frage, von wann an und in welcher Form sich Marx' politi­ sche und ökonomische Theorie in der europäischen Arbeiterbewegung als tatsächlich die Massen der organisierten Arbeiterschaft bestimmende Ideologie vorfindet, ist schon deshalb schwierig, weil die einzelnen Teile des marxistischen Ideensystems die politische Theorie, der proletarische Internationalismus, die ökonomischen Leh­ ren, schließlich die von Marx nur andeutungsweise entwickelte Theorie der Revolu­ tion - nacheinander und in verschiedenem Umfang rezipiert wurden und weil sich namentlich unter dem E influß des späten E ngels - die Positionen beider Theoretiker unter dem E indruck des Ausbleibens der Revolution selbst wesentlich verschoben haben. Die Verwandlung des Marxismus aus einer „Philosophie des Proletariats zur proletarischen Weltanschauung“ (I. Fletscher 8b ), die Adaptierung des dialektischen Materialismus an die positivistische Zeitströmung, die Ausarbeitung des historischen Materialismus durch E ngels zu einem umfassenden, durch die Annahme eines selbst­ tätigverlaufenden Zersetzungsprozesses des Kapitalismus die revolutionäre Aktivität letztlich lähmenden geschichtsphilosophischen System haben weithin erst die Vor­ aussetzungen dafür geschaffen, daß sich ein von den bürgerlich-demokratischen Vor­ stellungen klar geschiedenes sozialistisches Denken marxistischer Prägung herausge249

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bildet hat, dessen ideologische Verflachung erst durch Lenins Rückgriff auf Marx' re­ volutionäre Dialektik vorübergehend überwunden wurde. Abgesehen von der in der westlichen Forschung umstrittenen Frage, inwiefern, seit wann und in welchem Um­ fang die Marxsche Lehre die Führungsgruppen der Arbeiterbewegung maßgeblich be­ stimmt hat, ist doch das Urteil möglich, daß der Marxismus als geschlossenes theoreti­ sches System sich in breiteren Gruppen der Arbeiterschaft erst vermittels der popula­ risierenden Schriften K. Kautskys seit den achtziger Jahren durchgesetzt hat, und damit in einer Gestalt, die das Vordringen reformistischer Zielsetzungen kaum behin­ derte. Das E rfurter Programm von 1891, das erste ausdrücklich marxistische Pro­ gramm der europäischen Arbeiterbewegung, vertagte implizit die proletarische Revo­ lution „ad calendas graecas“, indem es den marxistischen theoretischen Teil unter den Begriff der „Zukunftsziele“, den reformistischen praktischen Teil, der von dem späte­ ren Revisionisten Bernstein verfaßt war, unter den Begriff der „Gegenwartsforderun­ gen“ rubrizierte und damit die revolutionäre Dialektik von politischer Organisation des Proletariats und sozialer Revolution in eine zeitliche Stufenfolge verwandelte. Als politisches System ist daher der Marxismus von den maßgebenden Führungs­ gruppen der kontinentaleuropäischen Arbeiterbewegung nur in dem allgemeinen Sinne übernommen worden, daß die Marxsche Analyse des kapitalistischen Klassen­ staates und seine Prognose des unvermeidlichen Zerfalls des Kapitalismus als wissen­ schaftliche Bestätigung der praktischen Politik der Arbeiterparteien aufgefaßt wurde. Die marxistisch-leninistische Forschung begibt sich in einen ständigen latenten Wi­ derspruch, indem sie einerseits den vorleninistischcn Marxismus als geschlossenes, nahezu monolithisches System ohne innere Wandlung hinstellt und seine zuneh­ mende Verbreitung behauptet, andererseits gezwungen ist, die seit den neunziger Jah­ ren im europäischen Sozialismus dominierende reformistische Strömung als Abwei­ chung von der Norm zu bezeichnen und mit dem von Lenin taktisch gebrauchten, theoretisch durchaus unergiebigen Begriff des Opportunismus psychologisierend zu erklären. Daß die Arbeiterbewegung in einzelnen Perioden und Ländern weder sozia­ listisch im allgemeinen Sinn noch spezifisch marxistisch orientiert gewesen ist - E n­ gels gab dies für E ngland und Italien ausdrücklich zu - , wird von der kommunisti­ schen Interpretation einerseits auf die mangelnde E insicht in die Bedingungen des proletarischen Kampfes, das unzureichend entwickelte revolutionäre Klassenbe­ wußtsein der Arbeiter sowie auf die nachwirkenden E inflüsse Bakunins und des fran­ zösischen Frühsozialismus zurückgeführt. Andererseits wird die evolutionäre E nt­ wicklung der angelsächsischen Arbeiterbewegung mit der E ntstehung einer breiten „Arbeiteraristokratie“, die sich aufgrund von E xtraprofiten aus der Ausbeutung in­ dustriell vergleichsweise zurückgebliebener Länder vorübergehend in einer Ökono­ misch günstigen Lage befand, begründet und das Vordringen des Reformismus in der kontinentaleuropäischen Arbeiterbewegung auf das Konto opportunistischer, vom kapitalistischen Bürgertum bestochener Arbeiterführer gesetzt. All das - und dies gilt umgekehrt auch für die Anwendung des Begriffs des „Sektie­ rertums“ auf die Fälle, in denen die marxistischen linken Flügel in die politische Isolie­ rung gerieten - sind von den konkreten sozialökonomischen Bedingungen abstrahie­ rende, daher willkürliche Hilfskonstruktionen, die an der Tatsache vorbeiführen, daß 250

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die Arbeiterbewegung in dem Maße, in dem sie parlamentarischen E influß errang und gewerkschaftliche E rfolge erzielte, um der Interessen ihrer Anhänger und ihrer Glaubwürdigkeit willen politische Kompromisse schließen und vom extremen Klas­ senkampfstandpunkt notwendig abgehen mußte. Die Abwendung von konspirativ­ terroristischem politischem Vorgehen zu legalem demokratischem Machterwerb vollzog sich häufig dort am raschesten, wo der Marxismus zunächst Rückhalt gefun­ den hatte, während die revolutionären Impulse bei den syndikalistisch-anarchistisch beeinflußten Gruppen am lebhaftesten blieben. Ungeachtet des E influsses der marxi­ stischen Theorie auf die Programmatik, blieb selbst in Deutschland die politische Pra­ xis der „revolutionären“ Sozialdemokratie, trotz der radikalisierenden E inwirkungen der russischen Revolution von 1905, im Kern reformistisch, und E ngels' Freund Vic­ tor Adler verteidigte ihre Politik gegen den Vorwurf, daß sie opportunistisch sei, mit der Bemerkung, sie sei allerdings „Opportunismus im besten Sinne“, indem sie alle Möglichkeiten der Organisation des revolutionären Proletariats ausnütze. Die Zuordnung von Arbeiterbewegung und Marxismus war fester Bestandteil des Programms der II. Internationale. Durch Lenin wurde indessen die ihr zugrunde lie­ gende Vorstellung, daß die marxistische Theorie das „richtige“ Bewußtsein der Arbei­ terbewegung sei, um ein weiteres Glied vermehrt, dessen Rückprojektion in die An­ fänge und die klassische E ntwicklungsphase der Arbeiterbewegung die kommunisti­ sche Geschichtsschreibung zu willkürlichen Annahmen zwingt, die mit der histori­ schen Wirklichkcit nicht vereinbart werden können. Lenins These von der führenden Rolle der bolschewistischen Partei, die er in „Was tun?“ darlegte, bedeutete einen grundsätzlich neuartigen Schritt über die bisherige Vorstellung einer dialektischen Einheit von Marxismus und Arbeiterbewegung hinaus: „Die Vereinigung des Sozia­ lismus mit der Arbeiterbewegung vollzieht die Partei der Arbeiterklasse, die die Inter­ essen nicht einzelner Gruppen von Arbeitern nach Beruf oder Nationalität, sondern die gemeinsamen Interessen des gesamten Proletariats verficht. Die Partei muß der Arbeiterbewegung ihre politischen Aufgaben und ihr E ndziel zeigen. Folglich braucht das Proletariat, um den Kapitalismus zu stürzen und den Kommunismus auf­ zubauen, eine eigene, selbständige Partei, die kommunistische Partei.“ 9 Dieses ur­ sprünglich von Lenin aufgestellte, zum Kern der heutigen kommunistischen Lehre gehörende Theorem besagt, daß sich die Vereinigung von Arbeiterbewegung und Marxismus - als dem Sein und dem Bewußtsein der Arbeiterklasse- nicht selbsttätig herstellt, sondern durch die proletarische Partei, den Zusammenschluß der politisch und ideologisch fortgeschrittensten E lemente des Proletariats, aktiv vermittelt wird. Der damit vom Leninismus erhobene Monopolanspruch der bolschewistischen Partei, die zugleich zum allein legitimen Interpreten des Marxismus wird, ist auf die entschiedene Kritik aller nichtbolschewistischen Gruppen gestoßen. Von den ver­ schiedensten politischen Richtungen ist darauf hingewiesen worden, daß die auf die russischen Verhältnisse zugeschnittene und den taktischen Bedürfnissen Lenins ent­ springende Theorie der „Partei neuen Typus“ weder bei Marx angelegt sei noch auf die europäische Arbeiterbewegung übertragen werden könne. Demgegenüber ist die kommunistische Forschung bemüht, bei Marx und E ngels eine prinzipiell gleicharti­ ge, wenn auch noch nicht den Bedingungen der E poche des Imperialismus angepaßte 251

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Haltung nachzuweisen. Die Wirksamkeit von Marx und E ngels als führende Theore­ tiker und praktische Ratgeber der Arbeiterbewegung wird daher möglichst in die ak­ tiver Arbeiterführer umgedeutet. Diese Tendenz führt zu einer völligen Überbewer­ tung der Tätigkeit von Marx und E ngels im Bund der Kommunisten und zu einer Fehleinschätzung der Haltung, die sie in der Revolution von 1848 gegenüber der auf­ keimenden Arbeiterbewegung eingenommen haben. Die im offiziösen „Grundriß der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung“ vertretene Auffassung, daß Marx und Engels „große Anstrengungen zur E ntwicklung des Klassenbewußtseins und zur selbständigen Organisierung der jungen deutschen Arbeiterklasse“ auf sich genom­ men hätten 10 , trifft für die Jahre 1848/49 nicht, für die Entwicklung nach 1863 nur be­ dingt zu. Marx und Engels scheuten damals wie später stets davor zurück, aktiv an der Arbeiterbewegung teilzunehmen, obwohl es an Aufforderungen dazu nicht fehlte. Ohne Zweifel hielten sie 1848 an der gemeinsamen Überzeugung fest, daß die bürger­ liche Revolution die Voraussetzung der proletarischen darstelle, und haben daher den Anfängen der selbständigen Arbeiterbewegung nur untergeordnetes Interesse zuge­ wandt, was Lenin als eine „ungeheuerliche und unglaubliche Tatsache“ vermerkte 11 . Neuere Forschungen 12 haben hingegen gezeigt, daß alle Versuche, Marx und E n­ gels als Vorkämpfer einer straffen, zentralistischen, internationalen Parteibildung im modernen Sinne darzustellen, prinzipiell verfehlt sind. Die „kommunistische Partei“ des Manifests, die „große Partei des Proletariats“, die Millionenarmee, von der sie sprachen, war für sie kein von fähigen Agitatoren und Massenführern organisiertes Gebilde, sondern die spontane Bewegung des zum Klassenbewußtsein kommenden Proletariats, das virtuell mit der - im Zuge der Akkumulation des Kapitals die über­ große Mehrheit der Gesamtbevölkerung umfassenden - Arbeiterklasse identisch war. Unter Partei, schrieb Marx am 29. Februar 1860 anFreiligrath, habe er immer die Par­ tei im großen historischen Sinne verstanden, „die aus dem Boden der modernen Ge­ sellschaft überall naturwüchsig sich bildet“ 13 . Keine der konkret entstehenden Arbei­ terparteien erfüllte für sich die Aufgaben, die in der „historischen Mission“ der Arbei­ terklasse als ganze umgriffen waren, sie bildeten E pisoden auf dem Wege der an und für sich seienden, zugleich alle Formen der Aktivität der Arbeiterklasse umfassenden „Partei“. Die Internationale Arbeiter-Assoziation war daher - gerade weil Marx in die Londoner Resolution die Forderung hineinbrachte, die Arbeiterbewegung „en parti politique distinct“ zu konstituieren, „opposé à tous les anciens partis formés par les classes possédantes“ 14 - nicht als dirigistische Organisation konzipiert, welche die einheitliche politische und ideologische Leitung der nationalen Arbeiterorganisatio­ nen anstrebte. Marx erklärte vielmehr ausdrücklich: „L'association n'impose aueune forme aux mouvements politiques. u 15 Marx' Auffassung entspricht exakt dem Partei­ begriff des deutschen bürgerlichen Radikalismus, der die „Partei der Bewegung“ nicht als partikulare politische Organisation, sondern als epochale, sich verwirklichende und damit selbst aufhebende Tendenz begriff. Daher bemühte sich Marx zeit seines Lebens um die Abwehr ideologischer Verfälschungen, während die jeweilige kon­ krete Organisation der proletarischen Bewegung für ihn unwichtig war. E s ist für den virtuellen Parteibegriff von Marx und E ngels kennzeichnend, daß E ngels in einem Brief an Bebel im Zusammenhang mit Marx' „Kritik des Gothaer Programms“ gerade 252

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die Gewerkschaften als „die eigentliche Klassenorganisation des Proletariats“ be­ zeichnete 1 6 . Die Aversion, die Marx und Engels gegen den ursprünglich konspirativen Charak­ ter des „Bundes der Kommunisten“ empfanden, hielt sie davor zurück, die Interna­ tionale als politische E xekutive aufzufassen. Konsequent kritisierte E ngels die Hal­ tung der Blanquisten im Kommuneaufstand, die, „großgezogen in der Schule der Ver­ schwörung, zusammengehalten durch die ihr entsprechende straffe Disziplin“, von der Ansicht ausgegangen seien, „daß eine verhältnismäßig kleine Zahl entschlossener, wohlorganisierter Männer imstande sei, in einem gegebnen günstigen Moment das Staatsruder nicht nur zu ergreifen, sondern auch durch Entfaltung großer, rücksichts­ loser E nergie so lange zu behaupten, bis es ihr gelungen, die Masse des Volks in die Revolution hineinzureißen und um die führende kleine Schar zu gruppieren“ 17 . Wie er jede Minderheitsrevolution ablehnte, da dort, wo „es sich um eine vollständige Umgestaltung der gesellschaftlichen Organisation handelt“, die Massen selbst mit da­ beisein müßten 1 8 , stand E ngels jeder Form unifizierender Organisation skeptisch ge­ genüber, sofern sie sich nicht aus den unmittelbaren praktischen Bedürfnissen und den demokratischen Impulsen des Proletariats selbst ergab. Auch die „zweite, unend­ lich umfassendere“ Organisationsform der Arbeiterbewegung, die II. Internationale, meinte er 1885, sei ebenso wie die „erste enge F o r m , - d e r geheime B u n d - “ d e r l . In­ ternationale zu einer Fessel für die internationale Bewegung des Proletariats gewor­ den. Das „einfache, auf der E insicht in die Dieselbigkeit der Klassenlage beruhende Gefühl der Solidarität“ reiche hin, um „unter den Arbeitern aller Länder und Zungen eine und dieselbe große Partei des Proletariats zu schaffen und zusammenzuhalten“. Und im gleichen Zusammenhange heißt es, das deutsche Proletariat brauche „keine offizielle Organisation mehr, weder eine Öffentliche noch [wie unter dem Sozialisten­ gesetz] geheime“ 1 9 . Äußerungen dieser Art zeigen, daß E ngels, wiewohl er die orga­ nisatorische Leistung der deutschen Sozialdemokratie bewunderte, prinzipiell an dem weiter gefaßten, ursprünglichen Parteibegriff festhielt. Lenins E ntgegensetzung der „Spontaneität der Arbeiterbewegung“ und der „Rolle des ,bewußten E lements'“ wi­ derspricht insofern exakt der Marxschen Theorie und trägt ein völlig neues, pragma­ tisch-aktivistisches E lement in sie hinein.

6. Die k o m m u n i s t i s c h e n Parteien als A v a n t g a r d e der A r b e i t e r b e w e g u n g In Erwartung einer allgemeinen revolutionären Situation in Europa prägte Lenin in „Was tun?“ die berühmt gewordene Formulierung, daß die Zerstörung des „mächti­ gen Bollwerks“ der europäischen Reaktion, der Sturz des Zarismus, das russische Proletariat zur „Avantgarde des internationalen revolutionären Proletariats“ machen werde. E benso verstand er die Rolle der von ihm geführten Kaderpartei als die einer „Avantgarde“ der erst in der E ntfaltung stehenden und noch nicht zum klaren Be­ wußtsein ihrer revolutionären Aufgabe gelangten russischen Arbeiterklasse. In der Auseinandersetzung mit konkurrierenden Strömungen der russischen Arbeiterbewe253

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gung verfocht Lenin diese These in unzähligen Varianten („Stoßtrupp“, „organisier­ ter Trupp“, „Vorhut“, „Vorkämpfer“ usw.), da sie psychologisch und machtpolitisch unentbehrlich war, um den Kampf um die politische Macht in der Illegalität und ange­ sichts der ökonomischen Rückständigkeit Rußlands zu führen. Das Postulat eines dialektischen Verhältnisses von Partei und Arbeiterklasse, das Lenin im Rückgriff auf die hegelianische Philosophie aufstellte, führte ihn konsequent zur Ablehnung jeder Form der „Anbetung der Spontaneität“ beim Proletariat als sol­ chem; die Forderung der unbedingten ideologischen und politischen Führungsrolle der Partei war für ihn jedoch mit d e r - utopischen - Anschauung verknüpft, daß in der Periode der Diktatur des Proletariats als Herrschaft der Partei durch Änderung der ökonomischen Basis und E rziehung der Arbeiterklasse sich das dialektische Verhält­ nis von elitärer Führung und den Massen der werktätigen Bevölkerung im Kommu­ nismus aufheben werde. Schon unmittelbar nach der Oktoberrevolution erhoben sich auch bei den Gruppen der äußeren Linken lebhafte Befürchtungen, daß die „Partei neuen Typus“ den Zusammenhang mit der demokratischen Bewegung der Massen verlieren und in eine Cliquendiktatur ausarten würde. Stand Lenins Theorie der „Par­ tei neuen Typus“ von vornherein in Gefahr, auf den totalitären Führungsanspruch ei­ ner organisierten Minderheit hinauszulaufen, so wurde sie in jedem Falle von Stalin in diesem Sinne fortgebildet. Während Lenin nie leugnete, daß die proletarische Partei revolutionäre Minderheit war, die ihre Politik nicht mit der demokratischen Zustim­ mung der Massen legitimierte, sondern mit dem Anspruch, die sozialistische Demo­ kratie durch die Schaffung der kommunistischen Gesellschaft zu realisieren, vertrat Stalin - im Zusammenhang mit der Theorie des Übergangs zum Sozialismus - eine unklare, identitätsphilosophisch gefärbte E inheit von Partei und Arbeiterklasse. „Die marxistische Partei ist die Verkörperung der Verbundenheit des Vortrupps mit den Millionenmassen der Arbeiterklasse.“ 20 Während für Lenin die „Partei“ in erster Li­ nie Werkzeug des historischen Progresses war, wurde sie von seinen Epigonen in Ver­ bindung mit dem Personenkult unkritisch glorifiziert und ihre führende Rolle als „all­ gemeingültige Gesetzmäßigkeit“ hingestellt (Moskauer E rklärung der kommunisti­ schen und Arbeiterparteien, 1957). Seit der Abkehr vom Stalinismus wird der Führungsanspruch der KPdSU nur zu­ rückhaltend vertreten und die taktische und politische E igenständigkeit der einzelnen kommunistischen Parteien betont. Grundsätzlich wird aber an der Auffassung fest­ gehalten, daß die kommunistischen Parteien in allen Ländern die Funktion der „Avantgarde“ der Arbeiterbewegung erfüllen. In Abwendung von der stalinistischen Politik nach dem Zweiten Weltkrieg wird jedoch die Notwendigkeit betont, die Spal­ tung der Arbeiterbewegung zu überwinden. Die Forderung der Aktionseinheit ver­ knüpft sich mit einer gewissen Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit den demokrati­ schen sozialistischen Parteien. Dabei macht sich eine bezeichnende ideologische Un­ sicherheit geltend, die in der Ablehnung des „E xports der Revolution“ in nichtkom­ munistische Länder und der defensiven Feststellung hervortritt, daß, „unabhängig von den Formen, in denen die Diktatur des Proletariats errichtet werden wird“, diese „immer eine Erweiterung der Demokratie, den Übergang von der formalen bürgerli254

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chen zur echten Demokratie“ bedeuten werde (E rklärung der Beratung von Vertre­ tern der kommunistischen Arbeiterparteien in Moskau, 1960). Angesichts der geringen E rfolge der kommunistischen Agitation in den westlichen Industrieländern bahnt sich damit eine positivere E inschätzung der demokratischen Arbeiterbewegung im Verhältnis zur kommunistischen an. Die Arbeiterklasse bilde die Avantgarde im Kampf um die Demokratie. „Ohne die Forderung nach einer un­ mittelbaren E rsetzung der kapitalistischen Produktionsweise durch die sozialistische zu erheben, ruft die demokratische Bewegung doch entscheidende Veränderungen in der Gruppierung der politischen Kräfte hervor.“ Der Kampf für die Demokratie sei daher auch in den Industrieländern „ein Bestandteil des Kampfes für den Sozialis­ mus“ 2 1 . Ein Vergleich zwischen den Anschauungen der westlichen Forschung, die im ein­ zelnen stark variieren, und der kommunistischen Interpretation der Arbeiterbewe­ gung ergibt zwei grundsätzlich unterschiedene, einander nahezu spiegelbildlich ge­ genüberstehende Konzeptionen der historischen Rolle der Arbeiterbewegung. Beide Positionen beruhen auf einem extrem verschiedenen Verständnis des Begriffs der Demokratie und des Ziels des politischen und sozialen E manzipationsprozesses der Arbeiterschaft. Während dieses Ziel nach kommunistischer Auffassung in der E rrich­ tung des sozialistischen Weltsystems besteht, die Arbeiterbewegung in den kapitali­ stischen Ländern diese Aufgabe noch vor sich hat, ist nach überwiegender westlicher Auffassung die politische und soziale E manzipation des Proletariats in wesentlichen Punkten bereits erreicht oder im demokratisch-parlamentarischen System grundsätz­ lich erreichbar. Nach westlichem Verständnis der Arbeiterbewegung liegt deren Schwerpunkt in der E poche von 1848 bis 1918. Die im Westen hervortretende Tendenz der Arbeiter­ parteien, sich aus Berufsparteien der handarbeitenden Schichten in Integrationspar­ teien zu verwandeln, die in der Bezeichnung „Volkspartei“ zum Ausdruck kommt, bezeichnet begrifflich das E nde der Arbeiterbewegung. Das Bestreben, über die An­ gestellten hinaus Angehörige der freien Berufe, Intellektuelle sowie kleinere und mitt­ lere Unternehmer politisch zu organisieren, erscheint als das Resultat eines qualita­ tiven Strukturwandels der modernen Gesellschaft. Die Institutionalisierung der Ar­ beiterparteien in den kommunistischen Ländern als Träger politischer Herrschaft und ihre Umwandlung in Einheitsparteien, die alle sozialen Gruppen umfassen, ist im Prinzip der gleiche Vorgang. In beiden Systemen ist die politische und soziale Integra­ tion der Arbeiterschaft weitgehend vollzogen. Im kommunistischen Geschichtsbild, das von der Rolle der kommunistischen Par­ teien als Avantgarde der Arbeiterbewegung ausgeht, liegt demgegenüber das Schwer­ gewicht der Entwicklung der Arbeiterbewegung auf der Politik der bolschewistischen Partei seit 1903 und den kommunistischen Parteien. Von den acht Bänden der „Ge­ schichte der deutschen Arbeiterbewegung“ (1966) behandeln zwei den Zeitraum von 1848 bis 1917; im übrigen ist sie überwiegend eine Geschichte der KPD, der SED und des Aufbaus der Volksdemokratie. Konkurrierende Gruppen, insbesondere die SPD und die USPD, werden als „Handlanger des Imperialismus und Monopolkapitalis­ mus“ nur so weit berücksichtigt, als es zum Verständnis der E ntwicklung der KPD 255

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unvermeidlich erscheint. Die Abhängigkeit von der offiziösen „Geschichte der KPdSU. Kurzer Lehrgang“ zeigt sich in der Periodisierung, welche die Wendepunkte der Geschichte der bolschewistischen Partei auf die deutsche Arbeiterbewegung über­ trägt. Die überwiegende Ausrichtung der marxistisch-leninistischen Geschichtsschrei­ bung auf die ideologisch fixierte Form der „Partei neuen Typus“ hindert sie an einer vorurteilsfreien Analyse der Ursachen des Scheiterns der Komintern, des geringen E r­ folgs der kommunistischen Parteien und der antikommunistischen E instellung der großen Mehrheit der Arbeiterschaft in den kapitalistischen Ländern. Fragen dieser Art werden behutsam zugedeckt mit global erhobenen Vorwürfen des „Opportunis­ mus“ und nachträglicher Kritik am taktischen Kurs der einzelnen kommunistischen Parteien. Im Unterschied zur marxistisch-leninistischen Sicht tritt der Gegensatz zwi­ schen Arbeiterbewegung und Staat in dem Maß zurück, als diese ihre wesentlichsten Interessen innerhalb des kapitalistischen Systems durchgesetzt und damit dessen Struktur tiefgreifend verändert hat. Durch parlamentarische Repräsentation und den Einfluß der Gewerkschaftsverbände als anerkannten Tarifpartnern und politische In­ teressenvertretung ist die Arbeiterbewegung in den westlichen Ländern zur verant­ wortlich mitgestaltenden Kraft der modernen industriellen Gesellschaft geworden. Die Führungsrolle, die von den kommunistischen Parteien in der Arbeiterbewegung der nichtsozialistischen Länder beansprucht und mit der Forderung nach Aktionsein­ heit der Arbeiterklasse im Kampf für die E rringung der vollen Demokratie verknüpft wird, ist mit Ausnahme der E ntwicklungsländer, in denen die Kommunisten die na­ tionalen Unabhängigkeitsbewegungen unterstützen, nur in Frankreich und Italien begrenzt behauptet worden. Bezeichnenderweise sind es eben diejenigen Länder, in denen das Programm des E urokommunismus starken Rückhalt bei den Massen der Mitgliedschaft besitzt und auch diejenigen Führungsgruppen, die an der engen Zu­ sammenarbeit mit Moskau festhalten, zur mindestens äußeren Anpassung zwingt. In den Ostblockstaaten, in denen die leninistischen Parteien die Diktatur des Proleta­ riats, der offiziellen Theorie zufolge, gestützt auf das Bündnis mit den werktätigen Bauern und den übrigen fortschrittlichen Kräften der Bevölkerung ausüben, ist von Arbeiterbewegung im Sinne spontaner politischer Aktion der Arbeiterschaft kaum zu sprechen; die „Avantgarde“ hat sich als herrschende Gruppe etabliert und unterliegt im Zuge bürokratischer E rstarrung des kommunistischen Herrschaftssystems zu­ nehmend der Tendenz, eine „neue Klasse“ (Djilas) zu werden. Die Anwendung des Begriffs Arbeiterbewegung zur Bezeichnung der Formen politischer Willens- und Machtbildung auf dem Wege der Indoktrination und der Ausübung polizeistaatlichen Zwangs, die für die kommunistischen Länder in divergierendem Umfang typisch sind, bedeutet eine Verkehrung seines historischen Inhalts und ist wenig mehr als eine traditional geprägte Reverenz gegenüber dem revolutionären Aktivismus V. I. Le­ nins.

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7. H i s t o r i s c h e L e i s t u n g e n der A r b e i t e r b e w e g u n g Der Ausgangspunkt der Marxschen „Philosophie des Proletariats“ besteht in dem Axiom, daß die Arbeiterbewegung - als der zum Bewußtsein seiner historischen Auf­ gabe gelangende Teil des Proletariats - Träger des objektiven historischen Fortschritts ist, daß die von ihr vertretenen Interessen mit dem Gesamtinteresse identisch sind und daß sie sich mit der Ablösung des kapitalistischen Systems durch die klassenlose Ge­ sellschaft als Klasse selbst aufhebt. Marx erwartete die Durchsetzung dieses Prozesses auf revolutionärem Wege und rechnete mit einer „politischen Übergangsperiode, de­ ren Staat nichts andres sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats'' 2 2 . Soziologisch geurteilt, ist die Marxsche Prognose, soweit sie sich auf das Verhältnis des Proletariats als Klasse zur Gesellschaft als ganzem bezieht, gleichwohl in einer Reihe westlicher Länder weitgehend erfüllt worden, ohne daß es zur revolutionären Machteroberung durch die Arbeiterklasse gekommen ist. E s ist der Arbeiterbewe­ gung gelungen, die politische E manzipation evolutionär durchzusetzen und in einer geschichteten, nicht mehr durch unverrückbare Klassenfronten bestimmten, plurali­ stischen Gesellschaft einen wesentlichen Anteil an der politischen Willensbildung zu erringen. Die mit der egalitären Demokratie und der sozialen E manzipation der arbei­ tenden Bevölkerung vollzogene Umwandlung der liberalen Klassengesellschaft in die nivellierte Industriegesellschaft bedeutete eine qualitative Veränderung der Arbeiter­ bewegung selbst. Sie trat aus der konsequenten Opposition gegen den „bürgerlichen“ Klassenstaat, der sich zunehmend in ein mögliches oder tatsächliches Werkzeug so­ zialer Umgestaltung verwandelte, heraus und überwand zugleich ihre klassenpoliti­ sche Beschränkung. Als entschiedener Gegenspieler des bürgerlichen Liberalismus hat die Arbeiterbe­ wegung das Verdienst, den Gedanken der egalitären Demokratie mit der E rkämpfung des allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts politisch durchgesetzt und zu­ gleich sozial realisiert zu haben. E rst ihre politische und gewerkschaftliche Organisa­ tionsarbeit hat die politischen und sozialen Vorbedingungen geschaffen, um das de­ mokratisch-parlamentarische System im modernen Massenstaat funktionsfähig zu machen und zu erhalten. Sie hat die breite Masse der Bevölkerung, die unter dem libe­ ralen Parlamentarismus am politischen Prozeß auch psychologisch weitgehend unbe­ teiligt war, zu selbständiger politischer Willens- und Urteilsbildung angeregt und er­ zogen und damit überhaupt erst politisch mobilisiert. Im Gegensatz zu der im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts generell auftretenden Tendenz, die sozialen Konflikte durch überwiegend emotional geprägte Ideologien antisemitischer und nationalisti­ scher Prägung zu überwölben, waren die sozialistischen Parteien bestrebt, die Arbei­ ter aus einer auf ihre soziale Notlage reagierenden, im Grunde ziellosen Protesthal­ tung herauszulösen und zu politischer Mündigkeit und Verantwortung zu erziehen. Neben die unmittelbare Bekämpfung der Auswüchse des Frühkapitalismus, insbe­ sondere des grassierenden Alkoholismus und der E ntstehung eines Lumpenproleta­ riats, trat eine umfassende und spontane Bildungsbewegung. Durch Arbeiterbil­ dungsvereine, Arbeiterbibliotheken, die Verbreitung populärer Literatur zur berufli­ chen Fortbildung und politisch-sozialen Unterrichtung, eine umfangreiche Arbeiter257 17

Mommsen, Arbeiterbewegung

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presse und durch mündliche Agitation erreichte die Arbeiterbewegung breite Bevöl­ kerungsschichten, die vom politischen Liberalismus nahezu unberührt geblieben wa­ ren. Die Disziplinierung der Massen in den gewerkschaftlichen Verbänden, die prak­ tische Solidarität in den spontan geschaffenen Unterstützungsvereinen und die Prä­ gung des politisch aktiven, von einem spezifischen Berufsethos erfüllten Industrie­ arbeitertyps sind zugleich auch dem Industrialisierungsprozeß selbst zugute gekom­ men, da mit zunehmendem Technisierungsgrad die im Zeitalter des Frühkapitalismus überwiegende E rscheinung des an der Grenze des absoluten E xistenzminimums dumpf vegetierenden, „entfremdeten“ Proletariers die Arbeiterproduktivität behin­ dern mußte. Von der westlichen Forschung ist vielfach auf die „Verbürgerlichung“ der Arbei­ terbewegung am Ausgang des 19. Jahrhunderts kritisch hingewiesen worden 2 3 . Die Adaptierung an bürgerliche Verhaltensformen, die von Bebel und E ngels als unver­ meidliche Folge des Aufstiegs von der „Sekte“ zur politischen Massenpartei bewußt ironisiert wurde, war jedoch eine Folgeerscheinung des sich vollziehenden sozialen Aufstiegs, an dem nicht nur eine kleine Gruppe der „Arbeiteraristokratie“, sondern die überwiegende Mehrheit der Arbeiterschaft teilhatte, und der auch durch die rela­ tive Verelendungstheorie nicht forterklärt werden kann, wiewohl - nicht anders in den Ostblockländern - beträchtliche E inkommensunterschiede bestehen. Die fort­ schreitende gesellschaftliche Integration der Arbeiterschaft bewirkte, daß die Arbei­ terbewegung sich dem E influß insbesondere des integralen Nationalismus immer schwerer zu entziehen vermochte und ihre internationale Solidarität beim Ausbruch des E rsten Weltkrieges, wie es Engels befürchtet hatte, weitgehend verleugnete. Die kommunistische Theorie betont demgegenüber die revolutionäre und konsequent in­ ternationalistische Haltung der Massen im Gegensatz zum „Klassenverrat“ der „rech­ ten“ Arbeiterführer. Zur E rklärung der Haltung der II. Internationale im August 1914 und vergleichba­ rer, auf der zunehmenden sozialen Integration der Arbeiterbewegung beruhender Vorgänge bedient sich die kommunistische Forschung vornehmlich der Fiktion, wo­ nach sich die Führer der Arbeiterbewegung in einen Gegensatz zur „schöpferischen Rolle der Volksmassen“ 24 begeben hätten. Die „vorhandene Linie“ der Massen wird zum Maßstab für die Beurteilung der verschiedenen Strömungen innerhalb der Arbei­ terbewegung. Im Unterschied zu Lenins Überzeugung, daß die Massen der Leitung durch die proletarische Partei bedürften, wird vor allem von der Geschichtsschrei­ bung im sowjetisch geprägten Teil Deutschlands die Ansicht vertreten, daß sich die Arbeiterklasse als solche stets historisch richtig verhalten habe. „Die klassenbewuß­ ten deutschen Arbeiter haben in allen großen geschichtlichen Prüfungen, in denen die deutsche Bourgeoisie ihre Untauglichkeit zur Führung der Nation erwies, eine Politik vertreten, die nicht nur den Interessen der Arbeiter, sondern des ganzen Volkes diente“ 25 . Von dem Axiom der stets fortschrittlichen Rolle der Volksmassen her ist der Schritt zu einer kritiklosen und stark national gefärbten Idealisierung und Heroisierung der Arbeiterbewegung nicht weit. Formulierungen wie: die Geschichte der Arbeiterbe­ wegung sei ein „Heldenbuch“, die Arbeiterklasse und ihre revolutionäre Partei seien 258

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„die berufenen E rben, die Bewahrer und Fortsetzer alles Fortschrittlichen, das unser deutsches Volk in seiner jahrhundertelangen, wechselvollen Geschichte hervorge­ bracht hat“, die Geschichte der Arbeiterbewegung somit der „wichtigste Bestandteil der Geschichte des deutschen Volkes“ 2 6 , erinnern an das Pathos des ausgehenden bürgerlichen Zeitalters. Auch der Sache nach ist die Ausweitung der Geschichte der Arbeiterbewegung zur Nationalgeschichte - sie findet sich in der Historiographie al­ ler Ostblockländer- und das Bekenntnis zum E rbe der humanistischen Tradition ein Eingeständnis der faktischen „Verbürgerlichung“. Die sozialgeschichtliche For­ schung im Westen leugnet die historischen Verdienste der Arbeiterbewegung nicht, ohne sie unter Zuhilfenahme idealistischer Kategorien zu mythologisieren, was not­ wendig geschieht, wenn den „Volksmassen“ selbst eine schöpferische Rolle im Ge­ schichtsprozeß zugeschrieben wird 2 7 ; die Geschichte der Arbeiterbewegung ist für sie eines der wichtigsten Phänomene des gesellschaftlichen Strukturwandels der letzten 150 Jahre.

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12. Die geschichtliche Bedeutung Ferdinand Lassalles 1. Lassalle u n d der L a s s a l l e a n i s m u s Die entscheidende politische Wirksamkeit Ferdinand Lassaíles beschränkt sich auf einen Zeitraum von wenig mehr als zwei Jahren; um so erstaunlicher ist die überaus enge Verknüpfung seines Namens mit der Tradition und dem geschichtlichen Selbst­ verständnis der deutschen Sozialdemokratie, so daß vielfach die Entstehung der sozia­ listischen Arbeiterbewegung in Deutschland auf Lassalles Anstoß zur Gründung des Allgemeinen Deutseben Arbeitervereins (ADAV) 1863 zurückgeführt wird. Trotz der formellen Rezeption des Marxismus durch die deutsche Sozialdemokratie blieb Las­ salle als politischer Vorkämpfer der Bewegung im Herzen der Arbeiterschaft leben­ dig; Marx und Lassalle galten als die beiden großen Initiatoren des modernen Sozia­ lismus. Die Würdigung der geschichtlichen Wirksamkeit Lassalles hängt aufs engste mit der Beurteilung der Marxrezeption durch die deutsche und die übrige mitteleuropä­ ische Sozialdemokratie zusammen. Sie ist ebenso untrennbar verknüpft mit der Be­ antwortung der Frage, inwieweit die mit dem Namen des ADAV-Gründers verbun­ dene Strömung des Lassalleanismus dessen ursprüngliche Auffassungen veränderte und lediglich Reflex der Interessenlage der Arbeiterbewegung seit der zweiten Hälfte der sechziger Jahre ist. Zugleich stellt sich das Problem, ob die scharfen Differenzen zwischen der Bebel-Liebknechtschen Richtung, die sich 1869 in E isenach als Sozial­ demokratische Arbeiterpartei konstituierte, und den Iassalleanischen Gruppen primär in einer unterschiedlichen Hinwendung zur Marxschen revolutionären Theorie be­ gründet waren oder auf die gegensätzliche E instellung zur Organisationsfrage und zum Norddeutschen Bund zurückgingen. Das durch persönliche und sachliche Differenzen zunehmend getrübte, ursprüng­ lich enge, ja sogar freundschaftliche Verhältnis zwischen Lassalle und Marx sowie die Einflüsse, die ohne Zweifel von Marx ausgingen, werfen zudem die Frage auf, in wel­ chem Maß Lassalle, auch wenn er sich als eigenständiger Denker begriff, als Mediator Marxscher Auffassungen - wenn auch in mehr oder minder vulgarisierter Form - zu gelten hat. Auch unabhängig davon trug Lassalles politisches Auftreten maßgebend dazu bei, daß sich die zunächst noch ganz unter liberalem E influß stehenden Arbei­ tervereine einem klar sozialistischen Programm zuwandten. Daß Lassalle mit seiner Frontstellung gegen die Preußische Fortschrittspartei und den Nationalverein den ent­ scheidenden Anstoß zu einer selbständigen politischen Arbeiterpartei gab, ist auch von Marx nicht bestritten worden; wohl aber erhebt sich das Problem, ob es Lassalle in erster Linie um den Aufbau einer spezifisch proletarischen Partei und eine radikale sozialistische Transformierung der Gesellschaft zu tun war oder um die Durchset260

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zung eines republikanisch-demokratisch verfaßten, einheitlichen deutschen Natio­ nalstaates mittels politischer Aktivierung der handarbeitenden Klassen. Die moderne Lassalle-Forschung, der G. Mayer durch die sorgfältige E rschließung und Publizierung des Nachlasses den Weg gebahnt hat (1921 bis 1925), sieht sich vor die Aufgabe gestellt, zwischen dem Klischee, das in Lassalle den ersten großen Reprä­ sentanten des „demokratischen Sozialismus“ erblickt, und dem Gegenbild eines letzt­ lich arbeiterfeindlichen Sektierers die sehr viel stärker auf das politische Denken des Vormärz und der Junghegelianer zurückweisende Position Lassalles neu zu formulie­ ren und von einem so gewonnenen Standort die Frage seiner Wirkungsgeschichte als Politiker wie als Theoretiker präzise zu beantworten. Dabei ergeben sich unvermeid­ lich erhebliche Divergenzen zwischen der westlichen und der marxistisch-leninisti­ schen Forschung, die ihren Ursprung in der unterschiedlichen Bewertung des Bundes der Kommunisten, der Haltung von Marx und E ngels zu den Anfängen der modernen Arbeiterbewegung in Deutschland im Revolutionsjahr 1848/49 und der Funktion und ideologischen Struktur der I. Internationale haben.

2. Lassalles L e b e n s w e g Lassallc wurde am 11. April 1825 in Breslau geboren. Sein Vater Heimann Lassalle entstammte dem Ostjudentum, hatte sich aber als Kaufmann in Breslau nach und nach eine geachtete Stellung erkämpft und war sogar Stadtverordneter geworden. Anders als Marx, der einer großbürgerlichen, seit langem in Trier ortsansässigen, angesehe­ nen jüdischen Familie entstammte und mit dieser 1824 zum Protestantismus übertrat, wuchs Lassalle noch gänzlich innerhalb der jüdischen Gemeinde auf, obwohl er sich, wie sein Vater, aufs entschiedenste dem Reformjudentum anschloß. Im übrigen ver­ trat er, zumal aufgrund der noch während der Gymnasialzeit aufgenommenen inten­ siven Beschäftigung mit G. W. F. Hegel, den Standpunkt weitestgehender E manzipa­ tion. E r verzichtete im gesellschaftlichen Verkehr auch mit Juden auf jede jüdische Note und forderte die Aufhebung des Judentums in der Philosophie 1 . Der biographische Zusammenhang läßt deutlich werden, warum Lassalle zeit sei­ nes Lebens aufs nachhaltigste von der Hegeischen Philosophie bestimmt blieb, so daß darüber die enge Beziehung zu Heinrich Heine, die Wirkungen, die von Ludwig Börne auf ihn ausgingen, aber auch das Studium der klassischen englischen National­ ökonomie sein Denken erst in zweiter Linie beeinflußt haben. Mit der tiefen Verwur­ zelung im Hegelianismus stand Lassalle freilich nicht allein; Moses Hess, dem er freundschaftlich verbunden war und der sich später für den ADAV einsetzte, Karl Marx, Friedrich E ngels und Arnold Ruge waren ebenfalls über den Junghegelianis­ mus und das „Junge Deutschland“ zur Demokratie gelangt. Lassalles intellektueller Lebensweg ist mit dem des jungen Marx in mancher Hin­ sicht vergleichbar: Beschäftigung mit Hegel, mit der griechischen Naturphilosophie und starke spekulative Orientierung, die einer normalen Berufsvorbereitung eher im Wege stand. Unstetigkeit und E hrgeiz, zugleich fortwirkende Ressentiments wegen 261

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seiner jüdischen Abkunft hinderten Lassalle daran, eine akademische Karriere einzu­ schlagen, die seiner Neigung entsprochen hätte. Gleichwohl hat er sich stets als Mann der Wissenschaft gefühlt. Lassalle unterhielt enge Beziehungen zu führenden Vertretern des geistigen Le­ bens - zu Karl August Varnhagen von E nse, Alexander von Humboldt, dem Fürsten Hermann Pückler-Muskau - , und seine philosophischen Schriften, insbesondere „Die Philosophie Herakleitos des Dunklen von E phesos“, trugen ihm in Kreisen der Wissenschaft, darunter bei so bedeutenden Gelehrten wie August Böckh und Richard Lepsius, lebhafte Sympathien ein. Den größten Teil seiner ungewöhnlichen E nergien verbrauchte Lassalle in niemals abreißenden Prozessen, zum Teil eine Folge seiner radikalen politischen Gesinnung, zum überwiegenden Teil aber für die Interessen der Gräfin Sophie Hatzfeld. Lassalles rückhaltlos geführter Prozeßfeldzug zugunsten der Gräfin zeugt von ausgeprägtem Rechtsgefühl, wenn auch intimere Motivationen mit im Spiel gewesen sein mögen; er verschaffte ihm jedoch zugleich umfassende juristische Kenntnisse, die er in seinem philosophischen Hauptwerk „Das System der erworbenen Rechte“ (1861) fruchtbar zu nützen verstand. Die Prozeßwut überschattete seine politische Tätigkeit bis in den Ausgang der fünfziger Jahre und belastete ihn mit dem Vorwurf, der intellektuelle Urheber des von Freunden Lassalles in Verfolgung der finanziellen Ansprüche der Gräfin gegen Paul von Hatzfeld verübten Kassettendiebstahls zu sein. Sein Ansehen wurde dadurch empfindlich geschädigt, obwohl der gegen ihn im Frühjahr 1848 ange­ strengte „Kassettenprozeß“ mit einem Freispruch, freilich nur aus technischen Grün­ den, geendet hatte. Die von Lassalle leidenschaftlich und mit allen erdenklichen Mit­ teln angestrebte Heirat mit Helene von Dönniges scheiterte nicht zuletzt wegen dieser Affäre. Deren Verlobter Janko Racowicza brachte ihm in einem Duell die Verwun­ dung bei, an der Lassalle am 31. August 1864 in Genf starb. Im Herbst 1848 war Lassalle als Anhänger der radikalen Linken in Düsseldorf im Kampf gegen die preußische Reaktion öffentlich hervorgetreten. Damals nahm er Kontakte zur „Neuen Rheinischen Zeitung“ und zu Marx auf und fühlte sich als Ge­ sinnungsgenosse der „Partei“. Nach dem Scheitern der Revolution blieb Lassalle in enger Verbindung zu den Mitgliedern des Bundes der Kommunisten. Obwohl ihm 1851 wegen seines Rufs die Mitgliedschaft verweigert worden war, konnte er sich nach dem Kölner Kommunistenprozeß (4. 10 bis 12. 11. 1852) als „der Letzte der Mohikaner“ bezeichnen. Lassalle unterhielt enge Verbindungen mit Marx und E ngels in deren Londoner E xil, mit Lothar Bucher und Karl Vogt, dem Führer der radikalen Linken in der Paulskirche, mit den emigrierten Demokraten in der Schweiz, vor allem aber mit Johann Philipp Becker, gleichzeitig jedoch pflegte er auch enge Beziehungen zu führenden Anhängern der Fortschrittspartei, vor allem zu Franz Duncker und Franz Ziegler, sowie zu sozial aufgeschlossenen Nationalökonomen wie Karl Rod­ bertus-Jagetzow. Lassalles politisches Auftreten seit dem Anbruch der „Neuen Ära“ - der Regent­ schaft des Prinzen Wilhelm von Preußen, 1858-62 - muß im Zusammenhang mit der im Lager der radikalen Revolutionäre von 1848 verbreiteten E rwartung einer neuen revolutionären Situation gesehen werden. Diese sollte der europäischen Demokratie 262

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zum Sieg verhelfen. Auch Marx und E ngels teilten die Illusion, daß der Italienisch­ österreichische Konflikt von 1859 und die preußische Verfassungskrise von 1862 die lang erwartete revolutionäre E ntwicklung vorantreiben werde, nachdem die für 1857 vorhergesagte Krise ausgeblieben war. Lassalles Beziehungen zu Giuseppe Garibaldi und zu den Anhängern Giuseppe Mazzinis, seine Hoffnungen, die er auf den Italieni­ schen Krieg setzte, sein E intreten für die äußerste Verschärfung des Verfassungskon­ flikts, die Absicht, die sich neu formierende deutsche Nationalbewegung in revolu­ tionäres Fahrwasser zu lenken, hängen mit der Erwartung einer Bürgerkriegssituation zusammen, die durch den Cäsarismus Napoleons III. und auch Bismarcks nicht würde aufgehalten werden. Die hoffnungslose politische Isolierung, in die Lassalle durch seine scharfe Front­ stellung gegen Fortschrittspartei und Liberalismus geraten w a r - die unter dem E in­ fluß der Fortschrittspartei stehender Berliner Bürger- und Arbeitervereine sagten ihm die Gefolgschaft auf-, wurde durch die am 4. Dezember 1862 ergehende, kurzfristig zustande gekommene E inladung des Leipziger Zentralkomitees zur Vorbereitung ei­ nes deutschen Arbeiterkongresses durchbrochen. Mit der Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins am 23. Mai 1863 gab Lassalle den entscheidenden Anstoß zur Umwandlung der die Ansätze des Revolutions Jahres 1848 erneuernden Arbeiter­ kongreßbewegung in eine politische Parteibildung. Lassalle hoffte, aus seiner proleta­ rischen Anhängerschaft einc wirksame Waffe gegen die Fortschrittspartei schmieden zu können, und war überzeugt, daß daraus eine breite revolutionäre Massenbewe­ gung hervorgehen werde. Diese übersteigerten Hoffnungen Lassalles, der außerdem glaubte, als Führer der siegreichen sozialen Demokratie selbst eine maßgebende poli­ tische Rolle in Deutschland spielen zu können, wurden jedoch zunichte, als Otto von Bismarck die deutsche Frage aufgriff. Lassalles früher Tod bewahrte ihn vor der vollen E insicht in das Scheitern seiner weitgespannten politischen Projekte. E r beendete aber nicht die politischen Wirkun­ gen, die von Lassalles Agitation ausgingen, zumal seine Anhänger, vor allem die Grä­ fin Hatzfeld, nicht ohne E rfolg bemüht waren, einen Lassalles Schwächen überdek­ kenden Mythos zu schaffen, der auch die Zähigkeit erklärt, mit der die Massen auf Lassalles Führertum eingeschworen blieben.

3. Lassalle als Schriftsteller Hinter der politischen Tradition, die mit Lassalles Namen verknüpft ist, trat seine Rolle als Schriftsteller allzusehr in den Hintergrund. Dabei war er ein ungewöhnlich anpassungsfähiger, vielseitiger, sicher origineller, wenn auch kaum wirklich schöpfe­ rischer Geist, der die enge Verknüpfung von Philosophie und Politik durch den Jung­ hegelianismus noch einmal - in einer freilich epigonal anmutenden Form - erneuerte. Sein im Nachlaß erhaltenes Manuskript „Philosophie des Geistes“ zeigt ihn, ebenso wie die berühmten „Manuskriptbriefe“ an E ltern und Freunde, als auf die Fortbil­ dung des Hegelianischen Systems bedacht. Der Andeutungen bei Hegel aufnehmen263

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de, bis in die Jugendjahre zurückreichende Plan, das philosophische System des Herakleitos zu rekonstruieren, wurde von Lassalle in den fünfziger Jahren neu aufge­ griffen; das 1858 erschienene Werk „Die Philosophie des Herakleitos des Dunklen von E phesos“ sicherte ihm die Anerkennung der junghegelianischen Schule, aber auch der Fachwelt, während Marx darin eine postbume Blüte einer vergangenen Epoche“ 2 erblickte, die ihn an seine eigenen frühen naturphilosophischen Versuche erinnern mochte. Auch Lassalles theoretisches Hauptwerk, das 1861 veröffentlichte „System der er­ worbenen Rechte“, reichte über den Bannkreis eines revolutionär umgedeuteten He­ gelianismus nicht hinaus. Lassalles Versuch, die Rechtstheorie in den Dienst des revo­ lutionären Umbruchs zu stellen, die „erworbenen Rechte“ statt auf das positive Recht allein auf die gesellschaftlichen Bedingungen zurückzuführen und sie gewissermaßen in „entzogene Rechte“ umzuwandeln, w u r d e - sieht man ab vom E hrgeiz Lassalles, seinerseits eine geschlossene philosophische Systembildung vorzunehmen - von ihm mit der Absicht begründet, „die feste Burg eines wissenschaftlichen Rechtssystems für Revolution und Sozialismus, in seinem besten und erhabensten Sinne zu erbau­ en“ 3 . Im Gegensatz zu Marx, als dessen Schüler sich Lassalle empfinden konnte, blieb er weit stärker der idealistischen Tradition verhaftet; auch seine übrigen philosophi­ schen Bemühungen, in denen er Lessing und Fichte in die Hegeische Philosophie ein­ zubeziehen versuchte („Die Hegeische und die Rosenkranzische Logik und die Grundlage der Hegeischen Geschichtsphilosophie im Hegeischen System“, 1859; „Die Philosophie Fichtes und die Bedeutung des deutschen Volksgcistes“, 1862), las­ sen keinerlei E influß der materialistischen Geschichtsphilosophie von Marx erken­ nen. Ein nicht minder großer Teil des Lassalleschen Werkes umfaßt den Bereich der poli­ tischen Agitation, zu der auch die vielen forensischen Reden zu rechnen sind, die er für seine zahlreichen Prozesse abfaßte und teilweise auch veröffentlichte. Hier lag Lassal­ les eigentliche Begabung, wobei er die Stilmittel Heines mit Marx' kritischer Diktion kombinierte; in der Zügellosigkeit der Polemik übertraf er allerdings beide. Die Flug­ schrift „Der Italienische Krieg und die Aufgabe Preußens“ (1859), die Schriften zum „Verfassungswesen“ (1862), sein „Offenes Antwortschreiben“ (1863), die gegen Hermann Schulze-Delitzsch („Herr Bastiat-Schulze von Delitzsch, der ökonomische Julian“, 1864) gerichteten Arbeiten waren agitatorisch äußerst wirksam, reichen aber an die Qualität, die innere Geschlossenheit und die Strenge der Gedankenführung vergleichbarer Arbeiten von Marx nicht heran, sosehr auch Lassalle seine scharfe den­ kerische Schulung zustatten kam, die ihn gleichwohl nicht vor häufigem Abgleiten in Sophistik bewahrte. Die Breite des CEuvres, zu dem man noch das - zumindest poetisch mißglückte lehrstückhafte und reichlich pathetische Lesedrama „Franz von Sickingen“ (1859) hinzunehmen muß, ist erstaunlich; es entspricht in allen seinen Teilen der Bemühung, zu einem umfassenden weltanschaulich-philosophischen wie politischen Gesamtsy­ stem vorzudringen, sowenig aussichtsreich dies angesichts des Siegeszuges der poski­ vistisch orientierten E inzelwissenschaften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch sein konnte. Lassalle hatte die feste Absicht, sich intensiv mit nationalökonomi264

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sehen Fragen zu beschäftigen und ein einheitliches ökonomisches System zu entwik­ keln; in den polemischen Schriften gegen Schulze-Delitzsch, im „Arbeiterprogramm“ und im „Offenen Antwortschreibena“ vermißten jedoch schon die Zeitgenossen eine klare, positive Darlegung der ökonomischen Realisierung des Assoziationsmodells. Im Grunde hinderten Lassalle der idealistische Ausgangspunkt, von dem er sich nie entfernte, sowie die von ihm postulierte E inheit von Philosophie und Politik daran, den mühseligen Weg einzuschlagen, den Marx mit den Studien zum „Kapital“ be­ schritt. Während sich dieser von öffentlichem Auftreten - mit Ausnahme der Tätig­ keit in der Internationalen Arbeiter-Association - zurückhielt, blieb Lassalle von un­ stillbarem Drang zu politischer Geschäftigkeit erfüllt. So mußte gediegene Gründ­ lichkeit fehlen, erschöpfte sich sein reicher Geist überwiegend in Polemik und findet sich in seinem theoretischen Werk kaum etwas, „das nicht bei Hegel oder Marx tiefer angelegt und weiter ausgeführt wäre“ 4 . Trotz allen politischen Realitätssinns, den Lassalle als Arbeiterführer bewies, erscheinen seine politischen Zielsetzungen mit un­ klaren utopischen E lementen vermengt.

4. Lassalles Verhältnis zu M a r x Auf dem Hintergrund in vieler Hinsicht vergleichbarer intellektueller Ausgangs­ punkte erscheint Lassalles Verhältnis zu Marx und E ngels weit mehr durch individu­ elle biographische Faktoren als durch auseinanderstrebende Auffassungen bestimmt. Der umfangreiche Briefwechsel zwischen Marx und Lassalle zeigt dessen Anhäng­ lichkeit an den „chef du parti“, macht aber auch deutlich, daß die beiden Londoner­ trotz des bei Marx seit den fünfziger Jahren wachsenden Mißtrauens und der von An­ fang an bestehenden persönlichen Vorbehalte von E ngels - Lassalle als Potenz be­ trachteten. Die ersten Kontakte hatten sich 1848 ergeben. Marx fand an dem Jüngeren Gefallen und zweifelte nicht an dessen revolutionärer Gesinnung. Das Verhältnis nahm aber bald zwiespältigen Charakter an: Marx empfahl zwar der Zentrale des Bundes der Kommunisten in Köln Lassalles Aufnahme, die mit dessen Ruf begrün­ dete Ablehnung aber nahm er ohne Widerspruch hin. Wenn Marx dabei diffamieren­ den Gerüchten Glauben schenkte, die Lassalle aufs leichteste hätte widerlegen kön­ nen, so trugen Lassalles selbstbewußtes Auftreten, seine geschäftige Art und sein ego­ zentrischer Lebensstil dazu ebenso bei wie das Bestreben, sich dem anfänglichen Leh­ rer-Schüler-Verhältnis zu entwinden, zumal es nie in dem Sinn bestanden hatte, daß Lassalle seine früh fixierten Überzeugungen der tieferen E insicht von Marx geopfert hätte. Diese zunehmende E ntfremdung beruhte so primär auf persönlichen Umstän­ den, politisch-ideologische Differenzen traten erst in zweiter Linie hinzu. Diese wo­ gen dann freilich schwer genug, um den definitiven Bruch zu rechtfertigen, den Marx aber bezeichnenderweise erst im Zusammenhang mit seiner wirtschaftlichen Notlage und dem Mißverstehen von Lassalles Haltung nach der Londoner Begegnung 1862 vollzog. Bei aller Verbitterung und Gereiztheit insbesondere auf der Seite von Marx, bei aller berechtigter Kritik an Lassalles exzentrischem Auftreten und trotz des wie265

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derholten Vorwurfs der Plagiierung früherer Marxscher Schriften blieb doch, wie Marx' Äußerungen anläßlich Lassalles Tod bezeugen, bei den Londonern das Be­ wußtsein lebendig, daß Lassalle letztlich zu ihnen gehörte: „E r war doch noch immer einer von der vieille souche und der Feind unsrer Feinde“ 5 , und konsequent ist Marx späteren Diffamierungen Lassalles entgegengetreten. Der trauernden Gräfin Hatzfeld schrieb er: „.. .von aller Leistungsfähigkeit abgesehen, liebte ich ihn persönlich.“ 6 Neben den für die Vergiftung der Beziehungen zwischen Lassalle und Marx maß­ gebenden Antagonismen der Charaktere und der persönlichen Lebensumstände ver­ dienen die klaren sachlichen Differenzen, wenn diese auch stets mit persönlichen An­ tipathien vermischt waren, besonderes Interesse. Marx erkannte bald, daß Lassalle keineswegs bereit war, sich von der idealistischen Grundlage des Hegeischen Systems zu lösen und sich der materialistischen Geschichtsauffassung anzuschließen. Diesen prinzipiellen Unterschied zu Marx hat Lassalle anscheinend ignoriert oder zumindest dessen Bedeutung verkannt. Unaufhebbar wurde der Konflikt freilich erst, als Lassalle sich anschickte, selb­ ständig im Namen der „Partei“ zu sprechen, wodurch er nach Marx' Auffassung die „Parteidisziplin“ verletzte. Marx' Kritik betraf daher weniger die theoretischen Di­ vergenzen als vielmehr die abweichenden außenpolitischen Auffassungen sowie die unterschiedliche taktische Konzeption. Der Arbeiteragitation Lassalles vermochte er allenfalls eine vorbereitende Funktion für eine Neuformung der Bewegung unter sei­ nem eigenen maßgeblichen E influß einzuräumen. E r vermied jedoch eine öffentliche Distanzicrung von Lassalle, „der im entscheidenden Moment doch entweder durch die Verhältnisse gezwungen wird, mit uns zu gehn, oder aber der offen unser Feind wird“ 7 . Noch 1863 glaubten Marx und E ngels an die Möglichkeit, Lassalle behutsam führen zu können. 1862 äußerte Marx gegenüber E ngels, er habe eine verantwortliche Teilnahme an Lassalles Berliner Zeitungsprojekt mit der Bemerkung abgelehnt, daß sie „politisch in nichts übereinstimmten als einigen weit abliegenden E ndzwecken“ 8 . Das traf jedoch kaum den wirklichen Sachverhalt, da Marx sonst die Plagiatbezichtigung und die wü­ tende Kritik, daß Lassalle „unser Inventarium“ antreten wolle 9 , nicht hätte ständig wiederholen können. Wenn Marx und E ngels als „Kardinalfehler der Lassalleanischen Taktik“ 1 0 dessen einseitige Frontstellung gegen die Fortschrittspartei und den bürgerlichen Liberalis­ mus rügten, gingen sie von der irrigen E rwartung aus, daß diese noch ein revolutionä­ res Potential darstellten. Lassalle hingegen erkannte die politische E rmüdung des Bürgertums und wandte sich von der Fortschrittspartei in dem Augenblick ab, als es klar war, daß sie den Weg zur demokratischen Revolution nicht mitgehen würde. Je­ doch befolgte Lassalle keineswegs, wieTh. Ramm gemeint hat 11 , die politische Taktik von Marx und E ngels in der Revolution von 1848/49. Deren politische Wendung im Rundschreiben der Zentralbehörde des Bundes der Kommunisten vom März 1850 hatte Lassalle durchaus mitvollzogen und konnte Marx im Oktober 1849 schreiben, „daß kein Kampf mehr in Europa glücken kann, der nicht von vornherein ein pronon­ ciert rein sozialistischer ist; daß kein Kampf mehr glücken wird, der die sozialen Fra­ gen bloß als dunkles E lement, als an sich seienden Hintergrund in sich trägt und äu266

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ßerlich in der Form einer nationalen E rhebung oder des Bourgeoisrepublikanismus auftritt“ 12 . Das schloß für Lassalle ein vorübergehendes taktisches Bündnis mit der bürgerlichen Demokratie allerdings nicht aus. Lassalle befand sich aber in Überein­ stimmung mit Marx und E ngels, wenn er Anfang Februar 1860, im Zusammenhang mit ihrer Verteidigung Wilhelm Liebknechts schrieb, daß es notwendig sei, „in bezug auf die vulgär-demokratischen Parteien und ihre verschiedenen Nuancen ebensosehr die Identität als den Unterschied unseres Sozialrevolutionären Standpunktes mit ih­ nen“ festzuhalten, daß dieser Unterschied jedoch herausgekehrt werden müsse, wenn diese gesiegt hätten 13 . Die Motive, die Lassalle veranlaßten, diese Strategie aufzuge­ ben und die Brücken zur Fortschrittspartei abzubrechen, hingegen mit seiner Über­ schätzung der revolutionären Möglichkeiten seit 1859 zusammen. Hierin unterschied sich Lassalle nicht von Marx, der 1863, nach der Debatte der preußischen Zweiten Kammer über den polnischen Aufstand, mit einer revolutionären E rhebung rechnete und an dieser E rwartung bis 1867 festhielt. Marx befürchtete jedoch, durch zu frühes Hervortreten die Sache der Partei zu gefährden, die erst, nachdem die bürgerliche Demokratie abgewirtschaftet haben würde, zum selbständigen revolutionären Stoß ansetzen sollte. Lassalle war insofern realistischer, als er den abgenützten Fortschritt­ lern nicht zutraute, sich an die Spitze der demokratischen Revolution zu setzen. E r drängte daher zu entschiedenem Handeln, und die wieder ins Leben tretende Arbei­ terbewegung sollte ihm als Instrument dienen. Die grundsätzliche Differenz der revolutionären Strategie trat am deutlichsten in der Beurteilung der Außenpolitik zutage. Während Marx, analog zu seinen Auffas­ sungen in und nach der Revolution von 1848, den Anstoß zur revolutionären E rhe­ bung vom französischen Proletariat erwartete, hatte Lassalle zunächst auf die italieni­ sche und ungarische Nationalbewegung gesetzt. Die unterschiedliche Lagebeurtei­ lung kam in den entgegengesetzten Resultaten der von E ngels anonym veröffentlich­ ten Flugschrift „Po und Rhein“ und Lassalles „Der italienische Krieg und die Aufgabe Preußens“ zum Ausdruck. Lassalle verfocht eine pointiert antiösterreichische Linie und erwartete von einem Sieg Napoleons III. die Diskreditierung der preußischen Monarchie und die E ntstehung der erwünschten revolutionären Situation, E ngels (und Marx) erstrebten den Sturz Napoleons. Lassalle war befangen in der Hegeischen Volksgeistlehre, ein klarer Verfechter na­ tionaldeutscher Interessen, und setzte auf die revolutionierenden Wirkungen der re­ aktivierten deutschen Nationalbewegung, zumal nach dem Scheitern der italienischen Hoffnungen. Marx hingegen hoffte auf einen von Preußen-analog zum März 1848 eingeleiteten Krieg gegen Rußland, wogegen Lassalle zu Recht einwandte, daß ein solcher Krieg das Ansehen der preußischen Monarchie auf lange hinaus befestigen werde. Marx' Überbewertung der Polenfrage, die bei ihm gewisse politische Sympa­ thien mit der Fortschrittspartei auslöste, wurde von Lassalle nicht geteilt. Dieser war zwar auch für die Wiederherstellung Polens, aber unter deutschem Schutz und - wie der Volkskrieg gegen Rußland - unter Führung der deutschen Demokratie, nicht der preußischen Dynastie. Die taktischen Differenzen berührten das Prinzipielle, indem Lassalles Politik nicht nur - wie dies in der liberalen Presse behauptet w u r d e - faktisch Bismarck in die Hand 267

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arbeitete, sondern indem Lassalle sich nicht scheute, direkte Kontakte mit dem preu­ ßischen Ministerpräsidenten selbst aufzunehmen, um ihm ein Bündnis auf Zeit gegen die Fortschrittspartei anzubieten und dafür das allgemeine Wahlrecht wie eine gewisse Schonzeit für den Aufbau des ADAV einzuhandeln. Marx und E ngels erfuhren von diesen Kontakten im vollen Ausmaß erst nach dem Tode Lassalles (ganz sind sie erst durch Mayers Aktenpublikation von 1928 bekannt), sprachen aber schon vorher von Lassalles Handlangerdiensten für Bismarck 14 . Das hohe Spiel, das Lassalle spielte (und verlor), war gewiß kein „Verrat an der Ar­ beiterklasse“, sondern ging von der illusorischen Vorstellung aus, Bismarck würde beim Herannahen einer außenpolitischen Krise revolutionäre Konzessionen zu ma­ chen gezwungen sein, die auf absehbare Zeit, selbst bei Hinnahme eines vorüberge­ henden sozialen Volkskönigtums, seinen Sturz und den der preußischen Dynastie be­ siegelten. Im Cäsarismus erblickte Lassalle- und die Schwäche Napoleons III. schien ihm dies zu beweisen - eine Obergangsform, die dem Sieg der europäischen Demo­ kratie unmittelbar in die Hände arbeitete, während Marx und E ngels darin die Gefahr erblickten, daß der reine Klassenkampfstandpunkt verdeckt werden würde. Lassalles betont nationale E instellung bei wesentlich engerem außenpolitischem Horizont verschärfte den Konflikt mit Marx und E ngels, ohne dafür konstitutiv zu sein. Zur gleichen Zeit konnten diese sich des pointiert national, allerdings antipreu­ ßisch eingestellten Liebknecht als Agenten gegen Lassalle bedienen. E ntscheidend war hingegen, daß Lassalle bereit war, den preußischen Staat in sein politisches Kalkül einzubeziehen und das Risiko einer möglichen Kompromittierung der Arbeiterbewe­ gung durch das taktische Bündnis auf Zeit auf sich zu nehmen. Daraus erklärt sich Marx' scharfe Kritik an Lassalles agitatorisch bedingter Forderung nach Produktivas­ soziationen mit Staatshilfe und an der ebenfalls propagandistisch motivierten Beto­ nung des „ehernen Lohngesetzes“. Lassalle ignorierte damit Marx' Mehrwerttheorie, konnte sich aber immerhin auf das „Manifest der Kommunistischen Partei“ berufen, das dieses Gesetz der Sache nach bestätigte. Aus vergleichbaren taktischen Gründen fand sich Marx dann bezeichnenderweise wenige Monate nach Lassalles Tod dazu be­ reit, die Forderungen nach Produktivgenossenschaften in die Inauguraladresse und in die Statuten der Internationalen Arbeiter-Association aufzunehmen. In der Sicht von Marx belastete Lassalles Agitation - die behauptete, für die „Partei“ zu sprechen - die Bewegung mit Übergangsformen und war zudem mit einem Rück­ fall in die überholten frühsozialistischen Auffassungen von P. J . Buchez verbunden, die Marx getrost Schulze-Delitzsch und den kleinbürgerlichen Demokraten überlas­ sen wollte. Nicht minder mußte die faktische Orientierung am bestehenden Staat Lassalle bestritt allerdings entschieden, daß der bestehende Staat mit dem des allge­ meinen Wahlrechts Wesentliches gemein habe - den revolutionären Klassencharakter der Bewegung trüben. Marx' abwartende, vor dem offenen Konflikt mit Lassalle zu­ rückscheuende Haltung war angesichts der Mentalität der sich Lassalles Führertum unterstellenden fortschrittlichen, aber noch kaum sozialistisch eingestellten Gruppen der Arbeiterschaft richtig; da Lassalle an der Fiktion völliger Übereinstimmung mit Marx festhielt, sicherte er den Londonern die Möglichkeit, auf die entstehende Arbei268

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terbewegung E influß zu nehmen. Dieser blieb jedoch infolge der Isolierung im Lon­ doner E xil begrenzt, wie die Ignorierung der Gothaer Programmkritik von Marx noch 1875 zeigen sollte.

5. Politische Auffassungen: Demokratie, Sozialismus, Staat und Revolution Lassalles politisches Auftreten steht im Schnittpunkt der bis zum Ausgang der sechziger Jahre lebendigen Strömung der europäischen radikalen Demokratie, zu de­ ren linkem, sozialistisch beeinflußtem Flügel er gehörte. Prägendes politisches Vor­ bild sind die Französische Revolution und der jakobinische Demokratiebegriff. Die Verknüpfung dieser Überlieferung mit den spekulativen E lementen der Hegeischen Philosophie und taktische Kompromisse in den Jahren 1863/64 haben den Tatbestand verhüllt, daß Lassalle - ebenso wie Marx und E ngels und die ihrem Standpunkt treu gebliebenen Radikalen von 1848 - an den Sieg der europäischen Demokratie im Zu­ sammenhang mit der Durchsetzung der nationalen E inigungsbewegungen und an die Verwirklichung der demokratischen Republik geglaubt hat. Lassalle unterhielt Kon­ takte zum linken Flügel des Deutschen Nationalvereins und zu der von Fedor Streit und Ludwig Schweigen betriebenen Wehrbewegung. E r ließ jedoch keinen Zweifel daran, daß er eine E rneuerung der konstitutionellen und föderalistischen Reichsver­ fassung von 1848 für einen Rückfall in den der Revolution verhängnisvoll gewordenen Kompromiß mit den Dynastien hielt, und forderte eine zentralistisch verfaßte, ein­ heitliche großdeutsche Republik nach französischem Vorbild. Im Gegensatz zum Liberalismus war Lassalle ein erklärter Gegner des parlamenta­ rischen Prinzips; er orientierte sich vielmehr am Vorbild des von den Jakobinern be­ herrschten revolutionären Konvents 15 . Das Parlament war nach Lassalles Auffassung weder eine Stätte rationaler Diskussion noch Organ zur Vertretung der gesellschaftli­ chen Interessen, seine politische Funktion erschöpfte sich - auch als gesetzgebender Körper - in plebiszitärer Akklamation. Wie Lassalles Wahlrechtsvorstellungen zei­ gen, die er Bismarck gegenüber entwickelte, stand er dem Prinzip der Repräsentation fremd gegenüber. In der preußischen Zweiten Kammer erblickte er nur ein Instru­ ment der Staatsumwälzung, so daß es ihm leichtfiel, die Abgeordneten der Fort­ schrittspartei zur Selbstaufhebung des Parlaments aufzurufen. In Übereinstimmung mit Hegel lehnte Lassalle das Prinzip parlamentarischer Mehrheitsbildung und E ntscheidung ab. Mit der Verwerfung des konstitutionellen Prinzips trat er aber in einen unüberbrückbaren Gegensatz zum liberalen Verfas­ sungsgedanken. Die übersteigert vorgetragene Theorie, daß Verfassungsformen ein Ausdruck der jeweiligen gesellschaftlichen Machtverhältnisse seien, leugnete die normative Kraft geschriebener Verfassungen. Während die liberale Verfassungstheo­ rie im Dualismus von Staat und Gesellschaft ein mögliches Korrektiv gegen den Machtmißbrauch der Regierung erblickte, wollte Lassalle gerade diesen Dualismus beseitigen und die Gesellschaft in den Staat aufgehen lassen. Seine Kritik des liberalen 269

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„Nachtwächterstaates“ gipfelte im Vorwurf gegen die Fortschrittspartei, sie wollte „den Staat aufheben und ihn untergehen lassen in die Gesellschaft“1**. Dem liberalen Staatsgedanken stellte Lassalle einen absoluten Staatsbegriff gegen­ über, den er analog zu Hegel als „Verwirklichung des wahrhaft sittlichen Willens, die Selbstrealisierung des allgemeinen Geistes“ definierte 17 . Angesichts der Aufgabe des Staates, „das menschliche Wesen zur positiven E ntfaltung und fortschreitenden E nt­ wicklung zu bringen“, d.h. die „E rziehung und E ntwicklung des Menschenge­ schlechts zur Freiheit“ 18 wahrzunehmen, war für Lassalle eine gesonderte Freiheits­ sphäre neben dem Staat schon begrifflich undenkbar. Die Ablehnung des Prinzips in­ dividueller Freiheit geht aus Lassalles Kritik an der Französischen Revolution hervor, die nur die Freiheit vom Staat, nicht aber die substantielle Freiheit verwirklicht habe, die erst im Kommunismus zu realisieren sei. Die radikale Hervorhebung des Gleich­ heitsprinzips führte ihn zur Ablehnung individueller Rechte. „Der Zweck der Gesell­ schaft“ sei „nicht, die individuellen Rechte des Menschen zu sichern, die er schon als Individuum besitzt, . . . sondern gerade neue, höhere Rechte zu schaffen, ein organi­ sches Leben als Ganzes, als Volk“ 1 9 . Diese Formulierung macht deutlich, wie stark Lassalles Staatsbegriff nicht allein Hegels Volksgeistlehre, sondern auch J . G. Fichtes Idee vom „Urvolk“ verpflichtet ist, die Lassalle auch zu der Utopie anregte, daß der künftige Staat ein „neugermanischer“ sein werde. In bezug auf das Verhältnis von Lassalles Staatsbegriff zu der von ihm angestrebten Aufhebung des Staates und der Durchsetzung des Kommunismus hat Ramm nachge­ wiesen, daß die Konsequenz der Lassalleschen Staatstheorie auf die Aufhebung des Staates als Zwangsorganisation und auf die Verwirklichung des „Reichs des freien Geistes“ hinauslief. Lassalle griff hierbei über Hegel auf Fichte zurück, der die Be­ rechtigung des „Zwangsstaats“ zur „E rziehung aller zur E insicht vom Rechte“ damit begründet hatte, daß der Staat damit die eigene Aufhebung vorbereite 20 . Die Argu­ mentation, mit der Lassalle den Prozeß der Selbstaufhebung des Staats nachzuweisen suchte, unterscheidet ihn jedoch aufs strengste von Marx und erweist ihn als reinen Idealisten. Während für Marx der Staat als Instrument der Klassenherrschaft mit der Ausbildung des Proletariats zur Menschheitsklasse und der Negation von dessen Qualität als Klasse aufgehoben, der Staatsapparat vom siegenden Proletariat zerschla­ gen wird, der Akzent demnach auf der befreienden Tat des Proletariats liegt, erscheint für Lassalle die Realisierung des „Reichs der Freiheit“ als kontinuierlicher Prozeß ei­ ner Durchsetzung der Idee. Im Gegensatz zum historischen Materialismus ist für Lassalle die Geschichte eine fortschreitende Verwirklichung des Sittlichen. Die verschiedenen historischen Staats­ formen stellen in aufsteigender Linie partielle Realisationen dieses Prozesses dar. Im Unterschied zu Hegel sieht Lassalle den Abschluß der Geschichte in naher Zukunft in einer E ntwicklungsstufe des Geistes erreicht, „der sich bewußt ist seiner als des sich zur Wirklichkeit entlassenden und diese zu sich aufhebenden Tuns“ 2 1 , wobei die spe­ kulative Anschauung des denkenden Individuums und die revolutionäre Tat des han­ delnden politischen Führers zusammentreffen. Der geschichtliche Prozeß wird hier­ bei nicht als das Resultat ökonomisch determinierter Klassenkämpfe begriffen, son­ dern ist vor allem das Werk des zur E insicht in die Idee gelangenden, großen Indivi270

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duums, das aber nicht, wie bei Hegel, von der „List der Vernunft“ vorangetrieben wird, sondern dort, wie im „Sickingen“, scheitert, wo es mit der „Idee“ zu listen ver­ sucht. Für die einzelnen historischen Phasen ähnelt Lassalles Konzeption in vieler Hin­ sicht dem im „Manifest der Kommunistischen Partei“ dargelegten Ablaufschema (mit Ausnahme der als reaktionär eingestuften Bauernkriege), und es finden sich wieder­ holt Marxsche Formulierungen, z . B . daß die berrschende Klasse in der Gesellschaft . . . sich stets und immer der Staatsgewalt, Staatsform“ bediene, „um in der Staatsver­ fassung ihre Herrschaft über die anderen Klassen zu sichern“ 22 . Die verwirrende Vermengung von idealistischer und materialistischer Betrachtungsweise klärt sich, wenn man auf den Ausgangspunkt Lassalles zurückgreift - der auch in Fichtes Be­ merkung anklingt, wonach die Schlechtigkeit mit den höheren Ständen zunehme. Während Marx ungleich radikaler und konsequenter die Berufung des Proletariats zur Menschheitsklasse aus der äußersten Entfremdung in der Lohnarbeit folgerte, war für Lassalle der Arbeiterstand, den er mit dem „Volk“ als solchem gleichsetzte und der nach seiner Berechnung 9 6 ¼ % der preußischen Bevölkerung ausmachte, Material der Idee, weil er sich nicht durch,,ausschließendesPrivateigentum des besonderen In­ dividuums“ dem Allgemeinen entäußert habe 23 . In der Eigentumslosigkeit des Prole­ tariats sei die Potentialität des Übergangs zu einer höheren historischen Stufe, des Fortschreitens der Sittlichkeit enthalten. „Das Prinzip der Nichtbesitzenden ist die Solidarität der Individuen und aller ihrer Interessen“ 24 , formuliert Lassalle, womit sowohl der bloß instrumentale Charakter des Proletariats als auch die Verflachung des Entfremdungsbegriffs im Sinn der durch das E igentum bewirkten Atomisierung des gesellschaftlichen Körpers deutlich wird. In einem gewissen Widerspruch dazu heißt es im „Offenen Antwortschreiben“, der Staat sei „nichts anderes als . . . die große Assoziation der arbeitenden Klassen“ 25 , eine demagogisch geprägte Formulierung, die den künftigen „Staat des Arbeiterstandes“ antizipiert, welcher sich - unter der Hülle des bestehenden Staates, zugleich mit des­ sen materieller Unterstützung - im ADAV und den von diesen betriebenen Produk­ tivassoziationen anbahnt und in der Aufhebung des privaten E igentums und der Her­ stellung tatsächlicher Gleichheit realisiert werden wird. Analog zu Marx, der freilich den Begriff „Arbeiterstand“ rügte, erscheint bei Lassalle der vierte Stand als „der letzte und äußerste, der enterbte Stand der Gesellschaft“ 26 , aber es wirkt matt und blaß gegenüber Marx' Bestimmung des Wesens der Arbeit, wenn es bei Lassalle heißt: ,,Arbeiter sind wir alle, insofern wir nur eben den Willen haben, uns in irgendeiner Weise der menschlichen Gesellschaft nützlich zu machen“ 2 7 . Lassalle bezeichnete zwar die Industriearbeiterschaft als „Avantgarde der Mensch­ heit“, neigte aber dazu, den Arbeiterstand mit den unteren beziehungsweise armen Klassen der Gesellschaft zu identifizieren, deren E inheit er weniger in der sozialen Lage begründet sah als im sittlichen Gegensatz zur Bourgeoisie, die „materialisti­ schem“ Denken verfallen sei. Das war, verglichen mit Marx, ein Rückfall in den bloß spekulativen, auf den Gegensatz von „reich“ und „arm“ gestützten Proletariatsbegriff der französischen Frühsozialisten. Lassalle konnte daher auch den Standpunkt vertre­ ten, daß er nicht zu einer „bloße[n] Klassenbewegung“, sondern zu einer „allgemei271

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ne[n] demokratische[n] Volksbewegung“ 2 8 aufrufe. Damit entpuppte er sich als radi­ kaler Demokrat, der ausdrücklich den Vorwurf zurückwies, „eine abgesonderte Be­ wegung“ mit dem „bloßen Arbeiterstande“ 29 anzustreben. Das Proletariat war für ihn daher in einem viel platteren Sinn, nämlich im Sinn der politischen Mobilisierbarkeit, Vorhut der revolutionären Bewegung. Die Frage nach der Aufhebung des Privateigentums beantwortete Lassalle rein spe­ kulativ und wies auf die im „System der erworbenen Rechte“ behauptete geschichtli­ che Gesetzmäßigkeit des Zurücktretens von Sondereigentum hin. Zugleich knüpfte er in wenig präziser Form an Marx' Prognose der zunehmenden inneren Widersprüche des kapitalistischen Systems an, die er mit der hegelianischen Formulierung, der Kommunismus sei die spekulative Wahrheit der industriellen Gesellschaft, ins Mora­ lische wendete. Die Durchsetzung des Kommunismus erfolge jedoch nicht auf dem Weg der revolutionären E rhebung der Arbeiterklasse, sondern mittels einer jakobini­ schen „E rziehungsdiktatur“ 30 , in die sich der Staat des allgemeinen Wahlrechts ver­ wandelte und die in der plebiszitären Zustimmung der Massen ihre demokratische Ba­ sis besaß. Den Gedanken der Diktatur entlehnte Lassalle von Fichte und ließ keinen Zweifel daran, daß es sich für ihn um die Herrschaft eines revolutionären Führers, um eine „Diktatur der Einsicht“, nicht um eine Diktatur der Arbeiterklasse als solcher handel­ te. Die „großen, gewaltigen Ubergangsarbeiten der Gesellschaft“ seien nicht durch „die Krankheit des individuellen Meinens und Nörgeins“ zu realisieren 31 , und nur der große Mann, der den „Geist der Nation . . . in sich wie in einen Brennpunkt zusam­ menfaßt“ 32 , könne sie bewerkstelligen. Nach dem Zeugnis von Heß begriff sich Las­ salle als der künftige plebiszitäre Führer; die autoritäre Organisation des ADAV, die dem Präsidenten nahezu unumschränkte Vollmachten einräumte, stellte er ausdrück­ lich als „Vorbild im kleinen unserer nächsten Gesellschaftsform im großen“ hin 3 3 . Die Rechtfertigung dazu zog Lassalle aus der praktischen Notwendigkeit, die Ar­ beiter erst zur Freiheit erziehen zu müssen. E r stützte sich dabei auf die theoretische Annahme, daß es nicht auf die im Prinzip gleichgültigen Massen ankomme, sondern darauf, daß der revolutionäre Führer „Vernunft, Wissenschaft und die geschichtliche Bewegung für sich hat“ 3 4 . Diese auf die Akklamation der Massen und die wissen­ schaftliche Beratung von E xperten gestützte Obergangsdiktatur zerschlug - im Ge­ gensatz zu Marx' Konzeption der Diktatur des Proletariats - keineswegs den Staats­ apparat, sondern benützte ihn sowohl zur revolutionären Umgestaltung als auch zur Erziehung der Massen zur Freiheit. Mit der Forderung einer „Allianz der Wissenschaft und der Arbeiter“, als den bei­ den „entgegengesetzten Polen“ der Gesellschaft, versuchte Lassalle das Problem des Verhältnisses der Führung zur Bewegung zu lösen, das für die Entwicklung des marxi­ stischen Denkens entscheidende Bedeutung hatte und das auch Lenin nicht überzeu­ gend zu lösen vermochte, wie der Rückfall des bolschewistischen Systems in den sta­ linistischen Personenkult erkennen läßt. Marx hatte der Frage, wie sich das Verhältnis zwischen der zunächst blinden Protestbewegung der proletarischen Massen und den intellektuellen Führern, die ihr Richtung und Ziel weisen, praktisch gestaltete, nur untergeordnetes Interesse zugewandt, da für ihn die Möglichkeit objektiver E insicht 272

