Nationale Außen- und Bündnispolitik der NATO-Mitgliedstaaten 9783486711769, 9783486564891

Der Sammelband vereint Beiträge von renommierten Historikern aus den NATO-Mitgliedstaaten, in denen sie jeweils für ihr

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German Pages 370 [372] Year 2000

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Nationale Außen- und Bündnispolitik der NATO-Mitgliedstaaten
 9783486711769, 9783486564891

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Nationale Außen- und Bündnispolitik der NATO-Mitgliedstaaten

Entstehung und Probleme des Atlantischen Bündnisses bis 1956 Herausgegeben vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt Band 2

R. Oldenbourg Verlag München 2000

Nationale Außen- und Bündnispolitik der NATO-Mitgliedstaaten

Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes herausgegeben von Norbert Wiggershaus und Winfried Heinemann

R. Oldenbourg Verlag München 2000

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Nationale Außen- und Bündnispolitik der NATO-Mitgliedstaaten / im Auftr. des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hrsg. von Norbert Wiggershaus und Winfried Heinemann. - München : Oldenbourg, 2000 (Entstehung und Probleme des Atlantischen Bündnisses bis 1956; Bd. 2) © 2000 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Straße 145, D - 81671 München Internet: http://www.oldenbourg-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Militärgeschichtliches Forschungsamt, Potsdam Vorsatzkarte: Hannelore Mörig und Bernd Nogli, Militärgeschichtliches Forschungsamt, Potsdam Repro: CML DTP & Satzservice Potsdam GmbH, Teltow Druck und Bindung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe GmbH, München ISBN 3-486-56489-7

Inhalt

Einführung Norbert Wiggershaus Zur Konzeption einer NATO-Geschichte Lawrence S. Kaplan Amerika und die Bündnisverstrickungen 1949-1956

VII IX 1

Paul Letoumeau Die strategische Dimension der kanadischen Außen- und Bündnispolitik 1945-1956

19

Thor Whitehead Die Außenpolitik Islands 1946-1956

41

Helge 0 . Pharo und Knut Einar Eriksen Norwegen in der NATO 1950-1956

79

Nikolaj Petersen Dänemark und die atlantische Allianz 1949-1957. Die kritische Entscheidung

101

Ritchie Ovendale Britische Außen- und Bündnispolitik 1949-1956

129

Albert Kersten Die E. Außenund Bündnispolitik der Niederlande 1940-1955

153

Luc de Vos und Jean-Michel Sterkendries Außenpolitik und atlantische Politik Belgiens 1949-1956

177

Hermann-Josef Rupieper Die NATO und die Bundesrepublik Deutschland 1949-1956

195

Georges Soutou Frankreich und das atlantische Bündnis 1949-1956

209

Antonio Varsori Italiens Außen- und Bündnispolitik 1949-1956

239

LuisPortugiesische Andrade Außen- und Bündnispolitik 1949-1956

255

Gregor M. Manousakis Griechenland und die NATO 1949-1956

269

VI

Inhalt

Hüseyin Bagci Die türkische Außenpolitik 1945-1956

281

Wilfried Loth Sicherheit und nationale Interessen. Die atlantische Allianz im Kalkül ihrer Mitgliedstaaten

311

Abkürzungen

325

Literatur

327

Personenregister

347

Autoren und Herausgeber

351

Einführung Das Nordatlantische Bündnis befindet sich fünfzig Jahre nach seiner Gründung und zehn Jahre nach der Aufhebung des Ost-West-Konflikts in einem fundamentalen Veränderungsprozeß. Neue Mitglieder aus Mitteleuropa wurden aufgenommen, zahlreiche integrierte Stäbe aufgelöst, Strukturen umgewandelt. Der Historiker wird sich an Prognosen und Spekulationen über die Zukunft der neuen NATO wohlweislich nicht beteiligen. Der vorliegende zweite Band der Reihe »Entstehung und Probleme des Atlantischen Bündnisses« lenkt den Blick zurück auf die frühen Jahre der NATO. Ein zerstörter europäischer Kontinent spannte seine Kräfte für den Wiederaufbau an, konnte aber dennoch die im Osten entstandene Bedrohung seiner Sicherheit nicht außer acht lassen. Amerika übernahm erstmals in seiner Geschichte in Friedenszeiten eine dauerhafte militärische Verpflichtung in Übersee. Wie diese Lage in den zwölf Staaten, die sich 1949 zur NATO zusammenschlossen und in den drei Staaten, die bis 1955 dem Sicherheitspakt beitraten, beurteilt wurde, davon handelt dieses Buch. Sechzehn Autoren schildern aus ihrer Sicht, welche Beweggründe jeweils eine Rolle spielten, um Schutz unter dem amerikanischen Schild zu suchen. Der wissenschaftliche Ansatz dieses Bandes bildet insofern einen Sonderfall in der methodischen Konzeption dieser Reihe des Militärgeschichtlichen Forschungsamts, die Allianz als eine eigenständig handelnde Größe zu begreifen und aus sich heraus darzustellen. Auf der anderen Seite forschen und schreiben sechzehn Autoren verschieden. Der damit einhergehende Methodenpluralismus kommt der Gesamtaussage zugute. Die unterschiedlichen Darstellungen schärfen aber den Blick auf die Gemeinsamkeiten, die immer wieder aufscheinen. Ich erinnere an die Schockwirkung des Korea-Krieges, die umstrittene Rolle der Nuklearwaffen oder die Spannungen zwischen der atlantischen Sicherheitsallianz und der europäischen Wirtschaftsintegration. Reizvoll ist der immer wieder anders gerichtete Blick auf diese Phänomene. Der Leser wird konstatieren, daß das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. Der Staatsstreich in Prag und die Blockade Berlins haben den Verantwortlichen im freien Teil Europas und in Amerika deutlich gemacht, daß sie eine Wertegemeinschaft schaffen müssen, wenn dauerhaft nicht nur Frieden, sondern auch Freiheit und materieller Wohlstand — Life, Liberty and the Pursuit of Happiness, um es in der klassischen Form der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 auszudrücken — gesichert sein sollen. Die NATO wird auch weiterhin an der Erfüllung dieser Aufgabe gemessen werden. Hans-Joachim Harder Oberst Fachbereichsleiter im Militärgeschichtlichen Forschungsamt

Zur Konzeption einer NATO-Geschichte Mit der Unterzeichnung des Nordatlantikvertrages im April 1949 als Konsequenz der wachsenden Spannungen im Ost-West-Verhältnis legten sich die Bündnispartner auf ein Zusammenwirken von zunächst zehn Jahren Dauer mit der Option für eine Verlängerung fest. Daß die Option sich über fünfzig Jahre ausdehnen, das Bündnis die Sowjetherrschaft und das Ende des Ost-West-Konflikts überdauern könnte, überstieg die Vorstellungskraft der Zeitgenossen. Die bemerkenswert lange Existenz und Wirksamkeit der nordatlantischen Allianz wird unterstrichen durch die frühe, sang- und klanglose Auflösung der SEATO (1977), des pazifisch-südostasiatischen Gegenstücks zur NATO, und des CENTO-Pakts (1979) für den mittleren Osten. Der Rio-Pakt, ursprünglich Modell für NATO und SEATO, schuf sich nicht einmal ständige Organe1. Die Lebensdauer ist freilich nur ein erster Hinweis auf Bedeutung und Geltung der Allianz. So fielen und fallen die Urteile über das atlantische Bündnis, gefällt durch Politik, Wissenschaft und Presse zu seinem 30-, 40- und nunmehr fast 50jährigen Bestehen, auch keineswegs einheitlich positiv aus. Vielmehr reicht ihre Spanne von »bemerkenswert erfolgreich« bis hin zu »irrelevant in der Rolle als Garant der westlichen Sicherheit«2. Allerdings gestehen auch die Kritiker fast einmütig zu, das Bündnis habe »den Frieden in Europa durch alle Gefahrenzonen der Ost-West-Konfrontation« gesichert, seine permanenten Krisen erstaunlich gut überstanden, ebenso alle interne Kritik an strukturellen Mängeln, auch alle Sorgen über die Verläßlichkeit der amerikanischen Nuklear gar antie. Zudem habe es alle meist sehr kontrovers geführten Debatten über strategische Doktrinen, Force posture und nukleare Taktiken ohne gravierende Kohäsionsverluste gemeistert3. Worin liegt also die Bedeutung der NATO? In der bipolaren Struktur des internationalen Systems nach dem Zweiten Weltkrieg war außer den Supermächten jedes Land unfähig, sich selbst zu verteidigen, und mußte daher hoffen, durch Bündnisse mit gleichrangigen Partnern Sicherheit zu gewinnen4. Eine westliche Sicherheitsgemeinschaft war auf eine enge Verbindung mit den Vereinigten Staa1 2

3

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Ferrell, Formation of the Alliance, S. 31; Kaplan, Alliances, S. 14. Kissinger, Die Erweiterung der NATO; Patterson, The Atlantic Alliance, S. 1; Schmidt/Granatstein,NATO; Wolf, Opfer des eigenen Erfolges?, S. 3; Canada and NATO. Uneasy Past, Uncertain Future. Hahn/Pfalzgraff, Die atlantische Gemeinschaft; Patterson, The Atlantic Alliance, S. 1; Schmidt/Granatstein, NATO (Zitat). Vgl. die Wertung bei Knorr, The Strained Alliance, S. 3, zum zehnjährigen Jubiläum. Zu mangelndem Konsens, Meinungsverschiedenheiten und Streit während der zweiten Dekade siehe Haftendorn, Entstehung und Bedeutung des Harmel-Berichtes, S. 169-173. Schmidt, Ost-West-Konflikt, S. 79.

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Norbert Wiggershaus

ten angewiesen. Die Mitgliedschaft in einem Verteidigungspakt verlangte von den USA freilich die Abkehr von der wichtigen außenpolitischen Tradition des Non-entanglement in Europa. Washington vollzog mit der Unterschrift unter den Nordatlantikvertrag die einschneidende Wendung zugunsten eines Engagements auf dem alten Kontinent, vorbereitet durch die Festlegung auf die ContainmentPolitik und massive Wirtschaftshilfe für politisch instabile Länder im Rahmen des Marshall-Plans5. Die Vereinigten Staaten bekräftigten ihren Einsatzwillen nach dem Kriegsausbruch in Korea durch die Integration amerikanischer Streitkräfte in eine NATO-Streitmacht für Europa, auch wenn die amerikanische Verpflichtung zunächst nur auf Zeit gedacht war6. Die Erfahrungen des Konflikts in Asien, das Umschlagen des Kalten Krieges in einen heißen veränderte den bis dahin nur politischen Pakt7 zur Festigung von Demokratie und Wirtschaft maßgeblich, sichtbar und nachhaltig. Binnen weniger Jahre schuf die NATO, anfänglich nur durch im fernen Omaha/Nebraska stationierte Atombomber gesichert8, eine mächtige integrierte Verteidigungsorganisation9. Mit Hilfe dieses Instruments sowie durch fortgesetzte wirtschaftliche Unterstützung, militärische Präsenz und politische Führung seitens der USA10 stabilisierte die NATO fortan das nichtkommunistische Europa und schützte es vor weiteren Bedrohungen11. Europa wurde dank der glaubhaften Abschreckung in verschiedener Gestalt ein weiterer großer Krieg erspart. Die erste wirklich militärische Operation eines Oberbefehlshabers der NATO waren Maßnahmen zur Friedenschaffung in Bosnien Mitte der neunziger Jahre12. Auf strategischem Gebiet beschwor die Abhängigkeit von den Nuklearwaffen jedoch nicht wenige Bedenken und Risiken herauf. Wirkte die nukleare Abschreckung, würde gegebenenfalls die nukleare Vergeltung effektiv ausfallen oder vom Gegner in gleicher Weise beantwortet werden? Würde die fortschreitende Verfügbarkeit taktischer atomarer Waffen zu einer Reduzierung der amerikanischen Truppenpräsenz in Europa führen? Welche Folgen ergaben sich im Falle eines militärischen Konflikts aus einer Verteidigung mit (immer mehr) nuklearen Mitteln, aus der Wahrscheinlichkeit nuklearer Schlachtfelder und verstrahlter Gebiete auf dem eigenen Territorium13? Freilich reichen Wirkung und Bedeutung der NATO weit über die militärische Dimension hinaus auch auf politische und wirtschaftliche Felder. Das von dem Einfluß der Vereinigten Staaten geprägte Bündnis »eliminated a host of costly and

5 6 7 8 9 10

11 12 13

Kaplan, Alliances, S. 1,10-14. Maier, Auseinandersetzungen, S. 4. Mastny, Reassuring NATO, S. 20. Costigliola, France, S. 72. Heuser, Introduction, S. 1. Zur amerikanischen Großmachtpräsenz in Europa siehe Melandri, Les Etats-Unis; Schwabe, Bündnispolitik. Gillingham, Nature of an Alliance, S. 309. Feldmeyer, Die NATO in neuer Rolle. Gillingham, Nature of an Alliance, S. 309; Bluth, Britain, S. 30-37.

Zur Konzeption einer NATO-Geschichte

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potentially ruinous intra-European conflicts, liberated economic resources for better purposes than preparation for war, and thus promoted both prosperity and the public welfare«. Das Bündnis bewährte sich selbst bei Problemen, die ein hohes psychologisches Einfühlungsvermögen verlangten, und ermöglichte teilweise historisch bedeutsame Entwicklungen. Unter dem atlantisch-europäischen Schirm gelangen die Aussöhnung einst erbitterter Gegner und die Angleichung aufstrebender Mitgliedstaaten an solche, die Macht und Einfluß einbüßten. Die Allianz entwickelte Strategien für die einvernehmliche Berücksichtigung der vitalen Interessen unterschiedlicher Regionen und Länder innerhalb des Bündnisses und löste die schwierige Aufgabe der gerechten Aufteilung von Lasten auf Mitglieder unterschiedlicher wirtschaftlicher Entwicklungsstufen und politischer Stabilität. Schließlich harmonisierte die Gemeinschaft vielfältige, oft ganz unterschiedliche nationale Traditionen 14 . Im Schatten des militärisch gesicherten und politisch in mancher Hinsicht konzertierten Westeuropa konnten in den fünfziger Jahren nationale »Wirtschaftswunder« vollbracht und eine regionale Wirtschaftsgemeinschaft initiiert werden 15 . Hinsichtlich der Natur des Bündnisses ist zudem bemerkenswert, daß die Vereinigten Staaten für ihre Dienste und Integrationsleistungen von den Partnern keinen adäquaten politischen Gegenwert beanspruchten 16 . Schließlich erscheint bedeutsam, daß sich der Nordatlantikpakt in verschiedener Hinsicht von vorausgehenden Allianzen unterschied und damit in neue Dimensionen vorstieß. Das Bündnis »had to be perceived as something more than European and something less than a traditional military pact«. Das amerikanische Insistieren auf dem Beitritt Portugals, Dänemarks und Islands erfolgte nur teilweise wegen des Bedarfs an Stützpunkten, die diese Länder im Atlantik bereitstellen konnten. Die Mitgliedschaft Islands und insbesondere Kanadas »took the European curse off the relationship«. Das kanadische Ringen um den Artikel 2, der ein Bekenntnis zur Demokratie als Grundlage der Allianz enthält und wirtschaftliche Zusammenarbeit fordert, »the promotion of an Atlantic community«, trug dazu bei, mit dem Vertrag weit über die Militärallianzen der Vergangenheit hinauszugehen. Dies trifft auch auf Artikel 4 zu, der die Pflicht zur politischen Konsultation festschreibt17. Das nordatlantische Bündnis erscheint von Anfang an als ein politischer und wirtschaftlicher Staatenverbund, der auf eine Kooperation weit über den Bereich der eigentlichen Sicherheitspolitik hinaus angelegt war. Als Architekt und Stabilisator der europäischen Sicherheit, als Schutzwall für die politische, auch ordnungspolitische und wirtschaftliche Entwicklung in Westeuropa in Zeiten des Ost-West-Konflikts sowie darüber hinaus als Mitgestalter eines regional-europäischen und international-bipolaren Systems ist die NATO ein überaus reizvoller Gegenstand der militärgeschichtlichen Forschung. Zusätzliche Attraktivität gewinnt eine Geschichte der NATO, wenn sie aus der facet14 15 16 17

Gillingham, Nature of an Alliance, S. 310. Kaplan, Introduction, S. 5. May, American Commitment. Kaplan, Alliances, S. 14 (Zitate); Heinemann, Vom Z u s a m m e n w a c h s e n des Bündnisses, S. 244 f.