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in den Verlauf des historischen Prozesses und die Entfaltung des revolutionären Klas­ senbewußtseins in unmittelbarer dialektischer Beziehung zueinander standen. In der politischen Praxis hat er jedoch, wie seine Haltung zur I. Internationale beweist, entschiedenen Wert darauf gelegt, daß das richtige revolutionäre Bewußtsein nicht durch Rückfälle in kleinbürgerlich-frühsozialistische Gedankengänge verunklärt würde. Gerade in der späteren Polemik gegen den Lassalleanismus brachte er die Überzeugung zum Ausdruck, daß die lebendige Bewegung sich aufgrund der konkre­ ten geschichtlichen E rfahrung selbsttätig korrigieren und historisch „richtig“ verhal­ ten würde. Marx hat damit, in gewissem Gegensatz zu Lassalles zynischem Realismus, die po­ litische Vernunft des organisierten Proletariats überschätzt und konnte so das Go­ thaer Einigungsprogramm als ein „ungeheuerliches Attentat auf die in der Parteimasse verbreitete Einsicht“ bezeichnen 35 . Lassalles von Fichte entlehnte Wertschätzung der unteren Klassen blieb dagegen mit Skepsis gepaart. Das Schlagwort vom „Unverstand der Massen“ im ADAV-Bundeslied deckt diese Zwiespältigkeit klar auf. E inerseits vertrat Lassalle den Gedanken rationaler Unterrichtung des Proletariats, andererseits verharrte er auf einem elitären Standpunkt, unterband innerparteiliche Willensbil­ dung und gab gegenüber den Massen der Anhängerschaft seine eigentlichen politi­ schen Zielsetzungen nicht preis. Die große Masse konnte nach seiner Auffassung nur durch Propaganda, durch emotionale Appelle, nicht durch E insicht gewonnen wer­ den : „Bei den politischen Kämpfen handelt es sich vor allem darum, die Indifferenten zu gewinnen und zu erbitten, möglichst große Massen in Mitleidenschaft zu ziehen“ 3 6 . Trotz der plebiszitären Zuspitzung seines Programms hatte Lassalle mit Marx je­ doch die Überzeugung gemeinsam, das Proletariat sei aufgrund seiner sozialen Lage, vor allem seiner aus der Besitzlosigkeit fließenden Fähigkeit zu spontaner Solidarisie­ rung, prädisponiert, Träger der weltgeschichtlichen Umwälzung zu sein, und er sprach vom „richtigen Instinkt“ der Arbeiterschaft. Ähnlich feierte Marx später die „unbewußten Tendenzen“ der Pariser Kommune. Das Verhältnis zwischen revolu­ tionärer Intelligenz und Arbeiterbewegung bekam bei Lassalle allerdings einen einsei­ tigen Akzent, wenn er argumentierte, die Verfechter der „politischen Freiheit“ seien so lange isoliert, als sie nicht das Interesse einer Klasse mit diesem Ziel verknüpfen könnten. Das Proletariat erhielt daher, noch stärker als der hegelianische Ansatz­ punkt es nahelegte, Werkzeugcharakter. Besonders problematisch wurde Lassalles Strategie dort, wo er bewußt die Agitation mit irrationalen E lementen betrieb und, wie im ADAV, jede Abweichung von den Auffassungen der Führung als Verrat an der Bewegung qualifizierte. Diese Praxis stand in einem unaufhebbaren Gegensatz zu der Erkenntnis, daß das Bündnis von Wissenschaft und Arbeitern einen gewissen Reife­ grad des Proletariats voraussetzte. Im Gegensatz zu einem am Individualismus orientierten Demokratiebegriff war Lassalle überzeugt, daß die von ihm erhoffte Solidarität in einer von Interessen zer­ spaltenen Gesellschaft nicht möglich sei, sondern erst mit fortschreitender Aufhe­ bung der gesellschaftlichen „Atomisierung“, sowohl im nationalen als auch im sozia­ len Sinn. Durch Agitation und politische Mobilisierung sollten die Massen zu einer straff zusammengefaßten „Bewegung“ verschmolzen werden, die fähig wäre, ein kol273 18

Mommsen, Arbeiterbewegung

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lektives Bewußtsein zu entwickeln. Lassalle baute daher den ADAV in der Form einer ihm persönlich ergebenen und auf sein Programm eingeschworenen Gefolgschaft auf. Die von ihm geschaffene Partei war Vorform der künftigen Gesellschaft, nicht nur vorübergehendes Herrschaftsinstrument. Die Verwurzelung Lassalles in einem der naturrechtlichen Tradition zuwiderlaufenden Gemeinschaftsgedanken ist trotz des dialektischen Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft klar erkennbar. Die auch hierin sichtbare Frontstellung gegen den Liberalismus findet ein Pendant in Lassalles hegelianisch geprägtem Freiheitsbegriff'. Angeregt durch Marx' Hegelkri­ tik, suchte Lassalle das System des idealistischen Philosophen mit den Bedingungen der entstehenden Industriegesellschaft in E inklang zu bringen. Wenn er jedoch be­ klagte, daß es dem Proletariat „wegen der Sorge für seine leibliche E xistenz“ verwehrt sei, eine „geistige Weise seines Daseins zu haben“ 3 7 , lag darin eine einschneidende Reduktion der Marxschen Anthropologie, die Freiheit als reelle Möglichkeit der Verwirklichung aller Anlagen und Fähigkeiten des einzelnen und den Menschen in seiner Ganzheit, nicht nur als geistiges Wesen begriff. Die erstrebte geistige Freiheit, die an die Beseitigung des Eigentums geknüpft war und die Aufhebung der dinglichen Entfremdung des Individuums voraussetzte, identifizierte Lassalle schlechthin mit der „Idee des Gemeinzustands“, nur daß er im Unterschied zu Hegel dabei nicht den bestehenden, sondern den künftigen Staat im Auge hatte. Agitatorisch münzte Las­ salle dies um in die Forderung nach „Massenfreiheit“, in der sich Freiheit und Autori­ tät vereinigten 38 . Die von Lassalle vertretenen national-imperialistischen Tendenzen, vor allem aber die von ihm praktizierte Form der Demokratie in Verbindung mit der Überzeugung, daß das Individuum den Determinanten des historischen Prozesses - jedenfalls bis zum „Abschluß der Geschichte“ - unterworfen sei, waren geeignet, das Individuum der totalen Manipulation einer durch die E insicht in das „Allgemeine“ ausgestatteten Elite zu unterwerfen. Die Verwandtschaft der von Lassalle als „Diktatur von unten“ bezeichneten Position mit dem „Cäsarismus von oben“, wie ihn Napoleon III. prak­ tizierte, ist angesichts der hochgradig manipulativen Wahlrechts- und Oktroyie­ rungsvorschläge gegenüber Bismarck nicht von der Hand zu weisen. Damit enthält Lassalles Theorie E lemente, die mit späteren totalitären Strömungen vergleichbar

sind. Immer wieder wird in Lassalles Werk deutlich, wie nahe beieinander die Auffas­ sungen von Marx und E ngels und seine eigenen liegen; der Plagiatvorwurf von Marx bestätigt dies nur noch. Diese Ähnlichkeit geht entscheidend auf den gleichartigen geistesgeschichtlichen Ausgangspunkt zurück. Daher bietet eine Analyse der Auffas­ sungen Lassalles die Möglichkeit einer tieferen E insicht in die zeitgeschichtliche Ver­ wurzelung der beiden Klassiker des Marxismus. Wie diese war Lassalle Revolutionär, nur daß es für ihn als Idealisten, der von Feuerbach unbeeinflußt geblieben war, sehr viel schwieriger sein mußte, den E volutionsgedanken Hegels revolutionär umzuin­ terpretieren. Wie Marx appellierte Lassalle an die historische Notwendigkeit der Re­ volution und übernahm unscharf die vom Junghegelianismus und Marx postulierte Einheit von Theorie und Praxis, indem er von einer „Wechselwirkung“ zwischen Wissenschaft und Arbeiterbewegung sprach. Die Widersprüchlichkeit seiner Position 274

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verriet sich allerdings in gegensätzlichen Äußerungen: So erklärte Lassalle einmal, wirklich revolutionäre Bewegungen seien niemals gescheitert, da sie nur den Vollzug dessen vorstellten, was sich vorher „im Herzen der Gesellschaft“ vorbereitet habe, und ein anderes Mal führte er die E rfolglosigkeit früherer Revolutionsversuche auf das Fehlen „welthistorischer Individuen“ zurück, die sich an ihre Spitze hätten stellen müssen. Unter Revolution - im Unterschied zu bloß erfolgreichen Umstürzen - verstand Lassalle eine Umwälzung, die „ein ganz neues Prinzip an die Stelle des bestehenden Zustands“ rückt, und er grenzte sie in seiner Definition 39 von evolutionären Prozes­ sen ab. Der so formalisierte Revolutionsbegriff ließ die Beantwortung der Frage of­ fen, ob die Revolution mit gewaltsamen Mitteln, unter Anwendung der „terreur“, oder auf dem Wege bloßer Veränderung der Staatsverfassung erfolgen solle, was spä­ teren Fehlinterpretationen weiten Raum verschaffte. Ramm hat auf die grundlegende Schwierigkeit in Lassalles System hingewiesen, daß er einerseits an dem hegeliani­ schen Prinzip des Staats als Rechtsordnung festhielt, andererseits die revolutionäre Durchbrechung dieser Rechtsordnung mit juristischen Argumenten zu rechtfertigen versuchte. Die Ambivalenz des Revolutionsbegriffs zeigt sich auch darin, daß Lassalle die Bauernkriege als reaktionär qualifizieren, die E inführung der Maschine abcr als „wirkliche Revolution“ bezeichnen konnte. Als prinzipieller Anhänger eines historischen Determinismus und beeinflußt von der linkshegelianischen „Philosophie der Tat“, bestand für Lassalle das Problem, ei­ nen Handlungsspielraum für die revolutionäre Aktion zu begründen. Seine Theorie der Abkürzung der geschichtlichen E ntwicklung durch die revolutionäre Tat des „großen Individuums“ mündete in die konkret gegebene politische Zielsetzung, die revolutionäre E rhebung des Proletariats einzuleiten, bevor noch die bürgerliche De­ mokratie die politische Macht errungen habe. Marx und Engels haben Lassalles politi­ sche Strategie, welche die Ausschaltung der bürgerlich-liberalen Parteien und nicht deren revolutionäre Radikalisierung betrieb, von ihrem Standpunkt aus konsequent verurteilt; mit der Beschwörung einer demnächst eintretenden revolutionären Situa­ tion haben Marx und E ngels den Keim gelegt für die später vom orthodoxen Marxis­ mus repräsentierte Tendenz zur städigen Vertagung der sozialen Revolution. Heß, aufs heftigste mit den Londonern verfeindet, polemisierte gegen E ngels' 1865 publizierte Broschüre „Die preußische Militärfrage und die deutsche Arbeiterpartei“: Folge man den Londoner Doktrinären, so müsse man bis zur Durchsetzung der Forderungen der Bourgeoisie in E uropa „die Hände in den Schoß legen und in stummer Andacht nach Mekka-London schauen“ 40 . Jedoch distanzierte sich auch Heß, nicht anders als Marx und E ngels, von Lassalles - aus prinzipiellen Gründen erstrebter - Isolierung der Re­ volution auf den deutschen Nationalstaat, da dieser das deutsche Proletariat, sofern es nicht vom westlichen und südlichen Proletariat unterstützt werde, für unfähig hielt, irgendeine entscheidende politische Bewegung durchzusetzen 41 . Die enge Verbin­ dung von sozialer und nationaler Revolution hatte zwar Parallelen in den Anschauun­ gen von Marx und E ngels, doch lief Lassalles Programm des „nationalen Kommunis­ mus“ 42 auf eine nahezu vollständige Negierung der internationalen Solidarität des Proletariats hinaus. Die spätere E ntwicklung bestätigte allerdings die Richtigkeit von 275

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Lassalles E ntschluß, nicht länger auf den Anbruch der bürgerlichen Demokratie als Startzeichen der proletarischen Revolution zu warten, nicht auf revolutionäre An­ stöße von außen zu hoffen und die Arbeiterbewegung im nationalen Rahmen zum E r­ folg zu führen. S. Na'aman hat Lassalles Verlassen des historischen Determinismus und dessen Ar­ beiteragitation mit einer tiefgreifenden, dem Agitator jedoch nicht zum Bewußtsein gekommenen „Krise der Theorie“ gedeutet 43 . Diese Krise bestand jedoch nicht darin, daß Lassalle in entscheidenden Punkten von seinem dem Anspruch nach in sich stim­ migen und trotz aller Verflachung der hegelianischen Dialektik doch bemerkenswert einheitlichen System abgewichen wäre; vielmehr mußte der Versuch, es revolutionär zu realisieren, überall dort zu Widersprüchen führen, wo von differenzierten Bedin­ gungen der Wirklichkeit abstrahiert worden war. E iner dieser nun auftretenden Brü­ che trat in der E inengung des Revolutionsbegriffs klar hervor. Von daher ergab sich eine immer stärker werdende Tendenz in Richtung auf den Ubergangszustand der „Diktatur der Einsicht“ und zur Gleichsetzung von E rringung des allgemeinen Wahl­ rechts und Revolution. Dies erleichterte das Mißverständnis, daß Lassalle wegen sei­ ner (taktischen) Hinwendung zum Staat als Reformist und Gradualist verstanden wurde, obwohl an seiner aktivistisch-revolutionären Grundhaltung nicht gezweifelt werden kann.

6. Lassalle u n d die nationale F r a g e Die ausgeprägt national-deutsche E instellung Lassalles tritt nicht nur in seinen Stel­ lungnahmen zur auswärtigen Politik und in seiner Forderung eines „Großdeutsch­ land moins les dynasties“ hervor, sondern auch in seiner Nationalitätentheorie, die zwar in vieler Hinsicht mit den diesbezüglichen Auffassungen von Marx und E ngels übereinstimmt, aber zugleich E lemente eines nationalen Imperialismus und einer na­ tionalkulturcllen Sendungsidee enthält. Im Rückgriff auf Hegels Volksgeistlehre und Fichtes Idee des Urvolks gelangte Lassalle zur grundsätzlichen Anerkennung des Na­ tionalitätsprinzips, das in „dem Recht des Volksgeistes auf seine eigene geschichtliche Entwicklung und Selbstverwirklichung“ wurzele 4 4 . Lassalle übernahm Hegels These vom höheren historischen Recht der großen Kul­ turvölker, die - im Unterschied zu den unhistorischen Nationen - zur Menschheits­ entwicklung Wesentliches beigetragen haben. Hingegen bestritt er jenen Völkern ein Recht auf staatliche Existenz, die aus sich heraus nicht imstande seien, zu einem histo­ rischen Dasein zu gelangen, oder dieses zwar einstmals erreicht haben, aber nunmehr „als statuarische Trümmer hinter der Geschichte liegen bleiben“, sowie denjenigen, die durch die raschere und mächtigere E ntwicklung ihrer Nachbarvölker überholt würden, welche damit das Recht besäßen, diese ihrer „Kulturentwicklung“ zu assimi­ lieren 45 . E benso wie Marx und E ngels schränkte Lassalle die Gültigkeit des Selbstbe­ stimmungsrechts der Völker auf die großen Kulturnationen ein und vertrat im übrigen den Standpunkt rücksichtsloser nationaler Assimilation. Nationalstaatliche Unab276

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hängigkeit und innere Freiheit gingen für Lassalle zusammen. Das „Recht auf Auto­ nomie nach innen“ setze die „freie vom Ausland unabhängige Selbstgestaltung eines Volkslebens“ voraus. „Das Prinzip der freien unabhängigen Nationalitäten“ sei daher die Grundlage „des Begriffs der Demokratie überhaupt“ 4 6 . Stärker als Marx aber be­ tonte Lassalle den revolutionären Charakter des Nationalitätsprinzips, das die Forde­ rung ungehinderter innerer Selbstentfaltung aus sich erzeuge. Das Mittel des revolu­ tionären Volkskriegs wurde von Lassalle ausdrücklich bejaht, nicht nur der Krieg ge­ gen Rußland, „unser bestes und notwendiges E rbteil“ 4 7 , sondern vor allem der Krieg mit Stoßrichtung nach Südosten. Der Traum von den deutschen Soldaten- und Arbei­ terregimentern am Bosporus entsprang keinem Gelegenheitseinfall, vielmehr drängte Lassalle bewußt auf eine aktive deutsche Balkanpolitik und erblickte in „einer Umbil­ dung und Neubefruchtung der europäisch-türkischen Länder . . . den gewaltigen Be­ ruf“ einer deutschen Revolutionsregierung 48 . Die Steigerung europäischer Hegemonialpolitik zur Weltmachtpolitik bei Lassalle beweist, wie „tief er von den nationaldemokratischen Strömungen seiner Zeit ge­ prägt“ gewesen ist 49 . Die im „Italienischen Krieg“ konzipierte Stoßrichtung nach Osten und Südosten folgt aus Lassalles Kulturwerttheorie, die einen militärischen Konflikt mit Frankreich als reaktionär und für die deutsche Nationalentwicklung verhängnisvoll erscheinen ließ. Konsequenterweise sprach er sich für den Verzicht auf Elsaß und Lothringen aus. Der Protest der beiden Flügel der deutschen Arbeiterbe­ wegung gegen die Fortsetzung des Deutsch-französischen Krieges nach dem Sturz Napoleons III. entsprach daher auch der Lassalleschcn Tradition. Hingegen ging Las­ salle in der polnischen Frage weiter als Engels, der den Assimilationsgedanken in we­ nig abgewandelter Form vertrat. Lassalle unterschied zwischen dem deutschen und dem russischen Besitzteil am polnischen Gebiet, wenngleich beide auf dem Recht des Eroberers beruhten; aber Rußland habe die Polen nur mit Waffengewalt zu Boden zu halten gewußt, während Deutschland die polnischen Provinzen zu germanisieren und in E roberungen deutscher Kultur zu verwandeln verstanden habe. In der Nationalitätenpolitik Napoleons III. sah Lassalle den Hebel, der die demo­ kratische Revolution vorantreiben und notwendigerweise dessen eigene Machtbasis untergraben müsse. Lassalle scheute nicht davor zurück, in der schleswig-holsteini­ schen Frage das Recht der Nationalitäten zugunsten der deutschen Machtstaatsinter­ essen zu fordern. Dabei gab er sich der Hoffnung hin, für die öffentliche Zustimmung zur Annexion der E ibherzogtümer ein E ntgegenkommen Bismarcks in der Wahl­ rechtsfrage erreichen zu können. Lassalles nationalpolitisches Programm stand in der Tradition des nationalistischen Flügels der Linken in der Paulskirche. E s unterschied sich davon hinwiederum - und damit zugleich von der Marxschen revolutionären Strategie - durch die Identifizierung von nationaler und proletarischer Revolution. Die Herstellung der nationalstaatlichen E inigung sollte nicht der Bourgeoisie überlas­ sen bleiben: Der dumpfe Massenschritt der Arbeiterbataillone werde mit der Zer­ schlagung der Bande eines Produktionszustands, der die Arbeiterschaft zur Ware entmenscht hat, die Bewahrung der Nation vor Zerstückelung und die nationale Wie­ dergeburt bringen 50 . Die „proletarische“ Hegemonialpolitik, die Lassalle vorschwebte, beruhte auf der 277

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von Fichte entlehnten Vorstellung, „die rein geistige Ausbildung der Deutschen“, die sich in der fehlenden staatlichen Zusammenfassung spiegelte, prädestiniere diese dazu, das Reich der Freiheit zu verwirklichen. Indem dem deutschen Nationalcharak­ ter „irgendeine gesonderte Volkseigentümlichkeit“ 51 abgehe, werde der künftige deutsche Staat Abbild des reinen Geistes sein und somit auch den anderen Nationen keine ihnen fremde Nationalität aufzwingen 5 2 . Das „gleichsam nationalitätslose Volk“ der Germanen, das die übernationale Idee des Christentums in sich aufgesogen und verbreitet habe, besitze die Mission, „die gesamte Kulturidee“ zu einer E inheit zusammenzufassen. Der „bisherige Mangel der Nationalität der Deutschen“ sei „ihre Stärke in der Zukunft“ 53 . Im Unterschied zu Fichte trat bei Lassalle die kosmopolitische Komponente stark in den Hintergrund, wenn er auch einräumte, daß in dem Streben einer Nation nach Weltherrschaft an sich eine kosmopolitische Idee liege, nämlich „die Aufhebung der verschiedenen Nationalitäten und ihres Unterschiedes überhaupt“ 54 . E r zog daraus aber keineswegs eine Folgerung im Sinn des Internationalismus, sondern erwartete vielmehr von der sich notwendigerweise einstellenden E rschlaffung des nationalen Prinzips bei der die Weltherrschaft anstrebenden Nation deren machtpolitischen Niedergang. Gewiß sah Lassalle die deutsche Nation im Sinn der Hegeischen Rechts­ philosophie als Führungsvolk der anbrechenden neuen weltgeschichtlichen E poche; doch scheint er an die völlige Verschmelzung der großen Kulturnationen nicht ge­ dacht zu haben, wie er überhaupt dazu neigte, lediglich die nächsten Aufgaben in den Vordergrund zu stellen. Diese aber bestanden für ihn in der Schaffung „der Machtstel­ lung des deutschen Volks“ 5 5 . Bei allen Übereinstimmungen mit den Vorstellungen von Marx und E ngels zur Na­ tionalitätenfrage tritt doch auch der Unterschied deutlich hervor. Bei Lassalle ist es der Wille, die nationale Bewegung unmittelbar der proletarischen Sache dienstbar zu machen, die Revolution im nationalen Rahmen anzustreben und die nationale Soli­ darität dazu zu benutzen, an die Stelle der individualistischen liberalen Honoratio­ rengesellschaft eine ideologisch und sozial festgefügte Gemeinschaft der Nation zu setzen, die, wie die Französische Revolution gezeigt hatte, ungeheure politische Energien freisetzen werde. Auch insofern nimmt die politische Theorie Lassalles, der die Bedeutung des Nationalismus sehr viel realistischer einschätzte als die spätere So­ zialdemokratie, Denkformen der imperialistischen E poche vorweg.

7. „E hernes Lohngesetz“ u n d P r o d u k t i v a s s o z i a t i o n e n Obwohl die nationalökonomischen Vorstellungen Lassalles der Kohärenz erman­ gelten, haben seine ökonomischen Forderungen das Denken der deutschen Arbeiter­ bewegung maßgebend beeinflußt. Marx übte später heftige Kritik an Lassalles Theo­ rie vom „ehernen Lohngesetz“, die dieser in kaum veränderter Form von D. Ricardo und R. Malthus übernommen hatte. Lassalle hatte dabei die bis dahin vorliegenden Marxschen Schriften zur Ökonomie, welche allerdings die Arbeitswertlehre noch 278

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nicht enthielten, vergröbert und in mancher Hinsicht verfälscht. Gerade das, was Las­ salle in der Auseinandersetzung mit Schulze-Deíitzsch aus agitatorischen Gründen am Herzen lag - die Reduzierung der Arbeitswertlehre auf eine eingängige, propa­ gandistisch verwertbare Formel - , rief Marx' beißende Ironie hervor. Aber noch im Vorwort zu Bd. 1 von „Das Kapital“ vermied Marx die gewohnte verletzende Pole­ mik; denn er war sich wohl bewußt, daß Lassalles „Schülerpensa“ im großen und gan­ zen auf eine Vulgarisierung der von ihm seit zwei Jahrzehnten vertretenen ökonomi­ schen Theorie hinausliefen, wenn auch Lassalle Marx' Urheberschaft weitgehend ver­ schwiegen hatte. Das eigentliche Verdienst Lassalles lag in der propagandistischen Zurückdrängung des bis dahin überwiegenden E influsses von Manchesterliberalismus und liberaler So­ zialreform . Lassalle wußte, daß sein „ehernes Lohngesetz“ keineswegs Gültigkeit im Sinn einer absoluten Verelendung beanspruchen konnte, und deutete die schwierigen Implikationen der Werttheorie auch an. In der Situation von 1863/64 genügte es je­ doch, an der These festzuhalten, daß der durchschnittliche Arbeitslohn immer auf den notwendigen Lebensunterhalt reduziert bleiben müsse, „der in einem Volke gewohn­ heitsmäßig zur Fristung der E xistenz und zur Fortpflanzung erforderlich ist“ 56 . Agi­ tatorische Rücksichten bestimmten Lassalle, das Schlagwort vom „Recht auf den vol­ len Arbeitsertrag“ zu propagieren, obwohl es vom nationalökonomischen Stand­ punkt aus auf einer grotesken Simpíifizierung des Verhältnisses von Arbcitslohn und Produktivität beruhte. E bensowenig war Lassalles Interpretation des Grundrenten­ problems gründlich durchdacht. Ihm ging es jedoch ausschließlich darum, darzule­ gen, daß die Lage der Arbeiter ohne eingreifende Veränderung des bestehenden Lohnsystems nicht verbessert werden könne, die liberale „Selbsthilfe“ mithin ein mehr oder minder bewußtes Täuschungsmanöver gegenüber der Arbeiterschaft dar­ stelle. Lassalle konnte die ökonomische Seite seiner Theorie um so mehr vernachlässi­ gen, als sie für ihn ausschließlich taktische Funktion besaß. Die ökonomische Um­ wälzung, die Lassalle mit der Abschaffung des E igentums anstrebte und die, wie er propagandistisch im Nachwort zum „Bastiat-Schulze“ erklärte, auf die Schaffung ei­ nes das ganze Volk umfassenden Mittelstandes 57 abzielte, sollte sich sowieso mittels der nach dem Sieg der „Partei“ eingeleiteten revolutionären Gesetzgebung vollziehen, wobei faktisch die Dekrete der Partei übernommen würden. Nicht anders entsprang auch Lassalles berühmt gewordene Forderung nach Pro­ duktivassoziationen mit Staatskredit einer taktischen E rwägung. E r wollte dem Ge­ nossenschaftsgedanken von Schulze-Delitzsch mit etwas „Praktisch-Greifbarem“ 58 entgegentreten, und gerade die Forderung von Staatshilfe war geeignet, eine klare Ge­ genposition zum Liberalismus aufzubauen. Zudem hatte diese Forderung für Lassalle noch die Funktion, der weithin unter liberalem E influß stehenden, überwiegend handwerklich orientierten Arbeiterschaft das Eintreten für das allgemeine und gleiche Wahlrecht plausibel zu machen. Ohne Zweifel war es eine Rückwirkung der Agita­ tion Lassalles, daß sich die Arbeitervereinsbewegung von ihrer rein sozialpolitischen Orientierung mit gleichzeitiger Unterstützung der fortschrittlichen Parteien - dem englischen Typus der Arbeiterbewegung - löste. Gegenüber Rodbertus-Jagetzow wies Lassalle dann darauf hin, daß er in den Produktivassoziationen mit Staatshilfe 279

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keine Lösung der sozialen Frage, sondern nur eine Verbesserung der Lage der arbei­ tenden Klassen, eine bloße „Anbahnung“, das „leichteste Übergangsmittel“ zur neuen Gesellschaft erblickte. Lassalles Bestreben, den Assoziationen eine aktive Auf­ gabe im Prozeß des Übergangs zur sozialistischen Gesellschaft zuzuweisen, hat den Charakter einer Hilfskonstruktion: E r erwartete die allmähliche Zusammenfassung zu Branchenorganisationen, die sich schließlich auf nationaler E bene zusammen­ schließen würden. Auf Rodbertus' E inwand, damit sei das Problem der Überproduk­ tion und der ökonomischen Krisenanfäíligkeit nicht gelöst, entwickelte Lassalle den Gedanken einer systematischen Marktforschung und meinte, daß die Assoziationen aufgrund ihrer finanziellen Kraft Phasen des Preisverfalls überstehen würden. Die Ausweitung des Assoziationsprinzips auf den landwirtschaftlichen Sektor setzte jedoch sofortige umfassende E ingriffe des Staates voraus, womit sich die Pro­ duktivassoziationen in einfache Staatsbetriebe verwandelten und Lassalle vor demsel­ ben Dilemma stand wie seinerzeit L. Blanc. Aber gerade den ländlichen Assoziatio­ nen, denen der Staat Grund und Boden für eine je nach E rträgen differenzierte Grundsteuer zur Verfügung stellen sollte, maß Lassalle einen „durchbrechenden, wegbahnenden Charakter“ zu, der „zur definitiven Lösung der sozialen Frage all­ mählich führen muß u 5 9 Die Assoziationen würden nach und nach den privaten Zwi­ schenhandel ausschließen, der Verkauf von staatlichen Verkaufsstellen besorgt wer­ den. Auf dieser erweiterten Stufe würde der Staat, um einen gleichen Anteil der Arbei­ ter am gesellschaftlichen Gesamtprodukt zu gewährleisten, auch die Produktionsmit­ tel und E rzeugnisse an sich ziehen. Unter diesen Bedingungen glaubte Lassalle in den vom Staat ausgehenden Assoziationen den „organischen E ntwicklungskeim“ erblik­ ken zu können, der zur Beseitigung der Produktionsanarchic führen werde, wenn auch erst in einem Zeitraum von ein- bis zweihundert Jahren. Kritiker des Assoziationsgedankens stießen sich vor allem daran, daß Lassalle in seinen Agitationsreden die Errichtung der Assoziationen aufgrund einer Initiative des bestehenden, also des preußischen Staates ins Auge faßte. Lassalle hoffte, Bismarcks sozialpolitische Ansätze, vor allen Dingen die Unterstützung der Waldenburger We­ ber, würden ihm in die Hände arbeiten. Zugleich sollten die Produktivassoziationen, ebenso wie der ADAV, vorrevolutionäre Kristallisationskerne für die gesellschafts­ politische Struktur der revolutionären Übergangsphase darstellen. Dies wird durch die autoritäre Führungsstruktur deutlich, die in Lassalles Musterstatut einer Produk­ tivassoziation der Buchdrucker klar hervortritt. Staatsumwälzung mittels des allge­ meinen Wahlrechts und Produktivassoziationen mit Staatshilfe gehörten daher für Lassalle untrennbar zusammen. Der Einwand Bernsteins, daß es unmöglich sei, das kapitalistische System durch auf kapitalistischer Basis produzierende Kollektivunternehmen zu beseitigen, übersah die entscheidende Voraussetzung von Lassalles Überlegungen: die besondere Förde­ rung, die der revolutionierte Staat durch zunächst niedrig verzinste, später gar zins­ lose Kredite den Produktivassoziationen angedeihen ließ. Gegenüber dem E inwand, daß das Prinzip der Lohnzahlung fortbestehe, da die zusätzliche Ausschüttung des Betriebsgewinns nur jährlich erfolgen konnte, verwahrte sich Lassalle ausdrücklich und wandte sich gegen den Gedanken bloßer Gewinnbeteiligung; er wollte den Ar280

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beiter angemessen am Gesamtertrag beteiligen, zunächst auf der Basis der einzelnen Assoziation, auf einer höheren Stufe des wirtschaftlichen Konzentrationsprozesses auf der Basis der Branchen-, schließlich der nationalen Produktion. Na'aman meint, daß Lassalles Pläne letzten E ndes auf einen Staatssozialismus - im Sinn von Rodbertus - mit Normalarbeitstag und Normalarbeitslohn hinausgekom­ men wären 6 0 , und sieht darin einen Bruch mit dessen demokratischer Grundeinstel­ lung. E s ist jedoch unzweifelhaft, daß Lassalle dem Staat im wesentlichen eine Ver­ mittlungsfunktion zur Durchsetzung der kommunistischen Gesellschaft beimaß. Mit späteren kommunistischen Systemen freilich hat Lassalles Theorie gemeinsam, daß aus der unabweisbaren Notwendigkeit, die gesamtgesellschaftliche Produktion zu koordinieren, dem staatlichen Apparat eine derartige zentralistische Machtfülle zu­ fällt, daß die erstrebte Beseitigung des kapitalistischen Systems lediglich zu einem monopolistischen Staatskapitalismus führt. Die entscheidende Differenz zu Marx besteht darin, daß für Lassalle das Problem des Übergangs der kapitalistischen in die sozialistische Produktion unter den Bedin­ gungen eines erst in den Anfängen des Industrialisierungsprozesses sich befindenden Landes im Mittelpunkt stand, während Marx diese Frage nur im Zusammenhang mit der Pariser Kommune und auch dort nur unter Ausklammerung des ökonomischen Aspekts explizit erörtert hat. In Lassalles Sicht waren die Produktivassoziationen ein Mittel, die Akkumulation des Kapitals und die Zurückdrängung des Privatbetriebs voranzutreiben und zugleich die ökonomische Solidarisierung des Proletariats her­ beizuführen. Marx' pointierte Kritik im Gothaer Programmbrief, daß man nicht mit Staatskrediten eine neue Gesellschaft wie eine Eisenbahn bauen könne, ließ außer Be­ tracht, daß Lassalle diese Maßnahmen nur für die Übergangsdiktatur vorsah. Die von den kommunistischen Staaten getroffenen wirtschaftspolitischen Maßnahmen, nicht zuletzt die Kollektivierung der Landwirtschaft - unter allerdings bloß formeller Bei­ behaltung des auch von Lassalle geforderten Prinzips der Freiwilligkeit - , zeigen eine unabweisbare Verwandtschaft mit Lassalles weitgespanntem Assoziationsprogramm und bestätigen dessen Ansicht von der Unvermeidbarkeit eines langwierigen, stufen­ weisen Prozesses der Aufhebung privatkapitalistischer wie staatskapitalistischer Wirtschaftsformen. Die revolutionäre Komponente in Lassalles Assoziationsprojekt ist von seinen An­ hängern und Gegnern weithin verkannt worden, zumal Lassalle es in der Agitation vermied, diese Konsequenz hervorzuheben. Das Gothaer Programm, in das die As­ soziationsidee erneut E ingang fand, veränderte sie allerdings in gradualistischem Sinn. Lassalle hatte daran ein gerütteltes Maß an Schuld, da er seinem Standpunkt des Aussprechens, „was ist“, in dieser Beziehung untreu wurde und er deshalb in der spä­ teren sozialdemokratischen Theorie zu einem Verfechter des Staatssozialismus wer­ den mußte, obwohl die Assoziationsidee gerade zur dialektischen Aufhebung von Staat und Gesellschaft beitragen sollte.

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8. L a s s a l l e als A r b e i t e r f ü h r e r Lassalles politische Rolle in der deutschen Arbeiterbewegung ist in der Forschung stark umstritten. Die westlichen SpezialUntersuchungen sind von dem Lassalle-Bild abgerückt, das H . Oncken, E . Bernstein, K. Haenisch und R. Kampffmeyer gezeich­ net hatten. Andererseits wird im publizistischen Schrifttum, u.a. auch in einer ganzen Reihe populärwissenschaftlicher Arbeiten sozialdemokratischer Provenienz, immer noch Lassalles Bedeutung für die deutsche Sozialdemokratie gegenüber Marx einseitig hervorgehoben und Lassalle zum Kronzeugen für die reformistische Politik der Vor­ kriegssozialdemokratie und für den demokratischen Sozialismus überhaupt gemacht, und dies, obwohl Lassalles politisches Auftreten ohne die Anregungen der politischen Philosophie von Marx nicht denkbar ist. Spiegelbildlich dazu besteht auf kommunistischer Seite das Bestreben, bei der Beur­ teilung Lassalles sich ganz an den späten E ngels anzuschließen und Lassalle für den Durchbruch von Reformismus und Revisionismus, für die Hinwendung zum Staats­ gedanken und die Abkehr vom revolutionären Prinzip in der deutschen Sozialdemo­ kratie verantwortlich zu machen. Die Absicht der marxistisch-leninistischen Ge­ schichtsschreibung, die praktische Führerrolle von Marx und Fingeis in der Frühzeit der deutschen Arbeiterbewegung nachzuweisen, verknüpft sich mit einer übersteiger­ ten Kritik an Lassalle, der einer „arbeiterfeindlichen“ Politik bezichtigt und - in An­ lehnung an einzelne Äußerungen Lenins - geradezu als Inkarnation der in der Arbei­ terbewegung verbreiteten „schädlichen opportunistischen“ Tendenzen dargestellt wird. Aus alldem ergibt sich die paradoxe Situation, daß Lassalle im parteioffiziösen so­ zialdemokratischen Selbstverständnis als der eigentliche Gründer der deutschen So­ zialdemokratie erscheint, während er in der „Geschichte der deutschen Arbeiterbe­ wegung“, die vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED herausgege­ ben wurde, als kleinbürgerlicher Staatssozialist geschildert wird, dem jede revolutio­ näre Perspektive gefehlt, der die welthistorische Rolle des Proletariats verkannt und dessen historische Bundesgenossen, die Bauernschaft und das Kleinbürgertum, miß­ achtet habe, so daß die revolutionäre deutsche Sozialdemokratie gerade im Kampf ge­ gen den Lassalleanismus entstanden sei. Dabei fehlt es nicht an einer moralisierenden Abwertung der persönlichen Integrität des Agitators, in der die Affekte der bitteren Diadochenkämpfe der Zeit von 1865 bis 1871 nachklingen 61 . Die aufgeführten Kontraklischees abstrahieren in weitem Umfang von der tatsäch­ lichen Situation der Jahre 1863/64 und übersehen, daß Lassalles politisches Konzept, trotz dessen nationalstaatlicher Begrenzung, auf die Tradition der europäischen radi­ kalen Demokratie zurückweist. Die historische Analyse der Bedeutung Lassalles für die deutsche Arbeiterbewegung ist aber auf jeden Fall so lange unfruchtbar, als sie nicht unterscheidet zwischen den Intentionen des Agitators und den ideologischen Strömungen, die sich zwar auf ihn berufen haben, denen er aber-analog zu Marx' be­ kannter Äußerung - hatte antworten können, daß er kein Lassalleaner sei. Die Beantwortung der Frage, inwieweit Lassalle als Initiator der Neubildung der Arbeiterbewegung in Deutschland zu betrachten ist, hängt von der grundsätzlichen 282 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35989-2

Bewertung der klassenpolitischen Qualität der frühen deutschen Arbeiterbewegung ab. Marx selbst schrieb Lassalle zu, „nach fünfzehnjährigem Schlummer“ die deut­ sche Arbeiterbewegung zu neuem Leben erweckt zu haben, und bezeichnete dies als „sein unsterbliches Verdienst“ 62 . Dies wird in der marxistisch-leninistischen Ge­ schichtsschreibung allerdings dahingehend abgeschwächt, daß sich Lassalle nur der ohne sein Zutun elementar hervortretenden Arbeiterbewegung bemächtigt habe, um sie auf einen sektenhaften Irrweg zu leiten. Diese habe sich jedoch dann aus eigener Kraft und im Rückgriff auf den unverfälschten wissenschaftlichen Sozialismus noch zu Lebzeiten Lassaües zu befreien gesucht. Voraussetzung dieser Interpretation ist die Annahme einer ungebrochenen Kontinuität der deutschen Arbeiterbewegung seit der Revolution von 1848, die auch von einigen westlichen Autoren 63 vertreten wird. Organisationsgeschichtlich gesehen, bestanden 1863 keine Anknüpfungspunkte an den nach dem Kölner Kommunistenprozeß aufgelösten Bund der Kommunisten und an die - staatlicher Repression zum Opfer gefallene - Arbeiterverbrüderung Stefan Borns, während personelle Verbindungen vorhanden waren. Das Leipziger Zentral­ komitee wollte bewußt an die Tradition der Arbeiterverbrüderung anknüpfen, und der ADAV fand bei früheren Anhängern des Kommunistenbundes, vor allem im Rheinland, beträchtlichen Rückhalt. Die schmale historische Brücke, die über die Re­ aktionszeit zu den Ansätzen der selbständigen Arbeiterbewegung von 1848/49 zu­ rückreicht, führt jedoch in Wirklichkeit zu den von Hirsch, Duncker und Schulze­ Dclitzsch beeinflußten Arbeiterbildungsv er einen, während die entscheidenden Im­ pulse zu einer selbständigen proletarischen Parteibildung 1863—69 fast durchweg von Persönlichkeiten ausgingen, die 1848 nur lose Kontakte zur Arbeiterbewegung besa­ ßen, und eben zu ihnen gehörte auch Lassalle. Auch die Theorie der nie versiegten spontanen Arbeiterbewegung, die durch die Verknüpfung mit dem wissenschaftlichen Sozialismus zu theoretischem Bewußtsein herangereift sei, stützt die Kontinuitätstheorie nur begrenzt, da die Streikaktivität der ausgehenden fünfziger und beginnenden sechziger Jahre unabhängig von den beiden sich herausbildenden Kristallisationskernen, dem ADAV und dem Arbeitervereins­ tag, verlief. Unzweifelhaft jedoch entfaltete sich die Arbeiterbewegung seit 1863 auf einer neuartigen historisch-politischen Grundlage, was durch die - in die Anfänge der I. Internationale fallende-Äußerung Marx' über die frühere „Bewegung in Deutsch­ land wie im Ausland“, die Lassalle verleugnet habe, indirekt bestätigt wird 6 4 . Bei sei­ ner Kontaktaufnahme mit dem Leipziger Zentralkomitee fand Lassalle zwar gewisse Ansätze zu einer selbständigen Arbeiterbewegung vor, aber sie reichten nur in die erst kurz zurückliegende Phase sozialpolitischer Tastversuche des Nationalvereins zu­ rück. Die geschichtliche Bedeutung Lassalles besteht daher nicht so sehr darin, daß er die politische Aktivierung der Arbeiterschaft bzw. relativ kleiner Gruppen des hand­ werklich geprägten Proletariats eingeleitet, sondern daß er der sich entfaltenden Be­ wegung eine spezifisch neuartige Richtung gewiesen und damit diese qualitativ verän­ dert hat. Diese Wendung bestand in der Abkehr vom liberalen „Bewegungs“-Begriff und in dem Schritt zur modernen politischen Parteibildung. Während der Bund der Kommunisten im wesentlichen als elitärer Kern zur Anleitung der Massen in der 283

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künftigen demokratischen Revolution konzipiert war, die Arbeiterverbrüderung stärker einem Interessenverband als einer Partei glich, war der ADAV, dessen Statu­ ten Lassalle selbst entwarf, von vornherein als Massenbewegung mit straffer Organi­ sation gedacht; nicht als potentieller politischer Faktor in der künftigen bürgerlichen Revolution, sondern als auf unmittelbare politische Erfolge abzielende Werbeorgani­ sation, die äußerlich dem Deutschen Nationalverein nachgebildet war. Marx und E ngels vollzogen die gleiche Wendung mit dem Versuch, die I. Interna­ tionale in einen geschlossenen proletarischen Kampfverband umzuschmieden. Wäh­ rend aber die Internationale Arbeiter-Association (IAA) unter dem E influß der briti­ schen Gewerkschafter den Achtstundentag als Nahziel formulierte, griff Lassalle zu der in der Luft liegenden Formel des allgemeinen Wahlrechts, da die ausschließliche Orientierung an revolutionären Zukunftszielen dem ADAV notwendig esoterischen Charakter verliehen hätte. „Ohne das allgemeine Wahlrecht, also eine praktische Handhabe, unsere Forderungen zu verwirklichen, können wir sein eine philosophi­ sche Schule, oder auch eine religiöse Sekte, aber niemals eine politische Partei“, äu­ ßerte Lassalle zu Rodbertus 6 5 . Lassalle legte damit die Grundlage des für die spätere sozialistische Bewegung typischen Dualismus von Gegenwarts- und Zukunftszielen, den er durch entschiedenes Handeln zu überbrücken hoffte. Liebknechts vielzitierte Kritik, daß Lassalle im unklaren gelassen habe, ob seine Forderungen an den beste­ henden oder an den zukünftigen Staat gerichtet seien, verkannte, daß Lassalle diese Unterscheidung bewußt überspielte, schon um polizeiliche Unterdrückung zu ver­ meiden, aber auch um die Arbeiterschaft erst einmal aus der politischen Apathie zu reißen; er hoffte, den bestehenden Staat binnen kürzester Frist seinem E influß unter­ werfen zu können. Angesichts der Konkurrenz des ADAV und unter dem Einfluß ab­ trünniger Lassalleaner, wie Liebknecht und Wilhelm Bracke, ging die zunächst von den liberalen Sozialreformern beherrschte Arbeitervereinsbewegung und spätere E i­ senacher Partei den gleichen Weg zur politischen Parteibildung, der die Spannung zwischen dem „E ndziel und den praktischen Aufgaben“ spürbar machen mußte. Die marxistisch-leninistische Geschichtsschreibung hat - in einem paradoxen Ver­ hältnis zu Lassalles erklärtem Ziel - den für die Arbeiterbewegung schädlichen „Sek­ tencharakter“ des ADAV über Gebühr hervorgehoben. Sie stützt sich dabei auf Marx' Brief an Johann Baptist von Schweitzer vom 13. Oktober 1868, in dem er Lassalle vorwarf, „die reelle Basis seiner Agitation nicht aus den wirklichen E lementen der Klassenbewegung“ genommen zu haben; nicht das Gemeinsame habe er betont, son­ dern gerade die den ADAV von der Klassenbewegung trennenden E lemente 66 . Letz­ ten Endes handelte es sich jedoch dabei genau um jene Punkte, welche die allgemeine Bewegung zur politischen Partei konkretisierten: die gegenwartsbezogene Program­ matik der Wahlrechtsforderung und der Produktivassoziationen mit Staatshilfe, die in allen sozialistischen Programmen dieser E poche wiederkehrten, sowie um Lassalles pointiert antiliberale Propaganda. E . Engelberg erblickte im Anschluß an Marx' Posi­ tion der sechziger Jahre die Merkmale der Lassalleschen Sektenbildung darin, daß Lassalle seiner Agitation einen religiösen Charakter verliehen, daß er den „natürlichen Zusammenhang mit der früheren Bewegung“ 6 7 verleugnet und daß er eine demokrati­ sche Organisation der Arbeiterklasse verhindert habe 6 8 . 284

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Der Vorwurf pseudoreligiöser Propaganda wurzelt primär in der Ablehnung der idealistischen Position Lassalles, denn dessen Agitation konnte, auch wenn sie be­ wußt emotionale Fragen einbezog, stets auf einen rationalen Kern zurückgeführt werden. Die Agitation Lenins sollte sich in formaler Beziehung kaum von der Lassal­ les unterscheiden. Die Unterstellung pseudoreligiöser E lemente wird vor allem mit dem Lassalle-Kult begründet, der sich wohl auf Lassalles egozentrisches Auftreten und die spezifische Organisation des ADAV stützen konnte, in seiner spezifisch pseudoreligiösen Form aber erst nach dessen Tod Verbreitung fand. Dahinter steht jedoch der uneingestandene Vorwurf, daß politische Werbung, wie sie Lassalle be­ trieb - auch mit der Forderung, die Agitation jeweils auf einen spezifischen Punkt zu konzentrieren - , eine Verfremdung des rational verstandenen Klassenbewußtseins des Proletariats darstellt. Die Entwicklung sollte zeigen, daß es nur durch langfristige Organisationsarbeit und E rziehung gefestigt werden konnte, nicht aber durch kurz­ fristige Agitation. Die Kritik, daß Lassalle die vorausgehende Arbeiterbewegung ignoriert habe, übergeht stillschweigend den Tatbestand, daß Lassalle noch 1862 Marx zur politi­ schen Zusammenarbeit aufgefordert, zuvor dessen Rückkehr nach Deutschland be­ trieben und die organisatorischen Zusammenhänge mit den Resten des Kommu­ nistenbundes keineswegs geleugnet hat. Sie haftet zudem an der Äußerlichkeit, daß Lassalle seine Person bewußt in den Vordergrund spielte. Der Kernpunkt aber ist die Ablehnung der Konsequenzen, die mit der Preisgabe des Bewegungscharakters der Partei notwendig verbunden waren. Aus der Sicht des ursprünglichen Leninismus er­ scheint diese Polemik zumindest als fragwürdig. Die marxistisch-leninistische Kritik an dem unzureichenden „demokratischen“ Charakter des ADAV hingegen ist der Sache nach vollauf berechtigt. Die autoritäre Organisationsstruktur des Vereins, die völlig auf Lassalles persönliche Führungsrolle abgestellt war, hat sich schon zu Lebzeiten Lassalles als entscheidendes Hemmnis sei­ ner Ausbreitung erwiesen; nach seinem Tod aber war sie die Ursache für fortwäh­ rende innere Fraktionskämpfe und für die Aufsplitterung des Verbandes. In diesem Sinn trifft es zu, daß der ADAV von vornherein von der Gefahr der Spaltung bedroht war. Absurd aber ist die damit verknüpfte Behauptung - unter Berufung auf die ten­ denziösen E rinnerungen Julius Vahlteichs 6 9 -, Lassalle habe die „richtigen“ sozialisti­ schen Ansichten der Mitglieder des Leipziger Komitees durch das im „Offenen Ant­ wortschreiben“ formulierte Programm zurückgedrängt und so die Entfaltung der Ar­ beiterbewegung behindert. Unzweifelhaft hat Lassalle den entscheidenden Schritt über die Tradition der Arbeiterverbrüderung hinaus getan, wenn auch, wie die Vor­ verhandlungen Lassalles mit dem Leipziger Komitee zeigen, für eine rein sozialisti­ sche Agitation noch alle Voraussetzungen fehlten. Der Wahlrechtsforderung, die da­ mals von August Bebel und Theodor Yorck, aber auch von Marx negativ beurteilt wurde, kam die Funktion zu, einen klaren Trennungsstrich zur Fortschrittspartei zu ziehen, auch wenn das auf Jahre hinaus bei Teilen der Industriearbeiterschaft auf Un­ verständnis stoßen mußte. Durch die Unterbindung demokratischer Beratung und Beschlußfassung auf allen Stufen der Parteiorganisation fehlte ein institutionelles Ventil zur Austragung inner285

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parteilicher Konflikte und persönlicher Rivalitäten. Damit hing die Integration der Mitgliedschaft von der Tatkraft und dem Charisma des Diktators ab. Diese Organisa­ tionsform mußte bei der durch das liberale Vereinsleben hindurchgegangenen Arbei­ terschaft Widerstände auslösen, die zunächst ideologisch indifferent waren. Wo ideo­ logische Divergenzen hineinspielten, wie bei Vahlteich, der gern als Repräsentant für den „richtigen Instinkt“ der klassenbewußten Arbeiter hingestellt wird, obwohl er sich selbst als Weitlingianer bekannte, bezeugen sie die Unreife der Verhältnisse; wie wenig sich die Motive, die z. B. Liebknecht zur Opposition gegen Lassalle bewogen, mit den Gesichtspunkten von Marx und E ngels deckten, ist in neueren Arbeiten 70 klar herausgestellt worden. Auf das Ganze gesehen, stellt es eine Verkehrung der tatsächlichen Situation dar, wenn von marxistisch-leninistischer Seite eine breite innerparteiliche Opposition schon zur Zeit der Gründung des ADAV angesetzt wird, welche die ursprüngliche „proletarisch-revolutionäre Grundlinie“ fortgesetzt habe 71 . Die Opposition entzün­ det sich vielmehr erst an der unhaltbaren Organisationsform und an der einseitigen Wendung gegen die Fortschrittspartei. Denn die mit letzterem faktisch gegebene und von Lassalle auch bewußt angestrebte Annäherung an Preußen wurde nicht verstan­ den; außerdem blieben die erwarteten E rfolge bei den Massen aus, und die ideelle Mo­ torik der Bewegung erschlaffte. Die Forderungen nach einer Reform der Organisa­ tion waren berechtigt. Allerdings waren sie zugleich mit dem Wunsch verknüpft, An­ schluß an die ganz überwiegend liberal orientierten Gesellen- und Arbeitervereine zu finden und alle jene typischen, allgemein demokratisch-republikanischen Wunsch­ zettel in das Programm einzufügen, die Marx dann in der Auseinandersetzung mit dem Gothaer Programm einer unnachsichtigen Kritik unterwarf. Die persönliche Diktatur Lassalles war nicht nur organisationstechnisch ein Fehl­ schlag, sondern beruhte auch auf illusorischen E rwartungen. Sinnvoll war sie nur, wenn es gelang, eine breite, im Verständnis Lassalles revolutionäre Massenbewegung in Gang zu bringen. Daher plante Lassalle den ADAV auch nicht als Klassen-, son­ dern als Volksbewegung, denn ohne die E inbeziehung von Gruppen des Mittelstan­ des war an eine Gewinnung der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung nicht zu den­ ken. Lassalle unterschied sich auch darin von Marx, der im übrigen gleich ihm die Chancen einer Mobilisierung der breiten Masse im Zug der demokratischen Revolu­ tion bei weitem überschätzte, daß er diese gleich von Anfang an der Führung des Pro­ letariats unterstellen wollte. Seine sanguinischen Hoffnungen, der ADAV werde bin­ nen eines Jahres mindestens 50000 Mitglieder haben, gingen nicht in E rfüllung; bei Lassalles Tod zählte er kaum mehr als 3000 nominelle Mitglieder. Damit war die von vornherein fragwürdige Konstruktion einer diktatorischen Führung, die nicht bloß Lassalles exzentrischem Charakter und seiner politischen Theorie, sondern gleicher­ maßen seiner E rwartung einer unmittelbar bevorstehenden revolutionären Situation entsprang, vollends sinnlos geworden. Die Entwicklung der deutschen Arbeiterbewegung und die Annäherung ihrer bei­ den Flügel nach dem Tod Lassalles zeigt, daß auch bei anderer Organisationsform und anderer Taktik das quantitative Wachstum stets weit hinter den E rwartungen der Führungsgruppen zurückblieb. Die Sozialdemokratie stützte sich lange Zeit lediglich 286

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auf eine schmale, überwiegend handwerklich orientierte Arbeiteraristokratie und er­ faßte die eigentliche Industriearbeiterschaft erst seit den achtziger Jahren, die Landar­ beiter bis 1914 überhaupt nicht in nennenswertem Umfang. Der Vorwurf gegen Las­ salle, die Landarbeiter nicht angesprochen zu haben, übergeht den starken Rückhalt des ADAV in einigen agrarischen Gebieten und verkennt den seinerzeit vorhandenen mangelhaften E manzipationsgrad der ländlichen Bevölkerung, den Lassalle gerade durch das allgemeine Wahlrecht hoffte steigern zu können. E benso problematisch ist die Kritik, daß sich der ADAV von „jeder wirklichen Massenbewegung wie den Streiks und den Koalitionen“ abgekapselt habe 7 2 . Die später zwar durch v. Schweitzer revidierte, aber doch grundsätzliche Negierung der gewerkschaftlichen Arbeit rich­ tete sich gegen die Hirsch-Dunckerschen Bestrebungen. Sie beruhte zudem auf der Erwartung einer baldigen Möglichkeit, zu unmittelbarer politischer Aktion zu gelan­ gen, so daß langfristige gewerkschaftliche Organisationsarbeit ausgeschlossen schien. Gerade diese Haltung ist von V. I. Lenin positiv beurteilt worden; er erblickte Lassal­ les eigentliches Verdienst darin, die Bewegung „vom Weg des progressistischen Tra­ de-Unionismus und Kooperativismus“ abgelenkt zu haben, den sie sonst spontan eingeschlagen hätte 73 . Bei der Mehrzahl der gegen Lassalles Politik gerichteten Argumente handelt es sich um Wunschbilder und rückwärts gewandte Projektionen. Die den E rfahrungen des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts entspringende E insicht, daß es jahrelanger Or­ ganisationsarbeit bedurfte, um das Proletariat kampffähig zu machen, während Las­ salle zunächst glaubte, „den Sozialismus plötzlich wie durch einen Zauberschlag als politische Partei auftreten zu lassen“ 74 , alsbald aber über die sich herausstellende „Apathie der Massen“ klagte, ignoriert völlig, daß gerade Lassalle den Anstoß zur Bildung einer festgefügten Massenorganisation gab, ohne sich in den späteren sozial­ demokratischen Organisationsfetischismus zu verlieren. Die revolutionäre Perspek­ tive Lassalles, die von marxistisch-leninistischer Seite allerdings bestritten wird, er­ klärt, warum er an der plebiszitären Führerdiktatur festhielt und die praktischen or­ ganisatorischen Probleme mehr als lästige Begleitumstände empfand: er wollte nicht den proletarischen Staat im Staat, den freilich nur eine langfristige Kaderschulung er­ möglicht, sondern die Machtergreifung im bestehenden, zur deutschen Republik zu erweiternden Staat. Die damals schwachen Ansätze der gewerkschaftlichen Bewe­ gung fielen für eine solche Strategie als irrelevant aus. Andererseits ist es unmöglich, in Lassalle den Prototyp des demokratischen Soziali­ sten zu sehen. Die bonapartistisch-plebiszitären Momente seiner Politik, die autori­ täre Struktur des ADAV und die konsequente Ablehnung des parlamentarischen Prinzips schließen dies einfach aus, obwohl Lassalle den ADAV nicht als klassenpoli­ tisch begrenzte Berufspartei des Proletariats aufbaute. Die Sozialdemokratie erwuchs dann aus der Opposition gegen den autoritären, demokratische Willensbildung ver­ hindernden Organisationstyp und veränderte die ursprüngliche Zielsetzung Lassal­ les, indem sie parlamentarische Interessenvertretung mit der Vorbereitung auf die so­ ziale Revolution verknüpfte und so die Gewinnung der großen Mehrheit des Volkes voraussetzte. Lassalle hoffte zwar auch, die Gesamtheit der unteren Klassen hinter sich zu bringen, aber durchaus nicht weil die Erringung der Majorität den E ntschluß 287

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zu revolutionärem Handeln legitimierte, sondern weil er darin einen revolutionären Machrfaktor erblickte. Die Verurteilung Lassalles als staatssozialistischen Opportunisten, die das kommu­ nistische Schrifttum durchzieht, stützt sich vor allem auf dessen propreußische Orientierung, die als die schädlichste Konsequenz seiner Ideologie hingestellt wird 7 5 . Daß es sich bei Lassalles Annäherung an den preußischen Staat um ein (gescheitertes) taktisches Manöver handelte, daß Lassalle ebenso großdeutsch gesinnt war wie Lieb­ knecht und Bebel, die gegen Lassalles angebliches Bündnis mit der Reaktion noch im Reichstag polemisierten, ist unbestreitbar; was Lassalle von den großdeutschen De­ mokraten trennte, war die Einsicht, daß es aussichtslos war, Preußen von außen her, im Bunde mit Österreich und womöglich in einem französisch-deutschen Konflikt, zerschlagen zu wollen. Seine außenpolitischen Prognosen wurden durch die E ntwick­ lung seit 1866 vollauf bestätigt; sie zwang dann auch die E isenacher Partei dazu, sich mit der kleindeutschen Realität abzufinden. Die Kritik, Lassalles politische Konzeption habe, weil sie keine „bürgerlich-demo­ kratische Revolution“ ins Auge faßte, „für die demokratischen Kräfte des Volkes keine Alternative zur bonapartistischen Politik Bismarcks“ aufgezeigt und sei nur eine Variante der liberalen Politik gewesen 76 , verkehrt Ursache und Wirkung. Lassal­ les Wendung gegen die Fortschrittspartei erfolgte zu dem Zeitpunkt, als die von Marx geforderte Politik, die Bourgeoisie durch radikal-demokratische Forderungen voran­ zutreiben-und das tat Lassalle mit der Forderung des Parlamentsstreiks-, offenkun­ dig zum Scheitern verurteilt war. Der „Verrat der ganzen Arbeiterbewegung an die Preußen“, wie es Engels formulierte 77 , war in Wahrheit nur der vermessene Versuch, die revolutionäre Situation herbeizuzwingen und die preußische Politik ins Schlepp­ tau zu nehmen, nachdem Preußens Führungsrolle in Deutschland unanfechtbar ge­ worden war. Die vielbeschworene Alternative einer demokratischen E inigung Deutschlands gegen Preußen bestand in Wirklichkeit nicht, und damit ist auch das Argument hinfällig, Lassalle habe der preußisch-deutschen Politik Bismarcks in die Hände gearbeitet. Lassalle versuchte vielmehr, den in der deutschen Frage noch be­ stehenden schmalen Handlungsspielraum auszunützen und die nationalen E nergien im Wettlauf mit Bismarck - für die demokratisch-soziale E manzipation fruchtbar zu machen. Dafür fehlten in Deutschland freilich die sozialen Voraussetzungen. Die Konsequenz war der Übergang zu langfristigem Organisationsaufbau und stetiger Massenerziehung. Lassalle gab den Anstoß dazu, gerade weil sein Plan scheiterte. Das Verhältnis des ADAV zum bestehenden Staat gewann unter seinen Nachfolgern not­ wendig eine andere Qualität; taktische Ausnutzung der augenblicklichen Situation wurde zum Hauptinhalt proletarischer Politik.

9. Lassalleanismus u n d M a r x i s m u s r e z e p t i o n „Der Lassalleanismus wurde zum Haupthindernis für das E indringen des Marxis­ mus in die deutsche Arbeiterbewegung“ 78 . Die mit dieser Formulierung vollzogene 288

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Reduzierung des E influsses von Lassalle auf einen ideologiegeschichtlichen Zusam­ menhang übersieht die Tatsache, daß man von einem „Lassalleanismus“ erst seit den erbitterten Auseinandersetzungen zwischen dem ADAV und der sich herausbilden­ den E isenacher Partei spricht. Solange Lassalle lebte, gab es nur eine Partei, die den Anspruch erheben konnte, die Arbeiterschaft zu repräsentieren, seine eigene. Nach Lassalles Tod trat indes im ADAV infolge der Unfähigkeit des auf Lassalle folgenden Präsidenten Bernhard Becker und der E influßnahme der Gräfin Hatzfeld die inner­ parteiliche Opposition immer stärker hervor. Sie entzündete sich sowohl an der Or­ ganisationsfrage als auch an der propreußischen Orientierung, die der ADAV vor al­ lem unter dem E influß v. Schweitzers, ursprünglich Redakteur des „Social-Demo­ krat“, in Anknüpfung an Lassalle einschlug. Die gleichen Streitpunkte bestimmten die Auseinandersetzung mit der Arbeitervereinsbewegung, aus der dann 1869, unter Mitwirkung zahlreicher Lassalleaner, die Sozialdemokratische Arbeiterpartei hervor­ ging. Nach dem Krieg von 1866 zog v. Schweitzer die Konsequenzen aus der veränderten politischen Lage: E r entfaltete eine großdeutsche Propaganda und agitierte für einen „freien Volksstaat“. Damit verloren die programmatischen Gegensätze an Bedeu­ tung; im Grund trennte nur noch die Haltung gegenüber der preußischen Politik die beiden Fraktionen. Der ADAV wies dabei sowohl der Mitgliederstruktur als auch den sozialen Zielsetzungen nach stärker proletarische Züge auf als der Verband der Arbei­ tervereine, dessen volksparteilich-demokratischer E inschlag auch nach der Grün­ dung der E isenacher Partei erhalten blieb. Im Ringen beider Fraktionen miteinander, aber auch in den inneren Positions­ kämpfen des ADAV war die Berufung auf Marx und die Anlehnung an die I. Interna­ tionale überwiegend eine taktische Frage. Nicht Liebknecht war der eigentliche Vor­ kämpfer für einen Anschluß der deutschen Arbeiterbewegung an die IAA, sondern die von Johann Philipp Becker geleitete Sektionsgruppe deutscher Sprache der IAA in Genf; und v. Schweitzers Versuch, Marx zu gewinnen, richtete sich vor allem gegen die erstarkende Konkurrenz Bebeis und Liebknechts. Marx aber hoffte, er könne den ADAV als Plattform für die Verbreitung des 1867 erschienenen 1. Bandes von „Das Kapital“ benützen und ihn zum Beitritt zur IAA bewegen. In internen Äußerungen ließ Marx jedoch keinen Zweifel an seiner E ntschlossenheit, den ADAV auf lange Sicht auf eine völlig andere Basis zu stellen. Die Mitarbeit von Marx und E ngels am „Social-Demokrat“ kam jedoch über Ansätze nicht hinaus: v. Schweitzer war nicht bereit, Marx die angestrebte Schlüsselstellung einzuräumen, und den offenen An­ schluß an die IAA wollte er vermeiden, um nicht die legale Existenz des ADAV aufs Spiel zu setzen. E benso scheuten die Eisenacher vor einem formellen Beitritt zur IAA zurück, und ihre Anerkennung des proletarischen Internationalismus blieb vorwie­ gend Lippenbekenntnis. Bebel und Liebknecht standen zwar in persönlichen Bezie­ hungen zu Marx, das bedeutete aber nicht, daß sie mit ihren früheren politischen An­ schauungen brachen. Stärkere sozialistische Impulse kamen bezeichnenderweise von ehemaligen Lassalleanern, während Liebknecht die republikanisch-demokratische Tradition von 1848 zum festen Bestandteil der sozialdemokratischen Programmatik machte. 289 19

Mommsen, Arbeiterbewegung

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Wenn Marx und E ngels dazu neigten, alle E rscheinungen von Unreife und man­ gelnder Prinzipienfestigkeit dem E influß des Lassalleanismus zuzuschreiben, über­ schätzen sie bei weitem ihren eigenen prägenden E influß auf die Bebel-Liebknecht­ sche Richtung. Zu dieser irrtümlichen Vereinfachung der Fronten trug die emotionale Aufladung des Begriffs „Lassalleanismus“ entscheidend bei. Die politische Theorie Lassalles war von seinen Anhängern nur oberflächlich rezipiert worden; das hegelia­ nische und idealistische E rbe trat völlig zurück, und Lassalles Glaube an die Notwen­ digkeit des Handelns in einer bestimmten weltgeschichtlichen Situation geriet in dem Maß in Vergessenheit, in dem die preußische Armee diese veränderte. Geblieben wa­ ren allein die zunehmend verabsolutierten taktischen Forderungen, die, nicht mehr mit Lassalles revolutionärem Voluntarismus verknüpft, nunmehr zum Dogma er­ starrten. E s ist bemerkenswert, daß ein so scharfsinniger Theoretiker wie Lenin Las­ salle nicht theoretische, sondern ausdrücklich taktische Verirrungen unterstellte 79 . Der Verlauf des Deutsch-Französischen Kriegs 1870/71 machte die entscheidende taktische Divergenz der beiden Flügel der deutschen Arbeiterbewegung in der Frage der deutschen E inheit gegenstandslos. Nur die Organisationsfrage, und damit per­ sönliche Rivalität, standen einer Vereinigung entgegen. Die gemeinsame Frontstel­ lung gegen die Fortsetzung des Kriegs und für die Pariser Kommune ergab sich zwangsläufig aus der veränderten innenpolitischen Situation, welche die Liberalen an die Seite der Regierung zurückführte und die Arbeiterbewegung politisch isolierte. Um den E inigungsprozeß in Gang zu bringen, bedurfte es nicht erst des Anstoßes der Kommune, wie E . Hackethal 80 gemeint hat, wenngleich die Solidarisicrung mit den Pariser Arbeitern den Zusammenschluß beschleunigte. Auch bedarf es nicht der An­ nahme, daß sich der „revolutionäre Instinkt“ der proletarischen Massen gegen den Opportunismus der Führer des ADAV durchgesetzt h a b e - das Zusammenrücken der bald im gleichen Maß polizeilichen Verfolgungen ausgesetzten Flügel der Bewegung entsprang der gewandelten Konstellation, auf die das Lassalle zu Unrecht unterstellte Wort, daß die bürgerlichen Parteien „eine einzige reaktionäre Masse“ darstellen, weitgehend zutraf. Dieser Prozeß verlief aber keineswegs synchron mit einer Durch­ setzung marxistischer Vorstellungen; die organisierte Arbeiterschaft hielt vielmehr in ihrer übergroßen Mehrheit an der Lassalleanischen Tradition fest. Auch der Rücktritt und der Parteiausschluß v. Schweitzers war nur eine Konsequenz des völligen Fiaskos seiner immer stärker in preußisches Fahrwasser geratenen Politik. Lassalle hatte die politische Isolierung der Arbeiterbewegung, die bis 1917 anhielt, vorausgesehen und mit einer grandiosen Flucht nach vorn, die selbst vor einem takti­ schen „Kokettieren“ mit Bismarck nicht zurückscheute, unterlaufen wollen. Die Reichsgründung und die Niederlage der Kommune erwiesen die E rfolglosigkeit sei­ ner Strategie. Zugleich aber bedeutete diese Entwicklung die historische Widerlegung aller Bestrebungen, die 1848 unterlegene radikale bürgerliche Demokratie in erneu­ tem revolutionärem Anlauf zum Sieg zu führen. Nach der Niederwerfung der Kom­ mune war die zwischen Marx und Lassalle, zwischen E isenachern und Lassaíleanern einstmals lebhaft umstrittene Frage, ob das Proletariat die bürgerlich-demokratische Revolution vorantreiben sollte, um sich in der zweiten Stufe an deren Spitze zu stel­ len, oder ob es sofort den Griff nach der Macht - in Koppelung demokratischer und 290

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sozialistischer Ziele - gegen die Bourgeoisie anstrebean sollte, geschichtlich erledigt. Der Zerfall d e r l . Internationale war die einfache Konsequenz dessen, daß die Zeit für eine an der Lage des Jahres 1848 orientierte internationale demokratisch-revolutio­ näre Bewegung abgelaufen, Marx' revolutionäre Strategie mithin ebenso widerlegt war wie Bebeis Illusion, binnen einer Handvoll von Jahren die politische Macht errin­ gen zu können. Marx' wider besseres Wissen unternommene Glorifizierung der Pari­ ser Kommune verdeckte nur die Einsicht, daß die Stabilisierung des bürgerlichen Na­ tionalstaats zwang, den „revolutionären Plunder“ für absehbare Zeit einzupacken. Der Lassalleanismus hatte unter den völlig veränderten Bedingungen der kleindeut­ schen Reichsbildung für die sozialdemokratische Bewegung nur noch eine traditio­ nelle Funktion; das allgemeine Wahlrecht hatte seinen Zauber eingebüßt, und die Produktivassoziationen waren von rein deklamatorischem Wert. Gegenüber der „verschwommenen Bewegung der Marxianer“ gewann jetzt der Organisationsge­ danke des Lassalleanismus neues Gewicht und fand in Bebel seinen vornehmsten Apologeten. Mit dem Marxverständnis der deutschen Sozialdemokratie hatte er die Unterschlagung des voluntaristisch-revolutionären Charakters von Lassalles Theorie gemeinsam; so konnte der Lassalleanismus in eine sozialistisch-reformistische Staats­ idee und eine Anerkennung des Parlamentarismus umgedeutet werden. Die partielle Rezeption des Marxismus, die nicht mit Marx' „Kapital“ (1867-94), das ohne Brei­ tenwirkung blieb, sondern mit E ngels' „Anti-Dühring“ (1878) anzusetzen ist, hat der Lassalle-Tradition fast überhaupt keinen Abbruch getan. Hatte doch der Marxismus der deutschen Sozialdemokratie im wesentlichen die von E ngels zur „proletarischen Weltanschauung“ fortgebildete Marxsche Geschichtsphilosophie, nicht aber die re­ volutionäre Strategie zum Inhalt, während der Lassalleanismus zu einem Konglome­ rat taktischer Aushilfen degenerierte. Das erklärt, warum Marx und Lassalle nahezu gleichrangig in der sozialdemokratischen Tradition lebendig blieben.

10. Geschichte der L a s s a l l e - D e u t u n g Die große Popularität, die Lassalle vor allem posthum errang und die in Gotha zum Gemeingut der Bewegung wurde, hat verhindert, daß die E nthüllungen Bismarcks von 1878 über seine Verhandlungen mit Lassalle, die tendenziösen E rinnerungen von Sophie Sontzeff und Helene v. Dönniges und die einseitigen Publikationen der Gräfin Hatzfeldund B. Beckers seinem Ansehen ernstlich Abbruch taten. Wenn F. Mehring - ebenso wie Bernstein - Lassalle trotz dessen idealistischer Grundhaltung in die Tra­ dition des wissenschaftlichen Sozialismus einbezog und zeit seines Lebens an dessen persönlicher Hochschätzung festhielt, entsprach er dem Bedürfnis nach einem alle Strömungen des Sozialismus umfassenden, harmonischen Geschichtsbild der Sozial­ demokratie, deren Selbstverständnis zunehmend traditional geprägt war. Daher fand denn auch die Lassalle-Kritik von E ngels nur bei einzelnen Vertretern des marxisti­ schen Zentrums Widerhall und hinderte den vorrevisionistischen Bernstein nicht an seiner im wesentlichen positiven Lassalle-Deutung. Trotz aller Vorbehalte rühmte 291

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auch K. Kautsky, Lassalle habe dem deutschen Proletariat „geistige Selbständigkeit und Überlegenheit“ gebracht 81 . Für die Fixierung des Lassalle-Bildes war bezeich­ nend, daß zur gleichen Zeit, als Bernstein Lassalle mit dem Revisionismus in Zusam­ menhang zu bringen versuchte, R. Luxemburg Mehrings Deutung übernahm und Lassalle als bewußten Massenführer apostrophierte. Die Agitationsschriften Lassalles blieben Grundtexte der sozialdemokratischen Theorie. Das Interesse an Lassalle wurde durch Bernsteins E dition der „Reden und Schriften“ (1891-93), die Veröffentlichung von Teilen des Nachlasses durch Meh­ ring 82 und zahlreiche Dokumentationen im „Archiv für die Geschichte des Sozialis­ mus und der Arbeiterbewegung“ neu belebt. Das volle Ausmaß des Konflikts zwi­ schen Marx und Lassalle blieb jedoch bis zur Veröffentlichung des (gleichwohl immer noch gekürzten) Briefwechsels zwischen Marx und E ngels (1913) unbekannt. E in exaktes Bild wurde erst durch Mayers 8 3 Auffindung und kritische E dition des Nach­ lasses von Lassalle (1921-1925) und die Veröffentlichung des Briefwechsels mit Bis­ marck (1928) möglich. Die pointierte Abwertung Lassalles im kommunistischen Lager geht auf die zweite Hälfte der zwanziger Jahre zurück. Das Bestreben, ausschließlich Marx und E ngels als Führer der deutschen Arbeiterbewegung herauszustellen und den Bund der Kommunisten als Vorform der Kommunistischen Partei zu deuten, entstand erst im Zusammenhang mit der nach dem Tod Lenins vollzogenen Verabsolutierung von des­ sen politischem und theoretischem Lebenswerk. Vorher galt Lassalle zumindest als gleichberechtigter Gründer der Sozialdemokratie, und Mchring glaubte 1911, eine „linke“ Lassalle-Renaissance voraussagen zu können. In den ersten Jahren der bol­ schewistischen Herrschaft wurden Lassalles Werke frei vertrieben. N. Majskijs Bio­ graphie (1923) 84 hielt sich durchaus im traditionellen Rahmen. E benso wurden ein­ zelne Schriften von Lassalle, darunter das Jugendtagebuch, die Verfassungsreden und das Arbeiterprogramm von kommunistischen Verlagen neu aufgelegt. Noch im Jubi­ läumsjahr 1925 wurde Lassalles historische Leistung für den Sozialismus im her­ kömmlichen Sinn gewürdigt, und der von D. Rjazanov redigierte erste Band des „Marx-Engels-Archivs“ enthielt als Anhang zu einer Marx-E ngels-Bibliographie ein Verzeichnis des Lassalle-Schrifttums. Im gleichen Jahr jedoch leiteten einige Aufsätze von H. Duncker und G. Lukács' 8 5 Besprechung des Lassalle Briefwechsels auch den Übergang zur Abwertung Lassalles ein. Duncker zweifelte, ob Lassalle in die Reihe der großen Kommunisten von Marx bis Lenin hineingehörte, und setzte so den Anfangspunkt für die bald allgemein sicht­ bar werdende Tendenz, die zunehmende Entfremdung der deutschen Sozialdemokra­ tie von der Marxschen Theorie und ihre Verwurzelung im Lassalleanismus hervorzu­ heben, Lenin dagegen und die kommunistischen Parteien als direkte Vollstrecker des Marxschen E rbes hinzustellen. Währenddessen sprach Lukács von einer Lassalle-Re­ naissance, die im Anzug sei und den theoretischen Versuch darstelle, „die E ntwick­ lung bei der bürgerlichen Revolution festzuhalten“. E r hielt es für wahrscheinlich, daß Lassalle „zum führenden Theoretiker des linken Revisionismus“ werden wür­ de 8 6 . Diese Prognose trat mit H. Kelsens Aufsatz „Marx oder Lassalle“ (1925) und K. Renners 87 „Lassalles geschichtliche Stellung“ (1925) auch ein. Die Diskussion ent292

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zündete sich an der Frage der Funktion des Staates im Sozialismus. Die von H . Cu­ now und Kautsky noch gewahrte E inheit der Marxschen und Lassalleschen Tradition wich einer schroffen Kontrastierung beider Denker, die schließlich bis zur Leugnung einer effektiven Marxrezeption durch die deutsche Sozialdemokratie auf der einen Seite (K. F, Brockschmidt, 1929) und zu einer pointierten Lassalle-Verherrüchung auf der anderen Seite (K. Haenisch, P. Kampffmeyer) 88 führte, die z.T. noch im ge­ genwärtigen sozialdemokratischen Schrifttum fortgesetzt wird. Die Hinwendung zu Lassalle, die in der sozialdemokratischen Publizistik lebhaft zum Ausdruck kam und vor allem von der jüngeren Generation getragen wurde, entsprang dem Willen, sich vom orthodoxen Marxismus kautskyanischer Prägung zu lösen und zugleich das Ver­ hältnis der Sozialdemokratie zur Weimarer Republik und zur nationalen Frage auf eine zeitgemäßere Grundlage zu stellen. Repräsentativ für diese Wendung war K. Schumachers 1926 publizierte Dissertation über den „Kampf um den Staatsgedanken in der deutschen Sozialdemokratie“. Dagegen fand Renners Versuch, in Anknüpfung an Lassalle eine sozialistische Rechtstheorie zu entwickeln, wenig Resonanz. Lukács' knappe Analyse des politischen Weltbilds von Lassalle ging wesentlich tie­ fer als das übrige Schrifttum der zwanziger Jahre und lenkte auf Lassalles philosophi­ schen Ansatz zurück; seine Urteile stimmen dabei in erstaunlichem Maß mit denjeni­ gen Lenins überein. Lukács hob Lassalles Hegelianertum hervor, das diesen - im Ge­ gensatz zu Marx' historischer Dialektik - auf den Weg der „Irrationalität des rein in­ dividuellen E ntschlusses“ gewiesen und bewirkt habe, daß die Verknüpfung von Ar­ beiterbewegung und wissenschaftlichem Sozialismus bei ihm rein äußerlich geblieben sei. Indem er Lassalle die Qualität eines „vormarxistischen Denkers“ beimaß, deutete er ihn als Vertreter der „bürgerlichen Revolution“ trotz unbestreitbar sozialistischer Zielsetzungen. Lukács kam der Konzeption von Lassalle sehr nahe, wenn er meinte, Lassalle habe diese bürgerliche Revolution derart umfassend, gründlich und tief kon­ zipiert, „daß die bürgerliche Gesellschaft zu ihrem Vollziehen bereits prinzipiell un­ fähig sein muß“. Lassalle habe hier ahnend am Tor eines Zusammenhangs gestanden, der erst durch Lenin klargeworden sei, daß nämlich nur das Proletariat diese Revolu­ tion vollführen könne 8 9 . Lassalle hatte diese Konsequenz tatsächlich gezogen; dabei kam dann dem Über­ gangszustand der „Diktatur der Einsicht“ ein ganz anderes Gewicht zu, und die Auf­ hebung des Staats konnte sich nur in einem allmählichen Prozeß vollziehen. Die Ana­ logie der Situation Lassalles mit derjenigen Lenins vor der Oktoberrevolution, auf die schon Ramm hingewiesen hat, folgt nicht nur daraus, daß beide überzeugt waren, eine einmalige historische Konstellation zur Uberspringung der Phase der voll durchge­ setzten bürgerlichen Revolution ausnützen zu können, sondern auch aus der wichti­ gen Rolle, die der Vergleich mit der preußischen Politik von 1863/64 in der Auseinan­ dersetzung zwischen Lenin und den Menschewiki gespielt hat. Lenins Verhältnis zu Lassalle, das durch die stets in einem taktischen Zusammenhang stehenden Äußerun­ gen wenig einheitlich erscheint, ist bislang nicht hinreichend analysiert worden. Daß sich Lenin mit Lassalle eingehend befaßt hat, ergibt sich aus gelegentlichen Zitaten aus Lassalles Agitationsschriften, aus der Aufmerksamkeit, die Lenin den für Marx' Be­ ziehungen zu Lassalle einschlägigen Stellen des Briefwechsels zwischen Marx und E n293

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gels gewidmet hat, sowie aus der sorgfältigen Lektüre des „Herakleitos“, bei der er zu dem negativen Urteil gelangt sei, daß Lassalles Werk „im Grunde ein Abschreiben von Hegel“ sei 90 . In der Zeit seiner eingehenden philosophischen Studien kam Lenin zu der durchaus zutreffenden Auffassung, daß Lassalle „Hegelianer vom alten Schlag“ und „Idealist“ geblieben sei 91 und für die materialistische Dialektik kein Ver­ ständnis aufgebracht habe, somit gegenüber Marx ideengeschichtlich auf der Stelle ge­ treten sei. Der starken Abwertung der Theorie Lassalles stehen jedoch aus der frühe­ ren Zeit eine Reihe vergleichsweise positiverer Äußerungen über Lassalles Arbeiter­ agitation gegenüber, die klar erkennen lassen, daß sich Lenin nicht einfach den ab­ schätzigen Urteilen von Marx und E ngels anschloß und hinsichtlich der politischen Wirksamkeit Lassalles zu einem modifizierten Urteil gelangte. Das Motto, das Lenin aus einem Brief Lassalles an Marx seiner Schrift „Was tun?“ voranstellte 92 , und die Betonung, die er unter Berufung auf Lassalle auf die Notwen­ digkeit „eines verzweifelten Kampfes gegen die Spontaneität“ gelegt hat, stellen ihn in der Frage des Verhältnisses von Führung und Massenbewegung auf die Seite Lassalles. Seine Formulierung, „daß der sowjetische sozialistische Demokratismus keineswegs im Widerspruch steht zum Prinzip der E inzelleitung und zur Diktatur, daß der Wille der Klasse mitunter durch einen Diktator verwirklicht wird“ 9 3 , lag durchaus auf der Linie der E rziehungsdiktatur Lassalles, und es lassen sich bei aller Verschiedenheit in der Haltung gegenüber dem dialektischen Materialismus persönliche E ntsprechungen finden, welche die partielle Affinität Lenins zu Lassalle erklären. Wie R. Luxemburg sah auch Lenin in Lassalles Hervorhebung der Machteroberung und in dessen Willen zu straffer ideologischer Führung eine Bestätigung der eigenen Politik. Inwieweit Le­ nin auch bei der Formulierung der den besonderen Verhältnissen Rußlands entsprin­ genden Theorie von der Partei als der Avantgarde des Proletariats und ihrem Verhält­ nis zu den durch sie zum revolutionären Bewußtsein erzogenen Massen von Lassalle angeregt worden ist, muß offenbleiben. Auf jeden Fall betonte Lenin - im Unter­ schied zu Marx, der davon ausging, daß die lebendige Bewegung ideologische Irrtü­ mer selbsttätig von sich abstreifen w e r d e - analog zu Lassalle die Notwendigkeit einer bewußten Indoktrination der Massen. In der Frage der Haltung Preußens im Italieni­ schen Krieg dagegen stimmte Lenin dem Standpunkt von Marx zu und lehnte Lassal­ les Liebäugeln mit Bismarck als Opportunismus ab. Allerdings zeigt seine Bemer­ kung, Lassalle habe sich „dem Sieg Preußens und Bismarcks, dem Fehlen einer ausrei­ chenden Stoßkraft der demokratischen Nationalbewegungen in Italien und Deutsch­ land“ 9 4 angepaßt, daß er die Lage Lassalles weit realer eingeschätzt hat als Marx und Engels; und sie macht auch Lenins klare Einsicht deutlich, daß Lassalle auf eine breite bürgerliche Massenbewegung gar nicht hoffen und warten konnte, obgleich er erklä­ rend hinzufügte, daß ein Eingreifen Preußens 1859 der Volksbewegung einen Anstoß gegeben hätte. Die relative Anerkennung Lassalles durch Lenin, zugleich die Tendenz zur Aufwertung der nationalen Tradition der Arbeiterbewegung, hat zu einer Modi­ fizierung des im ganzen pointiert abschätzigen Lassalle-Bildes der marxistisch-lenini­ stischen Historie beigetragen. „E ine Konzeption, die die Lostrennung der fortge­ schrittensten Arbeiter von der Bourgeoisie als wesentlichen Inhalt der ersten Haupt­ periode der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung erkennt, läßt keinen Raum 294

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für eine bloß negative E inschätzung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins und seines Gründers, wie sie in der Vergangenheit in populären Arbeiten bisweilen unter­ lief“ 95 . Die politische Aktualität von Lassalles Theorie verblaßt immer mehr. Die Deutung seiner Persönlichkeit in der westlichen und der marxistisch-leninistischen Forschung scheint hingegen aufs neue in Bewegung zu geraten. Die Frontstellungen verlieren die bisherige Ausschließlichkeit, zumal von zionistischer Seite 96 Lassalles Negierung des Judentums als wichtiger Faktor seines politischen Verhaltens herangezogen und der Versuch gemacht wird, Lassalle als „Juden und Arbeitermessias eine neue Tiefendi­ mension“ zu verleihen 97 .

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13. Friedrich E bert als Reichspräsident 1. F r i e d r i c h E bert im Bild der N a c h w e l t Die Erschütterung, die der Tod Friedrich E berts am 28. Februar 1925 bei der deut­ schen Bevölkerung und bei all jenen, die mit ihm amtlich oder privat zusammentrafen, auslöste, ist ein Zeugnis dafür, daß er in seiner sechsjährigen Amtszeit, die durch töd­ liche E rkrankung abrupt beendet wurde, das Vertrauen breiter Schichten des Volkes erworben hatte und daß allenthalben bewußt geworden war, wie sehr die ruhige, aus­ gleichende und menschlich einnehmende Haltung Friedrich E berts dazu beigetragen hatte, die von Krise zu Krise taumelnde Republik einigermaßen zu stabilisieren. In den E rinnerungen der zeitgenössischen Politiker überwiegen, unabhängig von ihrer parteipolitischen Zugehörigkeit, Urteile der Anerkennung und der persönlichen Hochachtung. „Dieser Mann, der in seiner E rscheinung für den ersten flüchtigen Blick ein Durchschnittsbürger schien, besaß einen Zauber des Wesens, dem sich we­ nige entziehen konnten“, urteilte der Reichsjustizminister Gustav Radbruch. Die menschliche Wärme, die persönliche Bescheidenheit und die Zurückhaltung im äußeren Auftreten ist von denen, die E bert vom persönlichen Umgang her kannten, immer wieder gerühmt worden. Gleichwohl fehlte E bert alles, was ihn hätte populär machen können. E r war kein Redner, der im entscheidenden Moment sich die Gunst der Massen zu erringen vermochte. Seiner zurückhaltenden Art widerstrebte es, sich in den Vordergrund zu spielen oder seine politischen Verdienste hervorzuheben. Die schlichte Würde seines Auftretens sicherte ihm Sympathie bei vielen, aber verhinder­ te, daß ihm spontane Begeisterung zuströmte. Der Mann im einfachen Gehrock war nicht nach dem Geschmack jenes Bürgertums, das sich nach den Uniformen der Wil­ helminischen E poche zurücksehnte. Aber auch der Arbeiterschaft, aus der er kam, blieb er fremd, und zwar in dem Maße, in dem diese sich von der demokratischen Re­ publik von Weimar enttäuscht sah. Im Oktober 1922, als die Verlängerung der Amts­ zeit E berts in Frage stand, äußerte der spätere Reichskanzler Gustav Stresemann zu dem britischen Botschafter Viscount d'Abernon: „Das Seltsame an der Wahl oder Wiederwahl E berts ist, daß er, dieser Mann aus dem Volke, vom Volk nicht geliebt wird, während ihm die Intellektuellen Liebe und Achtung entgegenbringen.“ 1 Stre­ semann führte dies darauf zurück, daß sich das deutsche Volk an einen Präsidenten im Zylinder noch nicht gewöhnt habe. Gewiß war das nicht alles; die schwierige Stellung eines Präsidenten zwischen den parteipolitischen Fronten in der Anfangsphase der Weimarer Republik, die Belastung seines Amtes mit zahllosen unpopulären E ntscheidungen, die unversöhnliche Geg­ nerschaft der äußersten Linken und der äußersten Rechten, die in den sechs Jahren sich in maßlosen Verunglimpfungen und Beleidigungen übergipfelte, haben ein ge­ rechtes Bild von dem politischen Wirken dieses Staatsmanns in seiner Zeit nicht ent296

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stehen lassen. Vor allem aber wirkte ein, daß die Masse des deutschen Volkes kein hin­ reichendes Verständnis der Bedingungen demokratischer Politik besaß, die äußere Symbole und emotionale Appelle hinter nüchternen Interessenausgleich zurücktreten lassen. Die politische Biographie Eberts ist nur bis zu dem Zeitpunkt wissenschaftlich dar­ gestellt worden, zu dem die siegreiche Beendigung des E rsten Weltkrieges durch die Mittelmächte zweifelhaft wurde und die Geschlossenheit der Sozialdemokratischen Partei über der Frage der Kriegskredite und Kriegsziele zerbrach 2 . Insbesondere die Tätigkeit E berts als Reichspräsident hat bislang noch keine erschöpfende Untersu­ chung erfahren, obwohl sich die historische Forschung weithin darin einig ist, daß Ebert entscheidend zur Stabilisierung der Weimarer Republik beigetragen und ihre innere E ntwicklung maßgebend mitbestimmt hat. Die zähe, aufreibende politische Arbeit des Präsidenten vollzog sich zum größten Teil nicht im Lichte der Öffentlich­ keit. Vieles ist aus den Erinnerungen der Zeitgenossen bekannt, einzelne Phasen sind durch Detailuntersuchungen erschlossen, aber erst ein sorgsames Studium der Akten vermag die Konsequenz, mit der E bert eine Politik des Ausgleichs der Gegensätze und Bewahrung staatlicher Kontinuität trieb, zu zeigen und die ständigen Bemühun­ gen um politische Integration darzutun, die dazu führten, daß Ebert schließlich in den „Sielen“ starb, woran die verantwortungslose Hetze der politischen Rechten einen wesentlichen Anteil gehabt hat 3 . Die nachfolgende Studie kann nicht beanspruchen, diese Lücke der Forschung zu füllen; sie ist indessen von dem Bestreben bestimmt, einige der wesentlichsten Linien herauszuarbeiten, die Schwierigkeiten der Aufgaben, vor denen E bert als Reichsprä­ sident gestanden hat, darzulegen und insoweit über die Würdigung seiner staatsmän­ nischen Leistung zur Schilderung seines praktischen Tuns vorzudringen. Als Reichs­ präsident war Friedrich E bert mehr als in einem äußeren Sinne Repräsentant der Weimarer Republik, ihrer Möglichkeiten, in mancher Hinsicht aber auch ihrer struk­ turellen Gefährdungen. Wie er selbst allen Formen des Heroismus fremd gegenüber­ stand, wird ihm eine Geschichtsbetrachtung nicht gerecht, die nach genuinem politi­ schen Führertum Ausschau hält. Nur auf dem Hintergrund der tiefen Widersprüche, die der Weimarer Republik aufgrund ihrer improvisierten E ntstehung anhafteten, wird man dem Werk und der Persönlichkeit Friedrich E berts gerecht werden können.

2. Die Wahl zum Reichspräsidenten Am 11. Februar 1919 wurde Friedrich Ebert aufgrund des Gesetzes über die vorläu­ fige Reichsgewalt von der Deutschen Nationalversammlung in Weimar mit 277 von 379 abgegebenen Stimmen zum Reichspräsident gewählt. Die Tragweite dieser E nt­ scheidung ist den Mitgliedern der Nationalversammlung kaum klargeworden. Die Berufung E berts mochte ein Symbol dafür sein, daß an die Stelle des unaufhebbar scheinenden Gegensatzes der sozialdemokratischen Arbeiterschaft zum wilhelmini­ schen Reiche nunmehr die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit dem Staat getreten 297

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war. Zugleich war E berts Präsidentschaft die Konsequenz der E ntwicklung, die von der Räteherrschaft zur Einberufung der Nationalversammlung und damit von revolu­ tionärem Umbruch zu gemäßigtem Reformismus geführt hatte. Als letzter Reichs­ kanzler des wilhelminischen Deutschland und unbestrittener Führer der Mehrheits­ sozialdemokratie, zugleich als Vorsitzender des Rats der Volksbeauftragten hatte Ebert entscheidende Verdienste daran, daß es gelungen war, gegen den Widerstand der Unabhängigen Sozialdemokratie und der spartakistischen Linken den raschen Zu­ sammentritt der Nationalversammlung zu erreichen. Auch wenn die Wahl E berts vorläufigen Charakter hatte, rückte er damit in eine Stellung, die es ihm verbot, un­ mittelbar in die Auseinandersetzungen der Fraktionen der Nationalversammlung ein­ zugreifen. Während E bert bis zum Zusammentritt der Nationalversammlung die un­ bestrittene Führung der SPD ausübte und sich gegenüber den auseinanderstrebenden Gruppierungen immer wieder durchzusetzen verstanden hatte, konnte er nunmehr nur aufgrund seiner engen persönlichen Bindungen zu den sozialdemokratischen Führern die Politik seiner Partei beeinflussen. Die Gründe, die Friedrich E bert bewogen haben, das Amt des Reichspräsidenten bewußt anzustreben, werfen bezeichnendes Licht auf seine politische Gesamtkon­ zeption. E s kann kein Zweifel sein, daß E bert aus eigenem E ntschluß die Nominie­ rung zum Reichspräsidenten betrieben hat, nachdem das E rgebnis der Wahlen vom 19. Januar 1919 und der Zusammentritt der Nationalversammlung feststand. Nach dem Zeugnis Philipp Scheidemanns hat es E bert vermieden, die Frage der Besetzung der Führungsämter der zu schaffenden demokratischen Republik im Parteivorstand zu erörtern, und er hat eine Diskussion über seine Präsidentschaftskandidatur in der sozialdemokratischen Fraktion bewußt unterbunden 4 . Über seine Motive, die ihn be­ stimmten, die sichere Stellung des Reichskanzlers mit der Reichspräsidentschaft zu vertauschen, gibt ein Gespräch mit Scheidemann Aufschluß, von dem dieser in seinen Memoiren berichtet hat. Im Gegensatz zu Scheidemann, der das Amt des Präsidenten für relativ bedeutungslos hielt und es wesentlich auf dekorative Funktionen be­ schränkt sehen wollte, war E bert der Überzeugung, daß der Reichspräsident „unge­ heuer viel machen könne“ und daß die Übernahme dieses Amtes durch die Sozialde­ mokratie von größter Wichtigkeit sei. Scheidemann hielt E bert entgegen, daß die ra­ dikale Arbeiterschaft, die enttäuscht sein würde, daß man unter den gegebenen wirt­ schaftlichen und außenpolitischen Umständen das Sozialisicrungsprogramm der Par­ tei weitgehend vertagen müßte, auch einen sozialdemokratischen Präsidenten von po­ litischen Angriffen nicht verschonen werde. Zudem sei es fraglich, ob die Sozialde­ mokratie angesichts der Notwendigkeit der Koalition mit der Deutschen Demokrati­ schen Partei und dem Zentrum neben dem Amt des Ministerpräsidenten bzw. Reichskanzlers und dem Amt des Präsidenten der Nationalversammlung auch das Reichspräsidentenamt beanspruchen könne 5 . Hinter dieser Auseinandersetzung stand einerseits eine völlig unterschiedliche E in­ schätzung der Aufgaben und politischen Rolle des Reichspräsidenten, andererseits eine gegensätzliche Bewertung der entstehenden demokratischen Republik. Während die Mehrheit der Sozialdemokraten die Institution des Reichspräsidenten mit Skepsis betrachtete, wollte Ebert dem Reichspräsidenten umfassende Funktionen einräumen, 298

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die über eine bloß repräsentative Stellung weit hinausgingen. E ben näherte sich mit dieser Auffassung den lebhaften Bestrebungen der bürgerlichen und konservativen Parteien, die Stellung des Reichspräsidenten so auszugestalten, daß dieser gegenüber dem Reichstag und der aus ihm hervorgehenden Regierung ein effektives Gegenge­ wicht bildete. Diese Tendenz hatte sich jedoch schon bei den Verfassungsberatungen im Reichsamt des Inneren im Dezember 1918 nur teilweise durchgesetzt. Der Staats­ rechtslehrer Hugo Preuß, der auf die Initiative Eberts hin mit der Ausarbeitung eines Verfassungsentwurfs beauftragt war, hatte in der Präsidentenfrage eine mittlere Linie vertreten und sich Vorschlägen im Sinne des amerikanischen Präsidialsystems wider­ setzt. Seine Konzeption „zweier ebenbürtiger Staatsorgane“ mit der parlamentari­ schen Regierung als Bindeglied 6 war im wesentlichen in den E ntwurf eingegangen, der den Verfassungsberatungen der Nationalversammlung zugrunde gelegt wurde. Danach sollte der Reichspräsident auf zehn Jahre mit der Möglichkeit der Wiederwahl vom Volk gewählt werden; neben der Befugnis, den Kanzler - und auf dessen Vor­ schlag - die Minister zu ernennen, sollte der Präsident das Recht haben, in dem Falle, daß über ein Gesetz zwischen Reichstag und Reichsrat eine E inigung nicht erzielt würde, an das Volk in der Form eines Referendums zu appellieren. Die ursprünglichen Vorstellungen während der Verfassungsberatungen im Reichs­ amt des Inneren waren wesentlich weiter gegangen. Man hatte beabsichtigt, die Stel­ lung des Reichspräsidenten der eines Monarchen in einem parlamentarisch regierten Staate anzugleichen, insbesondere dem Präsidenten das Recht zu geben, vom Reichs­ tag beschlossene Gesetze dem Volk im Wege des Referendums zur Abstimmung vor­ zulegen. Diese Bestimmung ist, obwohl sie von Preuß, der nicht so weit gehen wollte, erfolgreich bekämpft worden war, dann doch in die endgültige Verfassung hineinge­ nommen worden. Sie ist allerdings nicht praktisch wirksam geworden. Bei den Ver­ fassungsberatungen spielte ferner der Gedanke eine Rolle, dem Präsidenten das Recht zur Auflösung des Parlaments ohne die übliche Gegenzeichnung des Reichskanzlers einzuräumen, was sich dann nicht durchsetzte, wogegen die zum Ausgleich dafür vorgeschlagene Bestimmung, daß der Reichspräsident durch Volksinitiative abgesetzt werden könnte, im endgültigen Verfassungstext erhalten blieb. Nach allem, was wir wissen, ist es unzweifelhaft, daß E bert bei seinem E ntschluß, die Reichspräsidentschaft zu übernehmen, von diesen ursprünglich maßgebenden Vorstellungen durchdrungen war. Daraus erklärt sich, daß Scheidemann, wenn auch in polemischer Zuspitzung, die Auffassung E berts vom Amt des Reichspräsidenten in dem Satze zusammenfaßte: „Der Reichspräsident bestimmt die Politik, und der Reichskanzler deckt sie.“ 7 E bert hat sich auch während der Verfassungsberatungen der Nationalversammlung, an denen er nicht aktiv teilnehmen konnte, mit dieser Frage beschäftigt und den Staatsrechtslehrer und Soziologen Max Weber empfangen, um sich über die Vorzüge und Nachteile der plebiszitären Wahl des Reichspräsiden­ ten informieren zu lassen 8 . Auch Scheidemann räumt ein, Ebert habe die E ntwicklung richtig vorausgesehen, wenn er glaubte, daß das Amt des Reichspräsidenten, dessen Amtsperiode dann auf sieben Jahre begrenzt wurde, gegenüber wechselnden Koali­ tionskabinetten ein E lement der staatlichen Kontinuität darstellen werde. Dies wäre um so mehr der Fall gewesen, wenn sich die Nationalversammlung und 299

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1922 der Reichstag dazu hätten durchringen können, die Verfassungsbestimmung, die die Volkswahl des Reichspräsidenten vorsah, in die Wirklichkeit umzusetzen. Statt dessen wurde E ben am 11. August 1919 mit verfassungsändernder Mehrheit durch die Nationalversammlung zum Reichspräsidenten gewählt, da die politischen Um­ stände eine Volkswahl nicht zuließen. Dieses Verfahren wurde auch für die Verlänge­ rung seines Mandats im Oktober 1922 aber aus anderen, aus koalitionstaktischen Gründen, eingeschlagen. Damals war die Deutsche Volkspartei zwar bereit, im Reichstag für die Verlängerung der Amtsperiode E berts bis zum 1. Juli 1925 zu stim­ men, nicht aber die Kandidatur des Sozialdemokraten E bert in einer plebiszitären Volkswahl zu unterstützen. E bert hat dies immer wieder lebhaft bedauert und seiner­ seits darauf hingewirkt, daß eine Volks wähl des Reichspräsidenten zustande käme. E r fand sich, um die Stabilität der Republik nicht zu gefährden, schließlich mit der Not­ lösung der parlamentarischen Amtsverlängerung ab, aber ohne Frage wurde seine Stellung dadurch nicht befestigt, sondern erschwert. Denn 1922 hätte Ebert, da es den bürgerlichen Parteien an geeigneten Kandidaten fehlte, ohne Zweifel die Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen können. E s geht auf die tiefgreifende Krise der Republik in den Jahren 1919 bis 1923 zurück, daß E bert als dem bewußten Repräsentanten der parlamentarischen Demokratie die plebiszitäre Legitimation versagt blieb, während Híndenburg, der dem demokratischen Staatswesen stärkste Vorbehalte entgegen­ brachte, wenn ersieh auch, jedenfalls zunächst, an den Wortlaut der Verfassung hielt, aufgrund der Volkswahl eine relativ unabhängige Politik gegenüber Reichstag und Reichsregierung betreiben konnte.

3. Die Stellung des Reichspräsidenten Ebert befand sich schon seitdem Dezember 1918 in klarem Gegensatz zur eigenen Partei und insbesondere zu den Vertretern der unabhängigen Sozialdemokratie, die die Institution des Reichspräsidenten möglichst vermeiden wollten. Für ihre Haltung waren verschiedene Motive maßgebend. Philipp Scheidemann beurteilte diese Frage vor allen Dingen unter taktischen Gesichtspunkten. E r entgegnete in dem erwähnten Gespräch, unmittelbar vor dem Zusammentritt der Nationalversammlung, auf die Argumente E berts: „Für das Reichspräsidium wird durch den ersten Präsidenten schon ein Vorbild für die Nachfolger geschaffen. Ist der erste Präsident ein Sozialde­ mokrat, der sehr aktiv ist, und er nützt die Position politisch aus, dann können uns seine Nachfolger sehr unbequem werden.“ Sollte diese in den 1928 veröffentlichten Memoiren enthaltene, nach Scheidemanns Angaben auf damaligen Notizen beru­ hende Prognose in dieser Formulierung gefallen sein, wäre dies in der Tat ein Zeugnis für eine bemerkenswerte politische Voraussicht 9 . Denn es ist unzweifelhaft, daß Ebert - darauf wird zurückzukommen sein - dem Amt des Reichspräsidenten über die verfassungsmäßigen Kompetenzen hinaus Gewicht zu geben bemüht gewesen ist und daß sein Nachfolger Hindenburg in nicht geringem Ausmaß daraus machtpolitischen Nutzen gezogen hat. 300

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Neben taktischen E rwägungen dieser Art waren für die Mehrheit der Sozialdemo­ kraten grundsätzliche Gesichtspunkte maßgebend. Sie gingen von der Vorstellung der ungeteilten Souveränität der Nationalversammlung aus, auch wenn sie den plebiszitä­ ren E lementen des Preußschen Verfassungsentwurfs eine gewisse Sympathie entge­ genbrachten. In den Verhandlungen der Nationalversammlung erklärte der sozialde­ mokratische Abgeordnete Fischer, die Institution der Reichspräsidentschaft sei weder notwendig noch wünschenswert, und der unabhängige Sozialdemokrat Cohn for­ derte deren E rsetzung durch ein Direktorium 10 . Die sozialdemokratische Fraktion war bestrebt, darauf hinzuwirken, daß die Machtbefugnisse des Präsidenten nicht an die Monarchie erinnerten. Sie forderte daher die Begrenzung der Wahlperiode auf fünf Jahre, stand dem Gedanken der Wiederwahl des Präsidenten mit großer Skepsis gegenüber und hielt die Volkswahl des Präsidenten für problematisch. Nur mit Mühe überwand sie das Mißtrauen gegen die plebiszitäre Präsidentenwahl. Noch in der drit­ ten Lesung wurde von sozialdemokratischer Seite der Vorschlag einer gemeinsamen Wahl des Präsidenten durch Reichstag und Reichsrat gemacht, „damit nicht die Mög­ lichkeit einer bonapartistischen Plebiszitpolitik“ entstünde, doch wurde der Antrag dann aufgrund interner Absprachen zurückgezogen 11 . Man geht nicht fehl, in dieser Haltung der Sozialdemokratie auch ein stillschwei­ gendes Mißtrauen gegen Friedrich E ben selbst zu erblicken. Dies wird deutlich, wenn man die Haltung der sozialdemokratischen Fraktion in der Frage der finanziellen Ausgestaltung des Präsidialamtes und der persönlichen E inkünfte des Reichspräsi­ denten betrachtet. Nicht die Sozialdemokraten, sondern die Parteien der Rechten wirkten darauf hin, daß die persönlichen Bezüge und die Frage der Pensionsberechti­ gung des Präsidenten im Rahmen des Annehmbaren blieben. Im Ausschuß hatten die Vertreter der SPD gegen die Mehrheit, die ein Gehalt von 100 000 RM bewilligte, eine Herabsetzung auf 84 000 RM beantragt. Der unabhängige Sozialdemokrat Haase hielt im Gegensatz zu dem konservativ eingestellten Abgeordneten von Posadowsky die vorgesehene Aufwandsentschädigung für zu hoch. Allgemein bestand bei den Sozial­ demokraten beider Flügel die Tendenz, die Funktionen des Reichspräsidenten einzu­ schränken. Auch mit Scheidemann kam es über die Frage der finanziellen und personellen Aus­ stattung des Büros des Reichspräsidenten zu einem scharfen Konflikt. E s ist nicht zu­ letzt auf die Bescheidenheit E berts zurückzuführen, daß er sich in diesen Fragen ge­ genüber seiner eigenen Partei nicht durchsetzte, und es ist auffällig, wie wenig er - soweit die Quellen das erkennen lassen - auf die Gestaltung der Funktionen des Reichspräsidentenamtes während der Verfassungsberatungen unmittelbar E influß genommen hat. Zwar hatte E bert entschiedenen Wert darauf gelegt, daß er als fakti­ scher Regierungschef die E röffnungsansprache im Weimarer Nationaltheater hielt, aber nach seiner Wahl zum Reichspräsidenten, auch wenn diese nur provisorisch war, scheint er sich grundsätzlich von allen Beeinflussungen ferngehalten zu haben. E s kam hinzu, daß er das Amt des Reichspräsidenten nicht einfach nur unter dem Gesichts­ punkt möglicher verfassungspolitischer Kompetenzen betrachtete. Die E inschrän­ kungen, die gegenüber den Beratungen im Reichsamt des Inneren und dem von Preuß vorgelegten Verfassungsentwurf in den Verfassungsberatungen der Nationalver301

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Sammlung beschlossen wurden, scheint er entweder nicht voll erkannt oder für nicht von grundlegender Bedeutung betrachtet zu haben. Jedenfalls ließ E ben von der Überzeugung nicht ab, daß dem Reichspräsidenten gegenüber der Regierung eine wichtige Führungsfunktion zukam, was aus zahlreichen öffentlichen Stellungnahmen hervorgeht, in denen er bewußt im Namen der Reichsregierung sprach oder andeute­ te, daß Präsident und Reichsregierung nach außen hin nicht als getrennte Staatsorgane fungierten 12 . Die von E bert immer wieder beschworene E inheit des Präsidenten mit dem Kabi­ nett, die in dem ersten Koalitionskabinett Scheidemann äußerlich gegeben zu sein schien, stand der Sache nach von vornherein auf schwachen Füßen. Dafür war nicht nur die starke Rivalität maßgebend, die Scheidemann gegenüber E bert empfand. Der erste Reichskanzler war fest entschlossen, die Selbständigkeit des Kabinetts gegen­ über dem Präsidenten zu behaupten, wie er denn auch der Absicht E berts wider­ sprach, „ein vollkommen selbständiges Reichsamt mit einem großen Apparat“ zu schaffen. E bert scheint über die grundsätzliche Verschiedenheit der Standpunkte nie Klarheit gewonnen zu haben, jedenfalls hat er die Widerstände von Seiten der eigenen Partei unterschätzt. Anläßlich der Demission des Kabinetts Scheidemann am 19. Juni 1919 schrieb E bert dem zurückgetretenen Kanzler, wie sehr er die Trennung bedaue­ re, die „unsere gemeinsame Arbeit an der Spitze des Reiches jäh unterbrochen“ habe 13 . Vom Selbstverständnis her mochte E bert in dem unruhigen E hrgeiz Scheide­ manns die Ursache dafür erblicken, daß eine reibungslose Zusammenarbeit immer weniger erreichbar war. Aber auch unabhängig von den persönlichen Differenzen der beiden sozialdemokratischen Führer, die spätestens in der Situation des November 1918 aufgebrochen waren, mußte die Tendenz E berts, sich als E xponent, nicht als Gegenspieler des Kabinetts zu begreifen, auf lange Sicht zu Konflikten führen. Alles dies erklärt, warum E bert sich entschlossen hatte, das Amt des Präsidenten zu übernehmen, statt die Leitung des ersten Kabinetts und damit die Führung der Sozial­ demokratie beizubehalten. Aus der späteren Sicht der Dinge ist dieser Entschluß nicht einfach zu beurteilen, denn es ist unbestreitbar, daß die Sozialdemokratie in den kriti­ schen Jahren der Parteispaltung und auch späterhin eine zielbewußte Führerpersön­ lichkeit fehlte, die bereit war, in der Koalition mit den bürgerlichen Parteien nicht nur ein notwendiges Übel, sondern eine Chance für die Zukunft zu erblicken.

4. Die Aufgaben des Reichspräsidenten Friedrich E bert hoffte, als Reichspräsident an führender Stelle auf die dringend notwendige Integration der politischen Kräfte und die Herstellung einer stabilen poli­ tischen Form einwirken zu können. In seiner Rede anläßlich der Wahl zum Reich­ spräsidenten legt er das klare Bekenntnis ab, daß er als „Beauftragter des ganzen deut­ schen Volkes“, nicht als „Vormann einer einzigen Partei“ zu handeln entschlossen sei. Er verbarg seine sozialistische Grundhaltung nicht und wies darauf hin, daß er als Sohn des Arbeiterstandes, der in der Gedankenwelt des Sozialismus aufgewachsen 302

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sei, weder seinen Ursprung noch seine Überzeugung jemals zu verleugnen gesonnen sei. In seiner Wahl zum Inhaber des höchsten staatlichen Amtes erblickte er eine An­ erkennung auch der „gewaltigen Bedeutung der Arbeiterklasse für Aufgaben der Zu­ kunft“ . Ebert war überzeugt, daß sich in sozialpolitischer Beziehung ein grundsätzli­ cher Konsensus erreichen lassen werde. In einer Erklärung vor der Presse am gleichen Tage wandte er sich gegen jede gewaltsame, schematische und übereilte Sozialisie­ rung, gab aber der Überzeugung Ausdruck, daß der soziale Gedanke „alle Handlun­ gen jeder Regierung“ bestimmen müsse 14 . Max Weber hatte in den Verfassungsbera­ tungen in dem Reichsamt des Inneren immer betont, daß gerade in Fragen der Soziali­ sierung dem Reichspräsidenten eine wichtige Aufgabe zukommen könnte; die Hoff­ nung, aktiver Vermittler, nicht bloßes Repräsentativorgan zu sein, bestimmte E bert bei dem E ntschluß, für das Amt des Reichspräsidenten zu kandidieren, auch in Hin­ sicht auf die sozialpolitischen Aufgaben der jungen Republik 15 . In seiner Ansprache nach der Vereidigung am 21. August 1919 hob der Reichsprä­ sident erneut die Aufgabe hervor, zu innerer E inigung zu kommen, und er sprach in diesem Zusammenhang von der „heiligen Arbeit am Ganzen“, vom „sich Indienst­ stellen in die Interessen des Reichs“ 1 6 . E r blieb damit der Haltung treu, die ihn geleitet hatte, als er aus den Händen des kaiserlichen Reichskanzlers Max von Baden die Re­ gierungsgewalt und die Sorge um die Geschicke des Reiches übernahm. E s ging ihm um die Bewahrung der staatlichen Kontinuität und Autorität als Grundlage für die Lebensfähigkeit der Republik. E bert verfolgte diese klar erkannte Aufgabe eigenwil­ lig und selbstbewußt. Als Reichspräsident fühlte er sich als Träger der politischen Ge­ samtverantwortung. E r neigte dazu, die verfassungsmäßigen Kompetenzen, die ihm eingeräumt waren, voll auszuschöpfen, und er war zu keiner Zeit bereit, sein Amt auf bloß repräsentative Funktionen zu beschränken. Dies führte unvermeidlich zu Reibungen und Konflikten. Scheidemann, der sich immer mehr als Gegenspieler E berts fühlte, zumal er ihm nicht verzieh, daß er in der umstrittenen Frage der Annahme der Versailler Friedensbedingungen auf das Anraten Erzbergers hin von dem ursprünglichen Standpunkt der Unannehmbarkeit abgewi­ chen war, warf E bert eine „peinliche Neigung zu intensiv-persönlicher Betätigung“ vor und glaubte, der Präsident habe den zweiten Reichskanzler Gustav Bauer nur deshalb mit der Regierungsbildung beauftragt, weil dieser sich dem Willen E berts vollständig füge. Diese wenig sachliche Polemik enthielt jedoch insoweit einen wah­ ren Kern, als Ebert nach dem Ausscheiden der demokratischen Minister aus der Koa­ lition im Juni 1919 in erheblichem Umfang auf das Handeln des Kabinetts einwirkte, so daß Zeitgenossen davon sprachen, der Zentrumspolitiker Matthias E rzberger und Ebert wären die „tatsächliche Regierung“ 1 7 . Unabhängig von der unverhohlenen Rivalität Scheidemanns trat jedoch, wenn auch die äußerliche Zusammenarbeit ungetrübt schien, eine E ntfremdung zwischen der Mehrheit der Partei und dem aus ihren Reihen stammenden Präsidenten ein. Sie hat Ebert die Führung seines Amtes beträchtlich erschwert, zumal man in den Reihen der Sozialdemokratie nicht immer erkannte, wie stark der E ntscheidungsspielraum des Präsidenten eingeengt war. E bert hat bitter auf das Mißtrauen von Seiten seiner Parteigenossen reagiert, und es gibt viele Äußerungen, daß er sein Amt unerträglich 303

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finde und daß er hoffe, durch alsbaldige Reichspräsidentenwahlen davon befreit zu werden. Gleichwohl hat er immer wieder die Bürde des Amtes aus Verantwortung ge­ genüber der Republik und den Lebensinteressen der Nation auf sich genommen und seine ganze Kraft dafür eingesetzt, zwischen den Parteien zu vermitteln. Die ständigen krisenhaften Situationen in der Republik verhinderten von vornher­ ein den Fortgang ruhigen parlamentarischen Lebens, ganz abgesehen davon, daß die Annahme der Versailler Friedensbedingungen durch die Weimarer Nationalver­ sammlung nicht nur bei den Sozialdemokraten einen latenten Konflikt zwischen Fraktion und Parteiführung einerseits und der Anhängerschaft andererseits auslöste. Die Tendenz, sich durch den Übergang in die Opposition unpopulärer Verantwor­ tung zu entziehen, war eine allgemeine E rscheinung, und alle führenden Politiker der Weimarer R e p u b l i k - w i e E rzberger, Rathenau, Stresemann, Wirthund Otto Braun hatten einen ebenso scharfen Kampf in ihrer eigenen Fraktion oder Partei zu führen wie sie deren Interessen gegenüber den rivalisierenden Parteien zu behaupten hatten. Angesichts dieser Lage gewann die Reichspräsidentschaft von vornherein ein ande­ res Gewicht, als dies für streng parlamentarische Systeme gelten mag. Nicht bei den rasch wechselnden Kabinetten, sondern beim Reichspräsidenten lag die Kontinuität der Regierungstätigkeit. Daher hat Ebert als Reichspräsident, zumindest in den ersten Jahren der Republik, einen wesentlich größeren E influß ausgeübt, als dies in der oh­ nehin präsidentenfreundlichen Weimarer Reichsverfassung vorgesehen war. Das ihm verfassungsmäßig zustehende Recht, einen Mann seines Vertrauens mit der Regie­ rungsbildung zu beauftragen, hat E bert bewußt wahrgenommen, und er hat dabei keineswegs den in stabilen parlamentarischen Systemen üblichen Weg eingeschlagen, sich an die Vorschläge der Mehrheitsparteien zu halten. Darüber hinaus beeinflußte er die Regierungsbildung, indem er vielfach dem präsumptiven Kanzler Fristen setzte oder limitierte Aufträge vergab, die an eine bestimmte Koalitionszusammensetzung gebunden waren. Der Stil der Kabinettsbildung, so hat man seinerzeit geurteilt 18 , war dadurch gekennzeichnet, daß der Reichskanzler und die Minister vom Reichspräsi­ denten und den Parteien „angestellt“ wurden, so daß die Regierung in einer Art dop­ pelseitigem Abhängigkeitsverhältnis stand. E bert befand sich mit dieser Haltung durchaus in Übereinstimmung mit der öffentlichen Meinung, auch den herrschenden Strömungen der Staatsrechtslehre, die davon ausgingen, daß dem Reichspräsidenten die „oberste Leitung der deutschen Politik“ zustünde 1 9 .

5. E influßnahme auf die R e g i e r u n g s b i l d u n g Zugleich wurde E bert auch durch die innenpolitische E ntwicklung selbst in die Rolle des aktiven Regierungsbildners gedrängt. Als die Sozialdemokratie nach dem Kapp-Putsch auf dem Rücktritt des Reichswehrministers Noske bestand, an dem Ebert unbedingt festhalten wollte, da er voraussah, daß die Sozialdemokratie nicht in der Lage sein würde, diesen wichtigen Posten selbst zu besetzen, war er in zunehmen­ dem Maße dazu gezwungen, die Unterstützung von Politikern der bürgerlichen Mit304

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telparteien zu suchen. Der für die Sozialdemokratie ungünstige Ausgang der Juni­ wahlen von 1920 veranlaßte sie, gegen den Willen E berts aus der Weimarer Koalition auszuscheiden und die Beteiligung an einer Regierung, der „Elemente der Rechtspar­ teien“ angehörten, abzulehnen. E bert beauftragte in dieser Lage zunächst den Zen­ trumsführer Trimborn mit der Regierungsbildung und erreichte es schließlich, daß Fehrenbach die Kanzlerschaft übernahm, nachdem die SPD zusicherte, das von Zen­ trum, DDP und DVP gebildete Minderheitskabinett bis zum Ausgang der Konferenz von Spa 20 zu tolerieren. Nur das Gewicht der Persönlichkeit E berts hatte diesen in­ nenpolitischen Kompromiß ermöglicht. Der Rücktritt des Kabinetts Fehrenbach im Mai 1921, der unter dem Druck des Londoner Ultimatums 2 1 erfolgte, schuf eine noch verzweifeltere Situation. E bert griff energisch in die Regierungsbildung ein und begünstigte den links stehenden Zentrumspolitiker Josef Wirth. Mit aller Klarheit wies Ebert darauf hin, daß man sich „vor ganz E uropa“ blamieren werde, wenn das Londoner Ultimatum von einem zu­ rückgetretenen Kabinett beantwortet werden müßte. Unter der Androhung seines ei­ genen Rücktritts setzte er eine rasche Regierungsbildung durch. E bert benützte dieses Mittel erneut, als die Zentrumsfraktion im Oktober die Demission Wírths erzwang, was praktisch einem Versagen des parlamentarischen Systems gleichkam. In der un­ lösbar scheinenden Krise zerschlug E bert den gordischen Knoten, indem er Josef Wirth beschwor, unter „Hintanstellung persönlicher und parteipolitischer Rücksich­ ten“ erneut die Regierung zu übernehmen, nachdem der Versuch, eine verbreiterte Koalition zu schaffen, gescheitert war. E berts Versuch, das Kabinett zu stabilisieren, indem er auf die Deutsche Volkspartei einwirkte, sich an der Regierungsverantwor­ tung zu beteiligen, war durchaus aussichtsreich; aber er mußte die Erfahrung machen, daß die sozialdemokratische Reichstagsfraktion sich diesem Schritt widersetzte, ob­ wohl ihre Vertreter im interfraktionellen Ausschuß bereits zugestimmt hatten. Die latente Krise des parlamentarischen Systems zwang den Reichstagspräsidenten dazu, unorthodoxe Methoden der Regierungsbildung einzuschlagen. Nach dem Sturz des zweiten Kabinetts Wirth versuchte Ebert, durch die Wahl einer bislang par­ lamentarisch nicht hervorgetretenen Persönlichkeit, des Generaldirektors der Hapag, Wilhelm Cuno, das erstarrte Parteigefüge aufzulockern. Cuno, der ursprünglich der Deutschen Volkspartei angehört hatte und zu diesem Zeitpunkt parteilos war, gelang es jedoch nicht, ein Kabinett zusammenzustellen, das die Parteien verantwortlich be­ teiligte. Daraufhin beauftragte E bert Cuno am 20. November 1922, die Regierung „in freier Auswahl der Männer und der Ressorts“ zu bilden 22 . Diese Notmaßnahme, die den Gedanken eines Kabinetts der Fachleute, wie er später von Brüning aufgegriffen wurde, vorwegnahm, bedeutete eine Desavouierung der Parteien und des Parlaments. Ohne Frage hätte E bert richtiger gehandelt, wenn er statt Cuno damals schon Strese­ mann mit der Regierungsbildung beauftragt hätte; neben persönlichen Bedenken Stresemann hatte wenig zuvor die Volkswahl des Reichspräsidenten verhindert spielte die frühere nationalistische Haltung des späteren Außenministers eine maßge­ bende Rolle. Stresemann selbst strebte schon damals die Kanzlerschaft an, und es wäre ihm sicherlich gelungen, eine wenn auch nur schmale parlamentarische Mehrheit zu finden. 305 2C

Mommsen, Arbeiterbewegung

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Die Motive, die Ebert veranlaßten, gerade den insbesondere bei den Linksparteien wenig beliebten Cuno zum Kanzler vorzuschlagen, sind nicht hinreichend bekannt. Es war allen Beteiligten klar, daß ein Kabinett Cuno nur ein Ubergangskabinett in der Krise sein würde und daß es auf lange Sicht durch eine Regierung der großen Koali­ tion, d. h. unter Einbeziehung der Deutschen Volkspartei, ersetzt werden müßte. Wie immer E berts E igenwilligkeit in der Personenwahl begründet war, so erreichte er doch, daß die SPD ihrerseits den Gedanken einer großen Koalition aufgriff und in das erste Kabinett Stresemann eintrat, das am 13. August 1923, auf dem Höhepunkt der Ruhrkrise und Inflation gebildet wurde. Bei der Berufung des Kabinetts Fehrenbach hatte Ebert die Sozialdemokratie damit verteidigt, daß sie angesichts des Drucks der USPD nicht in der Lage sei, die Regie­ rungsverantwortung mitzuübernehmen. E s kann aber kein Zweifel sein, daß E bert die wachsende Neigung der Sozialdemokratie, in die Opposition zu gehen, in der Hoffnung, damit ihre rückläufigen Wahlerfolgc aufzubessern, mit Sorge und Kritik betrachtete. Der Gegensatz zwischen der staatsmännischen Voraussicht E berts und der von kurzfristigen taktischen E rwägungen bestimmten Politik der Sozialdemokra­ tie trat bei dem Sturz des ersten Kabinetts Stresemann deutlich hervor. Die sozialde­ mokratischen Minister hatten mit dem Rücktritt gedroht, weil sie in der Durchfüh­ rung der Reichsexekution gegen Sachsen 23 bei gleichzeitiger Verhandlungsbereit­ schaft der Reichsregierung gegenüber dem bayerischen Generalstaatskommissar von Kahr eine einseitig gegen die Linke gerichtete Politik erblickten. Aber auch unabhängig davon, daß das nicht ganz unrichtig war, blieb die Hahung der Sozialdemokratieproblematisch. Das gehtauch aus der ultimativen E rklärungdes sozialdemokratischen Reichsministers des Inneren, Wilhelm Sollmann, hervor, in der er die Frage aufwarf, „ob die bürgerlichen Parteien den Winter über mit oder ohne So­ zialdemokratie regieren wollten“ 2 4 . Denn diese Äußerung zeigte, daß nur wahltakti­ sche Rücksichten, nicht der Wille, definitiv in die Opposition zu gehen, die Haltung der Partei bestimmten. Zusammen mit den Deutschnationalen stimmte sie am 23. November 1923 gegen Stresemann, der die Vertrauensfrage im Reichstag gestellt hat­ te, obwohl die Motive, die sie dazu veranlaßten, sich grundlegend von denen der Deutschnationalen unterschieden. Stresemann vermied es, diese Widersprüchlichkeit der Motivation des Mißtrauens zu benutzen, um sich im Kanzleramt zu halten. Mit Recht sprach er davon, daß es sich nicht um eine Krise der Regierung, sondern um eine Krise des Parlaments handele 25 '. E bert hatte die Sozialdemokraten vergebens vor einer solchen Politik kurzfristigen Taktierens um der öffentlichen Meinung willen gewarnt: „Was E uch veranlaßt, den Kanzler zu stürzen, ist in sechs Wochen verges­ sen, aber die Folgen E urer Dummheit werdet Ihr noch zehn Jahre lang spüren.“ 26 In der Tat hat die widersprüchliche Haltung der Sozialdemokratie in dieser Phase we­ sentlich zu ihrer innenpolitischen Isolierung in den folgenden Jahren beigetragen. Die Position E berts wurde dadurch notwendig geschwächt. Er hatte schon in einem Brief an Otto Wels am 13. April 1921 auf die „steigenden Schwierigkeiten“ seiner amt­ lichen Tätigkeit hingewiesen und den Wunsch ausgesprochen, bald von ihr befreit zu werden 27 . Josef Wirth berichtete, daß er in der Zeit des Londoner Ultimatums „vor dem Zusammenbruch seiner physischen und psychischen Kräfte“ gestanden habe 2 8 . 306

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Auch wenn der innere Kreis der Verantwortlichen sich darüber im klaren war, daß Ebert ausschließlich aus dem Bemühen heraus handelte, eine tragfähige Regierungs­ mehrheit zu schaffen, wurde er in zunehmendem Maße wegen seiner Amtsführung angegriffen, und zwar nicht nur von der nationalistischen Rechten, die vor den Mit­ teln persönlicher Diffamierung und verantwortungsloser Hetze nicht zurückscheute. Unzweifelhaft spielten für E berts E ntscheidungen persönliche Überzeugungen eine nicht geringe Rolle. Sein Bruch mit Reichskanzler Wirth ging darauf zurück, daß sich E bert darüber beklagte, anläßlich des Abkommens von Rapallo 2 9 übergangen worden zu sein. Als erklärter Anhänger einer Westorientierung erblickte er in dem Vertrag von Rapallo eine grundsätzliche Fehlentwicklung der deutschen Außenpoli­ tik und eine Gefährdung der dringend notwendigen Verständigung mit dem Westen. Es war daher verständlich, daß Josef Wirth, der ursprünglich als der eigentliche Favo­ rit E berts gegolten hatte, in internen Äußerungen gegen die „Nebenregierung“ des Reichspräsidenten E inspruch erhob. Ähnlich hatte der Reichsminister des Inneren, Koch-Weser, anläßlich der Umbil­ dung des Kabinetts Bauer in das Kabinett Hermann Müller-Franken das selbständige Vorgehen von E bert kritisiert, was freilich nicht ganz korrekt war, da auch das Zen­ trum zu diesem Zeitpunkt von der Auffassung ausgegangen war, es sei Sache des Reichspräsidenten, „mit den einzelnen Persönlichkeiten, die er in das Kabinett auf­ nehmen wolle, zu verhandeln“ 30 . Man kann daher nicht sagen, daß die Parteien von vornherein und konsequent E berts aktive E influßnahme auf die Regierungsbildung bemängelten. Ohne Frage bemühte sich E bert, jeweils Männer seines Vertrauens für das Kanzler­ amt zu gewinnen, aber er war in dieser Beziehung von jeder engen parteimäßigen Be­ trachtungsweise frei. Die von der Deutschnationalen Volkspartei E nde November 1923 öffentlich geäußerte Kritik, daß es der parlamentarische Brauch erfordere, eine der Oppositionsparteien mit der Kabinettsbildung zu betrauen, wies er mit der Be­ merkung zurück, daß er in Ausübung des ihm verfassungsmäßig zustehenden Rechtes mit der Bildung einer neuen Regierung stets eine Persönlichkeit beauftragt habe, de­ ren politische Stellung die meiste Aussicht auf eine schnelle Zusammenstellung eines arbeitsfähigen Kabinetts zu bieten schien 31 . Gleichwohl ist festzustellen, daß die von Ebert angestrebte Form der Regierungsbildung, wie Josef Becker bemerkt 32 , mehr einem konstitutionellen als einem parlamentarischen System entsprochen hat. Daß der Reichspräsident fest entschlossen war, die Schritte der Regierung direkt zu beeinflussen, geht daraus hervor, daß er gerade in kritischen Situationen nicht darauf verzichtete, das Reichskabinett unter seinem Vorsitz zusammenzurufen. Verfas­ sungsmäßig war dies nicht vorgesehen; vielmehr beruhte diese charakteristische Form präsidialer Führung auf Gewohnheitsrecht. Bei den Sitzungen des Ministerrats über­ nahm E bert in der Regel eine aktive Rolle, beschränkte sich also keineswegs darauf, die Sitzungen formell zu leiten. Der E bert nahestehende Reichswehrminister Geßler berichtet, daß dieser, wenn er im Reichskabinett bei Entscheidungen von grundsätzli­ cher und weittragender Bedeutung den Vorsitz führte, unbestritten die führende Au­ torität gewesen sei und daß man diese Sitzungen intern mit dem etwas abschätzigen Ausdruck „Kronrat“ belegte 33 . 307

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Voraussetzung der persönlichen E influßnahme auf die Kabinettsberatungen, zu denen zahlreiche Unterredungen mit den Ministern, mit führenden Diplomaten und den Vertretern der Parteien hinzutraten, war E berts intime Kenntnis der politischen Zusammenhänge und Vorgänge. Geßler berichtet, daß E ben in den sechs Jahren sei­ ner Präsidentschaft „kein wesentliches innen- oder außenpolitisches, wirtschaftliches oder soziales Problem“ außer acht gelassen und sich stets die Zeit genommen habe, sich ausführlich und eingehend informieren zu lassen. E benso hat Gustav Strese­ mann, dessen Verhältnis zu Ebert ursprünglich von Spannungen nicht frei war, in sei­ nem Gedenkartikel in der „Zeit“ die Sach- und die Personenkenntnis des Reichspräsi­ denten gerühmt 34 . Die inzwischen veröffentlichten Aktenstücke aus der Zeit der Kanzlerschaft Cunos 3 5 lassen deutlich erkennen, wie eingehend E bert die anstehen­ den Materien beherrschte und welche Aufmerksamkeit er den außenpolitischen Im­ plikationen innenpolitischer E ntscheidungen widmete. E r beanspruchte, bei allen grundsätzlichen Fragen rechtzeitig und zuverlässig informiert zu werden. Die E inwirkungsmöglichkeiten des Reichspräsidenten auf die Koalitionsbildung verringerten sich jedoch in dem Maße, als die Schwierigkeit zunahm, überhaupt zu ei­ ner Mehrheitsregierung zu gelangen. Für E bert mußte der Gesichtspunkt im Vorder­ grund stehen, dem Reich eine handlungsfähige Regierung zu erhalten. Nachdem sich die Sozialdemokratie immer weniger bereit zeigte, sich an der Regierungsverantwor­ tung zu beteiligen, sah sich E bert dazu veranlaßt, die Bestrebungen zu unterstützen, die eine breite Zusammenfassung aller Kräfte zum Ziele hatten, also auch die Deutschnationale Volkspartei einbezogen. Nach dem Rücktritt des 2. Kabinetts Marx folgte E bert dem Rat Stresemanns, dem er erklärte, allein das Bestreben zu haben, „eine Regierung zu berufen, die sich auf eine bleibende Mehrheit stützt und die uns die Sicherheit gibt, daß wir so bald nicht wieder in schwere Krisen geraten“ 36 . Der Spielraum für eigenwillige personalpolitische E ntscheidungen des Reichspräsidenten schränkte sich immer mehr ein; damit gewannen die Parteien den maßgebenden E in­ fluß zurück, was sich schon anläßlich der Demission des Kabinetts Cuno vorbereitet hatte. Wenn E bert in den Anfängen der Weimarer Republik bestrebt gewesen war, die Gesamtpolitik zu beeinflussen, wurde er nunmehr zusehends in eine defensive Rolle gedrängt, und zwar in dem Sinne, daß er seine Autorität ganz dafür einsetzte, um der außenpolitischen Stabilität willen die jeweilige Regierung gegen den Reichstag zu stützen.

6. E berts Verhältnis z u r S o z i a l d e m o k r a t i e Für Friedrich E bert bedeutete es eine schwere E nttäuschung, daß sich die Sozial­ demokratie nach den Juni wahlen 1920 aus der Regierung zurückzog. Neben der DDP gehörte die Sozialdemokratie zu den entscheidenden Verlierern der Wahl. Der Stim­ mengewinn der USPD und der KPD brachte sie in eine schwierige taktische Lage, die sie nur mit einer schroffen Hinwendung nach links überwinden zu können glaubte. Der Stimmenrückgang bei den Mehrheitssozialdemokraten war zugleich das E r308

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gebnis der Niederlage, die sie zusammen mit den Freien Gewerkschaften in den sich an den Kapp-Putsch anschließenden Verhandlungen erlitten hatte. Der Versuch des Generallandschaftsdirektors Kapp, die demokratisch gebildete Reichsregierung im Wege eines Staatsstreichs zu beseitigen, bewies die Schwäche der Parteien der Weima­ rer Koalition, wenngleich der Putsch selbst kläglich scheiterte. Das Verhalten der Reichswehrführung, die es unter dem E influß von von Seeckt ablehnte, gegen die meuternden Truppenteile, insbesondere gegen die hinter Kapp stehende Brigade E hr­ hardt vorzugehen, zeigte, daß es dem sozialdemokratischen Reichswehrminister Noske nicht gelungen war, die bewaffnete Macht in ein zuverlässiges Instrument der Regierung umzugestalten. Gewiß war Noske nicht allein dafür verantwortlich zu machen, daß sich die Reichs­ regierung am 13. März 1920 vor die Notwendigkeit gestellt sah, Berlin zu verlassen und zunächst nach Dresden, dann nach Stuttgart auszuweichen, da die Ministerien von dem Zugriff der Putschisten bedroht waren. Die beiden sozialdemokratischen Parteien und die Gewerkschaften erblickten jedoch in Noske den eigentlichen „Sün­ denbock“, obwohl der Reichswehrminsiter, wenn auch verspätet und mit unzurei­ chenden Mitteln, dem Putsch entgegenzutreten versucht hatte. Angesichts des massi­ ven politischen Drucks, der von Gewerkschaften und SPD ausgeübt wurde, sah sich Ebert nicht in der Lage, Noske, mit dem er persönlich befreundet war, zu halten. Mit der E rnennung Otto Geßlers zum neuen Reichswehrminister, die auf den aus­ drücklichen Wunsch von E bert erfolgte, verlor die Sozialdemokratie eine wichtige Führungsposition im Weimarer Staatswesen. Geßler selbst mangelte die E nergie Noskes, und er war, trotz hoher politischer Begabung, in militärischen Fragen der überlegenen Persönlichkeit des neu zum Chef der Heeresleitung ernannten Generals von Seeckt in keiner Weise gewachsen. Trotz des guten Verhältnisses zwischen Geß­ ler und E bert konnten die Militärs im wesentlichen ihre Interessen durchsetzen, vor allem was den Aufbau der „schwarzen Reichswehr“ und die enge Zusammenarbeit mit Sowjetrußland anging, die Ebert aus guten Gründen abgelehnt hatte und die Geß­ ler dem Präsidenten gegenüber weitgehend verschwieg. Nach Aussage aller Beteiligten zeichnete sich E bert in den Tagen des Kapp-Put­ sches dadurch aus, daß er innerhalb der allgemeinen Nervosität bewundernswürdige Ruhe und Festigkeit bewiesen hat. Die ultimativen Forderungen des Generals von Lüttwitz am Vortage des Kapp-Putsches wies er mit Entschiedenheit zurück. In rich­ tiger E inschätzung der allgemeinen Kräfteverhältnisse, aber in Verkennung der gege­ benen Situation, erwartete Ebert, daß der Staatsstreichversuch von Kapp eine schwere und nachhaltige E rschütterung der staatlichen und verfassungsmäßigen Ordnung bringen, nicht, daß er, wie es dann geschah, rasch und kläglich in sich zusammenfallen würde. Am ersten Putschtag befanden sich E bert und der Reichskanzler Bauer des­ halb in ungewöhnlich niedergeschlagener Stimmung. Die entscheidenden Schritte lei­ tete der demokratische Reichsminister Koch ein, darunter die E inberufung der Na­ tionalversammlung nach Stuttgart, während E bert sich zunächst unschlüssig ver­ hielt 37 . Für ihn scheint dabei die Überlegung eine ausschlaggebende Rolle gespielt zu ha­ ben, daß eine militärische Niederschlagung des Putsches verhängnisvolle Rückwir309

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kungen auf die innere Verfassung der Reichswehr haben und daß sie danach für die Abwehr eines Aufstandes der Linken, mit der das Reichskabinett von Anfang an rechnete, nicht mehr verwendungsbereit sein würde. Die diesbezüglichen Argumente Seeckts verfehlten ihren E indruck auf das Reichskabinett nicht. Was E bert anging, so sprachen zugleich außenpolitische E rwägungen dafür, das Instrument der Reichs­ wehr zu schonen. Ebert begab sich jedoch mit dieser politischen Linie in eine widerspruchsvolle Posi­ tion gegenüber der eigenen Partei, die unter dem Druck der Radikalen klare und ent­ schiedene Maßnahmen verlangte. Der Reichswehrminister Noske hatte schon vor dem Staatsstreichversuch mehrfach angekündigt, daß man für den Fall eines Rechts­ putsches die Arbeiterschaft mobilisieren werde. Im Auftrage der sozialdemokrati­ schen Minister wurde ein Aufruf zum Generalstreik ausgearbeitet, unter dem auch die Namen von Noske und E bert standen, die zwar nicht eigenhändig unterzeichneten, wohl aber von der Proklamation und ihrem Inhalt gewußt haben. Der Aufruf zum Generalstreik ging von den sozialdemokratischen Ministern, nicht vom Gesamtkabi­ nett aus. Der wenige Stunden zuvor vom Reichsminister des Inneren veröffentlichte Aufruf an das deutsche Volk warnte im Gegensatz dazu vor einer Unterbrechung des Wirtschaftslebens und Verkehrs und sagte die E rfolglosigkeit des Staatsstreichs vor­ aus, der „in wenigen Tagen an seiner inneren Unmöglichkeit zusammenfallen“ wer­ de 3 8 . E bert und die sozialdemokratischen Mitglieder der Reichsregierung distanzier­ ten sich rasch von dem Generalstreik, nachdem das Unternehmen Kapps gescheitert war, während ADGB, APA und der Deutsche Beamtenbund ihn zunächst weiter­ führten und die Reorganisation des Heeres, den Rücktritt Noskes und die maßge­ bende Mitwirkung der Gewerkschaften bei der Neuordnung des politischen Lebens verlangten. Die widersprüchliche Haltung E berts und der sozialdemokratischen Minister er­ klärte sich daraus, daß sich die Regierung die Loyalität der zunächst noch schwan­ kenden Generalität, insbesondere des Reichswehrgruppenkommandos in Kassel nur durch eine entschiedene Distanzierung von Generalstreik erkaufen zu können glaub­ te. Regierung und Reichspräsident befanden sich in einer denkbar schwierigen Lage. Einerseits hatte die Reichsregierung wenige Wochen zuvor, am 13. Januar 1920, Streiks in lebenswichtigen Betrieben verboten. Zum anderen gab der Generalstreik den radikalen Kräften einen Ansatzpunkt, um über das Programm der Bewahrung der Demokratie hinaus die revolutionären Zielsetzungen vom November 1918 zu erneu­ ern und damit das parlamentarische System selbst in Frage zu stellen. Denn es war evident, daß die von der Linken geforderte reine Arbeiterregierung eine parlamentari­ sche Mehrheit nicht finden konnte, wie sich denn auch der Führer des ADGB, Karl Legien, der Konsequenz entzog, in die Regierung einzutreten. Jedenfalls bedeutete es eine schwere Niederlage der Gewerkschaften und der SPD, daß nach dem Putsch mit Ausnahme des erzwungenen Rücktritts von Noske und der Umbildung des Kabinetts nichts geschah, was den Demokratisierungsforderungen der Gewerkschaften ent­ sprach. Daß Mißtrauen der sozialistischen Arbeiterschaft gegenüber E bert mußte sich un­ ter dem Eindruck der Doppelkrise des Ruhrkonflikts und der sächsischen und bayeri310

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sehen Reichsopposition noch verstärken. Man weiß heute, daß die E ntscheidung Eberts, am 8. November 1923 schließlich Seeckt anstelle von Geßler den Oberbefehl über die Wehrmacht und die Ausübung der vollziehenden Gewalt zu übertragen, po­ litisch richtig war, weil dadurch die Reichswehrführung trotz ihrer rechtsgerichteten Einstellung für die E rhaltung der verfassungsmäßigen Ordnung in Pflicht genommen wurde und damit den bayerischen Umsturzplänen, die mit Hitlers Putschversuch am 9. November 1923 in indirekter Verbindung standen 39 und auf die E rrichtung einer Militärdiktatur im Reiche hinausliefen, von vornherein die Spitze abgebrochen war. Dieser E rfolg, der angesichts der schweren finanziellen und währungspolitischen Krise des Reiches infolge des Ruhrkampfes die Rückkehr zu normalen Verfassungs­ verhältnissen möglich machte, war allerdings erkauft mit einem vergleichsweise har­ ten Vorgehen gegenüber dem sozialdemokratisch-kommunistischen Koalitionskabi­ nett in Sachsen. In den Augen der Arbeiterschaft mußte es als unverantwortliche Be­ günstigung der Rechten erscheinen, wenn man das sächsische Kabinett Zeigner mit gewaltsamem E ingriff, die Diktaturgelüste von Kahrs einlenkend beantwortete. Ur­ sprünglich hatte Ebert von von Seeckt entschiedenes militärisches Durchgreifen gegen von Kahr verlangt, ohne sich damit durchsetzen zu können. All dies mußte das Verhältnis E berts zu seiner eigenen Partei weiter vergiften. Nachdem ihn bereits der Sattlerverband ausgeschlossen hatte, wurde auf dem SPD­ Parteitag von 1924 beantragt, die Parteimitgliedschaft E berts zu annullieren, wobei sich nun Scheidemann zu dessen Verteidiger aufwarf 40 . Die E pisode macht deutlich, daß E bert jedenfalls bei der Masse der Funktionäre der Sozialdemokratie wenig Sym­ pathien besaß. Das war insbesondere nach der Vereinigung der Rumpf-USPD mit den Mehrheitssozialisten der Fall. E bert hatte die Vereinigung des rechten Flügels der USPD mit der Mehrheitspartei äußerst zurückhaltend aufgenommen. Noske, dem die Partei bald nach seinem Sturz auch das Reichstagsmandat entzog, hat es bitter beklagt, daß E bert von der Sozialdemokratie in zunehmendem Maße de­ savouiert wurde. Dies zeigte sich schon bei der Taufe des nachdem 1920 verstorbenen Führer der Freien Gewerkschaften, Karl Legien, benannten Dampfschiffes, an der Ebert in offizieller Funktion teilnahm. Die Namensgebung stellte eine Geste von Stinnes dar, die die E rinnerung an die so hoffnungsvolle Gründung der „Zentralen Arbeitsgemeinschaft“ von Unternehmern und Gewerkschaften wachrief. Die füh­ renden Gewerkschaftsfunktionäre versagten sich der E inladung, die Arbeiterschaft blieb völlig passiv, und es mußte E bert schmerzlich berühren, daß die Werftarbeiter von ihm keinerlei Notiz nahmen. Wenig später erklärte Scheidemann, die Schiffstaufe sei eine Beschimpfung des Namens von Legien gewesen, da Stinnes seine früheren Neubauten auf die Namen „Hindenburg“ und „Ludendorff“ getauft habe, womit er zugleich dem Reichspräsidenten offen entgegentrat 41 . Ebert hat den E ntfremdungsprozeß von seiner eigenen Partei tief bedauert und wiederholt versucht, die Verbindung zur Arbeiterschaft lebendig zu halten. In einer Rede vor Sozialdemokraten in Kiel wies er im September 1922 darauf hin, er habe die Überzeugung und Gewißheit, „daß ich mich bei allen meinen Handlungen in Über­ einstimmung und E inklang befinde mit den maßgebenden Kreisen der Partei und un­ serer Parteileitung“. Die enge Fühlung mit den Führungsgruppen der Partei erleich311

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tere ihm, sein Amt aufzufüllen. Aber es klang doch gleichzeitig an, wie sehr er bei der Partei ein Verständnis dafür vermißte, daß das ihm übertragene Amt in allererster Li­ nie erfordere, „den staatlichen Notwendigkeiten Rechnung zu tragen“. Eberts Versu­ che, seine Partei zu „staatspolitischer“ Verantwortung zu erziehen und zu erreichen, „daß die Arbeiterklasse fest mit dem Staatsleben verbunden ist“, waren solange wenig aussichtsreich, als die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften in entscheidenden Situationen, wie nach dem Kapp-Putsch, sich gegenüber den konservativen und bür­ gerlichen Kräften nicht zu behaupten vermochten 42 . Die betonte Zurückhaltung der SPD kam in dem Kommentar zum Ausdruck, in dem der „Vorwärts“, das Zentralor­ gan der Partei, im Herbst 1922 zu der vom Reichstag beschlossenen Verlängerung der Amtsperiode seines Reichspräsidenten bis zum 1. Juli 1925 Stellung nahm: „Nicht Personen feiern wir, sondern Ideen. Und deshalb rufen wir nicht: E s lebe der Reich­ spräsident, sondern: E s lebe die Republik.“ 4 3 Bei diesen Gegensätzen spielten teilweise sachliche Konflikte eine Rolle. Auch mit dem preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun, dessen Haltung sonst mit E berts politischen Anschauungen vielfach übereinstimmte, gab es Differenzen, die in der Frage des Anwendungsbereichs von Art. 48 und der Flaggenverordnung des Reichs­ präsidenten vom 11. April 1921 offen hervortraten. E s war bezeichnend, daß sich Ebert wegen Brauns E inspruch gegen die verdeckt antirepublikanische Regelung der Flaggenfrage, der an den Reichsminister des Inneren gescheitert war, persönlich ver­ letzt fühlte. Der Reichspräsident hatte in der sachlich gesehen wenig bedeutsamen Frage der Gestaltung der Handels-, Reichskriegs- und der Dienstflaggen der Rcichs­ behörden auf See eine innenpolitische Krise vermeiden wollen. Dagegen erblickte Braun nicht zu Unrecht in der Neubelebung der alten Reichsfarben schwarz-weiß-rot eine Gefährdung der republikanisch-demokratischen Prinzipien 44 . In allen diesen Fragen stand E bert zwischen den Fronten, und seine Politik des Ausgleichs und der Vermittlung war notwendig von Konzessionen an die konservative Rechte begleitet.

7. Der Artikel 48 Wesentlich schwerer wog der Konflikt zwischen Braun und E bert über die Aus­ dehnung der Anwendung des Artikels 48 WRV 4 5 . Namens der preußischen Regie­ rung erhob Braun im Herbst 1924 E inspruch gegen die Absicht der Reichsregierung, Veränderungen der Steuergesetzgebung auf dem Wege des Art. 48 zu erlassen, und begründete ihn gegenüber dem Reichskanzler damit, daß der „in Aussicht genom­ mene Weg einer Anwendung des Art. 48 als mit dem Text und dem Sinne des Artikels der Reichsverfassung unvereinbar“ betrachtet werden müsse. Das rief die persönliche Empfindlichkeit E berts hervor, der Braun in einem Schreiben am 11. Dezember 1924 antwortete, er hätte es „als eine Verletzung seiner Amtspflicht angesehen, wenn ich mich dem einstimmigen Verlangen der Reichsregierung und den Interessen des Rei­ ches versagt und den E rlaß der Verordnung abgelehnt hätte 46 . Im Lichte der späteren mißbräuchlichen Anwendung des Art. 48 erscheint der E in312

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Spruch von Braun berechtigt und berührt ein grundsätzliches Problem der Amtsfüh­ rung E berts. Denn es kann kein Zweifel sein, daß die Art, in der der Art. 48 schon in den ersten Jahren der Weimarer Republik Anwendung fand, den Absichten der Ver­ fassungsgeber widersprach, die bewußt auf ein generelles Notverordnungsrecht ver­ zichten wollten. Der Art. 48 WRV gab dem Reichspräsidenten das Recht, gegen Län­ der, die von der Reichsverfassung abwichen, die Reichsexekution zu verhängen, was im März 1920 gegenüber den thüringischen Ländern, im Herbst 1923 gegenüber Sach­ sen geschah. Hinsichtlich dieses Anwendungsbereichs hat sich E bert durchaus im Rahmen der Verfassungsvorschriften gehalten, auch wenn es, wie erwähnt, politische Reibungen heraufbeschwor, daß Ebert, indem er Stresemanns Rat folgte, den konser­ vativ-nationalistischen Putsch in Bayern nicht wie das sächsische Kabinett Zeigner mit der Reichsexekution bekämpfte. Umstritten hingegen ist ein Teil der Maßnahmen, die sich auf die Bestimmung in Art. 48 WRV stützten, daß der Reichspräsident, „wenn im Deutschen Reiche die öf­ fentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört und gefährdet wird, die zur Wie­ derherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung wichtigen Maßnahmen tref­ fen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten“ kann 4 7 . Die zahlreichen regionalen Ausnahmezustandsverfügungen, die in der Zeit zwischen 1919 und 1923 notwendig wurden, waren durch die Verfassung gedeckt und politisch zu rechtfertigen, hingegen ist es fragwürdig, die nicht immer damit verknüpften finanz­ und wirtschaftspolitischen Maßnahmen als verfassungsmäßig anzusehen. Ebert neigte dazu, den Art. 48 zu einem generellen präsidialen Notverordnungs­ recht auszudehnen und im Zusammenhang mit der Krisenbekämpfung in die mate­ rielle Gesetzgebung einzugreifen. Dies trat besonders in der schweren Währungs­ und Wirtschaftskrise von 1923 hervor. Der Reichspräsident traf in weitem Umfang fi­ nanzpolitische Maßnahmen, die auf Art. 48 gestützt waren, obwohl sie formell in das Gesetzgebungsrecht des Reichstags eingriffen. Dabei spielte vielfach eine Rolle, daß es schwierig war, angesichts der latenten Parlamentskrise eine Mehrheit für unauf­ schiebbare Gesetze zu erreichen, und daß man gezwungen gewesen wäre, dabei die Inter­ essen der für die Mehrheitsbildung notwendigen Parteien stärker zu berücksichtigen. Gelegentlich wurden auch Materialien mittels des Art. 48 geregelt, für die eine gesetz­ liche Regelung nicht rechtzeitig ergangen war, wie die Gesetze vom 8. März 1924 zum Schutz des Funkverkehrs, die lediglich dem unkontrollierten massenhaften E rrichten von Funkanlagen durch E inführung der Genehmigungspflicht zu begegnen suchte 48 . Adolf Arndt hat die Bereitschaft Friedrich E berts, der Anwendung von Art. 48 auf Gegenstände der materiellen Gesetzgebung in so weitem Umfange zu entsprechen, aufs schärfste kritisiert, und es ist in diesem Zusammenhang vielfach von dem Reich­ spräsidenten als faktischem „zweitem Gesetzgeber“ gesprochen worden 4 9 . Auch die zeitgenössischen Staatsrechtslehrer haben sich wiederholt mit der Frage beschäftigt, inwieweit die Ausdehnung des Geltungsbereichs des Art. 48, die von ihnen vielfach für politisch notwendig erachtet wurde, mit der Verfassung vereinbar sei. Um in die­ ser umstrittenen Frage endlich Klarheit zu schaffen, brachte Hermann Müller im Reichstag den Antrag ein, das in der Verfassung vorgesehene Ausführungsgesetz zu Art. 48, das die Kompetenzen der Reichsregierung und des Reichspräsidenten einge313

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hend geregelt hätte, endlich zu verabschieden, doch blieb dieser Antrag wegen dei wenig später erfolgenden Auflösung des Reichstags unerledigt. Ohne Zweifel hatten die Regierungsparteien ein Interesse daran, die Vollmachten nach Art. 48 nicht gesetzlich einzuengen, da es sich langsam einbürgerte, Gesetzge­ bungsmaterien, für die nur mühselig eine Mehrheit zu gewinnen war oder die ungün­ stige Reaktionen bei den Wählern hervorrufen konnten, durch Verordnung aufgrund des Art. 48 zu regeln. Das galt gelegentlich auch für Verordnungen, die auf bestehen­ de, nur zeitlich befristete E rmächtigungen der Reichsregierung, Gesetze ohne die Zu­ stimmung des Reichstags zu erlassen, hätten gestützt werden können. Daß auch die „Ermächtigungsgesetze“, deren Ursprung auf den Beschluß der Nationalversamm­ lung zurückging, die notwendigen Übergangsgesetze ohne ihre Mitwirkung zu erlas­ sen, in weitem Umfang dazu benutzt wurden, keineswegs vordringliche gesetzgeberi­ sche Maßnahmen durchzuführen, beleuchtet nur die allgemeine Tendenz, die parla­ mentarische Verantwortung einzuengen. Die Überdehnung der Befugnisse des Reichspräsidenten nach Art. 48 muß freilich vor dem Hintergrund der schweren finanziellen und währungspolitischen Krise, den scharfen innenpolitischen Auseinandersetzungen und der eingeschränkten Hand­ lungsfähigkeit des Parlaments gesehen werden, das von seinem Recht, Maßnahmen nach Art. 48 aufzuheben, nur in ganz wenigen Ausnahmefällen Gebrauch gemacht hat. Die Benützung des Art. 48 zu nicht unmittelbar zur Wiederherstellung der Si­ cherheit und Ordnung dienenden Maßnahmen war insoweit ein Ausdruck der Insta­ bilität des parlamentarischcn Systems. Andererseits aber mußte diese Praxis die struk­ turelle Schwäche des politischen Systems von Weimar noch verstärken, die darin be­ stand, daß die Parteien sich von der Verantwortung zurückzogen, wenn sie wahltakti­ schen Interessen widersprach, und damit das Gesetzgebungsmonopol wie das Kon­ trollrecht des Reichstags de facto einschränkten 50 . E s zeigte sich bald, daß die Grenze zwischen für unaufschiebbar gehaltenen Notstandsmaßnahmen und aus politischer Bequemlichkeit auf Art. 48 gestützten Verordnungen fließend war. Eben besaß verfassungsmäßig die Möglichkeit, diesen Auswüchsen entgegenzutre­ ten, indem er die Gegenzeichnung der in der Regel vom Kabinett vorgeschlagenen Verordnungen verweigerte. E s entsprach jedoch nicht seiner Vorstellung von den Aufgaben des Staatsoberhauptes, aus rein Staats- und verfassungsrechtlichen Beden­ ken der Regierung dort entgegenzutreten, wo sie entschlossen war, rasch und ent­ schieden zu handeln. Nur in diesem Sinne ist die von Geßler zitierte Äußerung E berts zu verstehen, wenn man zwischen Deutschland und der Verfassung zu wählen habe, man Deutschland nicht wegen der Verfassung zugrunde gehen lassen könne 5 1 . Im Gegensatz zu der verbreiteten, bloß formalen Interpretation der Verfassung, die es schließlich den Gegnern der Demokratie erlaubte, unter Berufung auf die Verfassung dieselbe offen zu bekämpfen, dachte E ben einerseits pragmatischer, andererseits grundsätzlicher, wie dies etwa seine pointierte Ablehnung des Vertrages von Rapallo zeigt. Für die Fehlentwicklung, die in der Umformung des Art. 48 in eine konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit gelegen hat, können jedoch weder E ben noch die wech­ selnden Reichskabinette allein verantwortlich gemacht werden, zumal der Reichstag 314

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nicht bereit und in der Lage war, das Ausführungsgesetz zu Art. 48 zu beschließen. Schon die Nationalversammlung hatte sich nicht auf den Inhalt des Notverordnungs­ rechts einigen können, so daß Art. 48 in gänzlich ungenügender Form mit dem scha­ blonenhaften Begriff der „Wiederherstellung der Sicherheit und Ordnung“ arbeitete, der offen ließ, ob Art. 48 den Sinn hatte, die Verfassung zu bewahren oder sie durch Hoheitsakte, die gerichtlich nicht nachprüfbar waren, da es eine selbständige Verfas­ sungsgerichtsbarkeit nicht gab, faktisch abzuändern. Die unkontrollierte Oberdeh­ nung des Art. 48 entsprach vielmehr der generellen Tendenz, an einem „Staat über den Parteien“ festzuhalten. Daß E bert die über den Sinn des Verfassungstextes hinausrei­ chenden, weitgreifenden Vollmachten zugunsten der E rhaltung des demokratisch­ parlamentarischen Systems anzuwenden versucht hat, ändert jedoch nichts an der grundsätzlichen Problematik, daß die Notverordnungspraxis des Reichspräsidenten der Sache nach auf einen latenten Ausnahmezustand hinauslief, der die politischen Parteien, das Parlament, aber auch die Wähler ihrer unverzichtbaren Verantwortung für das Ganze enthob 52 .

8. E bert als Staatsmann Die Kritik an der E ntwicklung des Reichspräsidentenamtes unter Friedrich E bert soll und kann den Tatbestand nicht verdecken, daß er als Politiker des Ausgleichs in entscheidendem Maße dazu beigetragen hat, die Republik nach den schweren inneren Krisen angesichts stärksten außenpolitischen Drucks und härtester sozialer Spannun­ gen so weit zu stabilisieren, daß die Ansätze zu einer konstruktiven Außenpolitik von Stresemann aufgegriffen werden konnten und auf lange Sicht die Überwindung der hoffnungslosen außenpolitischen Isolierung des Reiches und ein dauernder Ausgleich mit Frankreich möglich wurde. E s kann kein Zweifel sein, daß für E bert der Gedanke der Bewahrung der Reichseinheit, die bis in die Novemberkrise 1923 hinein wieder­ holt gefährdet war, besonders am Herzen lag. Was E berts sozialpolitische Zielsetzung anging, so stand er, ebenso wie die Sozial­ demokratie als Ganzes, vor der Notwendigkeit, um der Bewahrung der Demokratie willen das Sozíalisierungsprogramm zurückzustellen. Als konsequenter Anhänger des demokratischen Prinzips lehnte er es ab, mit revolutionären Mitteln die Interessen der arbeitenden Massen durchzusetzen. Das „neue Deutschland“, das er anstrebte, konnte, wie er es ausdrückte, nicht durch den „radikalen Sprung ins Dunkle“ geschaf­ fen werden, „der sicher ein Sprung in den Abgrund wäre“ 5 3 . Unzweifelhaft verstand sich E bert als Anwalt staatlicher Autorität, was er in seiner Rede in der Nationalver­ sammlung mit der Wendung bekundete, daß sich die Freiheit nur „in fester staatlicher Ordnung“ gestalten könne 54 . Angesichts der chaotischen Bedingungen, unter denen die deutsche Republik von Weimar ins Leben trat, war diese Richtschnur berechtigt und notwendig. Daß er die Autorität des Staates für die Bewahrung der Freiheit, für die Sicherung der verfassungsmäßigen Ordnung einzusetzen gedachte, soweit es in seiner Kraft stand, wird auch aus seinem E intreten für die Republikschutzgesetzge­ bung deutlich 55 . 315

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Eberts Bemühungen waren ebenso vom Scheitern bedroht wie diejenigen Strese­ manns und fast aller verantwortungsbewußten Politiker von Weimar. Daß sich die „improvisierte Demokratie“, was die große Mehrheit der Wähler anging, nur der Form, nicht der Haltung nach in Deutschland durchzusetzen vermochte, war nicht darin begründet, daß die Repräsentanten des demokratischen Staatswesens, wie es Ebert in vorderster Reihe war, persönliche Opfer und E insatzbereitschaft bis an die Grenze der persönlichen Kräfte gescheut hätten, und ging auch nicht auf einzelne po­ litische Fehlentscheidungen zurück, sondern beruhte auf dem Übergewicht der Tra­ dition im breitesten Sinne, die es ausschloß, daß Deutschland in einem Sprunge, zu­ mal unter denkbar ungünstigen außenpolitischen und wirtschaftspolitischen Voraus­ setzungen, zu einem funktionierenden demokratischen Gemeinwesen gelangte. Auch Friedrich E bert stand im Banne der Tradition jahrzehntelanger Oppositions­ politik der Sozialdemokratie. E r versuchte in seiner Person die Staatsfremdheit, die dem sozialdemokratischen Denken seit jeher eigentümlich gewesen war, zu überwin­ den und seine Partei den Weg „staatspolitischer“ Verantwortung zu führen. Anders als viele sozialdemokratische Politiker besaß E bert ein Gefühl für Macht ebenso wie einen ausgeprägten Sinn für Recht und Gerechtigkeit. Indem er die Parteiführung ab­ gab, glaubte er, in seiner Person die Symbiose von sozialistischer Tradition und Beja­ hung staatlicher Autorität zur Darstellung bringen zu können. Die Ereignisse seiner sechsjährigen Präsidentschaft zeigten, daß die psychologischen, die sozialen und die geistigen Voraussetzungen dafür noch nicht gegeben waren. Arnold Brecht hat darauf hingewiesen, wie irreführend es sei, die Republik stets nur unter dem Gesichtspunkt des angeblichen Versagens der demokratischen Führer­ persönlichkeiten zu beurteilen. E r hat umgekehrt betont, wie erstaunlich es war, daß die Weimarer Republik trotz überwältigender Hindernisse im Inneren wie im Äuße­ ren, trotz der Tatsache, daß die führenden Schichten der Gesellschaft dem demokra­ tisch-parlamentarischen Staat zutiefst feindlich gesinnt gegenübertraten und sich al­ lenfalls zu einem Vernunftrepublikanismus bereit fanden, in so hohem Maße zu de­ mokratischen und parlamentarischen Formen vorgedrungen ist - in einer Situation, in der auch demokratische Gesellschaften mit einer wesentlich weiter zurückreichenden demokratischen Tradition schwere innere Krisen auszuhalten hatten 56 . Friedrich Ebert hatte die Prägung seines politischen Weltbildes und seiner demokratischen Ziel­ setzungen in einer Periode erfahren, die noch nicht auf die spezifischen innenpoliti­ schen Bedingungen der zwanziger Jahre mit ihrer Gefährdung durch Faschismus und Kommunismus antworten konnte. Wenn er sich im Laufe seiner Präsidentschaft dazu gedrängt sah, durch Konzessionen an konservative Gruppen, durch ständige Vermitt­ lung selbst gegenüber denjenigen, die im Grunde die Weimarer Republik nur als Not­ lösung empfanden, die Republik vor Zusammenbruch und Bürgerkrieg zu bewahren, dann war dies die Folge seines Glaubens an die Leistungsfähigkeit der Demokratie zur Lösung sozialer und nationaler Konflikte. Die Wandlung Gustav Stresemanns vom erklärten Nationalisten zum Anhänger einer Verständigung mit den Siegerstaaten und zum Verteidiger der demokratischen Republik mag zeigen, daß dieser Optimismus nicht leichtfertig war. E berts Beitrag zur E inübung der Demokratie in Deutschland war in seiner Zeit zum Scheitern verurteilt. Der gnadenlose Kampf, den die politische 316

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Rechte, aber nicht minder die kommunistischen Gruppen gegen ihn führten, hat nicht nur E berts frühen Tod verursacht, er war zugleich die Ouvertüre für die Beseitigung der demokratischen Staatsordnung. Es ist eine müßige Spekulation, ob es E bert als Parteiführer der Sozialdemokratie gelungen wäre, den Prozeß der Isolierung der Sozialdemokratie im Verlauf der E nt­ wicklung der Weimarer Republik zu verhindern, denn es gab in Wahrheit diese Alter­ native nicht. Sie hätte Halbherzigkeit gegenüber der wenn auch noch nicht definitiv beschlossenen, so doch in den Grundlinien festliegenden Weimarer Reichsverfassung und der von ihr geprägten demokratischen Ordnung bedeutet. E berts Entschluß, das Reichspräsidentenamt anzustreben, entsprang zugleich der E insicht, daß die SPD eine Berufspartei der arbeitenden Klassen darstellte, keine revolutionäre Bewegung, die potentiell die Gesamtheit der Bevölkerung hinter sich vereinigen konnte. Die Be­ reitschaft zur Zusammenarbeit mit den bürgerlichen Mittelparteien war daher für Ebert nicht nur eine Aushilfe, sondern die Konsequenz seiner demokratischen Kon­ zeption, die den Interessenausgleich aller Gruppen verlangte. Die spätere Sicht der innenpolitischen E ntwicklung von Weimar lehrt, daß nur eine Minderheit in den Par­ teien dazu bereit war. E benso wie sich die Sozialdemokratie in den Klassenturm des Heidelberger Programms von 1925 zurückzog, allerdings um daraus in der entschei­ denden Krisenphase der Weimarer Republik als Verteidiger der Demokratie zurück­ zukehren, kapselten sich die bürgerlichen Gruppen in eine politische Vorstellungs­ welt ein, die von der Illusion geprägt war, daß es möglich sei, die Existenz einer brei­ ten demokratischen Arbeiterbewegung auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik späte­ stens beim Herannahen der Krise zu ignorieren. Hinter dieser sich zunehmend ver­ breitenden Tendenz verbarg sich eine tief verwurzelte klassenpolitische Voreinge­ nommenheit. Unter diesen Bedingungen war das Ziel, das sich Friedrich E bert bei der Übernahme des Reichspräsidentenamts gesetzt hatte und das in der Forderung zu­ sammengefaßt war, auf demokratischem Wege einen Wachstumsprozeß zum Sozia­ lismus in Gang zu bringen, unerreichbar. Als Reichspräsident hat er das Seine getan, den sozialen und politischen Interessenausgleich auf dem Wege der Übereinkunft voranzutreiben und an das Verantwortungsbewußtsein für das Ganze zu appellieren. Am Totenbett des Sattlergesellen aus Heidelberg, des ersten Reichspräsidenten der deutschen Demokratie von Weimar, trat mit Klarheit hervor, daß er für die Republik unersetzlich geworden war.