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tenreichen international-atlantischen Perspektive betrachtet wird und auf der soliden Basis von Akten des Bündnisses und eines multinationalen Archivzugangs erarbeitet werden kann. Darüber hinaus erscheint eine breit angelegte historische Aufarbeitung der Formationsphase des nordatlantischen Bündnisses aus aktuellen politischen Gründen bedeutsam. Seit den dramatischen Umbrüchen in den Staaten Mittelost- und Südosteuropas wird über neue internationale Sicherheitsstrukturen nachgedacht. Zahlreiche Länder des ehemaligen Warschauer Paktes streben in die NATO (und in die Europäische Gemeinschaft). Der Beitritt neuer Mitglieder aus Osteuropa steht unmittelbar bevor. Mit Rußland hat das Bündnis im Mai 1997 ein Abkommen geschlossen18, das als ein Meilenstein auf dem Weg zum neuen Europa bezeichnet worden ist19. Für die sich ausweitende Allianz, die neuen Bündnispartner und die Russische Föderation mögen daher ein gesichertes Wissen und die Möglichkeit eingehender Reflexion darüber von Nutzen sein, welche Motive und Interessen, Bedingungen und Zusammenhänge, Ereignisse und Entwicklungen die NATO geformt und begleitet haben. Sie vermögen damit vielleicht besser einzuschätzen, welche der damaligen Strukturen und Bedingungen heutige Konstellationen und Entwicklungsprozesse positiv oder negativ beeinflussen können. Den neuen Mitgliedern kann ein solches Wissen helfen, den Weg in die Sicherheitsgemeinschaft zu erleichtern, deren mögliche Strukturprobleme besser zu durchschauen, eventuell noch vorhandene Vorbehalte schneller abzubauen und erhöhtes gegenseitiges Vertrauen zu bilden. Die wissenschaftliche Erforschung der europäischen und westlichen Integration hat sich bisher überwiegend dem wirtschaftlichen und politischen Einigungsprozeß zugewandt. Forschungen zur militärischen Kooperation und zum atlantischen Bündnis aus dem übernationalen Blickwinkel stehen erst an einem Anfang20. Sie können sich jedoch auf wichtige Analysen zur Sicherheitspolitik einzelner westlicher Länder stützen21. Aber auch eine breit ansetzende Erforschung der sicherheitspolitischen Integration aus international-europäischer oder international-atlantischer Perspektive ist heute möglich, weil sie auf ausreichende bis gute archivalische Voraussetzungen im amtlichen Bereich verschiedener Mitgliedstaaten der Allianz trifft. Hingegen bleiben die Zugangsmöglichkeiten zu den Registraturen der internationalen Organisationen beschränkt. Die mit dem hier anzuzeigenden Projekt angestrebte, von Hans-Peter Schwarz in den frühen achtziger Jahren angeregte atlantische Perspektive22 zielt auf eine staatenübergreifende Integrationsforschung über das internationale Kooperati18

19 20

21 22

»Gründungsakte über gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit zwischen der NATO und der Russischen Föderation«. Bertram, Aufbruch. Die Europäische Verteidigungsgemeinschaft; Die westliche Sicherheitsgemeinschaft; The Western Security Community; The Founding of the Atlantic Alliance; Das Nordatlantische Bündnis. Hervorzuheben ist die Reihe »Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik«. Schwarz, Integration.

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onssystem NATO. Mit diesem Ansatz soll »atlantische Politik« in ihrem weltpolitischen Umfeld wie in ihren Innenbeziehungen analysiert werden. Westliche Außen- und Sicherheitspolitik, auch westliche Weltwirtschaft, werden als Einheit begriffen. Besondere Aufmerksamkeit gilt der internen Spannung zwischen amerikanischer Großmachtpolitik und den unterschiedlichen nationalen Interessen der übrigen Allianzpartner. Neben die gebührende Berücksichtigung von Dominanz und zentraler Rolle der Super- und Bündnisvormacht Amerika tritt eine angemessene Betrachtung der Nebenakteure, der großen, mittleren und kleinen Staaten der Allianz. Eine Würdigung ihrer Vorstellungen und Interessen, Einflüsse und denkbaren Widerstandshaltungen gegen Vorstellungen der Führungsmacht verspricht ein vielschichtigeres und differenzierteres Bild von der NATO zu ergeben, als es bisher gezeichnet werden konnte. Dies gilt vor allem, wenn sich die Analyse der inneren Verhältnisse nicht nur auf interne Zerwürfnisse und die großen Fragen von Politik und Strategie beschränkt, sondern das bündnispolitische Tagesgeschäft einbezieht23. Das Vorhaben umfaßt die Geschichte der NATO bis 1956. Die Untersuchungen setzen überwiegend in den Jahren 1945/48 ein, weil das konfrontative internationale System der Nachkriegszeit, als dessen Folge sich das Bündnis formte, auf die gravierenden politischen Umwälzungen am Ende des Zweiten Weltkrieges zurückzuführen ist. Freilich sollen auch die weiter zurückliegenden geschichtlichen Wurzeln des Zusammenschlusses, etwa Vorgänge während des Zweiten Weltkrieges und die Erfahrungen der Zeitgenossen aus der Zwischenkriegszeit berücksichtigt werden24. Das Jahr 1956 bietet sich aus mannigfachen Gründen als Zäsur für Analysen zur internationalen Politik und zur Geschichte der militärischen Integration an. Auf der Ost-West-Ebene wurden beide Kontrahenten — nach Abschluß der Blockbildung und Beginn einer Konsolidierungsphase innerhalb der Blöcke — zum Jahresende 1956 von großen politischen Krisen erschüttert. Die britisch-französischisraelische Militäraktion am Suezkanal wuchs sich zu einer »Allianzkrise« aus25. Der Aufstand in Ungarn entwickelte sich zur größten Gefährdung »des regierenden Sowjet-Sozialismus bis zu seinem Untergang« 26 . Die »Weltkrise« um Ungarn/Suez bestätigte die Dominanz der beiden Supermächte und festigte ihr stillschweigendes Einverständnis, die Einflußsphären in Europa zu akzeptieren27. Die westliche Allianz bemühte sich Ende 1956, die Risse im Bündnis zu kitten. Auf militärstrategischem Gebiet betrat sie den Weg zur lückenlosen nuklearen 23

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Die Bedeutung der mittleren und kleinen Mächte streicht Gaddis, We Now Know, heraus. Die nationalen Aspirationen und Spielraumwünsche finden auch bei Schmidt/Granatstein, NATO, Berücksichtigung. Interessen, Vorstellungen und Widerstände der Niederlande in den Beziehungen mit Washington kennzeichnet Megens, American Aid. Siehe die Forderungen von Cameron Watt, Bemerkungen. Thoß, Bündnissolidarität, S. 705. Schenk, »Wer nachgibt, besiegelt das Ende des Sozialismus«. Fritz Schenk war 1956 Sekretär des SED-Politbüromitglieds Bruno Leuschner. Dülffer, Die Suez- und Ungarn-Krise, S. 119; Das internationale Krisenjahr 1956.

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Abschreckung und nuklearen Verteidigung 28 . Auf wirtschaftlichem Terrain steuerte die westliche Welt mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der EURATOM neue Integrationsstrukturen an. Im globalen Konzert der Mächte können wir einen weiteren Abgesang der einstigen Weltmächte Großbritannien und Frankreich verfolgen, die mit einer Aufwertung Deutschlands und Japans als vollwertige Partner der Vereinigten Staaten einherging 29 . Die Sowjetunion versuchte, der nachhaltigen Wirkung des Ungarnaufstands in ihrem Machtbereich durch Verstärkung der ideologischen Indoctrination und Verbesserung der wirtschaftlich-sozialen Bedingungen zu begegnen 30 . Auch für die Dritte Welt markiert das Jahr 1956 infolge der Krisen von Budapest und Suez eine Schnittstelle, zumindest für den Einfluß von Ost und West. Führende Staaten der neuen Welt emanzipierten sich von der Anziehungskraft der Supermächte. In den Vereinten Nationen nahm der Einfluß der afro-asiatischen Staaten zu. Das Projekt »Entstehung und Probleme des Atlantischen Bündnisses bis 1956« will die Ursprünge der NATO im Umfeld des schon vorher heraufgezogenen OstWest-Konflikts erforschen und die Entwicklung der Allianz vor diesem Hintergrund und dem Wandel des konfrontativen Systems bis 1956 kritisch untersuchen. Im Einklang mit dem oben vorgestellten Ansatz sollen gewichtige interne Probleme und Herausforderungen analysiert werden, die aus dem internationalen Umfeld an die Gemeinschaft herangetragen wurden. Auf Vollständigkeit muß auf beiden Untersuchungsebenen verzichtet werden. Gleichwohl schien nur ein internationales Forscherteam in der Lage, das umfangreiche Vorhaben zu bewältigen. Daher wird das Projekt personell sowohl von Angehörigen des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes getragen als auch von externen Mitarbeitern aus dem In- und Ausland, die im Amt nicht abgedeckte Spezialthemen aufgreifen. Die Autoren gehen vom Ost-West-Konflikt als einem sich verändernden Phänomen aus, das von einem konfrontativen antagonistischem Staatensystem mit dominant bipolarer Ausrichtung auf die Supermächte gekennzeichnet ist. Dieses umfaßt neben den von neuen technologischen Entwicklungen bestimmten militärisch-sicherheitspolitischen Konfliktfeldern auch die sich wandelnden politisch-sozialen, innen-, ordnungs- und kohäsionspolitischen (ideologischen) sowie die wirtschaftlichen Konkurrenzen 31 . In diesem Zusammenhang werden die militärisch-sicherheitspolitische, wirtschaftliche und beginnende politische Integration in Westeuropa als parallele und gegenseitig abgestimmte Antworten auf die kommunistische Herausforderung verstanden. Freilich weitet sich der Ost28 29 30 31

Greiner, Konzept; Wampler, Ambiguous Legacy. Lehmkuhl, Vom Umgang mit dem Niedergang; Schmidt, Ost-West-Konflikt, S. 48 f. Das internationale Krisenjahr 1956. Der ordnungspolitische Konflikt reicht in die Zeit vor 1945 zurück. Loth, Nachkriegsordnung, S. 3. Der Zusammenhang von militärischer Sicherheit, politischem Zusammenhalt und wirtschaftlichem Wohlergeben war schon den frühen Analytikern des amerikanischen National Security Council und der CIA vertraut. Harry S. Truman Library, Independence/Miss. (HSTL), Box 203,293. Zum Begriff des Ost-West-Konflikts Loth, Der »Kalte Krieg«; Schmidt, Ost-West-Konflikt; und die Projektbeschreibung von Schmidt/Granatstein, NATO.

Zur Konzeption einer NATO-Geschichte

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West-Konflikt vom anfänglich regional-europäisch-atlantischen »Kriegsschauplatz« über Ost- und Südasien, den Mittleren Osten und Afrika (Dritte Welt) zur globalen Machtprobe mit der Sowjetunion aus32. In ihrem europäischen Kernland ist die konfrontative Ost-West-Landschaft ab 1953 mit »Einsprengseln von Entspannungspolitik«33 gemustert. Ab Mitte der fünfziger Jahre stabilisiert sich die Nachkriegsordnung in Europa mit der Quasi-Anerkennung des Status quo streng abgegrenzter Interessensphären34. Im Rahmen des Forschungsprojekts kommt zahlreichen großen und kleinen Themen Bedeutung zu, auch wenn sich diese in unterschiedlich breiter Darstellung niederschlagen oder als eigenständige Beiträge gar nicht ausgewiesen sind. Zunächst gebührt der Gründung der NATO Aufmerksamkeit. Die Untersuchung dieses Vorgangs verspricht, einen Einblick in das Geflecht der mit dem Zusammenschluß verknüpften weiteren nationalen Interessen und Ambitionen zu gewähren. Zu Beginn der Allianz galt eine allgemeine militärische Aufrüstung und der Aufbau eines gemeinsamen militärischen Instruments als nicht vordringlich. Vor und noch eine Zeitlang nach dem Beginn des Koreakrieges glich die NATO militärisch — nach der Kennzeichnung eines zeitgenössischen Spötters, gleichwohl nicht unzutreffend — der Venus von Milo: »all SHAPE and no arms«35. Um so größeres Interesse verdient die dem Krieg in Asien folgende beeindruckend schnelle Aufstellung einer NATO-Streitmacht in Westeuropa und der Aufbau einer entsprechenden Militärorganisation für den NATO-Bereich Atlantik, die vor dem Hintergrund der weltpolitischen Rahmenbedingungen, der internationalen Konstellation und der Bedrohungsperzeption untersucht werden. Ein Hauptaugenmerk verlangen der Zusammenhang von Wirtschaft und Rüstung, die Rüstungskooperation und der parallel zur Sicherheitsintegration verlaufende Prozeß der Koordinierung westlicher Wirtschaftspolitik. Gerade auf diesem Gebiet treten Sachzwänge der Wirtschaft und der verschiedenen innenpolitischen, gesellschaftlichen und sonstigen Antriebskräfte ebenso deutlich zutage wie Zusammenhänge zwischen politischen, wirtschaftlichen, rüstungsökonomischen und militärischen Faktoren einschließlich der sich daraus ergebenden Spannungsmomente. In diesem Beziehungsgeflecht können Rolle und Handlungsmöglichkeiten verschiedener NATO-Staaten leichter ergründet werden. Neben den militärstrategischen Konzepten erschien die mit ihnen eng verknüpfte Fragestellung unverzichtbar, inwieweit nuklearstrategische Bedingun32

33 34 35

Siehe z.B. die moderne britische Sicht der Jahre 1 9 5 2 / 5 3 in: National Archives of Canada (NAC), RG 25, Acc. 9 0 - 9 1 / 0 0 8 , Vol. 279, 50115-P-40, Pt. 2, Memorandum »Global Defence Planning in NATO«, 27.1.1953, und Annex: »Report by the United Kingdom Chiefs of Staff«, 15.7.1952. Die frühe französische Auffassung, in Indochina die westliche Welt zu verteidigen, kennzeichnet Mai, Sicherheitspolitik, S. 69. Zur amerikanischen These des unteilbaren Kalten Krieges siehe Schmidt, Ost-West-Konflikt, S. 66 f. Senghaas, Neugestaltung Europas, S. 11. Dülffer, Suez- und Ungarn-Krise, S. 111. Zit. nach Knorr, The Strained Alliance, S. 5.

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gen bestimmend waren für das »atlantische Verhältnis«, die Zusammenarbeit im Bündnis, und inwieweit sie das politische Gewicht einzelner Länder (Großbritannien, Frankreich) verändert haben. Die Untersuchungen beider Fragenkomplexe mögen auch dazu beitragen, daß die unterschiedlichen außen- und sicherheitspolitischen, vor allem nuklearen und ökonomischen Interessenlagen der beteiligten atlantischen Großmächte schärfer als bisher konturiert werden können. Besondere Berücksichtigung über die Bewertung seiner Absichten und Möglichkeiten hinaus erfährt der ideologische und politische Gegenüber der westlichen Allianz. Zum einen wird analysiert, wie das Bündnis politisch mit ihm umging, etwa im Rahmen der Vereinten Nationen oder auf internationalen Konferenzen. Zum anderen interessiert, wie die Staaten des Warschauer Paktes die NATO gesehen haben. Andere Fragestellungen widmen sich der Funktionsweise des Bündnisses bei internen Krisenfällen, der Haltung und dem Verhalten der NATO bei großen internationalen Krisen und Konflikten sowie der Zusammenarbeit mit Nichtmitgliedstaaten. Die zweifache deutsche Frage hat die internationale Politik nach dem Zweiten Weltkrieg mannigfach beschäftigt, die Frage nach den Chancen für eine Vereinigung der beiden deutschen Staaten und das Problem der Rolle der Bundesrepublik Deutschland (Sicherheit mit und gleichzeitig vor Deutschland) gehören zu den Komplexen, denen kein eigenständiger Beitrag gewidmet ist. Gleichwohl garantieren ihre Brisanz und Vielschichtigkeit wie ihre Rolle im Rahmen der Allianz eine Behandlung in verschiedenen Beiträgen und aus unterschiedlichen Blickwinkeln, etwa im Zusammenhang mit den Untersuchungen zur Bedrohungsperzeption, zur wirtschaftlichen Integration Europas und der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft sowie zur Beurteilung des Bündnisses durch Sowjetunion und Warschauer Pakt. Der atlantische Ansatz verlangt Forschung in verschiedensten Archiven des In- und Auslandes. Dieser multiarchivalische Zugriff hat bereits zahlreiche Vorbilder, allen voran das bekannte internationale »Nuclear History Program«. In den National Archives in Washington D.C. wurden vor allem die Bestände des Department of State, des Secretary of Defense und der Joint Chiefs of Staff eingesehen. Die Presidential Libraries der Präsidenten Truman und Eisenhower boten Einsicht in wichtige Dokumente aus dem Weißen Haus, dem National Security Council und in Nachlässe von Ministern, Diplomaten und Beratern. In der Library of Congress waren die Nachlässe hoher politischer und militärischer Entscheidimgsträger verfügbar. Diese Materialien werden ergänzt durch Aktenpublikationen wie die »Foreign Relations of the United States« (FRUS), die inzwischen die zweite Hälfte der sechziger Jahre abdecken. Im Public Record Office in London wurden die Akten des Cabinet Office, Prime Minister's Office, Foreign Office, der Treasury und der Chiefs of Staff des Ministry of Defence herangezogen, in Teilen die Materialien des Air Ministry. Für die frühen fünfziger Jahre standen zusätzlich die Documents on British Policy Overseas zur Verfügung. Der NATO-Partner Kanada hat in den National Archives of Canada umfangreiche Bestände des Privy Council Office, Department of Exter-

Zur Konzeption einer NATO-Geschichte

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nal Affairs und Department of National Defence bis weit in die sechziger Jahre für die Forschung zugänglich gemacht. Das Department of National Defence und das Privy Council Office gewährten darüber hinaus Einblick in verschiedene Committee Papers. In Frankreich konnten Akten des Quai d'Orsay aus den vierziger und fünfziger Jahren ausgewertet werden, für die Jahre 1954 bis 1956 ergänzt durch die Edition der Documents Diplomatiques Frangais. Von dem amtlichen Material in der Bundesrepublik Deutschland konnten die Akten des Bundesarchivs in Koblenz und des Bundesarchiv-Militärarchivs in Freiburg benutzt werden. Soweit die Autoren dem Militärgeschichtlichen Forschungsamt angehören, durften sie auch die klassifizierten Akten des Bundesministeriums der Verteidigung, des Auswärtigen Amtes, des Bundeskanzleramtes und der Stiftung Bundeskanzler Adenauer-Haus einsehen. Die NATO hat den Autoren des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes einen bevorrechtigten Zugang zu den Akten in den Registraturen des Internationalen Sekretariats und des Internationalen Militärstabes in Brüssel ermöglicht. Der SACEUR gewährte Einsicht in die Materialien der Registratur des Supreme Headquarter Allied Powers Europe (SHAPE). 1997 ist eine erste größere Edition von Akten der NATO publiziert worden 36 . Die Einrichtung eines NATO-Archivs mit allgemeinem Zugang ist für 1999 in Aussicht genommen. Ein unzweifelhaftes Manko für das Projekt ist der unbefriedigende Zugang zu Akten des Warschauer Pakts. Gleichwohl war es im Einzelfall möglich, Materialien in Moskau und in verschiedenen weiteren osteuropäischen Hauptstädten einzusehen. Die Quellenlage darf insgesamt somit als ausreichend für erste Interpretationsversuche bezeichnet werden. Das Vorhaben ist auf mehrere schlanke Bände angelegt, die in der Reihenfolge ihrer Fertigstellung in loser Folge publiziert werden sollen. Einige Bände werden von jeweils einem Autor besorgt, andere führen mehrere Wissenschaftler zusammen. In einem Sammelband kommen Historiker aus allen NATO-Staaten zu Wort. Der nunmehr vorliegende Sammelband »Nationale Außen- und Bündnispolitik der NATO-Mitgliedstaaten« ist in gewisser Weise ein Gegenentwurf zu den übrigen Bänden der Reihe. Geht es dem Gesamtprojekt darum, in einer multiperspektivischen Sicht das Bündnis »von der Mitte aus« darzustellen und die nationalen Sichtweisen zu transzendieren, so greift der vorliegende Band in knapper Form die nationalen Interessen auf, die von den Partnerstaaten vor und nach dem Beitritt verfolgt wurden. Naturgemäß waren diese Interessen höchst unterschiedlich, und die hier zusammengefaßten Beiträge reflektieren dies. Gleichwohl ist ein solcher Band in einer Reihe zur Geschichte der NATO zwingend notwendig. Das Erfolgsrezept des Bündnisses besteht ja wohl gerade darin, die notwendige Balance zwischen diesen nationalen Interessen und dem übergreifenden Bündnisinteresse gefunden zu haben — ein Spannungsverhältnis, das die Geschichte des atlantischen Bündnisses durchzieht 37 . Eine Betrachtung der 36 37

NATO Strategy Documents. Siehe hierzu auch Bd 1 dieser Reihe: Heinemann, Vom Zusammenwachsen des Bündnisses.