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14. Die Bergarbeiterbewegung an der Ruhr 1918-1933 1. Voraussetzungen Trotz einzelner Ansätze in den 70er und 80er Jahren trat die organisierte Bergarbei­ terbewegung im rheinisch-westfälischen Industriegebiet erst relativ spät auf. Die Ein­ bindung in überwiegend konfessionell ausgerichtete Knappschaftsvereine, die berufs­ ständische Tradition aus der Periode des preußischen Staatsbergbaus und die starke Mobilität der Bergarbeiterschaft hatten daran einen wichtigen Anteil. E rst der Berg­ arbeiterstreik von 1889 gab den Anstoß zur Bildung von Richtungsgewerkschaften. Jedoch lehrte die Frühgeschichte des Alten Verbandes, daß die offene Anlehnung an die Sozialdemokratie, die im mitteldeutschen und schlesischen Revier ohne weiteres möglich war, an der Ruhr auf erhebliche Widerstände stieß, nicht nur wegen der nachwirkenden konfessionellen E inflüsse. Trotz der klar sozialdemokratischen E in­ stellung der Führer des Alten Verbandes sahen sie sich gezwungen, nach außen hin parteipolitisch neutral aufzutreten, um sich nicht mit der antiklerikalen Agitation der Sozialdemokratie zu belasten, die von der Mehrheit der Bergarbeiter an der Ruhr ab­ gelehnt wurde; auch innerhalb der Partei standen die Vertreter des Alten Verbandes auf dem rechten reformistischen Flügel. Der Versuch des Alten Verbandes, den Hauptkonkurrenten, den Gewerkverein christlicher Bergarbeiter neben dem Hirsch-Dunckerschen Gewerkverein und der Polnischen Berufsvereinigung durch gemeinsame Ausschüsse in Abhängigkeit von der eigenen Organisation zu bringen, scheiterte auf der ganzen Linie; unter dem Druck der vereinigten Bergbauunterneh­ merschaft stellte sich jedoch schon 1905 eine gewisse Zusammenarbeit her, die erst durch den Streik von 1912 vorübergehend unterbrochen wurde'. Die richtungspolitische Differenzierung der Organisation der Bergarbeiterschaft an der Ruhr beschränkte die Bewegungsfreiheit des Alten Verbandes, Das zeigt der katastrophale Ausgang des Dreibundstreiks vom März 1912 mit aller Deutlichkeit. Trotz sorgfältiger Vorbereitung scheiterte er nach wenigen Tagen, da entgegen den Hoffnungen des Alten Verbandes die Anhänger des Gewerkvereins den Streikparolen nicht Folge leisteten. Auf dem Höhepunkt des Streiks traten wenig mehr als 60 % der Bergarbeiter in den Ausstand 2 . Der christliche Bergarbeiterverband entzog sich der Solidarität der anderen Verbände vor allem aus Rücksichtnahme auf die Zentrumspar­ tei, lehnte eine Ausnützung der gleichzeitigen englischen Streikbewegung als unna­ tional ab und fürchtete, daß der Alte Verband mit dem Streik eine taktische Unter­ stützung der Sozialdemokratie bei den Reichstagswahlen beabsichtigte 3 . Die Strcikniederlage von 1912 bestärkte die Führung des Alten Verbandes darin, das Mittel des Arbeitskampfes nur mit äußerster Zurückhaltung und nur im E inver­ nehmen mit den übrigen Bergarbeiterorganisationen zu verwenden. Dabei spielte auch die Erfahrung mit, daß der Alte Verband nicht sicher sein konnte, die nichtorga318

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nisierte Arbeiterschaft hinter sich zubringen; zwar hatte sie sich im März 1912 in eini­ gen Bezirken an den Streikkämpfen lebhaft beteiligt, doch war vorauszusehen, daß sie der Führung des Verbandes bei längerem Ausstand entgleiten würde 4 . Die Verbands­ führung lenkte daher zur ursprünglichen taktischen Linie zurück, die Interessen der Bergarbeiterschaft durch E ingaben an die gesetzgebenden Körperschaften im Reich und Preußen zu verbessern. Das vorübergehende Ziel, den Verband Christlicher Bergarbeiter zu isolieren und auszuschalten, wurde zugunsten einer engen Zusam­ menarbeit der Verbände preisgegeben. Dies bedeutete von vornherein den Verzicht auf eine offensive Gewerkschaftsstrategie, wie sie sich nach 1918 im Deutschen Me­ tallarbeiterverband durchsetzte 5 . Ein weiterer Faktor für die zurückhaltende Politik der organisierten Bergarbeiter­ bewegung an der Ruhr ist die relative Stärke syndikalistisch-unionistischer Bestre­ bungen im rheinisch-westfälischen Industriegebiet. Ihre Ursachen sind noch nicht hinreichend erforscht. Zentren des späteren Unionismus sind die am spätesten er­ schlossenen Bergbauregionen mit stark zusammengewürfelter und rasch anwachsen­ der Arbeiterbevölkerung, wie vor allem der Hamborner Bezirk 6 . Zwar hat es seit je­ her, in der Form des Zechenlaufens, eine hohe Fluktuation im Ruhrbergbau gegeben, und sie stand einem kontinuierlichen Organisationswachstum entgegen. Bei der vor allem aus den östlichen preußischen Provinzen stammenden jüngeren Bergarbeiter­ schaft muß jedoch zusätzlich das geringe Maß sozialer Integration berücksichtigt werden. Ihr Interessenhorizont blieb, wie in den Zeiten der Frühindustrialisierung, auf die Probleme des engeren betrieblichen Bereichs beschränkt, ferner auf die kata­ strophale Wohnungssìtuation, die Knappschaftsfragen und die ärztliche Versorgung. Einflüsse aus der belgischen und holländischen Arbeiterbewegung zusammen mit Einwirkungen der deutschen Syndikalisten kamen hinzu. Infolge dieser Umstände blieb die politische Integration der Bergarbeiterschaft in die Parteien des Kaiserreichs gering; nur allmählich konnte die Sozialdemokratie an Boden gewinnen. Fast alle Streikkämpfe waren mit begrenzten Zielsetzungen geführt worden, die über die Lohn-, die Arbeitsplatz- und die Arbeitszeitfragen im wesentli­ chen nicht hinausreichten und keinerlei politischen Hintergrund hatten. Deshalb paß­ ten die Bergarbeiterstreiks von 1889 und 1905 auch nicht in das vom linken Flügel der deutschen Sozialdemokratie verfochtene Konzept des politischen Massenstreiks; sie entsprangen elementaren sozialen und ökonomischen Bedürfnissen und hatten mit der E ntfaltung eines klassenkämpferischen Bewußtseins nur wenig zu tun. Hier wurde noch um Voraussetzungen gerungen, die in anderen Berufszweigen weitge­ hend erkämpft waren: die Sicherung des freien Arbeitsvertrages, die Freizügigkeit, die durch schwarze Listen und unternchmerseitige Arbeitsnachweise faktisch durch­ löchert war, und nicht zuletzt die Beseitigung willkürlicher Maßregelungen durch die Zechenbeamten 7 . Es ist ein Charakteristikum der Bergarbeiterbewegung überhaupt, daß sie dort, wo sie gegen Arbeitsbedingungen und Löhne aufbegehrte, dies solidarisch und mit wach­ sender Radikalisierung unternahm und daß der einzelne Bergmann vor erheblichen persönlichen Risiken nicht zurückscheute. E ine rationale, langfristige Kampfstrategie widersprach der Mentalität der Bergarbeiterschaft. Andererseits fügte sie sich, na319

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mentlich im Ruhrbergbau, in eine Betriebsverfassung ein, die ungewöhnlich autori­ täre Züge aufwies. Dieser Widerspruch ist daraus zu erklären, daß der einzelne Berg­ arbeiter im Vergleich zu anderen Berufsgruppen in beträchtlichem Maße vom Wohl­ wollen der Unternehmer und der Grubenbeamten abhängig war. Der Wechsel der Gedingefestsetzungen, die Möglichkeit der Zechenverwaltung, die Arbeitszeit durch die Anordnung von Feier- oder Oberschichten willkürlich zu regeln, und die unter­ schiedlichen Abbaubedingungen bewirkten eine relativ große ökonomische Unsi­ cherheit und führten überdies zu stark wechselnden Realverdiensten. Das erklärt so­ wohl die große Streikbereitschaft im Falle eines offenen Konflikts zwischen Beleg­ schaft und Grubenverwaltung als auch das Fortbestehen der gerade für den Ruhr­ bergbau bis in die 20er Jahre hinein bezeichnenden patriarchalischen Züge in der Be­ triebsverfassung, die trotz der beträchtlichen Rationalisierungsfortschritte in den 20er Jahren weithin erhalten blieben. Die gemäßigt-konservative Haltung der meisten Bergarbeiterführer muß auf dem Hintergrund des altertümlich anmutenden Sozialklimas im Ruhrbergbau gesehen werden, wie man es sonst nur in den Anfängen der organisierten Bergarbeiterbewe­ gung findet. Männer wie Hermann Sachse, Otto Hue und Heinrich Imbusch dachten nicht in den Kategorien des Klassemkampfes; sie wollten Gleichberechtigung und Achtung des Bergmannsstandes. Sie dachten durchaus in nationalen Kategorien. Die Verbandsmitglieder gehörten durchweg den sozial vergleichsweise abgesicherten Ar­ beitergruppen an; sie standen in einer gewissen Spannung zu den nichtorganisierten, meist starker Fluktuation unterworfenen unteren Lohngruppen. Sie kämpften gegen die Herr-im-Hause-Mentalität des Zechenverbandes an, nicht um das Verhältnis zwi­ schen Kapital und Arbeit grundlegend zu verändern, sondern um die Auswüchse zu beseitigen, die Jahrzehnte rapiden Wachstums des Ruhrbergbaus und einseitige Maß­ nahmen der Unternehmerseite im Zuge der vollen Durchsetzung kapitalistischer Be­ triebsführung im Ruhrbergbau bewirkt hatten.

2. D i e A n e r k e n n u n g der B e r g a r b e i t e r v e r b ä n d e als Tarifpartner Der Alte Verband hatte den Streik von 1912 maßgeblich mit dem Ziel unternom­ men, den Zechenverband dazu zu zwingen, die Bergarbeiterverbände als Tarifpartei anzuerkennen und mit ihnen zentrale Lohnvereinbarungen abzuschließen. Die starre Haltung des Zechenverbandes verhinderte eine Annäherung der Standpunkte. In die­ ser Lage mußte die Führung des Alten Verbandes die mit dem Ausbruch des E rsten Weltkrieges eingeleitete Burgfriedenspolitik ausdrücklich begrüßen. Die Respektie­ rung der Bergarbeiterverbände durch die Reichsregierung bedeutete einen wichtigen Schritt auf dem Wege der Sicherung der Organisationen. Auf diesem Hintergrund ist die zurückhaltende Politik des Alten Verbandes zu sehen, der trotz zunehmender Streikneigungen und einer sich noch versteifenden Haltung der Unternehmerschaft kooperationswillig blieb und alles tat, um die seit 1916 hervortretende Radikalisie­ rung der Bergarbeiterschaft abzufangen. Gewiß mußten die Verbandsfunktionäre 320

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vermeiden, mit der Verantwortung für Bergarbeiterstreiks belastet zu werden; ange­ sichts der Schwäche der Reichsregierung gegenüber der OHL mußten sie eine Unter­ drückung der Bergarbeiterorganisationen befürchten. Schwerwiegende E ingriffe in die gewerkschaftliche Arbeit in Schlesien konnten durch Proteste bei der Reichslei­ tung teilweise rückgängig gemacht werden. Andererseits duldete die Verbandsfüh­ rung die staatlichen Unterdrückungsmaßnahmen gegen Anhänger der USPD und des Spartakusbundes und unterstützte die fragwürdige Politik der Mehrheitssozialdemo­ kratie im Reichstag. Was die Organisation anging, zahlte sich die von den Bergarbeiterverbänden be­ folgte Linie einer möglichst engen Zusammenarbeit mit der Reichsregierung aus. In zahlreichen E ingaben bemühten sie sich mit gewissem E rfolg um die Verbesserung der materiellen Lage und der Lebensmittelversorgung der Bergarbeiterschaft. Sie konnten jedoch trotz der verschiedentlich mit Hilfe der Regierung durchgesetzten Lohnerhöhungen und Teuerungszulagen nicht verhindern, daß der Realverdienst der Bergarbeiter angesichts steigender Lebenshaltungskosten unter das Vorkriegsniveau absank 8 . Hingegen gelang es ihnen, den extremen Mitgliederverlust der ersten beiden Kriegsjahre durch ein verstärktes Organisationswachstum seit 1917 wettzumachen, so daß die äußerliche Stellung des Alten Verbandes, aber auch der übrigen Bergarbei­ terorganisationen am E nde des Krieges günstiger war als vor 19149. Hingegen erzielten die Bergarbeiterverbände in der Frage der Anerkennung als Ta­ rifpartei durch die Bergbauunternehmerschaft keinerlei nennenswerte Fortschritte. Das vaterländische Hilfsdienstgesetz hatte mit der Einrichtung von Arbeiterausschüs­ sen und E inigungsämtern eine gewisse Stärkung der gewerkschaftlichen E influß­ nahme auf die Betriebe gebracht. Jedoch war die rheinisch-westfälische Schwerindu­ strie nicht bereit, sich mit diesen im Zeichen der Burgfriedenspolitik verordneten Maßnahmen abzufinden. Mit Recht kritisierte die Bergarbeiterschaft, daß das Hilfs­ dienstgesetz im Ruhrbergbau nur unzureichend durchgeführt worden war, und wandte sich vor allem gegen die übertriebene Anwendung des Systems der Abkehr­ scheine, das faktisch die Freizügigkeit beseitigte und die Arbeitnehmer den jeweiligen betrieblichen Lohnzugeständnissen unterwarf. E s war bezeichnend, daß die Schwe­ rindustrie es nach wie vor ablehnte, mit den Gewerkschaftsverbänden zu verhandeln; statt dessen suchte sie auf die gesetzlich vorgeschriebenen Arbeiterausschüsse Druck auszuüben. Namentlich der Zechenverband suchte seine vorzüglichen Querverbindungen zur Obersten Heeresleitung dazu auszunützen, die im Hilfsdienstgesetzt verankerten, nicht eben weitgehenden Konzessionen an die Gewerkschaften zurückzunehmen, da deren Fortbestand eine Bedrohung der E xistenzgrundlage der Industrie darstellte 10 . Dieser Angriff konnte von der Generalkommission und durch das E intreten des Reichstags gegen eine Verschlechterung der Bestimmungen des Hilfsdienstgesetzes abgewendet werden; hingegen blieben die weiterreichenden gewerkschaftlichen Ini­ tiativen zur Bildung von Arbeitskammern und zur gesetzlichen Absicherung des Ta­ rifvertragswesens angesichts der innenpolitischen Krisensituation seit 1917 zum Scheitern verurteilt 11 . Die antigewerkschaftliche Offensive der Schwerindustrie, die mit nationalistischen Duchhalteparolen garniert war und diese sozialpolitisch regres321 21

Mommsen, Arbeiterbewegung

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siv auszunützen versuchte, muß mit den verschärften sozialen Spannungen seit 1917 zusammen gesehen werden. Was die Bergarbeiterschaft an der Ruhr anging, hatten die Agitation der USPD und der Spartakusgruppe sowie die russische Oktoberrevolu­ tion nur geringen E influß auf die nun allenthalben ausbrechenden Streiks, in die sich die Bergarbeiterverbände sogleich mäßigend einzuschalten versuchten. Vielmehr be­ ruhten sie auf der sozialen Notlage der Bergarbeiter, auf der verheerenden Lebensmit­ telversorgung, den immer unzureichenderen Arbeitsbedingungen infolge der Intensi­ vierung des Abbaus, die mit einer Vermehrung der Unfallziffern verbunden war, dem Lohndruck durch den E insatz von Kriegsgefangenen und der auf dem schwarzen Markt sichtbaren inflationären Tendenz. Die Unzufriedenheit wurde durch häufige schikanöse Maßregelungen von Seiten der Grubenbeamten und die starken psychi­ schen Belastungen der Bergarbeiter, denen die Einziehung zum Militärdienst im Falle von Arbeitsverweigerung angedroht wurde, maßgeblich verstärkt. Die Bergarbeiter­ verbände nahmen demgegenüber eine überwiegend passive Haltung an. Mit dem Ver­ zicht auf das Streikrecht hatten sie ihren Bewegungsspielraum, der durch willkürliche Übergriffe der Wehrbezirkskommandos noch weiter eingeschränkt wurde, keines­ wegs ausdehnen können; paradoxerweise profitierten sie organisatorisch von den Streikbewegungen und der Unnachgiebigkeit der Unternchmerseite, die die Not­ wendigkeit straffer Organisation der Arbeiterschaft zu bestätigen schienen 12 . Noch im Sommer 1918 hatte der Zechenverband in einer für die Oberste Heereslei­ tung bestimmten Denkschrift klar zum Ausdruck gebracht, daß er nicht bereit sei, zentrale Lohnvcrhandlungen mit den Bcrgarbcitcrverbändcn zu führen. E s komme den „Organisationsführern“, hieß es in der Denkschrift 13 , keineswegs darauf an, „sich mit den Arbeitgebern lediglich über die Wünsche der Arbeiterschaft und etwa­ ige Differenzen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu unterhalten..., son­ dern als die Vertreter der gesamten Arbeiterschaft in E rscheinung zu treten und da­ durch ihre Macht als gleichberechtigte und vertragsschließende Parteien zu zeigen. Erlangen sie diese Macht, dann gibt es kein Halten mehr auf dem beschrittenen Weg“. Ein E ingehen auf die gewerkschaftlichen Forderungen werde die E xistenzfähigkeit der Industrie auf lange Sicht zerstören, denn es sei „geradezu unnatürlich, Organen der Arbeiterverbände oder ihren Führern, die keinerlei Verantwortung für das Ge­ deihen des Unternehmens und kein Risiko tragen, ein Mitbestimmungsrecht in der Wirtschaftsführung, den Lohnfragen, der Preisgestaltung einzuräumen“. E s ist be­ merkenswert, daß selbst in der Zeit der Weimarer Republik die gewerkschaftliche Seite diese langfristigen Konsequenzen gewerkschaftlicher Tarifpolitik niemals so klar formuliert hat, wie dies in der Denkschrift des Zechenverbandes der Fall war. Angesichts des prinzipiellen Festhaltens am Herr-im-Hause-Standpunkt im Som­ mer 1918 mutet das E ingehen des Zechenverbandes auf den Gedanken einer institu­ tionalisierten Arbeitsgemeinschaft beider Tarifparteien als vollständige Kehrtwen­ dung an. Das Bündnis, das Mitte November 1918 besiegelt wurde und formell bis 1924 bestand, beruhte auf einer Reihe von unklaren, situationsbezogenen Kompro­ missen, die der Furcht vor den Konsequenzen einer rapiden Demobilisierung und der Erwägung einer eventuellen levée en masse bei schmachvollen Waffenstillstandsbe­ dingungen entsprangen. E ntscheidend war, daß das Abkommen von Seiten der Berg322

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bauunternehmerschaft nicht als bewußt angestrebte Neugestaltung, sondern als Pro­ dukt der äußersten Notlage, als Ergänzung der militärischen durch eine wirtschaftli­ che Niederlage empfunden und als Konzession auf Zeit aufgefaßt worden ist. Den Anstoß zur Revision der Haltung des Zechenverbands in der Frage der Aner­ kennung der gewerkschaftlichen Zentralverbände gab die Eingabe der vier Bergarbei­ terverbände an den Vorstand des Zechenverbandes vom 12. Oktober 1918. Sie war vorher mit Hugo Stinnes vereinbart worden, wobei die Initiative zunächst von Otto Hue ausgegangen sein dürfte. Von einer auf Dauer beabsichtigten und institutionali­ sierten Kooperation der Tarifparteien war noch keine Rede. Das Schreiben der Berg­ arbeiterverbände zeichnete sich durch eine ungewöhnlich gemäßigte Sprache aus und behielt den patriotischen Kontext der Burgfriedenspolitik bei. E s beschränkte sich auf die Darlegung einer Reihe von sozialpolitischen Gravamina und die Aufforderung, zentrale Verhandlungen alsbald zu führen; ein formelles E rsuchen, die Verbände als Vertreter der Bergarbeiterschaft anzuerkennen, fehlte in der E ingabe; allerdings war dies in der vorausgegangenen Unterredung zwischen Stinnes und Hue zur Sprache gekommen, und es war dort auch die Frage der Nichtanerkennung der Werkvereine aufgeworfen worden 14 . In der rasch angesetzten Geschäftsausschußsitzung des Zechenverbandes am 14. Oktober trat Alfred Hugcnberg nachdrücklich dafür ein, auf die Eingabe der Bergar­ beiterverbände einzugehen, da es besser und würdiger sei, „einem innerhalb kurzer Zeit mit Bestimmtheit zu erwartenden gesetzlichen Zwange zuvorzukommen und freiwillig zu verhandeln, als die Welle über sich hinweggehen und sich innerhalb we­ niger Wochen ein Verhandeln mit den Organisationen aufzwingen zu lassen“. Hu­ gcnberg hob die zu erwartenden Schwierigkeiten der Demobilisierung hervor, die nur durch die Mithilfe der Arbeiterorganisationen überwunden werden konnten. Im üb­ rigen habe im Hinblick auf die bevorstehenden Verhandlungen in der E isenindustrie „ein weiteres Sträuben doch keinen Zweck mehr“ 1 5 . Der eigentliche Motor eines Nachgebens durch den Zechenverband war Stinnes. E r wies auf seine Verhandlungen mit Hue hin, in denen neben dem Problem der Demobilisierung auch der Gedanke ei­ nes Zusammengehens zur Abwehr schmachvoller Friedensbedingungen erörtert worden sei. Hugenbergs und Stinnes' Stellungnahmen in der Geschäftsausschußsitzung waren offenbar vorher abgesprochen und auf die Stimmung der Ausschußmitglieder zuge­ schnitten, die zwar innerlich widerstrebten, aber keinen E inspruch gegen das von Hugenberg vorgeschlagene Vorgehen zu erheben wagten. Man beschloß, die Ver­ bände am 18. Oktober zu empfangen. Ihre konkreten Forderungen wollte man zu­ nächst hinhaltend beantworten und vermeiden, von sich aus irgendwelche Angebote zu machen. Man kam überein, die Frage der förmlichen Anerkennung der Organisa­ tionen nach Möglichkeit nicht anzuschneiden und für den Fall, daß dies unumgäng­ lich sein würde, auf der E inbeziehung der wirtschaftsfriedlichen Vereinigung zu be­ stehen. Die Verhandlungen vom 18. Oktober führten nur zu partiellen Resultaten, obwohl die Gewerkschaftsvertreter in einer Reihe von materiellen Punkten unerwar­ tet konzessionsbereit waren. Nach einem begrenzten E ntgegenkommen in der Lohn­ frage und bezüglich der Sperrabkommen im Oktober wurde erst am 14. November 323

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die Sicherung der Achtstundenschicht, die Einführung von Zuschlägen für Über- und Nebenschichten, die Gewährung eines Mindestlohnes für die Gedingearbeiter von 4/5 des Durchschnittslohnes und die Schaffung eines paritätischen Arbeitsnachweises vereinbart. Hingegen blieb die Frage der Anerkennung der gelben Vereinigungen bis zuletzt strittig, wobei insbesondere die Vertreter des Christlichen Bergarbeiterver­ bandes eine entschieden ablehnende Haltung einnahmen; von gewerkschaftlicher Seite wurde geltend gemacht, daß die Gewerkschaftsführer bei einer E inbeziehung der Gelben dem Vorwurf der Arbeiter ausgesetzt sein würden, von den Werksbesit­ zern gekauft zu sein. Schließlich wurde die Frage mit dem Hinweis auf den inzwi­ schen in Berlin erzielten Kompromiß zurückgestellt 16 . Die Anerkennung als Tarifpartner wurde von den Bergarbeiterverbänden als gro­ ßer E rfolg gewertet, obwohl die Haltung des Zechenverbands in der Frage der Werk­ vereine erhebliche Reservationen erkennen ließ. Die Euphorie der Führung des Alten Verbandes, den Zechenverband zum E inlenken gebraucht zu haben, schlägt sich noch in der nachträglichen Äußerung August Schmidts nieder: „E in ganzer Katalog von jahrealten Forderungen war nun auf einmal hinfällig“ 17 . Diese E inschätzung der Si­ tuation war jedoch keineswegs gerechtfertigt und ist nur im Lichte der vorausliegen­ den Konflikte im Ruhrbergbau verständlich. Denn die faktisch erreichten Zugeständ­ nisse blieben begrenzt. Die inhaltliche Ausfüllung der neuerlangten Tarifhoheit blieb unklar; noch am 18. Dezember 1918 konnte der Vorstand des Zechenverbandes fest­ stellen, daß die Bergarbeiterverbände ein Verlangen nach einem Tarifvertrag bislang lediglich angedeutet hätten 18 . Überdies mußten die Bergarbeiterverbände intern zusi­ chern, von jedem „terroristischen“ Organisationszwang in den Betrieben abzusehen. Angesichts der revolutionären Bewegung nach dem 9. November haftete den Ver­ handlungen zwischen dem Zechenverband und den Bergarbeiterverbänden ein un­ wirklicher Zug an. E s wurde um E inzelheiten gerungen, die politisch vergleichsweise belanglos waren. Aus der internen Korrespondenz des Zechenverbands mit den Ver­ bandszechen geht die Zähigkeit, mit der er die Zugeständnisse an die Arbeitnehmer zu begrenzen suchte, mit aller Klarheit hervor. Insbesondere bekämpfte man alle Versu­ che, den Gewerkschaften einen E influß auf Fragen einzuräumen, die nicht zentrale Tarifvereinbarungen betrafen. Der Zechenverband lehnte es ausdrücklich ab, Ver­ bandsfunktionäre zu den Arbeiterausschußsitzungen hinzuzuziehen. Sein Bestreben, alles noch nicht verlorene Terrain zu halten, geht beispielsweise aus dem Rundschrei­ ben an die Verbandszechen vom 12. Dezeber 1918 hervor, in dem betont wurde, daß die Gewährung freien Geleuchtes sich keineswegs auf das Gezähe erstrecke und mut­ willige Beschädigungen oder Verluste nicht einschließe 19 . Der Zusammenhang der Verhandlungen im Ruhrbergbau mit den gleichzeitig in Berlin geführten Gesprächen zur Gründung der Zentralarbeitsgemeinschaft ist vor al­ lem durch die führende Rolle von Hugo Stinnes klar ersichtlich. Jedoch scheint sich dieser der Bitte Hans v. Raumers, die Verhandlungen an der Ruhr zu verzögern, da er weitergehende Forderungen der Gewerkschaftsseite befürchtete, zunächst verschlos­ sen zu haben 20 . Tatsächlich hatten die Verhandlungen im Ruhrbergbau, obwohl sie mit Kontakten zwischen Hue und Stinnes schon vordem 9. Oktober 1918 einsetzten, noch nicht zu endgültigen E rgebnissen geführt, als die Vereinbarung über die Grün324

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dung der Zentralarbeitsgemeinschaft erfolgte. Angesichts der zentralen Abkommen wurde die Frage der gelben Gewerkschaften, aber auch, als Kompensation dazu, der Anspruch der Bergarbeiterverbände, Anschläge in den Zechen anbringen und Bei­ träge kassieren zu dürfen, vertagt 21 . Zugleich erkauften die Gewerkschaften die An­ erkennung als Tarifpartei mit dem Zugeständnis, von E ingriffen in die Arbeits- und Betriebsverhältnisse der Zechen abzusehen. Dies war zwar zunächst auf die Tätigkeit der Arbeiterräte gemünzt worden, wurde aber bald dahin interpretiert, daß eine Be­ einflussung betriebswirtschaftlicher E ntscheidungen den Bergarbeiterverbänden nicht zugestanden werden könne 2 2 . Die Arbeitsgemeinschaft, die am 15. November 1918 mit einem gemeinsamen Aufruf von Bergarbeiterverbänden und Zechenverband an die Öffentlichkeit trat, ohne daß der Begriff Arbeitergemeinschaft verwandt wur­ de 2 3 , war durch den Druck von außen zustandegekommen. E s war bezeichnend, daß der Zechenverband alsbald seine Mitglieder anwies, keinerlei Konzessionen zu ma­ chen, die über die bisherigen Vereinbarungen hinausgingen 24 . Der Zechenverband betrachtete das Übereinkommen mit den Bergarbeiterverbän­ den in erster Linie als Instrument zur Sicherung des Arbeiterfriedens im streikbedroh­ ten Ruhrbergbau. Auch für die Bergarbeiterverbände, insbesondere den Alten Ver­ band, stand dieses Motiv im Vordergrund. Immer wieder beschwor die Verbandsfüh­ rung die Bergarbeiterschaft, um der Sicherung der Demokratie willen und angesichts der Gefahr eines E inmarsches der Alliierten, der zur Beseitigung aller sozialpoliti­ schen E rrungenschaften führen würde, von Streikaktionen und wirtschaftlich utopi­ schen Forderungen Abstand zu nehmen 25 . Sie vermochte jedoch die unzufriedene und enttäuschte Bergarbeiterschaft nicht unter Kontrolle zu bringen, deren E rwar­ tungen sowohl in der Arbeitszeitfrage wie in bezug auf die Löhne wesentlich weiter gesteckt waren, als sie in den ersten Verhandlungen mit der Unternehmerseite erreicht wurden. Der Alte Verband begab sich in den kommenden Monaten vollends in eine schwächliche und politisch fragwürdige Vermittlerrolle. In den während der ausge­ dehnten Streikbewegungen geführten Tarifverhandlungen begründete der Alte Ver­ band seine jeweils erhöhten Forderungen ausdrücklich damit, daß er bei Nichterfül­ lung seiner Wünsche die Führung über die Bewegung der Bergarbeiter verlieren wür­ de. Dies war keineswegs nur ein taktisches Argument. Im Grunde handelte die Ver­ bandsführung nicht anders, als sie in den letzten Kriegsjahren gehandelt hatte. Die weitgehende Nachgiebigkeit der Vertreter der Bergarbeiterverbände, die in klarem Kontrast zu der wenig konzilianten Verhandlungsführung seiner Kontrahen­ ten stand, erklärt sich aus ihrer Rücksichtnahme auf die Regierung und aus dem Be­ streben, das neugewonnene Prinzip des Ausgleichs von Tarifkonflikten auf dem Ver­ handlungswege nicht zu gefährden. Praktisch machten sich die Verbände damit von der Arbeitgeberorganisation abhängig und verloren die Initiative an die radikalen Be­ strebungen unter den Bergarbeitern bis in den Herbst 1920 hinein; dies wirkte sich in einem empfindlichen Rückgang der Mitgliedschaft des Alten Verbandes* zugunsten der konkurrierenden unionistischen Gruppen aus 26 . Die taktische Linie der Bergar­ beiterverbände bestand darin, durch eine weitgehende Ausgestaltung der tarifvertrag­ lichen Vereinbarungen die errungenen sozialpolitischen Konzessionen zu sichern und diese nur den eigenen Mitgliedern zugute kommen zu lassen. Mit dem Zechenverband 325

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stimmten sie darin überein, die Freie Arbeiter-Union von den Tarifverhandlungen auszuschließen, was, gerade vom Gesichtspunkt der Organisationsverhältnisse im rheinisch-westfälischen Industriegebiet aus, eine Ubergehung quantitativ bedeutsa­ mer Organisationen der Bergarbeiterschaft bedeutete. Sie rechtfertigten diese Politik mit dem gewiß unabweisbaren Argument, daß angesichts der extremen Forderungen der unionistischen Bewegung der angestrebte Manteltarifvertrag im Ruhrbergbau nicht Zustandekommen würde. Daß in dieser Beziehung ein ungewöhnlich großer Nachholbedarf bestand, und daß die Koordinierung der Interessen der Richtungsge­ werkschaften wie der beteiligten Gewerkschaftsverbände anderer Berufsgruppen er­ hebliche Probleme aufwarf, erklärt den langen Zeitraum der Verhandlungen, die erst durch das E inwirken des Reichskommissars Severing am 25. Oktober 1919 zu einem positiven Abschluß führten, bezeichnenderweise ohne daß von Seiten des Alten Ver­ bandes eine Vollmacht für dessen Unterhändler vorhanden war 27 . Der tarifpolitische Fortschritt, der mit dem Zustandekommen des ersten Tarifver­ trags im Ruhrbergbau überhaupt erzielt wurde, war jedoch durch die Tatsache ge­ trübt, daß der Zechenverband in der Frage der Bücherkontrolle unnachgiebig blieb und insbesondere die Forderung der Bergarbeiterverbände ablehnte, die Segnungen des Manteltarifs nur den Angehörigen ihrer Organisationen zukommen zu lassen. Der Formelkompromiß, den Severing schließlich erzielte, wurde zwar vom Alten Verband hoffnungsvoll begrüßt, doch erblickte der Zechenverband in der Feststel­ lung, daß der Tarifvertrag keine Rechtsansprüche für Außenstehende begründe, so­ lange er nicht für verbindlich erklärt sei, eine leere Formel, da er es mit Recht ablehn­ te, Nichtmitglieder der vertragsschließenden Parteien schlechter zu behandeln 28 . Das Verhalten der Bergarbeiterverbände in dieser Frage, das nur mit dem massiven Druck der syndikalistischen und unionistischen Verbände erklärt werden kann, ist für ihr Selbstverständnis und ihre Isolation von der radikalisierten Bergarbeiterschaft auf­ schlußreich; es gab zugleich dem Zechenverband eine gefährliche Waffe in die Hand, die gewerkschaftliche Tarifpartei in den von radikalen Mehrheiten geprägten Betrie­ ben bloßzustellen. Durch die Konzentration ihrer Arbeit auf tarifpolitische Fragen im engeren Sinne verspielten die Bergarbeiterverbände die Chance, ihre unentbehrliche Vermittlung in der Umbruchsphase vom November 1918 zur Sicherung ihrer Position gegenüber dem Zechenverband zu nützen. Gewiß ließ sich ihre Bereitschaft, die Funktionsfä­ higkeit des Bergbaus unter allen Umständen zu wahren, unter den gegebenen Um­ ständen nur begrenzt verwerten. Denn die Mehrheit der Bergarbeiterschaft war nicht gewillt, den beschwörenden Aufrufen der Verbände, Streikhandlungen einzustellen und die für die deutsche Volkswirtschaft grundlegend wichtige Steinkohlenförderung zu intensivieren, Folge zu leisten. Die Führer der Bergarbeiterverbände machten sich nicht hinreichend klar, daß sie dem Verhandlungspartner solange notwendig unterle­ gen bleiben mußten, als sie nicht in die betriebswirtschaftlichen Fragen und die Preis­ und Absatzpolitik der Zechen unmittelbar eingeschaltet waren. Zweifellos war der Zechenverband zu keinem Zeitpunkt bereit, den Bergarbeiterverbänden E inblick in die wirtschaftliche Lage der einzelnen Zechen zu gewähren und ihnen die Geschäfts­ unterlagen zugänglich zu machen. Aber die Verbandsführer haben dies zu keinem 326

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Zeitpunkt energisch gefordert. Seit 1924, als die Frage der Rentabilität des Steinkoh­ lenbergbaus in den Mittelpunkt der Auseinandersetzungen trat, erwies es sich als ein uneinbringliches und daher verhängnisvolles Versäumnis, die E insichtnahme in die Geschäftsunterlagen der Zechen nicht zu einem Zeitpunkt durchgesetzt zu haben, in dem diese schwerlich einen offenen Bruch mit den gemäßigten Bergarbeiterverbänden hätten wagen können. Zudem war diese Unterlassung um so fragwürdiger, als die Bergarbeiterverbände bereit waren, in den gemeinwirtschaftlichen Institutionen des Steinkohlenbergbaus den Wunsch des Zechenverbands, den Kohlepreis zu erhöhen, nachdrücklich zu unterstützen 29 . Aber auch unabhängig von dieser mit dem Betriebsrätegesetz zugunsten der Unter­ nehmerseite entschiedenen Frage unterlief den Bergarbeiterverbänden ein im Lichte der späteren E ntwicklung entscAheidender taktischer Fehler, indem sie bereitwillig darauf eingingen, tarifpolitische E ntgegenkommen des Zechenverbandes mit der ge­ spannten politischen Lage zu begründen. Als der Zechenverband weitere Lohnerhö­ hungen von der Verbesserung der E rtragslage abhängig machte, erklärten die Vertre­ ter der Bergarbeiterschaft sich bereit, gegenüber der Regierung und im Reichskohlen­ rat für eine Erhöhung der Kohlenpreise einzutreten. Darüber hinaus unterstützten sie schon Anfang Januar 1919 die Forderung des Zechenverbandes, daß das Reich ihm angesichts der Illiquidität der Konzerne durch Kredite und Vorschußzahlungen zu Hilfe kommen solle, was freilich von der Regierung zurückgewiesen wurde 3 0 . Die aus der Kriegswirtschaft stammende und von der Bergbauunternehmerschaft bewußt beibehaltene Methode, für steigende Lohnkosten öffentliche Kompensationen, sei es über den Kohlepreis, über verbilligte Frachttarife oder andere indirekte Subventio­ nen, zu verlangen, hätte von der Bergarbeiterseite nur akzeptiert werden dürfen, wenn ihr gleichzeitig E insicht in die finanziellen Verhältnisse der Zechengesellschaf­ ten gewährt worden wäre. So nützte der Ruhrbergbau seine volkswirtschaftliche Schlüsselstellung zur Abwälzung erhöhter Lohnkosten auf die Verbraucher und die öffentliche Hand aus, ohne daß seine ökonomischen Dispositionen einer wirksamen Kontrolle unterworfen wurden. Unabhängig davon fand die später von seiten des Zechenverbands immer wieder ins Feld geführte Behauptung von den dem Bergbau aufgezwungenen „politischen Löh­ nen“ eine indirekte Bestätigung in der Haltung der Bergarbeiterverbände. Die ohne­ hin recht zaghaften Lohnerhöhungen bis zum Frühjahr 1919 erschienen somit als po­ litische Notmaßnahme, die unter normalen wirtschaftlichen Bedingungen nicht hätte verwantwortet werden können. Dies war um so bedenklicher, als das begrenzte E nt­ gegenkommen der Unternehmerschaft vor allem von der Sorge diktiert war, daß die Wahlen zur Nationalversammlung den Unabhängigen Sozialdemokraten und den in ihrer Stärke völlig überschätzten kommunistischen Gruppen maßgebenden E influß einräumen könnten. Schon nach den Wahlen trat eine klare Rechtsschwenkung des Zechenverbandes ein 31 . Die gleichzeitig einsetzende Sozialisierungsbewegung brachte die Bergarbeiterverbände in eine taktisch nahezu auswegslose Situation; mehr denn je suchten sie Anlehnung an die Reichsregierung und das sich nun entwickelnde staatliche Schlichtungswesen. 327

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3. Streikkämpfe im Ruhrgebiet 1919/20 Die politische Polarisierung der Arbeiterbewegung im Ruhrgebiet seit dem Herbst 1918 geht in mancher Hinsicht auf die Streiksituation von 1912 zurück. Wie lebhaft die damalige Auseinandersetzung nachwirkte, zeigt sich auch darin, daß die Frage der Rückzahlung der wegen Kontraktbruchs von der Unternehmerseite 1912 einbehalte­ nen sechs Schichtlöhne in den Verhandlungen zur Beilegung der ersten wilden Streiks eine gewisse Rolle spielte. Die radikalen Ausstandsbewegungen, die sich vom Zen­ trum Hamborn aus im westlichen Ruhrgebiet ausbreiteten, entzündeten sich durch­ weg an konkreten Lohn- und Arbeitszeitfragen, wobei die nicht voll eindeutige Ver­ einbarung über die achtstündige Schichtzeit einschließlich Seilfahrten vom 18. No­ vember 1918 einen der auslösenden Faktoren darstellte 32 . Für die Bewegung war cha­ rakteristisch, daß sie primär soziale Verbesserungen der Lage der Bergleute, vor allem eine Verkürzung der Arbeitszeit, die Zahlung von Mindestlöhnen und Urlaubsgeld sowie die Zusicherung angemessener Deputatkohlenlieferungen anstrebte. Obwohl die zum Streik aufrufenden Gruppen vereinzelt Verbindungen zur USPD-Führung und zum Spartakusbund hatten, spielten revolutionäre Parolen und auch die später in den Mittelpunkt tretende Sozialisierungsfrage keine nennenswerte Rolle. Die Spon­ taneität der Streikbegegung, die sich von Zeche zu Zeche ausbreitete, zumal nachdem einzelne Zechenverwaltungen einigen Forderungen nachgegeben hatten, war unbe­ zweifelbar. Die Bewegung erfolgte in Reaktion auf die Unterdrückungsmaßnahmen während des Krieges, entsprang zugleich der unzureichenden Versorgungslage und den noch immer unbefriedigenden Arbeitsverhältnissen in den einzelnen Betrieben. Die Nachricht, daß im schlesischen Revier Lohnaufbesserungen erreicht worden wa­ ren, bestärkte die allgemeine Streikwilligkeit; E rhöhungen der Gehälter der Gruben­ beamten kamen hinzu. Angesichts der fortbestehenden sozialen Spannungen in den Zechen erscheint das Eingehen des Alten Verbandes auf den Gedanken der Arbeitsgemeinschaft ohne grundlegende Vorleistungen der Unternehmerseite als politische Fehlentscheidung 33 . Mit dem Fortgang der radikalen Bewegung an der Ruhr fiel der Alte Verband als aktiv gestaltende Kraft des Willens der Arbeiterschaft aus und wurde zum passiven Nutz­ nießer einer Krisensituation, in der sozialpolitische Zugeständnisse des Zechenver­ bands nicht um ihrer selbst willen, sondern nur zur Dämpfung der radikalen Tenden­ zen angestrebt wurden. Führende Vertreter des Zechenverbands sprachen offen aus, daß man die Führer des Alten Verbandes, Sachse und Hue, gegenüber den radikalen Kräften den Rücken stärken müsse, auch wenn sich Widerstand im eigenen Lager, darunter der der Gute-Hoffnungs-Hütte, dagegen erhob 3 4 . Im Grunde mußte dies deren Isolierung von den Massen der Bergarbeiterschaft noch verstärken. Organisierte wie Unorganisierte lehnten die Taktik der Verbandsfunktionäre ab, auf weitgespannte Forderungen zu verzichten, um zunächst das Erreichte sichern zu können. Aber auch wenn der Alte Verband in der Lohn- und Arbeitszeitfrage günsti­ gere Verhandlungsresultate hätte erzielen können, wäre es ihm wohl kaum gelungen, die Bewegung in der Hand zu halten. Denn neben den lohnpolitischen Fragen war es der Arbeiterschaft um eine Veränderung des innerbetrieblichen Führungsstils im 328 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35989-2

Sinne stärkerer Berücksichtigung der Wünsche und Bedürfnisse der Belegschaften zu tun. In den einzelnen Betrieben hatte sich wenig verändert; das Führungspersonal war das alte, das Mißtrauen zwischen Belegschaftsmitgliedern und Zechenbeamten stär­ ker und nicht geringer geworden. Gerade der Alte Verband versäumte es, seine politi­ schen Ziele innerhalb der einzelnen Betriebe zu vertreten, anstatt sich ausschließlich auf die zentral geführten Tarifverhandlungen und die Verhandlungen mit den Regie­ rungsstellen in Berlin zu konzentrieren. Mehrheitssozialdemokraten wie die Funktionäre des Alten Verbandes standen von vornherein unter dem verhängisvollen E influß der nun freilich von der Reichsregie­ rung energisch propagierten Agententheorie, derzufolge die Bergleute von „Spartaki­ sten“ und „Bolschewisten“ aufgewiegelt waren, obwohl die KPD in den General­ streiks an der Ruhr eine völlig untergeordnete Rolle spielte und die Sozialisierungs­ bewegung erst verspätet agitatorisch auszunützen versuchte. Auch die unionistischen und syndikalistischen Organisationen erlangten erst gegen E nde der Streikbewegun­ gen größeren E influß auf die Bergarbeiterschaft. Im Grunde vollzogen sich letztere, wie schon 1889, außerhalb jeder Organisation. Politische Forderungen fehlten fast ganz. Wie Lucas feststellt, ist auch in der Ausstandsbewegung der Zeche „Deutscher Kaiser“ erst nachträglich die Parole der Sozialisierung aufgetaucht, während sie be­ reits im Zentralrat der deutschen Republik erörtert wurde 3 5 . Die Arbeiter- und Solda­ tenräte des Reviers waren überwiegend gemäßigt; Funktionäre des Alten Verbandes, gelegentlich aber auch des Christlichen Gewerkvereins waren darin zahlreich ver­ treten 36 . In der sozial angespannten und politisch völlig undurchsichtigen Situation vom Ja­ nuar 1919 wirkte die Parole der Sozialisierung des Steinkohlenbergbaus geradezu be­ freiend. Sie bündelte die angestaute Aktionsbereitschaft der Massen in eine gemein­ same und, wie man allgemein annahm, unmittelbar erreichbare Zielsetzung. Die Be­ setzung der Diensträume des Kohlensyndikats und des Bergbaulichen Vereins durch den E ssener Arbeiter- und Soldatenrat und die Bildung der Neunerkommission zur Vorbereitung der Sozialisierung des Bergbaus hatte die von ihren Intiatoren erhoffte Wirkung; die Generalstreikbewegung flaute sofort ab, die Produktion kam unmittel­ bar wieder in Gang. Dies zeigt, daß die Bergarbeiterschaft durchaus ein gesamtwirt­ schaftliches Verantwortungsgefühl besaß und von selbst zu geordneten Verhältnissen zurückdrängte. Die Besetzung des Bergbaulichen Vereins schien eine Garantie dafür zu sein, daß die früheren Zustände in den Zechen ein für allemal überwunden waren. Es ist bezeichnend, daß mit der Sozialisierungsforderung, die unter der Bergarbei­ terschaft ungeheure Popularität besaß, eine grundlegende Umgestaltung der gesamt­ gesellschaftlichen Verhältnisse nicht angestrebt war; selbst die Vertreter der KPD in der Neunerkommission vertraten ausgesprochen gemäßigte Zielsetzungen. Die Frage einer E nteignung der Zechenbesitzer spielte in den E rörterungen der E ssener Konfe­ renz der Arbeiter- und Soldatenräte des rheinisch-westfälischen Industriereviers eine durchaus untergeordnete Rolle, und man gewinnt den E indruck, daß man diese Kon­ sequenz gar nicht klar ins Auge gefaßt hatte. Denn bei den Bemühungen der Neuner­ kommission, zu praktikablen Lösungen zu gelangen, stand der Gesichtspunkt der wirtschaftlichen Selbstverwaltung gänzlich im Vordergrund, und es ist in diesem Zu329

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sammenhang wichtig, daß man von vornherein die Unterstützung der Zechenbeam­ ten zu gewinnen bemüht war. Bei aller Unterschiedlichkeit der Sozialisierungskon­ zepte ist an dieser Stoßrichtung der Bewegung, die gerade nicht von dogmatisch-ideo­ logischen Zielen ausging, nicht zu zweifeln. Die sachliche Arbeit, die die unter dem Vorsitz des der MSPD angehörenden Landrichters Ruben gebildete Neunerkommis­ sion in diesen Wochen mit der Durchführung von Wahlen zur Schaffung von Steiger­, Zechen- und Bergrevierräten geleistet hat, war vorbildlich. Sie handelte dabei im gu­ ten Glauben, die Zustimmung der Reíchsregierung zu ihren Maßnahmen zu besitzen, was sich dann als Irrtum herausstellte 37 . Angesichts der durch die Tätigkeit der Neunerkommission und die Besetzung des Bergbaulichen Vereins geschaffenen Lage versagte die Führung des Alten Verbandes auf der ganzen Linie. Obwohl sich Otto Hue als Mitglied der Sozialisierungskommis­ sion gegen eine Sozialisierung innerhalb absehbarer Zeit klar ausgesprochen hatte, wagte er es nicht, diesen Standpunkt in E ssen zu vertreten. Ähnlich galt dies für die Mitglieder der Reichsregierung. In dem Bestreben, die Sozialisierungsbewegung durch ständige Verhandlungen mit dem Zechenverband zu unterlaufen und sie derwei­ len durch die führende Teilnahme von Verbandsfunktionären an den Essener Vorgängen in gemäßigten Bahnen zu halten, hat der Alte Verband verhängnisvoll zur Verunklä­ rung der politischen Fronten beigetragen. Ihn trifft die Verantwortung dafür, die Reíchsregierung in ihrer zweideutigen Politik noch unterstützt zu haben, die nach au­ ßen hin den E indruck entstehen ließ, daß die Sozialisierung „auf dem Marsche“ sei, und die Vertreter der Neunerkommission mit fragwürdigen Mitteln hinhielt, um gleichzeitig die militärische Intervention im Ruhrrevier vorzubereiten 38 . Der Alte Verband hatte sich nicht nur gegenüber Reichsregierung und Zentralarbcitsgemein­ schaft die Hände gebunden, er hatte auch keinerlei Konzeption, obwohl es nahegele­ gen hätte, wenigstens die wirtschaftliche Mitbestimmung der Arbeitnehmerorganisa­ tionen gegenüber den Bergbauvertretern zu erzwingen. Daher trifft die Verantwortung für die E ntstehung der bürgerkriegsartigen Ver­ hältnisse im Revier vornehmlich die Reichsregierung und den Alten Verband. Daran kann die hemmungslose Polemik gegen angebliche kommunistische Drahtzieher nichts ändern, die die Führung des Alten Verbandes nach dem Scheitern der Bewe­ gung in Szene setzte. Trotz der massiven Gegenpropaganda der Bergarbeiterverbände und der Reichsregierung und anwachsenden militärischen Drucks folgten noch rund 180000 Bergleute dem Streikaufruf, den der Rumpf der Neunerkommission, aus der der Alte Verband und die SPD ausgetreten waren, herausgehen ließ 39 . Die sich im März 1919 anschließende, nunmehr von der KPD und dem linken Flü­ gel der USPD maßgeblich unterstützte Generalstreikbewegung bewies endgültig das Fiasko der sozialdemokratischen Abwiegelungspolitik und die Isolation, in die der Alte Verband geraten war. Trotz der beschwörenden Aufrufe der vier Bergarbeiter­ verbände traten Anfang April 267000 Bergarbeiter in den Ausstand. Unter dem Druck dieser Lage, gegen die eigene Überzeugung, vereinbarten die Verbände mit dem Zechenverband die siebenstündige Schichtzeit: die Unionisten und die KPD übertrumpften sie mit der Agitation für die Sechsstundenschicht, ein Zeichen dafür, 330

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daß die Bergarbeiterschaft an der Ruhr nicht mit revolutionären Parolen, sondern nur mit handfesten sozialpolitischen Zielsetzungen mobilisiert werden konnte. Die schwere Erbitterung, die die Abwürgung der Essener Sozialisierungsbewegung durch Reichsregierung, MSPD und Freie Gewerkschaften hervorrief, entlud sich dann in den Aprilstreiks von 1919, an denen zeitweise über 400000 Bergleute, darun­ ter zahlreiche Anhänger der gemäßigten Gewerkschaftsverbände, beteiligt waren. Sie konnten durch Reichskommissar Severing nur vermittels des verschärften Ausnah­ mezustands und militärischer Aktionen niedergekämpft und erst nach vier Wochen endgültig unterdrückt werden. Der Charakter dieser Bewegung, die sich trotz der Unterstützung der Aktion durch die KPD und Teile der USPD außerhalb der beste­ henden Arbeiterorganisationen vollzog, ist nicht eindeutig zu bestimmen; unbezwei­ f elbar handelte es sich um eine von spontaner Solidarisierung getragene Erhebung, die ihre Kraft nicht zuletzt aus dem Gegensatz zu den Freikorps und Frei willigenverbän­ den zog, die im Auftrag der Reichsregierung eingriffen, gleichwohl sie nicht scheuten, die demokratische Republik offen herabzusetzen. Daneben darf der Protest gegen als menschenunwürdig betrachtete Arbeits- und Autoritätsverhältnisse in den Zechen als Motiv der Bergarbeiter nicht unterbewertet werden. Ungeachtet der mehr oder minder starken putschistischen Beimengungen steckte in der Bergarbeitererhebung an der Ruhr im Frühjahr 1919 ein starkes, aber politisch ungeformtes demokratisches Potential; die Schöpfer der Weimarer Republik verstan­ den nicht, es zu benützen. Peter v. Oertzen hat die Auffassung vertreten, daß es sich um „eine breite einheitliche sozialistische Mittelströmung in der Arbeiterschaft über die Parteigrenzen hinweg“ gehandelt hat 40 . In der Tat spielte für die Arbeiterschaft die unterschiedliche Parteizugehörigkeit keine Rolle und stellte sich die E inheit der Ar­ beiterbewegung von unten her. Sie blieb jedoch, und dieser Faktor wird von v. Oert­ zen vielleicht nicht hinreichend herausgearbeitet, in starkem Maße auf die Reform der innerbetrieblichen Verhältnisse ausgerichtet und entwickelte durchaus eigenständig den Gedanken einer weitgehenden wirtschaftlichen Mitverantwortung der Arbeit­ nehmer, die über den engeren Bereich der Kontrolle der Arbeitsbedingungen weit hinausging. Auch in dieser Hinsicht besteht kein grundsätzlicher Unterschied zwischen der Es­ sener Sozialisierungsbewegung und den vorausgegangenen Streikkämpfen, insbeson­ dere im Hamborner Bereich, wie Erhard Lucas gemeint hat 41 . E r sieht in der E ssener Sozialisierungsbewegung letzten E ndes eine Verschleierung der Gegensätze und eine auf Beruhigung zielende Integration der Bergarbeiter, wobei vor allem die Vertreter der MSPD und der Freien Gewerkschaften bewußt von der Tatsache abgelenkt hät­ ten, daß „die Sozialisierung des Bergbaus nur im Kampf gegen die Politik von Reichs­ regierung und Gewerkschaften durchgesetzt werden konnte“. Demgemäß gelangt er zu dem E rgebnis, daß die E ssener Bewegung im Verhältnis zur Hamborner Bewe­ gung einen Abfall an revolutionärer Qualität bedeute. E in Vergleich beider Bewegun­ gen läßt jedoch, abgesehen von den in Hamborn hervortretenden syndikalistischen Zügen, keine qualitativen Verschiedenheiten erkennen mit der Ausnahme, daß die im Sinne wirtschaftlicher Selbstverwaltung aufgefaßte Sozialisierungsparole gegenüber der in ihren Zielsetzungen völlig unklaren Hamborner Bewegung, sofern sie über 331

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lohn- und tarifpolitische Forderungen hinausreichte, eine sicherlich unausgereifte, aber doch politische Konkretisierung der Wünsche der Bergarbeiterschaft gebracht hat. Beide Bewegungen, wie die sich an den Kapp-Putsch anschließende E rhebung der radikalen Bergarbeiterschaft an der Ruhr, erinnern an Streikkämpfe vor dem Auf­ treten der politischen Arbeiterbewegung; ihre Tendenz war eine vorwiegend regio­ nale und zielte, wie auch Lucas zeigt, keineswegs auf die E roberung politischer Macht. Vor ihren gemeinsamen historischen Voraussetzungen her vermochten die drei Richtungen der deutschen sozialistischen Arbeiterbewegung, die auf Disziplin und straffe politische Führung eingestellt waren, die Bergarbeitererhebungen an der Ruhr nicht wirklich ihren strategischen Konzepten einzufügen. E s kann auch nicht davon gesprochen werden, daß es MSPD und Altem Verband gelungen wäre, die re­ volutionäre Bewegung zu einer Lohnbewegung herabzudrücken; sie hatte ihre alle Richtungen verbindende Grundlage im Kampf für die innerbetriebliche Anerken­ nung und verantwortliche Beteiligung der Bergarbeiterschaft, und sie enthielt inso­ fern berufsständische E lemente aus der niemals ganz abgestorbenen bergmännischen Tradition der vor- und frühkapitalistischen Periode. Die durch den Kapp-Putsch ausgelöste, durchaus im Gegensatz zu den Gewerk­ schaftsorganisationen eintretende Generalstreikbewegung vom Frühjahr 1920, die in den militärischen Aktionen der „Roten Armee“ gipfelte und im blutigen Terror der Reichswehrverbände endete, entsprang einer gleichartigen Konstellation und nahm, wenn man von der Verhärtung des äußersten linken Flügels absieht, einen durchaus ähnlichen Verlauf. Auch hier war die Radikalisierung maßgeblich durch die provozie­ rende Haltung des eingreifenden, offen antirepublikanisch gesinnten Militärs hervor­ gerufen. Die lokalen Republikanisierungsmaßnahmen der Arbeiterschaft, die im Sinne der SPD zu handeln glaubte, wurden von der Regierung aus falscher legalisti­ scher E instellung heraus in ihrer Intention nicht wirklich zur Kenntnis genommen. Folgerichtig gingen die Abwehrkämpfe der Arbeiterschaft gegen Kapp in eine bür­ gerkriegsartige Auseinandersetzung über, in der, auch nach Kapps Rücktritt, der den Arbeitern gegenüberstehende Feind, die durch Polizeikräfte verstärkten Verbände des VII. Armeekorps unter General von Watter, der gleiche blieb. Die Generalstreikbewegung, die die bloß negative Zielsetzung der Abwehr des konterrevolutionären Putsches zugunsten der Schaffung einer wirklichen sozialen Demokratie überwand, hatte unter den gegebenen Umständen keinerlei E rfolgschan­ cen. Sie stellte ein verzweifeltes Sichaufbäumen der Arbeiterschaft gegen den Tatbe­ stand dar, daß die Novemberrevolution verspielt worden war - oder richtiger: daß sie nicht stattgefunden hatte. Noch einmal tauchte hier die Vision einer sozialistisch ge­ prägten Demokratie auf, freilich in anderen als bloß parlamentarischen Formen, und dies bekundete sich auch darin, daß die einfache Arbeiterschaft bereit war, den Rich­ tungsstreit zwischen MSPD, USPD und KPD auf sich beruhen zu lassen; nicht die KPD, sondern die USPD war die stärkste politische Kraft in dieser Bewegung, aber im Grunde war keine der sozialistischen Parteien imstande, sie zu lenken oder ihrer Kontrolle zu unterwerfen, da die diese prägenden syndikalistisch-unionistischen Züge ihnen wesensfremd waren. Am wenigsten vermochte dies die durch ihre Ab­ stützung auf die Reichswehr in den Augen der Arbeiterschaft vollends diskreditierte 332

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MSPD-Führung. Darin bekundete sie ein Nachlassen der politischen Integrations­ kraft der sozialistischen Parteien, von denen die KPD erst nachträglich in die General­ streikbewegung eingetreten war, aber auch die E igenständigkeit der Bergarbeiterbe­ wegung, sofern sie sich außerhalb der Gewerkschaftsorganisationen artikulierte. Trotz revolutionärer Züge im einzelnen fehlte der Märzbewegung ein revolutionä­ res Programm. Die für die weitgehend spontane E rhebung typischen defensiven Ubergangsmaßnahmen unterschieden sich nur durch den stärker syndikalistischen Einschlag und den Zwang zur bewaffneten Auseinandersetzung von der Haltung, die die Bergarbeiterschaft in der eigentlichen Revolutionsphase eingenommen hatte. Auch Lucas erblickt nachträglich nur eine Lösung in dem gescheiterten Plan eines so­ zialistischen Koalitionskabinetts unter Legien, das von vornherein durch ein Weiter­ treiben der Revolution hätte überwunden werden müssen. Dafür fehlten jedoch alle politischen Voraussetzungen 42 . Die Bewegung war, ebenso wie die Sozialisierungs­ kampagne ein Jahr zuvor, elementar, spontan, aber ohne politisches Profil im engeren Sinne. E rst die rasch einsetzende militärische Repression gab ihr einen sektiererischen und in vereinzelten Zügen terroristischen Charakter. Die Frage, ob es denkbar gewe­ sen wäre, der Bewegung positive demokratische Ziele zu setzen, statt sie mit einem nicht ernsthaft verfolgten Achtpunkteprogramm des ADGB abzuwiegeln, ist wohl falsch gestellt. Das sich an der Ruhr regenerierende soziale und politische Klima kon­ servativer Ordnung und Unterordnung und die bloß tarifpolitische Oberflächenbe­ handlung der bestehenden sozialökonomischen Gegensätze ließen im Grunde nichts anderes zu, als daß sich der soziale Protest der Bergarbeiterschaft in historisch über­ wundenen Kampfformen der Arbeiterbewegung artikulierte und folgerichtig keine Chance hatte, deren Lage zu verändern 43 .

4. Richtungsstreit in der B e r g a r b e i t e r b e w e g u n g an der R u h r Es beleuchtet die fatale politische Isolierung des Alten Verbandes von den Massen der Bergarbeiter an der Ruhr, daß er just nach diesem dunklen Kapitel der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung und der demokratischen Republik die Frage der So­ zialisierung des Steinkohlenbergbaus, wenn auch von vornherein in abgeschwächter Form, zur Diskussion stellte, hierin durchaus vom Verband Christlicher Bergarbeiter unterstützt 44 . Denn von einer Sozialisierung konnte, trotz der erneuten E inberufung der Sozialisierungskommission, keine Rede mehr sein. Mit den Reichtagswahlen vom Juni 1920 war endgültig jene innenpolitische Kräfteverlagerung eingetreten, die um­ fassende sozialpolitische Veränderungen ausschloß und die Bergarbeiterverbände an­ gesichts der gestärkten Position des Unternehmertums allein von der sozialpoliti­ schen Interventionsbereitschaft des Staates abhängig machte. E rwägungen dieser Art waren jetzt nur wenig mehr als ein Versuch, die Rolle der Gewerkschaften nachträg­ lich zu legimitieren und die Notwendigkeit zu verschleiern, die Konsequenzen aus der Niederlage von 1920 zu ziehen. Ein aufrichtiger Verzicht auf die Sozialisierung hätte unvermeidlich die Frage nach 333

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sich gezogen, wie unter den bestehenden Besitzverhältnissen eine effektivere betrieb­ liche Mitbestimmung der Arbeitnehmerschaft realisiert werden konnte, als sie in dem völlig verwässerten Betriebsrätegesetz vorgesehen war. E ine weitere E rörterung der Sozialisierung lenkte daher nur von den konkreten gewerkschaftlichen Aufgaben ab; das Programm der Wirtschaftsdemokratie kam viel zu spät, um der Bergarbeiterbe­ wegung positive Ziele zu setzen. Gerade die Führung des Alten Verbandes hat den Gedanken umfassender Mitbestimmung auf der betrieblichen E bene niemals ernstlich verfolgt; mit der Beteiligung an den gemeinwirtschaftlichen Institutionen des Reichs­ kohlenrates und Reichskohlenverbandes, denen die Vertreter der Arbeitnehmerschaft angehörten, ohne dort ihre Vorstellungen durchsetzen zu können, wurden sie zu Ver­ tretern der wirtschaftlichen Interessen des Steinkohlenbergbaus, ohne dessen wirt­ schaftliche Dispositionen ihrer Kontrolle zu unterwerfen. Aufgrund der Neigung, bürokratisch-zentralistische Lösungen anzustreben, be­ trachteten die Bergarbeiterführer die Betriebsräte als Fremdkörper innerhalb des Ge­ werkschaftsapparats, obwohl die Frage der Schwächung oder Stärkung der Betriebs­ räte einen wichtigen Punkt der Auseinandersetzung mit der Bergbauunternehmer­ schaft darstellte, die etwa nach der Maiaussperrung 1924 die Betriebsräte als abgelegt betrachten wollte, was den Widerspruch des Rcichsarbeitsministeriums auslöste. In den Betriebsrätewahlen erwies sich immer wieder die relative Schwäche der Bergar beiterverbände in den Zechen; die aktiven E lemente gehörten in der Regel zur Freien Arbeiter-Union oder standen der KPD nahe. Die nach den Streikbewegungen von 1919/20 gestärkte Opposition innerhalb des Alten Verbandes konnte, nicht zuletzt infolge des persönlichen Ansehens von Männern wie Hue und Husemann, zurückge­ drängt werden. Die verbandsoffiziöse Sprachregelung, daß die Bürgerkriegssituation von verantwortungslosen linksradikalen Kräften entfesselt worden sei, die ihr Ziel des bolschewistischen Umsturzes durch die Zerschlagung der wirtschaftlichen Grundla­ gen der Republik hätten erreichen wollen, enthielt eine gefährliche Selbsttäuschung. Auch die Bagatellisierung der terroristischen Übergriffe der Freikorps, die man rechtsextremistischen Provakatcuren zuschrieb, muß als Verlust des politischen Au­ genmaßes gewertet werden 45 . Die schweren Prestigeeinbußen, die der Verband durch seine die militärischen Maßnahmen kritiklos unterstützende Propaganda erlitten hatte, drückten sich in ei­ nem empfindlichen Mitgliederrückgang aus. Die unionistischen Gruppen, die sich im September 1919 in der Freien Arbeiter-Union in der Mehrzahl zusammengeschlossen hatten, gingen aus den Betriebsrätewahlen von 1921 als zweitstärkste gewerkschaftli­ che Gruppe im Ruhrbergbau hervor 46 . Die Mitgliedschaft des Alten Verbandes, die in diesem Zeitraum um ca. 20 % abnahm, wird in den folgenden Jahren auf ein Drittel der Stärke von Anfang 1919 herabsinken 47 . Von den unionistisch-syndikalistischen Verbänden konnte die Gelsenkirchener Richtung der Freien Arbeiter-Union - 1920 war es zur Abspaltung der syndikalistisch orientierten FAUD(S) gekommen - den stärksten E influß behaupten. Seit dem Über­ gang des linken USPD-Flügels zur KPD wurde diese, trotz der anhaltend starken Dif­ ferenzen in der Gewerkschaftsfrage, von der KPD abhängig und ging 1921 in der Union der Hand- und Kopfarbeiter Deutschlands auf. Die 1924 auf Betreiben der 334

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Komintern verfügte Auflösung der Union der Hand- und Kopfarbeiter und die Zu­ rückführung der kommunistisch beeinflußten Mitgliedschaft in die freien Gewerk­ schaftsverbände stärkten äußerlich den Alten Verband, der sich auch hier über die Sachlage hinwegtäuschte, daß es der KPD-Führung darum ging, durch diese Transak­ tion die Organisationen von innen zu beeinflussen 48 . Die ideologische Unklarheit der in hohem Maße in sich zersplitterten syndikali­ stisch-unionistischen Organisationen und deren beträchtliche Mitgliederfluktuation ließ sie in den Augen des Alten Verbands bedeutungslos erscheinen. Nach der Been­ digung der revolutionären Bewegungen - der letzte Nachklang war der Osterputsch 1921 - waren diese Gruppen in der Tat nurmehr in der Lage, sich in anlaufende Ar­ beitskämpfe einzuschalten und die Bergarbeiterverbände durch radikale Forderungen zu überbieten. Gleichwohl nahm ihr E influß gerade in kritischen Situationen rasch zu, und die von der radikalen Strömung beherrschten Schachtdelegiertenkonferenzen und der Betriebsräteversammlungen machten den Funktionären des Alten Verbandes immer wieder zu schaffen. Andererseits ist es auch der KPD niemals gelungen, sich diese Kräfte voll verfügbar zu machen. Darin lag auch die Ursache des geringen E r­ folgs der seit 1928 eingeschlagenen Politik der Roten Gewerkschaftsopposition und des 1931 gegründeten E inheitsverbandes der Bergarbeiter Deutschlands begründet. Der Druck der kommunistischen und unionistischen Gruppen bestärkte diejenigen Kräfte im Alten Verband, die sich für eine maßvolle Tarifpolitik und gegen Streiks einsetzten und allgemeine politische Probleme auszuklammern suchten. Nur einmal, im Sommer 1922, als sich der Christliche Bergarbeiterverband nicht bereit zeigte, der Strategie des Alten Verbandes, durch Massenkündigungen den Zechenverband in der Frage der Oberschichten zu einem E ntgegenkommen zu bringen, zu folgen, gab es Bestrebungen, mit den unionistischen Gruppen zur Zusammenarbeit zu gelangen. Sie schlugen jedoch alsbald in offene Feindschaft um 4 9 . Das von vornherein polemische Verhältnis der Führung des Alten Verbandes zur KPD resultierte in einschneidenden organisatorischen Maßnahmen gegen kommunistisch eingestellte Verbandsfunktio­ näre 50 . E s gelang dem Verband, die kommunistische Unterwanderung des Apparats weitgehend zu unterbinden, allerdings um den Preis, daß er fast mehr E nergie auf die Bekämpfung kommunistischer Aktivität verwandte als auf die tarifpolitische Ausein­ andersetzung mit der Unternehmerschaft. Diese war nicht länger bereit, die E nthalt­ samkeit des Alten Verbandes gegenüber linksgerichteten Kräften zu honorieren. Sie nützte den in und zwischen den Gewerkschaften ausgetragenen Richtungsstreit, der die Bergarbeiterverbände veranlaßte, Streiks nach Möglichkeit zu vermeiden, dazu aus, die 1918/18 gewährten sozial- und tarifpolitischen Zugeständnisse Schritt für Schritt zurückzunehmen.

5. Die Arbeitszeitfrage im Ruhrbergbau Das Bekenntnis des Alten Verbandes zu einer wirtschaftlichen Notwendigkeiten Rechnung tragenden, konstruktiven Tarifpolitik erwies sich als wenig erfolgreich. 335

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Sieht man einmal von den durch Inflation, wechselnden effektiven Arbeitszeiten und Randzechenklauseln starken Schwankungen unterworfenen Reallöhnen der Bergar­ beiterschaft ab, stellt die Arbeitszeit unter Tage einen Indikator für die Schwäche oder Stärke der Gewerkschaften dar. Der Alte Verband hatte in dieser jahrzehntelang um­ kämpften Frage zunächst eine defensive Haltung eingenommen. E rst der Druck der Streikbewegung brachte ihn zu weitergehenden Forderungen. Anfang 1919 wurde zwischen dem Zechenverband und den Bergarbeiterverbänden vereinbart, daß die Schichtzeit vom 1. April 1919 an 7½, vom 1. Januar 1920 an 7 und vom 1. Januar 1921 an nur noch 6 Stunden betragen sollte 51 . Indessen besteht kein Zweifel, daß die Funk­ tionäre des Alten Verbandes die Sechsstundenschicht solange für nicht realisierbar hielten, als sie nicht durch ein internationales Arbeitszeitabkommen im Steinkohlen­ bergbau auch für die ausländische Konkurrenz verbindlich sein würde. Anfang April 1919 erzwang die Generalstreikbewegung eine vorzeitige E inführung der Siebenstun­ denschicht, die aus politischen Gründen auch vom Reichsarbeitsministerium gefor­ dert wurde. Hingegen vertagte man eine E ntscheidung zur Verkürzung der Arbeits­ zeit, indem man sie, wie so häufig in den folgenden Jahren, einer Untersuchungs­ kommission vorlegte. Schließlich konnte in § 2 des am 25. Oktober 1919 vereinbarten Tarifvertrags die 7stündige Schicht gesichert werden, aber mit der Maßgabe, daß Oberschichten aus betriebstechnischen sowie aus Gründen des Allgemeinwohls zuge­ lassen seien. Im Januar 1920 forderten die vier Bergarbeiterverbände erneut die E in­ führung der Sechsstundenschicht, was jedoch erwartetermaßen von der Reichsregie­ rung als volkswirtschaftlich untragbar zurückgewiesen wurde. Formell blieb es bei der Regelung vom Oktober 1919, doch verfügte Severing schon im Februar die Ver­ fahrung zusätzlicher Oberschichten. Das am 18. Februar vereinbarte und dann mehr­ fach erneuerte Überschichtenabkommen sah ursprünglich vor, daß die Bergarbeiter pro Woche je zwei halbe zusätzliche Schichten verfahren sollten; daraus wurde nach der Ruhrbesetzung und der Währungsstabilisierung eine tägliche Schichtzeirverlänge­ rung von einer Stunde. Mit dem diesbezüglichen Überschichtenabkommen vom 29. Dezember 1923 war daher de facto die Rückkehr zur achtstündigen Schichtzeit unter Tage durchgesetzt 52 . In der Sache handelte es sich hierbei um eine schwere Niederlage der Bergarbeiter­ verbände. Sie muß im Zusammenhang mit den Pressionen gesehen werden, die die Bergbauunternehmer im Herbst 1923 ausübten, um die tarifliche Arbeitszeit auf die vor dem Ersten Weltkrieg übliche Schichtzeit zu erhöhen. Der Zechenverband nützte dabei die durch die Ruhrbesetzung und die französischen Sanktionsmaßnahmen, die die Reichsregierung dazu zwangen, direkte Verhandlungen zwischen dem Ruhrberg­ bau und der interalliierten Kontrollkommission (MICUM) zuzulassen, bewirkte Schwächung sowohl der Gewerkschaften wie des Kabinetts aus. Allerdings scheiterte der auf einer Konferenz der Zechenleitungen in Unna-Königsborn am 30. September 1923 beschlossene Versuch, eine generelle Verlängerung der Schichtzeit auf 8½ Stun­ den unter und auf 10 Stunden über Tage ohne weitere Rücksprache mit Reichsregie­ rung und Gewerkschaften durchzusetzen. Die Ankündigung der neuen Arbeitszeiten auf einzelnen Zechen entfachte einen Sturm der Empörung 53 . Diesmal schlossen sich die Staatszechen, die sonst in tarifpolitischen Fragen regelmäßig mit dem Zechenver336

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band gingen, dieser mutwilligen und rechtswidrigen Aktion nicht an. Auch Strese­ mann zeigte sich nicht bereit, dem Ultimatum von Hugo Stinnes nachzugeben. Über die Arbeitszeitfrage zerbrach indessen sein erstes Kabinett; die Sozialdemokratie, die freilich wenig glücklich gegenüber der zum Bruch der Koalition treibenden DVP tak­ tierte 54 , war sich wohl bewußt, daß sie das einzige, was symbolhaft von den E rrun­ genschaften der Novemberrevolution übriggeblieben war, den Achtstundentag, jene Forderung des ersten Kongresses der II. Internationale, nicht preisgeben konnte, wennn sie nicht das Vertrauen breiter Arbeitermassen noch mehr als bisher verlieren wollte. Gerade im Ruhrbergbau war die Arbeitszeitfrage von grundlegender Bedeutung. Die Unternehmerseite wies jeden Gedanken an die E inführung des Dreischichtensy­ stems kategorisch zurück. Dies konnte sicherlich mit der Notwendigkeit, technische Reparaturen zwischen den Förderschichten durchzuführen, begründet werden, aber die Auseinandersetzungen über diese Frage lassen erkennen, daß es sich für sie um eine prinzipielle, keineswegs um eine technische E ntscheidung handelte. Für die füh­ renden Bergbauunternehmer war die Lange der Schichtzeit und die Höhe der Förde­ rung direkt proportional; die gewerkschaftliche Argumentation, daß mit steigender Rationalisierung und wesentlichen E rhöhungen der Leistungen pro Mann und Schicht eine Reduzierung der Arbeitszeit vereinbar sein müsse, entbehrte nicht einer inneren Plausibilität, wurde jedoch von Seiten des Zcchenverbands nachdrücklich zu­ rückgewiesen, wobei der Hinweis auf die internationale Konkurrenz eine große Rolle spielte. Nach der Währungsstabilisierung suchte der Zechenverband seine konsolidierte Machtstellung und die durch die Arbeitslosigkeit und inflationäre E ntwicklung ge­ schwächte Position der Bergarbeiterschaft erneut dazu zu benützen, um seine Vor­ stellungen in der Schichtzeitfrage durchzusetzen und die Siebenstundenschicht auch offiziell zu beseitigen. Der prinzipienhafte Charakter der in den Uberschichtenver­ handlungcn von 1924 geführten Auseinandersetzung geht daraus hervor, daß die Bergarbeiterverbände durchaus bereit waren, in eine gewisse Mehrarbeit einzuwilli­ gen, sofern sie aus volkswirtschaftlichen Gründen geboten erschien. Sie wollten in­ dessen formell an der Fixierung der Siebenstundenschicht im geltenden Tarifvertrag festhalten. Schließlich kam es am 1. Mai 1924 infolge der Ablehnung des Schieds­ spruchs vom 15. April durch beide Tarifparteien zu einem tariflosen Zustand. Weder über die geforderten Lohnerhöhungen noch in der Schichtzeitfrage konnte eine E ini­ gung erzielt werden. Die Bergarbeiterverbände nahmen den Standpunkt ein, daß vom 1. Mai an automatisch der frühere Tarifvertrag gültig sei, jedoch nicht das ausdrück­ lich als vorübergehende Vereinbarung abgeschlossene Uberschichtenabkommen vom November 1923. Sie verweigerten daher die darin zugestandene eine Stunde Mehrar­ beit und wiesen ihre Mitglieder an, nach einer siebenstündigen Schichtzeit auszufah­ ren. Der Zechenverband beantwortete die Weigerung, mehr als die im Tarifvertrag festgelegte Schichtzeit zu verfahren, mit der Aussperrung von 93 % der Belegschaften im rheinisch-westfälischen Steinkohlenrevier. Damit kehrte der Zechenverband zu einer Strategie zurück, die die Bergbauunter­ nehmer an der Ruhr schon 1889 erfolgreich gehandhabt hatten: zum Mittel der Ge337 22

Mommson, Arbeiterbewegung

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samtaussperrung. Unzweifelhaft war der Zechenverband gewillt, mit der Maiaussper­ rung, die er freilich nicht als Aussperrung hinstellte, eine Vorreiterrolle im Kampf der Schwerindustrie für längere Arbeitszeiten zu spielen. Die „Deutsche Bergwerks-Zei­ tung“ wies am 15. Mai ausdrücklich auf die prinzipielle Bedeutung hin, die dem Schritt des Zechenverbandes zukomme: es handele sich bei der Arbeitszeitfrage um ein Gesamtproblem der deutschen Wirtschaft. „Dem Ruhrbergbau ist die zweifel­ hafte Rolle zugefallen, diesen Kampf in vorderster Linie auszufechten“. In der Ar­ beitszeitfrage müsse endlich einmal reine Bahn geschaffen werden 55 . Wie später beim Ruhreisenstreit diente eine tarifrechtliche Auseinandersetzung zur Durchführung ei­ ner langfristigen Strategie. Neben der Heraufsetzung der Arbeitszeit war in dem Kündigungsschreiben des Zechenverbandes eine Reihe tarifpolitischer Forderungen erhoben worden, die auf eine nicht unbeträchtliche E inschränkung bisher tariflich feststehender Sozialleistun­ gen hinausliefen und indirekt den Bestand der Bergarbeiterverbände bedrohten 56 . Das Reichsarbeitsministerium hatte sich in dem Bestreben, durch Lohnkonflikte und sich daraus ergebende Produktionsausfälle nicht die eben stabilisierte Währung zu ge­ fährden, gegenüber den Forderungen des Zechenverbandes nachgiebig verhalten; in den der Aussperrung vorausgehenden Schlichtungsverhandlungen hatte es sich hin­ sichtlich der Arbeitszeitfrage dessen Standpunkt angenähert. Der Ruhrbergbau konnte dabei nicht ohne E rfolg geltend machen, daß er erhebliche Reparationsver­ pflichtungen gegen spätere Rückzahlungen durch das Reich übernommen habe, die nur bei einer Heraufsetzung der Arbeitszeit erfüllt werden könnten 57 . Die Stabilisie­ rung der Währung wirkte sich daher durchaus zuungunsten der Arbeiterschaft im Ruhrbergbau aus. Reichsarbeitsminister Brauns war, nachdem er vergeblich zu vermitteln versucht hatte, entschlossen, die Aussperrung so rasch wie möglich durch das E ingreifen der staatlichen Schlichtungsinstanzen zu beenden. E r unterschätzte jedoch die Wider­ standskraft der Bergarbeiterverbände, für die die Überschichtenfragc essentielle Be­ deutung besaß; erst am 30. Mai konnte der Arbeitskampf definitiv beendet werden. Die Bergarbeiterverbände setzten durch, daß die Zustimmung, Oberschichten zu ver­ fahren, zeitlich befristet blieb und nicht als Bestandteil des Tarifvertrages betrachtet wurde. Sie wahrten damit in der Sache ihren Rechtsstandpunkt; zugleich blieb formell die Siebenstundenschicht gesichert; Mehrarbeit blieb zeitlich befristet und Gegen­ stand besonderer Vereinbarung zwischen den Tarifparteien“58. Aber indem die zuge­ standene Stunde Mehrarbeit nicht mehr mit einem Zuschlag auf den Schichtlohn, sondern dessen E rhöhung um ein Siebtel vergütet wurde, war faktisch der Grundsatz der Siebenstundenschicht durchlöchert worden. Es war gewiß widerspruchsvoll, der Bergarbeiterschaft unter Hinweis auf die wirt­ schaftlichen Notwendigkeiten Mehrarbeit abzufordern, wenn man gleichzeitig bereit war, eine Massenaussperrung durchzuführen, die Steinkohlenförderung dadurch empfindlich zu drosseln und damit das Wirtschaftsleben ernstlich zu gefährden. Im Grunde hatte der Zechenverband die Reichsregierung, die an einer baldigen Wieder­ herstellung des Arbeiterfriedens aus reparations- und wirtschaftspolitischen Gründen interessiert sein mußte, mit E rfolg massiv unter Druck gesetzt. Dies läßt die Haltung 338

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der Schlichtungsinstanzen begreiflich erscheinen, die zum Unternehmerstandpunkt hinneigten und erst nach zähen Verhandlungen den Bergarbeiterverbänden wenig­ stens soweit entgegenkamen, daß diese nach außen hin ihr Gesicht wahren konnten. Aber die Maiaussperrung hatte gezeigt, daß die Organisationen der Bergarbeiter­ schaft angesichts des doppelten Drucks von Unternehmerschaft und kommuni­ stisch-syndikalistischer Agitation nur durch Anlehnung an die staatliche Zwangs­ schlichtung bestehen konnten. Insofern war es gerechtfertigt, den umstrittenen Schiedsspruch vom 27'. Mai 1924 anzunehmen. Denn sonst wäre das Schlichtungssy­ stem, dessen sich die Arbeitgeber in diesem Falle vorteilhaft bedient hatten, und mit diesem das mühevoll erkämpfte Prinzip kollektiver Tarifverträge grundlegend er­ schüttert gewesen.