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Norbert Wiggershaus

NATO, die diese nationalen Interessen und Aspekte außer acht ließe, würde daher den Blick vor einer der wesentlichen Triebfedern der Allianz verschließen. Die Herausgeber dieses Bandes begrüßen es, daß es gelungen ist, aus fast allen NATO-Staaten der Zeit Historiker zu gewinnen, die bereit waren, die Haltung ihres jeweiligen Landes vorzustellen und einzuordnen. Leider fand sich kein luxemburgischer Autor bereit, den Beitrag für das Großherzogtum zu schreiben, so daß dieses Land letztlich unberücksichtigt bleiben mußte. Den 17 Historikern, die durch ihre Artikel dieses Buch geschaffen haben, und besonders Prof. Dr. Wilfried Loth, der sich der Mühe einer Gesamtsicht unterzogen hat, sei hier herzlich gedankt. Die Herausgeber sind überzeugt, mit diesem Band die Haltung der NATO-Partner zum Bündnis, aber auch den historischen Ort des NATO-Beitritts in der Geschichte des jeweiligen Landes, angemessen dargestellt zu haben. Den Autoren der Arbeitsgruppe ist es ein Bedürfnis, für die Unterstützung der Forschungsarbeiten zu danken, die sie von den Sachbearbeitern in den Archiven der Vereinigten Staaten, Großbritanniens, Frankreichs, Kanadas und der Bundesrepublik Deutschland erhalten haben. Ein besonderer Dank gilt den Mitarbeitern der NATO-Registraturen, voran Herrn Franz Egger (NISCA) und Mr. G.B.G. Beard (IMS). Sie und ihre Mitarbeiter haben das in Registraturen nicht vorgesehene, zusätzliche Mühen verursachende historische Aktenstudium durch großes Verständnis und Entgegenkommen unterstützt. Den Mitgliedern des Beirats des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes und den Kollegen in anderen Projekten unseres Hauses verdankt das Forschungsvorhaben manchen hilfreichen Rat und wertvolle konzeptionelle Hinweise. Dafür sei herzlich gedankt. In den Dank sind gleichermaßen Prof. Donald Cameron Watt und Prof. Lawrence S. Kaplan einbezogen, die mich ermuntert und bestärkt haben, eine NATOGeschichte in Angriff zu nehmen.

Norbert Wiggershaus Oberst a.D.

Lawrence S. Kaplan Amerika und die Bündnisverstrickungen 1949-1956 Fast 50 Jahre sind vergangen, seitdem die Vereinigten Staaten die Tradition des Non-entanglement gegenüber Europa aufgaben, die bis zur Konvention von 1800 zurückreichte, welche das französisch-amerikanische Bündnis von 1778 beendet hatte. Die Mitgliedschaft in der NATO war in der Tat etwas, das der Historiker Armin Rappaport als »the American Revolution of 1949«1 bezeichnete. Für ihn und andere Anhänger der Atlantischen Allianz markierte das Ende des Isolationismus die Tatsache, daß Amerika seine Verantwortung als Supermacht akzeptiert hatte, und legte den Weg frei für dessen positiven Beitrag zur wirtschaftlichen Erholung, militärischen Stabilität und politischen Integration Westeuropas. Die NATO bewirkte noch mehr. Mit dem Wegfall des Tabus einer militärischen Allianz waren die Vereinigten Staaten 1956 Partner in der Südostasiatischen Paktorganisation und Pate des Bagdad-Paktes geworden, Nationen verbindend — von der Türkei bis zu den Philippinen. Die mit dem Nordatlantikpakt begonnene Allianzstruktur kann als eine Ausweitung von Thomas Jeffersons Konzeption eines Empire of liberty betrachtet werden. Von marxistischen Kommentatoren wurde das Bündnissystem in Vorausschau als Folge imperialistischer Ausbeutung etikettiert, wenn nicht gar als das letzte Stadium des Kapitalismus, um mit Hobson oder Lenin zu sprechen. David Calleo, ein ideologischen Denkkategorien weniger zuzuordnender Wissenschaftler, der seiner Besorgnis über die amerikanische Expansion Ausdruck gab, identifizierte die NATO als »the rather elaborate apparatus by which we have chosen to organize the American protectorate of Europe«2. Mit Sicherheit wird die Wahrheit zwischen den beiden Extremen zu finden sein. Das Engagement der Vereinigten Staaten für Bündnisse war aufgeklärtes Eigeninteresse. Wenn in den Jahren zwischen 1949 und 1956 von Dominanz gesprochen werden kann, so in dem Sinne von Empire by invitation3, wie sich der norwegische Historiker Geir Lundestad ausdrückte. Nicht, daß die Nation aus dem Zweiten Weltkrieg ganz ohne Triumphalismus heraustrat. Henry Luce, Herausgeber des einflußreichen »Time Magazine«, propagierte die Idee eines American century, was 1945 besondere Resonanz fand4. Die amerikanische Akzeptanz der Vereinten Nationen, mit dem Hauptsitz in New 1 2 3 4

Rappaport, The American Revolution. Calleo, The Atlantic Fantasy, S. 27 f. Lundestad, Empire by Invitation. Luce, The American Century.

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York, war eine symbolische Anerkennung dessen, daß der Isolationismus der 1920er Jahre keine Wiederholung finden sollte. Die neue Herausforderung durch den Sowjetkommunismus, aus jenem Krieg hervorgegangen, der Zeugnis von der Zerstörung eines anderen Reichs des Bösen abgelegt hatte, machte es unwahrscheinlich, daß sich die Vereinigten Staaten wieder in das Schneckenhaus zurückziehen würden, insbesondere, als sichtbar wurde, daß sich das kriegszerstörte Europa ohne Hilfe nicht gegen den kommunistischen Vorstoß würde behaupten können. Solcherart war George Kertnans Botschaft5 in seinem »Long Telegram« von 1946, wie verzerrt auch immer sie sich in der Trumandoktrin von 1947 wiedergefunden haben mag. Der Marshallplan für den Wiederaufbau Europas offenbarte des weiteren eine amerikanische Weltanschauung, die sich von der Paragraphenreiterei bei der Kreditbewilligung für Europa nach dem Ersten Weltkrieg deutlich unterschied. Indes stießen diese Aktionen und die dahinterliegenden Impulse auf die Macht einer isolationistischen Tradition, die durch die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges nicht völlig erloschen war. Die massive und überstürzte Demobilisierung 1946 — Erinnerungen an die Nachwirkungen des Bürgerkrieges und des Ersten Weltkrieges wachrufend — deutete auf ein Widerstreben hin, die Last globaler Verantwortung auf sich zu nehmen. Selbst die Akzeptanz der Vereinten Nationen war zu oft von der Erwartung begleitet, daß die UNO als Surrogat für eine amerikanische Außenpolitik dienen würde, als ein Mittel, die Außenwelt davon abzuhalten, sich in die wichtigeren Belange zu Hause einzumischen. Wenn der Marshallplan die Geschäftswelt auch an die Bedeutung globaler Märkte erinnerte, so spielten Binnenmärkte in der amerikanischen kapitalistischen Psyche eine sehr viel größere Rolle. Es war eher die Perzeption einer kommunistischen Bedrohung und sowjetischen Expansion als ein imperialer Drang, der die Trumanadministration veranlaßte, nach Wegen zu suchen, um Europa so stark zu machen, daß es mit der neuen Bedrohung seiner Sicherheit fertigwerden konnte. Gleichwohl ist es fraglich, ob sich das Washingtoner Establishment, wie sensibilisiert auch immer es für Europas Bedrängnis gewesen sein mag, auf die Bündnisverstrickung ohne die europäische »Einladung« und die Versprechungen, die seine Führer machten, um die Vereinigten Staaten an ihre Interessen zu binden, eingelassen hätte. Mit dem Blick auf ein halbes Jahrhundert zurück kann ein amerikanischer Historiker die Behauptungen europäischer Wissenschaftler, vornehmlich aus Großbritannien, akzeptieren, wonach die Allianz das Produkt einer europäischen Initiative war, auf die Amerika reagierte. Der Fehlschlag der Londoner Außenministerkonferenz im Dezember 1947, Zu einer Übereinkunft über die Zukunft eines geteilten Deutschland zu gelangen, verhalf Ernest Bevin und Georges Bidault, den Außenministern Großbritanniens und Frankreichs, zu einer plötzlichen Einsicht. Ihre in den darauffolgenden Monaten unternommenen Schritte zielten darauf ab, die Vereinigten Staaten zu einem Bündnis mit Europa zu bringen, als das einzige Mittel, um die Sicherheit Westeuropas zu gewährleisten. 5

Kennan, Memoirs.

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Mit Sorgfalt wurde ein Appell an die amerikanischen Gefühle geschmiedet. In der Erkenntnis, daß das Passieren des wirtschaftlichen Hilfsprogramms im Kongreß von der Zusage abhing, Selbsthilfe und gegenseitige Unterstützung in Europa zu praktizieren, hielt Bevin im Januar 1948 eine aufrüttelnde Rede im britischen Unterhaus, in der er ein europäisches Staatenbündnis vorschlug 6 . Diese Initiative entwickelte sich zum Brüsseler Pakt vom 17. März 1948, in dem Großbritannien, Frankreich und die Beneluxstaaten einen Vertrag über 50 Jahre abschlossen, der diese von den Amerikanern so geschätzten Prinzipien von Selbsthilfe und Zusammenarbeit hervorhob. Letztlich hofften die Signatarmächte, daß diese dramatische Aktion die Vereinigten Staaten in eine Mitgliedschaft in der neuen Westunion locken würde, und die Stimmung in Amerika schien ihre Bestrebungen zu unterstützen. Im Februar 1948 hatte ein Staatsstreich in Prag die Tschechoslowakei fest unter sowjetische Kontrolle gebracht; im darauffolgenden Monat berichtete Norwegen von sowjetischem Druck in bezug auf einen Nichtangriffspakt, der an NS-Verhalten vor dem Zweiten Weltkrieg erinnerte; und im April sollte in Italien eine entscheidende Wahl stattfinden, die in einen kommunistischen Sieg münden konnte. In Anbetracht der gestiegenen Besorgnis vor sowjetischer Aggression und Präsident Trumans positiver Reaktion auf den Vertrag am Tage seiner Unterzeichnung war die Erwartung hinsichtlich einer Mitgliedschaft Amerikas nicht unbegründet. Indes erfolgte der Bruch mit der Tradition nicht so einfach, wie es sich die Europäer und einige ihrer amerikanischen Freunde vorgestellt hatten. Außenminister George Marshall und sein Stellvertreter Robert Lovett bewegten sich vorsichtig auf dieses Ziel hin. So ließen sie geheime Begegnungen im Pentagon mit britischen und kanadischen Vertretern in der letzten Märzdekade zu, was den Rahmen für eine Konferenz absteckte, die die Westunion »in a collective defense agreement for the defense of the North Atlantic area«7 einschließen würde. Das war das Äußerste, das zu der Zeit getan werden konnte. Es gab immer noch zu viele Hindernisse, viele davon psychologischer Natur, welche die Vereinigten Staaten davon abhielten, sich an einem europäischen Bündnis zu beteiligen. Dazu gehörte das Nachlassen der Spannungen, als sich der Staatsstreich in der Tschechoslowakei nicht ausbreitete und die Wahlen in Italien im April eine demokratische Regierung hervorbrachten. Gravierender waren die alten amerikanischen Ängste davor, zu Opfern europäischer Ausbeutung gemacht zu werden, wie es seit den Napoleonischen Kriegen bis zum Ersten Weltkrieg der Fall gewesen war. Widerstand gegenüber einer militärischen Bündnisverstrickung formierte sich im Frühjahr 1948 aus drei Hauptquellen. Die erste waren die zuvor erwähnten traditionellen Isolationisten, die sich um eine Gefährdung von Amerikas Handlungsfreiheit und eine Erschöpfung seiner Ressourcen sorgten. Wie drohend die sowjetische Gefahr auch sein mochte, sie konnte das eingefleischte Mißtrauen 6 7

Bevin, Great Britain. Wiehes/Zeeman, The Pentagon Conversations.

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nicht ausräumen, daß die Europäer Vorteil aus Amerikas vermeintlicher Arglosigkeit ziehen sah. Aus der zweiten Quelle speiste sich der Widerwille des militärischen Establishments, sich mit den Konsequenzen eines Bündnisses konfrontiert zu sehen. Dies könnte bedeuten, Militärhilfe aus beschränkten Vorräten zu einer Zeit leisten zu müssen, da der Verteidigungsetat rigiden Beschränkungen unterworfen war. Auch die neuen Verpflichtungen, die ein Bündnis erforderlich machen würde, behagten den Joint Chiefs of Staff nicht. Sie bezweifelten, daß Westeuropa, selbst nach einer Vereinigung seiner Ressourcen, einer sowjetischen Invasion würde widerstehen können. Ihren Plänen für die äußere Verteidigung zufolge würde das europäische Festland den Sowjets überlassen, und künftige Gegenoffensiven wären von Großbritannien und dem Suez aus zu führen. Es waren jedoch die zum Internationalismus Bekehrten, die ihre Hoffnungen in die neue Welt der Vereinten Nationen gesetzt hatten und einer Beteiligung der Truman-Administration an einem europäischen Bündnis am meisten im Wege standen. Viele der UNO-Enthusiasten waren frühere Isolationisten, wie Senator Arthur H. Vandenberg, der mächtige Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Senat. Für sie stellte ein militärisches Bündnis eine Rückkehr zu dem diskreditierten Konzept des Gleichgewichts der Kräfte dar, das für so viel Unglück in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verantwortlich war8. Alle drei Komponenten beeinflußten die Ausgestaltung der amerikanischen NATO-Konzeption. In gewisser Hinsicht waren die Militärs diejenigen, die die Notwendigkeit einer Anbindung an Westeuropa am schnellsten einsahen. Besorgnisse über die Ausplünderung der sogenartnten Reservevorräte durch die Europäer wurden besänftigt, als Generalmajor Lyman L. Lemnitzer, der spätere Oberste Alliierte Befehlshaber Europa, die Joint Chiefs darauf hinwies, daß ein militärisches Hilfsprogramm den Streitkräften die Gelegenheit zur Modernisierung ihrer Ausrüstung verschaffen würde. Die Armee insbesondere würde veraltetes Gerät durch teurere und wirksamere Waffen und Material ersetzen können. General Omar N. Bradley, Vorsitzender der JCS, stimmte mit dem Hinweis bei: »It would be a great mistake to concentrate our entire resources on an United States rearmament program in the belief that such action alone will contribute most to our national security9.« Die Joint Chiefs sahen sich noch immer durch die Verpflichtungen beunruhigt, die die Nation mit einer Allianz eingehen würde. Die rasche Errichtung einer Vielzahl von militärischen Ausschüssen innerhalb der neuen Verteidigungsorganisation der Westunion war nicht angetan, dem entgegenzuwirken. Was General Lemnitzer und seine Nachfolger im Sommer und Herbst 1948 als Beobachter wahrnahmen, waren Pläne ohne Inhalt, Absichten ohne die Mittel zu ihrer Realisierung sowie eine chaotische Befehlsstruktur, charakterisiert durch die Rivalität zwischen Großbritanniens Feldmarschall Bernard Law Montgomery und Frankreichs General Jean de Lattre de Tassigny um die Rolle als Oberbefehlshaber. Sie 8 9

Kaplan, The United States and NATO, S. 35. Zit. nach Kaplan, Α Community of Interests, S. 21.