6. Die Politik der Bergarbeiterverbände in der Stabilisierungsphase Die Maikämpfe von 1924 hatten die bis dahin formell fortbestehende Arbeitsge­ meinschaft im Ruhrbergbau zu einer Farce werden lassen. Sie hatten zu einer kaum verhüllten Niederlage der Bergarbeiterverbände geführt; die Bergarbeiterlöhne hatten sich trotz einer bemerkenswerten E rhöhung der Schichtleistung nach der Währungs­ umstellung relativ verschlechtert. Inflation, Ruhrbesetzung und Maiaussperrung wirkten sich in einer empfindlichen Schwächung der Bergarbeiterverbände aus. Die innere Opposition im Alten Verband nahm erheblich zu: bei den Wahlen der Ortslei­ tungen des Verbandes im November 1925 wurden bis 35 % KPD-Mitglieder gewählt. Die Betriebsrätewahlen des Vorjahres brachten eine neuerliche Stärkung der Freien Arbeiter-Union, die mehr Stimmen als der Alte Verband zu gewinnen vermochte. Das Bestreben der Bergarbeiterverbände, ihre Stellung durch die Durchführung der Bücherkontrolle in den Betrieben und die Beschränkung tarifvertraglicher Vergünsti­ gungen auf Verbandsmitgliedcr zu festigen, wurde vom Zechenverband in der Hoff­ nung bekämpft, den E influß der Werkvereine auf lange Sicht wieder ausbauen zu können 59 . Die tarifpolitische Strategie der Unternehmerseite zielte, abgesehen von der stets umstrittenen Arbeitszeitfrage, auf die E rhöhung der Lohnspannen, den Abbau der Mindestlöhne und die E inschränkung der Sozialleistungen, darunter des Urlaubs­ und Kindergeldes. Sie bedienten sich hierbei einer Argumentation, die auf die durch erhöhte Soziallöhnc gefährdete Rentabilität des Steinkohlenbergbaus verwies. Da die Gewerkschaften angesichts der Unübersichtlichkeit der Rentabilitätsberechnungen im Ruhrbergbau nicht in der Lage waren, die Stichhaltigkeit der ökonomischen Ar­ gumente der Arbeitgeberschaft zu überprüfen, konnten sie im wesentlichen nur auf die im Verhältnis zu den Löhnen extreme Steigerung der Schichtleistung hinweisen, die durch technische Rationalisierungen ermöglicht worden war. Während die Ver­ treter des Zechenverbands Lohnerhöhungen von weiteren Leistungssteigerungen ab­ hängig machten, wiesen die Führer der Bergarbeiter darauf hin, daß die Löhne ange­ sichts der Steigerung der Lebenshaltungskosten und Mieten sowie der Tarife anderer 339

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Berufsgruppen unzureichend seien. Die Rationalisierung, die sich seit 1924 in zahlrei­ chen Zechenstillegungen niederschlug, wirkte zuungunsten der Bergarbeiterverbän­ de, da durch die Schrumpfung der Beschäftigtenzahlen im Steinkohlenbergbau und durch die starke Berufsbindung der Bergarbeiter die Gesetze des freien Arbeitsmarkts entweder nachteilig einwirkten oder nicht voll zur Geltung gelangten. Die Verhärtung der tarifpolitischen Fronten war jedoch nicht nur durch das Bestre­ ben der Zechengesellschaften bestimmt, endlich Gewinne, die mit anderen Industrie­ zweigen vergleichbar waren, zu erwirtschaften, und sie war auch nicht nur Resultat sich ausschließender sozialer Grundeinstellungen. Während der Inflationsperiode hatte der Steinkohlenbergbau die ansteigenden Lohnkosten fast vollständig auf die Preise abzuwälzen vermocht, und er hatte mit der Stundung der für die Lieferung von Reparationskohle fälligen Leistungen des Reiches und vergleichbaren Aufwertungs­ gewinnen seine finanzielle Situation weitgehend sanieren können. E ine flexible Preis­ politik in den bestrittenen Gebieten hatte zusammen mit den Reparationslieferungen den Mengenabsatz einigermaßen sicherstellen können. Nach der Stabilisierung schlug die in den ersten Nachkriegsjahren vorhandene Nachfrage nach Kohle in ein Überan­ gebot um; insbesondere der ausländische Markt konnte nur mit erheblichen Preisab­ schlägen behauptet werden. Die Absatzkrise, die 1925 zu einer beträchtlichen und, wie sich wesentlich später zeigte, strukturellen Arbeitslosigkeit führte, wurde von der Bergbauunternehmer­ schaft zu weitreichenden Rationalisierungsmaßnahmen, darunter zur Stillegung un­ rentabler bzw. für eine E rhöhung der Quote für nicht ausgelastete Anlagen sich an­ bietender Zechen, benützt. Die extremen Wachstumserwartungen der unmittelbaren Nachkriegszeit wurden jetzt preisgegeben. Aber die Bergbauunternehmerschaft war begreiflicherweise bemüht, die bestehenden Kapazitäten zu erhalten, und es lag nahe, die veränderte Absatzlage, sofern sie nicht auf normale konjunkturelle Bedingungen zurückgeführt wurde, den ihrer Ansicht nach überhöhten Kohlenpreisen zuzuschrei­ ben, die man vor allem den hohen Sozialausgaben, der anwachsenden Steuerbela­ stung, und, als E ndursache, den Reparationsverpflichtungen zur Last legte. Diese Vorstellungen bildeten bereits den Hintergrund des Arbeitszeitdiktats vom Oktober 1923. Es spricht vieles dafür, daß trotz der Syndizierung und der zentralen Festlegung der Kohlenpreise eine hinreichende E insicht in die Rentabilitätsverhältnisse der Zechen gefehlt hat. E rst das 1928 im Auftrage der Reichsregierung erstattete Schmalenbach­ gutachten 60 brachte in dieser Beziehung eine gewisse Klärung. Jedenfalls blieb die Höhe des Lohnkostenanteils an den Produktionskosten auch in Expertenkreisen um­ stritten, was mit den unterschiedlichen Verhältnissen der einzelnen Schachtanlagen zusammenhing, aber auch darauf zurückzuführen war, daß man Dritten in die finan­ zielle Entwicklung der Zechengesellschaften keinen E inblick gewährte. Jedenfalls ar­ beiteten Zechenverband und Berarbeiterverbände mit voneinander völlig abweichen­ den Zahlen, wobei die Gewerkschaften die gewinnträchtigere Kohlenveredlung ein­ zubeziehen bestrebt waren, während der Zechenverband sie nach Möglichkeit aus­ klammerte und auf die Verluste hinwies, die bei der reinen Förderung entstanden. Auch wenn man sich über den Tatbestand der auf das ganze gesehen rückläufigen 340

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Ertragslage des Steinkohlenbergbaus einig war, blieben unüberbrückbare Differen­ zen in der Frage bestehen, wodurch die Rentabilitätskrise des Ruhrbergbaus verur­ sacht war. Die Unternehmerseite führte sie auf die hohen direkten und indirekten So­ ziallasten zurück. Sie hielt sie auf die Dauer volkswirtschaftlich nicht mehr für trag­ bar. In Verhandlungen mit den Bergarbeiterverbänden von E nde 1924 erklärte Gene­ raldirektor Wiskott gegenüber den Lohnforderungen der Arbeitnehmer: „Wir sind genötigt, nun endlich die Wirtschaft mitsprechen zu lassen. Wir haben das in den letz­ ten Jahren nicht in dem Umfange zu tun brauchen, weil wir unter der Decke der Infla­ tion manches tun konnten, was unter normalen Wirtschaftsverhältnissen nicht getan werden kann. Jetzt aber ist die Decke weggezogen, der Schleier ist entfernt und wir sehen klar, jetzt setzt sich die Wirtschaft allmählich wieder durch“ 61 . Wiskott gestand damit ein, daß man die sozialen Belastungen bis 1923 weitgehend über die Inflation fi­ nanziert hatte. E r ließ durchblicken, daß das gesamte geltende Tarifvertragssystem vom ökonomischen Standpunkt aus als Fehlentwicklung betrachtet werden müsse. Nur durch die Rückkehr zu längeren und flexiblen Schichtzeiten, die der wechselnden Absatzlage angepaßt seien, durch größere Lohnspannen und die Beseitigung der Mindestlöhne sowie durch die Rückkehr zu betrieblichen Lohnvereinbarungen sei eine Gesundung des Ruhrbergbaus zu erzielen. Die Bergarbeiterverbände vertraten demgegenüber den Standpunkt, daß die Pro­ duktivität durch verstärkte Rationalisierung und Technisierung selbst bei geringeren Schichtzeiten gesteigert werden könne. Zechenstillegungen lehnten sie nicht rundweg ab; doch wollten sie diese nur im Rahmen eines langfristigen Programms und der planmäßigen E ingliederung der Bergleute in andere Wirtschaftszweige zulassen, wo­ bei sie Klage führten, daß Stillegungsmaßnahmen häufig um der freiwerdenden Quo­ tenanteile willen vorgenommen würden und die davon betroffenen Anlagen vielfach rentabler seien als fortbestehende Zechen. Die Grundfrage blieb freilich, ob man die Kosten für die Schrumpfung des Steinkohlenbergbaus wie die sinkenden E rträge auf die Schultern der Bergarbeiter abwälzen konnte. Der Zechenverband war nicht ge­ willt, seine ökonomische Dispositionsfreiheit dadurch zu gefährden, daß er die di­ rekte Hilfe des Reiches in Anspruch nahm, und er wird später die Lex Brüning, die die Übernahme der Knappschaftsbeiträge durch das Reich vorsah, aus grundsätzlichen Erwägungen bekämpfen 62 . Das hinderte ihn freilich nicht, in der Kohlenpreisfrage Druck auf die Reichsregierung auszuüben. Als E nde 1924 erneute Lohnforderungen der Verbände ins Haus standen, bemühte er sich darum, unmittelbar auf die Mitglie­ der des Reichskabinetts einzuwirken und gleichzeitig die Unterstützung anderer In­ dustriezweige zu mobilisieren. In einem Schreiben des Geschäftsausschusses des Ze­ chenverbands an den Arbeitgeberverband der Siegerländer Gruben und Hütte von Ende 1924 hieß es: „Wir würden es nun für sehr zweckdienlich halten, wenn diese Eingabe der Fachgruppe [Bergbau im Rdl an die Reichsregierung] durch Notschreie' solcher Industrien oder Bezirke kräftig unterstützt würde, welche unter einer Koh­ lenpreiserhöhung besonders zu leiden haben würden.“ 63 Man drohte zwar immer wieder mit der Anhebung der Kohlenpreise, war aber daran keineswegs interessiert. Denn in der Stabilisierungsfrage erwies sich das zuvor übliche Verfahren, höhere Lohnkosten durch Preiserhöhungen aufzufangen, als nicht unbegrenzt gangbar. Die 341

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Übersättigung des internationalen Steinkohlenmarktes führte zu einer verschärften Konkurrenz sowohl im Außenhandel wie in den bestrittenen Gebieten, wobei hier nicht nur die englische Kohle, sondern auch das schlesische Revier als Konkurrent auftrat. Infolgedessen konnte die Produktion nur unter teilweise beträchtlichen Preis­ abschlägen abgesetzt werden. Die Klage der Bergbauunternehmerschaft, bei der Fest­ legung der Syndikatspreise von der Kontrolle des Reichskohlenrats, faktisch der des Reichswirtschaftsministeriums abhängig zu sein, hatte daher an Überzeugungskraft verloren. Die verschärften Spannungen innerhalb des rheinisch-westfälischen Koh­ lensyndikats spiegelten die durch den englischen Bergarbeiterstreik noch einmal ver­ deckte kritische Absatzsituation. Dieser gesamtökonomischen E ntwicklung entsprach eine zunehmende E rstarrung der Fronten zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaftsverbänden. Wiesen die einen auf die inflatorischen Wirkungen der Lohnerhöhungen hin, antworteten die anderen mit dem Argument, daß eine Verbesserung der Absatzlage auf lange Sicht nur durch die Vermehrung der Massenkaufkraft erreicht werden könne. Letzteres war schon deshalb nicht durchschlagend, weil der Zechenverband entschlossen war, nicht bloß die Bergarbeiterlöhne, sondern das allgemeine Lohnniveau den vorwiegend export­ orientierten Bedürfnissen des Steinkohlenbergbaus und der Schwerindustrie über­ haupt anzupassen. Da man hoffte, die angestrebte Lösung der Reparationsfrage zur Wiederherstellung der vor dem E rsten Weltkrieg bestehenden Marktposition benüt­ zen zu können, betrieben die Zechengesellschaften zwar eine Konzentration, aber keine Drosselung der Förderungskapazität. Sie gingen davon aus, daß die Anpassung an wechselnde konjunkturelle Lagen nur durch eine, um eine in der Ära Brüning gän­ gige Formulierung zu gebrauchen, weitgehende „Flexibilität der Tarifverträge“ er­ reicht werden könne. In der Sache bedeutete dies, die allgemeine Lohnentwicklung und den Lebensstandard der arbeitenden Bevölkerung den Bedürfnissen eines Indu­ striezweigs zu unterwerfen, der trotz indirekter Subventionierung durch Frachter­ mäßigungen und dergleichen ökonomisch rezessiv wurde und dessen Rentabilität nur durch eine gesamtwirtschaftlich defizitäre E xportpolitik bei überhöhten Inlandprei­ sen künstlich sichergestellt werden konnte. Dies macht die Schärfe der Auseinandersetzungen begreiflich, die sich in zuneh­ mendem Maße in eine Kraftprobe zwischen Zechenverband und Reichswirtschafts­ ministerium verwandelten, während den Bergarbeiterverbänden nur noch die Rolle zufiel, die Maschinerie der Zwangsschlichtung durch Lohnforderungen in Gang zu setzen. Reichsarbeitsminister Brauns steuerte eine tarifpolitische Linie, die auf eine Annäherung der Bergarbeiterlöhne an die Löhne vergleichbarer Berufsgruppen hin­ auslief. E r war nicht bereit, sich den politischen Pressionen des Zechenverbandes zu fügen, die vielfach über das Reichswirtschaftsministerium lanciert wurden. E in Bei­ spiel für die Entschiedenheit, mit der Brauns am Gedanken der sozialpolitischen Aus­ gleichsfunktion des Staates festhielt, enthält der Briefwechsel, den er nach dem Schiedsspruch vom 29. Oktober 1925 mit dem Zechenverband führte. Der Zechen­ verband hatte in einer E ingabe betont: „Wir können nicht anerkennen, daß die Löh­ ne, welche vor dem 1. November [1925] bestanden haben, als Hungerlöhne zu be­ zeichnen sind. Selbst bei einem Vergleich mit den Jahren der Hochkonjunktur kurz 342

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vor dem Kriege ergibt sich bei diesen Löhnen ein Realverdienst, der sich nur rd. 10 % unter den Friedenssätzen bewegt.“ Weitere Lohnerhöhungen würden nur zur Arbeitslosigkeit und damit zu einer noch stärkeren Beunruhigung der Bergarbeiter­ schaft beitragen. Brauns entgegnete am 9. Dezember mit E ntschiedenheit: „Im Ge­ gensatz zu Ihrer Auffassung bin ich jedoch der Meinung, daß die Löhne, die vor dem 1. November bestanden haben, in ihrer Kaufkraft so erheblich hinter der Friedens­ kaufkraft und den Löhnen anderer Berufsgruppen zurückstanden, daß es ohne schwere soziale Schäden, die sich auch auf die Produktion ausgewirkt hätten, nicht möglich war, die Löhne in ihrer bisherigen Höhe bestehen zu lassen“ 64 . Das starre Festhalten des Zechenverbands an den Vorkriegsmaßstäben, sowohl im sozialpoliti­ schen wie im ökonomischen Bereich, war in der Tat mit einem friedlichen Ausgleich zwischen den Tarifparteien nicht zu vereinbaren. Die Bergarbeiterverbände standen vor dem Dilemma, daß die Aufrechterhaltung des relativen Niveaus der Bergarbeiterlöhne die E rhaltung der Arbeitsplätze bedroh­ te. Die strukturelle Arbeitslosigkeit im Ruhrbergbau von 1925 und der nur 1927 noch einmal unterbrochene Rückgang der Beschäftigtenzahlen hatten sie empfindlich ge­ schwächt. Angesichts der steigenden Zahl von unorganisierten Bergarbeitern mußten sie Streiks, die von der Arbeitgeberseite sofort mit einer allgemeinen Aussperrung be­ antwortet worden wären, vermeiden. Daher blieb ihnen nichts anderes übrig, als auf die staatliche Zwangsschlichtung zu vertrauen, die seit dem Beginn der 20er Jahre bei jeder Tarifauscinandersetzung im rheinisch-westfälischen Steinkohlenrevier regel­ mäßig eingeschaltet werden mußte, obwohl die Schlichter den Forderungen der Ver­ bände vielfach nur zögernd entgegenkamen und mit dem E intritt der Wirtschaftskrise den Abbau der Löhne verlangsamen, aber nicht unterbinden konnten. Dies führte zu der Tendenz, gegenüber den Gewerkschaftsmitgliedern die Verantwortung auf die staatlichen Schlichtungsinstanzen abzuwälzen, was diese auf die Dauer überfordern mußte.

7. Wirtschaftskrise und E nde der Republik Die schon 1928, mit dem Auslaufen des durch den englischen Streik ermöglichten Booms eingeschränkte Bewegungsfreiheit der Bergarbeiterverbände ging unter den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise endgültig verloren, obwohl diese infolge langfristiger Lieferungsverträge und der Syndizierung den Ruhrbergbau nicht ganz so rasch erfaßte wie die übrigen Industriezweige. Der Ruhreisenstreit, der die offene Kampfansage an das staatliche Schlichtungswesen durch den Arbeitgeberverband Nordwest gebracht hatte, war in seinen letzten Konsequenzen unter dem Druck der öffentlichen Meinung noch einmal abgewehrt worden, hatte jedoch zu einem ersten Einbruch in die staatliche Schlichtung geführt 65 . Daß ein E rfolg der nordwestlichen Gruppe zu erheblichen Lohnabschlägen im Steinkohlenbergbau geführt haben wür­ de, ist unbezweifelbar. E s ist bezeichnend, daß der Zechenverband in der Spätphase der Republik verstärkten Druck auf das Zentrum ausübte, um den Christlichen Berg343

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arbeiterverband unter Heinrich Imbusch politisch zu isolieren. Dies gelang jedoch erst nach dem Sturz Heinrich Brünings. Der trotz starker Pressionen von Seiten der Industrie innerhalb des Präsidialkabi­ netts erzielte Konsensus, im Prinzip am staatlichen Schlichtungswesen festzuhalten, es freilich weniger häufig einzusetzen, war nicht zuletzt durch die starre Haltung der Bergbauunternehmerschaft bestimmt, die weitreichende Lohnreduktionen forderte, während sie zögerte, die von Brüning geforderten Preissenkungen durchzuführen. In den tarifpolitischen Auseinandersetzungen dieser Jahre spielten die Bergarbeiterver­ bände eine überwiegend passive Rolle. Die Frage der Lohnherabsetzungen im Ruhr­ bergbau war regelmäßig Gegenstand der Kabinettsberatungen; Reichsarbeitsmini­ ster Stegerwald gestand offen ein, daß der staatlichen Intervention zugunsten der Bergarbeiter Grenzen gesetzt seien, da die Unternehmerseite sie risikolos mit Mas­ senentlassungen beantworten könne 6 6 . Franz v. Papen gab schließlich dem Druck der Unternehmerschaft auf der ganzen Linie nach und entfremdete das Schlichtungswe­ sen zu einem Instrument der Unternehmerinteressen. Die Bergarbeiterverbände wa­ ren dieser E ntwicklung gegenüber machtlos. Nach der E rrichtung der nationalsozia­ listsichen Diktatur erwies sich auch die Hoffnung, das gewerkschaftliche Unterstüt­ zungswesen retten zu können, als illusorisch. Die Gleichschaltung der Verbände im „Deutschen Arbeiterverband des Bergbaues“ vollzog sich weitgehend ohne Wider­ stand 67 . Im Rückblick erscheint die Politik der vier Bergarbeiterverbände in den vierzehn Jahren der Weimarer Republik als wenig erfolgreich, obwohl sie im Verein mit den staatlichen Schlichtern den Abbau der in der Phase von 1918/19 erreichten tarifpoliti­ schen Zugeständnisse weitgehend verzögern und teilweise verhindern konnten. Im Grunde sind die Streitpunkte vom Oktober 1918 bis zum E nde der Republik offen geblieben. Die Strategie der Bergarbeiterverbände begegnet auch nachträglich ernstli­ cher Kritik. Nachdem die Politik der Arbeitsgemeinschaft offenkundig gescheitert war, hätten sie alles daransetzen müssen, die Machtkonzentration der schwerindu­ striellen Arbeitgeberverbände an der Ruhr, die vielfach aufgrund gemeinsamer Ab­ sprachen vorgingen, mit politischen Mitteln zu bekämpfen. Gleichzeitig hätten sie nachdrücklich versuchen müssen, die Betriebsräte stärker in die gewerkschaftliche Arbeit zu integrieren und durch wechselnden Druck innerhalb der einzelnen Schach­ tanlagen und bezogen auf die einzelnen Gesellschaften die Geschlossenheit der Ar­ beitgeberfront aufzuweichen. Statt langfristiger Sozialisierung von oben hätte das Programm der Bergarbeiterverbände frühzeitig eine effektive Mitbeteiligung der Ar­ beitnehmer in den einzelnen Betrieben anstreben müssen. Damit wäre die Chance verbunden gewesen, die syndikalistisch-unionistischen Bestrebungen abzufangen und der KPD, die in den Betrieben, wie die zahlreichen erhaltenen Zechenzeitungen und -flugblätter zeigen, eine lebhafte Agitation entfaltete, wirksamer entgegenzutre­ ten.

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15. Sozialdemokratie in der Defensive D e r I m m o b i l i s m u s der S P D u n d der Aufstieg des N a t i o n a l s o z i a l i s m u s

Die Frage nach den Bedingungen, die den Aufstieg der NSDAP als Massenbewe­ gung und die Errichtung der Diktatur Hitlers ermöglicht haben, ist in der in den letz­ ten Jahren beständig angewachsenen Fachliteratur zur Geschichte der Weimarer Re­ publik einerseits unter dem Gesichtspunkt der institutionellen Schwäche der parla­ mentarischen Demokratie, andererseits dem der sozialen Zusammensetzung der Mit­ gliedschaft und der Anhängerschaft der NSDAP eingehend erörtert worden. Hier hat sich die Diskussion insbesondere auf eine genauere Untersuchung der Gruppen des alten und neuen Mittelstands konzentriert 1 ; zugleich sind die Fragen der Sozialpolitik und der Rückwirkungen der sozialökonomischen Struktur der Republik auf das poli­ tische System in den Mittelpunkt des Interesses getreten 2 . Hingegen fehlt - nach der verdienstvollen Untersuchung von Richard N. Hunt 3 - abgesehen von den regionalen Analysen eine kritische Darstellung der Haltung, die die sozialistische Arbeiterbewe­ gung gegenüber dem aufsteigenden Faschismus eingenommen hat. Die Arbeiten von Erich Matthias und Siegfried Bahne zur Haltung von SPD und KPD in der E ndphase der Weimarer Republik 4 und die Studie von Hannes Heer über die Haltung der Freien Gewerkschaften in der Machtergreifungsphase vermitteln zwar ein eindrucksvolles Bild von der Schwäche des sozialistischen und kommunistischen Widerstands gegen­ über den faschistischen Diktaturbestrebungen und den ihnen vorausgehenden und mit ihnen konkurrierenden autoritären Kräften 5 . Die Ursachen, die zur nahezu kampflosen Preisgabe der von der sozialistischen Arbeiterbewegung errungenen Po­ sitionen geführt haben, bedürfen indessen einer eingehenderen Untersuchung, die zugleich exemplarische Bedeutung für das Scheitern auch der bürgerlichen Demokra­ tie besitzt. In der Phase der Präsidialkabinette trat allein die Sozialdemokratie als konsequenter Verteidiger der demokratischen Verfassung und des parlamentarischen Systems her­ vor. Auf ihrer Standfestigkeit und ihrem Widerstandswillen ruhten die Hoffnungen breiter Massen der Bevölkerung. Ihre politische E xistenz war aufs engste mit dem Fortbestand der Republik verbunden. Die Weimarer Republik war lebensfähig nur so lange, als im bürgerlichen Lager die Bereitschaft bestand, einen Ausgleich mit der so­ zialdemokratischen Arbeiterschaft zu suchen. Schon der von schwerindustriellen Gruppen geschürte Angriff auf das in den Krisenjahren der Republik entwickelte so­ zialpolitische Instrumentarium des Reiches bedrohte deren politische Grundlagen. Die unter Heinrich Brüning einsetzenden Versuche einer Umbildung der Verfassung im autoritären Sinne mündeten faktisch in die politische Isolierung der Sozialdemo­ kratie 6 . Von Papens „Neuer Staat“ hatte die Ausschaltung der organisierten Arbeiter345

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schaft zur Voraussetzung gehabt. Die Absetzung der preußischen Regierung und die Gleichschaltung Preußens am 20. Juli 1932 waren von einer tiefgehenden politischen Lähmung der demokratischen Arbeiterbewegung begleitet. Die politische Neutrali­ sierung der Sozialdemokratie, die mit dem preußischen Staatsstreich vollzogen war, räumte das letzte Hindernis hinweg, das der nationalsozialistischen Diktatur im Wege stand. Ausschaltung der sozialistischen Arbeiterbewegung und Sieg des Faschismus verhielten sich wie in kommunizierenden Röhren. Die Frage, warum die deutsche Sozialdemokratie sich dieser E ntwicklung nicht entschlossener und wirkungsvoller widersetzt hat, kann nicht nur auf dem Hinter­ grund der komplexen innenpolitischen Situation des Jahres 1932 beurteilt werden. Die Haltung von SPD und ADGB am 20. Juli ist von der Forschung eingehend analy­ siert worden. Die machtpolitische Aussichtslosigkeit einer E rhebung gegen v. Papen ist unbestreitbar. Wie immer man die Frage beantwortet, ob nicht der Versuch eines Massen Widerstandes in dieser Situation ein unmißverständliches Zeichen gesetzt hätte - aus inneren Gründen war die Sozialdemokratie nicht in der Lage, die Massen zum außerparlamentarischen Kampf gegen die Diktatur von rechts aufzurufen. Der Par­ teivorstand, die Führung des ADGB und die sozialdemokratischen Mitglieder der preußischen Regierung haben die Vorbereitungen v. Papens zur Gleichschaltung Preußens weitgehend passiv abgewartet, obwohl es an präzisen Warnungen und zu­ treffenden Voraussagen über die Pläne v. Papens nicht gefehlt hat. In der kritischen Si­ tuation des 20. Juli drückte sich der Parteivorstand um eine E ntscheidung herum und stellte sie in die Zuständigkeit der preußischen Minister. Der Staatsstreich hatte ver­ heerende psychologische Folgen für die organisierte Arbeiterschaft, insbesondere für das Reichsbanner und die E iserne Front. Das Debakel des 20. Juli machte die Aus­ sichtslosigkeit der legalitätsorientierten sozialdemokratischen Strategie gegenüber dem als Massenbewegung auftretenden Faschismus offenkundig. In der Tat war mit der kampflosen Übergabe Preußens eine grundlegende innenpolitische E ntscheidung gegen die Arbeiterschaft gefallen. Die sozialdemokratische Führung suchte sich mit dem Stichwort „Sichert die Wah­ len!“ über die verhängnisvolle Niederlage, die die Partei auf den Ausgangsstand von 1918 zurückwarf, hinwegzutrösten. Gleichwohl wies sie das Reichsbanner und die Eiserne Front an, sich auf eine kommende Auseinandersetzung mit den Nationalso­ zialisten vorzubereiten. Die Haltung der Parteiführung löste eine schwere innerpar­ teiliche Vertrauenskrise aus, die der Apparat mit fragwürdigen disziplinarischen Maßnahmen niederzukämpfen bestrebt war. Die wachsende Resignation der Füh­ rungsschicht, die Perspektivelosigkeit für die Massen der Anhängerschaft und die vollständige politische Isolierung der Partei zogen, trotz aller Opferbereitschaft und Gesinnungstreue der Mitgliedschaft, den Verlust jeglicher politischer Initiative nach sich. Wiederholte Stellungnahmen, daß die „Aussicht auf Wiedergewinnung der De­ mokratie auf demokratischem Wege“ so lange vorhanden sei, als „die Kampforganisa­ tionen der Arbeiterschaft intakt und ungefährdet sind und das Vertrauen der Massen besitzen“, waren nur frommer Selbstbetrug 7 . Die Tatlähmung der Partei ließ ent­ schiedenes, zielbewußtes Handeln, trotz der kämpferischen Haltung vieler einzelner, nicht zu; ohne ihren formalen Protesten politischen Nachdruck zu verleihen, räumte 346

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sie Position um Position in der von ihr maßgeblich mitgestalteten Republik, um nach dem E rmächtigungsgesetz schließlich um der bloßen Fortexistenz ihrer Organisation willen ihre bis dahin kompromißlose Verurteilung des faschistischen Regimes in Zweifel zu ziehen. Die mutige Rede von Otto Wels in der Reichstagssitzung vom 23. März setzte eine klare und eindrucksvolle Grenze gegenüber den nationalsozialisti­ schen E rpressungsversuchen; aber die darin enthaltenen Reminiszenzen an das Bis­ marcksche Sozialistengesetz zeigen, von welch irrtümlichen Zukunftserwartungen die Parteiführung auch jetzt noch ausging. Unzweifelbar hatte das eklatante Versagen der SPD-Führer und, in noch stärkerem Maße, der Führer der Freien Gewerkschaften, wesentlichen Anteil an der Passivität der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung gegenüber der drohenden faschistischen Diktatur. Obwohl ein scharfer Kritiker der SPD, meinte selbst Walter Löwenheim in der Einleitung der Broschüre „Neu beginnen!“, die Arbeiterbewegung sei von der na­ tionalsozialistischen Machteroberung „wie von einem Blitz aus heiterem Himmel be­ troffen worden“ 8 . Das galt gewiß für die Masse der auf diese Eventualität ungenügend vorbereiteten Arbeiterschaft, nicht für die Parteiführung. Wenn Konrad Heiden ge­ äußert hat, die Geschichte des Nationalsozialismus sei die Geschichte seiner Unter­ schätzung, so trifft dies auch in unserem Zusammenhang zu. Die sozialdemokrati­ sche, nicht nur die bürgerlich-liberale Presse polemisierte mehr gegen den „Wirt­ schaftsdiktator“ Hugenberg im Kabinett der nationalen Konzentration als gegen Hit­ ler. Die Fehleinschätzung der Lage verweist auf das Selbstverständnis der Sozialde­ mokratie zurück, auf ihre politischen Perspektiven wie ihre organisatorische und po­ litische Verfassung 9 . Der ïmmobilismus der SPD angesichts der Durchsetzung des Faschismus kann ge­ wiß nicht von der allgemeinen Krise der europäischen Demokratie in der Zwischen­ kriegszeit isoliert werden, und gleichartige E rmüdungs- und E rstarrungserscheinun­ gen finden sich bei den bürgerlichen Mittelparteien. E s ist nicht zuletzt auf die poli­ tisch-geistige Rückständigkeit der deutschen Gesellschaft im allgemeinen zurückzu­ führen, daß sich die deutsche Arbeiterbewegung nur beschränkt von den Fesseln ihrer eigenen Traditionen zu lösen vermochte und der Aufgabe der gesellschaftlichen Reali­ sierung der Demokratie unter den erschwerten Bedingungen der Zwischenkriegszeit nicht gewachsen war. Gleichwohl ist es notwendig, den inneren Gründen für die Nie­ derlage der Arbeiterbewegung näher nachzugehen. Sie hängen, was die Sozialdemo­ kratie angeht, auf das engste mit dem tradierten Selbstverständnis der Partei zusam­ men, das sie daran hinderte, der nationalsozialistischen Bewegung neue Kampffor­ men entgegenzustellen, sowie mit einer veralteten politischen Krisenstrategie, die vom rechten wie vom linken Flügel der Partei, bei sonst abweichenden Zielvorstel­ lungen, grundsätzlich geteilt wurde. Die defensive E instellung, die, wie im folgenden darzulegen sein wird, die Politik der Sozialdemokratie in der behandelten Periode kennzeichnete, ist zugleich weitgehend unabhängig von primär reformistischer oder primär revolutionärer Orientierung. Eines der offenkundigsten Schwächemomente der sozialdemokratischen Politik vor allem in der Spätphase der Weimarer Republik bestand im Fehlen einer positiven, zukunftsorientierten Gesamtkonzeption. Das galt nicht zuletzt für ihr Verhältnis zur 347

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parlamentarischen Demokratie. Zwar besteht kein Zweifel daran, daß die Partei - und das gilt auch für den 1922 zurückkehrenden rechten Flügel der USPD - grundsätzlich auf dem Boden des bestehenden Verfassungssystems stand. Aber die Hoffnungen, die in Weimar begründete Republik in eine soziale Demokratie zu verwandeln, waren an­ gesichts der schweren sozialpolitischen Kämpfe des Jahres 1919 einer zwiespältigen Haltung gewichen. Die Niederlage der Arbeiterbewegung nach dem Kapp-Putsch und der Verlust der parlamentarischen Mehrheit für die Parteien der Weimarer Koali­ tion vom Juni 1920 leiteten einen Prozeß zunehmender innerer Distanzierung von der nunmehr als „bürgerlich“ bezeichneten Demokratie ein; das Görlitzer Programm entsprach daher, als es im September 1921 verabschiedet wurde, nicht mehr der tat­ sächlichen Lage und der Haltung der Anhängerschaft 10 . E inen Höhepunkt fand die ambivalente E instellung zum bestehenden Verfassungssystem in der Phase der Bür­ gerblockkabinette. Man betonte zwar einerseits die Notwendigkeit der Republikani­ sierung und Demokratisierung, namentlich auf dem Gebiet der Verwaltung und der Justiz 1 1 , ließ aber andererseits ein positives Verhältnis zur parlamentarischen Demo­ kratie vermissen. Die im Grunde schon in Görlitz erkennbare, eher defensive E instellung zur demo­ kratischen Verfassung trat in den Debatten des Kieler Parteitags 1927 deutlich hervor. In seinem Grundsatzreferat wandte sich Rudolf Hilferding gegen die abschätzigen Vokabeln von der „formalen“ oder der „bürgerlichen“ Demokratie; historisch gese­ hen sei die Demokratie die Sache des Proletariats „gewesen“, und sie sei es auch sozio­ logisch 12 . Zündende Kraft konnte von solchen Überlegungen, die nur die Überlei­ tung von der Analyse der ökonomischen Lage zur Frage der sozialdemokratischen Koalitionspolitik darstellten, nicht ausgehen. Hilferdings Plädoyer für den Fortbe­ stand der Preußenkoalition und für eine eventuelle Regierungsbeteiligung im Reich reduzierte das Bekenntnis zur Demokratie auf eine taktische Frage. Man argumen­ tierte ausschließlich defensiv. „Wir müssen den Massen sagen“, führte Ulrich aus, „daß wir entschlossen sind, die demokratische Republik mit Nägeln und Zähnen zu verteidigen, weil wir in ihr einen erfolgverheißenderen Kampfboden für unsere so­ zialpolitischen Forderungen und sozialistischen Ziele sehen als in der Monarchie“ als ob letztere eine ernsthafte Alternative gewesen wäre. Ähnlich steril formulierte Paul Löbe: die SPD habe „auf dem Marsch aus der kapitalistischen Demokratie zum sozialistischen Volksstaat in der demokratischen Republik einen Stützpunkt gewon­ nen, der verteidigt werden muß, weil der weitere Vormarsch sonst nicht möglich“ wäre 1 3 . Nicht weniger verklausuliert äußerte sich Hilferding: „Wenn die Grundlage der Demokratie zerstört wird, sind wir in der Defensive und haben keine Wahl“ als die Gewaltanwendung, und diese könnte man nicht wünschen, denn es gäbe „kein schwereres Hemmnis der Verwirklichung des Sozialismus“ als den Bürgerkrieg 14 . Bezeichnend war an der mit historischen Reminiszenzen aufgefüllten und mit wohl­ dosierten Ansätzen zur Selbstkritik angereicherten Debatte, auf die Scheidemann hatte überhaupt verzichten wollen, um die Einigkeit der Partei nach außen zu bekun­ den, daß die Bedrohung der Republik weitgehend hinter dem Bedürfnis der Abgren­ zung nach links zurücktrat. Die Klage Gustav Radbruchs, daß die Partei die Demokratie „nur als Leiter zum 348

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Sozialismus empfindet, die dann beiseite geschoben wird, sobald man den Sozialis­ mus erstiegen hat“, während sie in Wahrheit „die große, bereits verwirklichte und in jedem Augenblick neu zu verwirklichende Hälfte ihres Programms“ darstelle 15 , be­ leuchtet die ambivalente Haltung der Partei zur parlamentarischen Demokratie, die als wenig attraktive Obergangsstufe erschien, welche es aus taktischen Gründen zu verteidigen galt. E s hat auf dem rechten wie auf dem linken Flügel nicht an Stimmen gefehlt, die auf diese grundlegende Schwäche sozialdemokratischer Politik, bei der immer nur von Verteidigung, nicht von Durchsetzung der Demokratie, von Bewah­ rung, nicht von E rweiterung des demokratischen Freiheitsraums die Rede war, hin­ gewiesen und Abhilfe gefordert haben. In einer scharfen Polemik gegen die Parteifüh­ rung betonte Hanns Müller, daß die mangelnde „Werbe- und Wirkungskraft“ der SPD darauf zurückzuführen sei, daß sie zu wenig getan habe, die Massen mit einem positiven demokratischen Bewußtsein zu erfüllen. Die Arbeiterschaft sei daran ge­ wöhnt, an die Leistungen der Politik des Tages den Maßstab der allgemeinsten, letz­ ten Ziele der Bewegung zu legen. Die E rziehung zur Demokratie und die Ausfor­ mung eines wirklichkeitsnahen politischen Bewußtseins sei versäumt worden 16 . Es ist begreiflich, daß die Partei vor allem nach den Erfahrungen von 1923 wenig In­ teresse hatte, sich in einer bürgerlichen Koalition zu verbrauchen. Bemerkenswert ist jedoch, daß sie, obwohl sie die Notwendigkeit einer pragmatischen Koalitionspolitik nicht in Abrede stellte, das Mittel der Regierungsbeteiligung zur Durchsetzung der eigenen Ziele nicht positiv begründete. Die Parteipresse erweckte den E indruck, daß die Teilnahme an bürgerlichen Koalitionen nur vorläufigen Charakter habe und vor­ nehmlich dazu diene, die Interessen des Proletariats zu verteidigen, ferner politische Krisensituationen abzuwenden, die das kontinuierliche Wachstum der eigenen Orga­ nisationen bedrohten. Diese Mentalität brachte der „Vorwärts“ am 6. Dezember 1925 charakteristisch zum Ausdruck, als er schrieb, die SPD habe sich niemals zur Regie­ rung gedrängt und sich nur daran beteiligt, „wenn die äußerste Not des Volkes dieses Opfer von ihr verlangte“ 17 . Das Verhältnis zur Demokratie reduzierte sich damit in der Praxis auf die Frage, ob die Partei die proletarischen Interessen besser aus der Op­ position heraus oder, wie Paul Levi formulierte 18 , als „negative Regierungspartei“ wahrnehmen konnte. Gewiß spiegelte dies die zunehmende politische Isolierung der SPD. Aber es kann kein Zweifel sein, daß darin auch das Bedürfnis zum Ausdruck kam, zu der Opposi­ tionsrolle zurückzukehren, die die Partei vor 1914 eingenommen hatte. Die Tendenz, zu den politischen Leitbildern der Vorkriegszeit Zuflucht zu suchen, zeigte sich bei allen politischen Parteien; bei der Sozialdemokratie wurde sie auch dadurch begün­ stigt, daß sie dadurch den Druck der KPD und des linken Flügels abzumildern hoffte. Die Masse der Anhängerschaft scheint zudem die Rolle der SPD als Oppositionspartei stärker honoriert zu haben als die einer aktiven Regierungspartei 19 . E s ist begreiflich, daß die Sozialdemokratie die Subkultursituation der Wilhelminischen Periode nicht in einem Schlage überwinden konnte, und es gibt viele Beispiele dafür, daß aus dem Bedürfnis heraus, sozialistische E inrichtungen nicht zu verwässern, E lemente der ge­ sellschaftlichen Isolierung bewußt in Kauf genommen wurden 20 . In der Sache aber führte diese Mentalität notwendig dazu, daß die Sozialdemokratie in der Auseinan349

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dersetzung mit der konservativen Rechten und der NSDAP über eine legalistisch ge­ färbte Verteidigung der demokratischen Verfassung nicht hinausgelangte und ihrer Anhängerschaft keine glaubhafte politische Alternative zu der im Präsidialsystem de­ formierten Verfassung anzubieten hatte. Dies wird in der Widerstandsbewegung wie­ derkehren: die Verfechter des demokratisch-parlamentarischen Systems machten die verschwindende Minderheit der Opposition aus. E s war in der Tat wenig aussichts­ reich, für eine politische Verfassungsform zu kämpfen, die in Weimar nur schwerfäl­ lig und unter zunehmenden Reibungen funktioniert hatte und an deren Zukunft nie­ mand glaubte 21 . Dabei fehlte es nicht an Ansätzen, das allzu formalisicrte Demokratieverständnis der SPD wie der Weimarer Demokraten überhaupt zugunsten einer stärkeren inner­ und außerparteilichen Aktivierung der Massen zu überwinden. Die darüber zwischen den Flügeln der Partei, vorwiegend von der jüngeren Parteiintelligcnz geführte Dis­ kussion ist bis heute nicht ausgeschöpft worden. Sie entzündete sich an dem bürokra­ tischen und mitunter autoritären Führungsstil des Parteivorstandes. Der Mangel an innerparteilicher Demokratie und die unzulängliche Aktivierung der Anhängerschaft wurde sowohl von der linken als auch der rechten Parteiopposition heftig kritisiert. Beide stimmen darin überein, daß eine Dezentralisierung und Auflockerung des Par­ teiapparates, eine „Demokratie der Organisationen“ 22 , notwendig sei, um die oligar­ chischen Tendenzen und die bürokratische Sterilität des Parteiapparats abzubauen. Bestrebungen dieser Art waren in erster Linie eine Reaktion auf die bürokratischen Disziplinicrungsversuche gegenüber dem linken Flügel und der Parteijugend, aber sie gingen darüber hinaus. Die Linksopposition knüpfte dabei an die organisatorischen Vorstellungen der USPD an, doch gewann die Erörterung dieser Frage neue Akzente, die antiautoritäre Bestrebungen der Gegenwart vorwegnehmen. Im Vordergrund stand das Bemühen um verstärkte innerparteiliche Partizipation und die Belebung der richtungspolitischen Diskussion in der Parteipresse, ferner um die Öffnung der Par­ teiorganisation auf den unteren E benen zugunsten der stärkeren E inbindung von Sympathisanten. E inigkeit mit den Repräsentanten des entschiedenen Reformsozia­ lismus bestand darin, daß man es mit einer Krise der innerparteilichen Demokratie zu tun habe, die, wie Theodor Haubach formulierte, von veralteten demokratischen Ri­ tualen im Parteileben überdeckt war. E r verurteilte die „Nutzlosigkeit einer schablo­ nenmäßig gehandhabten Versammlungsdemokratie“, die gerade eine Gefährdung der innerparteilichen Partizipation darstelle 23 . Gewiß waren die organisatorischen Vorstellungen der Linken unausgereift und in mancher Hinsicht widersprüchlich. Leninistische Prinzipien konnten sich, wie im Falle des ISK, mit latent faschistischen eigentümlich vermengen 24 . Das Bedürfnis nach moderneren Führungsmethoden und damit auch einer Verstärkung der plebiszi­ tär-außerparlamentarischen Komponente der Bewegung verband linke wie rechte Kritiker des Parteivorstands. Helmut Wagner, der im September 1931 als Anhänger des linken revolutionären Flügels ausgeschlossen wurde, stellte die „proletarische Lö­ sung des ,Führerproblems' wie die Frage der lebendigen Verbindung zwischen Orga­ nisationsarbeit und Massenkampf“ als das zentrale Problem der Partei heraus2'“'. Das stand nicht im Widerspruch zur Forderung, die innerparteiliche Demokratie zu ver350

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stärken; deren Glaubwürdigkeit hing davon ab, daß auch Außenseiter und unbe­ queme Charaktere in Führungspositionen hineingelangen konnten. Im Grunde ver­ hinderte der mit demokratischen Prozeduren getarnte, bürokratische Führungsstil des Parteivorstands die Entstehung eines aktiven, nicht bloß durch die Tradition ver­ mittelten Solidaritätsbewußtseins innerhalb der Partei, das eine fruchtbare Austra­ gung der zweifellos scharfen Richtungsgegensätze ermöglicht hätte. In der vernich­ tenden Polemik gegen den Führungsstil der Partei waren sich alle zu politischer Ak­ tion drängenden Gruppen innerhalb der Partei einig; Julius Leber, Carlo Mieren­ dorff, Theodor Haubach, die Gruppe Klassenkampf, die Jungsozialisten und vielfach auch die SAJ waren davon überzeugt, daß die Führungspraxis des Parteivorstands auf eine systematische E ntpolitisierung der Kader hinauslaufe. Die SPD werde zwar „ausgezeichnet verwaltet, aber keineswegs geführt“, bemerkte Haubach sarka­ stisch 26 . Julius Leber dachte nicht anders. Die auf den Flügeln der Partei vorhandenen lebhaften Impulse, durch ein dyna­ mischeres Demokratieverständnis die im wesentlichen defensive E instellung der SPD zu überwinden und deren Attraktivität insbesondere bei der jüngeren Generation zu erhöhen, blieben isoliert. Die E rkenntnis, daß die Demokratie als bloßer Ämterbe­ stellungsmechanismus keinerlei werbende Kraft besaß, führte zur Forderung neuer Kampf-, Agitations- und Organisationsformen. Die Masse der Parteifunktionäre lehnte derartige Ideen als politikferne Theorie ab. 1928 hatte Paul Levi prophetisch formuliert: „Die Demokratie ist heute in der Sozialdemokratie fast allein zu Hause. Stirbt in ihr die Demokratie ab . . . , so ist der Faschismus der lachende E rbe“ 27 . In der Endphase der Republik stand die Sozialdemokratie als Verteidigerin der demokrati­ schen Republik in der Tat nahezu allein; zugleich aber fehlte ihr die innere Überzeu­ gungskraft im Kampf für die Demokratie. Zwar erkannte jetzt auch die Parteifüh­ rung, daß man nicht länger in jener ambivalentcn Haltung zur Republik verharren konnte, die man jahrelang vertreten hatte, doch konnte man die Indifferenz der Mas­ sen gegenüber dem bestehenden System nicht über Nacht beseitigen. Das Versäumnis wog um so schwerer, als die SPD in der Ära der Präsidialkabinette keinerlei politi­ schen Bewegungsspielraum mehr besaß und nicht in der Lage war, die zunehmend hervortretenden antiparlamentarischen Tendenzen der Brüning-Kabinette offen zu bekämpfen. Die Hilflosigkeit, mit der die SPD auf die sich abzeichnende Gefahr des konservati­ ven Interessenbündnisses mit der NSDAP reagierte, beruhte zugleich auf einer ver­ fehlten Defensivstrategie, die letzten E ndes auf die E ntwicklungsprognosen von Friedrich E ngels, auf dessen berühmte Vorrede zu den „Klassenkämpfen in Frank­ reich“ zurückging 28 . Auf dem Magdeburger Parteitag erklärte Otto Wels, die Sozial­ demokratie werde „das Recht auf Diktatur“ beanspruchen, wenn die Demokratie durch die KPD, den Stahlhelm oder die NSDAP zerstört werden sollte 29 . Diese Äu­ ßerung war nur die reformistische Variante zur Forderung der Linken, im Falle eines Angriffs auf die Demokratie von bürgerlicher Seite das Instrument der proletarischen Diktatur handhaben zu wollen. Wels' Bemerkung verkehrte die taktischen Ratschläge von E ngels insoweit in ihr Gegenteil, als er selbst einen der SPD aufgezwungenen Ausnahmezustand im Bürgerkrieg noch mit legalístischen Argumenten zu rechtferti351

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gen s u c h t e - ein charakteristischer Beleg für die fehlende E ntschlossenheit, die Kon­ terrevolution mit revolutionären Mitteln zu bekämpfen. Jedoch kann nicht übersehen werden, daß auch die Linke bei der Propagierung des Linzer Programms, das sie für die Strategie der Partei übernehmen wollte, verkannte, daß dieses von einer falschen Einschätzung der politischen E ntwicklung ausging, um damit im Grunde die gleiche Defensivposition, nur in radikaleren Wendungen, vertrat. Die vielerörterte Frage, ob die Diktaturdrohung des Linzer Programms der Öster­ reichischen Sozialdemokratie von 1926 für den Fall konterrevolutionärer Aktionen der Bourgeoisie ein taktischer Fehler gewesen ist, der es Seipel erleichterte, die Isolie­ rung und schließliche Ausschaltung der Sozialisten zu betreiben 30 , überdeckt das Problem, daß das Programm auf einer falschen Perspektive beruhte. E ngels hatte 1890 die Konstellation ins Auge gefaßt, daß das Bürgertum die demokratische Machterobe­ rung durch das Proletariat mit gegenrevolutionären Mitteln zu einem Zeitpunkt ver­ hindern würde, in dem dieses bereits die Mehrheit der Bevölkerung und erhebliche Teile der Armee gewonnen haben würde. In dieser Konstellation arbeitete die Zeit für das Proletariat. 1930 hingegen hatte die Arbeiterschaft, abgesehen von der Parteispal­ tung, weder die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich, noch konnte sie eine rasche Verstärkung ihrer Stellung erwarten. E ngels' Konzept entsprach den Bismarckschen Staatsstreichplänen, nicht aber der Situation der zweiten Hälfte der 20er und der be­ ginnenden 30er Jahre, in der es den konservativen und dann den faschistischen Kräf­ ten gelang, unter Ausnützung der formalen Legalität oder mit pseudolegalen Metho­ den die Basis der demokratischen Arbeiterschaft schrittweise zu zerschlagen und sie zu einem revolutionären, d. h. legalitätsdurchbrechenden Abwehrkampf zu zwingen, der den Vorwand für ihre endgültige Ausschaltung lieferte. Die pseudolegale Mach­ teroberungstechnik Hitlers, die sich auf Vorbilder der Phase der Präsidialkabinette stützen konnte, wie diejenige von Dollfuß, stellte die Arbeiterbewegung vor ein na­ hezu unlösbares Dilemma. E ntweder verbrauchte sie ihre Kräfte noch vor der E rrich­ tung der konterrevolutionären Diktatur oder sie verfehlte den Zeitpunkt, in dem offe­ ner Widerstand noch aussichtsreich erschien. Sie überließ dadurch umso mehr dem Gegner das Gesetz des Handelns. E s ist bezeichnend, daß Otto Bauer, der die deut­ schen Verhältnisse eingehend studiert und durchaus zutreffend kritisiert hatte, in der Auseinandersetzung mit Dollfuß in den prinzipiell gleichen Fehler verfiel: der Zeit­ punkt eines noch einigermaßen erfolgreichen revolutionären Widerstandskampfes wurde verpaßt, der Aufstand im Februar 1934 unvorbereitet, unkoordiniert und zum politisch ungünstigsten Zeitpunkt unternommen 31 . Der Zielkonzeption, im Falle eines Anschlags auf die Demokratie Gewalt anzu­ wenden und möglicherweise den Übergang zur sozialistischen Demokratie zu er­ zwingen, lag die Vorstellung zugrunde, daß revolutionäre Aktionen der Arbeiter­ klasse überflüssig seien, solange der demokratische Kampfboden des Proletariats nicht durch gegenrevolutionäre Maßnahmen zerstört werde. Die Diktaturdrohung richtete sich bezeichnenderweise auch gegen kommunistische Putschabsichten; hinter ihr stand nicht der Wille, die Macht zu erobern, sondern die schon brüchig gewordene Legalität zu sichern. Sie war zugleich ein Argument, das der Anhängerschaft den E in­ druck der ungebrochenen Macht der Bewegung vortäuschen sollte. In der Sache 352

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diente diese Vorstellung dazu, die Politik der Partei gegenüber der Kritik von links zu rechtfertigen und grundlegende Änderungen der Parteitaktik zu vermeiden. Diese Einstellung erleichterte es auch, die Auseinandersetzung mit der KPD in den Mittel­ punkt der Parteiarbeit zu stellen und die Bedrohung der Republik durch die konserva­ tive Rechte demgegenüber zu verkleinern. Diese Verengung des politischen Gesichts­ feldes der SPD - die Analogien auf kommunistischer Seite hat - ist schwerlich allein auf das Versagen der Führungsschicht zurückzuführen und ist nicht auf die reformi­ stisch-pragmatisch eingestellten Gruppen beschränkt. Die mangelnde politische Flexibilität der Partei hing eng mit ihrer organisatori­ schen Verfassung zusammen. Die schon vor dem Weltkrieg spürbare Bürokratisie­ rung hatte nach Kriegsende, auch infolge des raschen Organisationswachstums, sprunghafte Fortschritte gemacht. Über die Größe des hauptamtlichen Funktionärs­ korps liegen zuverlässige Angaben nicht vor; Richard N. Hunt geht von einer Größenordnung von 20000-30000 bezahlten Funktionären aus; nimmt man die in den der Partei nahestehenden gewerkschaftlichen Organisationen hauptamtlich Täti­ gen hinzu, wird der ungewöhnlich starke Einfluß bürokratischer E lemente innerhalb des Parteiapparats deutlich 32 . Dies galt nicht zuletzt für die Spitzengremien der Par­ tei, für die Reichstagsfraktion und für die Parteitage, auf denen der Anteil hauptamtli­ cher Funktionäre erschreckend hoch war und zu einer ausgeprägten Tendenz der Selbstüberheblichkcit beitrug. Die konservative und zu einer fortschreitenden E ntpo­ litisierung tendierende Mentalität des Apparats ist schon von den Zeitgenossen scharf kritisiert worden 3 3 . Bürokratisierung und traditionales Selbstverständnis der SPD wirkten im Sinne der Reduzierung der innerparteilichen Diskussion und einer E inschränkung der Ämter­ fluktuation. Dies zeigte sich am deutlichsten an der Unterdrückung innerparteilicher Kritik insbesondere des linken Flügels. Offene Kritik an verdienten Parteiführern wurde geradezu als Feloníe empfunden. Paul Levi sprach von einer gegen die Links­ opposition gerichteten Pogromstimmung. Wäre es nach dem Willen des Apparats ge­ gangen, hätte Levi, der 1921 aus der KPD ausgeschlossen worden war, dasselbe Schicksal in der SPD erfahren 34 . Sachliche Kritik am Parteiapparat wurde häufig mit dem Argument beiseite geschoben, dadurch werde das Ansehen der Partei in der Öf­ fentlichkeit beeinträchtigt. Die Überrepräsentation der Parteileitung auf den Parteita­ gen bewirkte eine Abschnürung der innerparteilichen Opposition, die durch manipu­ lative Maßnahmen vielfach noch verstärkt wurde. Der linke Flügel, hierin von rechts­ stehenden Parteiintellektuellen unterstützt, verlangte vergeblich, den lokalen Organi­ sationen ebenso wie den Jugendverbänden einen größeren Bewegungsspielraum zu geben, den Vertretungsmodus auf den Parteitagen zugunsten einer größeren Reprä­ sentanz der von der Politik des Vorstands abweichenden Strömungen zu ändern und die Diskussion innerhalb der Parteiorgane zu verbreitern. Von Seiten des Parteivor­ stands wurden Anträge dieser Art in der Regel als prokommunistisch denunziert; er fand darin den Beifall der schweigenden Funktionärsmehrheit, die kritiklos den An­ trägen des Vorstands, aus gewohnter Loyalität gegenüber den Führern, folgte. Die Tendenz, den innerparteilichen Richtungsstreit zu unterbinden oder im Sinne des Parteivorstands zu kanalisieren, und die Abneigung gegen theoretische Diskussionen, 353 23

Mommsen, Arbeiterbewegung

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die sich mit der tradierten Intelligenzfeindschaft paarte, begünstigte die Ausbreitung „geistiger Mittelmäßigkeit und einexerzierter Routine“, wie Leber bitter bemerkte 35 . Zweifelsohne sind die hier beschriebenen E rscheinungen vor allem für die E nd­ phase der Weimarer Republik charakteristisch, in der neben der glücklosen Politik der Partei der politische Druck von Seiten der KPD die Unsicherheit der Führung noch verstärkte, die sie durch rigoroses Durchgreifen gegen die Linksopposition kompen­ sierte. Die nervöse Gereiztheit, mit der der Parteiapparat auf Kritik reagierte, das Be­ streben, oppositionelle Gruppen durch organisatorische Maßregeln zu neutralisieren, und der Geist der Intoleranz, der gerade unter Altfunktionären und Altmitgliedern Platz griff, deuten auf eine tiefe innere Krise der Partei hin, die auch der Spannung zwischen den optimistischen E rwartungen nach dem Zusammenbruch von 1918 hin­ sichtlich des politischen E influsses und des Wachstums der Partei und der nach 1920 einsetzenden Stagnation entsprang. Die Krise spiegelt sich in der E ntwicklung der Parteimitgliedschaft. Zwar gelang es der SPD, den während des E rsten Weltkrieges zusammengeschmolzenen Mitgliederstand relativ rasch auszudehnen und ihn 1921 auf 1,2 Millionen, 1923 (infolge der Rückkehr der Rumpf-USPD) auf 1,26 Millionen zu steigern. Die Bürgerblockperiode brachte jedoch ein starkes Absinken der Mit­ gliedschaft, die bis an die Grenze von 0,8 Millionen absank, um von 1929 bis zum Sommer 1932 wieder anzusteigen und sich bei etwa 1 Million einzupendeln. Die Be­ völkerungsvcrluste im E rsten Weltkrieg und die Stagnation des Bevölkerungszu­ wachses hatten darauf nur geringen E influß. Die Abwanderung zur KPD spielte nur eine begrenzte Rolle; der Anteil ehemaliger Sozialdemokraten an der KPD-Mitglied­ schaft betrug 1927, also vor deren Ausdehnung auf über 300000 Mitglieder, nur 30,3 % 3 6 . Die stagnierende Mitgliederbewegung der SPD ist auch nicht auf die Ten­ denz von der Mitglieder- zur Wählerpartei zurückzuführen, obwohl Mitgliedschaft und Wählerschaft quantitativ nicht korrelieren und deren soziale Zusammensetzung stark voneinander abweicht 37 . In der Spätphase der Weimarer Republik machte sich freilich auch in der SPD trotz ihrer im Vergleich zu anderen Parteien ausgeprägten Mitgliederstabilität eine beträchtliche Mitgliederfluktuation bemerkbar, die jedoch in keinem Verhältnis zu deren extremem Umfang bei KPD und NSDAP steht. Die Mitgliederstagnation der SPD dürfte in erster Linie auf den sozialen Umschich­ tungsprozeß zurückzuführen sein, der während der Weimarer Republik rasche Fort­ schritte machte. Neben dem Ansteigen des Dienstleistungssektors und dem Anwach­ sen der Angestelltenschaft machte sich vor allem das Stagnieren des Anteils der Arbei­ ter an der Gesamtzahl der Erwerbstätigen bemerkbar 38 . Vor allem war die Zahl der in industriellen Groß- und Mittelbetrieben beschäftigten Arbeiter rückläufig und fiel auf etwa 30 % der E rwerbstätigen zurück 3 9 . Angesichts des hohen Anteils von Arbeitern an der Mitgliedschaft (1930: 76,9%) und hier überwiegend Industriefacharbeitern, fiel dieser tendenzielle Umschwung für die Partei entscheidend ins Gewicht. Wie schwer es der Partei, trotz der Ausdehnung des Anteils kleinbürgerlicher Gruppen auf 21,2 % 4 0 , gelang, in die Schicht der Angestellten einzudringen und sich hierzu be­ haupten, geht aus dem signifikanten Mitgliederrückgang des AfA hervor, der 1923 mit 658000 Mitgliedern mit den übrigen mittelständischen Organisationen konkur­ rieren konnte, 1931 aber nur noch 203 000 Mitglieder hatte, darunter überwiegend 354

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Funktionäre, die im Partei- und Gewerkschaftsapparat oder in sozialdemokratisch beeinflußten Kommunalverwaltungen tätig waren 4 1 . Der Tendenzumschwung gegenüber der Vorkriegszeit machte sich bei den Wäh­ lern noch weit stärker als bei der Mitgliedschaft geltend. Das für die MSPD unge­ wöhnlich günstige, freilich hinter ihren E rwartungen noch zurückbleibende E rgebnis der Wahlen zur Nationalversammlung mit 37,9 % der Stimmen wurde niemals wieder erreicht. Die Reichstagswahlen von 1928 brachten mit 29,8 % einen letzten Höhe­ punkt. Die Novemberwahlen von 1932 hatten mit 20,4 % SPD-Stimmen ein höchst unbefriedigendes E rgebnis, das nicht zuletzt auf einer starken Abgabe von Stimmen an die KPD beruhte, aber zugleich zeigte, daß sich die Oppositionshaltung der SPD wahlpolitisch nicht mehr wie früher positiv auswirkte. Der Stimmenrückgang kam jedoch, abgesehen von den Novemberwahlen, nur teilweise der KPD zugute; die so­ zialistischen Parteien sanken von 45,5 % auf 37,3 % ab 4 2 . Neben der faktischen E in­ flußminderung können die psychologischen Folgen der mangelnden Wahlerfolge für die SPD kaum überschätzt werden. Die Partei hatte ihre gesamte Strategie und Orga­ nisationsarbeit auf der Voraussetzung kontinuierlichen Wachstums aufgebaut. Dieser Traum war mit den Juniwahlen von 1920 ausgeträumt, doch bedurfte es eines gewis­ sen Zeitraums, bis sich diese E insicht bei der Parteiführung durchgesetzt hatte. Die einschlägigen Untersuchungen E mil Lederers und Theodor Geigers, die auf den Wandel des sozialdemokratischen Rekrutierungsfeldes hinwiesen, fanden spätestens seit 1927 lebhafte Resonanz in der innerparteilichen Diskussion 43 . Dabei wirkte sich die bemerkenswert hohe Mitgliederstabilität im Verhältnis zur Wählerhaltung psychologisch insofern negativ aus, als die Vertreter des Parteiappara­ tes ihre Energien vor allem in die innerorganisatorische Arbeit steckten und die politi­ sche Krise der Partei darüber zu verdrängen suchten. Wenn die alte, angestammte Mitgliedschaft der feste, verläßliche Pol war, mußte die Innovationsbereitschaft ent­ sprechend sinken, die politische Isolierung der Partei und die a-politische Mentalität der Kader noch gesteigert werden. E s verwundert daher nicht, daß die Umwandlung der SPD von einer Berufspartei des Industrieproletariats, vor allem der Facharbeiter­ schaft, in eine Volkspartei in den 14 Jahren der Weimarer Republik auf der ganzen Li­ nie gescheitert ist. Obwohl man diese Konsequenz in Görlitz und selbst in Heidelberg theoretisch gezogen hatte, gelang es der SPD nicht, den Anteil nichtproletarischer Wähler gegenüber der Vorkriegszeit, wo er etwa 25 % betragen hatte, mit Ausnahme der Frühphase, entscheidend zu steigern. Sie gewann in Weimar bestenfalls 10 % mit­ telständischer und bäuerlicher Wähler hinzu, die jedoch gerade in der Krise wieder verlorengingen 44 . Das Dilemma, daß die SPD bei einem gemäßigten Kurs an Attrak­ tivität bürgerliche Randgruppen hinzugewann, aber fast die gleiche Stimmenzahl an die konkurrierende USPD bzw. KPD abgeben mußte, macht überdies deutlich, daß Änderungen des Gesamttrends innerhalb kurzer Fristen nicht durch grundsätzliche Kursschwenkungen erreicht werden konnten. Das Abrücken von spezifisch marxisti­ schen Programmpunkten wie überhaupt ideologische Faktoren haben die Anzie­ hungskraft der SPD bei nichtproletarischen Wählern kaum wesentlich beeinflussen können. Der starke Einfluß der reformistisch eingestellten Gewerkschaften prägte das proletarische Image der Partei vermutlich stärker als das Bestreben des linken Flügels, 355

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marxistische Vorstellungen wieder zur Geltung zu bringen und die proletarische Basis der Partei zu stärken. Es ist symptomatisch, daß die Partei ihre Bemühung, nichtproletarische Anhänger zu gewinnen, nach ersten Rückschlägen nicht mehr intensiv fortgesetzt hat. Die wachsenden E rfolge der Rechtsparteien und der NSDAP bei den Mittelschichten wurden mit einem Gefühl der Resignation hingenommen. In der Verbandspolitik überwog die Tendenz, zu der herkömmlichen klassenpolitischen Isolierung zurück­ zukehren und die unter dem E influß des Arbeitsgemeinschaftsgedankens zu Beginn der Republik lebendigen Bestrebungen zu überparteilicher Integration nicht fortzu­ setzen 45 . Vielmehr neigte man dazu, das Schwergewicht auf die proletarische Rekru­ tierung zu legen. Hier gelang es (in einer gewissen Phasenverschiebung zur Lage der Vorkriegszeit), erhebliche E rfolge bei der Landarbeiterschaft zu erringen; die Versu­ che, die Zentrumsarbeiterschaft für die Partei aufzubrechen, waren nur begrenzt er­ folgreich; sie führten, taktisch gesehen, zu einer Schwächung der politischen Position der SPD innerhalb des Parteiensystems. Vergleichende regionale Untersuchungen könnten hier näheren Aufschluß geben 46 ; auf das Ganze gesehen dürfte die Partei nur geringe Teile nichtproletarischer Wählcrgruppen dauerhaft organisatorisch einge­ bunden haben. Ein entscheidender Schwächepunkt der sozialdemokratischen Werbung war die Un­ terschätzung des sich in der Massenanhängerschaft der KPD spiegelnden sozialen Pro­ tcstpotcntials. Seit der Revolutionsphase neigte die Parteiführung dazu, auch den in­ dividuellen Kommunisten moralisch abzuqualifizieren; die Kommunistenfeindschaft führte zu fortwährenden Verdächtigungen des linken Flügels der eigenen Partei. Man hielt es nicht nur für aussichtslos, sondern auch für nicht wünschenswert, die kom­ munistisch eingestellte Arbeiterschaft zurückzugewinnen, und war daher auch nicht bereit, richtungspolitische Konzessionen in Kauf zu nehmen. Man verharrte bei der beschränkt zutreffenden Vorstellung, daß die KPD-Sympathisanten überwiegend aus Wechselwählern bestünden, von denen viele aus dem Lager der Rechten kämen. Der extrem hohe Anteil von E rwerbslosen unter den Anhängern der KPD und der ver­ gleichsweise niedrige Prozentsatz von Betriebsarbeitern in der KPD-Mitgliedschaft weckte innerproletarische soziale Ressentiments auf Seiten der SPD. Die E rwartung, die KPD werde mit Sicherheit zerfallen, bestärkte sie in der Neigung, sich auf eine extrem langfristige E ntwicklung zum Sozialismus einzustellen, in deren Verlauf die Einheit der Arbeiterbewegung sich automatisch ergeben werde. Die ständigen, von außen induzierten Führungskrisen der KPD faßte man als Bestätigung des eigenen Führungsstils auf. E ine geistige Auseinandersetzung mit der KPD hielt man für über­ flüssig: „Selbstbewußtsein und Würde“ sei eines der vielen Kennzeichen, das die SPD von den Kommunisten unterscheide, meinte Wels in Magdeburg 47 . Die E inheits­ frontbestrebungen der KPD stießen daher, ganz unabhängig von den taktischen Ziel­ setzungen, die diese damit verknüpfte, von vornherein auf den Widerstand des SPD-Apparats. Eine bedeutende Chance, nichtproletarische Anhänger zu gewinnen, stellte das Reichsbanner dar, das vornehmlich von der SPD getragen und finanziert wurde. Je­ doch ist diese Chance, wie die Darstellung Karl Rohes zeigt 48 , nicht hinreichend ge356

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nützt worden. Zudem fehlte es nicht an organisatorischen Vorbehalten. Auf dem Kie­ ler Parteitag von 1927 erklärte Otto Wels, „Debet und Kredit“ gegenüber dem Reichsbanner müßten wieder in E inklang miteinander gebracht werden; die Wer­ bungsarbeit der Partei unter den jugendlichen Arbeitern sei zugunsten des Reichs­ banners vernachlässigt worden 4 0 . Offenkundig blieb bei vielen Parteifunktionären ein unterschwelliges Mißtrauen gegen die außerparlamentarische Tätigkeit des Reichs­ banners bestehen, von dem man mitunter fürchtete, es könne zu einer Konkurrenz­ partei werden. Der problematische, aber der politischen Landschaft von Weimar ge­ mäße äußere Stil des Reichsbanners und später der E isernen Front widersprach dem politischen Geschmack des durchschnittlichen Partei- und Gewerkschaftsfunktio­ närs, der in parlamentarischen oder gewerkschaftlichen Kategorien dachte. Sofern man den E insatz außerparlamentarischer Mittel nach den E rfahrungen des General­ streiks gegen den Kapp-Putsch überhaupt ins Auge faßte, dachte man in den Katego­ rien der eigenen Organisation. Zur Stagnation der Parteimitgliedschaft und der Rückläufigkeit der Wahlerfolge ge­ sellte sich eine weitgehende politische Inflexibilität der Führungsschicht. Das Festhal­ ten an den tradierten Kooperationsmechanismen bewirkte eine tendenzielle Vergrei­ sung der Führungsgremien und der Reichstagsfraktion, wie sie Richard Hunt einge­ hend beschrieben hat 50 . Die Überalterung des Parteivorstands tritt statistisch nicht voll in E rscheinung, da durch den Tod einiger Vorstandsmitglieder und die E rweite­ rung des Vorstands nach der Vereinigung mit der Rumpf-USPD einige jüngere Vor­ standsmitglieder nachrückten, bei denen es sich durchweg um altgediente Karriere­ funktionäre handelte. Das Durchschnittsalter des Parteivorstands hatte 1890 39,6 Jahre betragen; in der Weimarer Zeit lag es zwischen 50 und 55 Jahren. Die Ämtcrbe­ stcllung erfolgte faktisch im Wege der Akklamation; nur einmal kam es zur Abwahl eines Mitglieds des Parteivorstands, und dabei handelte es sich bezeichnenderweise um einen Vertreter des linken Flügels. E rst 1931 schritt man aufgrund der unüberhör­ baren Kritik an der Überalterung der Parteileitung zur Aufnahme einiger Repräsen­ tanten der Jugend, die aber gerade nicht mit den politischen Bestrebungen der SAJ und der Jungsozialisten übereinstimmten 51 . Über den Altersaufbau des Apparats fehlen gesicherte Daten; aus den lebhaften Klagen über zu erwartende Pensionslasten und angesichts des geltenden Ancienni­ tätsprinzipsfür innerparteiliche Karrieren darf vermutet werden, daß die Parteiämter überwiegend in den Händen von Funktionären lagen, die ihre politische Prägung in der Wilhelminischen Ära erhalten hatten. Nicht viel besser verhielt es sich mit der Reichstagsfraktion der SPD. Nur in der VII. Wahlperiode überstieg der Anteil von unter 30jährigen die 5%-Grenze. Das Durchschnittsalter der Fraktionsmitglieder lag höher als bei den meisten bürgerlichen Parteien und bewegte sich an der Grenze von 50 Jahren. Noch negativer ist das Bild, wenn man die Mandatsdauer untersucht. Sie lag wesentlich höher als bei den übrigen Parteien; ca. 25 % der sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten gehörten dem Reichstag länger als 10 Jahre an im Vergleich zu ca. 10 % bei den übrigen Fraktionen. Durch die ganze Weimarer Zeit hindurch war die Zahl der newcomers außerordentlich gering. Die schon in der Vorkriegszeit vor­ handene Tendenz der Parteimitgliedschaft, Abgeordnete zu nominieren, die unab357

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hängig von ihrer politischen Richtung wegen ihrer Verdienste für die Parteiorganisa­ tion anerkannt waren, setzte sich nach 1918 fort und verstärkte die Isolierung zwi­ schen Fraktion und Anhängerschaft. Abgesehen von der strukturell nachteiligen Überalterung wurde dadurch dem politisch qualifizierten und profilierten Partei­ nachwuchs der Aufstieg in Führungsstellungen nachhaltig erschwert. In Wechselwirkung zur Überalterung der Führungsschicht der Partei stand die re­ lative Überalterung der Parteimitgliedschaft. Der Parteivorstand hatte zunächst die­ ses Problem zu ignorieren versucht und statistische E rhebungen darüber als reine Zeitverschwendung hingestellt. Dennoch kam es, nach einzelnen regionalen E rhe­ bungen, schließlich doch zu einer Altersstatistik der Parteimitglieder auf der Grund­ lage von 329 Ortsvereinen, die hinreichend repräsentativ ist, um Aussagen über die Gesamtmitgliedschaft zuzulassen 52 . Danach ergibt sich für 1930 ein ungewöhnlich negatives Bild: das Durchschnittsalter der Parteimitglieder betrug 42,5 Jahre, der An­ teil von unter 20jährigen Mitgliedern nur 1,2 %. Im Vergleich zur Gesamtbevölke­ rung lag der Anteil der 20- bis 25jährigen an der Parteimitgliedschaft etwa zweiein­ halbmal so niedrig, der Anteil der 20- bis 30jährigen belief sich auf die Hälfte der bei proportionaler Vertretung der Altersgruppen der Bevölkerung zu erwartenden Zif­ fer. Hingegen waren die 40- bis 60jährigen in der Partei klar überrepräsentiert. Der Überalterung des Parteiapparats und der Parteiführung entsprach also eine noch deut­ lichere Überalterung der Mitgliedschaft. Für eine Partei, die ihr E ndziel im Verlauf von Generationen zu erreichen hoffte, war das Desinteresse der nachwachsenden Generation von entscheidender psycholo­ gischer Bedeutung. Zwar versuchte die Parteiführung, die zunehmende Kritik an der Überalterung der Führungskader und der Jugendagitation herunterzuspielen. Aber alle Beschwörungen, daß die Massen der arbeitenden Jugend treu hinter der Partei stünden und die Jugend immer mehr in die Organisationen hineinströme, konnten nicht verhindern, daß diese Frage zum zentralen Thema der innerparteilichen Diskus­ sion wurde. Zweifellos war dieses Problem nicht auf die SPD beschränkt; es existierte, in kaum weniger bedrängender Form, für alle bürgerlichen Parteien. Denn das Wei­ marer Parteiensystem erwies sich als nicht in der Lage, die nachwachsende Genera­ tion, die nicht mehr von den politischen E rfahrungen des Ersten Weltkrieges und des Kaiserreichs geprägt war, einzubinden. Das wirkte sich für die republikanischen Par­ teien besonders ungünstig aus. Das Jungbanner - die Jugendorganisation des Reichs­ banners-hatte 1930 etwa 220000 Mitglieder. Das war bei einer Gesamtzahl von unge­ fähr 3 Millionen 14- bis 18jährigen in der Weimarer Bevölkerung nicht eben viel. Der Anteil der sozialdemokratisch und freigewerkschaftlich beeinflußten Jugendver­ bände war deutlich rückläufig. Die SAJ hatte 1931 etwa 56 000 Mitglieder; 1923 waren es noch 105000 gewesen. Die Roten Falken dürften 1929 etwa 150000 Mitglieder ge­ habt haben. Der Mitgliederverlust der SAJ ist nur sehr begrenzt auf eine Verschiebung zugunsten des KJVD zurückzuführen; er besaß 1932 nur 20000 Mitglieder; die Mit­ gliederzahl der Roten Jungfront, die sich teilweise mit der des KJVD überdeckte, wird auf 25000 geschätzt 53 . Die Freie Gewerkschaftsjugend dürfte bestenfalls eine halbe Million Mitglieder umfaßt haben. Die gleiche Zahl, bei sich überschneidenden Mitgliedschaften, ist für die Arbeitersportvereine anzusetzen. Demgegenüber er358

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scheint der Organisationsgrad der von den bürgerlichen Mittel und den Rechtspar­ teien beeinflußten Verbände als höher. Begreiflicherweise war er bei den konfessio­ nellen Jugendorganisationen am höchsten. Die evangelischen Jugendverbände ver­ fügten im ganzen über etwa 1,5 Millionen Mitglieder, wobei Mädchen deutlich über­ wogen, die katholischen Jugendverbände sind mit 1,3 Millionen Mitgliedern zu ver­ anschlagen. Jungstahlhelm, Bísmarck-Jugend und Scharnhorst-Jugend organisierten etwa 250000 Jugendliche. Die Hitlerjugend dürfte in diesem Zeitraum nicht mehr als 40000 Jugendliche betragen haben 54 . Das sich aus diesen nicht immer zuverlässigen Zahlen ergebende Gesamtbild läßt erkennen, daß der Organisationsgrad von Jugendlichen bei der SPD deutlich rückläu­ fig war. Obwohl gerade die sozialistische Bewegung besonders organisationsfreudig war, zeigt sich eine relativ geringe Einbindung der Jugendlichen in die politischen und gewerkschaftlichen Jugendorganisationen. E s ist einleuchtend, daß anhaltende Ju­ gendarbeitslosigkeit, wie sie mit der Wirtschaftskrise seit 1930 eintrat, unter solchen Bedingungen besonders nachteilige Wirkungen haben mußte, weil die Jugendlichen gar nicht mehr mit den Gewerkschaften in Berührung kamen und allein der Agitation „der Straße“ ausgesetzt waren. Gewiß blieb der Organisationsgrad der Hitlerjugend und des Deutschen Jungvolks, gemessen an verbreiteten Fehleinschätzungen, bis 1933 auf einer vergleichsweise niedrigen Stufe, wozu die hohe Mitgliederfluktuation beitrug. E benso vermochte die kommunistische Jugendbewegung keine übermäßigen Erfolge zu erzielen, obwohl ihr immer wieder bedeutende Führerpersönlichkeiten entsprangen. Dies läßt darauf schließen, daß der größte Teil der jüngeren Generation politisch gesehen orientierungslos war. Dem entspricht die Beobachtung, daß der An­ teil von Wechselwählern seit 1928 deutlich zunahm. Um so wichtiger wäre es gewe­ sen, alle erdenklichen Anstrengungen zu unternehmen, um die politisch heimatlos werdende jüngere Generation für die Republik zu gewinnen. Die geringe organisatorische E rfassung der Jugend durch SPD und Freie Gewerk­ schaften spiegelt das ins 19. Jahrhundert zurückreichende Unverständnis der älteren SPD-Funktionäre für die Bedürfnisse und die Mentalität der arbeitenden Jugend. Unzweifelhaft tendierte sie in ihrer Mehrheit nach links, und Haubach vermutete, daß sie in der Anfangsphase der Republik mehrheitlich hinter der USPD gestanden hat­ te 5 5 . Die Anstrengungen, die Jugendarbeit zu intensivieren und die jugendlichen Par­ teimitglieder an der Parteiarbeit nicht nur in untergeordneter Funktion teilnehmen zu lassen, wurden jedoch durchkreuzt von der Politik des Parteivorstands, durch organi­ satorische und disziplinarische Maßnahmen den E influß der linksstehenden Jugend­ organisationen, vor allem der Jungsozialisten, zu begrenzen und die oppositionelle Jugend auf die Parteilinie zu zwingen. Die Auflösung der Sonderorganisation der Jungsozialisten, die man zuvor durch die Heraufsetzung des Mitgliedsalters der SAJ in ihrem E influß zu beschneiden versucht hatte, wurde mit der starken Affinität der jungsozialistischen Gruppen zum ISK, zu den „Roten Kämpfern“ und später zur SAPD motiviert. E s ist jedoch unzweifelhaft, daß in erster Linie die scharfen jungso­ zialistischen Angriffe gegen die Politik des Parteivorstands zu diçsen Schritten geführt haben. Die zahllosen organisatorischen und personellen Maßregelungen der Parteiju­ gend sind eingehend geschildert worden; sie fanden ihren makabren Schlußakt, als der 359

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Parteivorstand im Berliner Jugendkonflikt den Rest seiner Autorität dazu benützte, um den Übergang der Berliner SAJ in die Illegalität zu unterbinden 56 . Die in den späten 20er Jahren unternommenen Versuche, die Jugendarbeit zu in­ tensivieren, blieben nicht ganz ohne E rfolg. Theodor Haubach konstatierte mit einer gewissen Genugtuung, daß „die altersmäßige Regeneration“ der SPD beträchtliche Fortschritte gemacht habe 57 . Für die Führungsgremien der Partei stellte sich das Ge­ nerationenproblem jedoch nach wie vor unter dem Aspekt der Disziplinierung; ver­ stärkte Bildungsarbeit sollte die Jugend vom Radikalismus, ja von eigenen politischen Initiativen fernhalten. Die Kritik, die E rich Nöltingauf dem Leipziger Parteitag 1931 an den Jungsozialisten übte, daß sie „einer Verwechslung von Politik und soziologi­ scher Lesestunde aus Karl Marx“ erlegen seien und am „Kult des Gestrigen und Vor­ gestrigen“, d. h. an der marxistischen Tradition, gescheitert seien, bewies die völlige Verständnislosigkeit der Parteiführung für die Bedürfnisse und politische E instellung der jüngeren Parteigenossen; sie erinnerte fatal an die E inwände des Parteizentrums gegen eine politische Aktivität der Arbeiterjugend vor 1914 58 . Die Hoffnung der jungen Generation, daß der Leipziger Parteitag eine entgegen­ kommendere Haltung gegenüber den Wünschen der Parteijugend bringen und daß sich E rich Ollenhauer als Sprecher der jungen Generation durchsetzen werde, erfüllte sich jedoch in keiner Weise. Mierendorff berichtete, Ollenhauers perspektiveloses und schulmeisterliches Referat habe „den Vollbart bis zum Knie“ getragen 59 . Auf dem Parteitag, zu dem die jungsozialistcn keine eigene Vertretung erhalten hatten und auf dem selbst ihre früheren Repräsentanten nicht zu Wort kamen, nicht zuletzt wegen der geschickten Regie von Wels, wurde die Jugendfragc, deren Zusammen­ hang mit dem Faschismus-Problem seit den Septemberwahlen unbezweifelbar war, auf ein bloßes Organisationsproblem heruntergespielt, der Jugend politische Mün­ digkeit und Reife abgesprochen und namentlich den Jungsozialisten politisches Ver­ sagen vorgeworfen. Statt sich mit der politischen Kritik der Parteijugend auseinan­ derzusetzen, stellte man, wie zuvor in der Parteipresse, die Dinge so dar, als sei die Jugend, ihrer Anfälligkeit für radikale Ideologien wegen, die eigentlich kritische Stelle der Parteiorganisation, an der sich zersetzende parteiexterne E inflüsse einschlichen und die innere E inheit der Partei bedrohten 60 . Folgerichtig beantwortete man die Selbständigkeitstendenzen der Jungsozialisten mit organisatorischer Disziplinierung und der Auflösung der jungsozialistischen Gruppen. Der Jugend wurde die Fähigkeit zum politischen Urteil abgesprochen. Indirekt machte Ollenhauer das E ingeständnis, die SPD habe die Phase ihrer Jugendlichkeit verlassen und diejenige eines langwieri­ gen Stellungskrieges betreten. Der Leipziger Parteitag hatte die „Absperrungskette, die in Deutschland zwischen den politischen Körperschaften im Staate und der Jugend gezogen ist“ 61 , nicht durch­ brochen, sondern verstärkt. Sowohl die rechte als auch die linke Parteiopposition be­ trachteten den Parteitag als eine politische Katastrophe. Viele der Jüngeren vollzogen nun definitiv den Übertritt zur SAPD, da sie zweifelten, daß sich die Partei mit derar­ tigen Methoden und der von ihr verfolgten Taktik gegen den aufsteigenden Faschis­ mus behaupten werde. Aber auch diejenigen, die der Partei treu blieben, wie Carlo Mierendorff, verlangten nun eine klare Linksschwenkung und die Abdankung des 360

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Parteivorstandes. Denn die Jugendfrage war nicht nur eine Frage der inneren Regene­ rierung der Sozialdemokratie, sondern auch ein Indikator für die Widerstandsfähig­ keit der demokratischen Gruppen gegen die faschistische Bedrohung. Der geringen Anziehungskraft der SPD und der meisten bürgerlichen Parteien auf die Jugend stand eine ungewöhnlich hohe Attraktivität der NSDAP und, in verringer­ tem Maße, der KPD für die nachwachsende Generation gegenüber. Die Ursachen da­ für sind vielfältiger Art. Die klassische Jugendbewegung hatte den Rückzug aus der Politik angestrebt; die Jugend der Weimarer Zeit war in hohem Maße politisch inter­ essiert, lehnte aber gleichzeitig die überlieferten Formen politischer Werbung und den politischen Stil der Republik ab, der ihr manches Mal zu Recht als honoratiorenhaft vorkam. Kennzeichen der mobilisierten Jugend war die stark irrationalistische und emotionale Färbung ihres Denkens; sie sprach eine andere Sprache als die vorausge­ hende Generation. In einem Artikel über den Charakter der deutschen faschistischen Jugend analysierte E mil Henk diesen Tatbestand. Diese Jugend, obwohl sie „leiden­ schaftlich aktiv und politisch elementar“ sei, könne mit rationalen Argumenten nicht gewonnen werden, sondern „nur mit den allein wirksamen Kräften des Glaubens und der Begeisterung für das Bild eines echten und sinnvollen Sozialismus“ 62 . Die Nei­ gung zu Militanz und Radikalismus, die Ablehnung herkömmlicher Organisations­ muster, die Idealisierung des Gemeinschaftsgedankens und der Wille zu Aktion und Veränderung war für die jüngere Generation insgesamt charakteristisch; diese Züge finden sich in allen politischen Lagern. Die sozialpsychologischen Ursachen dieser Erscheinung, die auf Jugenderlebnis und Lebensphilosophic zurückwies, können hier nicht im einzelnen erörtert werden; sie muß aber vor allem als Reaktion auf die moderne industrielle Gesellschaft mit ihren nivellierenden und kollektivierenden Tendenzen gewertet werden; sie enthielt eine fundamentale Zivilisationskritik, die auch sozialistische E lemente einbezog. Die E nergien dieser Jugend, ihr unbezwcifel­ barer, aber realitätsferner Idealismus mußten nicht notwendig das Potential der fa­ schistischen und antirepublikanischen Kräfte stärken. Indessen überließ die Republik diese Jugend weitgehend sich selbst. Sie war eine Republik der Älteren, und sie orientierte sich, paradoxerweise, immer wieder an den Bedingungen der Vorkriegszeit, die zum Maßstab des wirtschaftlich und außenpoli­ tisch E rreichbaren gemacht wurden 6 3 . Nirgendwo zeigte sich dies so deutlich wie bei der Sozialdemokratie. Ihre Funktionäre hielten an der in der Vorkriegszeit üblichen Taktik und Agitation fest und betonten die Kontinuität der Parteitradition. Die nachwachsende Generation ging von anderen E rfahrungsmaßstäben aus. Sie teilte nicht das Vollgefühl der Älteren über die Errungenschaften der Sozialdemokratie seit der Aufhebung des Sozialistengesetzes, die die unbefriedigenden Resultate der sozial­ demokratischen Politik in Weimar in ein milderes Licht rückten. Die nachwachsende Jugend erlebte nicht den Erfolg, sondern die Niederlage des Novemberumsturzes. Sie lehnte es ab, die Politik der Partei nur an den Maßstäben der Vergangenheit zu messen und nicht an ihren allzu verschwommenen Zukunftszielen. Sie begriff die kleinbür­ gerlichen und altväterlichen Tugendkataloge der Parteioberen nicht, die sie zwar zu eifriger Organisationstätigkeit anhielten, ihr aber die Teilnahme an der politischen Verantwortung vielfach verweigerten. 361

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Der Generationskonflikt, von dem in Weimar so viel die Rede war, beruhte auf den gegensätzlichen E rfahrungen und Werthorizonten zwischen der noch von der Wil­ helminischen Ära und dem E rsten Weltkrieg geprägten Generation und den Jünge­ ren, die ihre ersten politischen E rfahrungen im Grau des Nachkriegsalltags machten. Er wurde verschärft dadurch, daß die Novemberrevolution die gesellschaftlichen und politischen Wertvorstellungen der Wilhelminischen Ära nicht zerschlagen hatte und die Republik weitgehend an die ökonomische und bürokratische Struktur der Vor­ kriegszeit anknüpfte, während sich gleichzeitig ein grundlegender gesellschaftlicher Wandel vollzog: diese Antagonismen schlugen sich auch in der Protesthaltung der Ju­ gend nieder. NSDAP und KPD waren erfolgreich bemüht, sie ihren Zwecken nutzbar zu machen. Beide Parteien waren geschichtlich jünger als die konkurrierenden bür­ gerlichen und sozialistischen Parteien; ihre Altersstruktur entsprach ungefähr derje­ nigen der SPD von 1890. Zahlreiche führende Funktionäre der KPD kamen aus der Arbeiterjugendbewegung vor dem E rsten Weltkrieg; zudem profitierte die KPD in hohem Maße von der politischen Desorientierung der arbeitslosen Jugend in der Weltwirtschaftskrise, die keine Berufstätigkeit ausüben konnte. Militanz und radikale Oppositionshaltung der KPD entsprachen ihrer eigenen E instellung. Kehrseite war die auch unter der jugendlichen Mitgliedschaft extrem hohe Mitgliederfluktuation, die nicht zuletzt auf die relative Unbeweglichkeit und Bürokratisierung des Apparats zurückgehen dürfte. Nicht anders bemühte sich die NSDAP mit E rfolg, den in der Weimarer Republik vorhandenen und keineswegs auf die politische Rechte beschränkten Kultus der Ju­ gendlichkeit auf die eigenen Mühlen zu leiten. Sie verstand es, die zivilisationskriti­ schen Ressentiments und das Gemeinschaftssyndrom propagandistisch auszubeuten und sich als die Partei der Jugend darzustellen. Der Neokonservatismus hatte ihr darin vorgearbeitet. Für die Sozialdemokratie stellte sich die Frage, mit welchen Mit­ teln dieser E ntwicklung zu begegnen sei. Theodor Haubach empfahl eine stärkere Anpassung an das politische Empfinden der Jugend und eine stärkere Betonung äuße­ rer Formen: „Unsere Bewegung muß begreifen lernen, daß Zeremonie, Befehl und straffe Führung keineswegs undemokratisch sind und ganz gewiß nicht unsoziali­ stisch.“ 64 Mierendorff propagierte die entschiedenere Anwendung politischer Sym­ bole und gezielter propagandistischer Techniken. Die Agitation der E isernen Front und die Wirksamkeit des Dreipfeilsymbols bewiesen, daß damit E rfolge erzielt wer­ den konnten; problematisch war daran, daß dies mehr oder weniger auf eine Kopie fa­ schistischer Stilmittel hinauslief. Jedoch hat es an E infallsreichtum und an Bemühungen, der sozialdemokratischen Werbung ein neues Gesicht zu geben, nicht gefehlt, und die äußere Gestaltung von Plakaten und Werbebroschüren zeigt, daß die künstlerische und stilistische E ntwick­ lung von der Partei, jedenfalls in dieser Beziehung, nicht vernachlässigt worden ist. Aber das eigentliche Problem lag tiefer. Jene die Ebene politischer Rationalität über­ steigende Ausstrahlungskraft, die die Sozialdemokratie im 19. Jahrhundert gehabt hatte, war in der Weimarer Zeit weitgehend verlorengegangen. Paul Levi wies schon 1924 auf diesen Tatbestand hin und betonte, daß die ausschließlich rationale Form der Agitation, der realistische Pragmatismus der Führung und ihr dem Liberalismus ver362

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wandter Glaube an die rationale Lösbarkeit politisch-sozialer Konflikte im letzten keinen E rfolg verbürgte. Neben der „scharfen logischen Waffe“ der marxschen Theo­ rie habe bei Marx und E ngels wie bei der klassischen Sozialdemokratie das Moment des E schatologischen und der elementaren moralischen E mpörung entscheidendes Gewicht besessen. Dieses rationale Kategorien übersteigende E thos sei die Triebkraft aller „großen geschichtlichen Bewegung“, es sei „die Kraft, die die sozialdemokrati­ sche Bewegung groß gemacht hat, die Tausende zu Tausenden gesammelt hat, die selbst noch wirksam ist in der Karikatur, in der der heutige Kommunismus sie dar­ stellt“. Die Bewegung der politischen Gebilde bewege sich eben nicht rein verstan­ desmäßig: „Vielleicht werden E rfahrungen uns noch zeigen“, fügte er prophetisch hinzu, „daß es ein Höheres gibt, als nur klug zu sein“ 65 . Die Selbstkritik Levis hat E rnst Bloch in einer 1935 verfaßten Studie über die Nie­ derlage der Arbeiterbewegung gegenüber dem Faschismus aufgegriffen und in die einprägsamen Worte gekleidet: „Nazi sprechen betrügend, aber von Menschen- die Kommunisten völlig wahr, aber von Sachen.“ 66 Diese Formulierung trifft mutatis mutandis ebenso auf die Mentalität der Sozialdemokratie zu. Bloch führte den Durchbruch des Faschismus auf die erfolgreiche Mobilisierung traditionaler Bewußt­ seinsformen zurück und deutete ihn als die „E rscheinungsform der Ungleichzeitig­ keit“ sozialer Interessenlagen. In der Tat ist die Massenwirksamkeit des Faschismus als Mobilisierung überlieferter und unaufgeklärter Ressentiments und Statusängstc gegen die volle Durchsetzung der Industriegesellschaft und gegen deren nivellierende und rationalisierende Wirkungen zu begreifen. Der Jugendprotest, ob er die Klas­ sen- oder die Volksgemeinschaft forderte, fügt sich in dieses Bild durchaus ein. Die prinzipiell modernitätsfeindliche faschistische Bewegung, die sich gleichwohl im Be­ reich der politischen Werbung der modernsten technischen Instrumente bediente, war der parasitäre Nutznießer der sozialen Umschichtung, die sich seit der Jahrhun­ dertwende vor allem in den bürgerlichen Gruppen vollzog. Die Arbeiterbewegung, an der industriellen Wirklichkeit orientiert, unterschätzte die Bedeutung der residua­ len Sektoren und rückständiger Mentalitäten; als, um eine Formulierung Blochs auf­ zugreifen, „Kehrseite des gewordenen Liberalismus“ 67 stand sie dem E inbruch des politischen Irrationalismus hilflos gegenüber. Das galt insbesondere für die reformi­ stische Politik der SPD, die im tagespolitischen Detail aufging. Es wäre jedoch verfehlt, von einer radikaleren, revolutionären Propaganda gegen­ über dem reformistischen Kurs der Partei nachträglich einen grundlegend anderen Verlauf der Dinge abzuleiten. Das Beispiel der österreichischen Sozialisten, die nicht unter dem Druck einer starken kommunistischen Partei standen und im Gegensatz zur deutschen Partei klar nach links tendierten, lehrt, daß eine stärker klassenkämpfe­ rische Linie keineswegs aus dem Dilemma der konsumtiven Schwäche des Sozialis­ mus gegenüber der nationalistischen und faschistischen Offensive herausführte. Mangelnde Flexibilität und bürokratische E rstarrung findet sich in der gleichen Pe­ riode in nicht geringerem Maße bei der KPD, deren der Kominternstrategie unterge­ ordneter Apparat die einfachen Mitglieder ständig mit wirklichkeitsfremden Be­ schlüssen überforderte. Auch in anderen europäischen Ländern sah sich die Arbeiter­ bewegung in die Defensive gedrängt; sie vermochte die Krise des demokratischen Par363

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lamentarismus zwar partiell aufzuhalten, aber nicht strukturell zu überwinden. Die tiefere Ursache der Krise der Arbeiterbewegung ist in dem Verlust ihres ursprüngli­ chen Bewegunscharakters zu erblicken, der mit den grundlegenden Veränderungen der sozialen Struktur seit der E poche des Imperialismus zusammenhängt. Die Sozial­ demokratie der Weimarer Zeit verfügte über ein imponierendes Netz verschiedenar­ tigster Organisationen, die alle Bereiche des gesellschaftlichen und politischen Lebens umfaßten. Die vielseitige Tätigkeit der Partei und ihrer amtlichen und ehrenamtlichen Funktionäre verdichtete sich nicht zu einer geschlossenen politischen Kraft; die Dy­ namik verflüchtigte sich, und die organisatorischen Reibungsverluste wuchsen über alle Grenzen. Was die Oppositionellen von rechts und links trotz allen ideologischen Differenzen einte, war das Bestreben, die Partei wieder zur politischen Aktion zu führen und ihren ursprünglichen Bewegungscharakter zu erneuern. Während sich der Parteivorstand politisch einigelte und die unüberhörbare Kritik an der Passivität der Partei mundtot zu machen versuchte, verließen zahlreiche oppositionell eingestellte Sozialdemokra­ ten die Partei, in der sie eine produktive politische Tätigkeit für nicht länger möglich hielten. Der Parteivorstand unterstützte diese Tendenz durch zahlreiche Ausschluß­ verfahren gegen Vertreter des linken Flügels und provozierte die Gründung der SAPD. Für die E ndphase der Republik ist es charakteristisch, daß fast alle aktiven Elemente der deutschen Arbeiterbewegung SPD oder KPD verlassen hatten und sich in den Splittergruppen rund um die großen Parteiapparate zusammenfanden: in der KPO, dem ISK, den „Roten Kämpfern“, der SAPD und einer Anzahl kleinerer Ver­ bände, von denen einige in der SAPD aufgingen 68 . E ntschiedene Reformsozialisten, wie Carlo Mierendorff, Theodor Haubach und Julius Leber, verharrten in innerer Opposition. Nicht zufällig fanden diese Oppositionsgruppen stärksten Zulauf von den sozialistischen Jugendverbänden, insbesondere den Jungsozialistcn. Trotz der bald aufbrechenden Fraktionskämpfe, die die politischen E nergien der SAPD rasch aufzehrten, stimmten sie in der Zielsetzung überein, die AnnaSiemsen auf die Formel einer „Auflockerung und Sprengung der starren und aktionsunfähig gewordenen großen Parteien“ brachte 69 . Organisatorisch hatten diese Regenerationsversuche keine Chance; ihre historische Bedeutung liegt jedoch darin, die geistigen Grundlagen des konspirativen Widerstands gegen das nationalsozialistische Regime gelegt zu ha­ ben. Dazu gehörte auch die Überwindung des hinter der sozialistischen Tatlähmung stehenden Glaubens an eine automatische Durchsetzung des Sozialismus. In der Bro­ schüre „Neu beginnen!“ zog Walter Löwenheim, indem er sowohl mit dem alten SPD-Vorstand als auch der KPD abrechnete, das Fazit aus der seit Jahren auf den Par­ teiflügeln geführten Grundsatzdiskussion: die sozialistische Revolution und die so­ zialistische Gestaltung seien keine „geschichtliche Zwangsläufigkeit“, in ihnen liege eine „große geschichtliche Chance“, die in die Hand der Menschheit gegeben sei 70 . Damit postulierte Löwenheim die Rückkehr zur autonomen Verantwortlichkeit des Individuums und die Freisetzung des sozialistischen Wollens gegenüber deterministi­ scher Gebundenheit. Unter den Bedingungen von 1931/32 waren diese Bestrebungen zur Reaktivierung der sozialistischen Bewegung dazu verurteilt, Diagnose, noch nicht Heilung zu sein. 364

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Die Warnung, es gelte die Machteroberung durch den Faschismus um jeden Preis zu verhindern, da dessen Herrschaft nicht Episode bleiben, sondern in einer langfristigen Knebelung der Arbeiterbewegung bestehen werde, verhallte weitgehend. Die SPD fand nicht zur Offensive gegen die präsidiale Aushöhlung der Verfassung zurück, die KPD vernebelte ihre Machtlosigkeit mit der Kampagne gegen den angeblichen Sozial­ faschismus der SPD. E ingebunden in das dahinsiechende parlamentarische System, fehlte der SPD der Bewegungsraum, um den Bestrebungen nach innerer E rneuerung, Verjüngung und Demokratisierung des Apparats E ntfaltung zu gewähren und damit das demokratische Bewußtsein bei den breiten Massen tiefer zu verwurzeln. Dies hätte sie freilich in die Rolle einer konsequenten Oppositionspartei verwiesen; ange­ sichts der inneren Schwäche des demokratischen Systems von Weimar wäre dadurch den Gegnern der Republik der Zugang zur Macht und deren Handhabung erleichtert worden. Indem die SPD bis in die Phase der Tolerierungspolitik hinein die relative Stabilisierung des parlamentarischen Systems ermöglichte, band sie sich zugleich an dessen Niedergang. Gerade das Festhalten an der überkommenen Tradition und ih­ rem geschichtlichen Selbstverständnis setzte die Partei instand, die große Mehrheit ihrer Anhängerschaft gegen die irrationalen Zeitströmungen und die faschistischen Tendenzen zu immunisieren; dieses aber geschah um den Preis relativer politischer Inflexibilität und Isolierung. Ohne diese unter den Bedingungen ökonomischer Sta­ gnation und massiven Drucks der Unternehmer auf die Gewerkschaften wenig aus­ sichtsreiche Linie der Partei wäre die Republik sicherlich schon in der zweiten Hälfte der 20er Jahre gescheitert. Trotz der immanenten Schwächen der sozialdemokratischen Politik in der Weima­ rer Zeit, die in vieler Hinsicht die Nachwirkung ihrer Außenseiterrolle im Bismarck­ schen und Wilhelminischen Reich gewesen sind, hat die SPD wichtige Schritte auf dem Weg zur Umwandlung in eine demokratische Volkspartei bereits damals vollzo­ gen. Die historischen Umstände, zugleich die zu kurze Zeitspanne bis zur Wirt­ schaftskrise, haben verhindert, daß diese Tendenz sich voll durchsetzen konnte. Die Doppelfunktion, die von der SPD mitbegründete parlamentarische Demokratie ge­ gen den früh anwachsenden Druck der politischen Rechten zu sichern und gleichzei­ tig die soziale Lage der arbeitenden Schichten zu verbessern, mußte ihre Kräfte über­ fordern. Man kann eine Reihe von taktischen Fehlern in koalitionspolitischen Fragen hervorheben, muß aber andererseits betonen, daß die SPD bereit war, unpopuläre Entscheidungen, die sie aus dem Gefühl der Verantwortung gegenüber der Nation für unausweichlich hielt, auch wenn sie ihren Wählerrückhalt bedrohten, mit zu tragen. Die Schuld für die Aushöhlung der verfassungsmäßigen Ordnung seit dem Sturz des Kabinetts der großen Koalition im März 1930 liegt bei den bürgerlich-konservativen Gruppen, die die Politik der Präsidialkabinette inauguriert und durchgeführt haben. Die von ihnen mitverantwortete politische Ausschaltung der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung führte folgerichtig zum Sieg Hitlers.

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16. Die deutschen Gewerkschaften zwischen Anpassung und Widerstand 1930 - 1944 „Wir sind gefangen in einem großen Zuchthaus. Zu rebellieren wäre genauso Selbstmord, als wenn Gefangene sich gegen ihre schwerbewaffneten Aufseher erhe­ ben würden“, schrieb Wilhelm Leuschner am 20. August 1939 einem Freunde im Ausland 1 . Hinter dieser knappen Charakterisierung der inneren Situation im Dritten Reich stand Leuschners Überzeugung, daß es unmöglich sei, das nationalsozialisti­ sche Gewaltregime durch Massenkämpfe des Proletariats zu stürzen. Gleichwohl war der frühere hessische Innenminister und stellvertretende Vorsitzende des ADGB nicht bereit zu resignieren oder sich durch die E migration den befürchteten Verfol­ gungen zu entziehen. Im Juni 1933 kehrte er von der Internationalen Arbeitskonfe­ renz in Genf, auf der er entgegen den Wünschen Robert Leys an dem ihm zustehen­ den Vertretungsmandat festgehalten hatte, nach Deutschland zurück. E r hoffte, je­ denfalls zunächst der Verhaftung durch die Staatspolizei zu entgehen, stellte sich aber selbst, um die Inhaftierung eines Dritten zu verhindern, den man fälschlich für ihn ge­ halten hatte. Nach wechselndem Gefangenenschicksal wurde er in das berüchtigte Lager Börgermoor, anschließend in das Konzentrationslager Lichtenberg verbracht und erst am 10. Juni 1934, wohl auf eine Intervention Görings hin 2 , entlassen. Trotz der bis 1940 fortbestehenden polizeilichen Meldepflicht und ständiger Überwachung durch die Gestapo zögerte Leuschner nicht, konspirative Verbindungen zu knüpfen und sich aktiv am Aufbau einer breit verzweigten Widerstandsorganisation zu beteili­ gen. Für Wilhelm Leuschner stellte sich das Problem der Reaktivierung der Kräfte der Arbeiterbewegung in besonderer Weise. Als hessischer Innenminister hatte er sich im Kampf gegen die NSDAP besonders exponiert. Die Veröffentlichung der Boxheimer Dokumente machten ihn zur Zielscheibe einer systematischen nationalsozialistischen Hetzkampagne. Seine Mitarbeiter, Carlo Mierendorff und Theodor Haubach, hatten sich erfolgreich bemüht, die kraftlos gewordene sozialdemokratische Agitationstech­ nik durch neue propagandistische Methoden zu reformieren. In den Wahlkämpfen gegen die NSDAP konnten sie bemerkenswerte Teilerfolge ihrer offensiven Taktik verbuchen. Leuschner nahm daran lebhaften Anteil. Gleichzeitig suchte er die Reichsregierung für energische Maßnahmen gegen NSDAP und SA zu gewinnen; er kämpfte auf verlorenem Posten. Nur halbherzig stimmte Brüning dem von Groener und den Innenministern der Länder geforderten Verbot der SA zu, das zur verhäng­ nisvollen Schwenkung Schleichers gegen Brüning und zu Papens Politik der Vorlei­ stungen gegenüber Hitler Anlaß geben sollte, weil es zu spät kam und eine politische Beruhigung nicht mehr bringen konnte. An Leuschners kompromißloser Gegnerschaft zur NSDAP war nicht der geringste Zweifel. Mit Skepsis betrachtete er die mit Durchhalteparolen verdeckte Passivität des 366

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Parteivorstands der SPD und der Führung des ADGB. E r hätte einem Generalstreik gegen die von Papen am 20. Juli 1932 vollzogene Gleichschaltung Preußens gewisse Chancen gegeben. In den Kreisen des Reichsbanners und der E isernen Front, insbe­ sondere unter den jüngeren Sozialdemokraten, hatte es nicht an E ntschlossenheit ge­ mangelt, sich dem Staatsstreich Papens gewaltsam zu widersetzen. Hingegen waren weder Otto Braun und Carl Severing noch der SPD-Vorstand und die ADGB-Füh­ rung bereit, die Verantwortung für eine Erhebung der organisierten Arbeiterschaft zu übernehmen, die den offenen Bürgerkrieg bedeutete. E s ist schwer, eine eindeutige Antwort auf die Frage zu finden, ob die sozialistische Arbeiterbewegung nicht besser daran getan hatte, sich ihrer schrittweisen Ausschaltung durch einen offenen Ab­ wehrkampf zu widersetzen. Denn es kann kein Zweifel daran bestehen, daß ein sol­ cher E ntschluß der Machteroberungsstrategie der NSDAP direkt in die Hände ge­ spielt haben würde. Bekanntlich befanden sich die SA-E inheiten am 20. Juli unter Alarmzustand, und sie drängten darauf loszuschlagen, sobald eine Erhebung der Ar­ beiterklasse ihnen den Vorwand zur E rrichtung der Diktatur unter der Parole einer Abwehr des „Marxismus“ geboten hätte. Angesichts der im Bürgertum weit verbrei­ teten und von der Rechtspresse planmäßig geschürten Ressentiments gegen KPD und SPD hätte sich Hitler in der Tat als Retter der rechtmäßigen Regierung aufspielen und damit die politische Isolierung überwinden können, die im Herbst 1932 den Bestand seiner Partei zu bedrohen schien. Daß eine solche E ntwicklung von einer rücksichts­ losen Zerschlagung der Organisationen der Arbeiterschaft und gewaltsamen Repres­ salien gegen ihre Mitglieder begleitet gewesen wäre, liegt auf der Hand. Diese Diagnose rechtfertigt freilich die schwächliche Anpassungspolitik nicht, die SPD und ADGB in den folgenden Monaten trieben, während sie gleichzeitig die Mas­ sen auf künftige Aktionen vertrösteten und den Ausbau der Organisationen und Wahrung der Disziplin predigten. Die Hoffnung, bei Neuwahlen die Stellung der Ar­ beiterbewegung festigen zu können, stellte nicht viel mehr als eine verlegene Selbst­ suggestion der führenden Funktionäre dar. Der 20. Juli 1932 brachte eine entschei­ dende und folgenschwere Niederlage der sozialistischen Arbeiterbewegung. Die Konsequenzen traten freilich erst allmählich in das Bewußtsein der Führungsgruppen der Arbeiterbewegung. Seit E nde 1932 war Wilhelm Leuschner an den Bestrebungen des ADGB beteiligt, sich diesen Konsequenzen durch eine Anlehnung der Freien Gewerkschaften an das präsidiale Notverordnungsregime zu entziehen. Nach dem 20. Juli 1932 zog Theodor Leipart ein Arrangement mitv. Schleicherund v. Papen in Erwägung, das einerseits die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen des Kabinetts intensi­ vieren, andererseits die Stellung der Gewerkschaften sichern sollte. Dabei ging man immerhin so weit, den Gedanken eines Umbaus der Gewerkschaften im Sinne der von Papen propagierten berufsständischen Verfassung zu erörtern und einen verstärkten staatlichen E influß auf die Gewerkschaften zuzulassen. Unter der Führung Theodor Leiparts strebten maßgebende E xponenten in der Führung des ADGB E nde 1932 einen Ausgleich mit dem Kabinett v. Schleicher selbst um den Preis an, die traditionelle Zusammenarbeit mit der SPD aufzukündigen und zu einem streng überparteilichen Zusammenschluß der bisherigen Richtungsgewerk­ schaften zu gelangen. V. Schleichers Plan, das politische System durch die Schaffung 367

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einer „Gewerkschaftsachse“ unter Einbeziehung des Strasser-Flügels der NSDAP zu stabilisieren, stellte eine verzweifelte Aushilfe dar, nachdem alle Bemühungen, die NSDAP in untergeordneter Stellung in ein Präsidialkabinett einzubeziehen, an der Starrheit Hitlers gescheitert waren, der die Kanzlerschaft und den Gebrauch des Arti­ kels 48 für sich forderte. Abgesehen vom sich versteifenden Druck der Industrie scheiterte v. Schleichers Vorhaben schon daran, daß Gregor Strasser nicht die Kraft aufbrachte, den Bruch mit Hitler zu vollziehen. E s kam hinzu, daß das Mißtrauen der übrigen Partner gegen v. Schleicher unüberwindlich war und der sich steigernde Zeit­ druck die notwendigen langwierigen Verhandlungen unterband. Die von v. Schleicher vollzogene grundsätzliche Abwendung vom System des „Parteienstaates“ und die von ihm beabsichtigte, auf die großen Verbände abgestützte semi-autoritäre Umbildung des Weimarer Verfassungssystems entsprachen einem verbreiteten politischen Bedürfnis, so unklar die Zielvorstellungen im einzelnen auch waren. Die Haltung der ADGB in dieser Frage war uneinheitlich. Aber es ist kein Zweifel, daß es in den Freien Gewerkschaften starke Tendenzen gab, sich an einer derartigen E ntwicklung zu beteiligen, selbst wenn dies zum Bruch mit der SPD füh­ ren würde. Schon im Oktober 1932 hatte Leipart auf Angriffe von seiten des SPD­ Vorstandes und der innergewerkschaftlichen Opposition entgegnet, daß der ADGB „zu sehr auf das Ganze gerichtet“ sei, „um Partcifesseln zu tragen“ 3 . Mit gewisser Folgerichtigkeit bekannte sich Leipart zu der Auffassung, daß die Gewerkschaften die Arbeiterintcressen jeder Regierung gegenüber vertreten müßten und auf parteipoliti­ sche Konstellationen dabei keine Rücksicht nehmen dürften. Es mag nachträglich überraschen, daß Wilhelm Leuschncr die bis Anfang Mai 1933 verfolgte Politik der Anpassung der Freien Gewerkschaften an die veränderten Kräf­ teverhältnisse jedenfalls nicht nach außen hin bekämpft hat. Zweifellos war sich Leu­ schner der Folgenschwere der E ntscheidung bewußt, die Gewerkschaften, wenn­ gleich in veränderter organisatorischer Form, in das entstehende nationalsozialisti­ sche Regime zu überführen. Wenn die Überlieferung zutrifft, hat er im Februar 1933 Vorschläge v. Schleichers, die auf die Schaffung einer auf die Gewerkschaften ge­ stützten Militärdiktatur hinausliefen, mit dem Bedenken verworfen, daß der Arbei­ terschaft die Verantwortung für die Machtkämpfe zwischen den konservativen und den nationalsozialistischen Führungseliten nicht aufgebürdet werden dürfe 4 . Leu­ schner hielt es vielmehr für geboten, die allerdings äußerst geringen Chancen auszu­ nützen, den organisatorischen Fortbestand der Gewerkschaftsapparate durch Kon­ zessionen an das neue Regime zu gewährleisten, zumal zunächst allgemein die Auffas­ sung überwog, daß sich Hitler nach wenigen Monaten politisch abnützen und dann eine offene politische Sitauation eintreten werde, in der die Gewerkschaften ihr machtpolitisches Gewicht würden einsetzen können. Noch am 14. April 1933 ver­ handelte Leuschner daher zusammen mit Leipart und anderen Repräsentanten des ADGB mit führenden NSBO-Funktionären über die Zukunft der Gewerkschaften. „An Ihrem Vorschlag“, hatte Leuschner den Vertretern der NSBO geantwortet, „in­ teressiert uns die Einheitsgewerkschaft und Ihre Erklärung, die Gewerkschaften nicht zerschlagen zu wollen“ 5 . Zu diesem Zeitpunkt war Leuschner noch bereit, den Ge­ danken einer staatlich sanktionierenden E inheitsgewerkschaft zu prüfen, allerdings 368

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unter der Bedingung, daß die sich häufenden Übergriffe gegen freie und christliche Gewerkschafter und die Besetzung von Gewerkschaftshäusern wie die Beschla­ gnahme von Gewerkschaftseigentum sofort unterbunden würden. Es ist unmöglich, diese Politik der Illusionen über die wahren Absichten der Natio­ nalsozialisten nachträglich zu rechtfertigen. Sie war erleichtert durch die Tatsache, daß die nationalsozialistische Politik in der Gewerkschaftsfrage bis Ende März 1933, bis zur Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes, noch offen gehalten worden war. Hitler und die nationalsozialistische Führungsgruppe rechneten mit Aufstandsversu­ chen der sozialistischen Parteien, und sie waren eher beunruhigt, als massive Wider­ standsaktionen ausblieben. Der Reichstagsbrand, den die NS-Führung im ersten Moment als kommunistischen Aufstandsversuch auffaßte, zeigte die Schwäche so­ wohl der KPD wie der demokratischen Sozialisten. Gleichwohl war Hitler daran in­ teressiert, die spontan einsetzenden Unterdrückungsmaßnahmen gegen die organi­ sierte Arbeiterschaft zunächst in Grenzen zu halten, um die pseudolegale Absiche­ rung des Regimes durch das Ermächtigungsgesetz nicht unnötig zu gefährden. Daher ergingen wiederholt Anweisungen, E ingriffe in die gesetzlich gewährleistete Tätigkeit der Gewerkschaften zu unterbinden. Auf gewerkschaftlicher Seite gab man sich eine Zeit lang der Illusion hin, Hitler werde einen Staatskommissar für das Gewerk­ schaftswesen einsetzen, und es wurden dafür verschiedene Namen, darunter Graf Re­ ventlow, genannt 6 . Offensichtlich teilten maßgebende Gewerkschaftsführer, von de­ nen sich jakob Kaiser, Bernhard Otte und Adam Stegerwald für die christlichen Ge­ werkschaften, Wilhelm Leusehner, Theodor Leipart und Peter Graßmann für den ADGB und Anton E rkelenz, Max Habermann und E rnst Lemmcr für die liberal-na­ tionale Richtung im April 1933 zu einem gewerkschaftlichen „Führerkreis“ zusam­ menschlossen 7 , die Illusionen linksstehender Funktionäre der NSBO, die an eine re­ lative E igenständigkeit der Gewerkschaften als Interessenvertretung der Arbeiter­ schaft im nationalsozialistischen Regime glaubten. Goebbels betrachtete dagegen die Eroberung der Gewerkschaftsapparate überwiegend als Machtfrage. Robert Ley und Reinhard Muchow bereiteten seit Mitte April den Coup vor, der am 2. Mai, einen Tag nach dem Spektakel des „Tages der nationalen Arbeit“, in Szene gesetzt wurde und mit der Zerschlagung der Freien Gewerkschaften und der Verhaftung ihrer Führer endete. In Rücksicht auf die laufenden Konkordatsverhandlungen besaßen die christ­ lichen Gewerkschaften noch eine geringe Schonfrist, bis sie gleichfalls der nationalso­ zialistischen Gleichschaltung zum Opfer fielen. Die Führung des ADGB erwies sich als Opfer der überlegenen nationalsozialisti­ schen Manipulationstechnik. E s ist allzu leicht, ihre Haltung pauschal zu verurteilen, wie das wiederholt im Zeichen einer wenig weiterführenden Kritik am gewerkschaft­ lichen Reformismus geschehen ist 8 . Zunächst muß die politische Konstellation be­ rücksichtigt werden, in der nahezu jeder Schritt negative Folgen nach sich gezogen hätte. Gewiß war die Taktik Leiparts, sich an die Ideologie der „nationalen E rhe­ bung“ anzupassen, die gewerkschaftliche Presse auf eine unverhüllt faschistoide Dik­ tion umzustellen und die neue Regierung in beschwörenden E ingaben der Loyalität der national bewährten Gewerkschaften zu versichern, eher kläglich und in keiner Weise geeignet, sich den Respekt der nationalsozialistischen Führungsclique zu ver369 24

Mümmsen, Arbeiterbewegung

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schaffen. Selbst Otto Wels, der vergeblich gehofft hatte, den Bestand der SPD vor dem Zugriff der neuen Machthaber durch eine nach außen hin loyale und entschieden legalistische Taktik zu bewahren, versuchte Leipart klarzumachen, daß die von die­ sem befürwortete Teilnahme der Freien Gewerkschaften am nationalsozialistischen Tag der Arbeit deren Selbstpreisgabe darstellen würde. Hatte demgegenüber Siegfried Aufhäuser recht, der die Selbstauflösung der Gewerkschaften verlangte? Sie hätte eine reinliche Lösung dargestellt, wäre aber den Nationalsozialisten entgegengekommen, die die Gleichschaltung der Organisationen dann nur umso leichter hätten betreiben können. Für die Mehrheit der gewerkschaftlichen Führer war dieser Gedanke absurd, weil sie sich ein politisches System schlechthin nicht ohne Gewerkschaften vorstellen konnten und weil sie an die gegenüber den Mitgliedern eingegangenen erheblichen fi­ nanziellen Verbindlichkeiten dachten, die man nicht einfach preisgeben durfte. Zu­ dem überschätzten sie noch immer die organisatorische Macht der Gewerkschafts­ verbände, zumal angesichts des Zurücktretcns der richtungspolitischen Differenzen in der angestrebten E inheitsgewerkschaft. Paradoxerweise verstärkte sich diese Fehl­ einschätzung in der Phase der Präsidialkabinette, in der die Gewerkschaften unter dem Druck der Krise und der Massenarbeitslosigkeit die Initiative an die Unterneh­ merschaft hatten abgeben müssen. Fritz Tarnow konnte von den Gewerkschaften als Trägern des Staates sprechen. Leipart verhieß die Überwindung des gewerkschaftli­ chen Richtungsstreites zugunsten eines parteipolitisch neutralen, „gesellschaftlichen und politischen Machtblocks“, der sich in den Dienst von Staat und Nation zu stellen bereit sei 9 . Dem entsprach die E rklärung des Bundesvorstandes des ADGB vom 21. März 1933: „Die sozialen Aufgaben der Gewerkschaften müssen erfüllt werden, gleichviel welcher Art das Staatsregime ist“ 1 0 . Daß es sich bei diesem Wandel um die Anpassung an einen breiten ideologischen Trend handelte, der im Mythos der „nationalen E rhebung“ gipfelte und von der Fik­ tion eines tatsächlichen sozialen und politischen „Neuanfangs“ begleitet war, ist un­ bestritten. Nicht nur die christlichen Gewerkschaften und die früh zur Rechten ten­ dierenden nationalen Angestelltenverbände, sondern auch die Freien Gewerkschaften waren nicht länger immun gegen das Gemisch neokonservativ-nationalistischer und faschistischer Ideologien, das sich gegenüber der republikanischen und demokra­ tisch-parlamentarischen Gesinnung seit dem E nde der 20er Jahre in Deutschland durchzusetzen begann. Der Antikommunismus, der in den Freien Gewerkschaften seit dem Anfang der 20er Jahre allzu leichtfertig zum Instrument der Isolierung poli­ tisch unerwünschter radikaler Gruppierungen benützt worden war, bildete den Kata­ lysator für derartige ideologische Anpassungstrends, die vor der Analyse der sozialö­ konomischen Machtverhältnisse zurückscheuend, vom Slogan gewerkschaftlicher Einheit und der Abkehr vom Prinzip der Klassengewerkschaft eine grundlegende Veränderung der politischen Gesamtlage erhofften. Die Furcht, erneut in eine natio­ nale „Abseitsstellung“ geraten zu können, überlagerte die doch immer wieder durch­ brechende E insicht, daß ein modus vivendi mit dem Nationalsozialismus nur auf Ko­ sten der Arbeiterschaft erreichbar sein werde. Die Aussichtslosigkeit der politischen Situation im März und April 1933 bildet den unerläßlichen Hintergrund für das Auftauchen von im Grunde überholten ideologi370

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schen Reminiszenzen, denen überwiegend die Funktion zukam, die Passivität und die Perspektivlosigkeit der gewerkschaftlichen Apparate in der Spätphase der Weimarer Republik und den Anfängen des Dritten Reiches zu legimitieren. Das galt in besonde­ rer Weise für den Rückgriff auf das gewerkschaftliche Selbstverständnis im E rsten Weltkriege, das im einzelnen Fall sogar zur Parallelisierung der sozialen Revolution von 1918 mit der nationalen Revolution von 1933 führen konnte 12 . In den Verhand­ lungen mit Schleicher lebten E rinnerungen an das kriegswirtschaftliche System und das Zusammenspiel von Gewerkschaften und Regierung wieder auf. Nicht zufällig hob Leipart die nationale Zuverlässigkeit der Gewerkschaften „in Krieg und Frieden“ hervor und spielte in seinen E rwägungen die Burgfriedenspolitik eine gewisse Rolle. Indem die Wirtschaftskrise als nationaler Nostand begriffen wurde, erschienen die Gewerkschaften gleichsam als ordnungsstiftende politische Kraft, auf die gerade in kritischen Situationen nicht verzichtet werden könne. Vorstellungen dieser Art spiegelten die Isolierung der gewerkschaftlichen Spitzen­ gremien von der Masse der Anhängerschaft, die vergeblich Handlungsdirektiven er­ wartete. Sie enthüllten zuglcich die Ambivalenz der unbezweifelbaren gewerkschaft­ lichen E rfolge in den vierzehn Jahren der Weimarer Republik. Die Gewerkschaften hatten im System der Kriegswirtschaft die grundsätzliche Anerkennung durch die Re­ gierung, mit der Gründung der Zentralarbeitsgcmeinschaft im Spätherbst 1918 die Anerkennung durch die Spitzenverbände der Wirtschaft errungen, wenngleich unter wichtigen Vorbehalten durch die Unternehmerseite, die Gerald D. Feldman einge­ hend analysiert hat 11 . Die ZAG war ursprünglich ins Leben getreten, um einerseits den befürchteten „bolschewistischen“ Bestrebungen der Linken entgegenzutreten, andererseits das kriegswirtschaftliche System möglichst reibungslos zu überwinden, in dem die Unternehmerseite eine E inschränkung ihrer wirtschaftlichen Handlungs­ freiheit erblickte. Der Preis, den die Gewerkschaften für die Anerkennung als Tarif­ partei zahlten, bestand im Verzicht auf E ingriffe in die ökonomische E ntscheidungs­ sphäre der Unternehmen und in der Beschränkung der Betriebsräte auf sozialpoliti­ sche Angelegenheiten. Das Stinnes-Legien-Abkommen erwies sich für die Gewerkschaften insofern als nachteilig, als sie sich angesichts der radikalen Stimmung in der Arbeiterschaft die Hände gebunden hatten und sowohl in der Sozialisierungsfrage wie in den Lohn- und Arbeitszeitforderungen eine weitgehend abwiegelnde Funktion einnehmen mußten, die die Gewerkschaftsführungen von breiten Gruppen der radikalisierten Mitglied­ schaft isolierten. Zwar gelang es den dem ADGB angehörenden E inzelgewerkschaf­ ten, die radikalen Bestrebungen, die sich in wiederholten Generalstreikversuchen be­ kundeten, nach und nach einzudämmen. Aber es blieb ein beträchtliches Maß an Miß­ trauen zurück, das sich in der relativen Stärke syndikalistischer und unionistischer Gruppierungen vor allem auf der Ebene der Betriebsräte in den Zentren der deutschen Sch werindustrie zeigte und langfristig zur Schwächung der Mehrheitssozialdemokra­ tie beigetragen hat. Der zunächst beispiellos starke Mitgliederzustrom nach dem No­ vember 1918 wurde bald rückläufig; der Organisationsgrad ging deutlich zurück, nicht zuletzt weil sich die erheblichen Anfangserfolge der Gewerkschaften in der Lohn und Arbeitszeitfrage nicht fortsetzten. 371

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Die Gründung der Zentralarbeitsgemeinschaft hatte auf der Annahme beruht, daß es möglich sein werde, die Interessengegensätze zwischen Kapital und Arbeit weitge­ hend einvernehmlich zu lösen. Indessen wurde die noch im Geiste der Burgfriedens­ ideologie bekräftigte Zusammenarbeit zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerk­ schaften zunehmend brüchig, zumal erstere nach der Überwindung der Bürger­ kriegsphase am Fortbestandder ZAG nicht mehr interessiert sein konnten. Die Ge­ werkschaften befanden sich zudem in der eigentümlichen Situation, daß sie gezwun­ gen waren, in den paritätisch besetzten gemeinwirtschaftlichen Institutionen vielfach die Arbeitgeberinteressen mit zu vertreten, um Konzessionen in der Lohn- und Ar­ beitszeitfrage zu erreichen. War die ZAG ursprünglich als Interessengemeinschaft von Gewerkschaften und Unternehmerverbänden gegen eine übermächtige staatliche Bürokratie ins Leben getreten, so hing ihr Funktionieren in wachsendem Maße von direkten und indirekten staatlichen Interventionen ab, und sie wurde zunehmend ausgehöhlt und schließlich überflüssig, indem das Reichswirtschaftsministerium ei­ nerseits, das Reichsarbeitsministerium andererseits E influß auf die Preis- und Lohn­ politik nahmen und die Ansätze zu gemeinwirtschaftlicher Mitbestimmung zu bloßen Instrumenten der Staatsintervention zurückgebildet wurden. Die Gründung der ZAG verdeckte vorübergehend die strukturelle Schwäche der Gewerkschaftsbewegung, die übrigens keineswegs auf Deutschland beschränkt war, sich hier aber besonders deutlich abzeichnete. Schon E nde 1919 befanden sich die Gewerkschaften in der Defensive, und dies sollte sich im Verlauf der 20er Jahre noch verstärken. Sie befanden sich in einer doppelten Frontstellung gegen ein zunehmend selbstbewußteres und durch die Inflation ökonomisch gekräftigtes Unternehmertum einerseits und gegen die radikalen Gruppierungen auf der Linken andererseits, die namentlich in den industriellen Großbetrieben aktiv hervortraten, auch wenn sie zu selbständigen Arbeitskampfmaßnahmen niemals imstande waren. Infolgedessen scheuten die Gewerkschaften vor einer offensiven Arbeitskampfstrategie zurück, von der sie erneute Radikalisierungseffekte befürchteten. Der Ausgang des Kapp-Put­ sehes und das Scheitern des gewerkschaftlichen Achtpunkteprogramms besiegelten die defensive Position der organisierten Arbeiterbewegung, die durch die Auswir­ kungen der Inflation und durch den Ruhrkonflikt zusätzlich geschwächt wurde. Da­ bei spielten taktische Fehler der ADGB-Führung, auch wenn sie unverkennbar ent­ gegentreten, nur eine sekundäre Rolle. In vergleichbaren Industrieländern blieb der Gewerkschaftsbewegung der entscheidende sozialpolitische Durchbruch ebenso ver­ sagt. Auch dort versandeten die für die unmittelbare Nachkriegszeit typischen Gene­ ralstreikbewegungen, sofern sie nicht, wie in Italien, unmittelbar mit dem Übergang zum Faschismus beantwortet wurden. Hingegen vermochte das Unternehmertum, infolge der fortschreitenden vertikalen und horizontalen Konzentrationstendenzen und eines wachsenden Ausbaus des groß wirtschaftlichen Verbändewesens seine Stel­ lung nachhaltig auszubauen, zumal es sich internationaler Querverbindungen bedie­ nen konnte. Es ist bezeichnend, daß die Mehrheit der größeren Arbeitskämpfe dieser Periode von Aussperrungen ihren Ausgang nahm. E ine aktive Streikstrategie der Gewerk­ schaften wurde zusätzlich dadurch behindert, daß umfassende Rationalisierungs372

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maßnahmen eine E ntlastung des Arbeitsmarkts bewirkten und die strukturelle Arbeitslosigkeit noch verstärkten. Das System der Tarifautonomie war unter diesen Bedingungen nicht funktionsfähig. Um eine hinreichende ökonomische und politi­ sche Stabilität sicherzustellen, bedurfte es der staatlichen Intervention in die Bezie­ hungen zwischen Kapital und Arbeit. Was zunächst nur als Übergangsregelung für die Phase der Mobilmachung ins Leben trat ` das staatliche Schlichtungswesen - , er­ wies sich in der Zeit der Währungsstabilisierung als unentbehrliches Instrument zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen. Das Institut des Zwangstarifs, d. h. die staat­ liche Verbindlichkeitserklärung von Schiedssprüchen, die nicht die Anerkennung der Tarifparteien fanden, wurde in weiten Bereichen der Wirtschaft, insbesondere in der Schwerindustrie an der Ruhr, zur Dauereinrichtung. Ursprünglich war daran ge­ dacht, daß der staatliche Schlichter erst dann in Aktion trat, wenn die Möglichkeiten, zwischen den Tarifparteien zu einer E inigung zu kommen, erschöpft waren. Tatsäch­ lich neigten beide Tarifparteien dazu, die Verantwortung für Tarifabschlüsse auf den staatlichen Schlichter abzuwälzen und den vorausgehenden Tarifverhandlungen nur noch taktische Funktion beizumessen. Im Steinkohlenbergbau an der Ruhr kam es seit 1921 zu keiner freien Vereinbarung zwischen dem Zechenverband und den Berg­ arbeitergewerkschaften mehr. Auf sciten der Gewerkschaften fehlte es nicht an der E insicht, daß man auf die Dauer durch das System des Zwangstarifs die eigene Handlungsfreiheit einbüßen und auf dem ureigensten Sektor der Tarifabschlüsse von der Regierung abhängig werden würde; doch gab es, angesichts der hohen Risiken von Arbeitskämpfen, keine tragfä­ hige Alternative dazu. Umgekehrt war sich Reichsarbeitsminister Brauns voll der Tat­ sache bewußt, daß nur auf dem Umwege über das staatliche Schlichtungswesen die re­ lative Schwäche der Gewerkschaften kompensiert werden konnte, die einer zur Sen­ kung der Sozialleistungen und Lohnkosten fest entschlossenen und einheitlich orga­ nisierten Unternehmerschaft gegenüberstanden. Dieses System, auf dem die relative Stabilität der Republik in der Periode der Bürgerblockkabinette beruhte, hatte freilich den Nachteil, daß die Unternehmerverbände zunehmend dazu übergingen, tarifpoli­ tisches E ntgegenkommen von preis- und steuerpolitischen Konzessionen seitens der Regierung, gelegentlich auch von staatlichen Subventionen, abhängig zu machen. Daher rührte die Theorie des „politischen Lohns“, die von den Unternehmerverbän­ den mit der wenig verhüllten Absicht aufgestellt wurde, sich der sozialpolitischen Verbindlichkeiten, die man eingegangen war, unter günstigeren politischen Bedin­ gungen zu entledigen. Der Ruhreisenstreit von 1928 war ein Schritt auf diesem Wege; die Schwerindustrie wollte damit keineswegs nur das unbequem werdende System des Zwangstarifs zugunsten der von ihr geförderten Betriebsgewerkschaften nachhaltig schwächen 14 . Der Angriff auf die Tarifhoheit der Gewerkschaften scheiterte, aber ge­ rade dies bewirkte ein Ansteigen des außerparlamentarischen Drucks der schwerindu­ striellen Verbände, die sich nicht mehr scheuten, das bestehende parlamentarische Sy­ stem als „Gewerkschaftsstaat“ zu denunzieren 15 , und die Parlamentarismus und So­ zialpolitik geradezu für Synonyme hielten. Die Stellung der Gewerkschaften in der Weimarer Republik beruhte nicht allein auf ihrer Macht als Tarifpartei. Vielmehr sahen sie sich zu ständigen Rückzuggefechten 373

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genötigt, wie sich an der Arbeitszeitfrage verdeutlichen laßt: Der Achtstundentag, eine der wichtigsten sozialpolitischen E rrungenschaften des November 1918, war seit dem Anfang der 20er Jahre nirgends mehr in Kraft - den Gewerkschaften gelang es nur, die Mehrarbeit an besondere Mehrarbeitsabkommen zu binden 16 . Die Macht der Gewerkschaften war vielmehr in dem E influß begründet, den sie über das Parlament auf Gesetzgebung und Regierung auszuüben vermochten. Das 1928 von Fritz Naph­ tali entwickelte Programm der „Wirtschaftsdemokratie“ trug dieser Konstellation in­ sofern Rechnung, als die Gewerkschaften nur auf dem Umweg überdas politische Sy­ stem und damit durch Stärkung der öffentlich-rechtlichen Funktionen der Gewerk­ schaftsvertreter hoffen konnten, ihre gegenüber der Industrie schwache Stellung zu behaupten oder auszubauen. E s ist verständlich, daß gerade die Freien Gewerkschaf­ ten unter dem E indruck der Wirtschaftskrise und der steigenden Arbeitslosigkeit, die die finanzielle Kraft ihrer Organisationen empfindlich beeinträchtigte und Arbeits­ kämpfe nahezu unmöglich machte, um so mehr geneigt waren, sozialpolitische Fort­ schritte mit äußerster Zähigkeit zu verteidigen, und der Druck der kommunistischen Propaganda verstärkte dies noch. Spektakulär trat diese E instellung zutage, als die Vertreter des ADGB im Kabinett der Großen Koalition Hermann Müller II und der Reichstagsfraktion der SPD den Ausschlag für die schon taktisch höchst ungeschickte Entscheidung gaben, dem Kompromißvorschlag Brünings zur Sanierung der Arbeits­ losenversicherung die Zustimmung zu verweigern und damit den Rücktritt des Kabi­ netts unvermeidlich zu machen. E s scheint, als hätten sie sich gleichzeitig der Illusion hingegeben, von künftigen Reichstagswahlen eine maßgebende Stärkung des soziali­ stischen Stimmenanteils zu erwarten. E s kam die nicht ganz unrichtige E rwägung hinzu, daß es ein bürgerliches Kabinett gegen die Opposition der SPD schwerer haben würde, die Sozialleistungen anzutasten, als ein sozialdemokratisches Koalitionskabi­ nett. In der Tat bestätigte sich dies für die Periode der Kanzlerschaft Brünings, aber um den Preis der Abwendung vom parlamentarischen Prinzip und einer nachhaltigen Schwächung der organisierten Arbeiterschaft. Die Freien Gewerkschaften mußten jedoch, nach anfänglich scharfen Angriffen auf das Kabinett Brüning, bald erkennen, daß sie ohne Unterstützung durch die Regie­ rung in keiner Weise in der Lage waren, sich gegenüber dem steigenden Druck der Unternehmerverbände, die den Abbau der Tarifverträge mit wachsender E ntschie­ denheitverlangten, zu widersetzen. Noch immer überschätzten SPD und ADGB ihre politische E influßmöglichkeit. Nach außen hin vollzog sich Brünings Übergang zum „reinen“ Präsidialkabinett durch die Aufhebung der Notverordnungen vom Juli 1930, die, nachdem der Kanzler auf ihre Kompromißvorschläge nicht eingegangen war, von der SPD zusammen mit der Links- und Rechtsopposition durchgesetzt wurde. Tatsächlich erschwerte der über die DVP auf Brüning ausgeübte politische Druck der Großindustrie es dem Reichskanzler, einen Ausgleich mit der SPD in der umstrittenen Frage der Bürgersteuer zu suchen. Die Septemberwahlen widerlegten die von Brüning ebenso wie von ADGB und SPD geteilten Hoffnungen auf die Ge­ winnung einer stabilen Mehrheit. Der Bundesvorstand des ADGB sah nunmehr keine andere Möglichkeit als die Politik der Tolerierung, wenngleich er dem Reichsarbeits­ minister Stegerwald mit äußerstem Mißtrauen begegnete und erhebliche Minderun374

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gen der Leistungen der Arbeitslosenversicherung hinnehmen mußte. Die Deflations­ politik Brünings stieß zunächst nicht auf den prinzipiellen Widerstand der Gewerk­ schaften, obwohl sie mit Lohnsenkungen verbunden war, mit denen die angestrebten Preissenkungen nur zögernd Schritt hielten. Zwar hielt man Brüning, unabhängig von den nur langsam Boden gewinnenden konjunkturpolitischen Vorstellungen Keynes', wiederholt entgegen, daß die Krise nur durch eine Stärkung der Massenkaufkraft ge­ mildert werden könne. Andererseits folgte man Brüning, als dieser durch kumulative Sparmaßnahmen eine extreme Schrumpfung der öffentlichen Ausgaben herbeiführte, durch die die Auswirkungen der Krise zweifellos verschärft wurden. Der von Wage­ mann verfochtene Gedanke der Arbeitsbeschaffung durch Kreditschöpfung wurde zunächst zwiespältig aufgenommen. E s bedurfte erst der vollen Last der Krise, um den Vorschlägen Wladimir Woytinskis Anerkennung zu verschaffen, die als WTB-Plan die offizielle Zustimmung des Bundesvorstands der ADGB - bezeichnen­ derweise gegen den E inspruch Naphtalis und des Vorstandes der SPD - fanden. In­ ternational gesehen, vollzog die deutsche Gewerkschaftsbewegung damit einen grundlegenden Schritt voran zur Anwendung moderner konjunkturpolitischer Me­ thoden, wenngleich die für die Arbeitsbeschaffung vorgeschlagene Kreditaufnahme eine relativ niedrige Summe ausmachte, die von der späteren nationalsozialistischen Arbeitsbeschaffungspolitik bei weitem in den Schatten gestellt wurde 1 7 . Der WTB-Plan stellte eine richtige, wiewohl noch bescheiden gehaltene Antwort auf eine ökonomische Situation dar, in der nur durch umfassende staatliche Intervcn­“ tion die gefährlichen politischen Auswirkungen der Massenarbeitslosigkeit und wirt­ schaftlichen Verunsicherung breiter Bevölkerungsgruppen in Grenzen gehalten wer­ den konnten. In der Tat bewies die Krise, in welchem Umfang die Initiative an Regie­ rung und Staatsapparat übergegangen war. Auf Grund der Befürchtung, daß die von der Unternehmerschaft geforderte Beseitigung oder E inschränkung des Tarifver­ tragswesens eine politisch unerträgliche Radikalisierung nach sich ziehen würde, da zu erwarten stand, daß die Unternehmerschaft die Schwäche der organisierten Ar­ beitnehmer zu einer weit über das von Brüning angestrebte Maß hinausreichenden Lohnsenkung ausnützen werde, hielten Brüning und Stegerwald an dem bestehenden Tarifrecht fest. Allerdings glaubte auch Brüning, daß es notwendig sei, die Tarifver­ träge elastischer zu machen 18 . Die von der Wirtschaft verlangte Verkleinerung der Ta­ rifbezirke zielte darauf ab, die zentralen Gewerkschaftsverbände zu schwächen und die Tarifentscheidungen auf die E bene der Großbetriebe herunterzudrücken. Ange­ sichts dieser Bestrebungen war die gewerkschaftliche Arbeiterschaft von der staatli­ chen Intervention in die Lohnpolitik abhängig, wiewohl die geltenden Tarifverträge in der Praxis bereits vielfach unterlaufen wurden. Für die sozialpolitische Situation am Ausgang der Weimarer Republik ist es bezeichnend, daß sich in zunehmendem Um­ fang das Reichskabinett selbst mit den tarifpolitischen E ntscheidungen beschäftigte. Die Tarifpolitik des Staates hatte diejenige der Gewerkschaften vollends abgelöst. Die faktische Abhängigkeit der Gewerkschaften als Tarifpartei von der Haltung der Regierung trat deutlich in E rscheinung, als das Kabinett von Papen mit den Septem­ ber-Notverordnungen den Wünschen der Unternehmerschaft weitgehend Rechnung trug und tiefe Eingriffe in das geltende Tarifrecht vornahm 1 9 . Der ADGB beschränkte 375

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sich auf verbale Proteste und suchte gleichwohl, an den Durchführungsverordnungen mitzuwirken. Die dilatorische Taktik Leiparts wurde von den Mitgliedermassen nicht verstanden. Sie ging darauf zurück, daß man sich auf den Kurs einer weitgehenden Anlehnung an die Regierung festgelegt hatte, wobei die fragwürdige E rwartung mit­ spielte, daß durch die Krise bedeutsame Impulse in Richtung auf eine staatskapitalisti­ sche E ntwicklung freigesetzt würden. Der vom ADGB geforderte „Umbau der Wirtschaft“ wich in zahlreichen Punkten vom unternehmerfreundlichen Papen-Plan ab. Aber ebenso wie der WTB-Plan im­ plizierte dieses Programm eine weit engere Verschränkung der gewerkschaftlichen Aufgaben mit der staatlichen Wirtschafts- und Sozialpolitik, als es der herkömmli­ chen, vor allem auf die Tarifpolitik konzentrierten Funktion der Gewerkschaften ent­ sprach. Daß Streiks unter den Bedingungen der Massenarbeitslosigkeit und des an­ wachsenden E influsses der KPD selbst angesichts der von Papen ermöglichten Lohn­ senkungen für inopportun erklärt wurden, verwundert nicht. Denn auch grundsätz­ lich gesehen erschien das Mittel des Arbeitskampfes in dem Umfange antiquiert, als der Arbeitsmarkt weitreichender staatlicher Regulierung unterworfen und die E nt­ wicklung von Preisen und Löhnen von der Regierung maßgeblich beeinflußt wurde. Es war daher nicht nur Ausdruck einer mit pragmatischen Argumenten getarnten Pas­ sivität der ADGB-Führung, wenn sie Schleichers Offerten einer engen Zusammenar­ beit weit entgegenkam, obwohl der Parteivorstand der SPD ein eindeutiges Veto da­ gegen einlegte 20 . Die effektive Machtlosigkeit der Freien Gewerkschaften, die die Ar­ beiterschaft vielfach der Willkür der Unternehmer auslieferte, war gewiß auch ein Re­ sultat der politischen Isolierung der SPD; sie mußte sich jedoch noch verschärfen, wenn der ADGB die angestammten Bande zur SPD zugunsten des Gedankens der Überparteilichkeit und einer bloß organisatorisch konzipierten E inheitsgewerkschaft preisgab. Die ADGB-Führung hoffte hingegen, die Position der Gewerkschaften zu stabilisieren, indem sie dem berufsständischen Gedanken weit entgegenkam und auf mittlere Sicht einen organisatorischen „Umbau“ der Gewerkschaften nicht ausschloß. Damit verknüpfte sich der Gedanke der Rückkehr zum Prinzip der Zentralarbeitsge­ meinschaft, d. h. der einvernehmlichen Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen von Unternehmerverbänden und E inheitsgewerkschaft, allerdings unter staatlicher Aufsicht 21 . In der Formulierung dieses „einheitsgewerkschahlichen“ Programms, das die vom Ersten Weltkrieg stammenden Vorstellungen wirtschaftlicher Selbstverwaltung mit dem berufsständischen Prinzip verknüpfte, gingen die Hirsch-Dunckcrschen und christlichen Gewerkschaften voran, doch fand es durchaus die Zustimmung der Re­ präsentanten des ADGB 2 2 . Gerhard Beier hat dises im einzelnen nie wirklich durch­ formulierte, etwas diffus anmutende Konzept einer ordnungsstiftenden, nationalen Einheitsgewerkschaft, die auf das Mittel des Klassenkampfes verzichtet, betont anti­ kommunistisch, im übrigen aber parteipolitisch und weltanschaulich neutral ist, mit Recht in die Nahe der späteren nationalsozialistischen Zwangsorganisation der DAF gerückt und eine weitgehende E ntsprechung zwischen den Plänen des „Führerkrei­ ses“ und der DAF-Konzeption für wahrscheinlich gehalten. E r betont, daß es zu die­ sen Vorstellungen nur angesichts der Gefahr der völligen Zerschlagung der bisherigen 376

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Gewerkschaften habe kommen können und daß das von Jakob Kaiser, Wilhelm Leu­ schner und Max Habermann vertretene einheitsgewerkschaftliche Konzept primär „Überlebensfunktion“ gehabt hätte 2 3 . Das ist zweifellos richtig, aber es darf dabei nicht übersehen werden, daß die zugrundeliegenden Vorstellungen eine handfeste Vorgeschichte haben, in der das kriegswirtschaftliche System des Ersten Weltkrieges, aber auch die ZAG eine besondere Rolle spielen. In der fast zum Mythos hochstilisier­ ten Forderung der Gewerkschaftseinheit verbarg sich mehr als die Frontstellung ge­ gen den Kommunismus und die verbreitete Ansicht, daß die strukturelle Schwäche der organisierten Arbeiterbewegung gegenüber dem aufsteigenden Faschismus auf deren Spaltung zurückzuführen sei. Dahinter stand die problematische Annahme, ohne die Zwischenschaltung von Parteien und Parlament direkten E influß auf den Staatsapparat nehmen und die Schlüsselpositionen der staatlichen Wirtschafts- und Sozialpolitik besetzen zu können. Damit verband sich die E rwartung, daß den ge­ werkschaftlichen Organisationen weit über die Sicherung der unmittelbaren materiel­ len Interessen der Arbeitnehmer hinaus eine spezifische sozialintegrative gesellschaft­ liche Funktion zukomme. Die hierin enthaltene Überschätzung des Prinzips bloßer Organisation und der Glaube an die einheitsstiftende Kraft des nationalen Gedan­ kens, zu dem man sich nun ausdrücklich bekannte, hat dann der nationalsozialistische Gleichschahungspolitik in die Hände gespielt. Dieses schon im April 1933 im „Füh­ rerkreis“ vereinbarte Konzept durchzusetzen, stellte andererseits das Hauptanliegen der Gewerkschafter dar, die am Umsturzversuch des 20. Juli unmittelbar beteiligt wa­ ren. Fragen der Tarifpolitik spielten in der veränderten Lage, deren Langfristigkeit erst allmählich ins Bewußtsein trat, keine grundlegende Rolle mehr. Die Hoffnung Leuschners, einen innenpolitischen Umschwung zur Wiederherstel­ lung der gewerkschaftlichen Organisationen zu benützen, wurde mit dem Ausgang des 30. Juni 1934 gegenstandslos 24 . Leuschnernahm sofort nach seiner Entlassung die Verbindung zu Jakob Kaiser, zu Max Habermann und zahlreichen ehemaligen Ge­ werkschaftern sowie bürgerlichen Politikern auf. Der Gestapo war seine konspirative Tätigkeit bekannt, doch sah sie keine Handhabe, um gegen ihn vorzugehen. „L. steht auch hier seit langer Zeit im Verdacht der illegalen Tätigkeit, ist aber zu schlau, schriftliches Material aus der Hand zu geben. Wir warten hier auch nur auf eine posi­ tive Unterlage oder Aussage, um gegen ihn vorgehen zu können. E r ist in Berlin eines der geistigen Zentren des Marxismus und wird sogar in diesen Kreisen als Nachfolger des Führers und Reichskanzlers angesprochen“, heißt es in einem Fernschreiben des Geheimen Staatspolizeiamts Düsseldorf vom 17. Mai 1938 25 . E s ist erstaunlich, daß Leuschner trotzdem ein weit verzweigtes Netz konspirativer Kontakte aufbauen konnte 26 . Dazu trug maßgeblich bei, daß er ebenso wie E mil Henk, Carlo Mieren­ dorff und Theodor Haubach Bestrebungen fernblieb, Widerstandsgruppen an der Ba­ sis zu bilden 27 . Zwar gab es eine Reihe von Kontakten, doch scheint sich Leuschner sowohl von der Tätigkeit der Gruppe „Neubeginnen“ wie der von Otto Brass und Hermann Brill begründeten „Deutschen Volksfront“ ferngehalten zu haben, die seit 1938 von der Gestapo aufgedeckt werden konnten 28 . Leuschners Zielsetzung beschränkte sich zunächst darauf, ein Netz von Verbin­ dungsleuten zu schaffen, um im Falle eines Umsturzes sofort politisch handlungsfähig 377

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zu sein. E r äußerte sich wiederholt skeptisch über die Möglichkeit, breite Massen der Arbeiterschaft zu mobilisieren. Demgemäß war die Frage, ob die gewerkschaftlichen Verbindungen eine breite plebiszitäre Absicherung einer Umsturzregierung gewähr­ leisten könnten, für Leuschner von untergeordneter Bedeutung. E mil Henk hat das von Leuschner zusammen mit E rnst Schneppenhorst, Carlo Mierendorff, Hermann Maass und den Vertretern der christlichen Gewerkschaften aufgebaute Netz von Ver­ bindungsleuten als Auffangorganisation bezeichnet, das vor dem Machtwechsel kei­ nerlei einsatzfähigen Wert gehabt hätte 29 . Insoweit ist die Kritik, die von den Soziali­ sten des Kreisauer Kreises und von Julius Leber an Leuschners Organisationstätigkeit geübt wurde, nicht ohne eine gewisse innere Berechtigung. Denn Leuschner nahm in erster Linie Kontakt mit früheren Gewerkschaftsfunktionären und Parlamentariern auf, die nur im E inzelfall bereit und fähig waren, in einer Bürgerkriegssituation aktiv hervorzutreten. Leuschner erwartete indessen, und auch hier knüpfte er an Vorbilder von 1932 an, eine Umwälzung nur durch eine vorübergehende Herrschaft der Militärs in Verbindung mit einer Obergangsregierung mit Carl Goerdeler als Reichskanzler. Bezeichnenderweise zögerte Leuschner, sich als Vizekanzler des Umsturzkabinetts zur Verfügung zu stellen. Offenbar legte er die Priorität auf die Schaffung der von ihm angestrebten „Deutschen Gewerkschaft“ als dcmokratischer Nachfolgeorganisation der DAF 3 0 . Leuschner gewann für die innere Entwicklung des deutschen Widerstands maßgeb­ liche Bedeutung durch den engen Kontakt, den er mit Goerdeler knüpfte. Goerdeler war in hohem Maße von der politischen Vorstcllungswelt der Präsidialkabinettc be­ einflußt; grundsätzlich vertrat er einen mit stark sozialpatriachalischen Zügen ausge­ statteten altliberalen Standpunkt, der manchesterliche Züge trug, aber eine Idealisie­ rung des Bismarck-Reiches nicht ausschloß. Bezeichnenderweise stießen seine frühe­ ren Denkschriften auf die mehr oder minder scharfe Kritik der Gruppe um von Has­ sel, Popitz und Beck, die, wie deren frühe Verfassungsentwürfe zeigen, sich im we­ sentlichen darauf beschränkten, die NSDAP auszuschalten, ohne die Gleichschal­ tungspolitik rückgängig zu machen 31 Die Verbindung Goerdelers mit Leuschner und über Leuschner mit der Gruppe christlicher Gewerkschaftler um Jakob Kaiser ver­ schaffte ihm einen nicht geringen Rückhalt gegenüber dem konservativ-autoritären Flügel der zivilen Opposition. Die Gewerkschaftskontakte veranlaßten Goerdeler, seine politischen Planungen in wichtigen Punkten zu modifizieren. Das galt insbe­ sondere für die Gewerkschaftsfrage selbst. Ursprünglich hatte Goerdeler die DAF weitgehend übernehmen wollen, allerdings bei Ausschaltung des nationalsozialisti­ schen „Bonzentums“ und stärkerer öffentlicher Kontrolle. E r gedachte, am System der Treuhänder der Arbeit festzuhalten, aber Unternehmer und Arbeiterschaft ge­ trennt zu organisieren. Demgegenüber verlangte die Gruppe Leuschner-Kaiser die Schaffung einer selbstän­ digen Einheitsgewerkschaft analog zu dem schon vom „Führerrat“ entwickelten, aber nunmehr detailliert ausgearbeiteten Konzept. Goerdeler schloß sich den gewerk­ schaftlichen Vorstellungen im wesentlichen an. Die geplante „Deutsche Gewerk­ schaft“ sollte, wie die DAF, auf Zwangsmitgliedschaft beruhen, weitgehende wirt­ schaftliche Selbstverwaltungsfunktionen übernehmen und sowohl in den Vorständen 378

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bzw. Aufsichtsräten der Wirtschaftsbetriebe, in den Selbstverwaltungsorganen der gewerblichen Wirtschaft wie in der vorgesehenen Ständekammer vertreten sein. Leuschner brachte in dieses Programm zusätzlich die Verstaatlichung der Schlüssel­ industrien, den Aufbau eines ausgedehnten gewerkschaftlichen Bildungswesens und das Recht der Gewerkschaft ein, eigene Betriebe zu unterhalten. Das war ein Maxi­ malprogramm, das ohne das Gegenbild der DAF schwerlich denkbar gewesen wäre und das der „Deutschen Gewerkschaft“ eine politische Schlüsselstellung eingeräumt hätte. Nur in der Frage der Arbeitslosenversicherung ließ sich Goerdeler von seiner ursprünglichen Konzeption nicht abbringen; er wollte sie allein von der Arbeitneh­ merseite getragen wissen. Das war von Goerdelers Standpunkt aus konsequent, aber schon angesichts der E rfahrungen der Wirtschaftskrise nicht praktikabel. Bekanntlich erntete das Programm der „Deutschen Gewerkschaft“ erheblichen Widerspruch, und zwar nicht nur vom rechten Flügel - Popitz sprach von den Ge­ werkschaften als Staat im Staate-, sondern vor allem vom Kreisauer Kreis, der im Zu­ sammenhang mit dem von Moltke entwickelten Konzept der „kleinen Gemeinschaf­ ten“ die E rrichtung einer notwendig hochgradig bürokratischen Gewerkschaftsorga­ nisation grundsätzlich bekämpfte. Gewiß war das Kreisauer Konzept unrealistisch: Die vorgesehenen Betriebsgewerkschaften unterschieden sich zwar grundsätzlich von der nationalsozialistischen Betriebsgemeinschaft, indem den Arbeitervertretern be­ trächtliche Rechte eingeräumt waren, darunter E insicht in die Bilanzen und die E r­ tragslage. Darüber hinaus war eine Gewinnbeteiligung der Arbeiterschaft vorgese­ hen. Unter großindustriellen Bedingungen konnte ein derartiges System jedoch kei­ neswegs funktionieren und eine ausreichende Wahrnehmung der Interessen der Ar­ beiterschaft sicherstellen. Man einigte sich schließlich mit Leuschner und dessen Kreisauer Vertretern dahingehend, daß die „Deutsche Gewerkschaft“ zunächst als „notwendiges Mittel“ zur Verwirklichung des Wirtschaftsprogramms und der ent­ sprechenden Verfassungsinstitutionen dienen solle, aber keineswegs auf Dauer beste­ hen werde. „Sie findet ihre Erfüllung in der Durchsetzung dieses Programms und der Überleitung der von ihr wahrgenommenen Aufgaben auf die Organe des Staates und der wirtschaftlichen Selbstverwaltung“, heißt es in den „Grundsätzen für die Neuordnung“ 3 2 . Moltke blieb jedoch ablehnend und gab sich der Hoffnung hin, die­ sen Kompromiß wieder rückgängig machen zu können. Es ist bezeichnend, daß die Organisationsform und vielfach auch die personelle Be­ setzung der künftigen E inheitsgewerkschaft bis in Einzelheiten hinein vorgeklärt wa­ ren, während die Frage, in welcher Weise das politische Parteiwesen zu regenerieren sei, weitgehend offen blieb oder wechselnd beantwortet wurde. Dies hing zweifellos mit der Diskreditierung des politischen Parteiwesens in der Spätphase der Weimarer Republik zusammen, zugleich mit den in den Verfassungsplänen sowohl des Kreis­ auer Kreises wie der Goerdeler-Gruppe fortwirkenden berufsständischen Vorstel­ lungen. Insbesondere ließ das komplizierte konstitutionelle Verfassungsmodell Kreisaus im Grunde zentral organisierte, nationale politische Parteien nur begrenzt zu, und desgleichen atmeten Goerdelers Entwürfe den Geist des liberalen Honoratio­ rentums, das schwerlich mit der E xistenz moderner bürokratisierter Massenparteien vereinbar war. E inigkeit bestand darin, daß man der Parteienzersplitterung entge379

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genwirken müsse. Goerdeler wollte allenfalls drei oder vier Parteien zulassen. Allge­ mein bestand starke Sympathie für das angelsächsische Zweiparteiensystem. Kaiser dachte an die Bildung einer breiten sozialen Reformpartei, die den Gegensatz zwi­ schen Sozialdemokratie und Zentrum aufheben sollte; unzweifelhaft spielen dabei E r­ innerungen an Stegerwaids E ssener Rede von 1920 eine gewichtige Rolle 3 3 . Die Vernachlässigung des Aspekts der demokratischen Abstützung der angestreb­ ten Obergangsregierung beruhte nicht zuletzt auf der notgedrungenen politischen Isolierung der Widerstandsgruppen des 20. Juli. Vor allem für Goerdeler erschien dies als kein spezifisches Problem, da er erwartete, daß die moralischen Appelle der Um­ sturzregierung breiten Widerhall finden würden. E s ist zudem leicht begreiflich, daß die Männer des Widerstands nach den E rfahrungen der nationalsozialistischen Pro­ pagandaerfolge die Volksmassen eher mißtrauisch betrachteten, und es war sicherlich fragwürdig, vor einer längeren Übergangszeit zu freien Wahlen zurückzukehren. Die E inheitsgewerkschaft konnte in einer solchen Lage eine entscheidende stabili­ sierende Funktion besitzen. Leuschner scheint jedoch, den nur fragmentarisch erhal­ tenen Quellen zufolge, die politischen Möglichkeiten überschätzt zu haben, die der erhoffte rasche Aufbau der überparteilichen Gewerkschaftsorganisation geboten hät­ te. Das Mißtrauen gegen die Generäle-Leuschner fürchtete offenbar, wie im Februar 1933 in bezug auf Schleicher, daß die organisierte Arbeiterschaft nur als Instrument des Machtwechsels mißbraucht werden sollte- veranlaßte ihn zu einer gewissen Zu­ rückhaltung, wobei die nervöse Gereiztheit über das Ausbleiben des Attentatversuchs mitspielte. E s ist jedoch zweifelhaft, ob Leuschner den Plan verfolgte, die Übergangs­ regierung Goerdeler sich abnützen zu lassen, um dann selbst, gestützt auf die Ge­ werkschaften, die Kanzlerschaft zu übernehmen 34 . Wohl aber wird man unterstellen können, daß Reminiszenzen an die Stabilisierungsversuche Schleichers vom Dezem­ ber 1932 Gegenstand der E rwägung waren. Die Einsicht, daß der Sturz des Nationalsozialismus nicht von einer politischen ta­ bula rasa gefolgt werden würde, setzte sich in den Widerstandsgruppen des 20. Juli erst relativ spät, offensichtlich im Zusammenhang mit der Agitation des Nationalko­ mitees Freies Deutschland, durch 3 5 . Sie bewirkte nun entschiedene Pläne, zum Zeit­ punkt des Umsturzes eine demokratische Sammlungsbewegung ins Leben zu rufen, die die notwendige demokratische Abstützung gewährleisten sollte. Die Konzeptio­ nen dazu ließen die bislang zurückgedrängten politischen Fronten innerhalb der Wi­ derstandsbewegung deutlich hervortreten. Mierendorffs Programm der „Sozialisti­ schen Aktion“ knüpfte an verspätete Versuche der SPD von 1933 an, die Gegenkräfte gegen Kommunismus und Faschismus zu mobilisieren, unterschied sich davon aber durch die Betonung des christlichen E lements 36 . Bezeichnenderweise kam es darüber zu scharfen Auseinandersetzungen zwischen Leber und der Gewerkschaftsgruppe, in denen Leuschner die Vorstellungen Kaisers verteidigte, während Leber, in richtiger Einschätzung der politischen Kräfteverhältnisse, befürchtete, damit die Linkssoziali­ sten ins Lager der KPD zu treiben. In den Kaltenbrunner-Berichten sind die divergierenden Auffassungen unter den Mitgliedern des Widerstands des 20. Juli stark akzentuiert und in mancher Hinsicht übertrieben worden, wobei die Tendenz der Gestapo einwirkte, den Grundkonsen380

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sus, der die Widerstandskämpfer über unterschiedliche Meinungen und Gegensätze der Generation und des Temperaments hinaus einigte, herunterzuspielen.und den Einfluß persönlich-egoistischer Motive hervorzuheben 37 . Daß bei den erwähnten Spannungen und gelegentlich sich ergebenden Auseinandersetzungen auch die Beun­ ruhigung über die ständige Verzögerung der Aktion und die zunehmende Gefahr ei­ ner Aufdeckung der Verschwörung einen nicht geringen Anteil hatten, ist verständ­ lich. Gleichwohl besaßen die politischen und taktischen Divergenzen, die vor allem zwischen der Gruppe um Leber und Stauffenberg einerseits und Goerdeler und der Gewerkschaftsgruppe andererseits hervortraten, einen realen politischen Hinter­ grund. Goerdeler und die Mehrheit der Gewerkschaftler glaubten wohl, gestützt auf die unumgängliche Herrschaft der Militärs eine gewisse Zeitspanne zur Verfügung zu ha­ ben, um die Grundlagen für eine gesellschaftliche Rekonstruktion zu legen. E ine für Leuschner angefertigte Denkschrift Ludwig Bergstraessers, die in mancher Hinsicht den Vorstellungen der amerikanischen Deutschlandplaner entsprach, die den Neu­ aufbau des politischen Lebens auf der lokalen E bene anstrebten und die Bildung poli­ tischer Parteien verzögern wollten, räumte den Gewerkschaften und den Kirchen in diesem Regenerations- und Reformationsprozeß eine Schlüsselstellung ein 38 . Auch Bergstraesser hob den für die Widerstandsgruppen des 20. Juli bestimmenden Selbst­ verwaltungsgedanken hervor, obwohl dieser im deutschen politischen Denken seit der preußischen Reformzeit als Gegenmodell zu dem als „westlich“ empfundenen parlamentarischen System fungierte und auch die nationalsozialistische Verfassungs­ politik, sofern man davon überhaupt sprechen kann, beeinflußt hat 39 . Vor einem sol­ chen E rwartungshorizont kam der von oben ins Leben gerufenen E inheitsgewerk­ schaft eine maßgebliche politische Integrationsfunktion zu. Demgegenüber standen Leber, Mierendorff und Haubach unter dem E indruck, daß sich im Zuge des erhofften Umsturzes eine rasche Politisierung ergeben würde, deren Nutznießer vor allem die kommunistischen Gruppen sein mußten, zumal sie seit der Gründung des Nationalkomitees Freies Deutschland an breitere nationale und soziale Ressentiments in der deutschen Bevölkerung anzuknüpfen versuchten 40 . Dies war der Hintergrund der Bestrebungen von Stauffenberg, Leber, Adam von Trott und Fritz Dietlof von der Schulenburg, das Kabinett stärker nach links hin zu gewich­ ten und möglicherweise auf Goerdeler als Kanzler zu verzichten. Desgleichen kam der geplanten Volksbewegung grundlegende Bedeutung für die politische Absiche­ rung des Staatsstreichs zu, und zwar nicht allein in Hinsicht auf die Bekämpfung der mit der Auflösung der NSDAP noch nicht politisch neutralisierten faschistischen Gruppen. Dieser Sachverhalt erklärt die eher abfälligen Äußerungen Haubachs und Lebers über die hinter Leuschner und den christlichen Gewerkschaften stehenden Kräfte 41 . Die nach dem Mai 1945 entstehende innenpolitische Situation im besetzten Deutschland lehrt, daß die E inschätzung der „Sozialisten“ gegenüber den E rwartun­ gen der „Gewerkschaftler“ realistischer gewesen ist 42 . Auch Jakob Kaiser wurde im Frühjahr 1945, trotz seiner Bemühungen um die Begründung der E inheitsgewerk­ schaft, sofort mit der Notwendigkeit der politischen Parteibildung konfrontiert, und 381

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es ist kein Zweifel, daß der Abwehrkampf gegen den kommunistischen Machtan­ spruch in erster Linie auf der Ebene der Parteien geführt worden ist 43 . Insofern stellte sich die Hoffnung, eine Neuformung des deutschen politischen Lebens auf der Grundlage einer organisatorisch wie programmatisch fest abgesicherten Gewerk­ schaftseinheit erreichen zu können, als politische Illusion heraus, was auch die ge­ scheiterten Ansätze zu einer Restrukturierung der deutschen Arbeiterbewegung nach Art der Labour Party, die Hermann Brill nach dem Mai 1945 unternahm 44 , bestätig­ ten. Gleichwohl kommt der Tätigkeit der Gewerkschaftsgruppe im Rahmen des bür­ gerlich-konservativen Widerstands grundlegende Bedeutung zu. Durch sie ist dessen demokratische Fundamentierung gegenüber den anfänglich überwiegend autoritär­ konservativen Gruppierungen verbreitert worden. Gerade den freien und christlichen Gewerkschaftern kam hierbei eine wichtige Vermittlerrolle zwischen den verschiede­ nen Widerstandszirkeln und den abweichenden politischen Richtungen zu. Aus Vor­ sicht vermieden es Leuschner und Kaiser, die beträchtliche Zahl gewerkschaftlicher Gesinnungsgenossen, die sie zur Mitarbeit für den Lall des Umsturzes gewonnen hat­ ten, mit dem inneren Zirkel des 20. Juli in Verbindung zu bringen. Wenngleich gerade bei Leuschner eine gewisse Überschätzung bloßer Organisation anzutreffen ist, wird man doch sagen können, daß die Verschwörung, hätte sie zum Frfolg geführt, ihre breiteste zivile und zugleich politisch homogenste Basis im Kreis der ehemaligen Ge­ werkschafter besessen hätte. Die E ntscheidung der am 20. Juli beteiligten Gewerkschaftler und Sozialdemokra­ ten, den Sturz des Systems durch die Generalität zu betreiben, war richtig. Die seithe­ rige geschichtliche E rfahrung mit totalitären oder autoritären Regimen beweist, daß ein erfolgreicher Umsturz ohne die Hilfe des Militärs unmöglich ist. E ine Massener­ hebung der Arbeiterschaft ist zu keinem Zeitpunkt, wohl auch nicht mehr am 20. Juli 1932 gegen Papens Preußenputsch, der Hitler den Weg zur Macht ebnete, aussichts­ voll gewesen. Die zahlreichen sozialistischen und kommunistischen Widerstands­ gruppen, die in wechselnden Formen und unterschiedlicher politischer Zielrichtung tätig waren, meist gestützt auf die Querverbindungen zu ausländischen und interna­ tionalen Organisationen, mußten sich darauf beschränken, die Arbeiterschaft gegen die nationalsozialistische Propaganda zu immunisieren und über die verbrecherische Politik des Regimes aufzuklären, ohne angeben zu können, wann der Zeitpunkt des offenen Kampfes herangereift sein würde. Das Bündnis, das Leber und Leuschner sowohl mit konservativen Militärs als auch mit politischen E xponenten der Phase der Präsidialkabinette und Anhängern des Neokonservativismus wie Beck, Goerdeler und Moltke, schlossen, zielte über die von allen Richtungen gemeinsam vertretene Wiederherstellung rechtsstaatlicher Bedin­ gungen und eines freiheitlichen Verfassungsstaates auf eine Form der innenpolitischen Stabilisierung ab, die ideologisch und gesellschaftspolitisch in die Zeit der späten Präsidiaíkabinette zurückverwies. Paradoxerweise haben daher eben jene Anpassungs­ versuche des ADGB wie der übrigen Richtungsgewerkschaften an das teils von auto­ ritären, teils von faschistoiden Zügen geprägte Ubergangsregime v. Papcns und v. Schleichers, die weithin als politische Kapitulation aufgefaßt werden mußten, das 382

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spätere Bündnis zwischen gewerkschaftlichem und bürgerlich-militärischem Wider­ stand vorbereitet. Die Fehlrechnung Theodor Leiparts, die Gewerkschaften durch partielle Integration in den sich etablierenden autoritär-faschistischen Staat in der Substanz retten und bei geänderten Konstellationen als politischen Faktor einsetzen zu können, liegt klar zutage. E twas von dieser Mentalität blieb in dem zwischen Goer­ deler und den Gewerkschaftsführern verbreiteten Plan der „Deutschen Gewerk­ schaft“ erhalten, wenngleich diese sich durch klar demokratischen Aufbau grundsätz­ lich von der DAF unterschied und als spezifische Interessenvertretung der Arbeiter­ schaft und der Angestellten konzipiert war. Als Garant der demokratischen Kräfte gegenüber der unvermeidlichen vorüberge­ henden militärischen Diktatur hatte die „Deutsche Gewerkschaft“ - und hierin stimmten die Vertreter des Kreisauer Kreises ausdrücklich zu - in der für sie vorgese­ henen organisatorischen und politischen Struktur eine wichtige Funktion. Hingegen war es, gerade nach den E rfahrungen der beginnenden 30er Jahre, problematisch, ob man eine so weitgehende staatliche Privilegierung der Gewerkschaften, wie Leu­ schner sie anstrebte, selbst unter den Bedingungen des Widerstandskampfes hätte gutheißen sollen. Sie hätte die gewerkschaftliche Bewegungsfreiheit empfindlich ein­ geschränkt und die Gewerkschaften in einen latenten Gegensatz zu den mit ihnen konkurrierenden, verzögert rekonstruierten demokratischen Parteien gerückt; sie wären dadurch ein Instrument mehr der Bewahrung als der E rneuerung geworden. Die unter der gegebenen ökonomischen und politischen Konstellation der Weimarer Republik verständliche Anlehnung der Gewerkschaften an die staatlichen Institutio­ nen der Weimarer Republik raubte ihnen in einer entscheidenden E ntwicklungsphase die erforderliche Handlungsfreiheit und Flexibilität und bewirkte eine Überschät­ zung ihrer Kräfte. E in stärkeres Maß innerverbandlicher Demokratie und eine inten­ sive Kommunikation zwischen Führung und Mitgliedschaft hätten ein wichtiges Kor­ rektiv gegenüber Illusionen darstellen können, die 1933 eine Verkennung des gewerk­ schaftlichen Handlungsspielraums hervorriefen und im Widerstand nachwirkten. Wilhelm Leuschner und Jakob Kaiser, die beiden Hauptrepräsentanten des gewerk­ schaftlichen Widerstands in der Bewegung des 20. Juli, waren entschlossen, eine Wie­ derholung der Situation gewerkschaftlicher Schwäche zu verhindern, die zur kamp­ flosen Kapitulation gegenüber dem Faschismus geführt hatte. Dies erklärt, warum sie sieh nicht voll von einer gewerkschaftlichen Tradition zu lösen vermochten, die im Begriff war, sich von der alten Wahrheit abzuwenden, daß der Riese Antäus seine Kraft nur der Berührung mit der E rde verdanke.

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Abkürzungsverzeichnis ADAV ADGB AFL AHR AJS AÖR AGSA

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AfS ASS AHY BDL B.C.P. GEH C.L.P. CSSH C.S.C. C.F.T.C. CG.T. C.G.T.U. C.N.T. CIO CPUSA DBB F.A.I. Fs. F.O. GHH GwMH HZ LL.P. IWW IfZ IAA IBCG IBFG ISK IISG IRSH IWK

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JbCC JböR JCEA JP KAB

= = = = =

Allgemeiner Deutscher Arbeiter Verein Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund American Federation of Labor American Historical Review American Journal of Sociology Archiv des öffentlichen Rechts Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegungt Archiv für Sozialgeschichte Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik Austrian History Yearbook Blätter für Deutsche Landesgeschichte British Communist Partv Central E uropean History Communist Labor Partv Comparative Studies in Society and History Confederation des Syndicaty Chretiens de Belgique Confederation Francaise des Travailleurs Chrtiens Confederation Générale du Travail Confederation Generale du Travail Unitaire Confederation Nacional de Trabajo de E spana Congress of Industrial Organization Communist Party of the United States of America Deutscher Beamtenbund Federación Anarquista Ibérica Festschrift Force Ouvrière Gute Hoffnungshütte Gewerkschaftliche Monatshefte Historische Zeitschrift Independent Labour Partv Industrial Workers of the World Institut für Zeitgeschichte Internationale Arbeiter-Association Internationaler Bund christlicher Gewerkschatten Internationaler Bund freier Gewerkschaften Internationaler Sozialistischer Kampfbund Internationales Institut für Sozialgeschichte, Amsterdam International Review of Social History Internationale Wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung Jahrbuch des Collegium Carolinum Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart Journal of Central E uropean Affairs Journal of Politics Katholieke Arbeidersbeweging

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K.of L. KJVD LW MEW MS NBS NPL NR NZ ÖOH ÖR OBA P.O.U.M. PSI PVS PJ RoP RGO RFS SIR S.D.F. SM SDG SAJ SAPD STDR St. J b . f . d . D R SEESH SOF U.G.T. VfZ W.P. WTB ZGO ZfG ZfO ZAG

= Knights of Labor = Kommunistischer Jugendverband Deutschlands = Lenin Werke = Marx-E ngels Werke = Marxismusstudien = Neue Blätter für den Sozialismus = Neue Politische Literatur = Neue Rundschau = Neue Zeit = österreichische Osthefte = Österreichische Rundschau = Oberbergamt = Partido Obrero de Unificación Marxista = Partito Socialista Italiano — Politische Vierteljahresschrift = Preußische Jahrbücher = Review of Politics = Revolutionäre Gewerkschaftsopposition = Revue française de sociologie = Slavonic Review = Social Democratic Federation = Socialistische Monatshefte = Sowjetsystem und Demokratische Gesellschaft = Sozialistische Arbeiterjugend = Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands = Statistik des Deutschen Reiches = Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich = Studies in E ast E uropean Social History = Südostforschungen = Unión General de Trabajadores de E spana = Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte = Workers Party = Woytinski-Tarnow-Baade-Plan = Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins = Zeitschrift für Geschichtswissenschaft = Zeitschrift für Ostforschung = Zentralarbeitsgemeinschaft

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Mommsen, Arbeiterbewegung

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Anmerkungen

î . Der Nationalismus als weltgeschichtlicher Faktor 1 R. E merson, From E mpire to Nation. The rise to self-assertion of Asian and African Peo­ ples, Cambridge/Mass. 1960; ders., Nationalism and Political Development, in: JP, Bd. 22, 1960/1, S. 3-28. 2 K. W. Deutsch, Nationalism and Social Communication, Cambridge/Mass. 1953, 19662, 3 K. R. Minogue, Nationalism, London 1967; dt.: Nationalismus, München 1970, S. 180, 191. 4 H . Kohn, The Idea of Nationalism, New York 1944; dt.: Die Idee des Nationalismus, Hei­ delberg 1950, S. 65. 5 F. Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat, München 1908; R. Wittram, Das Natio­ nale als europäisches Problem, Göttingen 1954. 6 C . J . H . Hayes, E ssays on Nationalism, New York 1926; dt.: Nationalismus, Leipzig 1929, S. 6. 7 E bd., S. 235. 8 Kohn, S. 37. 9 E bd.. S. 9. 10 E bd., S. 39. 11 B. C. Shafer, Nationalism: Interpreters and Interpretations, Washington 1963 2 . 12 E . Renan, Qu'est ce qu'une nation? Paris 1882; R. Johannet, Leprincipedes nationalités, Paris 1918. 13 L. L. Snyder, The Meaning of Nationalism, New Brunswick/N. Y. 1954. 14 H. O. Ziegler, Die moderne Nation, Tübingen 1931. 15 L. L. Snyder, The New Nationalism, Ithaca/N.Y. 1968. 16 Two Varieties of Nationalism, in: Proc. Ass. Hist. Teachers Middle States and Maryland, Bd. 26, 1928, S. 70ff. sowie C. J . H. Hayes: The Historical E volution of Modern Nationalism, N . Y . 1931; Repr. 1948. 17 L. Wirth, Types of Nationalism, in: AJS, Bd. 4 1 , 1935/36/6, S. 724ff. 18 K. Symmons-Symonolewicz, National Movements. An Attempt at a Comparative Typo­ logy, in: CSSH, Bd. 7, 1964/65/2, S. 227ff. 18a R. Johannet, Le principe des nationalités, Paris 1918. 19 F. Hertz, Wesen und Werden der Nation, in: Nation und Nationalität, Leipzig 1927, S. 1-88. 20 A. Borst, Der Turmbau zu Babel. Geschichte der Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker, 6 Bde., Stuttgart 1957-1963. 21 R. Wenskus, Stammesbildune und Verfassung, Köln 1961. 22 F. J . Neumann, Volk und Nation, Leipzig 1888, S. 74. 23 J . T. Delos, La Nation, Montreal 1944. 24 O. Pflanze, Nationalism in E urope 1848-1871, in: RoP, Bd. 28, 1966, S. 129-143. 25 E . Barker, National Character and the Factors in Its Formation, London 1927; L. Sturzo, Nationalism and Internationalism, New York 1946. 26 H. L. Koppelmann, Nation, Sprache und Nationalismus, Leiden 1956, S. 83. 27 Shafer, Nationalism, S. 13. 28 W. Sulzbach, Zur Definition und Psychologie von „Nation“ und Nationalbewußtsein, in: PVS, Bd. 3, 1962/2, S. 155. 386

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Anmerkungen zu Seite 29-37 29 E . Lemberg, Nationalismus, Bd. 1, Reinbek 1964, S. 20 (dazu die Rezension von H. Mommsen, E ine Theorie des Nationalismus, in: NPL, J e . 11, 1966/1, S. 72-76). 30 H . Kohnu. E . H. Carr, Nationalism and After, London 1945; R. E merson, L. L. Snyder, R. Bendix, Nation-Building and Citizenship, New York 1964, u . a . 31 Shafer, Nationalism, S. 249 ff.; Nationalism. A report by a study group of members of the Royal Institute of International Affairs, London 1939. Repr. London 1963, N. Y. 1966. 32 J . Fels, Begriff und Wesen der Nation, Münster 1927; M. Scheler, Schriften zur Soziologie und Weltanschauungslehre, Bd. 2: Nation und Weltanschauung, 1923; O. Spann, Zur Soziolo­ gie der Nation, in: Geisteswiss., 1, 1913/14, S. 127-130; W. Sulzbach, Nationales Gemein­ schaftsgefühl und wirtschaftl. Interesse, Leipzig 1929; Ziegler. 33 M. H. Boehm, Das eigenständige Volk, Göttingen 1932. 34 F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, Darmstadt 1963 (1887 1 ). 35 M. Weber, Gesammelte politische Schriften, Tübingen 1958 2 , S. 14. 36 W. J . Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik, Tübingen 1959, S. 58. 37 E . Mühlmann, Chiliasmus, Nativismus, Nationalismus, Stuttgart 1959. 38 W. L. Warner u. L. Srole, The Social Systems of American E thnic Groups, New Ha­ ven/Conn. 1945; E . Francis, E thnos und Demos, Soziolog. Beitr, zur Volkstheorie, Berlin 1965. 39 L. W. Doob, Patriotism and Nationalism, Their Psychological Foundations, New Ha­ ven/Conn. 1964, 40 W. L, Bühl, E volution und Revolution, München 1970, S. 39. 41 F. Oppenheimer, Der Staat, Frankfurt 1954 4 . 42 Kohn u. Carr, Nationalism. 43 K. Mannheim, Ideologie und Utopie, Frankfurt/M. 1952 3 . 44 E . Gellner (Hrsg.), Populism, Its Meanings and National Characteristics, London 1969. 45 J . Schumpeter, Zur Soziologie der Imperialismen, in: ASS, Bd. 46, 1918/19, S. 1-39, 275-310. 46 Vgl. W. Sulzbach, Imperialismus und Nationalbewußtsein, Frankfurt/M. 1959, S. 168. 47 D. Lerner, The Passing of Traditional Society: Modernizing the Middle East, Glencoe/Ill. 1958. 48 K. H. Silvert, Nationalism in Latin America, in: Ann. Americ. Acad. Polit. Soc. Sei. 334, 1961/3, S. 1-9. 49 Carr, S. 18ff. 50 W. Rostow (Hrsg.), The E conomics of Take-off into Sustained Growth Proceeding of a Conference held by Intenant. E conomic Association, London 1965. 51 T. Parsons, Structure and Process in Modern Societies, Glencoe/Ill. 1960, S. 172. 52 S. M. Lipset, The First New Nation, New York 1963. 53 R. Bendix. Nation-Building and Citizenship, N . Y . 1964. 54 S . N . E isenstadt, E ssays on Sociological Aspects of Political and Economic Development, New York 1964. 55 Lemberg, Nationalismus, Bd. 2, S. 65ff. 56 E bd., S. 105. 57 Vgl. L. B. Namier, Pathological Nationalism, in: Ders., In the Margin of History, Lon­ don 1939, S. 21-26. 58 Lemberg, Bd. 1, S. 244. 59 Doob, Patriotism. 60 Nation-Building, hg. v. K. W. Deutsch u. W. J . Foltz, New York 1966 2 , S. 10. 61 K. W. Deutsch, Nationalism and Its Alternatives, N . Y . l969;ders., Nationalism and So­ cial Communication, Cambridge 1966 2 . 62 E bd., S. 97.