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erkannten, daß die europäischen Militärführer in hohem Maße den Schein erweckten, Selbsthilfe und gegenseitige Zusammenarbeit zu praktizieren, während sie nur darauf warteten, daß die Vereinigten Staaten ihre Pläne mit Substanz füllten10. Wenn es nun schon kein Zurückweichen vor der Verpflichtung gab, so konnten die Joint Chiefs immerhin gewisse Befriedigung daraus ziehen, daß die USMilitärhilfe nach der Unterzeichnung des Nordatlantikvertrages nicht automatisch einsetzte. Erst nach Ratifizierung des Vertrags im Juli 1949 wurde das Mutual Defense Assistance Program dem Kongreß vorgelegt; und erst nachdem die Tragweite der sowjetischen Atombombenexplosion erkannt war, wurde das Gesetz vom Kongreß verabschiedet. Der Einfluß des Pentagon trat in der Bedingung zutage, Militärhilfe erst nach Abschluß von bilateralen Abkommen mit jedem Partner zu gewähren. Diese Vereinbarungen würden den Vereinigten Staaten Stützpunktund andere Betriebsrechte für ihre Militärhilfe für die Verbündeten verschaffen. Darüber hinaus ging aus dem im Januar 1950 akzeptierten Strategieplan deutlich hervor, daß sich das US-Engagement auf die strategischen Luftstreitkräfte beziehen würde, während die Europäer die Bodentruppen zu stellen hatten11. Die Bedenken der Internationalisten waren schwerer zu zerstreuen. Die ehemaligen Isolationisten konnten niemals davon überzeugt werden, daß die atlantische Allianz kein Trick war, um die Rückkehr zur alten Ordnung internationaler Beziehungen zu kaschieren. Zwar sahen sie, daß das Vetorecht der Sowjetunion im UNO-Sicherheitsrat die Hoffnungen zunichte machte, eine echte kollektive Sicherheit für die Welt zu schaffen; und sie stimmten mit der Administration hinsichtlich der Notwendigkeit eines wirtschaftlichen Wiederaufbaus und einer politischen Einigung Westeuropas überein. Gleichwohl scheuten sie davor zurück, eine Allianz zu schaffen, die die Vereinten Nationen umging und waren insbesondere über den Eifer der Europäer, Militärhilfe zu erhalten sowie die offensichtliche Bereitschaft des State Department, im April 1948 ein »militärisches ERP« in Gang zu setzen, verstimmt. Senator Vandenberg führte eine Zweiparteienopposition an. Das Ergebnis war eine kurze Unterbrechung in der Vorwärtsbewegung der atlantischen Allianz in Gestalt der Vandenberg-Resolution vom 11. Juni 194812. Diese Resolution hilft bei der Erklärung, warum sich so viele Artikel des endgültigen Vertrags auf die UN-Charta bezogen. Die Internationalisten um Vandenberg wollten sich dahingehend versichern, daß die Vereinigten Staaten ihre regionalen Vereinbarungen mit Europa gemäß den Bestimmungen der UN-Charta entwickelten. Sobald die Internationalisten beider Parteien im Senat zufriedengestellt waren, konnte die Administration Verhandlungen mit den Ländern der Westunion und Kanada im Juli 1948 aufnehmen. Wenn sich auch die Washingtoner Treffen auf andere Probleme konzentrierten, wie die Zulassung von Ländern außerhalb der Westunion, und noch wichtiger — jedem Mitglied ein »Verspre10 11 12

Kaplan, Western Union and European Military Integration, S. 51 ff. FRUS 1949, IV, S. 352 f., Strategie Concept for the Defense of the North Atlantic Area. FRUS 1948, III, S. 135 f., Senate Resolution 239,11.6.1948.

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chen« zu entlocken, den anderen im Falle eines bewaffneten Angriffs gegen irgendeinen von ihnen zu Hilfe zu kommen, so schwang die vermeintliche Verbindung zwischen UN-Charta und dem vorgesehenen Vertrag immer dicht unter der Oberfläche mit. Der Vertragstext unterstreicht dies. Die Präambel beginnt mit einer Bekräftigung des Vertrauens in die Charta, die in Artikel 1, 3, 7 und 12 an exponierter Stelle erwähnt wird. Der letztgenannte Artikel implizierte sogar, daß wenn es, wie in der Charta vorgesehen, ausreichend Entwicklung in den regionalen Vorkehrungen gäbe, eine Aufrechterhaltung des Vertrags nicht notwendig sei. Indem die Truman-Administration die UN-Charta zitierte, ließ sie sich auf Taschenspielerei ein. Diejenigen, die den Vertrag konzipiert hatten, wußten von der grundlegenden Inkompatibilität zwischen Vertrag und Charta. Ersterer sollte so aussehen, als ob die NATO nur eine andere, unter Artikel 53 in Abschnitt VIII der Charta fallende regionale Organisation sein würde. Aber dieser Artikel ist im Vertragstext nicht erwähnt, und dies aus gutem Grund. Regionale Organisationen sollten ihre Aktivitäten eigentlich dem Sicherheitsrat vorlegen, in dem die Sowjetunion als ständiges Mitglied saß. Der Artikel, der im Vertrag besonders ausgemacht werden kann, ist Artikel 51, der das Recht jedes UNO-Mitglieds auf Ausübung individueller oder kollektiver Verteidigung verkündet. Was die amerikanischen Befürworter des Vertrags nicht sagten, war, daß es dieses Recht, unabhängig davon, ob eine UN-Charta existierte oder nicht, geben würde. Es ist nicht klar, ob die UNO-Gläubigen die Vorbehalte erkannten. Bei den Senats-Hearings über den nordatlantischen Vertrag im April und Mai 1949 wurde das UN-Problem unweigerlich thematisiert, die Frage der Kompatibilität indes umgangen. Warren Austin, US-Botschafter bei den Vereinten Nationen, behandelte die Frage, indem er ihre Existenz leugnete: »The old veteran, balance of power, was given a blue discharge when the United Nations was formed.« Und er akzeptierte auch nicht die Möglichkeit, daß der Vertrag ein Militärbündnis schuf. Senator Vandenberg wandte bei der Verteidigung des Vertrags die gleiche Taktik an. Es sei einfach nur ein Weg, so beschied er einen seiner Wähler, »for peaceful nations to defend international justice and security scrupulously within the Charter but outside the veto«13. Außenminister Dean Acheson, dem Heuchelei nicht sonderlich lag, war sich der Kluft zwischen den beiden Dokumenten nur zu bewußt, doch wußte er auch, daß er keine Wahl hatte, als feierlich zu erklären, wie er es einige Wochen vor Unterzeichnung des Vertrags getan hatte: »The pact is carefully and consciously designed to conform in every particular with the charter of the United Nations14.« Die Debatte um den Vertrag war auch eine Gelegenheit für die Sprecher der Isolationisten, sich Gehör zu verschaffen. Acheson und seine Kollegen hatten die Schwierigkeiten mit diesen Überbleibseln der Vergangenheit vorausgesehen, auch 13

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Senate Committee on Foreign Relations, 81 Cong., 1 sess., 3 parts, 1,97. North Atlantic Treaty Hearings, 28.4.1949; Vandenberg letter, in: The private papers of Senator Vandenberg, hrsg. von Arthur H. Vandenberg jun., S. 480. Department of State Bulletin, 20 (1949), vom 27.3., S. 386.

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wenn ihre Mitglieder nicht so überzeugend waren wie die Internationalisten. Das Gerangel um den Wortlaut von Artikel 5 mit den europäischen Partnern spiegelte ihren Einfluß wider. Die Bündnispartner wollten nichts weniger als die direkte Sprache des Brüsseler Vertrags, der »would afford the party so attacked all the military and other aid and assistance in their power«. Dies war inakzeptabel für die amerikanischen Unterhändler, wie ihnen ebenfalls klar war, daß das Versprechen eines US-Engagements Hauptstütze des Bündnisses war. Es bedurfte der Anstrengungen eines George Kennan, Vorsitzender des politischen Planungsausschusses im State Department und Gegner im Hinblick auf die militärischen Aspekte der Allianz, die Worte zu liefern, die die Isolationisten besänftigten15. Sie produzierten die gewundene Sprache von Artikel 5, in dem die Bündnispartner übereinkamen, einen Angriff gegen einen von ihnen als Angriff gegen alle zu betrachten, indes würden die von jedem Mitgliedsstaat ergriffenen Maßnahmen »be such action as it deems necessary, including the use of armed force, to restore and maintain the security of the North Atlantic area«. Stillschweigend wurde von der Bedingung ausgegangen, daß nur der amerikanische Kongreß entscheiden konnte, ob eine bewaffnete Streitmacht erforderlich war. Ebenfalls war ohne verbalisiert zu werden klar, daß die Macht des Präsidenten als Oberbefehlshaber der Streitkräfte im Falle eines Angriffs ausschlaggebend war. Der Kongreß hatte die Entscheidung des Präsidenten nach dem Angriff auf Pearl Harbor für einen Krieg gebilligt, wie er es auch getan hatte bei der Aktion von Präsident James Polk 1846, als der Oberbefehlshaber einen Angriff durch die Entsendung von Truppen in ein umstrittenes Territorium provoziert hatte. Im Unterschied zu den Internationalisten konnte der Wortlaut des Vertrags die Isolationisten nicht beschwichtigen. Bei den Senatsanhörungen gesellte sich die Linke zur Rechten in der Verurteilung des Bündnisses. Von den Anhängern des prosowjetisch eingestellten Henry A. Wallace und, verständlich, von Seiten der zwar kleinen, doch argumentativ starken Kommunistischen Partei wurde vorgebracht, daß der Vertrag Präludium für einen künftigen Krieg mit der Sowjetunion sei. Protestler von Rechts erregte, was sie als totale Preisgabe der Monroedoktrin und als Entstellung des Geistes von George Washingtons Abschiedsrede ansahen. Ungeachtet ihres Eifers konnte die Verbindung von rechten und linken Kritikern nicht viel gegen den nationalen Konsens ausrichten, daß die kommunistische Expansion gestoppt, Westeuropa geholfen werden mußte und der internationale Kommunismus eine Gefahr für die Nation darstellte, der mit einem Engagement im Bündnis zu begegnen sei. Eine kleine Schar von Isolationisten brachte die Auseinandersetzung bis vor den Senat. Sie scheiterten. Ohne das Ansehen von Robert A. Taft als führendem Senator wäre das Votum von 82 zu 13 für den Vertrag noch eindeutiger ausgefallen als es ohnehin schon war, und selbst Taft wies das Etikett eines Isolationisten von sich. Er erklärte, genau so wie Vandenberg oder Acheson über das Schicksal Westeuropas besorgt zu sein. Was er nur nicht wolle, war, dem Kongreß die Kontrol15

Kennan, Memoirs, S. 436.

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le über die amerikanische Außenpolitik entzogen zu sehen. Als Alternative nannte er eine einseitige Ausweitung der Monroedoktrin zum Schutz der atlantischen Bündnispartner. Zwar wurde dieser Kurs von der Administration verworfen, doch die Monroedoktrin blieb ein mächtiges Symbol. Bei seiner Verteidigung des Vertrags hatte Acheson den Kritikern entgegengehalten, daß der Atlantikpakt eine Aktualisierung der Monroedoktrin für das 20. Jahrhundert sei; die Technologie hätte den Atlantik auf die Größe der Karibik schrumpfen lassen und der Eiserne Vorhang den Ozean als Trennlinie zwischen einem unter amerikanischem Schutz stehenden Westen und einer kommunistisch beherrschten Alten Welt ersetzt16. Ungeachtet der überzeugenden Unterstützung für den nordatlantischen Vertrag in allen Mitgliedsstaaten nahm die Allianz selbst nicht genau den Kurs, den die europäischen Bündnispartner gewollt hatten. War das Versprechen in Artikel 5 Grundlage der neuen Organisation, so war die in Artikel 3 vorgesehene Militärhilfe der Schlüssel zu ihrer Verwirklichung, und dies war ein schweres Stück Arbeit. Vandenbergs Besorgnis in bezug auf die NATO war durch ihre Kompatibilität mit der UN-Charta nicht ausgeräumt. Darüber hinausgegehend meinten er wie auch Kennan eine Gefahr darin zu sehen, daß die NATO einen übermäßigen militärischen Charakter entwickeln könnte. Im Herbst 1949 stellte der Kongreß sicher, daß, um militärische Unterstützung zu erhalten, die Nutznießer nicht nur ihre Bereitschaft zu Beiträgen würden zeigen müssen, sondern auch, daß ihre Anstrengungen auf eine Integration Europas gerichtet waren17. Diese Forderung spiegelte das amerikanische Interesse an einem Europa wider, das mehr tat, als Verteidigungsanlagen gegen potentielle sowjetische Aggression oder interne kommunistische Subversion zu errichten. Wirtschaftliche und politische Einheit war das Ziel. Das Endprodukt würde eine von Kennan insbesondere favorisierte Partnerschaft von Gleichen sein. Und die Wirtschaft wie auch die Sicherheit der USA würden voraussichtlich von dieser Partnerschaft profitieren. Das Pentagon hatte seine eigenen Gründe, diese vorsichtige Einstellung zur Militärhilfe gutzuheißen. Der Mutual Defense Assistance Act verlangte von den Nutznießern, Stützpunktrechte als Gegenleistung zur Verfügung zu stellen sowie Militärberater zu akzeptieren, um sicherzustellen, daß die Hilfe entsprechend genutzt wurde. Die Idee, daß die Amerikaner in einer ausländischen Hauptstadt Kommandostellen errichteten, empfanden die Europäer als verdrießlich und demütigend. Die für Norwegen vorgesehene Militärmission beispielsweise würde an Personal den gesamten Mitarbeiterstab des norwegischen Außenministeriums übertreffen. Darüber hinaus verstießen bilaterale Abkommen dieser Art gegen den Geist der Integration, die die Atlantische Allianz eigentlich fördern sollte18. 16

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Congressional Record, 81 Cong., 1 sess., 11.7.1949,9206, Senate Resolution 134; ebd., 14.7.1949, 9422; North Atlantic Treaty Hearings, 27.4.1949; ebd., 30.4.1949. Public Law 329, Mutual Defense Assistance Act of 1949, Title I, 6.10.1949. Zit. nach Kaplan, Community of Interests, S. 61.

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Doch die europäischen Partner hatten keine Wahl, wollten sie in den Genuß der amerikanischen Geldmittel kommen. Bezüglich des Einsatzes der Militärhilfe bietet sich in der Retrospektive ein Bild, wonach die zehn Monate zwischen der Aktivierung des Vertrags und dem Ausbruch des Koreakrieges an den »seltsamen Krieg« von 1940 vor dem Überfall der Nazis auf Dänemark und Norwegen erinnerten. Es gab einen Wirbel an Aktivitäten, eindrucksvoll auf dem Papier aber mit wenig Substanz in der Realität. Der Nordatlantikrat traf im September zusammen und gründete unverzüglich einen Verteidigungsausschuß wie auch andere nachgeordnete Stellen zur Verwirklichung von Artikel 9. Unter dem Verteidigungsausschuß, der sich aus den Verteidigungsministern der Mitgliedsstaaten zusammensetzte, gab es den durch die Stabschefs von jeder Verteidigungseinrichtung gebildeten Militärausschuß. Regionale Planungsgruppen für die drei Sektoren Europa, Abschnitt Nordatlantik und Kanada-USA nahmen unverzüglich ihre Arbeit unter einer Ständigen Gruppe (Standing Group) des Militärausschusses auf, die sich aus den Stabschefs der Vereinigten Staaten, Großbritanniens und Frankreichs zusammensetzte. Auf der Novembersitzung des Rats wurde zur Unterstützung der fünf Planungsgruppen ein Military Production and Supply Board sowie ein Defense Finance and Economic Committee gebildet19. Die Frage jedoch, die im ersten NATO-Jahr niemals gestellt oder gar beantwortet wurde, war, welchen Sinn diese Aktivitäten hatten. Die gemäß dem Mutual Defense Assistance Act de facto gewährte Militärhilfe war minimal und kam spät. Wäre sie sofort erfolgt, hätte dies irgendeine Wirkung gehabt? Die zahlreichen nachgeordneten Stellen schienen von ihren Funktionen her nicht bedeutender gewesen zu sein, als die Ausschüsse der Westunion vor dem Inkrafttreten des Vertrags; sie schienen Dekoration gewesen zu sein. Das Military Production and Supply Board hatte seinen Sitz in London, das Defense Finance and Economic Committee in Rom und die Standing Group befand sich in Washington. Die Koordination zwischen ihnen war mangelhaft; aber sie war auch nicht notwendig. 1949 war es nicht die Hauptfunktion der NATO, US-Hilfe zu leisten. Es war eher ein Gefühl von Sicherheit, das aus der Annahme herrührte, die Bündnispartner würden von den atomar bestückten amerikanischen B-29 in der Luft 24 Stunden am Tag geschützt sein. Damals wußten sie nicht, wie wenig Bomben es gab; es hätte auch keine Rolle gespielt, wenn sie mehr Informationen gehabt hätten. Schließlich drohte 1949 eine Gefahr nicht von Seiten einer unwahrscheinlichen sowjetischen Invasion, sondern von einer internen Subversion, die zu einer kommunistischen Machtübernahme in einem oder mehreren NATO-Staaten führen konnte. Eine über die US-Beziehung inspirierte wirtschaftliche Erholung würde deren Gesellschaften gegen diese Möglichkeit resistent machen. Die Verbindung der beiden Kontinente über die NATO garantierte nicht über jeden Aspekt der Allianz Zufriedenheit, soweit die Europäer betroffen waren. Wie erwähnt, gab es Groll in bezug auf die Bedingungen für die Militärhilfe, insbe19

Siehe Texts of Final Communiques, S. 47-51,18.11.1949.

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sondere über die bilateralen Abkommen, die den Nutznießern abgerungen worden waren. Die Amerikaner forderten parallel zu den bilateralen Abkommen für sich multilaterale Verpflichtungen von Seiten der Europäer, die ebenfalls wenig erbaut waren von der Ausgestaltung des strategischen Konzepts, welches auch vom Mutual Defense Assistance Act vorgesehen war. Demnach würde der Beitrag der Vereinigten Staaten in den strategischen Luftstreitkräften bestehen, wohingegen die Bündnispartner die Bodentruppen im Falle eines Konflikts zu stellen hätten20. Die vielleicht gravierendsten Divergenzen zwischen Europa und Amerika entwickelten sich im ersten Jahr über die von den Joint Chiefs of Staff ausgearbeiteten und an die Allianz angepaßten Verteidigungspläne. Selbst als der kurzfristige Verteidigungsplan, nach dem Europa aufgegeben werden sollte, ad acta gelegt wurde, gab es auf Seiten der Bündnispartner Vorbehalte gegenüber dem mittelfristigen Verteidigungsplan, der, im April 1950 gebilligt, bis 1954 abgeschlossen sein sollte. Nach einer Revision wurde die westliche Verteidigungslinie an den Rhein vorgeschoben, was gegenüber der Vorgängerversion eine erhebliche Verbesserung darstellte, aber immer noch nicht gut genug war. Verständlicherweise waren die Niederländer über eine Verteidigungslinie beunruhigt, die die rechte Rheinseite außerhalb der NATO-Verteidigung ließ. Dies war eine Gelegenheit, bei der sich die US-Führung den lebenswichtigen Bedürfnissen der Bündnispartner beugen mußte. Eine Verteidigung am Rhein reichte nicht; sie mußte zumindest ostwärts bis zur Elbe geschoben werden, insbesondere als sich der Status Westdeutschlands als Streitfrage stellte21. Bildete Deutschland eine Streitfrage bei der Gründung der NATO, so war dies von einer Verschwörung des Schweigens umhüllt. Der Vorschlag, Deutschland zu einem Bündnis aufzufordern, war nur vier Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs eine Unmöglichkeit; zu stark war noch die Erinnerung an die NSGreuel bei den meisten Mitgliedern der Allianz. Auch wenn die Amerikaner die heftigen Emotionen gegen eine potentielle deutsche Mitgliedschaft intellektuell, wenn nicht gar emotional, nachvollziehen konnten, so sahen sie doch eine logische Verbindung zwischen dem Aufbau der Allianz und der Lösung des deutschen Problems. Von Anfang an bestand ein Junktim. Die Entstehung eines deutschen Staates, gefördert durch Trizonenregelungen und gestärkt durch die erfolgreiche Luftbrücke 1948/49, kulminierte in der Gründung der Bundesrepublik im Mai 1949, nur einen Monat nach Unterzeichnung des Vertrags. Seit dem Sommer 1949 erhoben sich im Kongreß und beim Militär Stimmen, die sich für einen deutschen Beitrag, wenn nicht gar Mitgliedschaft, in der Allianz aussprachen. Grob aufrichtig gesagt, schien es unverständlich, daß die Deutschen von dem Schutz der NATO durch die Präsenz alliierter Streitkräfte profitieren sollten, ohne zur gemeinsamen Verteidigung beizutragen. Gehobener formuliert, würde eine Anbindung Deutschlands an die NATO in dieser oder jener Weise 20 21

FRUS 1949, IV, S. 352 f., Strategie Concept for the Defense of the North Atlantic Area. Kaplan, United States and NATO, S. 142 f.

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auch eine westliche Orientierung in der Bundesrepublik garantieren und Versuchungen vorbeugen, eine Vereinigung nach sowjetischen Vorgaben zu akzeptieren. Das Gespenst einer Rapallo-ähnlichen Annäherung an die Sowjetunion beschwor — wie ungerechtfertigt auch immer — die Weimarer Zeit herauf. Hauptsächlich würde eine deutsche Mitgliedschaft das Tempo der Demokratisierung in Westdeutschland beschleunigen22. Solcherart waren die in piano vorgetragenen Argumente zugunsten einer deutschen Rolle in der Allianz. Ein Großteil dieser Diskussion fand in geheimen Sitzungen des Kongresses oder in den Planungsabteilungen des Pentagon statt. Öffentlich war die Idee einer Anbindung der Bundesrepublik an eine militärische Allianz niemals Gegenstand der Erörterung. Als Acheson gefragt wurde, ob ein Einschluß Westdeutschlands die strategische Position der Allianz verbessern würde, behauptete er: »Quite clearly at the present time a discussion of including western Germany into the pact is not possible23.« Der Koreakrieg brachte eine dramatische Veränderung in den Beziehungen zwischen Deutschland und den Bündnispartnern, wie er auch tatsächlich die Struktur der Organisation selbst veränderte. Die anfänglichen Befürchtungen Europas liefen darauf hinaus, daß der Krieg im Fernen Osten die Aufmerksamkeit der USA von Europa auf das traditionelle amerikanische Interessengebiet ablenken und sogar zu einer Preisgabe der atlantischen Allianz führen würde. Aufgrund der Art und Weise jedoch, wie die Truman-Administration die Bedeutung des Angriffs von Nordkorea interpretierte, fiel die Antwort beruhigend aus. Gemäß der damaligen üblichen Lesart war Nordkorea nichts anderes als ein sowjetischer Satellitenstaat, der die Entschlossenheit des amerikanischen Gegners testen sollte. Wenn dem so war, so könnte Stalin den Boden für eine Aggression von Seiten eines anderen Satelliten — Ostdeutschlands — vorbereiten, um in ein anderes geteiltes Land einzufallen24. Das Ergebnis war keine amerikanische Preisgabe der atlantischen Allianz, sondern eher ihre Revitalisierung. Anstatt das militärische Hilfsprogramm auf ungefähr dem gleichen Niveau wie 1949 zu erneuern, genehmigte der Kongreß einen 4-Mrd.-Dollar-Nachtrag, um den Bündnispartnern zu helfen, einen möglichen Angriff von der Art, wie Südkorea ihn erfahren hatte, abzuschrecken. Das Gespenst von 60 000 Mann starken ostdeutschen paramilitärischen Verbänden, unterstützt von 27 sowjetischen Divisionen in der Ostzone, erforderte eine nachhaltigere Reaktion als eine Erhöhung der Militärhilfe. Die Krise rief nach einer Reorganisation der Allianz, um der Herausforderung zu begegnen25. Die Erleichterung der Bündnispartner über das Wiedererstarken des amerikanischen Interesses an der westlichen Sicherheit wurde durch den Druck kompensiert, den der Hauptbündnispartner im Sommer und Herbst 1950 ausübte. Die 22 23 24 25

Ebd., S. 154 f. North Atlantic Treaty Hearings, 27.4.1949. Kaplan, United States and NATO, S. 145. Public Law 843, Supplemental Appropriation Act of 1951, 27.9.1950.

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an die Europäer gerichtete Forderung der Vereinigten Staaten nach Steigerung ihrer militärischen Beiträge für die NATO konnte die in Westeuropa vonstatten gehende wirtschaftliche Erholung gefährden. Gleichermaßen unbehaglich war das amerikanische Beharren auf einer schnellstmöglichen Einbeziehung der Bundesrepublik in die Verteidigung Europas. Kongreßabgeordnete, die zuvor ausweichende Antworten auf Fragen bezüglich der deutschen Rolle hingenommen hatten, wollten nun eine Wiederbewaffnung Deutschlands als Preis für fortlaufende amerikanische Unterstützung. Daß eine deutsche Armee, wie gründlich sie auch von ihrer NS-Vergangenheit gereinigt sein mochte, für die meisten Bündnispartner ein Anathema war, manifestierte sich in dem heftigen Widerstand Frankreichs auf der New Yorker Sitzung des NATO-Rats im September 1950. Aber besonders das Pentagon machte, wie Acheson ausführte, deutlich, daß US-Truppen und US-Hilfe von der NATO-Akzeptanz eines deutschen Beitrages abhingen26. Obwohl das September-Treffen in einer Sackgasse mündete, erzwang der Druck auf Frankreich und andere widerstrebende europäische Bündnispartner eine positive Reaktion. Diese schien von dem französischen Wirtschaftsfachmann Jean Monnet geliefert worden zu sein, der ein im Mai 1950 ausgearbeitetes Modell zum Zusammenschluß der Schwerindustrien Frankreichs und Deutschlands in einer supranationalen Struktur — der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl — vorlegte. Dieses Konzept wurde in Gestalt des Pleven-Plans auf die politischmilitärische Ebene übertragen. Benannt nach dem damaligen französischen Premierminister sollte es ein Kompromiß sein, der die europäischen Besorgnisse über eine Militarisierung Westdeutschlands zerstreuen und gleichwohl ein deutsches militärisches Kontingent für die gemeinsame Sache hervorbringen sollte. Gemäß diesem Plan würden sich die europäischen Partner zu einer speziellen europäischen Streitmacht mit einem Oberkommando mit eigenem Stab unter einem europäischen Verteidigungsminister verpflichten. Bei Zustandekommen dieser Armee würden deutsche Streitkräfte auf Bataillonsebene agieren27. Der Plan war in mancherlei Hinsicht mangelhaft, eine Tatsache, die seine geistigen Väter nicht zu stören schien. Einwände kamen aus der Bundesrepublik selbst, wobei nicht zuletzt ihre Position, die sie als Pfand in der NATO einnehmen würde, moniert wurde. Darüber hinaus mußte sich Kanzler Konrad Adenauer, vielleicht der fähigste europäische Führer seiner Zeit, inländischen Kritikern stellen, die befürchteten, ein Beitritt zur Allianz in jedweder Form würde die Chance auf eine Wiedervereinigung Ost- und Westdeutschlands durch Abmachungen mit der Sowjetunion ausschließen. 1950 war Neutralismus eine Kraft, mit der gerechnet werden mußte. Andere Kritiker von rechts sahen in einer so engen Verbindung des Geschicks der Nation mit dem Westen jede Hoffnung auf die Wiedergewinnung der im Zweiten Weltkrieg verlorenen Gebiete schwinden28.

Ά 27

28

Acheson, Present at the Creation, S. 437. Text des Pleven-Plans in: Documents on International Affairs, 1949-1950, Royal Institute of International Affairs, S. 339-344. Kaplan, NATO and Adenauer's Germany.

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Die größere Frage im Augenblick war die Realisierbarkeit des Plans. US-Skepsis zwang die Franzosen, die Forderungen über Bord zu werfen, daß deutsche Kontingente erst nach Aufstellung der europäischen Armee hinzustoßen sollten. Die Franzosen stimmten ebenfalls zu, die Kampfeinheiten in Regiments- statt Bataillonsstärke zu akzeptieren. Ein amerikanischer Kompromiß, der SpoffordPlan, reicherte die vagen Vorschläge des Pleven-Plans an; die Truppen würden in einem europäischen Kommando unter einem europäischen Verteidigungsminister stehen, der wiederum Instruktionen von einem supranationalen Ministerrat erhielt, welcher sich gegenüber einer europäischen parlamentarischen Versammlung zu verantworten hatte29. Es würde einige Zeit dauern, eine solche europäische Verteidigungsgemeinschaft zu gründen, ein Problem, das viele der Bündnispartner nicht zu stören schien. Ihr Anliegen war es, den Amerikanern ein größeres Engagement für Europa zu entlocken; und wenn die Zusage einer künftigen Vereinigung einen sofortigen Strom von amerikanischen Truppen und Mitteln schnell herbeiführte, waren Frankreichs Politiker bereit, Loyalität gegenüber einem umfassenden deutschen NATO-Beitrag, wenn nicht gar einer Mitgliedschaft, zu bekunden. Von Anfang an jedoch war es unwahrscheinlich, daß der Pleven-Plan und die sich aus ihm entwickelnde Europäische Verteidigungsgemeinschaft etwas anderes als ein Vehikel waren, um das schmerzliche Problem einer deutschen Wiederbewaffnung hinauszuschieben, ohne der amerikanischen Unterstützung verlustig zu gehen. Die Europäische Verteidigungsgemeinschaft mit ihren in den darauffolgenden zwei Jahren umständlich ausgestalteten Bestimmungen und Protokollen erreichte nie ihr Ziel. Der Vertrag zur Gründung der Gemeinschaft wurde im Mai 1952 unterzeichnet, doch verzögerten französische Forderungen nach Protokollen, in denen die Beziehungen zwischen der Gemeinschaft und den Nichtmitgliedern — Großbritannien und den Vereinigten Staaten — definiert waren, seine Ratifizierung für mehr als zwei Jahre. 1954 ließ die französische Nationalversammlung den Vertrag platzen. Angeblich bestand die Crux darin, daß Frankreich nie akzeptiert hatte, daß sich Briten und Amerikaner der Gemeinschaft enthielten. Ein überzeugenderer Faktor war Frankreichs Sorge, die Souveränität innerhalb der neuen Organisation zu verlieren, und die Befürchtung, die Gemeinschaft letztendlich unter die Kontrolle eines revitalisierten Deutschland geraten zu sehen. Durch ihr Unvermögen, den Vertrag zu ratifizieren, schienen die Franzosen offenzulegen, daß sie nicht die Absicht hatten, das französische Militär in einer europäischen Armee aufgehen zu lassen bzw. deutsche Truppen neben den eigenen zu akzeptieren 30 . Gleichwohl war das Schicksal der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft nicht bloß eine Geschichte von Mißerfolg oder Täuschung. 1950 hätten die Bündnisparter aller Wahrscheinlichkeit nach die Bundesrepublik nicht als NATO-Partner akzptiert. 1954 nach dem Zusammenbruch der Gemeinschaft, waren sie dazu 2

'

30

FRUS 1950, III, 458 f. Spofford to Secretary of State, 16.11.1950. CostiglioJa, France and the United States, S. 101.

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bereit. Wie groß der Anteil der erzieherischen Kampagne in den vorausgegangenen vier Jahren am Erfolg der phantasiereichen Londoner und Pariser Abkommen im Herbst 1954 war, ist schwer zu sagen. Es ist bemerkenswert, daß Frankreich 1955 bereit war, eine deutsche Mitgliedschaft in der Allianz via Ausweitung der Westunion auf die Bundesrepublik wie auch auf Italien zu akzeptieren, davon ausgehend, daß diese Vorkehrung die deutsche Mitgliedschaft in der Allianz Beschränkungen hinsichtlich der Produktion von Atomwaffen unterwerfen und die deutschen Truppen ganz an die Allianz binden würde 31 . Gleichwohl wurde Adenauers Deutschland mit Frankreichs Unterstütung 15. Mitglied der NATO. Und sein Status änderte sich entsprechend. Ausländische Streitkräfte waren keine Besatzungsmacht mehr, nicht einmal mehr dem Namen nach. Eine souveräne Republik war Gastgeber für alliierte Truppen auf ihrem eigenen Territorium. Die Hohen Kommissare aus dem Zweiten Weltkrieg wurden Botschafter, ebenso wie der Bundesrepublik viel von jener Akzeptanz im Ausland zuteil wurde, die sich Adenauers Hoffnung zufolge aus ihrer Westanbindung ergeben würde. Die Europäische Verteidigungsgemeinschaft mag einige Jahre ein Schattendasein geführt haben, doch sie half, die Rehabilitierung Deutschlands zu beschleunigen, welches auch immer die Absichten ihrer Gründer gewesen sein mögen. Auch wenn die bedeutendste Veränderung durch den Koreakrieg hervorgerufen wurde, war die deutsche Mitgliedschaft in der NATO nicht die einzige größere Veränderung. Am schnellsten kamen die US-Zahlungen für die Zugeständnisse der Franzosen 1951, und zwar: die Reorganisierung der NATO und Entsendung von US-Truppen nach Europa. Was den Erfolg der Reorganisation garantierte, war die Bildung eines Obersten Alliierten Kommandos in Europa und im Atlantik sowie die Ernennung von General Dwight D. Eisenhower zum ersten Obersten Befehlshaber Europa. Die Bündnispartner hätten keine beeindruckendere Persönlichkeit als Identifikationsfigur wählen können als ihn, der eine ähnliche Rolle während des Zweiten Weltkrieges gespielt hatte. Eisenhowers Präsenz in der NATO war der überzeugende Faktor für einen widerwilligen Kongreß im Winter 1951, vier Divisionen nach Europa zu entsenden, womit das amerikanische Engagement für Europa vertieft wurde 32 . Seine Präsenz im Hauptquartier in Rocquencourt war mehr als symbolisch. Sie bedeutete eine US-Führerschaft, die bei Unterzeichnung des Nordatlantikvertrags nicht vorgesehen war. In der Tat endete die Rivalität zwischen Montgomery und de Lattre de Tassigny um die Befehlsgewalt in der Westunion, als der Amerikaner die Stelle einnahm. Und tatsächlich nahm Montgomery innerhalb des Obersten Alliierten Kommandos eine sekundäre Position ein. Die Reorganisation der NATO trieb die USA in neue, über Westeuropa selbst hinausgehende Verpflichtungen. Ungeachtet des britischen Trachtens, sollte Eisenhowers maritimes Pendant, der Supreme Allied Commander Atlantic, 1952 und in Zukunft ebenfalls wieder ein Amerikaner sein. Und es war auf den Druck des 31 32

Kaplan, NATO and the United States, S. 62 f. Kepley, The Senate.