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Anmerkungen zu Seite 40—48 63 S. Rokkan, Die vergleichende Analyse der Staaten- und Nationenbildung, Modelle und Methoden, in: Theorien des soz. Wandels, hg. v. W. Zapf, Köln 1969, S. 228-252. 64 G. A. Almond, The Civic Culture, Princeton 1963; L. W. Pye, Politics, Personality and Nation Buildings: Burma's Search for Identitv, New Haven/Conn. 1962. 65 M . Hroch, Die Vorkämpfer der Nationalen Bewegungen bei den kleinen Völkern E uro­ pas, Prag 1968. 66 Vgl. Th. Schieder, Idee und Gestalt des übernationalen Staates seit dem 19. Jh., in: HZ, Bd. 184, 1957, S. 340. 67 ME W, Bd. 3, S. 70. 68 E bd., S. 458. 69 E bd., Bd. 4, S. 466, 479. 70 E bd., Bd. 3, S. 73. 71 E b d . , S . 36. 72 E bd., Bd. 2, S. 611. 73 E bd., Bd. 3, S. 45. 74 E bd., Bd. 2, S. 614. 75 E bd., Bd. 4, S. 416. 76 E b d . , S . 479. 77 E b d . , S. 4 7 9 . 78 E b d . , S. 3 7 7 . 79 V g l . e b d . , B d . 3 , S. 5 3 7 . 80 E b d . , B d . 4 , S . 4 1 6 . 81 E b d . , S. 4 7 9 . 82 E b d . , S. 4 1 7 . 83 E b d . , B d . 3 5 , S. 2 7 1 . 84 E b d . , B d . 4, S. 4 7 9 . 85 E b d . , B d . 3 , S . 3 5 . 86 Vgl. R. Rodolsky, Friedrich E ngels und das Problem der „geschichtslosen“ Völker, in: AfS, Bd. 4, 1964, S. 173. 87 ME W, Bd. 4, S. 417. 88 E bd., Bd. 16, S. 158. 89 E bd., Bd. 14, S. 505. 90 E bd., Bd. 15, S. 99. 91 E bd., Bd. 35, S. 279f. 92 E bd., Bd. 6, S. 172. 93 E bd., S. 275. 94 Zit. nach H . U. Wehler, Sozialdemokratie und Nationalstaat. Die dt. Sozialdemokratie und die Nationalitätenfrage in Deutschland von Karl Marx bis zum Ausbruch des E rsten Welt­ krieges, Würzburg 1962, S. 32. 95 ME W, Bd. 28, S. 577. 96 Vgl. Rodolsky u. E ngels, S. 240. 97 ME W, Bd. 29, S. 88. 98 E bd., Bd. 6, S. 276. 99 Brief von Marx v. 23. 5. 1851, ebd., Bd. 27, S. 266. 100 Vgl. ebd., Bd. 8, S. 49ff. 101 E bd., Bd. 35, S. 270. 102 E bd., Bd. 3 1 , S. 229. 103 E bd. 104 Vgl. H . B. Davis, Nationalism and Socialism. Marxist and Labor Theories of National­ ism and 1917, New York 1967, S. 67. 105 L. H. Morgan, Ancient Society, 1877. 388

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Anmerkungen zu Seite 48-60 106 ME W, Bd. 35, S. 283. 107 E bd., Bd. 18, S. 633. 108 Zit. nach H . Mommsen, Die Sozialdemokratie und die Nationalitätenfrage im Habsbur­ gischen Vielvölkerstaat, Bd. 1, Wien 1963, S. 51. 109 B. Becker, Der Mißbrauch der Nationalitäten-Lehre, Wien 1867 (1969 2 ). 110 ME W, Bd. 33, S. 40. 111 W. Conze u. D . Groh, Die Arbeiterbewegung in der nat. Bewegung. Die deutsche So­ zialdemokratie vor, während und nach der Reichsgründung, Stuttgart 1966, S. 91. 112 K. Kautsky, Die moderne Nationalität, in: NZ, Bd. 5, 1887, S. 392. 113 E bd., S. 404. 114 E bd., S. 405. 115 E bd. 116 E bd., S. 451. 117 E bd. 118 K. Kautsky, Nationalität und Internationalität, in: NZ, Bd. 26, 1908, Erg.-H. 1,S. 1-36. 119 E . Bernstein, Die deutsche Sozialdemokratie und die türkischen Wirren, in: NZ, Bd. 15, 1896/97/1, S. 115. 120 Unveröffentlichter Nachlaß Kautsky, IISG Amsterdam, D IV 461 II SG. 121 E . Bernstein, Sozialdemokratische Völkerpolitik, Leipzig 1917, S. 79. 122 Zit. nach H. Heidegger, Die deutsche Sozialdemokratie und der nat, Staat 1870-1920, Göttingen 1956, S. 55. 123 K. Kautsky, Nationalität und Internationalität, 1908, S. 16. 124 H. Cunow, Marx und das Sclbstbestimmungsrccht der Nationen, in: NZ, Bd. 36, 1918/2, S. 577-584, 607-612; ders., Nationalgefühl und Klassenbewußtsein, in: NZ, Bd. 37, 1919/2, S. 435-441. 125 K. Renner u. R. Springer, Der Kampf der österreichischen Nation und der Staat, T. 1: Das nationale Problem als Verfassungs- und Verwaltungsfrage, Wien 1902 2 , S. 26f. 126 F. Naumann, Mitteleuropa, Berlin 1916. 127 In: Kampf, Bd. 11, 1918, S. 407. 128 O. Bauer, Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie, Wien 1907, 19242. 129 Unveröffentlichter Nachlaß Kautsky, D II 476 II SG. 130 O. Bauer, Nationalitätenfrage, S. 161. 131 E bd., S. 491. 132 E bd., S. 440. 133 E bd., S. 516. 134 E bd., S. 121, 123. 135 O. Bauer, Bemerkungen zur Nationalitätenfrage, in: NZ, Bd. 26, 1908/1, S. 794f. 136 Bauer, Nationalitätenfrage, 1907, S. 450. 137 Ders., Bemerkungen, 1908, S. 794. 138 Zur neueren Literatur vgl. K. W. Deutsch/R. L. Merrit, Nationalism and National De­ velopment. An Interdisciplinary Bibliography, Cambridge 1970. 139 Bauer, Nationalitätenfrage, 1907, S. 115. 140 E bd., S. 125. 141 E bd., S. 239. 142 E bd., S. 263. 143 Bauer, Bemerkungen, 1908, S. 798. 144 Ders., Nationalitätenfrage, 1907, S. 153. 145 H. Heller, Sozialismus und Nation, Berlin 1925, 1931 2 , S. 51. 146 G. Radbruch, Kultur ehre des Sozialismus, Frankfurt/M., 1970 4 . 147 Heller, S. 38.

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Anmerkungen zu Seite 61-68 2. Sozialismus und Nation 1 K. Kautsky, Patriotismus und Sozialdemokratie, Leipzig 1907, S. 15. 2 E ngels an Bernstein vom 22. 2. 1882, in: E. Bernstein (Hg.), Die Briefe von Friedrich E ngels an E duard Bernstein. Mit Briefen von Karl Kautsky an ebendenselben, Berlin 1925, S. 54ff. 3 Zit nach G. Haupt, Der Kongreß fand nicht statt. Die Sozialistische Internationale 1914, Wien 1967, S. 172. 4 Vgl. dazu den Aufsatz des Verf.: Die Sozialdemokratie in der Defensive, in: H. Mommsen (Hg.), Sozialdemokratie zwischen Klassenbewegung und Volkspartei, Frankfurt 1974, S. l30f. Zu den Möglichkeiten der II, Internationale vgl. neben der oben zitierten Untersuchung von G. Haupt dessen Buch: Programm und Wirklichkeit. Die internationale Sozialdemokratie vor 1914, Neuwied 1970. 5 Vgl. W. Conze u. D. Groh, Die Arbeiterbewegung in der nationalen Bewegung. Die deut­ sche Sozialdemokratie vor, während und nach der Reichsgründung, Stuttgart 1966, bes. S. 114ff.; R. P. Morgan, The German Social Democrats and the First International 1864-1872, Cambridge 1965, S. 128 ff. 6 Zu diesem Problem vgl. vor allem G. Roth, The Social Democrats in Imperial Germany, Towota (N. Y.) 1963, sowie H.-J. Steinberg, Sozialismus und deutsche Sozialdemokratie. Zur Ideologie der Partei vor dem 1. Weltkrieg, Hannover 1967. 7 Protokoll über die Verhandlungen des Parteitags der sozialdemokratischen Partei in Öster­ reich, Wien 1897, S. 83. 8 F. Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat, Berlin 19112 , vor allem S. l7ff. 9 M. Molnár, Art. Internationalismus, in: C. D. Kernig (Hg.), SDG, Bd. 3, Freiburg 1969,S. 276. 10 Vgl. den Artikel des Verf.: Nationalismus, Nationalitätenfrage, ebd., S. 660ff. 11 S. F. Bloom, The World of Nations. A Study of the National Implications in the Work of Karl Marx, New York 1941. 12 H. B. Davis, Nationalism and Socialism. Marxist and Labor Theories of Nationalism to 1917, New York 1967], S. 79ff. 13 Vgl. die Analyse von A. Martiny, Nationalismus, Nationalitätenfrage, in: SDG, Bd. 3, S. 669 f. 14 Vgl. R. Rosdolsky u. Friedrich E ngels und das Problem der „geschichtslosen“ Völker, in: AfS, Bd. 4, 1964, S. 106. 15 E bd., S. 2 4 4 ; H . - U . Wehler, Die deutsche Sozialdemokratie und die Nationalitätenfragen in Deutschland von Karl Marx bis zum Ausbruch des E rsten Weltkrieges, Göttingen 1971 2 , S. 31. 16 Marx an E ngels am 8. Oktober 1858, ME W, Bd. 29, S. 360. 17 Vgl. Rosdolsky, E ngels, S. 192 f. 18 Vgl. ME W, Bd. 3, S. 457f., 476f. 19 E bd., Bd. 4, S. 374f. 20 E bd., Bd. 3, S. 35. 21 E ngels an Marx am 23. Mai 1851, ME W, Bd. 27, S. 267. 22 E ngels an Bernstein am 22. 2. 1882, in: Bernstein, Briefe, S. 54. 23 ME W, Bd. 3, S. 70. 24 E bd., S, 26. 25 E bd., Bd. 1, S. 276. 26 E bd., S. 240. 27 E bd., Bd. 3, S. 411 f. 28 E bd., S. 60. 29 Vgl. ebd., S. 74. 30 E bd., Bd. 2 1 , S. 407.

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Anmerkungen zu Seite 68-75 31 E bd., Bd. 1, S. 552 sowie ebd., Bd. 2 1 , S. l49f. 32 E bd., Bd. 18, S. 609ff., 619. 33 Marx an Engels am 7. August 1866, ebd., Bd. 31, S. 248 f. sowie Engels an Marx am 5. Ok­ tober 1866, ebd., S. 259f., vgl. Davis, S. 73. 34 Vgl. etwa Marx an E ngels am 20. Juni 1866, ME W, Bd. 31, S. 228f. 35 E bd., Bd. 2, S. 612. 36 E bd., Bd. 4, S. 416. 37 E bd., Bd. 2, S. 611, 614. 38 E bd., Bd. 4, S. 479, 39 Vgl. E ngels, Grundsätze des Kommunismus, ebd., S. 377, 40 E bd., S. 479. 41 Vgl. H. Mommsen, Die Sozialdemokratie und die Nationalitätenfrage im habsburgischen Vielvölkerstaat, Wien 1963, S. 278; zur nationalstaatlichen Umdeutung vgl. etwa H. Cunow, Marx und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, in: NZ, Bd. 36/2, 1918. 42 Vgl. ME W, Bd. 3, S. 45f, 43 Vgl. Wehler, Sozialdemokratie, S. 37ff. 44 Vgl. Mommsen, Sozialdemokratie, S. 51. 45 Vgl. Molnár, S. 273; Davis, S. 62ff. 46 ME W, Bd. 35, S. 270; ebd., Bd. 4, S. 417 u. 588. 47 Marx an Ludwig Kugelmann am 29. November 1869, ebd., Bd. 32, S. 638f. 48 Vgl. Mommsen, Sozialdemokratie, S. l l 0 f . 49 Vgl. G. Haupt, Les marxistes face à la question nationale: Phistorie du problème, in: G. Haupt, M. Lowy u. C. Weill, Les marxistes et la question nationale 1848-1914. E tudes ettextes, Paris 1974, S. 31. 50 Vgl. R. Michels, Die deutsche Sozialdemokratie im internationalen Verband, in: ASS, Bd. 25, 1907, S. l62f., 222ff.; vgl. Wehler, Sozialdemokratie, S. 157. 51 NZ, Bd., 11/1, 1892/93, S. 830. 52 Brief Kautskys an Manfred Wittrich (dessen Artikel über die Brüder Grimm er ablehnte), o. D. (1897), IISG Nachlaß Kautsky C 760 sowie Höchberg an Kautsky am 20. Mai 1885, ebd., D XIII, 96. 53 NZ, Bd. 5, 1887, S. l77ff. Dr. Guido Lammer war ein der Sozialdemokratie nahestehen­ der Publizist, der 1884 eine Broschüre „Sind Kulturvölker noch Nationen“ in Wien herausge­ bracht hatte. Vgl. die Briefe Lammers an Kautsky vom 6. November, 13. Dezember 1886 und 23. Juni 1887 (IISG Nachlaß Kautsky, D XV, 199-202). In der „Neuen Zeit“ erscheint er als Guido Hammer. 54 E bd., S. 392ff. 55 E bd., S. 404f., 442f. 56 E bd., S. 450f. Kautsky griff hier auf Bemerkungen von Marx und E ngels zur irischen Frage zurück wie auf die Erfahrungen bei der Entwicklung der böhmischen Arbeiterbewegung. Vgl. R, Kautsky, Der Kampf der Nationalitäten und das Staatsrecht in Österreich, in: NZ, Bd. 16, 1897/98, S. 5l6ff. 57 E bd., S. 446. 58 E bd., S. 451; vgl. Mommsen, Nationalismus, S. 659f. 59 Zit. nach H. Heidegger, Die deutsche Sozialdemokratie und der nationale Staat 1817-1920, Göttingen 1 56, S. 66. 60 Die deutsche Sozialdemokratie und die türkischen Wirren, in: NZ, Bd. 15/1, 1897, S. 108 ff. 61 E bd., S. 114. 62 Brief Bernsteins an Kautsky vom 20. Februar 1898, IISG Nachlaß Kautsky, D II, 432. 63 Vgl. H. Mommsen, Sozialdemokratie, S. 306ff.

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Anmerkungen zu Seite 75-83 64 Vgl. die Briefe O. Bauers an Kautsky v. 26. Januar u. 15. Juni 1907, IISG, Nachlaß Kauts­ kys, D II, 472 u. 476. 65 Vgl. den Aufsatz des Verf.: O. Bauer, K. Renner u. die sozialdemokratische Nationalitä­ tenpolitik in Österreich von 1905 bis 1914, (in diesem Band) sowie ders., Nationalismus u. Na­ tionalitätenfrage, S. 665 (auch in diesem Band). 66 O. Bauer, Bemerkungen zur Nationalitätenfrage, in: NZ, Bd. 26/1, 1908, S. 792. 67 E bd., S. 798. 68 Vgl. H. Heller, Sozialismus und Nation, Berlin 1931 , S. 5 1 ; ähnlich Kautskys Kritik in: Nationalität und Internationalität, E rgänzungsheft I zur N 2 , 1908, S. 14 f. 69 Bauer, Bemerkungen zur Nationalitätenfrage, S. 198f., sowie Ders., Die Nationalitäten­ frage und die Sozialdemokratie, Wien 1907, S. 125 sowie S. 121, 123. 70 ME W, Bd. 3, S. 72f. 71 Bauer, Bemerkungen zur Nationalitätenfrage, S. 792 f. 72 Dies gilt insbesondere für K. W. Deutsch: Nationalism and Social Communication, Cam­ bridge (Mass.) 1953, s. Aufl. 1966. 73 Kautsky, Nationalität und Internationalität, S. 16. 74 Vgl. die verdienstvolle Analyse von A. Agnelli, Questione nazionale e socialismo. Contri­ buto allo studio del pensierodi K. Renner e O . Bauer, Bologna 1969; Y. Bourdet, Otto Bauer et Ia Revolution, Paris 1968; R. Ratkovic, Politicka teorija austromarksizma. Belgrad 1965; N. Le­ ser, Zwischen Reformismus und Bolschewismus. Der Austromarxismus als Theorie und Praxis. Wien 1968. Vgl. die brillante Zusammenfassung der Theorie Bauers durch Haupt, in: Haupt, Lowy u. Weill, Les marxistes, S. 45ff. 75 Vgl. die Schlußfolgerungen von M. Lowy, in: ebd., S. 390f.

3. Nationalitätenfrage und Arbeiterbewegung in Mittel- und Ostmitteleuropa 1 Vgl. ME W, Bd. 5, S. 333. 2 Vgl. W. Conze u. D, Groh, Die Arbeiterbewegung in der nationalen Bewegung. Die deut­ sche Sozialdemokratie vor, während und nach der Reichsgründung, Stuttgart 1966, S. 62 ff. 3 Vgl. R. Morgan, The German Social Democrats and the First International 1864-1872, Cambridge 1965, S. 25f., 68ff. Vgl. M. Molnár, Artikel Internationalismus, in: SDG, Bd. 3, Freiburg 1969, Sp. 276f. 4 Vgl. K. Rjasanoff, Karl Marx und Friedrich E ngels über die Polenfrage, in: GA, Bd. 6, 1916, S. 179. 5 Vgl. H.-U. Wehler, Sozialdemokratie und Nationalstaat. Die deutsche Sozialdemokratie und die Nationalitätenfragen in Deutschland von Karl Marx bis zum Ausbruch des Ersten Welt­ krieges, Würzburg 1962, S. 24 f. Victor Adlers Aufsätze, Reden und Briefe, H. 1, Wien 1922, S. 46. 6 ME W, Bd. 4, S. 417; vgl. S. 414. 7 Vgl. H. Mommsen, Die Sozialdemokratie und die Nationalitätenfrage im habsburgischen Vielvölkerstaat. L : Das Ringen um die supranationale Integration der zisleithanischen Arbeiter­ bewegung (1867-1907), Wien 1963, S. 122; v g l H. Wendel, Marxism and the Southern Slav Question, in: SIR, Bd. 2, 1923, S. 293; Wehler, S. 16; abweichend S. F. Bloom, The World of Nations. A Study of the National Implications in the Work of Karl Marx, New York 1941, S. 185f. 8 Zdenëk Solle, Internacionála a rakousko. I. International a pocátky sozialistického hnutí v zemích byvalé habsburké monarchic, Prag 1966; vgl. Ders., Die ersten Anhänger der Interna­ tionalen Arbeiter-Assoziation in Böhmen, in: Historica, Bd. 7, Prag 1963.

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Anmerkungen zu Seite 84-91 9 Vgl. A . Wandruszka, Österreichs politische Struktur, in: H. Benedikt (Hg.), Geschichte der Republik Österreich, München 1954, S. 294f.; Mommsen, Sozialdemokratie, S. 103ff. 10 Vgl. H. Steiner, Die Arbeiterbewegung Österreichs 1867-1889. Beiträge zu ihrer Ge­ schichte von der Gründung des Wiener Arbeiterbildungsvereins bis zum E inigungsparteitag in Hainfeld, Wien 1964. 11 Vgl. Mommsen, Sozialdemokratie, S. 66f. 12 Vgl. E . Lemberg, Nationalismus, Psychologie und Geschichte I, Hamburg 1964, S. l37f.; R. G. Plaschka, Von Palacky bis Pekaf, Geschichtswissenschaft und Nationalbewußtsein bei den Tschechen, Graz 1955; G. Stöckl, Osteuropa und die Deutschen, Oldenburg 1967, S. 62ff. 13 Vgl. Mommsen, Sozialdemokratie, S. 86f.; dazu 2 . Solle, Die Sozialdemokratie in der Habsburger Monarchie und die tschechische Frage, in: AfS, Bd. 6/7, 1966/67, S. 323ff. 14 ME W, Bd. 5, S. 473 u. 476. 15 K. Marx u. F. E ngels, Ausgew. Schriften, Berlin (Ost) 1955, Bd. 2, S. l9f. 16 Vgl. Th. G. Masaryk, Die Weitrevolution, dt. Ausgabe Berlin 1925, S. 5l6f.; Ders., Die philosophischen und sociologischen Grundlagen des Marxismus, Wien 1899, S. 437ff. Siehe auch oben Anm. 12. 17 O, Bauer, Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie, Wien 1907, S. 263 f., 270 ff.; vgl. Mommsen, Sozialdemokratie, S. 69ff. 18 Protokoll über die Verhandlungen des Parteitags der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Österreich, Wien 1897, S. 83. 19 J . Strasser, Der Arbeiter und die Nation, Reichenberg 1912, S. 48 f.- Kautsky, „Sind wir aber einmal so weit, daß die Masse der Bevölkerung unserer Kulturstaaten neben ihren nationa­ len Sprachen noch eine oder mehrere Weltsprachen beherrscht, dann ist auch die Grundlage ge­ geben zum allmählichen Zurücktreten und völligen Verschwinden zunächst der Sprachen klei­ nerer Nationen; zur schließlichen Zusammenfassung der gesamten Kulturmcnschheit in einer Sprache und einer Nationalität“ (Nationalität und Internationalität, in: NZ, Bd. 26, 1908, Erg.-H. 1, S. 17). 20 J . Kofalká, Severocesti socialiste. V cele dëlnického hnutí ceskych a rakouskych zemi, Li­ berec 1 9 6 3 . - D e r s . , Zur internationalen Rolle der E ntstehung der tschechischen Arbeiterbewe­ gung im alten Österreich, in: Ö O H , Wien 1965. 21 Vgl. Solle, Sozialdemokratie, S. 326f.; J . Havránek, K ideovym kofenum bfevnovs­ kéhoprogramuz r. 1878, Aufzeichnungen der Lehrstelleder tschechoslowakischen Geschichte, 3. Jg., Nr. 1-2. 22 Vgl. Steiner, S. 150f.; Mommsen, Sozialdemokratie, S. 93f. 23 F. Jordan, Problémy rozkolu délnického hnutí v ceskych zemich na umirnëné a radikály (1879-1889), Prag 1965. Vgl. Z. Solle, Pfispévek k dejinám dëlnického hnutí v Cechách v letech 1878-1882, Prag 1960. 24 Adler, Aufsätze Bd. 6, S. 203 f.; vgl. Bd. 8, S. 239f., ferner Mommsen, Sozialdemokra­ tie, S. l57ff. 25 Steiner, S. 223ff. 26 Vgl. Solle, Sozialdemokratie, S. 333 u. 338; dazu Mommsen, Sozialdemokratie, S. 152 f. 27 Vgl. die abwägende Beurteilung bei Z. Solle, Die tschechische Sozialdemokratie zwischen Nationalismus und Internationalismus, in: AfS, Bd. 9, 1969, S. 197. 28 Brief O. Bauers an K. Kautsky v. 1 1 . 2 . 1911 (IISG Nachl. Kautsky D II, 485). 29 Vgl. Mommsen, Sozialdemokratie, S. 208 f. 30 Strasser, S. 48f. 31 Aufzeichnung Lenins vom 31. 12. 1922, in: W, I. Lenin: Über die nationale und die natio­ nale koloniale Frage, Berlin (Ost) 1960, S. 657; vgl. den aufschlußreichen Brief Lenins an A. M. Gorki vom Februar 1913, ebd., S. 84. 32 Vgl. im einzelnen die Darstellung bei Mommsen, Sozialdemokratie, S. 403 ff.

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Anmerkungen zu Seite 92-100 33 A. Fuchs, Geistige Strömungen in Österreich 1867-1918, Wien 1949, S. 11 f. 34 Dazu die demnächst erscheinende Untersuchung von J . Kofalka über die Deutsche Natio­ nalbewegung im Wilhelminischen Reich und die böhmische Frage. 35 Vgl. H. Mommsen, Die Pervertierung des Nationalstaatsgedankens durch den National­ sozialismus, in: Reichsidee und Nationalstaatsgedanke, Schriften der Burschenschaftlichen Gemeinschaft, 1, 1963, S. 34f. 36 Vgl. K. Kautsky, Die moderne Nationalität, in: NZ, Bd. 5, 1887, S. 450f. 37 Für den Zusammenhang zwischen Nationalismus und industrieller Revolution erbringt die Studie von Miroslav Hroch: Die Vorkämpfer der nationalen Bewegung bei den kleinen Völ­ kern E uropas, Prag 1968, insbes. S. l60f. Hinweise einer statistisch erfaßbaren Korrelation. 38 Adler, Aufsätze, Bd. 1, S. 47; Engels an Bernstein vom 22.-25. 2. 1882, MEW, Bd. 35, S. 283. 39 Vgl. Solle, Die tschechische Sozialdemokratie zwischen Nationalismus und Internationa­ lismus, S. 191 f., l94f. 40 Vgl. Wehler, S. 122f., 147ff., 162ff.; bemerkenswert ist die Stellungnahme V. Adlers in einem Schreiben an K. Kreibich vom 21. 10. 1913 (abgedruckt bei Solle, Sozialdemokratie, S. 255, er würde „auch der deutschen Partei wegen ihrer Kurzsichtigkeit und ihrem Mangel an An­ passungsfähigkeit ernste Vorwürfe machen“). 41 Strasser, S. 8 ff. 42 Adler, Aufsätze, Bd. 1, S. 5. 43 Vgl, O. Bauer in der E inleitung zu V. Adler, Aufsätze, Reden, Briefe, Bd. 6, S. XXXI: „Adler hat den Kampf um die Demokratie in dem Glauben geführt, die Demokratie könne das alte Österreich umgestalten, modernisieren, in Wirklichkeit mußte sie es sprengen.“ Zu den Auswirkungen der Wahlrechtsbewegung vgl. Mommsen, Sozialdemokratie, S. 362ff. 44 Adler, Aufsätze, Bd. 8, S. 135. 45 Brief R. Hilferdings an K. Kautsky vom 14. 11. 1905 (IISG Nachl. Kautsky D XII, 579). 46 Strasser, S. 9f. 47 Zum folgenden vgl. Mommsen, Sozialdemokratie, S. 314 ff. 48 K. Kautsky, E in sozialdemokratisches Nationalitätenprogramm, in: NZ, Bd. 16/1, 1898, S. 518. 49 Protokoll des Gesamtparteitags der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Österreich in Wien 1901, S. 75f. 50 Vgl. K. Renner, Nationale Minoritätsgemeinden, in: Der Kampf, III, 1910, S. 356ff.; O, Bauer, Die Steuerkraft der Nationen, ebd., II, 1908/09, S. 446ff.; Karel Kramaf, Anmerkungen zur böhmischen Politik, Wien 1906, S. 121 ff. 51 Protokoll des Parteitags der deutschen sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Österreich in Innsbruck 1911, S. 268. 52 Das neue Österreich. E ine politische Rundfrage, veranstaltet von C. Danzer, Wien 1908, S. 1. 53 K. Renner, Was ist die Nationale Autonomie? Was ist soziale Verwaltung. E inführung in die Nationale Frage und E rläuterung der Grundsätze des nationalen Programms der Sozialde­ mokratie, Wien 1913. 54 Adler, Aufsätze, Bd. 8, S. 103f. 55 O. Bauer an K. Kautsky vom 1 1 . 2 . 1911 (IISG Nachl. Kautsky D II, 485). 56 Strasser, S. 59f. 57 F. Adler an K. Kautsky vom 15. 8. 1911 (IISG Nachl. Kautsky D I, 110). 58 O. Bauer an Kautsky vom 8. 2. 1911 (ebd., D II, 491). 59 O. Bauer an Kautsky vom 25. 9. 1913 (ebd., D II, 498). 60 Vgl. H. Herkner, Die Stellung der Sozialdemokratie zur wirtschaftlichen Annäherung Deutschlands urífl Österreich-Ungarns, in: ÖR, Bd. 47, H . 3 , 1916, S. 121 ff.; vgl. Renners Ver­ teidigung des Naumannschen Mitteleuropabuchs. „Wirklichkeit oder Wahnidee? E ine Polemik

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Anmerkungen zu Seite 100-108 als Abschluß“ vom 1. Januar 1916, in: K. Renner: Österreichs E rneuerung. Politisch-program­ matische Aufsätze, Bd. 1, Wien 1916, S. 145ff. 61 Dazu der demnächst zu erwartende Darstellungsband zu der Quellenedition von R. Neck: Arbeiterschaft und Staat im E rsten Weltkrieg 1914-1918, Bde. 1 u. 2, Wien 1964 u. 1968. 62 Vgl. dazu die Studie von L. Valiani, Die internationale Lage Österreich-Ungarns 1900 bis 1918, in: Österreich-Ungarn in der Weltpolitik, hg. von F. Klein, Berlin (Ost) 1965, S. 54ff. 63 Adler, Aufsätze, Bd. 8, S. 377.

4. Friedrich E ngels und die politische und nationale Taktik der Sozialdemokratie in Österreich 1 V. Adler, Aufsätze, Reden, Briefe, Wien 1922, Bd. 1, Brief an E ngels v. 21. 1. 1890; Gedenkrede von 1905, ebd., S. 173. 2 E ngels an Bebel v. 22. Dez. 1882, A. Bebeis Briefwechsel mit Friedrich E ngels, hg. v. W. Blumenberg, 1965, S. 143. 3 Vgl. H. Mommsen, Die Sozialdemokratie und die Nationalitätenfrage im Habsburgischen Vielvölkerstaat, Wien 1963, S. l20ff., u. H . - U . Wehler, Sozialdemokratie und Nationalstaat. Die deutsche Sozialdemokratie und die Nationalitätenfragen in Deutschland von Karl Marx bis zum Ausbruch des E rsten Weltkriegs, Würzburg 1962, S. 16. 4 F. E ngels* Briefwechsel mit Kautsky, hg. v. B. Kautsky, Wien 1955, S. 17. 5 Vol. H. Steiner, Die Arbeiterbewegung Österreichs 1867-89, Wien 1964, S. 207. 6 Brief v. 17. 10. 82. Briefwechsel E ngels' mit Kautsky, S. 223. 7 Vgl. Adler an E ngels vom 25. 8. 1892, Adler, Aufsätze, Bd. 1, S. 43. 8 Adler, Aufsätze, Bd. 1, S. 9. 9 E ngels an Bebel v. 9. 5. 1890, Briefwechsel Bebel-E ngels, S. 391. 10 Adler, Aufsätze, Bd. 1, S. 26 u. 38. 11 E bd., S. 33 u. 34f. (Brief v. 19. August 1892). 12 E bd., S. 74f. 13 E bd., S. 78ff. 14 Brief Adlers an E ngels v. 25. 8. 1892, ebd., S. 43. 15 Vgl. ebd., S. 44f. 16 E bd., S. 45. 17 E ngels an Bebel am 18. (-21.) Oktober 1893, Briefwechsel Bebel-E ngels, S. 722; vgl. E n­ gels' Briefwechsel mit Kautsky, S. 391. 18 E ngels an Adler v. 11. Oktober 1893, Adler, Aufsätze, Bd. 1, S. 81. 19 Briefwechsel mit Kautsky, S. 384. 20 Brief an Kautsky vom 3. 11. 1893, ebd., S. 391. 21 Brief an Bebel v. 18. (-21.) 10. 1893, siehe Anm. 17. 22 Vgl. H . Mommsen, Arbeiterbewegung, in: SDG, Bd. 1, 1966, Sp. 302f. 23 Brief Adlers an E ngels v. 26. 11. 1893, Aufsätze, Bd. 1, S. 86; E ngels an Adler v. 17. Juli 1894, ebd., S. 103. 24 Brief an Bernstein vom 27. 8. 1883, ME W, Bd. 36, S. 55. 25 Vgl. Brief an Adler vom 10. 11. 1893, Adler, Aufsätze, Bd. 1, S. 83. 26 Brief an Kautsky vom 3. 11. 93, Briefwechsel mit Kautsky, ebd., S. 391 f., vgl. H. Momm­ sen, Sozialdemokratie, S. 175ff. 27 Brief an Adler vom 11. 1. 94, Adler, Aufsätze, Bd. 1, S. 88 f. 28 Brief an Kautsky vom 4. 12. 93, S. 397. Vgl. Adler, Aufsätze, Bd. 1, S. 82. 29 Bebel an Adler vom 1 1 . 3 . 1894, Briefwechsel Adler, S. 140. 30 Brief an Adler vom 11. 10. 1893, Adler, Aufsätze, Bd. 1, S. 81.

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Anmerkungen zu Seite 109-112 5. Nationalismus und nationale Frage im Denken Eduard Bernsteins 1 Vgl. B. Gustafsson, Marxismus u. Revisionismus. E . Bernsteins Kritik des Marxismus u. ihre ideengeschichtlichen Voraussetzungen, Frankfurt 1972, T. 1, S. 115f.; E . Bernstein, E nt­ wicklungsgang eines Sozialisten, Leipzig 1930, S. 29. Ich glaube nicht, daß der Versuch von T. Meyer, Bernsteins konstruktiver Sozialismus. Eduard Bernsteins Beitrag zur Theorie des Sozia­ Iismus, Bonn 1977, ein geschlossenes theoretisches System des sozialdemokratischen Publizi­ sten zu entwerfen, als gelungen bezeichnet werden kann. E ine neuere, modische Verzerrungen zurückweisende E inordnung Bernsteins in die verschiedenen Stufen und Phasen der Marx-Revi­ sion findet sich bei H. Grebing, Der Revisionismus. Von Bernstein bis zum „Prager Frühling“, München 1977. 2 Vgl. P. Gay, Das Dilemma des demokratischen Sozialismus. E . Bernsteins Auseinanderset­ zung mitMarx, Nürnberg l 9 5 4 ; C . Gneuss,Umden E inklang von Theorie und Praxis. E . Bern­ stein und der Revisionismus, in: MS, 2. F., Tübingen 1957, S. 198-226. P. Angel, E . Bernsteinet revolution du socialisme allemand, Paris 1961, S. 91 ff. u. 107ff., bringt eine Reihe wichtiger Feststellungen, jedoch keine systematische Analyse; vgl. auch T. Meyer, Bernsteins Sozialis­ mus, S. 236 ff. 3 Vgl. den Artikel des Verf., Nationalismus, Nationalitätenfrage, in: Marxismus im System­ vergleich, Geschichte 3, Frankfurt 1974, S. l35ff. (auch in diesem Band); G. Haupt u.a., Les marxisteset la question nationale 1848-1914, Paris 1974, S. 208ff., 230ff. ;A. Agnelli, Questione nazionale e socialisme, Bologna 1969; H. Mommsen, O. Bauer, K. Renner u. die sozialdemo­ kratische Nationalitätenpolitik in Österreich von 1906-1914, in: SE E SH, Bd. 1, 1977, S. 6ff. (auch in diesem Band); vgl. H. J . Steinberg, Sozialismus, Internationalismus und Rcichsgrün­ dung, in: T. Schieder/E . Dcuerlein (Hg.), Reichsgründung 1870/71, Stuttgart 1970, S. 331ff. 4 Vgl. Haupt u.a., S. 1 12f.; Mommsen, Nationalismus, S. l30ff. 5 Vgl. H. Mommsen, Sozialismus u. Nation. Zur Beurteilung des Nationalismus in der mar­ xistischen Theorie, in: U. E ngelhardt u.a., Soziale Bewegung u. politische Verfassung, Fest­ schrift W. Conze, Stuttgart 1976, S. 662 ff. (auch in diesem Band). 6 Vgl. H . - U . Wehler, Sozialdemokratie und Nationalstaat. Die deutsche Sozialdemokratie u. die Nationalitätenfragen in Deutschland von Karl Marx bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrie­ ges, Würzburg 1962, S. 41 ff. Göttingen 1971 2 ; W. Conze u, D. Groh, Die Arbeiterbewegung in der nationalen Bewegung. Die deutsche Sozialdemokratie vor, während u. nach der Reichs­ gründung, Stuttgart 1966, S. 44 ff. 7 Für das Verhältnis zur IAA vgl. R. Morgan, The German Social Democrats and the First In­ ternational, Cambridge 1965, S. 229ff. 8 Vgl. E . Bernstein, E ntwicklungsgang eines Sozialisten, Leipzig 1930, S. 8 ff. 9 Vgl. H. Heidegger, Die deutsche Sozialdemokratie u. der nationale Staat, 1870-1920, Göt­ tinnen 1954, S. 166. 10 Vgl. Aneel, Bernstein, S. 24ff. 11 Höchberg beklagte sich 1884 gegenüber Kautsky über die „Übertreibung des internationa­ len Gedankens, der nach Lassalles Tod die Sozialdemokratie ergriffen hat“, Schreiben an Kautsky v. 20. Mai 1885, in: IISG, Nachlaß Kautsky D XIII, 96. 12 Nationalu. international, in:SocialdemokratNr. 38 v. 18. 9. 1885. 13 Bernstein an E ngels v. 17. 2. 1882, E . Bernsteins Briefwechsel mit F. E ngels, hg. v. H. Hirsch, Assen 1970, S. 76ff. 14 Vgl. H. Mommsen, Die Sozialdemokratie u. die Nationalitätenfrage im habsburgischen Vielvölkerstaat, Wien 1963, S. 70ff. 15 Brief E ngels' an Bernstein v. 22./25. Februar 1882, Briefwechsel mit E ngels, ebd., S. 80. 16 E bd., S. 81; vgl. S. 83: „Ich bin autoritär genug, die Existenz solcher Naturvölkchen in Eu­ ropa für einen Anachronismus zu h a l t e n . . . Und wenn aus dem Aufstand dieser Burschen ein 396

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Anmerkungen zu Seite 112-114 Weltkrieg zu entbrennen droht, der unsre ganze revolutionäre Situation verdirbt, so müssen sie und ihr Recht auf Viehraub den Interessen des europäischen Proletariats ohne Gnade geopfert werden.“ Vgl. R. Rodolsky, F. E ngels u. das Problem der „Geschichtslosen Völker“, in: AfS, Bd. 4, 1964, S. 87-282; Mommsen, Sozialismus u. Nation, S. 664ff. 17 Brief v. 27. April 1882, ebd., S. 91. 18 Brief v. 17. 9. 1886, ebd., S. 340. 19 Vgl. E . Bernstein, Paris u. Mainz, in: SM, Bd. 4, 1900, S. 718: „Als Schreiber dieses im Jahre 1882 sich für die nationalistische Bewegung Arabi Paschas begeisterte, warnte ihn Fried­ rich E ngels, nicht auf das Glatteis romantischer Gefühlspolitiker zu gehen und die Brandmar­ kung der von englischer Seite verübten Brutalitäten nicht bis zur Solidarisierung mit der anderen Seite zu treiben.“ Vgl. F. Hertneck, Die deutsche Sozialdemokratie u. die orientalische Frage im Zeitalter Bismarcks, Berlin 1927, S. 25f. 20 E . Bernstein, Kreta u. die russische Gefahr, N Z , II, 1896/97, S. 14 u. 19. Wie stark hier kulturell-ethische Sympathien mitschwangen, belegt Bernsteins Äußerung von 1897 (Der Sieg der Türkei u. die Sozialdemokratie, ebd., S. 261): „Der Sieg der Türken über die Griechen ist, von allen Umständen abgesehen, schon darum eine bedauerliche Tatsache, weil er der Sieg eines tiefer stehenden über ein höher stehendes Volk ist, der Sieg einer stationären, wenn nicht reak­ tionären Macht über eine progressive Nation.“ 21 Vgl. E ngels an Bernstein v. 26. Juni 1882, Briefwechsel mit Engels, S. 103ff.; Bernstein ur­ teilte stärker emotional. Vgl. seinen Brief an E ngels v. 7. 7. 1882, ebd., S. 109. 22 Vgl. den späteren Brief Bernsteins an Kautskyv. 17. 7. 1896, in: IISG Nachlaß Kautsky, D XIII, 376. 23 Brief Bernsteins an E ngels v. 14. 11. 1881, Briefwechsel mit E ngels, S. 58; vgl. dazu die Briefe von Kautsky an Engels v. 8. 11. 1881 u. Engels an Kautskyv. 7. 2. 1882, auf den ersieh ge­ genüber Bernstein ausdrücklich bezog, in: F. E ngels* Briefwechsel mit K. Kautsky, hg. v. B. Kautsky, Wien 1955, S. 46ff. u. 54 ff. 24 Vgl. Wehler, Sozialdemokratie u. Nationalstaat, S. 126ff. 25 E ngels an Kautsky am 7. 2. 1882, in: Briefwechsel E ngels-Kautsky, S. 51; vgl. Briefwech­ sel E ngels-Bernstein, Brief E ngels v. 30. 11. 1881, S. 62 u. 73. 26 Bernstein, Die deutsche Sozialdemokratie u. die türkischen Wirren, in: NZ, Bd. 15, 1896/97, S. 110f. 27 Vgl. H. Mommsen, Nationalitätenfrage u. Arbeiterbewegung, in: H. Pelger (Hg.), Stu­ dien zu Jakobinismus u. Sozialismus, Bonn 1974, S. 226ff. (auch in diesem Band). 28 E . Bernstein, Probleme des Sozialismus, in: NZ, Bd. 15, 1896/97, I, S. 165. 29 Die deutsche Sozialdemokratie und die türkischen Wirren, S. 110. 30 Vgl. H. Mommsen, Nationalstaat, in: Marxismus im Systemvergleich, Geschichte 3, S. 2O7ff. 31 Vgl. Mommsen, Sozialismus u. Nation, S. 659, u. ME W, Bd. 3, S. 35. 32 S.o. Anm. 29; vgl. zur Kolonialpolitik Angel, S. 356ff. 33 Vgl. Wehler, Sozialdemokratie u. Nationalstaat, S. 3Off. 34 E . Bernstein, Wie Fichte u. Lassalle national waren, in: Archiv f. d. Geschichte d. Sozia­ lismus u. d. Arbeiterbewegung 5, 1915, S. 158; Brief Lassalles an Rodbertus vom 8. Mai 1863. Bernstein zitierte aus Lassalles „Italienischem Krieg“, wo das Nationalitätenprinzip und das Recht auf eigene geschichtliche Entwicklung daran geknüpft war, „daß ein in eigener Weise sich entwickelnder und mit dem Culturprocess des Ganzen schritthaltender Volksgeist da sei. Ande­ rerseits wird die Eroberung ein R e c h t . . . Die Probe für dieses Recht ist bei der Eroberung eines Volkes verschiedener Rasse mehr das Aussterben, bei der E roberung eines Volkes derselben Rasse mehr die Assimilierung derselben, die Hinüberhebung in den eigenen und höheren Cul­ tttrgeist. Mit diesem Recht hat die angelsächsische Rasse America, Frankreich, Algier, E ngland, Indien, die Völker deutscher Abkunft von denen slavischer Zunge ihren Boden erobert“, in: SM 4, 1900, S. 711.

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Anmerkungen zu Seite 115-120 35 Socialdemokratie und Imperialismus, ebd., 1900, S. 245ff., 251. 36 Vgl. e b d . , S . 249; Der Socialismus u. die Colonialfrage, ebd., 4, 1900, S. 551 f.; vgl. Der südafrikanische Krieg u. die Socialdemokratie, ebd., 5, 1901, S. 107. 37 Socialismus u. Colonialfrage, S. 552f. 38 E bd., S. 549 u. 562. 39 Paris u. Mainz, in: E bd., 4, 1900, S. 7 l l f . ; Die Kolonialfrage u. der Klassenkampf, in: Ebd., 1907, II, S. 993; Kulturveredelungstheorie, in: E bd., 1910, I, S. 105. 1907 (S. 989) fällt auch die recht entlarvende Formulierung eines „Kampfes ums Dasein der Kulturen“. 40 Socialismus u. Colonialfrage, S. 551; Voraussetzungen des Sozialismus, S. 211. 41 Socialismus u. Colonialfrage, S. 553. 42 Vgl. Mommsen, Sozialismus u. Nation, S. 668 f. 43 E inige Klippen der Internationalität, in: SM 5, 1901, I, S. 255. 44 Die deutsche Sozialdemokratie und die türkischen Wirren, S. 111; ähnlich in E . Bernstein, Die internationale Politik der Sozialdemokratie, in: SM 13, 1909, II, S. 164: „Das Wort, Der Ar­ beiterhat kein Vaterland' ist eine von der geschichtlichen E ntwicklung zum alten E isen gewor­ fene, gegenstandslos gewordene Phrase.“ 45 Vgl. E . Bernstein, Sozialdemokratische Völkerpolitik, Leipzig 1917, S. 79; ders., Die In­ ternationale der Arbeiterklasse u. der europäische Krieg, Tübingen 1915, S. 23 f. 46 Vgl. E ngels' Briefe an Bebel v. 25. 8. 1881 u. 22. 6. 1885, in: F. E ngels, Briefe an Bebel, Berlin 1958, S. 58 u. 110. 47 Vgl. dazu die E inleitung von H. Hirsch in: Ders. (Hg.), E . Bernsteins Briefwechsel mit F. Engels, S. XIII. 48 Die deutsche Sozialdemokratie u. die türkischen Wirren, S. l09ff. 49 Briefwechsel Bernstein-E ngels, Brief E ngels v. 22. 2. 1882, S. 84f. 50 1886 hatte Bernstein, als Adler ihn in Zürich aufsuchte, lebhafte Differenzen über die Hal­ tung der Partei zur Nationalitätenfrage (vgl. Brief Bernsteins an Kautsky v. 24. 10. 1886, in: IISG, Nachlaß Kautsky DIV, 73), Adlers Taktik in der Badenikrise beurteilte er äußerst kritisch (Brief an Kautsky vom 23. 12. 1897, ebd., 427). Vgl. den Brief Victor Adlers an Bernstein v. 13. 3. 1899, in: Briefwechsel Adler, S. 297. 51 Vgl. Brief Bernsteins an Adler v. 3. 3. 1899, ebd., S. 287ff. 52 Brief Bernsteins an Kautsky v. 20. 2. 1898, in: IISG Nachlaß Kautsky D IV, 432, 53 Brief Bernsteins an Bebel v. 20. 10. 1898, in: Briefwechsel Adler, S. 259. 54 Brief Bernsteins an Kautsky v. 28. 2. 1898, in: IISG, Nachlaß Kautsky D IV, 434. 55 Bernstein an Kautsky am 20. 2. 1898, ebd., 432. 56 Brief Bernsteins an Kautsky v. 10. 10. 1898, ebd., 461. 57 E bd. 58 Vgl. Mommsen, Sozialdemokratie u. Nationalitätenfrage, S. 299ff. 59 Bernstein an Kautsky v. 10. 10. 1898, in: IISG, Nachlaß Kautsky D IV, 461. 60 Die internationale Politik der Sozialdemokratie, S. 623; es ist nicht überzeugend, wenn Angel, Bernstein, S. 360, argumentiert, dieser habe vorübergehend mit der Idee des „Drangs nach Osten“ gespielt; vgl. NZ, 1893/94, II, S. 633. 61 Berlin 1902. Vgl. vor allem S. 40ff. 62 Die internationale Politik der Sozialdemokratie, S. 624. Vgl. Angel, Bernstein, S. 354 f. 63 E . Bernstein, Die englische Gefahr und das deutsche Volk, Berlin 1911. Siehe vor allem S. 42 ff. 64 Sozialdemokratische Völkerpolitik, S. 97; Die englische Gefahr u. das deutsche Volk, S. 48. 65 E . Bernstein, Vom geschichtlichen Recht der kleinen Staaten, in: Sozialistische Völkerpolitik, S. 113. 66 E b d . , S . 117. 67 Wie Fichte und Lassalle national waren, S. 156, l45ff.; vgl. Angel, Bernstein, S. 356. 398

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Anmerkungen zu Seite 120-123 68 Vgl. das Vorwort von E . Bernstein, F. Lassalle u, seine Bedeutung für die Arbeiterklasse, Berlin 1919 2 ; ders., F. Lassalle. E ine Würdigung des Lehrers u. Kämpfers, Berlin 1919, S. 76. 69 Vgl. den Artikel des Verf., Lassalle, in: SDG, Bd. 3, Freiburg 1969, Sp. l367f. (auch in diesem Band). 70 Besprechung durch Bernstein, in: Dokumente des Sozialismus, 5, 1905, S. 390. Charakter und Funktion des Vaterlandes hätten sich geändert, aber die Sache nicht beseitigt: „So sehr der internationale Verkehr der Völker sich hebt, so ist doch noch gar keine Zeit abzusehen, wo sie so durcheinandergewürfelt sein werden, daß sie aufhören werden, sich in Nationalitäten zu grup­ pieren, und die zunehmenden internationalen Aufgaben bedürfen zu ihrer Ausführung der Na­ tionalitäten.“ 71 Vgl. K. Kautsky, Der Kampf der Nationalitäten u. das Staatsrecht in Österreich, in: NZ, Bd. 16, 1897/98, S. 5l6ff.; ders., Patriotismus u. Sozialdemokratie, Leipzig 1907, etwa S. 13ff.; vgl. Mommsen, Nationalismus, Nationalitätenfrage, S. 131 f. 72 E . Bernstein, Patriotismus u. Klassenkampf, in: Sozialdemokratische Völkerpolitik, S. 136; zu Bauer vgl. Mommsen, O. Bauer, S. l3f. 73 Die internationale Politik der Sozialdemokratie, S. 614 ff. 74 E bd., S. 616. 75 E . Bernstein, Patriotismus, Militarismus u. Sozialdemokratie, in: SM, 1907, I, S. 437f.; ders., Völkerpolitik u. Staatenpolitik, in: Sozialdemokratische Völkerpolitik, S. 58ff.; Völker­ bund oder Staatenbund, Berlin 1919, S. 22ff.; Völkerrecht u. Völkerpolitik, Berlin 1919, S. 178 ff. 76 Bernstein, Lassalle, S. l67f. 77 Völkerbund oder Staatenbund, S. 23. 78 E bd., S. 27. 79 E . Bernstein, Der Revisionismus in der Sozialdemokratie, Amsterdam 1909, S, 42-48; wieder abgedruckt bei Meyer, Bernstein, S. 4OOff. 80 E . Matthias u. E . Pikart, Die Reichstagsfraktion der deutschen Sozialdemokratie, Düssel­ dorf 1966, Bd. 2, S. 62. - In der elsaß-lothringischen Frage knüpfte Bernstein an die Auffassun­ gen von E ngels an. 1891 hatte er das Bestreben der Franzosen, die Provinz zurückzuverlangen, als „natürlich und demokratisch“ bezeichnet (in: NZ, 1890-91, II, S. 760); er rechtfertigte auch später diejenigen, die 1871 sich gegen die gewaltsame Annexion ausgesprochen hatten (in: NZ, 1892-93, II, S. 297). Zu Beginn des Ersten Weltkrieges nahm er in einem Artikel über „F. E ngels und die deutsch-französische Frage“ (in: NZ, 1914-15, I, S. 7l0ff.) dahingehend Stellung, daß den Franzosen das Verlangen nach dem nationalen Selbstbestimmungsrecht für E lsaß-Lothrin­ gen nicht verweigert werden könne. Allerdings sei eine Lösung unter den Bedingungen des Krie­ ges ausgeschlossen. „Völkerfragen“ seien nicht durch Gewalt zu lösen. 81 Vgl. Irland eine Lehre, in: NZ, 1915-16, II, S. 166. 82 Matthias u. Pikart, S. 27f. 83 NZ, Bd. 35, 1917, I, S. 4 l l f f . u. 418. 84 E . Bernstein, Geburtenrückgang, Nationalität u, Kultur, in: SM 19,1913, S. 1497; der Ar­ tikel richtete sich gegen L. Quessel, Die Ökonomie des Gebärstreiks, in: E b d . , S . l3l9ff. Bern­ stein lehnte aus dem gleichen Zusammenhang heraus die zionistische Bewegung ab, in der er nur die „Teilerscheinung der großen Welle nationalistischer Reaktion“ erblickte, „die sich über die bürgerliche Welt ergossen hat und auch Eingang in die sozialistische Welt sucht'' (Der Schulstreit in Palästina, in: NZ, 1913-14, I, S. 744). 85 Patriotismus, Militarismus u. Sozialdemokratie, S. 437ff. 86 Vgl. E inige Klippen der Internationalität, in: SM, 1901,1, S. 252f.; Probleme des Sozia­ lismus, in: NZ, 1896/97, II, S. 104. 87 Der Staat u. die Staatsnotwendigkeit, in: NZ, Bd. 35, S. 917, II, S. 272. 88 E bd. 89 Zur relativen Unabhängigkeit des nationalen Faktors vgl. Voraussetzungen des Sozialis-

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Anmerkungen zu Seite 123-134 mus, S. 37f.: „Wo so große Massen in Frage kommen wie die modernen Nationen mit ihrer aus jahrtausendelanger Entwicklung herausgewachsenen Lebensgewohnheiten, ist selbst von größe­ ren Eigentumsumwälzungen eine rasche Wandlung der Menschenarten um so weniger zu erwar­ ten, als die Wirtschafts- und E igentumsverhältnisse nur einen Teil der sozialen Umgebung aus­ machen.“ E inige Klippen der Internationalität, in: SM, 1901, I, S. 253 u. 255: „Der Proletarier der Theorie ist der lediglich mit den Attributen der Classe ausgestattete Arbeiter, der wirkliche Arbeiter hat neben ihnen auch die der Nationalität, die Reflexe der nationalen Geschichte und Einrichtungen.“ 90 Vgl. H. Heller: Sozialismus u. Nation, Berlin 19132 S. 51 ; O . Bauer, Die Nationalitäten­ frage u. die Sozialdemokratie, Wien 1907, S. 125. 91 Geburtenrückgang, Nationalität u. Kultur, S. l497f.

6. Zur Beurteilung der altösterreichischen Nationalitätenfrage 1 Vgl. W. Conze, Die Strukturkrise des östlichen Mitteleuropas vor und nach 1919, in: VfZ, Jg. 1, 1953, S. 319-338. 2 O. Jaszi, The Dissolution of the Habsburg Monarchy, Chicago 1929, 1961; J . Redlich, Das österreichische Staats- und Reichsproblem, I, 1. 2., Leipzig 1920; Ders., Kaiser Franz Joseph von Österreich, Berlin 1929. 3 K. G. Hugelmann (Hg.), Das Nationalitätenrecht des alten Österreich, Wien 1934. 4 Vgl. P. W. Wenger, Wer gewinnt Deutschland? Kleinpreußische Selbstisolierung oder mit­ teleuropäische Föderation, Stuttgart 1959; E . Franzel, Der Donauraum im Zeitalter des Natio­ nalitätenprinzips, Bern 1958. 5 T. Schieder, Idee und Gestalt des übernationalen Staates seit dem 19. Jahrhundert, in: HZ, Bd. 184, S. 365. Vgl. dessen Aufsatz: Nationalstaat und Nationalitätenproblem, in: ZfO, Jg. 1, 1952. 6 Vgl. dazu H . Rothfels, Zur Krise des Nationalstaates, in: Zeitgeschichtliche Betrachtun­ gen, Göttingen 1959, S. 132 ff. 7 Zur wirtschaftlichen Seite vgl. F. O. Hertz, The Economic Problems of the Danube States, London 1947; H. Benedikt, Die wirtschaftliche E ntwicklung in der Franz-Joseph-Zeit, Wien 1958; zusammenfassend R. A. Kann, Werden und Zerfall des Habsburgerreiches, Graz 1962; vgl. ferner H. Mommsen, Das Problem der internationalen Integration in der böhmischen Ar­ beiterbewegung, in: J b C C , Bd. 2, 1961, S. 193ff. und in diesem Bande. 8 H. Hantsch, Die Nationalitätenfrage im alten Österreich. Das Problem der konstruktiven Reichsgestaltung, Wien 1958, S. 109. 9 Franzel, S. 5. 10 Neben der älteren, tschechisch orientierten Darstellung von J . Opocensky, Umsturz in Mitteleuropa. Der Zusammenbruch Österreich-Ungarns und die Geburt der Kleinen E ntente, Hellerau b. Dresden 1931, jetzt die Arbeit von Z. A. B. Zeman, The break-up of the Habsburg Empire 1914-18. A study in national and social revolution, London 1961. 11 Vgl. Das politische Tagebuch J . Redlichs, hg. v. F. Fellner, Graz 1953, Bd. II, S. 58ff. 12 V. Adler, Aufsätze, Reden, Briefe, hg. v. G. Pollatschek, Wien 1922-29, Bd. XI, S. 251 f. 13 W. Jaksch, E uropas Weg nach Potsdam, Schuld und Schicksal im Donauraum, Stuttgart 1957, S. 447. 14 F. Austerlitz, Die Krise des Dualismus in Österreich, in: NZ, Bd. 2 1 , 1902/03,1, S. 546 f. 15 A. Fischhof, Österreich und die Bürgschaften seines Bestandes, Wien 1869, S. 1. 16 Dazu die neue Arbeit von A . G. Haas, Metternich, Reorganization and Nationality 1813-1818. A Story of the foresight and frustration in the rebuilding of the Austrian empire, Wiesbaden 1963.

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Anmerkungen zu Seite 134-î48 17 Adler, Aufsätze, VIII, S. 52. 18 H. Hantsch, Österreich-Ungarn und das Strukturproblem der europäischen Völkerfami­ lie, in: Der Donauraum, 1956, S. 89. 19 Jaszi, S. 433 ff. 20 Vgl. H . Mommsen, Die Sozialdemokratie und die Nationalitätenfrage im habsburgischen Vielvölkerstaat, I. Das Ringen um die supranationale Integration der zisleithanischen Arbeiter­ bewegung 1867-1907, Wien 1964. 21 Vgl. O. Brunner, Das Haus Österreich und die Donaumonarchie, i n : S O F , Bd. 14, 1955, S. 122ff. 22 Vgl. Redlich, Tagebücher, II, S. 58 ff. 23 Vgl. R. Schlesinger, Federalism in Central and E astern, E urope, London 1945, S. 2l2ff. 24 Vgl. Mommsen, Sozialdemokratie, S. 2l0ff. 25 Vgl. das Vorwort A. Snejdáreks zu: Z. Jindra u. J . Kfízek, Beiträge zur neuesten Ge­ schichte der mitteleuropäischen Völker, Prag 1960, S. 5f.; Kfízek, Zur Bedeutung der nationa­ len Frage in Österreich-Ungarn, ebd., S. l0ff. 26 Vgl. etwa Krízeks völlig fehlgehende Polemik gegen H. Rothfels, ebd., S. 13. 27 Bemerkenswert ist, daß Kfízek sich unbedenklich auf die nun gewiß ebenso nationalisti­ sche bürgerliche Antihabsburg-Literatur stützt, um den deutschen Imperialismus nachzuwei­ sen. Die kritische Bewertung der Metternichschen Periode, in der die restaurativen Maßnahmen ja alle Bevölkerungsgruppen trafen, durch C. Sealsfield (f 1864), Österreich wie es ist, als Quelle für die nationale Unterdrückung Böhmens im ganzen 19. Jahrhundert anzuführen, wie es Kfí­ zek auf S. 13 f. tut, ist äußerst zweifelhaft. 28 Das gibt Kfízek auch S. 24f. zu, ohne damit seinen einseitigen Standpunkt zu modifizie­ ren. 29 E . Molnár, Das Problem des Zusammenhanges zwischen nationaler Unabhängigkeit und gesellschaftlichem Fortschritt, in: Studien zur Geschichte der österreichisch-ungarischen Mo­ narchie, Budapest 1961, S. 9. 30 E bd., S. 11. 31 Dies gilt etwa für die instruktive Studie von Fr. Zwitter, Les problèmes nationaux dans la monarchie des Habsburg, IX, Congrès International des Sciences Historiques, Rapports V, Gö­ teborg 1960. 32 Vgl. den vielbeachteten Vortrag W. Conzes auf dem deutschen Historikertag in Duisburg 1962 über „Nation und Gesellschaft - Grundbegriffe der Geschichte im revolutionären Zeital­ ter“, in: HZ, Bd. 198, 1964, S. Iff. 33 Die Arbeit Kanns wurde auf Anregung des „Center for Research on World Political Insti­ tutions“ im Zusammenhang mit einer Reihenuntersuchung des Problems von Integration und Disintegration übernationaler „Sicherheitsgemeinschaften“ verfaßt. Sie stützt sich auf das grundlegende Werk R. A. Kanns, The Multinational E mpire, Nationalism and National Reform in the Habsburg Monarchy, 1848-1914, 2 Bde., New York 1950. 34 S.o. Anm. 2.

7. Die Rückwirkungen des Ausgleichs mit Ungarn auf die zisleithanische Verfassungsfrage 1 Zit. nach G. Koímer, Parlament und Verfassung in Österreich, I, S. 311. 2 J . Redlich, Das österreichische Staats- und Reichsproblem, II, 1926, S. 677 f.: ders., Kaiser Franz Joseph von Österreich, Leipzig 1929, S. 321 ff. 3 Vgl. die vortreffliche Analyse bei P. Hanák, Hungary in the Austro-Hungarian Monarchy, in: AHY, 3, 1967, S. 285ff. V g l ferner P. Hanák, Probleme der Krise des Dualismus am E nde des 19. Jahrhunderts, in: Studien zur Geschichte der Österreichisch-Ungarischen Monarchie,

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Mommsen, Arbeiterbewegung

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Anmerkungen zu Seite 148-155 Budapest 1961, S. 337 ff.; M. Komjáthy, Die organisatorischen Probleme des Gemeinsamen Mi­ nisterrats, ebd., S. 398f.; sowie F. Tezner, Ausgleichsrecht und Ausgleichspolitik, Wien 1907, S. 110. 4 Vgl. F. Kleinwaechter, Der Untergang der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, Leip­ zig 1920, S. 225. 5 Vgl. M. Komjáthy, S. 403: „Der gemeinsame Außenminister hatte die außenpolitischen Angelegenheiten seines Reiches zu führen und seine Funktion als Reichskanzler, die eine sorg­ fältige E rwägung der Veränderungen in der innenpolitischen Lage erfordert, so zu versehen, daß er keine unmittelbare Beziehung zu den Kräften hatte, die das innenpolitische Leben der Monar­ chie bestimmten. “ Extrem tritt dies in der Äußerung Berchtolds gegenüber Josef Redlich hervor, „er informiert sich gerne über innere Politik, obgleich die ihn nichts angehe“ (Das politische Ta­ gebuch Josef Redlichs, hg. v. F. Fellner, Wien 1953, Bd. 1, S. 134). 6 E in Überblick über die Literatur bei B. Sutter, Die Badenischen Sprachenverordnungen von 1897, ihre Genesis und ihre Auswirkungen vornehmlich auf die innerösterreichischen Al­ penländer, Graz, Bd. 1, 1960, Bd. 2, 1965; Bd. 2, S. 161 ff. 7 Vgl. u. a. M. Gross, Über die nationale Frage in Kroatien während der Krise des Dualismus, in: Die nationale Frage in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie 1900-1918, Budapest 1966, S. 231. 8 Vgl. den Beitrag R. A. Kanns, The Austro-Hungarîan Compromise of 1867 in Retrospect, in: A. Vantuch u. L. Holotík (Hrsg.): Der Österreich-ungarische Ausgleich 1867, Bratislava 1971, S. 24-44 ferner W. A. Jcnks, E conomics, Constitutionalism, Administrative and Class Structure in the Monarchy, AHY, 3, 1967, S. 48f. 9 R. A. Kann, Das Nationalitätenproblem der Habsburgermonarchie. Geschichte und Ideengehalt der nationalen Bestrebungen vom Vormärz bis zur Auflösung des Reiches im Jahre 1918, I, Wien 1964, S. 130. 10 E bd., II, S. 136. 11 A. v. Offerman, Das Verhältnis Ungarns zu Österreich, Wien 1902, S. 86ff.; R. Springer, Grundlagen und E ntwicklungsziele der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, Wien 1906, S. 150f.; schon vorher in K. Renner, Die Krise des Dualismus und das E nde der Deákschen E pi­ sode in der Geschichte der Habsburgischen Monarchie, Wien 1904. 12 Die Realunion zwischen Schweden und Norwegen wurde 1905 gelöst. Trotz der Be­ schränkung der gemeinsamen Angelegenheiten auf die Person des Herrschers und die von ihm abhängige Diplomatie führte das Verhältnis zu scharfen Spannungen zwischen den konkurrie­ renden Parlamenten. Offermann, S. 141 f., hat auf diese allein dem Dualismus vergleichbare Re­ gelung hingewiesen, deren Lebensfähigkeit mit der vollen Ausbildung des parlamentarischen Systems nicht mehr gegeben war. 13 Offermann, S. 101 f. 14 Kolmer, IV, S. 92. 15 E . Bernatzik, Die österreichischen Verfassungsgesetze, Wien 1911 2 , S. 317. 16 Kolmer, I, S. 312. 17 Vgl. P. Molisch, Briefe zur deutschen Politik in Österreich von 1848 bis 1918, Wien 1934, S. 235ff.; vgl. W. A. Jenks, Austria under the Iron Ring 1879-1893, Charlottesville ï965, S. 47ff. 18 lenks, Austria, S. 48. 19 Springer, Grundlagen, S. 147. 20 E bd., S. 150. 21 Offermann, S. 106. 22 E bd., S. 107. 23 E bd., S. l36ff. 24 E bd., S. 151 ff. 25 Vgl. Hanák, S. 290; J . Miskolczy, Ungarn in der Habsburger-Monarchie, Wien 1959, S. 150f.

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Anmerkungen zu Seite 155-166 26 Synopticus (K. Renner), Staat und Nation, Wien 1899, S. 13. 27 Bernatzik, 426f.; vgl. K. G. Hugelmann (Hg.), Das Nationalitätenrecht des alten Öster­ reich, Wien 1934, S. 81 ff., S. 89f. 28 Vgl. Bernatzik, S. 883 ff.; K. Renner, Der Kampf der österreichischen Nationen um den Staat, I. Teil: Das nationale Problem als Verfassungs- und Verwaltungsfrage, Wien 1902, S. 20: der Art: XIX sei „bloß als eine Anweisung auf ein goldenes Zeitalter wahrer Gleichberechtigung, als eine Art legislatives Feuerwerk anzusehen, das nur die Augen blendet, aber wirkungsvoll verpufft“ - was freilich überspitzt ist. 29 E bd., S. 28f. 30 E bd., S. 80f. 31 Vgl. die Darstellung bei jenks, Austrian E lectoral Reform of 1907, Oxford 1951, S. 243 ff. 32 Offermann, S. 134. 33 Vgl. Kann, Bd. II, S. 337. 34 Offermann, S. 139. 35 E b d . , S . 138. 36 Vgl. Sutter, Bd. I, S. 99; Jenks, S. 241 f. 37 Jenks, E conomics, S. 49. 38 Jenks, Austria, S. 305ff. 39 Hanák, S. 290f. 40 Sutter, I, S. 135, P. Molisch, Zur Geschichte der Badenischen Sprachenverordnungen vom 5. und 22. April 1897, Wien 1923, S. 6. 41 K. Kramáí, Anmerkungen zur böhmischen Politik, Wien 1906, S. 19. 42 Sutter, I, S. 2l9ff., S. 228. 43 E bd., S. 136, S. 191. 44 Abgedruckt ebd., S. 228. 45 Vgl. ebd., S. 220f., S. 229f. 46 E bd., S. 250f. 47 Vgl. R. Sieghart, Die letzten Jahrzehnte einer Großmacht, Berlin 1932, S. 36f.; vgl. auch A. Ableitinger, The Movement toward Parliamentary Government in Austria since 1900, in: AHY, 2, 1966, S. l26f. 48 J . M. Baernreither, Der Verfall des Habsburgerreichesund die deutschen Fragmente eines politischen Tagebuchs 1897-1917, hg. v. O. Mitis, Wien 1939, S. 58. 49 Kramáf, S. 52. 50 Sieghart, S. 68. 51 Der Begriff ist geprägt von R. A. Kann, Werden und Zerfall des Habsburgerreiches, Graz 1962, S. 174. 52 Vgl. J . C. Allmayer-Beck, Ministerpräsident Baron Beck, Wien 1956, S. 237f., S. 250ff.; Kann, Nationalitätenproblem, II, S. 321. 8. Das Problem der internationalen Integration in der böhmischen Arbeiterbewegung 1 Für die E inzelbelege wird auf die Arbeit des Verfassers „Die Sozialdemokratie und die Na­ tionalitätenfrage im habsburgischen Vielvölkerstaat, I, Das Ringen um die supranationale Inte­ gration der zisleithanischen Arbeiterbewegung 1867-1907, Wien 1963'', verwiesen. Vgl. ferner G. Whiteside, Industrial Transformation, Population Movement and German Nationalism in Bohemia, in:ZfO, Jg. 10, 1961. Grundlegend O. Bauer, Die Nationalitätenfrage und die Sozial­ demokratie Wien 1907, 1924 2 . Daneben E . Benes: Le problème autrichien et la question tschè­ que, Paris 1908; T. Capek, Sociological Factors in Czech Immigration, in: SIR, Bd. 22, 1949; M. Hainisch, Die Zukunft der Deutschösterreicher, Wien 1892; F. Hertz, Die Produktionsgrund-

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Anmerkungen zu Seite 175-186 lagen der österreichischen Industrie vor und nach dem Kriege, Wien 1918 5 ; ders.: The E conomic Problems of the Danubian States, Ldn. 1947; Hundert Jahre österr. Wirtschaftsentwicklung, hg. v. H . Meyer, Wien 1949; R. A. Kann, The Habsburg Monarchy, A Study in Integration and Disintegration, New York 1957; E. März, Some E conomic Aspects of the Nationality Conflict in the Habsburg E mpire, in: J C EA , Bd. 13, 1949; H. Rauchberg, Der nationale Besitzstand in Böhmen, 3 Bde., Leipzig 1905; K. Renner, Der deutsche Arbeiter und der Nationalismus, Wien 1910; 2 . Tobolka, (Hg.), Das Böhmische Volk, Wien 1916; O. Wittelshöfer, Politische und wirtschaftliche Gesichtspunkte in der österreichischen Nationalitätenfrage, i n : P J , B d . 76, 1894; T. Wollschak, (pseud. Teiffen), Das soziale E lend und die besitzenden Klassen, Wien 1894; L. Brügel, Geschichte der österr. Sozialdemokratie, 5 Bde., Wien 1922-25; zur Stellung V. Adlers s. d. Aufsatz d. Verf.: „Am Beispiel Victor Adlers“, in: Forum, österr. Monatsblätter für kultu­ relle Freiheit, VII. Jg., 1960, H. 78-80 (auch in diesem Bande). 2 H. Hassinger, Die Anfänge der Industrialisierung in den böhmischen Ländern, in: Bohe­ mia, J b C C , 2, 1961, S. 164-182. 9. Victor Adlers Weg zum Sozialismus 1 M. E rmers, Victor Adler. Größe und Aufstieg einer sozialistischen Partei, Wien 1932, S. 248. 2 H. Mommsen, Die Sozialdemokratie und die Nationalitätenfrage im habsburgischen Viel­ völkerstaat 1867-1907, Wien 1963, S. 102f. 3 Heinrich Scheu, E rinnerungen. E in Beitrag zur Geschichte der österreichischen Arbeiter­ bewegung, Wien 1911, S. 21. 4 „Veremsbuch“. Sitzung vom 21. 5. 1871. Nachlaß V. Adler, Arbeiterkammer Wien. 5 Mommsen, S. 104ff.; vgl. William J . McGrath, Dionysian Art and Populist Politics in Aus­ tria, New Haven 1974, S. 59f., 70f. 6 E rmers, S. 88; P. Molisch, Die deutschen Hochschulen in Österreich und die politisch-na­ tionale E ntwicklung nach dem Jahre 1848, München 1922, S. 76f.; Ders., Geschichte der deutschnationalen Bewegung in Österreich, München 1926, S. 121 ff.; A. Wandruszka, Öster­ reichs politische Struktur, in: H. Benedikt (Hrsg.), Geschichte der Republik Österreich, Mün­ chen 1954, S. 293 ff. 7 Vgl. Mommsen, S. 108 ff. 8 V. Adler, Aufsätze, Reden, Briefe, Wien 1922-1929, Bd. 1, S. IV. 9 Brief H. Friedjungs an Kautsky (o.D.) 1883, Nachlaß Kautsky IISG D X, 491, 10 Brief Kautskys an E ngels vom 5. 8. 1883, Friedrich E ngels' Briefwechsel mit Karl Kautsky, Hrsg. v. B. Kautsky, Wien 1955, S. 80. 11 E ngels an Kautsky v. 1 8 . 9 . 1883, Briefwechsel E ngels-Kautsky, S. 82ff.; E rmers, S. 110. 12 Vgl. Mommsen, S. 1 1 1 l f . 13 Kautsky an E ngels am 3. 8. 1886, Briefwechsel E ngels-Kautsky, S. 196. 14 Kautskv an E ngels am 29. 5. 1884, ebd., S. 117. 15 Adler an Andreas Scheu am 31. 7. 1887, in: Der Kampf XXII, 1929, S. l6f. 16 Adler an Bebelam30. 8. 1908, V. Adler, Briefwechsel mit A. Bebclu. K. Kautsky, hrsg. v. F. Adler, Wien 1954, S. 489. 17 J . Bardorf an Kautskv am 13. 10. 1887, Briefwechsel Adler, S. 37ff.; Mommsen, S. 113. 18 Kautskv an E ngels am 31. 7. 1888, Briefwechsel E neels-Kautskv, S. 219. 19 Brief Mandls an Kautsky v. 18. 8. 1886, Nachlaß Kautsky IISG D XVI, 366. 20 Brief Mandls vom 29. 6. 1886, ebd., 367. 21 „Socialdemokrat“ Nr. 7 vom 12. 2. 1886. 22 H. Braun an Kautsky am 24. 2. 1886, Nachlaß Kautsky D VI, 445. 23 H. Braun an Kautsky am 19. 7. 1886, ebd., D VI, 502.

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Anmerkungen zu Seite 187-197 24 Vgl. den Brief Adlers an Kautsky vom 21. 8. 1886, Briefwechsel Adler, S. 12ff. 25 E bd. 26 Vgl. Mommsen, S. H6f. 27 H . Braun an Kautsky am 10. 4. 1885, Nachlaß Kautsky D VI, 445. 28 Bericht über die Schwenderversammlung in „Gleichheit“ Nr. 8 vom 12. 2. 1887. 29 Adler, Aufsätze, Bd. 5, S. 184f. 30 E b d . , S . 12. 31 E bd., S. l85f. 32 Adler an Kautsky am 21. 8. 1886, Briefwechsel Adler, S. 13. 33 Aufsätze, Bd. 5, S. 185. 34 E bd., S. 186. 35 Rede Adlers auf dem Konstanzer Verbrüderungsfest am 9. 7. 1905, Aufsätze, Bd. 11, S. 302. 36 Aufsätze, Bd. 6, S. 28 u. 130; vgl. E rmers, S. 249. 37 Vgl. Aufsätze, Bd. 1, S. l57ff. 38 Adler an E ngels vom 21. 1. 1890, ebd., S. 5. 39 Adler an Kautsky am 21. 8. 1886, Briefwechsel Adler, S, 13. 40 Brief vom 14. 10. 1904, ebd., S. 430. 41 Adler an Bebel am 5. 1. 1893, ebd., S. 117. 42 Zitiert nach E rmers, S. 250. 43 Aufsätze, Bd. 1, S. VI. 44 H. Mandl an Kautsky vom 20. 12. 1887 u. 10. 1. 1888, Nachlaß Kautsky, D XVI, 378. 45 Arbeiter-Zeitung vom 12. 11. 1918, in: Austerlitz spricht. Aufsätze und Reden, hrsg. v. J . Braunthal, Wien 1931, S. l94f. 46 Aufsätze, Bd. 5, S. 15.

10. Otto Bauer, Karl Renner und die sozialdemokratische Nationalitätenpolitik in Österreich 1905-1914 1 Vgl. den Brief V. Adlers an A. Bebel vom2. 1. 1911, in: V. Adler, Briefwechsel mit A. Bebel u. K. Kautsky, hg. v. F. Adler, Wien 1954, S. 519. 2 Vgl. hierzu die Darstellung des Verf., Die Sozialdemokratie und die Nationalitätenfrage im habsburgischen Vielvölkerstaat, I.: Das Ringen um die supranationale Integration der zisleitha­ nischen Arbeiterbewegung (1867-1907), Wien 1963, S. 407 ff. 3 Vgl. ebd., S. 403 ff. 4 Adler an Bebel am 2. 1. 1911, Briefwechsel Adler, S. 518; Bauer an K. Kautsky am 15. 5. 1911, Nachlaß Kautsky, D II, 486, IISG. 5 Vgl. Sitzungsprotokoll der Gesamtexekutive v. 20. 6. 1912, Parteivertretungsprotokolle, II, Buch 1, Parteiarchiv der SPÖ, Wien; Arbeiterzeitung v. 24. Juni 1912. 6 Vgl. den Brief O. Bauers an K. Kautsky vom 17.5.1911, Nachlaß Kautsky D I I , 486 sowie Adlers Brief an Bebe! v. 5. 8. 1910, Briefwechsel Adler, S. 508. 7 Vg. Mommsen, S. 331 ff. 8 V. Adler, Aufsätze, Reden Briefe, hg. v. F. Adler bzw. G. Pollatschek, Wien 1922 ff., VIII, S. 271; früher hatte er erklärt, eine Revision des Brünner Nationalitätenprogramms sei gegen­ wärtig weder nötig noch wünschenswert (ebd., VI, S. 308f.). 9 Vgl. Das neue Österreich. E ine politische Rundfrage, veranstaltet v. C. Danzer, Wien 1908, S. 1. 10 Adler an Bebel am 5. 8. 1910, Briefwechsel Adler, S. 508.