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Supreme Command in Paris zurückzuführen, daß Griechenland und die Türkei in die NATO kamen, was den Rahmen der Allianz weiter ausweitete. Wie im Falle des deutschen Beitrags blieb den Bündnispartnern nicht viel anderes übrig. Wollten sie eine US-Führung wie auch vier neue Divisionen, mußten sie solche Randstaaten wie Griechenland und die Türkei hinnehmen. Diese würden die Südostflanke der NATO decken wie auch das notwendige Personal stellen. Der Beschluß zur Aufnahme von Griechenland und der Türkei wurde auf dem Lissaboner Treffen des NATO-Rats 1952 gefaßt, als die Bündnispartner übereinkamen, 1952 etwa fünfzig Divisionen, 1953 fünfundsiebzig und 1954 sechsundneunzig Divisionen aufzustellen. Die Umwandlung der Allianz in eine militärische Organisation konsolidierte die Dominanz der USA in den fünfziger Jahren. Würden Europäer den auf dem Lissaboner Treffen geschaffenen Posten des Generalsekretärs einnehmen, schien die Macht beim Supreme Commander zu liegen, dessen Titel allein schon Befehlsbefugnisse implizierte, über die sein ziviler Kollege nicht verfügte. Bei diesen Veränderungen trugen die beiden anderen Mitglieder der Standing Group einen aussichtslosen Kampf um Gleichheit mit den USA aus. Keines von beiden war dem US-Druck gewachsen. Frankreich akzeptierte eine deutsche Mitgliedschaft zu den für sie bestmöglichen Bedingungen; und Großbritannien mußte sich damit begnügen, einen britischen Admiral mit Befehlsgewalt über den Ärmelkanal zu haben, nachdem es gescheitert war, den Kommandobereich Atlantik zu erhalten. Die Wahl von Lord Ismay zum ersten Generalsekretär war eine dürftige Kompensation für den Statusverlust. Es schien, als ob sich das Engagement der Amerikaner, nachdem diese das beharrliche Bitten der Europäer um weiteres Engagement in ihren Angelegenheiten akzeptiert hatten, an Umfang und Ausmaß ausweiten würde. Ein Umstand kann gewesen sein, daß die NATO den Weg zur Verwirklichung des globalen Engagements eröffnete, was in der Truman-Doktrin Inbegriffen war, sich aber noch im Schlummerzustand befand. Die Unzufriedenheit der Amerikaner über die Nichtbereitschaft der Franzosen, Indochina aufzugeben, um den Nationalisten bei der Bekämpfung der Kommunisten zu helfen, führte schließlich dazu, daß die Vereinigten Staaten an die Stelle Frankreichs in Südostasien traten. Die ursprüngliche Absicht bei der Schaffung der Südostasiatischen Vertragsorganisation (SEATO) war, die Sicherheit des neuen Staates Südvietnam zu garantieren. Zu diesem Zweck verbanden sich die Vereinigten Staaten mit den Philippinen, Thailand und Pakistan, wie sie auch ihr früheres Engagement für Australien und Neuseeland verstärkten. Obwohl der Ansporn für diese asiatische NATO-Version auf den Schutz der Republik Vietnam zurückging, symbolisierte die SEATO die Bereitschaft auf Seiten der Vereinigten Staaten, das Versprechen der Trumandoktrin zu erfüllen, nämlich befreundeten Nationen zu helfen, den Kommunismus weltweit zu bekämpfen. Bilaterale Verträge mit Japan und Taiwan, parallel zu einer diskreten Unterstützung des Bagdad-Pakts im Mittleren Osten, ließen darauf schließen, daß Amerikas Reichweite keine geographischen Grenzen gesetzt waren. Der Nordatlantikvertrag hatte die Gußform des Isolationismus zerbrochen.

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Aber ließ es der Eintritt in die NATO zu, daß die USA nicht nur ihre gegen Bündnisverstrickungen gerichteten Strukturen aufgaben, sondern auch eine imperialistische Haltung einnahmen, die sie in den ersten 150 Jahren ihrer Geschichte mit der Alten Welt identifiziert hatten? Zugegebenermaßen war das Verhalten Amerikas gegenüber Mexiko 1846 oder gegenüber Spanien 1898 im wesentlichen nicht weniger aggressiv oder ausbeuterisch als das der großen europäischen Mächte gegenüber Afrika und Asien im gleichen Zeitraum. Gleichwohl konnten die Amerikaner mit einer gewissen Berechtigung behaupten, daß ihr Manifest destiny sich in der Tat von dem der europäischen Imperialisten unterschied, siehe die erfolgreichen Bemühungen, das ehemalige mexikanische Gebiet auf der Grundlage von Gleichheit mit den älteren Staaten in die Union aufzunehmen, oder die Schritte, die die Vereinigten Staaten unternahmen, um die Philippinen und Puerto Rico, fast gleich nach dem Erwerb von Spanien aus dem kolonialen Status zu entlassen. Gleichwohl schienen die vielen zwischen 1949 und 1956 abgeschlossenen bilateralen und multilateralen Allianzen eine systematische Unterordnung der Mandatsstaaten unter die Autorität der Vereinigten Staaten darzustellen. War diese Haltung Ausdruck eines neuen Imperialismus unter dem Mantel von Antikommunismus? Der Befund läßt hier mehr als eine Deutung zu. Mit Sicherheit fühlten sich die Bündnispartner hin- und hergerissen zwischen der Abhängigkeit von der USMacht und ihrem Groll in bezug auf die Manifestationen dieser Macht. Frankreich verzieh den Vereinigten Staaten nie ihre Rolle in Indochina; das Vereinigte Königreich trug den Amerikanern deren Vernachlässigung ihrer maritimen Interessen beim Aufbau der NATO nach; und die Bundesrepublik wunderte sich über die Einsicht der Amerikaner, sie unmittelbar nach der Operation Carte Blanche — als die Vereinigten Staaten im Sommer 1955 mit äußerstem Gleichmut eine Todesziffer von 1 700 000 Deutschen bei einer nuklearen Konfrontation mit der Sowjetunion zu akzeptieren schienen — in den Westen zu integrieren. Die kleineren NATO-Partner hatten ihren eigenen Grund zur Klage; regelmäßig warfen sie dem Hauptbündnisparter vor, es fortwährend zu unterlassen, sich mit ihnen über die NATO-Politik zu konsultieren. Hielt die in der Allianz schwache Stellung der Westdeutschen diese von einer Reaktion ab, so manifestierte sich die Unzufriedenheit der Briten und Franzosen in ihrer Suez-Intervention von 1956, als sie sich bei dem Angriff auf Ägypten ohne vorherige Benachrichtigung ihres amerikanischen Partners zusammentaten. Im gleichen Jahr sprach ein Ausschuß von drei Außenministern, die aus den kleineren NATO-Staaten hinzugezogen worden waren, die Empfehlung aus, wann immer es um die Interessen der Allianz ging, Konsultationen im Planungsstadium aufzunehmen. Zielscheibe des Berichts waren eindeutig die USA33. Ungeachtet der offensichtlichen Schwierigkeiten in den Beziehungen zwischen den Verbündeten ist kein Mitglied aus der Organisation oder dem Bündnis ausgetreten. Nur das unter einer kommunistisch beeinflußten Regierung stehende 33

Report of the Committee of Three in: Texts of Final Communiques, S. 101,11.12.1956.

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Island hat 1956 mit diesem Gedanken gespielt. Doch unterstreicht diese Ausnahme die umfassende Akzeptanz, daß die NATO Europa unter dem US-Schirm Sicherheit gebracht hat. Zwar mag man die Logik anzweifeln, den in Lissabon genehmigten Umfang der Bodentruppen zu reduzieren; insbesondere vor dem Hintergrund der Absicht, die Verteidigung primär auf ein atomares Verteidigungssystem zu übertragen, das auf massiver Vergeltung beruhte. Gleichwohl war es für die Bündnispartner akzeptabel, und nicht nur, weil es sie weniger kosten würde. Was zählte, war nicht die Methode der Verteidigung, sondern das Engagement des Verteidigers. Ungeachtet der vielen Beispiele von unsensiblem Verhalten gegenüber den Bündnispartnern in diesen Jahren gibt es viele andere Beispiele, die von den amerikanischen Bemühungen zeugen, den Bedürfnissen und Sorgen der Europäer entgegenzukommen. Sie reichten von der widerstrebenden Entsendung von vier US-Divisionen bis zu den Abkommen über den Streitkräftestatus. Erstere wurde angesichts heftiger Senatsopposition durchgezogen. Die Gegner befürchteten mit gutem Grund eine permanente Präsenz amerikanischer Truppen in Europa. Weder war dies der übliche Ausdruck imperialer Absichten noch waren die Abkommen über den Streitkräftestatus Beispiele imperialer Kontrolle. Sie stellten ein Übereinkommen dar, wonach ein Gastgeberland die Strafgerichtsbarkeit über die Truppen einer auf seinem Territorium stationierten NATO-Macht ausüben würde. Ohne diese Übereinkommen wären die US-Truppen in Europa in der Position von Besatzern abhängiger Staaten gewesen oder bestenfalls privilegierte Gäste von zweitklassigen Bündnispartnern. Meistens waren die Vereinigten Staaten darum bemüht, die »NATO-Methode« des Konsens zu praktizieren. Die »Einladung«, die Geir Lundestad 1949 beobachtet hatte, galt auch 1956.

Paul Letourneau Die strategische Dimension der kanadischen Außenund Bündnispolitik 1945-1956 1 Die Außenpolitik Kanadas wurde lange als die eines großen und dünnbesiedelten Landes dargestellt, das nicht in der Lage sei, seine Verteidigung allein sicherzustellen. Seit dem 19. Jahrhundert mußte sich Kanada auf die Garantien erst Großbritanniens und dann der Vereinigten Staaten verlassen, wenn es um die glaubwürdige Gewährleistung seiner Sicherheit ging. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts war Kanada — teilweise aufgrund der engen Beziehungen zum südlichen Nachbarn und zu Großbritannien — gefordert, sich recht aktiv um europäische Sicherheitsprobleme zu kümmern. Diese Aufgabe bildet ein wichtiges, wenn nicht sogar vorrangiges Element in der Formulierung der nationalen Interessen Kanadas auf internationaler Ebene. In diesem Zusammenhang sind das kanadische Engagement in den beiden Weltkriegen sowie die entscheidende Rolle der kanadischen Regierung bei der Schaffung der NATO markante Beispiele für die Entschlossenheit Kanadas, sich in das europäische Geschehen einzuschalten. Das hat gewisse Autoren veranlaßt, Kanada als die europäischste der amerikanischen Mächte zu bezeichnen2 oder die wahren Interessen eines derartigen Vorgehens in Frage zu stellen: Kanada »handelt beinahe als einziges der Länder in der westlichen Hemisphäre, als wenn es eine lebenswichtige Sicherheitsgrenze irgendwo in Mitteleuropa hätte«3. Die Faktoren, die Kanada zur Teilnahme an den beiden Weltkriegen bewegten, können nicht einfach mit seiner Zugehörigkeit zum britischen Empire begründet werden. Unter demselben Blickwinkel kann Kanadas Mitgliedschaft in der Atlantischen Gemeinschaft nicht ausschließlich als Reaktion auf die sowjetische Herausforderung gewertet werden oder als Versuch, bevorzugte wirtschaftliche Beziehungen mit seinen strategischen Partnern aufrechtzuerhalten. Bis auf diese Faktoren und die unterschiedlichen politischen Strömungen zwischen 1945 und 1956, die zur Umwandlung Kanadas von einem Land mit eher isolationistischen Tendenzen zu einem sich weltweit öffnenden Land führten, war die kanadische Haltung von Kontinuität geprägt, da die führenden Politiker seit Beginn des Jahrhunderts an derselben grundlegenden strategischen Logik festgehalten haben. Diese Logik, die hier als Bemühen um die strategische Verflechtung Nordameri1

2 3

Der Dank des Verfassers gilt Philippe Hebert, der wertvolle Hilfe bei den Nachforschungen leistete, die zur Abfassung des vorliegenden Artikels erforderlich waren. Nossal, Un pays europeen? Dyer/Viljoen, The Defence of Canada, S. 12.

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kas mit Europa gesehen wird, trägt dazu bei, verständlich zu machen, in welchem Maße die Schaffung des atlantischen Bündnisses den nationalen Interessen Kanadas in jener Zeit entgegenkam. Eine solche Sicht unterscheidet sich von der anderer Autoren, die mehr auf die multilaterale Dimension der kanadischen Außenpolik in der Nachkriegszeit abgehoben haben, indem vor allem auf das neue Auftreten Ottawas nach 1945 hingewiesen wird4. Diese strategische Verflechtung steht für die Vorstellung, nach welcher die Abstimmung der Sicherheit der beiden Kontinente für die Sicherheit Kanadas von ausschlaggebender Bedeutung ist. Die Geographie ist hierbei der entscheidende Faktor für die strategische Situation Kanadas. Kanada hat im Süden nur einen einzigen Nachbarn, die Vereinigten Staaten, deren flächenmäßige Ausdehnung zwar geringer, deren Bevölkerungszahl jedoch zehnmal so hoch ist. Die anderen Grenzen Kanadas werden von drei Weltmeeren gebildet. Angesichts dieser Tatsache bleibt der Faktor Amerika eines der wichtigsten Elemente in der geostrategischen Problematik Kanadas. Das durch die Gegebenheiten bedingte Ungleichgewicht zwischen diesen beiden Staaten schafft eine für Kanada heikle Lage. Solange Großbritannien ein gewisses Gegengewicht gegen die natürlichen Neigungen der amerikanischen Supermacht bildete, konnte Ottawa hoffen, eine relative Entscheidungsfreiheit behalten zu können. Deshalb bemühte sich Kanada in Europa nicht nur um die Entwicklung interessanter wirtschaftlicher Beziehungen, sondern vor allem um einen potentiellen Rückhalt, um eine Isolierung mit den Vereinigten Staaten in Nordamerika zu vermeiden. Die besondere Dimension der kanadischen Geostrategie erklärt das anhaltende Engagement Ottawas für Fragen der europäischen Sicherheit und die Bereitschaft, Washington in eine eventuelle westliche Verteidigungsgemeinschaft mit einzubeziehen. Diese Konzeption der Verflechtung, von der man in Kanada wenig hört, trägt jedoch dazu bei, die Hintergründe und die Art der engen Beziehungen zwischen Kanada und der europäischen Sicherheit zu verstehen. Sie liefert die Erklärung dafür, weshalb sich die kanadische Diplomatie um die Festigung dieser Beziehungen bemühte. Hier soll dargelegt werden, in welchem Umfang das kanadische Agieren auf der internationalen Szene zwischen 1945 und 1956 auf diese Konzeption zurückzuführen ist, und welchen Einfluß die strategische Logik auf die kanadische Bündnispolitik jener ereignisreichen Jahre hatte.

1. Die kanadische Vorstellung von der strategischen Verflechtung Obwohl damals die Konzeption der Verflechtung in den Aussagen der führenden kanadischen Politiker nicht auftauchte, war sie in ihrem Denken fest verankert. Zahlreiche Dokumente belegen in überzeugender Weise, wie man sich unab4

Kurz zusammengefaßt in Keating, Canada and World Order, S. 9-24.

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lässig um Ansatzpunkte für die Verflechtung bemühte. Solche Bemühungen waren meist diskret, da man den mächtigen, wohlwollenden, aber gelegentlich auch störenden und platzgreifenden Nachbarn nicht verstimmen wollte. Die Zugehörigkeit zum britischen Empire hat Kanada im 18. und 19. Jahrhundert vor politischem Druck und Invasionsabsichten der Amerikaner bewahrt. Die britische Militärmacht bildete damals eine Abschreckung gegen die expansiven Betrebungen der USA, vor allem zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Die latente Angst vor dem amerikanischen Riesen herrschte übrigens über einen langen Zeitraum. Bis in die frühen dreißiger Jahre sahen Pläne des kanadischen Verteidigungsministeriums Abwehrmaßnahmen gegen amerikanische Invasionskräfte vor5. Die Alltagspraxis zeigte Ende des 19. Jahrhunderts aber, daß jede militärische Bedrohung verschwunden war. Trotz des Schwindens der britischen Militärmacht und trotz des unvermeidlichen wirtschaftlichen Zusammenrückens mit dem südlichen Nachbarn bemühte sich Kanada weiterhin um ein Gegengewicht zu dieser Großmacht, insbesondere auf dem Gebiet der Verteidigung und der Sicherheit. Das wurde auch fortgesetzt trotz der kanadisch-amerikanischen Abkommen von Ogdensburg (August 1940) und Hyde Park (April 1941) über die militärische Zusammenarbeit, die auf eine Integration der Verteidigung und der Rüstungsindustrie beider Länder abzielten 6 . Das Abkommen von Ogdensburg führte u.a. zur Schaffung einer kanadisch-amerikanischen Verteidigungskommission, dem Permanent Joint Board of Defence, mit dem Auftrag, gemeinsame Einsatzpläne zur Verteidigung des nordamerikanischen Territoriums zu erarbeiten. Um der kontinentalen Isolierung mit dem mächtigen Nachbarn zu entkommen, haben kanadische Politiker häufig Initiativen ergriffen, die widersprüchlich erschienen. Kanada hat sich tatsächlich um die Anknüpfung von Beziehungen zu Europa bemüht, indem es gleichzeitig immer enger mit Washington zusammenarbeitete. Es ist klar, daß das Zusammenrücken mit den USA zwangsläufig war. Zu den wirtschaftlichen Beziehungen und der sprachlichen, kulturellen und politischen Verwandtschaft kam im Zweiten Weltkrieg noch der Aspekt der Sicherheit des Kontinents, der diese Beziehungen beeinflußte. Die Verteidigung des Kontinents wurde nach dem Fall Frankreichs 1940 und angesichts der bevorstehenden Invasion Großbritanniens viel akuter". Die Zeiten, in denen sich Kanada vor überseeischen Angriffen sicher glauben durfte, waren nun vorbei. Die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Verteidigung nahm auf der Grundlage der beiden oben genannten Abkommen sehr schnell konkrete Formen an. Mit Beginn des Kalten Krieges wurde den führenden kanadischen Politikern bald die zunehmende Bedeutung ihres Territoriums für die Amerikaner klar. Die kanadische Souveränität konnte nur durch enge Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten erhalten werden. Andernfalls hätten sich die Amerikaner — wie 5 6 7

Preston, The Defence of the Undefended Border. Conliffe, The Permanent Joint Board on Defence. Cuff/Granatstein, Canadian American Relations, S. 96.