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Anmerkungen zu Seite 197-203 11 R. Springer, Der Kampf derösterreichischen Nationen um den Staat, I. Teil: Das nationale Problem als Verfassungs- und Verwaltungsfrage, Wien 1902. 12 Dies gilt gleichermaßen für seine eindringliche Darstellung der innenpolitischen Auswir­ kungen des dualistischen Systems: R. Springer, Die Krise des Dualismus und das E nde der Déa­ kistischen E pisode in der Geschichte der Habsburgischen Monarchie, Wien 1904. 13 Springer, Kampf, S. 29f. 14 E bd., S. l9f. 15 E bd., S. 28f. 16 O. Bauer, Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie, Wien 1907, S. 318. 17 Springer, Kampf S. 81 f. 18 E bd., S. 73. 19 R. Springer, Territorial- oder Personalhoheit, in: Akademie. Revue socialistická, Prag 1899, Nr. 8, S. 483. 20 Renner an Kautsky am 3. 4. 1902, Nachlaß Kautsky D XIX, 168. 21 Vgl. Renners unter dem Pseudonym J . Karner veröffentlichte Studie: Die soziale Funk­ tion der Rechtsinstitute, besonders des E igentums, Wien 1904. 22 Springer, Kampf, S. 78. 23 E bd., S. 4. 24 Vgl. Mommsen, S. 45. 25 K. Renner, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen in besonderer Anwendung auf Österreich, Teil I: Nation u. Staat, Wien 1918, S. 16. 26 Vgl. den Artikel „Nationalstaat“ in: SDG, Bd. 4, Sp. 724. 27 R. Springer, Nationalität als Massenerscheinung, in : Akademie. Revue socialistická, Prag 1899, S. 441 f. 28 Vgl. K. Kautsky, Nationalität und Intcrnationalität, in: NZ, Bd. 24, E rg. H. 1, S. 17. 29 Bauer, Nationalitätenfrage, S. 84 ff. 30 Vgl. meine Analyse im Artikel „Nationalismus, Nationalitätenfrage“, in: SDG, Bd, 4, Sp. 648 ff. (in diesem Bande). 31 Brief R. Hilferdings an K. Kautsky v. 10. 3. 1906 (Nachlaß Kautsky, D. XII, 599); vgl. die Anzeige des „Kampf“ in: NZ, Bd. 26, 1908, S. 46 f. durch Hilferding sowie den Programmarti­ kel in „Der Kampf“, I, 1907, S. 3. Die Gründung war zugleich eine Antwort auf die von Modra­ cek und Meissner redigierte „Socialistická Akademi “, die zum Hauptsprachrohr der Autono­ miebestrebungen in der tschechoslawischen Sozialdemokratie geworden war. 32 Wien 1907; 2. Aufl., Wien 1924. Im späteren Vorwort rückte Bauer von der vom Neukan­ tianismus beeinflußten Darstellungsform ab, hielt aber an seiner theoretischen Postition fest. 33 Brief Bauers an Kautsky v. 26. 1. 1906 (Nachlaß Kautsky D II, 472). 34 In gewisser Beziehung antizipiert Bauer den Kommunikationsbegriff der modernen Na­ tionalismusforschung; cf. K. W. Deutsch. Nationalism und Social Communication, An Inquiry into the Foundations of Nationality, Cambridge (Mass.) 1966 2 ; vgl. den Artikel „Nationalis­ mus, Nationalitätenfrage“, oben, Anm. 30. 35 Bauer, Nationalitätenfrage, S. 461, 474, 516, 520. 36 K. Renner, Die Nation als Rechtsidee und die Internationale. Vortrag in der freien Verei­ nigung sozialistischer Studenten an der Universität Wien am 7. 3. 1914, Wien 1914; vgl. Renner, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, S. 15f.; O. Bauer, Die Nationalitätenfrage, S. 318. 37 Brief Bauers an Kautsky v. 15. 6. 1907 (Nachlaß Kautsky, D II, 476). 38 Vgl. Mommsen, S. 117ff. 39 H. Rauchberg, Der nationale Besitzstand in Böhmen, 3 Bde., Leipzig 1905; Hainisch, Die Zukunft der Deutschösterreicher. E ine statistisch-volkswirtschaftliche Studie, Wien 1892; H. Herkner. Die Zukunft der Deutschösterreicher, in: Deutsche Worte, Bd. 13, 1893. 40 K. Renner, Der deutsche Arbeiter und der Nationalismus, Untersuchungen über Größe 406

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Anmerkungen zu Seite 203-211 und Macht der deutschen Nation in Österreich und das nationale Programm der Sozialdemokra­ tie, Wien 1910. 41 J , Strasser, Der deutsche Arbeiter und die Nation, Reichenberg 1912, S. 34 ff,; A. Panne­ koek, Klassenkampf und Nation, Reichenberg 1912, S. 36ff. 42 Bauer, Nationalitätenfrage, S. 525; ähnlich argumentierte er in einer Reihe von Agita­ tionsbroschüren. 43 E bd., S. 442ff. 44 Vgl. vor allem H. Heller, Sozialismus und Nation, 1931 2 , S. 51. 45 Bauer, Nationalitätenfrage, S. 403, 46 E bd., S. 394, 47 Bauer löste sich 1908/09 von Renners großösterreichischem Optimismus, nachdem klar war, daß das allgemeine Wahlrecht in Ungarn nicht durchkommen werde. Vgl. Bauer, Nationa­ litätenfrage, 1924 2 , E inL, S. 9; Bauer, E in Festtag der deutschen Sozialdemokratie, in: Kampf, III, 1909, S. l94f.; ders. Die österreichische Revolution, Wien 1923, S. 61. 48 DieTätigkeit des Sozialdemokratischen Verbandes im Abgeordnetenhause, H. 3 (20. Ses­ sion v. 20. 10. 1909-6. 7. 1910), S. 48. 49 Springer, Kampf, S. 170; Grundlagen und E ntwicklungsziele, S. 56f. 50 Vgl. R. A, Kann, The Multinational E mpire. Nationalism and National Reform in the Habsburg Monarchy 1848-1918, Bd. 2, S. 166; R. Schlesinger, Federalism in Central and E a­ stern E urope, London 1945, S. 2l2f. 51 Vgl. Renners Rede im Abgeordnetenhaus v. 26. 11. 1909, abgedruckt bei: H. Fischer (Hg.), K, Renner. Porträt einer E volution, Wien, 1970, S. 72. 52 S. Renners Antwort in der Rundfrage Danzers, S. 112f. 53 Briefe Renners an K. Kautsky v. 3. 4. u. 12. 4. 1902 (Nachlaß Kautsky, D XIX, 168 u. 169). 54 Renner, Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, S. 62, Anm., S. 53 ff. 55 Vgl. Mommsen, S. 368 f. 56 Auf der E bene der Gemeinde- und Bezirksverwaltung sollte Kriterium einer selbständigen national-kulturellen Verwaltung die Fähigkeit der Minderheit sein, eine eigene Volksschule zu unterhalten. 57 K. Kramaf, Anmerkungen zur böhmischen Politik, Wien 1906, S. 121 ff.; dazu O. Bauer, Die Steuerkraft der Nationen, in: Kampf, II, 1909, S. 446ff. 58 O. Bauer, Unser Nationalitätenprogramm und unsere Taktik, in: Kampf, I, 1907/08, S, 204 ff; Die Nationalitätenfrage, S. 363 ff. 59 Vgl. Mommsen, S. 358f.; K. G. Hugelmann (Hg.), Das Nationalitätenrecht des alten Österreichs, Wien, 1934, S. 266. 60 Vgl. L. M. Hartmann, Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie, in: Die Neue Gesellschaft, IV, Berlin 1907, S. 270ff.; Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der deutschen sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Österreich in Innsbruck (künftig Parteispro­ tokoll) 1911, S. 226ff., 234. 61 F. Austerlitz, Nationale Parlamente, in: Arbeiterzeitung v. 28. Juli 1907, 62 S. oben, Anm. 48. 63 Vgl. K. Renner, Der Gesetzentwurf über die Sprachenfraee, in: Kampf, II, 1909, S. 241 f. 64 Text der Resolution in: Arbeiterzeitung v. 2. 2. 1908. 65 Vgl. den Bericht der Arbeiterzeitung v. 12., 13, u. 16. 8. 1907. 66 Arbeiterzeitung v. 15. 1. 1908; vgl. O. Bauer, Unser Nationalitätenprogramm und unsere Taktik, S. 209f. 67 Vgl. Mommsen, S. 393 ff. 68 Vgl. ebd. S. 36ff. 69 Vgl. die Stellungnahme Antonin Nemec's bei Danzer, S. 84ff.; A. Meissner, Löst die na-

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Anmerkungen zu Seite 211-229 tionale Autonomie das nationale Problem, in: Kampf, III, 1910, S. 271 ff.; vgl. O. Bauer, Tsche­ chische Parteiliteratur, ebd., S. 94ff. 70 Die Tätigkeit des sozialdemokratischen Verbandes im Abgeordnetenhause (20. Session), H . 3, S. 12; vgl. H. Gurke, in: Hugelmann, S. 454f. 71 O. Bauer, Nationale Minderheitsschulen, in: Kampf, III, 1910, S. l3ff. 72 Vgl. K. Renner, Der deutsche Arbeiter und der Nationalismus, S. 45. 73 A. Meissner, Die deutsch-tschechische Frage in der Sozialdemokratie, in: Kampf, IV, 1911,S. 108 ff. 74 O. Bauer, Deutschtum und Sozialdemokratie, Lichtstrahlen Nr. 13, Wien 1907, S. 28; ähnlich in ders., Nationale und soziale Probleme des Deutschtums in Mahren. Vortrag, gehalten auf dem Parteitage der deutschmährischen Sozialdemokratie in Olmiitz am 12. 4. 1909, Brunn o . J . , S . 12. 75 Renner, Der deutsche Arbeiter und der Nationalismus, S. 5. 76 L. M . Hartmann, Zur Frage der nationalen Minderheitsschulen, in: Kampf, III, 1910, S. 5 9 f f . ; O . Bauer, Schlußwort zur Minoritätenfrage, ebd., IV, 1911, S. 201 ff.; ders., Die Bedin­ gungen der nationalen Assimilation, ebd., V, 1912, S. 246ff. 77 Parteiprotokoll Innsbruck 1911, S. 257f. 78 Schreiben Kautskys an D. Bach (Nachlaß Kautsky C 61). 79 Deutschtum und Sozialdemokratie, S. 7 u. 16. 80 O. Bauer, Das arbeitende Volk und die Nationalitätenfrage, Lichtstrahlen Nr. 4, Wien o . J . (1906). 81 Bauer, Deutschtum und Sozialdemokratie, S. 32. 82 K. Leuthner, International und national, in: SM, I, 1909, S. 14; in die gleiche Rubrik eines offenen, integralen Nationalismus gehört R. Dannebergs Nationales Lesebuch. Für die deutsche Arbeiterjugend zusammengestellt i. A. des Verbandes jugendlicher Arbeiter, Wien 1912. 83 F. Austerlitz, Das Nationalitätsprinzip, Leitartikel der Arbeiterzeitung vom 6. 3. 1907. 84 F. Soukup, Der Parteitag der tschechischen Sozialdemokratie, in: Kampf, III, 1910, S. 4ff.; Parteitagsprotokoll, Reichenberg 1909, S. 176f. 85 Parteitaesprotokoll, Innsbruck 1911, S. 202, 268. 86 Parteitagsprotokoll, Wien 1903, S. 142. 87 Für die Entwicklung der tschechischen Nationalbewegung vgl. den Überblick von J . Hav­ ránek, The Development of Czech Nationalism, in: AHY, Bd. 3/2, 1967, insbes. S. 258ff. 88 Parteiarchiv der SPÖ, Wien, Akte Parlamentseröffnung, Beschlüsse der Reichskonferenz der deutschen sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Österreich, Wien 25. - 28. 3. 1916. 89 E in Nationalitätenprocramm der Linken, in: Der Kampf, XI, 1918, S. 271 ff. 90 K. Renner, Marx oder Mazzini?, ebd., S. 301 ff. 91 E bd., S. 294f.; vgl. die Entgegnung von Bauer, Friedrich Schulze: Marx oder Radetzky?, ebd., S. 361 ff.

11. Typologie der Arbeiterbewegung 1 W. Schieder, Anfänge der deutschen Arbeiterbewegung. Die Auslandsvereine im Jahrzehnt nach der Julirevolution von 1830, Stuttgart 1963. Im folgenden nur die Nachweise von Zitaten. Zur Literatur s. SDG 1, 1966, Sp. 309-313; _, 1972, Sp. 938-940. 2 E . J . Hobsbawm, Labouring Men. Studies in the History of Labour, London 1964. 3 ME W, Bd. 18, S. 516. 4 E bd., Bd. 34, S. 378. Brief E ngels an Bernstein (E ntwurf) v. 17. Juni 1879. 5 F. E ngels, Briefe an Bebel, Berlin (Ost) 1958, S. 250. 6 LW, Bd. 23, S. 112. 408

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Anmerkungen zu Seite 232-266 7 ME W, Bd. 21, S. 337. 8a B. Andreas, Le Manifeste Communiste de Marx et E ngels. Histoire et bibliographie 1848-1918, Milano 1963. 8b I. Fetscher, Von der Philosophie des Proletariats zur proletarischen Weltanschauung, in: Marxismusstudien 2, Tübingen 1957, S. 29. 8 Grundriß der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Berlin (Ost) 1963, S. 6. 9 Geschichte der KPdSU, Berlin (Ost) 1960, S. 28. 10 Grundriß, S. 46. 11 LW, Bd. 9, S. 128. 12 M. Rubel, Remarques sur le concept du parti prolétarien chez Marx, in: RFS, Bd. 2, 1961/3, S. 166-176; M. Molnár, Ledéclin de la premiere internationale. La conference de Lond­ resde 1871, Genève 1963. 13 ME W, Bd. 30, S. 490. 14 Zit. nach Molnár, S. 139. 15 E bd., S. 140. 16 ME W, Bd. 19, S. 6. 17 E bd., Bd. 22, S. 197. 18 E bd., S. 523. 19 E bd., Bd. 21, S. 223 f. 20 Geschichte der KPdSU, S. 91. 21 L. I. Scleznev, in: Voprosy filosofii, 1965, H. 11, S. 149. 22 ME W, Bd. 19, S. 28. 23 G. A. Ritter, Die Arbeiterbewegung im Wilhelminischen Reich 1890-1900, Berlin 1968; G. Roth, The Social Democrats in Imperial Germany. A Study in Working-class Isolation and National Integration, E nglewood Cliffs/N. Y. 1963. E. Matthias, Zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, in: NPL, Jg. 3, 1958, S. 337-364. 24 L. Berthold, Zur Geschichte der nationalen Konzeption der deutschen Arbeiterklasse, in: ZfG, Jg. 10, 1962, S. 1011. 25 „Nationales Dokument“, zit. ebd., S. 1257. 26 Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SE D, Bd. 1, Berlin (Ost) 1966, S. 39, 6, 10. 27 Berthold, Geschichte.

12. Die geschichtliche Bedeutung Ferdinand Lassalles 1 F. Lassalle, Nachgelassene Briefe u. Schriften, hg. v. G. Mayer, 6 Bde., Stuttgart 1921-25, Bd. 1, S. 72 ff. 2 ME W, Bd. 29, S. 234. 3 F. Lassalle, zit. nach H. Oncken, Lassalle. E ine politische Biographie (1904), Stuttgart 19665, S. 157. 4 S.Na'aman, Lassalles Beziehungen zu Bismarck-ihr Sinn und Zweck, in: AfS, Bd. 2,1962, S, 56. 5 ME W, Bd. 30, S. 432. 6 Zit. nach Lassalle, Briefe, Bd. 3, S. 410. 7 ME W, Bd. 30, S. 360. 8 E bd., S. 270. 9 E bd., S. 323. 13 W. Blumenberg, K. Marx in Selbstzeuenissen u. Bilddokumenten, Reinbek 1962, S. 130. 11 Th. Ramm, Lassalle u. Marx, in: MS, 1960, Bd. 3, S. 201.

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Anmerkungen zu Seite 267-279 12 Lassalle, Briefe, Bd. 3, S. 14. 13 E bd., S. 250. 14 ME W, Bd. 30, S. 354. 15 Vgl. S. Na'aman, Lassalle-Demokratie u. Sozialdemokratie, in: AfS, Bd. 3, 1963,S. 28 ff. 16 F. Lassalle, Ges. Reden u. Schriften, he. v. E . Bernstein, Berlin 1919-20, Bd. 3,S. 136. 17 Lassalle, Briefe, Bd. 6, S. 57. 18 Lassalle, Reden, Bd. 2, S. 198. 19 Lassalle, Briefe, Bd. 6, S. 136. 20 J . G. Fichte, Zit. nach Lassalle, Reden, Bd. 6, S. 82. 21 Lassalle, Briefe, Bd. 6, S. 84. 22 E bd., S. 94. 23 Lassaile, Reden, Bd. 9, S. 396. 24 Lassalle, Briefe, Bd. 6, S. 154. 25 Lassalle, Reden, Bd. 3, S. 88. 26 E bd., Bd. 2, S. 186. 27 E bd. 28 E bd., Bd. 3, S. 287. 29 E bd., S. 286. 30 Vgl. dazuS. Miller, Das Problem der Freiheit im Sozialismus. Freiheit, Staat u. Revolution in der Programmatik der Sozialdemokratie von Lassalle bis zum Revisionismusstreit, Fnnkfurt 1964, 31 Lassalle, Reden, Bd. 4, S. 227. 32 E bd., Bd. 6, S. 113f. 33 E bd., Bd. 4, S. 226. 34 Lassaile, Briefe, Bd. 4, S. 261. 35 ME W, Bd. 19, S. 26. 36 Lassalle, Reden, Bd. 3, S. 354, 37 Lassalle, Briefe, Bd. 1, S. 171. 38 Lassalle, Reden, Bd. 5, S. 380. 39 E in „plötzlicher und ruckweiser Übergang des allgemeinen Rechtsbewußtseins in einen neuen Zustand“. Zit. nach Th. Ramm, F. Lassalle als Rechts- u. Sozialphilosoph, Meisenheim 1953, S. 122. 40 Zit. nach E . Silberner, M. Heß, Leiden 1966, S. 525. 41 Siehe Lassalle, Briefe, Bd. 5, S. 264. 42 Ramm, Lassalle, S. 191. 43 Na'aman, Lassalle, S. 60ff. 44 Lassalle, Reden, Bd. 1, S. 33. 45 E bd. 46 E bd., S. 31. 47 Lassalle, Briefe, Bd. 3, S. 325. 48 E bd., S. 77. 49 H . - U . Wehler, Sozialdemokratie und Nationalstaat. Die deutsche Sozialdemokra:ie und die Nationalitätenfrage in Deutschland von K. Marx bis zum Ausbruch des 1. Weltkrieges, Würzburg 1962, S. 40; Göttingen 1971 2 . 50 Lassalle, Reden, Bd. 5, S. 354 f. 51 J . G. Fichte, zit. nach Ramm, Lassalle, 1956 2 , S. 104, 52 E bd., S. 105. 53 E bd., S. 106. 54 Lassalle, Reden, Bd. 6, S. 45. 55 Lassalle, Briefe, Bd. 3, S. 327. 56 Lassalle, Reden, Bd. 3, S. 58. 410

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Anmerkungen zu Seite 279-293 57 E bd., Bd. 5, S. 381. 58 Lassalle, Briefe, Bd. 6, S. 356. 59 E bd., S. 363. 60 S. Na'aman, Die theoretischen Grundlagen der Aktion Lassalles im Briefwechsel mit Rodbertus, in: IRSH, Bd. 6, 1961, S. 447. 61 Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. 1, Berlin (Ost) 1966, S. 209ff. 62 ME W, Bd. 32, S. 568f. 63 F. Baiser, Sozialdemokratie 1848/49 bis 1862. Die erste deutsche Arbeiterorganisation „Allgemeine deutsche Arbeiterverbrüderung“ nach der Revolution, Stuttgart 1962; W. Conze u. D. Groh, Die Arbeiterbewegung in der nationalen Bewegung, Stuttgart 1966. 64 ME W, Bd. 32, S. 569. 65 Lassalle, Reden, Bd. 6, S. 332. 66 ME W, Bd. 32, S. 569. 67 E bd. 68 E . E ngelberg, Die Rolle von Marx und E ngels bei der Herausbildung einer selbständigen deutschen Arbeiterpartei 1864-1868, in: ZfG, Jg. 2, 1954/4, S. 522ff. 69 Vgl. dazu H. Hümmler, Opposition gegen Lassalle. Die revolutionäre politische Opposi­ tion im Alleemeinen Deutschen Arbeiterverein 1862/63-1864, Berlin (Ost) 1963. 70 R. P. Morgan, The German Social Democrats and the First International 1864-1872, Lon­ don 1965; G. D. Roth, The Social-Democrats in Imperial Germany. A study in Working Class Isolation and National Integration, E nglewood Cliffs ( N . J . ) 1963. 71 Der neue Aufschwung der demokratischen und proletarischen Bewegung. Die Bildung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins und des Verbandes Deutscher Arbeitervereine. In: Gesihichteder deutschen Arbeiterbewegung, hg. v. Inst, für Marxismus-Leninismus beim ZK der SE D, Bd. 1, Berlin (Ost) 1966, S. 215. 72 Hümmler, S. 51. 73 LW, Bd. 5, S. 396. 74 Zit. nach Hümmler, S. 46. 75 Aufschwung, S. 212. 76 Hümmler, S. 39. 77 ME W, Bd. 31, S. 46. 78 Aufschwung, S. 214. 79 LW, Bd. 5, S. 367. 80 E . Hackethal, Der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein unter dem E influß der Pariser Kommune, in: ZfG, Jg. 16, 1968/4, S. 443-461. 81 NZ, Jg. 3 1 , Bd. 2, 1913, S. 235. 82 Aus dem Lit. Nachlaß von Karl Marx, Friedrich E ngels und Ferdinand Lassalle, hg. v. F. Mehring, Bd. 4, Stuttgart 1902. 83 F. Lassalle, Nachgelassene Briefe und Schriften, hg. v. G. Mayer, 6 Bde., Stuttgart 1921-25, u. G. Mayer, Bismarck und Lassalle. Ihr Briefwechsel und ihre Gespräche, Berlin 1928. 84 I. Maiski), Ferdinand Lassalle, Moskau 1923. 85 H. Duncker, Die Lassalle-Legende, in: Internationale, 8, 1925, S. 242f.; G. Lukács, Die neue Ausgabe von Lassalles Briefen, in: AGSA, Jg. 11, 1925, S, 401-423. 86 Lukács, S. 423. 87 K. Renner, Lassalles geschichtliche Stellung, in: Gesellschaft 1, 1925, S. 309-322; H. Kel­ son, Marx oder Lassalle, Wandlungen in der polit. Theorie des Marxismus, in: AGSA, Jg. 11, 1925, S. 271-298. 88 K. F. Brockschmidt, Die deutsche Sozialdemokratie bis zum Fall des Sozialistengesetzes, Diss. Frankfurt 1929; P. Kampffmeyer, Lassalle, ein E rwecker der Arbeiterbewegung, Berlin 1925; K. Haenisch, Lassalle, Mensch und Politiker in Selbstanzeigen, Leipzig 1923. Kurt 411

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Anmerkungen zu Seite 293-303 Schumacher, Der Kampf um den Staatsgedanken in der deutschen Sozialdemokratie, hg. v. Friedrich Hohmeier mit e. Geleitw. von Herbert Wehner, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1973 (Neuaufl. der Ausg. Münster/Westf., Univ. Diss. 1920). 89 Lukács, S. 414 ff. 90 LW, Bd. 38, S. 323. 91 E bd., S. 333. 92 LW, Bd. 5, S. 355. 93 LW, Bd. 30, S. 468 f. 94 LW, Bd. 2 1 , S. 130 Fußnote. 95 ZfG, Je. 14, 1966, H. 8, S. 1317. 96 E . Silberner, Sozialisten zur Judenfrage. E in Beitrag zur Geschichte des Sozialismus von Anfang des 19. Jh. bis 1914, Berlin 1962. 97 S. Na'aman, S. 10.

13. Friedrich E bert als Reichspräsident 1 Viscount d'Abernon, E in Botschafter der Zeitenwende. Memoiren, Bd. II, Leipzig o. J . , S. 141. 2 Die Darstellung von Georg Kotowski, Friedrich E bert. E ine politische Biographie, Bd. I: Der Aufstieg eines deutschen Arbeiterführers 1871-1917, Wiesbaden 1963, ist nicht weiterge­ führt worden; ein knapper Überblick bei Waldemar Bcsson, Friedrich P^bert. Verdienst und Grenze, Göttingen 1963. 3 Die von Friedrich E gbert jun. herausgegebene Auswahlausgabe, E bert, F., Schriften, Auf­ zeichnungen, Reden. Mit unveröffentlichten E rinnerungen aus seinem Nachlaß. Mit einem Le­ bensbild von Paul Kampffmeyer, Dresden 1926, ist nicht ausreichend. - Zur Diffamierung Eberts in der Öffentlichkeit vgl. Wolfgang Birkenfeld, Der Rufmord am Reichspräsidenten. Zu Grenzformen des politischen Kampfes gegen die frühere Weimarer Republik 1919-1925, in: AfS, Bd. 5, 1965, S. 435-500. 4 Philipp Scheidemann, Memoiren eines Sozialdemokraten, Bd. 2, Dresden 1928, S. 357. 5 E b d . , S . 352 ff. 6 E ntwurf der künftigen Reichsverfassung, hg. im Auftrage des Reichsamts des Innern, Ber­ lin 1919, S. 24; vgl. W. J . Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik, Tübingen 1959, S. 345 ff. 7 Scheidemann, S. 355; vgl. Peter Haungs, Reichspräsident und parlamentarische Kabinetts­ regierung. E ine Studie zum Regierungssystem der Weimarer Republik in den Jahren 1924—1929, Köln 1968, S. l74ff. 8 Mommsen, S. 370. 9 Scheidemann. 10 W. Ziegler, Die deutsche Nationalversammlung 1919/1920 und ihr Verfassungswerk, Ber­ lin 1932, S. l30ff. 11 Verhandlungen der verfassungsgebenden deutschen Nationalversammlung zu Weimar, Bd. 328, S. 2076. 12 F. E bert, Schriften, Aufzeichnungen, Reden, Bd. 2, S. 162, 167, 180, 189. 13 F. E bert, Kämpfe und Ziele, S. 18; Scheidemann, S. 381. 14 F. E bert, Schriften, Aufzeichnungen, Reden, Bd. 2, S. 157, 161. 15 Mommsen, S. 361. 16 F. E bert, Bd. 2, S. 172. 17 Scheidemann, S. 381; vgl. R. Morsey, Die deutsche Zentrumspartei 1917-1923, Düssel­ dorf 1966, S. 274; vgl. Haungs, S. 176.

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Anmerkungen zu Seite 304-312 18 Koch-Weser im Hinblick auf die Kabinettsbildung nach der ersten Reichstagswahl; vgl. Haungs, S. 176, Anm. 48. 19 F. Poetzsch-Heffter, Vom Staatsleben unter der Weimarer Verfassung, 1. Teil: 1920-1924, in: JböR, Bd. 13, Tübingen 1925, S. 134; zum Gesamtproblem vgl. G. Schulz, Der Artikel48 in politisch-historischer Sicht, in: E . Fraenkel (Hg.), Der Staatsnotstand, Berlin 1965, S. 45f. 20 Konferenz von Spa vom 5.-16. 7. 1920 legte das deutsche Kohlenlieferungskontingent auf 2 Millionen Tonnen monatlich im Rahmen der Reparationsleistungen fest. Bei Nichterfüllung wurde die Besetzung deutschen Gebietes angedroht. 21 Londoner Ultimatum vom 4. 5. 1921, forderte von Deutschland die Anerkennung einer Reparationsschuld von 123 Milliarden Goldmark und eine jährliche Abgabe in Höhe von 26 Prozent des Wertes der deutschen Ausfuhr. 22 Morsey, S. 499; vgl. H. A. Turner, Stresemann and the Politics of the Weimar Republic, Princeton, N . J . 1963, S. 103. 23 Reichsexekution gegen Sachsen: die 1923 in Sachsen gebildete sozialdemokratisch-kom­ munistische Koalitionsregierung Zeigner wurde im Wege der Reichsexekution abgesetzt. 24 Morsey, S. 546. 25 G. Stresemann, Vermächtnis, Bd. 1, Berlin 1932, S, 243. 26 E bd., S. 245. 27 F. E bert, Schriften, Aufzeichnungen, Reden, Bd. 2, S. 216. 28 J . Wirth, Die Festigung der Republik, in: Friedrich E bert und seine Zeit. E in Gedenkwerk über den ersten Präsidenten der Deutschen Republik, Berlin 1928, S. 321. 29 Abkommen von Rapallo: Vertrag vom 16. 4. 1922 zur Aufnahme diplomatischer Bezie­ hungen zwischen der Sowjetunion und dem Deutschen Reich. 30 J . Becker, E ine Niederschrift Joseph Wirths über seinen E intritt in das Reichskabinett 1920, in: ZGO, N . F . , Bd. 73, 1964, S. 246. 31 Schreiben E berts an Ü. Hergt vom November 1923, in: Poetzsch-Heffter, S. 164. 32 Becker, S. 246. 33 O. Geßler, Reichswehrpolitik in der Weimarer Zeit, hg. v. K. Sendtner, Stuttgart 1958, S. 322. 34 E bd., S. 331; Stresemann, Bd. 2, S. 39. 35 Akten der Reichskanzlei, Weimarer Republik, hg. v. K. D. E rdmann u. W. Mommsen. Das Kabinett Cuno, 22. November 1922 bis 12. August 1923, bearb. v. K.-H. Harbeck, Bop­ pard 1968. 36 Stresemann, Bd. 2, S. 38. 37 J . E rger, Der Kapp-Lüttwitz-Putsch. E in Beitrag zur deutschen Innenpolitik 1919/20, Düsseldorf 1967, S. 174, I85f. 38 E bd., S. 175; zur Frage der ursprünglichen Billigung des Generalstreikaufrufs durch E bert und dessen späterem Dementi vgl. S. 193 f. 39 H. H. Hofmann, Der Hitlerputsch, München 1961. 40 Scheidemann, S. 383. 41 G. Noske, E rlebtes aus Aufstieg und Niedergang einer Demokratie, Offenbach 1927, S. 2l8ff.ï Geßler, S. 386, 42 F. E bert, Kämpfe und Ziele, S. 22 f., 25, 43 Geßler, S. 327. 44 O. Braun, Von Weimar zu Hitler, Hamburg 1949, S. 71 ff. 45 Artikel 48 der Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919 lautet: Wenn ein Land die ihm nach der Reichsverfassung oder den Reichsgesetzen obliegenden Pflichten nicht er­ füllt, kann der Reichspräsident es dazu mit Hilfe der bewaffneten Macht anhalten. Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ord­ nung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicher-

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Anmerkungen zu Seite 312-319 heit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten. Zu diesem Zwecke darf er vorübergehend die in den Artikeln 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 festgesetzten Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft setzen. Von al­ len gemäß Abs. 1 oder Abs. 2 dieses Artikels getroffenen Maßnahmen hat der Reichspräsident unverzüglich dem Reichstag Kenntnis zu geben. Die Maßnahmen sind auf Verlangen des Reichs­ tags außer Kraft zu setzen. Bei Gefahr im Verzüge kann die Landesregierung für ihr Gebiet einstweilige Maßnahmen der in Abs. 2 bezeichneten Art treffen. Die Maßnahmen sind auf Ver­ langen des Reichspräsidenten oder des Reichstags außer Kraft zu setzen. Das Nähere bestimmt ein Reichsgesetz. 46 Braun, S. 74 f. 47 Vgl. die scharfe Kritik A. Arndts (Demokratie- Wertsystem des Rechts; in: Notstandsge­ s e t z - a b e r wie? Köln 1962, S. 20) an der mangelnden Unterscheidung zwischen Verfassungsstö­ rung und Notstand in der Intention des Art. 48. 48 W. Kronheimer, Der Streit um den Art. 48 der Reichsverfassung, in: AÖR, N . F . , 1924, S. 3l4f. 49 Arndt, S. 20f. 50 U . Scheuner, Die Anwendung des Art. 48 der Weimarer Reichsverfassung unter den Prä­ sidentschaften von E bert und Hindenburg, in: Staat, Wirtschaft und Politik in der Weimarer Republik, Fs. für Heinrich Brüning, hg. v. F. A. Hermens u. Th. Schieder, Berlin 1967, S. 262. Scheuner meint, daß der Anwendung des Art. 48 in der Phase von 1919-1924 durchaus noch ein parlamentarisches Gepräge anhaftet und daß politisch die Anwendung der Diktaturgewalt „ne­ ben einem voll funktionierenden parlamentarischen System auf eine ergänzende Rolle be­ schränkt“ geblieben sei, womit er gerade den verhängnisvollen politischen Mechanismus der Aushöhlung parlamentarischer Verantwortlichkeit unterbewertet; vgl. Haungs, S. 177. 51 Geßler, S. 324. 52 Dies hebt Arndt, S. 20, pointiert hervor. 53 F. E bert, Schriften, Aufzeichnungen, Reden, Bd. 2, S. 164. 54 E bd., S. 157. 55 G. Jasper, Der Schutz der Republik. Studien zur staatlichen Sicherung der Demokratie in der Weimarer Republik, Tübingen 1963, S. 97, betont E berts vorsichtig-ausgleichende Rolle. 56 A. Brecht, Aus nächster Nähe. Lebenserinnerungen 1884-1927, Stuttgart 1966,S. 3 l l f f . : „Das eigentlich E rstaunliche ist nicht, daß dreizehn Jahre später (nach dem Verlust der prode­ mokratischen Mehrheit 1920) die demokratische Verfassung in Deutschland zusammenbrach, sondern daß das nicht schon viel eher geschah.“

14. Die Bergarbeiterbewegung an der Ruhr 1918-1933 1 Vgl. M. Koch, Die Bergarbeiterbewegung im Ruhrgebict zur Zeit Wilhelms II. (1889-1914), Düsseldorf 1954, S. 89, l30f. 2 E bd., S. 146. 3 E bd., S. 126. 4 Vgl. ebd. die Tabelle 12, aus der eine Disproportion zwischen Mitgliedern des Verbandes und unorganisierten Streikenden hervorgeht. 5 Vgl. F. Opel, Der Deutsche Metallarbeiter-Verband während des Weltkrieges und der Re­ volution, Hannover 1962 2 , S. 28ff. 6 Vgl. dazu insbesondere die vorbildliche Analyse von E . Lucas, Ursachen und Verlauf der Bergarbeiterbewegung in Hambornundim westlichen Ruhrgebiet 1918/19, in: Duisburger For­ schung, Bd. 15, Duisburg 1971, S. 7ff. 414

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Anmerkungen zu Seite 319-328 7 Vel. Koch, S. 102. 8 Vgl. G. D. Feldman, Army, Industry and Labor in Germany 1914-1918, Princeton 1966, S. 389f.; W. Neumann, Die Gewerkschaften im Ruhrgebiet, Köln 1951, S. 168ff. 9 Vgl. A. Schmidt, Lang war der Weg, Bochum 1958, S. 100; Vierzig Jahre Bergbau und Bergarbeiterverband 1889-1929, hg. v. Verband der Bergarbeiter Deutschlands, Bochum 1929. 10 Vgl. Feldman, S. 379ff.; L. Preller, Sozialpolitik in der Weimarer Republik, Stuttgart 1949, S. 45f., 99f. 11 Vgl. H. J . Varain, Freie Gewerkschaften, Sozialdemokratie und Staat, Düsseldorf 1956, S. 88 ff. 12 Vgl. die scharfe Kritik von Lucas, S. 27f. 13 P. ü s t h o l d , Die Geschichte des Zechenverbandes, Berlin 1934, S. 258ff. 14 Verhandlungen und Vereinbarungen der vier Bergarbeiterverbände mit dem Zechenver­ band v. Oktober 1918 bis Juli 1919, hg. v. Verband der Bergarbeiter Deutschlands, Bochum 1919, S. 6. 15 Protokoll der Sitzung des Geschäftsausschusses des Zechenverbands v. 14. Oktober 1918, Bergbau-Archiv 13/513. 16 Niederschrift über die Verhandlungen des Geschäftsausschusses mit den Vertretern der Bergarbeiterverbände am 18. Oktober 1918 und dieselbe am 14. November 1918, Bergbau-Ar­ chiv 13/513. Vgl. Verhandlungen der Bergarbeiterverbände, S. 7f. 17 Schmidt, S. 96. 18 Schreiben des Zechenverbands an die NiederlausitzerBraunkohlenwcrke v. 30. Dezember 1918, Bergbau-Archiv 13/508. 19 Rundschreiben des Zechenverbands an die Zechendirektoren v. 12. Dezember 1918, Bergbau-Archiv 13/513. 20 Vgl. G. I ) . Feldman, German Business Between War and Revolution: the Origins of the Stinnes-Legien Agreement, in: G. A. Ritter (Hg.), E ntstehung und Wandel der modernen Ge­ sellschaft (Fs. für H. Rosenberg), Berlin 1970, S. 323ff.; vgl. 326f. 21 Niederschrift über die Sitzung des erweiterten Geschäftsausschusses des Zechenverbandes mit den Vertretern der Bergarbeiterverbände v. 14. November 1918, Bergbau-Archiv 13/513. 22 Vgl. Schreiben des Zechenverbands an die Bergwerksdirektion v. 22. November 1918, Bergbau-Archiv 13/513. 23 Abdruck bei H. Spethmann, Zwölf Jahre Ruhrberebau, Berlin 1928, Bd. I, S. 360f. 24 S.o., Anm. 22. 25 Vgl. den Aufruf des Alten Verbandes v. 16. November 1918, bei Spethmann, S. 98 f. 26 Vgl. Dörnemann, S. 269. 27 Vgl. Schmidt, S. 106 f. 28 Siehe das Flugblatt des Christlichen Gewerkvereins v. 31. Oktober 1919, Bergbau-Archiv 13/650 sowie das Rundschreiben des Zechenverbandes an die Bergwerksdirektion v. 4. Novem­ ber 1919, ebd., 13/520. 29 Vgl. dazu den Aufsatz des Verf., Der Ruhrbergbau im Spannungsfeld von Politik und Wirtschaft in der Zeit der Weimarer Republik, in: BDL, Jg 108, 1972, S. 166. 30 Zu den Tarifverhandlungen vgl. Dörnemann, S. 113 ff.; Niederschrift der Verhandlungen des erweiterten Geschäftsausschusses des Zechenverbands mit den Bergarbeiterverbänden v. 6. Januar 1919, Bergbau-Archiv 13/513. 31 Vgl. das Schreiben v. Bergassessor v. Loewenstein an Bergassessor Battig v. 26. Nov. 1918, ebd. 32 Vgl. Lucas, S. 35 ff.; Verhandlungen der Bergarbeiterverbände, S. 9. 33 V. Raumer hatte einen wesentlich stärkeren Widerstand der Bergarbeiterverbände erwar­ tet; vgl. Feldmann, German Business, S. 326. 34 In einem Schreiben an Bergassessor Battig v. 26. November 1918 (Bergbau-Archiv 13/513) meinte v. Löwenstein: „Das Festhalten an der achtstündigen Schicht der Arbeiter (durch die 415

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Anmerkungen zu Seite 329-335 Bergarbeiterverbände) ist meines E rachtens den Preis wert, der gezahlt werden mußte, um den Führern der Organisationen klarzumachen, daß wir ihnen unter allen Umständen den Rücken stärken wollen.“ 35 Vgl. Lucas, S. 76; G. Brehme, Die sogenannte Sozialisierungsgesetzgebung der Weimarer Republik, Berlin 1960, S. 40ff. Vgl. die Übersicht des Verf. im Katalog „Bergarbeiter“. Ausstel­ lung zur Geschichte der organisierten Bergarbeiterbewegung in Deutschland, Bochum 1969, Kap. 15. 37 Vgl, hierzu vor allem die Studie von P. v. Oertzen: Die großen Streiks der Ruhrbergarbei­ terschaft im Frühjahr 1919, in: VfZ, Jg. 6, 1958, S. 240ff., sowie die unkritische Darstellung bei Dörnemann, S. 28 ff. 38 Vgl, Brehme, S. 52f.; Katalog „Bergarbeiter“, Kap. 16. 39 Dörnemann, S. 50. 40 Oertzen, S. 248; vgl. das von ihm auf S. 253 ff. zusammengestellte Material sowie die Bro­ schüre der Neuenerkommission: Die Sozialisierung des Bergbaus und der Generalstreik im rheinisch-westfälischen Industriegebiet, E ssen o. J . (1919), ferner die Aufzeichnungen H. Wee­ kes über den Verlauf der E ssener Konferenz v. 13. Januar (Nachlaß Weeke, IGBE -Archiv Bo­ chum). 41 Lucas, S. 103ff, 42 Siehe die verdienstvollen Darstellungen von E . Lucas, Märzrevolution im Ruhrgebiet. Vom Generalstreik gegen den Militärputsch bis zum bewaffneten Arbeiteraufstand März-April 1920, Bd. I, Frankfurt 1970, sowie: Märzrevolution 1920. Der bewaffnete Arbeiteraufstand im Ruhrgebict in seiner inneren Struktur und in seinem Verhältnis zu den Klassenkämpfen in den verschiedenen Regionen des Reiches, Frankfurt 1973. Lucas befreit das Bild der Kämpfe an der Ruhr von den polemischen E ntstellungen, wie sie bei Spethmann, aber auch bei den zeitgenössi­ schen sozialdemokratischen Stellungnahmen vorgenommen worden sind. E r überschätzt indes­ sen die revolutionäre Zielstrebigkeit der Bewegung trotz aller von ihm selbst gemachten E in­ schränkungen. 43 Vgl. die Analyse v, G. D. Feldman, E . Kolbu. R. Rürup, Die Massenbewegungen der Ar­ beiterschaft in Deutschland am Ende des Ersten Weltkrieges (1917-1920), in: PVS, Jg. 13, 1972, S. 84-105, die die Eigenständigkeit der Bergarbeitererhebungen an der Ruhr unter- und ihre po­ litischen Chancen überbewertet. Vgl. ferner die vorstehend zitierten Darstellungen von Lucas, die den Zerfall der Kampfhandlungen in E inzelgefechte erkennen läßt. Die von ihm erörterte Hypothese (Märzrevolution 1920, S. 175 ff.), bei einer anderen E ntwicklung in Berlin hätte die Bewegung sich politisch behaupten können, erscheint wenig plausibel. 44 Vgl. O. Hué, Die Sozialisierung der Kohlenwirtschaft, Berlin 1921; Jahrbuch des Verban­ des der Bergarbeiter Deutschlands 1920, S. 38ff.; Dörnemann, S. 212ff.; sowie Oertzen, S. 261. 45 Vgl. Dörnemann, S. 172ff. 46 1921 erhielten der Alte Verband 145 000, der Gewerkverein 63000, die Unionisten 91 000 u. die Syndikalisten 17000 Stimmen (nach Dörnemann, S. 109). 47 Die Mitgliederzahl des Alten Verbandes sank von 185 540 am 1. Januar 1919 auf 152 255 am 31. Dezember 1921 ab und erreichte 1927 den Tiefpunkt von nur 60263 Mitgliedern (Quelle: Jahrbücher des Verbandes der Bergarbeiter Deutschlands, 1921 ff.). Diesen für den Ruhrbezirk geltenden Ziffern steht eine gegenüber 1920/21 um etwa ¼ gesunkene Beschäftigtenzahl im OBA Dortmund gegenüber. 48 Vgl, H. M. Bock, Syndikalismus und Linkskommunismus von 1918-1923, Meisenheim 1969, S. l27f., l32ff., 181 ff. 49 Vgl. Katalog „Bergarbeiter“, Kap. 21. 50 Vgl. die E rklärung der Funktionärskonferenz des Alten Verbandes v. 15. Januar 1921 in Berlin (Jb. des Verbandes der Bergarbeiter Deutschlands 1921, S. l00ff.)sowieProtokollder23. Generalversammlung des Verbandes der Bergarbeiter Deutschlands in Gießen, Bochum 1921; ferner Dörnemann, S. 236 ff.

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A n m e r k u n g e n z u Seite 3 3 6 - 3 4 5

51 V g l . J b . des V e r b a n d e s der B e r g a r b e i t e r D e u t s c h l a n d s 1919, S. 3 8 1 . 52 E inen Ü b e r b l i c k ü b e r d i e A r b e i t s z e i t r e g e l u n g e n bei Preller, S. 176f. und 3 0 4 f . ; z u r E nt­ w i c k l u n g der A r b e i t s z e i t r e g e l u n g e n i m R u h r b e r g b a u s. die Tabelle bei O s t h o l d , A n h a n g , S. I. 53 V g l . S p e t h m a n n , B d . 3, S. 378 f.; J b . des V e r b a n d e s der B e r g a r b e i t e r D e u t s c h l a n d s 1923, S. 251 f. 54 V g l . G . A r n s , R e g i e r u n g s b i l d u n g u n d K o a l i t i o n s p o l i t i k in der W e i m a r e r R e p u b l i k 1 9 1 9 - 1 9 2 4 , D i s s . p h i l . T ü b i n g e n 1 9 7 1 , S. 163ff. 55 V g l . U n t e r n e h m e r u n d K o m m u n i s t e n w ä h r e n d der B e r g a r b e i t e r k ä m p f e im M a i 1924, hg. v. V e r b a n d d e r B e r g a r b e i t e r D e u t s c h l a n d s , B o c h u m 1924, S. 28. 56 V g l . e b d . , S. l 9 f . 57 V g l . den Brief v. H . Stinnes a n S t r e s c m a n n v. 7. O k t o b e r 1923, a b g e d r u c k t bei S p e t h m a n n , Bd. 3, S. 171 f. 58 E rst d e r unter v. P a p e n gefällte S c h i e d s s p r u c h v o m 24. S e p t e m b e r 1932 e r k l ä r t e das Ü b e r ­ a r b e i t s a b k o m m e n z u m B e s t a n d t e i l der j e w e i l s geltenden R a h m e n t a r i f v e r e i n b a r u n g e n . 59 V g l . den Beitrag v. K. M a t t h e i c r , W e r k v e r e i n e und A r b e i t e r b e w e g u n g , i n : J . R e u l e c k e ( H g . ) , A r b e i t e r b e w e g u n g an R h e i n u n d R u h r , W u p p e r t a l 1974, S. 200f. 60 G u t a c h t e n über die g e g e n w ä r t i g e L a g e des R h e i n . - W e s t f . S t e i n k o h l e n b e r g b a u s , Berlin 1929. Das M e h r h e i t s g u t a c h t e n e r r e c h n e t e u n t e r E i n b e z i e h u n g der G e w i n n e aus der K o k s p r o ­ d u k t i o n und den H a n d e s l g e s e l l s c h a f t e n einen Verlust von 0,27 R M pro t absatzfähige P r o d u k ­ tion, w ä h r e n d das S o n d e r g u t a c h t e n B a a d e einen G e w i n n von 0,58 R M e r r e c h n e t e , aber Berg­ schäden und A b s c h r e i b u n g e n zu niedrig v e r a n s c h l a g t e . 61 A u s f ü h r u n g e n von G e n e r a l d i r e k t o r W i s k o t t in den V e r h a n d l u n g e n ü b e r die L o h n f o r d e ­ rungen der B e r g a r b e i t e r am 14. N o v e m b e r 1924; ferner Niederschrift ü b e r die V e r h a n d l u n g e n mit den B e r g a r b e i t e r v e r b ä n d e n v. gleichen l ä g e , in: B e r g b a u - A r c h i v 13/550. 62 Vgl. M o m m s e n , S. 173. 63 Schreiben v. 6. N o v e m b e r 1924, B e r g b a u - A r c h i v 13/350. 64 B e r g b a u - A r c h i v 13 5 5 3 . 65 V g l . E . Lraenkel, D e r R u h r e i s e n s t r e i t 1 9 2 8 - 1 9 2 9 in historich-politische r Sicht, i n : Staat, Wirtschaft und Politik in der W e i m a r e r R e p u b l i k , E s. f. H . Brüning, 1967, S. 9 7 - 1 1 7 . 66 Niederschrift der S i t z u n g des R e i c h s k a b i n e t t s v. 24. September 1931, M i k r o f i l m IfZ Ma 149 15. 67 V g l . Katalog „ B e r g a r b e i t e r “ , Kap. 2 9 .

15. S o z i a l d e m o k r a t i e in d e r Defensive 1 H i e r vor allem H . A . W i n k l e r , M i t t e l s t a n d , D e m o k r a t i c u . N a t i o n a l s o z i a l i s m u s . Die* politi­ sche E n t w i c k l u n g von H a n d w e r k u. Kleinhandel in d e r W e i m a r e r R e p u b l i k , Köln 1972. 2 V g l . H . M o m m s e n / D . P e t z i n a / B . W e i s b r o d ( H g . ) , Industrielles S y s t e m u. p o l i t i s c h e E nt­ w i c k l u n g in der W e i m a r e r R e p u b l i k , D ü s s e l d o r f 1974. 3 R. V H u n t , G e r m a n Social D e m o c r a c y 1 9 1 8 - 1 9 3 3 , C h i c a g o 1970 2 . D i e n a c h s t e h e n d e Stu­ die stützt sich w e i t g e h e n d auf H u n t s D a r s t e l l u n g und ist bestrebt, sie in einzelnen P u n k t e n zu e r g ä n z e n . Die schon vor d e m E rsten W e l t k r i e g e sich v o l l z i e h e n d e „ V e r b ü r g e r l i c h u n g “ d e r S P D , die H u n t neben der B ü r o k r a t i s i e r u n g und Ü b e r a l t e r u n g h e r v o r h e b t , ist im Kontext des s o z i a l e n U m s c h i c h t u n g s p r o z e s s e s der u n t e r s u c h t e n P e r i o d e w e n i g signifikant. 4 E . M a t t h i a s , Die S o z i a l d e m o k r a t i s c h e Partei D e u t s c h l a n d s , in: E . M a t t h i a s u. R. M o r s e y ( H - . ) , Das E nde der P a r t e i e n 1933, D ü s s e l d o r f I960, S. 1 0 1 - 2 7 8 ; S. B a h n e , Die K o m m u n i s t i ­ sche Partei D e u t s c h l a n d s , e b d . , S. 6 5 5 - 7 3 9 . 5 H . H e e r , Burgfrieden oder K l a s s e n k a m p f . Z u r P o l i t i k der s o z i a l d e m o k r a t i s c h e n G e w e r k ­ schaften 1 9 3 0 - 1 9 3 3 , N e u w i e d 1971. 417 27

Mommsen,

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Anmerkungen zu Seite 345-354 6 Vgl. die aufschlußreiche Studie von E . Hamburger, Betrachtungen über Heinrich Brün;ngs Memoiren, in: IWK, 15, 1972, S. 28f. 7 NBS, 3, Dez. 1932, S. 620. 8 Miles, Neu beginnen, Karlsbad o . J . , 1933, S. 5. 9 Die E inschätzung des Nationalsozialismus durch die verschiedenen Gruppen der SPD be­ darf einer eingehenderen Untersuchung. 10 Vgl. W. Mommsen, Deutsche Parteiprogramme, München 1960, S. 453ff. 11 Vgl. G. Hoff mann, Sozialdemokratie und Berufsbeamtentum, phil. Diss. Hamburg 1970, S. 227, 231 ff. 12 Protokoll des Sozialdemokratischen Parteitags in Kiel, 1927, S. 172 f. 13 E bd., S. 210, 197. 14 E bd., S. 173. 15 NBS, 1, 1930, S. 387. 16 E bd., 2, 1931, S. 7f. 17 Zit. nach M. Stürmer, Koalition und Opposition, Düsseldorf 1967, S. 137. 18 Vgl, Ch. Beradt, Paul Levi. E in demokratischer Sozialist in der Weimarer Republik, Frankfurt 1969, S. 100. 19 Vgl. Hunt, S. 116. 20 Dies gilt etwa für die Schaffung einer eigenen Akademie der Arbeit und die Verselbständi­ gung der Arbeitsgerichtsbarkeit. 21 Vgl. den Beitrag des Verf. in: W. Schmitthenner u. H. Buchhcim, Der deutsche Wider­ stand gegen Hitler, Köln 1966, S. 76f. 22 Die Organisation im Klassenkampf. Die Probleme der politischen Organisation der Ar­ beiterklasse, Berlin o . J . (1931), S. 67. 23 NBS, 2, 1931, S. 211. 24 Zum ISK die vorzügliche Studie von W. Link, Geschichte des Internationalen Jugend­ bundes (IJB) und des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes (ISK), Meisenheim 1964. 25 Die Organisation im Klassenkampf, S. 105. 26 NBS, 2, 1931, S. 212. 27 Zit. nach: Die Organisation im Klassenkampf, S. 152. 28 ME W, Bd. 22, S. 509-527. Damit ist nicht gesagt, daß E ngels selbst ein defensives Kon­ zept vertreten hätte; indessen hat das E ntwicklungsschema, das der Konterrevolution die Be­ stimmung des Konfliktzeitpunkts an die Hand gab, in dieser Richtung gewirkt. 29 Parteitagsprotokoll Magdeburg 1929, S. 14; vgl. H. J . L. Adolph, O. Wels und die Politik der deutschen Sozialdemokratie 1894-1939, Berlin 1971, S. 231. 30 Vgl. N. Leser, Zwischen Reformismus und Bolschewismus. Der Austromarxismus als Theorie und Praxis, Wien 1968, S. 394ff., 398; O. Leichter, Otto Bauer, Tragödie oder Triumph, Wien 1970, S. 183 ff. 31 Vgl. O. Leichter, Zwischen zwei Diktaturen, Wien 1968, S. 83. 32 Vgl. Hunt, S. 56f. 33 Vgl. J . Leber, E in Mann geht seinen Weg, Berlin 1952, S. 195. Zahllose Äußerungen fin­ den sich in den Neuen Blättern und in Organisation im Klassenkampf. 34 Vgl. Ch. Beradt, S. 76f. 35 Leber, E in Mann geht seinen Weg, S. 195. 36 Die Mitgliedsziffern bei Hunt, S. 100; S. Bahne S., 661. 37 Vgl, Hunt, S. 111 ff.; Hunt beobachtet eine um 2 Jahre verschobene Korrelation zwischen Wähler- und Mitgliederentwicklung (S. 101). 38 Stat. Jb. f. d. DReich, 1937, S. 23; StDR, Bd. 408, S. 5 und 51 ff. 39 Leider fehlen bislang zuverlässige sozialstatistische Untersuchungen über diese E ntwick­ lung. Nach den Jahresberichten der Preußischen Gewerbeaufsichtsbeamten, hg. v. Ministerium für Handel und Gewerbe, Berlin 1904ff. über die Zahl der Arbeiter in den Industriebetrieben

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Anmerkungen zu Seite 354-363 mit mehr als 10 bzw. 5 Beschäftigten und in den Bergwerken, Salinen und Aufbereitungsanlagen (Anhang, Tabelle II b und c) läßt sich seit 1922 eine Stagnation und teilweise ein Beschäftigungs­ rückgang feststellen. 40 Hunt, S. 104. 41 E bd., S. l36f. 42 E bd., S. 112. 43 Vgl. E . Lederer, Die Umschichtung des Proletariats, in: NR, 40, 1929; T. Geiger, Die Mittelschichten und die Sozialdemokratie, ebd., Bd. 8, 1931. 44 Vgl. Hunt, S. l29f. Diese zentrale Frage bedürfte einer eingehenden Untersuchung. 45 E in Beispiel dafür ist die Politik des Allgemeinen Deutschen Beamtenbundes, der zunächst die 1922 erfolgte Spaltung des DBB durch eine Vereinigung rückgängig zu machen bestrebt war, seit 1926 aber seine Agitation in starkem Maße der Polemik gegen den DBB widmet. 46 R. Heberle, Landbevölkerung und Nationalsozialismus, Stuttgart 1963; G. Stoltenberg, Politische Strömungen im schleswig-holsteinischen Landvolk 1918-1933, Düsseldorf 1962. 47 Parteitagsprotokolí Magdeburg 1929, S. 15; vgl. Adolph, S. 224ff. über Wels'wenig diffe­ renziertes Verhältnis zur KPD. 48 K. Rohe, Das Reichsbanner Schwarz Rot Gold, Düsseldorf 1966, S. 3l4ff., 333f. 49 Parteitagsprotokolí Kiel 1927, S. 34. 50 Hunt, S. 71, 89f., 106ff. 51 E bd., S. 72. 52 Jahrbuch der Sozialdemokratischen Partei 1930, hg. v. Vorstand der SPD, Berlin, S. 193 f.: die vorstehenden und die folgenden Angaben beruhen auf einer sorgfältigen statistischen Aus­ wertung von Frau Renate Szameit, E ssen. 53 Vgl. H. Press, Jugend, E ros, Politik. Geschichte der deutschen Jugendverbände, Bern 1964, S. 474; Hunt, S. 110; P. D. Stachura, Nazi Youth in the Weimar Republic, Santa Barbara 1975, S. 112ff.; Rudolf Kneip, Jugend der Weimarer Zeit. Handbuch der Jugendverbände, Frankfurt 1974, S. 224f.; StDR, Bd. 451/11, 1933, S. 2210. 54 Vgl. A. Klönnc, Hitlerjugend. Die Jugend und ihre Organisation im Dritten Reich, Han­ nover 1960, S. 14 f. ; H . - C h . Brandenburg, Die Geschichte der H J , Köln 1968, S. 58, 115u. 122. B. schätzt für 1932 50000 HJ-Mitglieder; H. Pross, S. 469ff. 55 Th. Haubach, Die Generationenfrage und der Sozialismus, in: Soziologische Studien zur Politik, Wirtschaft und Kultur der Gegenwart. Alfred Weber gewidmet, Berlin 1930, S. 106-120. 56 Matthias, S. 242ff., l90f. 57 Haubach, Die Gcnerationenfraize, S. 112, 58 Parteitagsprotokolí Leipzig 1931, S. 215; vgl. K. Korn, Die Arbeiterjugendbewegung. Einführung in ihre Geschichte, Berlin 1922, S. 121 f. 59 NBS, 2, 1931, S. 328. 60 Vgl. Parteitagsprotokolí Leipzig 1931, S. 2l6f., 228f. 61 NBS, 1, 1930, S. 301. 62 E bd., 3, 1932, S. 312. 63 E s ist ein Charakteristikum der Weimarer Innenpolitik, daß Löhne, Gehälter, Steuerbela­ stung, aber auch E xport- und Importquoten stets am Maßstab der Vorkriegsdaten bemessen wurden. Die Gewerkschaften machten davon keine Ausnahme. Insbesondere die Unternehmer­ schaft betrachtete das Jahr 1913 als Zielpunkt, zu dem zurückgekehrt werden müsse, um nor­ male ökonomische Verhältnisse zu erreichen. Die psychologische Bedeutung dieses Sachverhalts für das Selbstverständnis der Republik verdient eine nähere E rörterung. 64 NBS, 2, 1931, S. 212. 65 Zit. nach Ch. Beradt, S. 96f. 66 Der Faschismus als E rscheinungsform der Ungleichzeitigkeit, in: E . Nolte (Hg.), Theo­ rien über den Faschismus, Köln 1967, S. 197.

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Anmerkungen zu Seite 363-375 67 E bd., S. 198. 68 Vgl. H. Drechsler, Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD), Meisenheim 1965, S. 100ff.; K. H. Tjaden, Struktur und Funktion der KPD-Opposition, Meisenheim 1969; O. Ihlau, Die Roten Kämpfer, Meisenheim 1969. 69 Zit. nach Drechsler, S. 241. 70 Miles, Neu beginnen, S. 35.

16. Die deutseben Gewerkschaften zwischen Anpassung und Widerstand 1930-1944 1 J . G. Leithäuser, W. Leuschner. E in Leben für die Republik, Köln 1962, S. 184. 2 Vgl. ebd., S. l55f. 3 Vgl. H. Heer, Burgfrieden oder Klassenkampf. Zur Politik der sozialdemokratischen Ge­ werkschaften 1930-1933, Neuwied 1971, S. 99. 4 Vgl. Leithäuser, S. 94; vgl. H. Skrzypczak, Some strategic and tactical problems of the German free trade union movement during the Weimar Republic, in: IWK, 13, 1971, S. 43. 5 Heer, S. I72f. 6 Vgl. H. G. Schumann, Nationalsozialismus und Gewerkschaftsbewegung. Die Vernichtung der deutschen Gewerkschaften und der Aufbau der „Deutschen Arbeitstrom“, Hannover 1958, S. 57f.; G. Beier, E inheitsgewerkschaft. Zur Geschichte eines organisatorischen Prinzips der deutschen Arbeiterbewegung, in: AfS, Bd. 13, 1973, S. 237; Skrzypczak, S 44, Anm. 67. 7 Vgl. Beier, zur E ntstehung des Führerkreises der vereinigten Gewerkschaften E nde April 1933, in: AfS, Bd. 15, 1975, S. 365ff. 8 Dies ist die Tendenz des materialreichen, in der E inzelkritik zutreffenden, aber in der Ge­ samtbewertung völlig unbefriedigenden Buches von Heer; vgl. die Darstellung bei Schumann, S. 53 ff. u. K. D. Bracher u.a., Die nationalsozialistische Machtergreifung, Köln I960, S. I75ff. 9 Zit. nach Beier, S. 223, 225. IC Gewerkschafts-Zeitung, Jg. 43, 1933, H. 12, S. 178; vgl. Beier, S. 226. 11 Vgl. Beier, S. 228. 12 Typisch dafür die von Beier, S. 226 zitierten Stellungnahmen L. E rdmanns sowie die bei Heer, S. 173 ff. abgedruckten Artikel aus der Gewerkschahs-Zeitung. 13 G. D. Feldman, German Business between War and Revolution: The Origins of the Stin­ nes-Legien Agreement, in: G. A. Ritter (Hg.), E ntstehung u. Wandel der modernen Gesell­ schaft, Fs. für H. Rosenberg, Berlin 1970, S. 3 12—42; ders., Die Freien Gewerkschaften u. die Zentralarbeitsgemeinschaft 191S-1924, in: H. O. Vetter (Hg.), Vom Sozialistengesetz zur Mit­ bestimmung. Zum 100. Geburtstag von Hans Böckler, Köln 1975, S. 229-52. 14 Vgl. den Beitrag des Verf.: Sozialpolitik im Ruhrbergbau, in: H. Mommscn u.a. (Hg.), Industrielles System und politische E ntwicklung in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1974, S. 303 ff. sowie U. Hüllbüsch, Der Ruhreisenstreit in gewerkschaftlicher Sicht, ebd., S. 27 ï it.; vgl. ferner M. Martiny in: J . Reulecke (Hg.), Arbeiterbewegung an Rhein u. Ruhr. Beiträge zur Ge­ schichte der Arbeiterbewegung in Rheinland-Westfalen, Wuppertal 1974, S. 241 ff. 15 Zum Wiederaufleben dieser im Grunde antiquierten Frontstellung vgl. den instruktiven Artikel von H. Ü. Hemmer u . U . Borsdorf, „Gewerkschaftsstaat“. Zur Vorgeschichte eines ak­ tuellen Schlagworts, in: G w M H , 25. Jg., 1974, S. 640ff. 16 Vgl.L. Preller, Sozialpolitik in der Weimarer Republik, Stuttgart 1949, S. 1 76 f.; ferner H. Mommscn, in: Reulecke (Hg.), Arbeiterbewegung, S. 302 ff. 17 Vgl. M. Schneider, Konjunkturpolitische Vorstellungen der Gewerkschaften in den letz-

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Anmerkungen zu Seite 375-381 ten Jahren der Weimarer Republik, in: Mommsen u. a., Industrielles System, S. 226ff.; vgl. fer­ ner die scharfe Kritik von R. A. Gates an der ablehnenden Haltung des SPD-Vorstandes gegen­ über dem WTB-Plan in dessen Beitrag: Von der Sozialpolitik zur Wirtschaftspolitik? Das Di­ lemma der deutschen Sozialdemokratie in der Krise 1929-1933, in: E bd., S. 2l7ff. 18 Vgl. die Aufzeichnung von Staatssekretär H, Schäffer über die Sitzung des Wirtschaftsaus­ schusses des Reichskabinetts vom 18. Februar 1932 (Tagebuch H. Schäffer, IfZ E D 93, Bd. 18, Bl. l95ff.). 19 Vgl. Heer, S. 89ff. 20 Vgl. Heer, S. 95 ff.; vgl. Skrzypczak, S. 40 f. u. den von ihm beigebrachten Hinweis auf die Memoiren E . Lemmers. 21 Im Juni 1930 war die von Brüning forcierte Wiederbegründung der ZAG ganz überwie­ gend an den überzogenen Forderungen der Unternehmerschaft gescheitert; auf Seiten des ADGB erschien die Rückkehr zur ZAG trotz der ungünstigen E rfahrungen als eine wünschens­ werte Auffangposition. Dies beleuchtet die gewerkschaftliche Schwäche angesichts einer sich verhärtenden Unternehmerposition. Zur Diskussion seit E nde 1932 vgl. Beier, S. 228 ff. 22 Mit Beier bin ich der Meinung, daß das von Leuschner, Kaiser und Habermann mit ande­ ren im April 1933 formulierte Konzept der E inheitsgewerkschaft im engen Zusammenhang mit den damals von breitesten Gruppen vertretenen berufsständischen E rwägungen gesehen werden muß, die selbst in sich widersprüchlich waren, aber charakterisiert sind durch politische Ord­ nungsvorstellungen, die ganz oder teilweise auf die Funktion der politischen Parteien für die po­ litische Willcnsbildung zugunsten „organischer“ Interessenvertretungen bestimmter Berufs­ gruppen verzichten. Dies ist gegenüber F.. Nebgen, J . Kaiser, Der Widerstandskämpfer, Stutt­ gart 1967, S. 90ff., festzuhalten. 23 Beier, S. 233. 24 Vgl. Leithäuser, S. 158ff.; Beier, S. 236f. 25 Fernschreiben Gestapo, Staatspolizeistelle für den Reg.Bez. Düsseldorfv. 17. 5. 1938,im Besitz v. E . Kosthorst; vgl. Nebgen, S. 76ff. 26 E s scheint, daß Leuschner bestimmte Beziehungen zur Gestapo unterhielt; dies geht her­ vor aus den im Nachlaß Gniffke enthaltenen Abschriften der Gestapo-Akte S. 18 (vgl. F. Mo­ ra w, Die Parole der „Einheit“ und die Sozialdemokratie. Zurpartciorganisatorischenund gesell­ schaftspolitischen Orientierung der SPD in der Periode der Illegalität und in der ersten Phase der Nachkriegszeit 1933-1948, Bad Godesberg 1973, S. 46, Anm. 58). Ich verdanke die Kenntnis dieser Quelle Herrn Dr. Moraw. 27 Vgl. E . Henk, Die Tragödie des 20. Juli 1944, Heidelberg 1946, S. 12; über Haubachs vor­ herige Bemühungen um den Aufbau illegaler Reichsbannereinheiten s. Moraw, S. 33 ff. 28 Vgl. Moraw, S. 47ff.; aufgrund der Spitzelberichte S. 18 ist eine indirekte Verbindung Leuschners zu den sozialdemokratischen Widerstandsgruppen zu vermuten. 29 Henk, S. l2f. 30 Vgl. G. Ritter, C. Goerdeler u. die deutsche Widerstandsbewegung, München 1964, S. 304ff., 387; Spiegelbild einer Verschwörung. Kaltenbrunner-Berichte, Stuttgart 1961, S. 234; Nebgen, S. 128ff., l67ff. 31 Vgl. H. Mommsen, Gesellschaftsbild u. Verfassungspläne des deutschen Widerstandes, in: W. Schmitthenner u. H. Buchheim (Hg.), Der deutsche Widerstand gegen Hitler, Köln 1966, S. 123 ff. 32 S. Ger van Roon, Neuordnung im Widerstand. Der Kreisauer Kreis innerhalb der deut­ schen Widerstandsbewegung, München 1967, S. 567, vgl. S. 429f. 33 Vgl. Mommsen, Gescllschaftsbild, S. 150f.; vgl. Nebgen, S. l87ff. 34 Kaltenbrunner-Berichte, S. 211 f.; s. Nebgen, S. 167, 185. 35 Mommsen, Gesellschaftsbild, S. 153f. 36 Vgl. Moraw, S. 33 ff. 37 Vgl. Nebgen, S. 171 ff. Das mindert den Quellenwert der Kaltenbrunnerberichte nur be421

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Anmerkungen zu Seite 381-382 grenzt, zumal die Verfasser der Berichte andererseits die Kritik der Verschwörer am nitunalso­ zialistischen „Bonzentum“ implizit übernehmen. 38 V g l Leithäuser, S. 221 f. 39 Vgl. Mommsen, Gesellschaftsbild, S. 143 ff. 40 Mommsen, Gesellschaftsbild, S. 153f.; vgl. das bei van Roon, S. 582ff. abgecruckte „Memorandum mit den Plänen Moltkes“, das „die E ntstehung eines deutschen Nation;l-Bol­ schewismus für die schwerste und bedrohlichste Zukunftsgefahr für Deutschland und E iropa“ betrachtete. 41 Kaltenbrunner-Berichte, Parole, S. 497, S. 204 f. 42 Vgl. Moraw, S. 58. 43 S. W. Conze, J . Kaiser. Politiker zwischen Ost u. West, 1945-1949, Stuttgart 1»69, S. 11 ff. 44 Vgl. Moraw, S. 83, 115.

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Verzeichnis der ersten Druckorte 1. 2. 3. 4. 5.

Sowjetsystem u. Demokratische Gesellschaft 4. 1971, 623-69. U . E ngelhardt u. a. Hg., Fs. W. Conze, Stuttgart 1976, 653-76. Schriften aus dem Karl-Marx-Haus H. 6, Trier 1971. H. Pelger Hg., F. E ngels 1820-1970, Hannover 1971, 133-39. überarbeitete und ergänzte Fassung des Beitrags in: H. Heimann/Th. Meyer Hg., Bern­ stein und der demokratische Sozialismus, Berlin 1978. 6. P. Philippi Hg., Studien zur Geschichtsschreibung im 19. u. 20. Jh., Köln 1967, 116—46. 7. A. Vantuch u. L. Holotik Hg., Der österreichisch-ungarische Ausgleich 1867, Bratislava 1971, 353-79. 8. Bohemia. Jahrbuch des Collegium Carolinum 2. 1961, 193-208. 9. Forum österreichische Blätter f. kulturelle Freiheit VII, 1960, S. 221-223, 268-272. 10. Studies in E ast E uropean Social History 1, 1977, S. 1-32. 11. Sowjetsystem u. Demokratische Gesellschaft 1. 1966, 273-309. 12. Sowjetsystem u. Demokratische Gesellschaft 3. 1969, 1332-1370. 13. F. E bert 1871/1971, Bonn-Bad Godesbcrg 1971, 82-133. 14. J . Reulecke Hg., Arbeiterbewegung an Rhein u. Ruhr, Wuppertal 1974, 275-314. 15. H. Mommsen Hg., Sozialdemokratie zwischen Klassenbewegung u. Volkspartci, Frank­ furt 1974, 106-133. 16. H. O. Vetter Hg., Vom Sozialistengesetz zur Mitbestimmung. Zum 100. Geburtstag v. H. Böckler, Köln 1975, 275-99.

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Personenregister Adler, Friedrich 98 Adler, Max 76, 201 Adler, Siegmund 181, 183, 193 Adler, Victor l 1 , 54, 71, 75, 84, 87, 89ff., 95 ff., 117f., 133, 169, 173, 178, 180 ff., l96f., 201, 214, 216, 251, 394, 398 Alexander II. von Rußland 112 Almond, Gabriel A. 40 Andrassy, Julius 143 Andreas, Bert 313 Aucrsperg, Adolf Fürst 157 Aufhäuscr, Siegfried 370 Austerlitz, Friedrich 99, 133, 194, 201, 208, 214 Baden, Max Prinz v. 303 Badeni, Kasimir Graf 92, 94, 107, 118, 139, 161 ff., 172, 175, 209,39,9 Baernrcither, Joseph Maria v. 164 Bahr, Hermann 182 Bakunin, Michail 47, 49, 63, 69, 82, 225, 234f., 237, 239f., 250 Bardorf, Josef 185, 187 Bauer, Gustav 303, 307, 309 Bauer, Otto 10, 30, 36f., 54, 56ff., 62, 73ff., 87, 91, 97f., 100, 120, 123, 134, 166, 177, 195ff., 201 ff., 2 l l f f . , 352, 394, 406, 407 Bebel, August 30, 8 1 , 103ff., 117, 184, 192, 197, 229, 243, 252, 258, 260, 285, 288 ff. Beck, Ludwig 378, 382 Beck, Max Wladimir Freiherr v. 165 Becker, Bernhard 49, 289, 291 Becker, Johann Philipp 82, 243, 262, 289 Belcredi, Richard Graf 156 Benes, E dvard 132 Bendix, Reinhard 34 Benedikt, Heinrich 145 Berchthold, Leopold Anton Graf 402 Berger, Johann 147 Bergstraesser, Ludwig 381 Bernstein, E duard 11, 45, 52, 61, 67, 74f., 106, 109ff., 184, 186, 236, 250, 280, 282, 291 f., 396, 397, 398, 399 Bismarck, Otto Fürst v. 50, 82, 110ff.,

263, 267ff., 274, 277, 280, 288, 290, 292, 294, 347, 352, 365 Bissolati, Leonida 240 Blanc, Louis 280 Bloch, E rnst 11, 363 Bodin, Jean 22 Böckh, August 262 Boehm, Max Hildebert 31 Börne, Ludwig 261 Born, Stefan 226, 283 Bracke, Wilhelm 50, 284 Brass, Otto 377 Braun, Adolf 182 ff. Braun, E mma 183 Braun, Heinrich 182ff., l86f., 189 Braun, Otto 304, 3l2ff., 367 Brauns, Heinrich 338, 342f., 373 Brecht, Arnold 316,4/4 Brill, Hermann 377, 382 Brousse, Paul 239 Browder, E arl Rüssel 233 Brüning, Heinrich 305, 34lf., 344f., 351, 366, 374f., 421 Brunner, Otto 137 Bucher, Lothar 262 Buchez, Philipp Josef Benjamin 268 Caballero, Francisco Largo 241 Chlumecky, Johann Freiherr v. 162 Cohn, Oscar 301 Cuno, Wilhelm 305f., 308 Cunow, Heinrich 53, 293 D'Abernon, E dgar Viscount 296 Danneberg, Robert 99 Dante Alighieri 20 Danzer, Carl 97 Darwin, Charles 69, 73, 115 David, E duard 122 Deák, Franz 149, 152 De Leon, Daniel 231 f. Delos, Joseph Thomas 28 Deutsch, Karl Wilhelm 19, 35ff. Djilas, Milovan 256 Dönniges, Helene v. 262, 291 Dollfuß, E ngelbert 352

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Dühring, E ugen 249 Dunajewski, Julian Ritter v. 159 Duncker, Franz 262, 283, 292, 318, 376 Eben, Friedrich 296ff., 414 Eckstein, Friedrich 182, 201 Engels, Friedrich 265ff., 274ff.f 282, 284, 286, 288ff., 351 f., 365,391,396, 397, 399, 418 Erhardt, Hermann 309 Erkelenz, Anton 369 Erzberger, Matthias 303 f. Fehrenbach, Constantin 305f. Feuerbach, Ludwig 274 Fichte, Johann Gottlieb 27, 120, 264, 270ff., 276, 278 Fischer, Richard 301 Fischhoff, Adolph 55, 85, 134 Franco, Francisco 241 Frankel, Leo 182 ff. Frantz, Constantin 27 Franz Joseph I., Kaiser von Österreich 137, 143, 145, 147, 150, 152 ff., 158, 160 ff., 164 Franzel, E mil 130, 132 Freiligrath, Ferdinand 181, 252 Freud, Siemund 180 Friedjung, Heinrich 136, 180ff., 186 Frohme, Paul 111 Fromm, E rich 17 Fuchs, Albert 92 Funder, Friedrich 137 Garibaldi, Giuseppe 263 de Gaulle, Charles 15 Gautsch, Paul Freiherr v. 164 Geiger, Theodor 355 George, Henry 230 Geßler, Otto 307ff., 311, 314 Goebbels, Josef 369 Goerdeler, Carl 378 ff. Göring, Hermann 366 Gompers, Samuel 231 f. Gramsci, Antonio 240 Graßmann, Peter 369 Groener, Wilhelm 366 Gruber, Max 181 Guesde, Jules 52, 72, 239 Gumplowicz, Ludwig 30 Haase, Hugo 301 Habermann, Max 369, 377, 421 Haenisch, Konrad 282, 293

Hainisch, Michael 169, 182, 203 Hardy, Keir 52, 227 Hartmann, E duard v. 168 Hartmann, Ludo Moritz 212 f. Hassel, Ulrich v. 378 Hatzfeld, Paul v. 262 Hatzfeld, Sophie v. 262f., 266, 289, 191 Haubach, Theodor 350f., 359ff., 364. 366, 377, 381,42/ Hayes, Carlton J . 2 1 , 23f., 28 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm 3 1 , 46, 59, 65ff., 114, 261, 263ff., 269ff., 274:'f., 293 f. Heiden, Konrad 347 Heine, Heinrich 261, 264 Heine, Wolfgang 119 Heller, Hermann 59f. Helphand, Alexander 245 Henk, E mil 361, 377f. Herder, Johann Gottfried 26, 31, 36, 43. 70, 87, 115, 200 Herkner, Heinrich 203 Herrnritt, Herrmann Rudolf v. 134 Hertz, Friedrich 26, 29f., 32, 166 Hcrvc, Gustave 52f., 120 Hess, Moses 261, 272, 275 Hilfcrdine, Rudolf 95, 201, 348 Hindcnburtî, Paul v. 300, 311 Hirsch, Max 246, 283, 287, 318, 376 Hitler, Adolf 100, 131 f., 311, 345, 34 7 , 352, 365ff., 382 Höchberg, Karl 72, 111,396 Hohenwart, Karl Siegmund Graf 154 ff. Hué, Otto 320, 323f., 330, 334 Hueber, Anton 94, 98, 176 Hugenberg, Alfred 323, 347 Huizinga, Jan 145 Humboldt, Alexander v. 262 Husemann, Fritz 334 Hybes, Josef 89 Ibsen, Henrik 182 Imbusch, Heinrich 320, 344 Jaksch, Wenzel 133 Jaszi, Oscar 128, 135 Jaurès, Jean 52f., 116, 236 Jelhnek, Georg 30 Johannet, Rene 21, 26, 30 Jordan, Frantisek 89 Joseph II., deutscher Kaiser 140, 142 Kahr, Gustav v. 306, 311 Kaiser, Jacob 369, 377f., 380ff.,421

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Kállay, Benjamin 164 Kant. Immanuel 57 Kapp, Wolfgang 304, 309f., 312, 332, 348, 357, 372 Karl I., Kaiser von Österreich 134 Kautsky, Karl 50ff., 56, 58f., 6 1 , 72ff., 88, 96, 98, 103, 105f., 109, 111, 117f., 120, 123, 177, 183ff., 201, 203, 213, 236, 250, 292f., J9/, 393, 396 Kelsen, Hans 292 Ketteier, Wilhelm E mmanuel v. 247 Keynes, John Maynard 375 Kirchhoff, Alfred 30 Koch-Weser, E rich 307, 309 Koerber, E rnst v. 137, 140, 158, 164, 175, 177, 209 Kohn, Hans 2 1 , 23f., 34 Kollaf, Jan 87 Kofalká, Jifi 88 Kossuth, Lajos 49, 63 Kramáf, Karel 141, 161, 164, 174, 206f., 210 Kristan, E tbin 97 Lafargue, Paul 48, 240 Lammer, Guido 73, 391 Lang, Otto 134 Lassalle, Ferdinand /0, 46, 71 f., 82f., 109, 114 f., 120f., 181, 243, 249, 260ff., 396, 397\ 410 Lassalle, Heimann 261 Lazarus, Moritz 30 Leber, Julius 351, 354, 364, 378, 38Off. Ledercr, E mil 355 Legien, Carl 94, 232, 310f., 333, 371 Leipart, Theodor 367ff., 376, 383 Lemmer, E rnst 169 Lenin, Vladimir Iljtsch 10, 44, 53, 57, 9 1 , 215, 229f., 232, 237, 240, 245, 249ff., 256, 258, 272, 282, 285, 287, 290, 292ff. Lensch, Paul 53 Le Play, Frédéric 222 Lepsius, Richard 262 Lerner, Daniel 33 Lessing, Gotthold E phraim 264 Leuschner, Wilhelm 366ff., 377ff., 421 Leuthner, Karl 119, 214 Levi, Paula 349, 351, 353, 362f. Lewis, Joseph 323 Ley, Robert 366, 369 Liebknecht, Wilhelm 50, 72, 81, 83, 112, 122, l84f., 187, 243, 260, 267L, 284, 286, 288ff. Lipiner, Siegfried 182

Lipset, Seymour Martin 34 Liszt, Franz v. 182 Löbe, Paul 348 Löwenheim, Walter 347, 364 Löwenstein, Hans v. 415 Lüttwitz, Walther Freiherr v. 309 Lukács, Georg 292 f. Luxemburg, Rosa 52f., 56, 113, 245, 292, 294 Maas, Hermann 378 Mac-Donald, Ramsey 229 Mahler, Gustav 182 Malthus, Thomas Robert 278 Mandl, Heinrich 186 Mannheim, Karl 32 Maria Theresia, Kaiserin von Österreich 138 Marx, Karl 33, 41 ff., 60, 62ff., 74, 76ff., 86, 102, 104ff., 109f.,113ff., 117ff., 175, 181, 190ff., 201, 221, 224, 226, 234f., 237, 240, 243f., 249ff., 257, 260ff., 281 ff., 288ff., 360, 3 6 3 , 3 9 7 , 3 9 6 Marx, Wilhelm 308 Masaryk, Thomas 87, 132, 141, 182 Matteotti, Giacomo 240 Maurenbrecher, Wilhelm 27 Mayer, Gustav 45, 261, 268, 292 Mazzini, Giuseppe 49, 63, 87, 225, 234, 263 Mehring, Franz 109, 291 f. Meinecke, Friedrich 28, 30, 62 Meissner, Alfred 96, 175, 406 Menger, Max 151 Metternich, Klemens Lothar Wenzel Fürst v. 45 Meynert, Theodor 180 Michels, Robert 30, 52, 236 Mierendorff, Carlo 351, 360, 362, 364, 366, 377f., 380f. Millerand, Alexander 236, 239 Modíacek, Franz 93, 96, 175, 406 Mohl, Robert v. 27 Molisch, Pavel 161 Moltke, Helmuth James Graf v. 379, 382 Morgan, Lewis Henry 48 Most, Johann 89, 235 Muchow, Reinhard 369 Müller, Hanns 349 Müller, Hermann 307, 313, 374 Mussolini, Benito 240 Naphtali, Fritz 374 f. Napoleon III. 45, 64, 110, 238, 263, 267f., 274, 277

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Naumann, Friedrich 56, 93, 115, 119 Neme‹L Antonin 173 Neumann, Friedrich Julius 28, 30 Nietzsche, Friedrich 115, 182, 193 Nolting, E rich 360 Noske, Gustav 304, 309f. Oberwinder, Heinrich 83 Offermann, Alfred v. 134, 150f., l53f., 158,402 Ollenhauer, E rich 360 Oncken, Hermann 120, 282 Oppenheimer, Franz 30, 32, 37 Otte, Bernhard 369 Owen, Robert 224, 230 Palacky, Frantisek 157 Pannekoek, Anton 53, 209 Papen, Franz v. 344ff., 366f., 375f., 382, 417 Parsons, Talcott 34 Pecka, Josef Boleslav 84, 94, 171 Pelloutier, Ferdinand 238 Pepper, John 233 Pernerstorfcr, E ngelbert (Pscud. Fritz Ti­ schler) 93, 99, 180ff., 187, 205 Pilsudski, Josef 245 Plechanov, Georgij Valentinowitsch 245 Popitz, Johannes 378 f. Popovici, Aurel 135 Posadowsky-Wehner, Arthur Graf v. 301 Prazák, Alois 159 Preuß, Hugo 299, 301 Prieto, Indalecio 241 Primo de Rivera, Miguel 241 Proudhon, Pierre-Joseph 238 Pückler-Muskau, Hermann Fürst 262 Quessel, Ludwig 123, 399 Racowicza, Janko 262 Radbruch, Gustav 60, 296, 348 Rathenau, Walter 304 Ratzel. Friedrich 30 Rauchberg, Heinrich 168f., 203 Raumer, Hans v. 324 Redlich, Josef 128, 138, 145, 147,402 Renan, E rnst 21, 26, 30 Renner, Karl (Pseud. Rudolf Springer; J . Karner) 48, 54ff., 75f., 96f., 99f., 134f., 140, 144, 150, 153 ff., 171, 174, 177, 195ff., 21 Iff., 292f., 40?, 406, 407 Reventlow, E rnst Graf 369 Ricardo, David 222, 278

Rieger, E duard 141 Rjazanov, David Borisovic 292 Rodbertus, Johann Karl 114, 262, 279 ff., 284 Rössler, Constantin 27 Roland-Holst, Henriette 61 Roosevelt, Theodore 145, 232 Rosenkranz, Anton 264 Rousseau, Jean-Jacques 43, 70 Ruben, E rnst 330 Rüge, Arnold 261 Sachse, Hermann 320 Sax, E manuel 182 Schäffle, Albert 155 Scheidemann, Philipp 298ff., 311, 348 Scheler, Max 30 Scheu, Andreas 85 Scheu, Heinrich 181 Schleicher, Kurt v. 366ff., 371, 376, 38D, 382 Schmalenbach, E ugen 340 Schmerling, Anton v. 164 Schmidt, August 324 Schneppcnhorst, E rnst 378 Schönerer, Georg v. 182 f., 189 von der Schulenburg, Fritz I)ietlof 381 Schulze-Dolitzsch, Hermann 181, 246, 264f., 268, 279, 283 Schumacher, Kurt 293 Schumpcter, Josef 32f., 47, 178, 200 Schweigen, Ludwig 269 Schweitzer, Johann Baptist v. 83, 249, 284, 287, 289f. Sealsfield, Charles 401 Seeckt, Hans v. 309 ff. Seliger, Josef 213 Serrati, Giacinto 240 Severing, Carl 326, 331, 336, 367 Siemsen, Anna 364 Simony 181 Skene, Alfred v. 152 Smeral, Bohumir 54, 97, 141, 177, 209 Smith, Adam 222 Sollmann, Wilhelm 306 Sorel, Georges 236 Sorge, Friedrich Adolph 231 Soukup, Franz 175 Soutzeff, Sophie 291 Spann, Othmar 30 Stahl, Friedrich Julius 27 Stalin, Josef Wissarionowitsch 54f., 60, 77f., 87, 91, 254 Stauffenberg, Claus Graf Schenk v. 3 81

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Stegerwald, Adam 247, 344, 369, 374f., 380 Steinacker, Harold 166 Steinwender, Otto 182 Stinnes, Hugo 311, 323f., 371 Stirner, Max 68 Stransky, Adolf 208 Strasser, Gregor 368 Strasser, Josef 53, 87f., 91, 95, 98, 203 Streit, Fedor 269 Stresemann, Gustav 296, 304ff., 308, 313, 316,337 Struve, Peter 245 Sukbach, Walter 29f., 33 Szcll, Kálmán 164 f. Taatfc, Eduard Graf 104f., 107, 111, 153, 156, 158 ff. Tarnow, Fritz 370 Tis/a, Istvan 152 Tönnies, Ferdinand 31, 58 Trémaux, Pierre 69 Treves, Claudio 240 Trimborn, Carl 305 Trott, Adam v. 381 TugaivBaranowski, Michail Iwanowitsch 245 Tur.ui, F'ilippo 240 Ulrich, Frit/. 348 Vahlteich, Julius 285 f. Vaillant, Fdouard 52 Vandervelde, Fmilc 52

Varnhagen von Ense, Karl August 262 Vierkandt, Alfred 30 Vogt, Karl 262 Vollmar, Georg v. 53 Wagemann, Ernst 375 Wagner, Helmut 350 Wagner, Richard 182 Watter, Oskar v. 332 Weber, Max 29ff., 236, 299, 303 Weeber, August 152 Weitling, Wilhelm 226 Wels, Otto 306, 347, 351, 355, 357, 360, 370 Welser von Welsersheimb, Zeno Graf 162 Weydemeyer, Joseph 46, 231 Wilhelm von Preußen 262 Wilson, Woodrow 121 Wirth, Josef 304ff. Wiskott, Eugen 341, 4/7 Wittelshöfer, Otto 182 Wittrich, Manfred 72 Wolf, Hugo 182 Wolff, Wilhelm 222 Wovtinski, Wladimir 375 Yorck, T heodor 285 Zachariae, Carl Salomo 27 Zápotockv, Ladislav 171 Zeigner, Erich 311, 313 Ziegler, Franz 262 Zirnheld, Jules 247

Savsrlscne Stastsibnornce monsosr

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