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John Gellner ausführt — möglicherweise veranlaßt gefühlt, selbst die Verteidigung des ganzen Kontinents sicherzustellen: »Ungefähr die Hälfte unserer Verteidigungsanstrengungen ergeben sich aus unserer geographischen Lage im strategischen Vorfeld der Vereinigten Staaten, und wir haben wirklich nur die Wahl, gewisse Dinge zu tun, die für die Sicherheit der Vereinigten Staaten notwendig sind, oder deren Ausführung den Amerikanern zu überlassen8.« Die sich aus der Präsenz amerikanischer Truppen auf kanadischem Boden ergebende Problematik wie auch das wachsende Unbehagen der mit der kanadischen Außenpolitik betrauten Politiker über die kontinentale Isolierung waren Anlaß, den nordamerikanischen Integrationsprozeß zu verlangsamen, indem enge Beziehungen zu den westeuropäischen Ländern geknüpft wurden. Tatsächlich haben während des Krieges mehrere Faktoren diese Integration beschleunigt, wodurch eine verstärkte Abhängigkeit Kanadas von den Vereinigten Staaten entstand. Gewisse amerikanische Pläne zur Verteidigung des Kontinents, die dem Permanent Joint Defence Board vorgelegt wurden, vermittelten den Eindruck, als ob die kanadischen Streitkräfte der amerikanischen Führung hätten unterstellt werden sollen9. Der Plan, eine Straßenverbindung zwischen Alaska und den Vereinigten Staaten durch kanadisches Territorium anzulegen, um der japanischen Bedrohung entgegenwirken zu können, ist ein weiteres Beispiel für die zudringliche Nachbarschaft, derer sich Kanada erwehren mußte. Dieses Straßenprojekt veranlaßte übrigens William L. MacKenzie King 1943 zu der Warnung, der Alaska Highway wäre »weniger als Schutz gegen die Japaner gedacht, sondern eher als ein Instrument für den Zugriff, den sich die Vereinigten Staaten mehr oder weniger auf die gesamte westliche Hemisphäre verschaffen wollten«10. Um die Wirksamkeit der mit Europa entwickelten Beziehungen als Gegengewicht abzusichern, hat Kanada auf den Grundsatz der Gegenseitigkeit und der amerikanischen Beteiligung abgehoben. Bei gemeinsamer Anwendung erlaubten diese beiden Grundsätze Kanada theoretisch, sich bezüglich Sicherheitsfragen in der westlichen Hemisphäre für eine globale Lösung einzusetzen und sich der europäischen Beteiligung zu versichern, wenn es um die Erörterung von Sicherheits- und Verteidigungsproblemen mit Washington ging. Diese beiden Aspekte der Verflechtung hatten auch den Vorteil, isolationistischen Neigungen der Vereinigten Staaten entgegenzuwirken, die für Kanada einen engen und möglicherweise unangenehmen Dialog bedingt hätten11. Die Bemühungen um Mittel und Wege, dem amerikanischen Einfluß zu entgehen, haben Kanada auch zur Ablehnung von Verflechtungskonzeptionen veranlaßt, die eine Unterscheidung zwischen Nordamerika und Europa sanktionieren und aus dieser Tatsache heraus Kanada und die Vereinigten Staaten eng 8 9 10 11

John Gellner zit. nach Gray, Canadian Defence Priorities, S. 16. Granatstein, Independence et dependence, S. 61 f. Zit. nach ebd., S. 64. Bland/Young, Trends in Canadian Security Policy, S. 114; Letourneau/Roussel/Legault, Le Canada et la securite europeenne.

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aneinanderbinden würden. Dies erklärt, weshalb sich die Kanadier nicht gern zu der Vorstellung bekennen, die »nordatlantische Gemeinschaft« ruhe auf zwei Säulen, der amerikanischen und der europäischen. Die Kanadier räumen dagegen seit Gründung der NATO einer Beziehung den Vorrang ein, welche auf die Konzeption der Partnerschaft zwischen rechtlich gleichgestellten Staaten und nicht zwischen Kontinenten abhebt. Wie 1962 ein hoher kanadischer Vertreter im NATORat erwähnte, würde unter diesem Gesichtspunkt die Zentralisierung des Bündnisses um zwei Pole nicht den nationalen Interessen Kanadas dienen: »Außerordentlich zentralisierte Bürokratie [...] würde u.U. den auf uns ausgeübten Druck verstärken, uns Leitlinien zu fügen, die europäischen oder amerikanischen Interessen, aber nicht zwangsläufig kanadischen Interessen entsprechen 12 .« In dieser Hinsicht waren die kanadischen Erfahrungen während des Zweiten Weltkriegs enttäuschend für die kanadische Regierung, die eindeutig ein Ungleichgewicht zwischen der geringen politischen Mitsprache und der nicht unerheblichen militärischen Rolle sah13. Deshalb sollte nach 1945 eine neue Beziehung zu den Verbündeten mit dem Ziel geschaffen werden, sich mehr Gehör verschaffen zu können. Sie ging aus einer sehr weit gefaßten Sicherheitskonzeption hervor. Die nach dem Krieg herrschenden Umstände waren für die kanadischen Zielvorstellungen günstig, weil sie die westlichen Demokratien angesichts der sowjetischen Bedrohung Europas zum Zusammenrücken veranlaßten. Im Laufe der vierziger und fünfziger Jahre war in den Ausführungen mehrerer kanadischer Diplomaten von einer atlantischen »Gemeinschaft« oder »Föderation« die Rede. Sie wurden zu engagierten Fürsprechern einer weitreichenden Integration der westlichen Staaten mit dem Ziel, eine Wiederholung des von den Großmächten — insbesondere den Vereinigten Staaten und Großbritannien — während des Zweiten Weltkrieges wahrgenommenen Entscheidungsmonopols zu verhindern. Diese neue Haltung Ottawas stellte einen Bruch mit der Politik des gemäßigten Isolationismus dar, wie er von der kanadischen Regierung vor 1939 praktiziert worden war. Die Befürchtung, daß kanadische Soldaten erneut in einem Krieg in Europa eingesetzt werden könnten, veranlaßte MacKenzie King, von 1935 bis 1948 Premierminister in Kanada, sich zwischen den beiden Kriegen von den Problemen zu distanzieren, die mit der europäischen Sicherheit zusammenhingen. Der Kampf gegen die Nationalsozialisten änderte die kanadische Haltung jedoch von Grund auf. Kanada trat somit während des Krieges in eine international orientierte Phase ein. Die Befürworter der neuen Vorgehensweise vertraten tatsächlich zwei funktionalistische Thesen, die die gegenseitige Abhängigkeit der Staaten innerhalb des internationalen Systems und die wachsende Bedeutung internationaler Organisationen hervorhoben. Der Hauptvorteil dieser Vorgehensweise war die Schaf12

13

National Archives Canada (NAC), Ottawa, North Atlantic Treaty Organisation, General File, RE 25, Acc. 1990-91/008, Bd 25,50030-40, Pt. 8, Department of External Affairs (DEA), Schreiben Nr. N-1394 vom 5.11.1962, Kanadische Delegation beim Nordatlantikrat, Paris, an den Under-Secretary of State for External Affairs, Ottawa, Kanada; siehe auch Holmes, The Dumbell Won't Do. Cuff/Granatstein, Canadian American Relations, S. 93.

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fung eines neuen Gleichgewichts zwischen den großen und kleinen Mächten, wodurch die letztgenannten innerhalb eines institutionell umrissenen Rahmens zur Ausübung eines größeren Einflusses befähigt werden sollten. Der Funktionalismus beruhte auch auf dem Grundsatz einer gleichmäßigen Verteilung von Zuständigkeiten in den internationalen Organisationen nach den Möglichkeiten und Vorstellungen der betroffenen Staaten. Obwohl die Großmächte eine Vorrangstellung bezüglich der Sicherheitsfragen behielten, konnten die anderen Mächte hoffen, in anderen Bereichen der internationalen Beziehungen eine wichtige, ihren Möglichkeiten angepaßte Rolle übernehmen zu dürfen. Mit dieser neuen Gewichtung wurde — wie John Holmes erwähnt — ein besonderes Ziel verfolgt: »die ständige Hegemonie der Großmächte in allen Fragen zu vermeiden und sicherzustellen, daß Mittelmächte und kleine Mächte eine vernünftige Rolle spielen können«14. Louis St. Laurent hatte die groben Züge des Funktionalismus schon 1946 aufgezeigt15. Im Lichte dieser Kehrtwendung ist die Genugtuung der Kanadier über die Gründung der Vereinten Nationen im Jahr 1945 zu verstehen. Die Schaffung verschiedener, von der Organisation abhängiger Einrichtungen sowie die internationalen Maßnahmen zur Zusammenarbeit mit dem Ziel eines wirtschaftlichen Wiederaufbaus Europas und der Erhaltung der Sicherheit auf dem europäischen Kontinent entsprachen den neuen politischen Vorstellungen der diplomatischen Kreise Kanadas. Dieser rasche Übergang zum Internationalismus bleibt offenkundig der am meisten untersuchte Aspekt in der Geschichte der kanadischen Außenpolitik. Im Falle der NATO schrieb Holmes: »Kanadas eifrige Mitwirkung an der Schaffung der NATO und die Bejahung eines militärischen Bündnisses in Friedenszeiten gelten richtigerweise als Schlüsselfaktoren für den großen Umschwung in der kanadischen Außenpolitik16.« Es muß indessen darauf hingewiesen werden, daß sich die geostrategischen Zwänge Kanadas mit Beendigung des Krieges nicht änderten. Die Notwendigkeit, ein Gegengewicht zu den Vereinigten Staaten zu schaffen, wurde angesichts der 1945 von den USA erlangten Großmachtstellung noch vordringlicher. Die historischen Bindungen zwischen Kanada und Europa haben Ottawa veranlaßt, jenseits des Atlantiks nach Elementen für die strategische Verflechtung zwischen Nordamerika und Westeuropa zu suchen. Man muß sich aber auch der Tatsache bewußt sein, daß die Sicherheit Westeuropas eng mit der Kanadas verbunden blieb. Der Zweite Weltkrieg hat den Zeitgenossen gezeigt, daß Ottawa auf nationale Interessen reagierte, indem es die kanadische Beteiligung an den alliierten Kriegsanstrengungen billigte. Diese Interessen waren übrigens weniger durch ein Wortgefecht gegen den Faschismus als durch Zwänge gekennzeichnet, die sich aus der Sicherheit Kanadas ergaben. Das erklärt zum Teil, weshalb die 14 15

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Holmes, Canadian External Policies, S. 139. Statement by the Acting Secretary of State for External Affairs, Mr. Louis St. Laurent, in der Generalversammlung am 18.1.1946, in: Canadian Foreign Policy 1945-1954, S. 97 ff. Holmes, The Shaping of Peace, Bd 2, S. 119.

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Aufmerksamkeit der kanadischen Regierung und der Medien während des Krieges eigentlich eher den Beziehungen zu Großbritannien und den Vereinigten Staaten als der Regelung des europäischen Konfliktes nach dem Sieg und dem Schicksal Deutschlands in der Nachkriegszeit galt17. Im übrigen ließ das von den drei Großmächten in der Regelung der Deutschlandfrage ausgeübte Monopol keinerlei kanadische Beteiligung am Entscheidungsprozeß zu18. Kanada mußte sich mit dem Angebot zufriedengeben, einen Beitrag zur Besatzung der britischen Zone in Deutschland zu leisten. Trotz des britischen Widerspruchs verlegte Kanada ab Frühjahr 1946 seine Truppen in die Heimat zurück. Dieses Verhalten, das auf den ersten Blick unvereinbar mit dem von der kanadischen Regierung abgelegten Bekenntnis zum Internationalismus erschien, war durch den Ausschluß Kanadas aus dem Prozeß der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung Deutschlands und Europas im allgemeinen gerechtfertigt. Mary Halloran schreibt: »Die Entscheidung zur Beendigung der kanadischen Besatzungsverpflichtungen war nicht mit einem Verzicht auf Europa gleichzusetzen, sondern ist vielmehr die Ablehnung einer europäischen Rolle zu den angebotenen Bedingungen 19 .« Der kanadische Rückzug aus Europa ist auch aufgrund wirtschaftlicher Überlegungen und durch die Tatsache zu erklären, daß eine Reihe führender kanadischer Politiker kaum eine Möglichkeit für ihr Land sahen, den politischen Einfluß durch die Stationierung von Truppen in Deutschland zu verstärken. Ein weiterer wichtiger Aspekt war das Vertrauen der kanadischen Regierung in die Konzeption der kollektiven Sicherheit. Unter diesem Aspekt hätte die kanadische Truppenpräsenz in Europa nur im Rahmen multinationaler Streitkräfte unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen verwirklicht werden können, wie von zahlreichen kanadischen Analytikern vorgesehen war20. Da die Rolle der Besatzungstruppen nicht fest umrissen worden war, blieben Umfang und Rolle der kanadischen Truppen offen, und die kanadischen Militärs gaben vor, auf das Ergebnis der Verhandlungen über die kollektive Sicherheit im Forum der Vereinten Nationen zu warten, um die großen Züge der Verteidigungspolitik für die Nachkriegszeit festlegen zu können.

2. Das Versagen der Vereinten Nationen und das kanadische Engagement zugunsten der NATO Angesichts der aufeinanderfolgenden Krisen im Sicherheitsrat, in der Tschechoslowakei und im Mittleren Osten wurde schnell offenkundig, daß der von Kanada anläßlich der Gründung der Vereinten Nationen gezeigte Utopismus erbar17 18 19 20

Siehe hierzu Letourneau, Die kanadische Einschätzung. Hilliker, No Bread at the Table; siehe auch Holmes, The Shaping of Peace, Bd 1, S. 104-108. Halloran, Canada and the Origins, S. 3. Holmes, The Shaping of Peace, Bd 2, S. 8.

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mungslos Schiffbruch im neuen Klima der Ost-West-Konfrontation erlitt. 1947 erklärte Lester Β. Pearson: »Vor gut zwei Jahren wurden die Vereinten Nationen in San Francisco aus der Taufe gehoben. Diejenigen unter uns, die daran teilgenommen haben, hatten große Hoffnungen, daß der UNO dort Erfolg beschieden sein würde, wo der Völkerbund versagt hatte. [...] Unsere Hoffnungen sind größtenteils zunichte gemacht. Wahrscheinlich hatten wir zu viel erwartet21.« Die undurchschaubare Haltung der Sowjets und die übermäßige Nutzung ihres Vetorechts im Sicherheitsrat führten die Vereinten Nationen in eine Sackgasse, in der die Möglichkeit eines dritten Weltkrieges in den Augen der führenden Politiker der westlichen Staaten eine bedrohliche Dimension annahm. St. Laurent verurteilte das Verhalten der Sowjetunion: »Trotz Geduld und Toleranz der wirklich demokratischen Nationen hat eine der Großmächte durch Böswilligkeit und dauernde Verschleppungsmanöver die Schaffung internationaler Sicherheit und internationaler Zusammenarbeit verhindert22.« Trotz des Scheiterns des kollektiven Sicherheitskonzepts der Vereinten Nationen und der verschiedenen Verhandlungen über Abrüstung begünstigte die Intensivierung des Kalten Krieges die Schaffung des atlantischen Bündnisses und erlaubte den führenden kanadischen Politikern wieder, eine gebietsmäßig begrenzte Institution ins Leben zu rufen, die den kanadischen Sicherheitsbedürfnissen entsprach und vor allem die Möglichkeit einräumte, den amerikanischen Einfluß zu begrenzen. Aus dieser Sicht schien eine multinationale Allianz unter Beteiligung der westeuropäischen Staaten die ideale Lösung. Tatsächlich brachten die kanadischen Diplomaten durch die transatlantische Verflechtung zwei ihrer Grundvorstellungen in das internationale Bündnissystem ein. Dabei ging es zum einen um die Notwendigkeit, angesicht der zunehmenden Bedrohung, die von Stalin auszugehen schien, den Grundsatz der kollektiven Sicherheit auf die kleine regionale Ebene der westlichen Länder zu begrenzen. »Wenn die NATO auch nicht den liberalen Internationalismus verkörpert, so wurde sie doch offensichtlich als die beste kollektive Sicherheitsalternative angesichts der beunruhigenden internationalen Lage ersonnen23.« Mehrere kanadische Diplomaten waren nachgerade zur Auffassung gekommen, daß der Ausbruch des Krieges im Jahr 1939 hätte verhindert werden können, wenn es damals ein solches Bündnis gegeben hätte24. Die Bildimg eines Gegengewichts zu den Vereinigten Staaten blieb jedoch ein zentrales Anliegen. In einer am 21. April 1948 nach Ottawa abgesandten Depe-

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Aus einer Rede, die Lester Β. Pearson am 2. September 1947 anläßlich des Director's Day Luncheon bei der Canadian National Exhibition in Toronto hielt. Rundfunkansprache am Remembrance Day (11.11.1948), in: Canadian Foreign Policy, S. 187-189. Langille, Changing the Guard, S. 13. NAC, DEA, RG 2-18, Bd 112, Akte 1949 Nov.-Dez., U-40-4. Nordatlantikvertrag, Entwurf vom 14.11.1948 an Mr. Heeney.

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sehe drückte Norman A. Robertson, der kanadische Hochkommissar (Botschafter) in London, seine Bereitwilligkeit in bezug auf die Schaffung einer Bindung zwischen Westeuropa und Nordamerika wie folgt aus: »Seit wir in der Lage sind, unsere eigene Politik im Ausland zu artikulieren, mußten wir mit den Widersprüchen kämpfen, die sich aus unserer Position als nordamerikanisches Land und als Mitglied des Commonwealth, aus unseren speziellen Beziehungen zu Großbritannien und gleichzeitig, wenn auch in geringerem Maße, zu anderen westeuropäischen Ländern ergeben. Eine Situation, in der unsere besonderen Beziehungen zu Großbritannien mit unseren speziellen Beziehungen zu anderen westeuropäischen Ländern in Einklang gebracht werden können und wo die Vereinigten Staaten eine sowohl wirtschaftlich wie militärisch solide Grundlage bereitstellen werden [...] scheint mir eine einmalig günstige Lösung für so viele unserer Probleme, daß ich überzeugt bin, wir sollten aufs Ganze gehen und uns sogar auf erhebliche Risiken einlassen, um unsere günstige Konstellation zu konsolidieren und um uns die richtige Position in dieser neuen Partnerschaft zu sichern25.« Aus kanadischer Sicht ermöglichte die Schafffung der NATO auch die Ausdehnung der militärischen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten auf den wirtschaftlichen und politischen Bereich, also die Schaffung einer Gemeinschaft im umfassendsten Sinn: »Wir meinen deshalb, daß der Nordatlantikvertrag weit mehr als nur ein militärisches Bündnis sein sollte. Wir vertreten die Auffassung, daß [...] in seiner Präambel die Grundsätze der westlichen Gesellschaft verankert werden sollten, da wir uns nicht nur um die Verteidigung bemühen, sondern Grundlagen für eine letztlich an einem Strang ziehende Völkergemeinschaft schaffen wollen. Wir glauben, daß der Nordatlantikvertrag Voraussetzungen für die engere wirtschaftliche, soziale und kulturelle Zusammenarbeit zwischen den Unterzeichnerstaaten schaffen sollte26.« Die sowjetische Bedrohung ermöglichte die recht schnelle Realisierung des Projekts. Die Notwendigkeit, die Ressourcen der beiden Kontinente zu bündeln, wurde angesichts einer als bedrohlich und grundsätzlich kriegsbereit empfundenen Sowjetunion als äußerst wichtig erachtet27. Die Berlinblockade und der Umsturz in Prag verstärkten diese Überzeugung in den westlichen Ländern. Der kanadische Diplomat Escott Reid war einer der ersten, der im August 1947 den Vorschlag für eine regionale Sicherheitsorganisation auf dem Prinzip der Bündelung militärischer und wirtschaftlicher Ressourcen machte28. Louis St. Laurent, der Außenminister, griff diesen Vorschlag viel offizieller im September 1947 anläßlich einer Rede vor der Vollversammlung der Vereinten

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NAC, Ottawa, RG 25, A 12, Bd 2097, Az AR 69/4; zit. nach Reid, Radical Mandarin, S. 132. NAC, DEA, Kanadische Stellungnahme zum nordatlantischen Verteidigungsabkommen (Entwurf), S. 3, wahrscheinlich redigiert von Escott Reid (ER), 26.6.1948. Wiggershaus, La mise en place. Reid, Radical Mandarin, S. 222 f.

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Nationen auf, und bald wurden Verhandlungen zwischen den Vertretern Kanadas, der Vereinigten Staaten und Großbritanniens aufgenommen mit dem Ziel, das zu schaffen, was damals als »atlantisches Sicherheitssystem« bezeichnet wurde29. Wie schon bei der Gründung der Vereinten Nationen war der kanadische Eifer verständlich, da das geplante atlantische Bündnis den nationalen Interessen entsprach. Das Versagen der Vereinten Nationen bezüglich der europäischen Sicherheit ließ den westlichen Ländern keine andere Wahl, als sich um eine regional begrenzte Organisation zu bemühen, die der internationalen Lage besser Rechnung tragen konnte. Für Kanada blieb die Institutionalisierung der Verflechtung Nordamerikas mit Europa das Hauptziel der Verhandlungen. Offensichtlich waren für die Haltung Kanadas auch andere Faktoren als die sowjetische Bedrohung ausschlaggebend 30 . Die Angst jedoch, sich im Hinblick auf die Verteidigungsprobleme Nordamerikas allein den Vereinigten Staaten ausgeliefert zu sehen, war bestimmt eine entscheidende Motivation, wenn sie auch aus einleuchtenden diplomatischen Gründen öffentlich nicht so leicht anzusprechen war. In einer an den Sekretär des Kabinetts, Albert Heeney, übersandten Note hob Escott Reid auf diesen Aspekt ab: »Ein Argument, das für die Kanadier besonders gewichtig ist, beruht auf der Tatsache, daß es für Kanada weit schwieriger wäre, die Verteidigung gegen die sowjetische Aggression auf der Grundlage einer unilateralen US-amerikanischen Zusicherung zu planen, als wenn beide Länder Mitglieder in einem atlantischen Bündnis sind. Außerdem würde auf der Grundlage eines solchen Vertrages die gemeinsame Planung der Verteidigung Nordamerikas im Rahmen eines größeren Ganzen geschehen, und in Kanada würden die Schwierigkeiten verringert, die aus Furcht vor einer Einschränkung der kanadischen Souveränität durch die Vereinigten Staaten entstehen31.« In derselben Note spielte Reid auch auf die Tatsache an, daß ein solcher Vertrag »dazu beitragen würde, daß Kanada im Falle eines Krieges nicht gezwungen würde, den Vorreiter vor den Vereinigten Staaten zu spielen«32. Er unterstrich hiermit, wie wichtig es für Kanada war, nicht mehr als einziges nordamerikanisches Land Europa verteidigen zu müssen, bis in den Vereinigten Staaten selbst die Vorbehalte ausgeräumt seien. Die Schaffung der NATO erlaubte Kanada, die erforderlichen Schritte zur Lösung eines seiner größten Sicherheitsprobleme zu unternehmen: Sein größter Verbündeter und Nachbar stellte auch die größte Bedrohung für die nationale 29

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Die Erklärung von St. Laurent war eine der allerersten diesbezüglichen Erklärungen eines westlichen Staatsmannes: ΟΤΑΝ. L'Alliance atlantique, S. 19. Zum gleichen Thema Pearson, The International Years, S. 40-42. Bezüglich einer Übersicht über die wesentlichen Motive, die Kanada veranlaßt haben, sich voll für dieses Vorhaben zu engagieren, siehe Letourneau, Kanada und die Sicherheit Westeuropas, S. 57-70. NAC, RG2, B2, Bd 112, U-40-4, Note Escott Reid für Mr. Heeney, Top Secret, 1.6.1948, S. 5. Ebd.

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Souveränität und Identität dar. Colin S. Gray formuliert das so: »Die zutreffendste Schlußfolgerung ist [...] die Tatsache, daß Kanadas nationale Sicherheit am unmittelbarsten (unbeabsichtigterweise) von den Vereinigten Staaten bedroht ist33.« Dieser Tatbestand war anläßlich der kanadisch-amerikanischen Zusammenarbeit während des Krieges deutlich geworden. Das amerikanische Vorgehen ließ erkennen, daß die kanadische Souveränität im Falle von Feindseligkeiten hinter den Verteidigungsnotwendigkeiten Nordamerikas zurückstehen müsse34. Kanada hatte 1943 schon einschlägige Erfahrungen sammeln können, als mehr als 33 000 amerikanische Militärs und Zivilisten im kanadischen Nordwesten zum Bau der zur Abwehr der japanischen Bedrohung erforderlichen Infrastruktur eingesetzt waren. Dazu kamen noch die amerikanischen Stützpunkte auf Neufundland, wenn diese Insel damals auch noch nicht Teil der kanadischen Föderation war35. Durch die zentrale Lage Kanadas zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion erhielt das kanadische Territorium in den Augen Washingtons noch mehr Bedeutung36. Auf dem Gebiet der Verteidigung des Kontinents mußte sich Ottawa deshalb um eine enge Zusammenarbeit mit den Amerikanern bemühen, da diese sonst zu einseitigem Handeln gezwungen gewesen wären37. Unter diesen Umständen wirkte die Schaffung eines Bündnisses oder einer Gemeinschaft unter Beteiligung der westeuropäischen und nordamerikanischen Staaten bis zu einem bestimmten Grad der Gefahr, als Satellitenstaat vereinnahmt zu werden bzw. einer »Finnlandisierung« Kanadas entgegen. Durch seine Beteiligung am atlantischen Bündnis konnte Kanada die nationale Existenz gegenüber den Vereinigten Staaten geltend machen und ein Gegengewicht bilden. Diesem Anliegen wurde am unmittelbarsten durch John W. Holmes, damals einem hohen Beamten im Außenministerium, Ausdruck verliehen: »Da war die wichtige Überlegung eines Gegengewichts. Dieser Aspekt wurde in öffentlichen Verlautbarungen nicht übermäßig betont, da dies vom Kongreß als antiamerikanisch hätte ausgelegt werden können, aber die Politiker und Beamten sahen in der atlantischen Verbindung einen Ausgleich zu den gerade eingegangenen Verpflichtungen [...] für eine gemeinsame Verteidigung des Kontinents38.« Es darf nicht außer acht gelassen werden, daß die Sicherheit Europas ebenfalls ein zentrales Anliegen der Kanadier blieb. Wie John G.H. Halstead, der frühere kanadische Botschafter bei der NATO, hervorhob: »Kanada wurde Gründungsmitglied der NATO aus der Überzeugung heraus, zu der man aufgrund der Erfah33 34 35 36 37

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Gray, Canadian Defence Priorities, S. 33. Zum Zeitraum 1940-1950 siehe Grant, Sovereignty or Security. Siehe Granatstein/Hillmer, For Better or for Worse, S. 153-157. Siehe Letourneau, Entre les superpuissances. Die Frage der Verantwortung Kanadas für eine angemessene Beteiligung an der Verteidigung des Kontinents unter Beibehaltung seiner Souveränität wurde u.a. analysiert von Orvik, Canadian Security. Holmes, The Shaping of Peace, Bd 2, S. 106.

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riingen aus zwei Weltkriegen gekommen war, daß nämlich die Sicherheit Nordamerikas und die Sicherheit Europas nicht getrennt gesehen werden können39.«

3. Soll eine atlantische Gemeinschaft angestrebt werden? Beim Entwurf der verschiedenen Artikel des Washingtoner Vertrages führte die kanadische Vorstellung von der NATO zu einer Auseinandersetzung über den berühmten Artikel 2, der übrigens den Beinamen »kanadischer Artikel« erhielt. Dieser Artikel, der auf eine enge wirtschaftliche Zusammenarbeit unter den Unterzeichnerstaaten abhebt, war tatsächlich als Ansatzpunkt für eine atlantische Gemeinschaft gedacht, die nicht ausschließlich auf den militärischen Bereich beschränkt sein sollte: »Das vom Minister in Artikel 2 definierte Ziel der kanadischen Politik ist die immer umfassendere Koordinierung der internationalen Wirtschaftspolitik der nordamerikanischen Länder, wobei ein Wirtschafts-Commonwealth und schließlich vielleicht auch ein politisches Commonwealth angestrebt wird40.« Das Bestehen Kanadas auf dem Artikel 2 veranlaßte eine Reihe von Autoren, hinter der Haltung der kanadischen Diplomaten vor allem wirtschaftliche Gründe zu sehen. Diese Interpretation scheint unvollständig, da die strategischen Beweggründe nicht weniger bedeutsam waren41. Unter diesem Aspekt ist es wichtig, sich daran zu erinnern, daß Kanada lange die Mitgliedschaft in der Organisation der Amerikanischen Staaten (OAS) abgelehnt hat, um zu zeigen, daß nicht allein wirtschaftliche Gesichtspunkte das kanadische Verhalten bestimmen. Wenn man die Logik des wirtschaftlichen Arguments verfolgen wollte, hätte Kanada allen Grund gehabt, der OAS beizutreten, aber die Instrumentalisierung dieser Organisation durch Washington führte in Ottawa zur Befürchtung, daß innerhalb dieser Organisation eine ungünstige bilaterale Beziehung zwischen Kanada und den Vereinigten Staaten entstehen könnte: »Die Kanadier waren keineswegs überzeugt, daß Lateinamerika das Ungleichgewicht der nordamerikanischen Intentionen aufheben könnte, weshalb sie stets darauf bedacht waren, ihre Beziehungen zu den Vereinigten Staaten und die amerikanischen Beziehungen zu Lateinamerika auseinanderzuhalten. Während des Krieges hatten die Kanadier gelitten, weil die Amerikaner davor zurückschreckten, ihnen als wichtigsten Verbündeten Zugeständnisse in der Mitsprache und Konsultation zu machen, da sie der Auffassung waren, daß sie den lateinamerikanischen Ländern gegenüber nach denselben Grundsätzen hätten verfahren müssen42.« 39 40 41

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Zit. nach lockel/Sokolsky, Canada and Collective Security, S. VIII. NAC, RG 25, 90-91/008, Bd 240, Ordner 50105-40, Τ. 1, Escott Reid, Note, 7.9.1950. Eine von dieser abweichende und auf wirtschaftliche Faktoren abhebende Interpretation ist die von Würzler, Die Anfänge kanadischer Militärhilfe; siehe auch Cuff/Granatstein, Canadian American Relations, S. 141. Holmes, The Shaping of Peace, Bd 2, S. 287. Kanada ist der OAS 1990 schließlich beigetreten.

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Die derzeitige strategische Verflechtung im Rahmen der transatlantischen Beziehungen entsprach deshalb den kanadischen Interessen viel weitgehender als nur im Hinblick auf wirtschaftliche Vorteile. Trotzdem war der wirtschaftliche Aspekt der strategischen Verflechtung wichtig, um die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten des Bündnisses enger zu gestalten, wie sich ja auch die EWG ein dauerhaftes Zusammenrücken der europäischen Mächte nach vorheriger Konsolidierung der wirtschaftlichen Beziehungen zum Ziel gesetzt hatte. Unter diesem Aspekt sind die Bemühungen der kanadischen Diplomaten um die Konkretisierung des Artikels 2 zu sehen. Zu Beginn der Verhandlungen verhielten sich die Amerikaner und Briten am ablehnendsten gegen eine vertragsmäßige Verpflichtung zur engeren wirtschaftlichen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten. Man hielt es für zwecklos, der Vielzahl der zu diesem Zweck seit 1945 gegründeten internationalen Organisationen ein weiteres Gremium für wirtschaftliche Zusammenarbeit hinzuzufügen. Für die Amerikaner und Briten lag das Schwergewicht im militärischen Bereich. Die amerikanischen Diplomaten beargwöhnten übrigens die Aufnahme eines Artikels, der möglicherweise im Senat Schwierigkeiten verursachen könnte. Die kanadische Haltung war teilweise in dem Wunsch Ottawas begründet, das Fehlen einer expliziten wirtschaftlichen Vereinbarung zwischen Kanada und Westeuropa im Rahmen der OEEC und des Marshallplanes zu kompensieren: »Ein solcher Artikel ist in gewisser Weise eine Wiederholung von Artikeln, die schon in bilateralen Vereinbarungen enthalten sind, welche zwischen den Vereinigten Staaten und westeuropäischen Ländern als Teil des Vertrages über wirtschaftliche Zusammenarbeit [...] ausgehandelt wurden. Wir für unseren Teil haben keine vergleichbaren Vereinbarungen mit diesen Ländern. Vielleicht sind jetzt unsere Argumente für einen aussagekräftigen Artikel 2 nicht unähnlich jenen, die zuvor schon von den Vereinigten Staaten ins Feld geführt wurden43.« Das Bestreben Kanadas, ein Gegengewicht gegen den amerikanischen Riesen zu bilden, wurde noch einmal deutlich durch das Bemühen, eine viel weitergehende Integration der NATO-Mitgliedstaaten zu erreichen. Die Konzeption einer atlantischen Gemeinschaft ist der sichtbarste Ausdruck der Vorstellung von der strategischen Verflechtung und war als Lösung für die diesbezüglichen kanadischen Probleme gedacht: »Eines der schwierigen und ständigen Probleme Kanadas sind die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten. [...] In einer Welt mit zwei Großmächten sind die Vereinigten Staaten auf unserer Seite so tonangebend. [...] Wenn über einen langen Zeitraum ein Viertel- oder Halbkrieg herrscht, wird sich in der freien Welt eine starke Tendenz in Richtung eines amerikanischen Imperiums entwickeln. Eine Art der möglicherweise erfolgreichen Abschwächung dieser Tendenz liegt für die freie Welt darin, sich zunehmend einer gemeinsamen konstitutionellen Form unterzuordnen44.« 43

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NAC, RG 2, B2, Bd 112, U-40-4 (1949, Jan.-März). Fernschreiben des Secretary for External Affairs an den kanadischen Botschafter in den Vereinigten Staaten, 2.2.1949. NAC, RG 25,90-91 /008, Bd 26, Ordner 50030-A-40, Τ. 8, Escott Reid, Memorandum für Mr.

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Die Vereinigten Staaten und Großbritannien stimmten dem Artikel 2 schließlich ohne große Begeisterung zu. Die Vorstellung von einer atlantischen Gemeinschaft — wie sie von gewissen kanadischen Diplomaten ins Auge gefaßt worden war — fiel jedoch am Ende mangels Interesse der Vergessenheit anheim. Escott Reid und Lester Β. Pearson, die das Projekt einer atlantischen Föderation am nachhaltigsten verfolgt hatten, mußten ab 1950 erkennen, daß der von ihnen verfochtene Artikel nie die Grundlage einer wirtschaftlichen und politischen Zusammenarbeit innerhalb der atlantischen Gemeinschaft bilden würde. Reid gehörte übrigens in kanadischen Diplomatenkreisen zu den »Idealisten«. Das Bündnis und der Vertrag bildeten für ihn »die Grundlage für die Schaffung einer Föderation nordatlantischer Staaten, einer wirklichen nordatlantischen Gemeinschaft«45. Im übrigen herrschte auch unter den führenden kanadischen Politikern nicht unbedingt eine einheitliche Auffassung zu irgendeiner Art von Föderation. Hume Wrong, der kanadische Botschafter in Washington, teilte Escott Reid im übrigen bündig mit: »Wir gründen keine Föderation, sondern schaffen ein Bündnis46.«

4. Der Koreakrieg und die Wiederaufrüstung Am Vorabend des Koreakrieges waren die meisten kanadischen Politiker und Diplomaten so stark mit der Schaffung eines Bündnisses befaßt, das nur der erste Schritt zu einem viel komplexeren Gebilde sein sollte, daß sie zunächst keine Notwendigkeit sahen, ein Truppenkontingent nach Europa abzustellen. In Kanada war nach 1946 so umfassend wie in den meisten westlichen Ländern abgerüstet worden. Man rechnete nicht mit einer Rückkehr kanadischer Truppen nach Europa außer für den Fall eines erneuten Krieges. Die sowjetische Bedrohung war, wenn sie auch seit der Berlinkrise wahrnehmbarer war, noch nicht als sehr akut empfunden worden. Angesichts dieser Lage schien ein großangelegtes Wiederbewaffnungsprogramm auch nach Unterzeichnung des Nordatlantikvertrages nicht erforderlich. Diese Auffassung wird von Joseph T. Jockel wie folgt beschrieben: »Die kanadische Regierung war ganz eindeutig überzeugt, daß die Zugehörigkeit zum Bündnis nicht die Verpflichtung beinhalten würde, ständig Truppen für die Verteidigung Europas bereitzustellen47.« Es muß ebenfalls darauf hingewiesen werden, daß zwischen 1945 und 1950, d.h. zu Beginn des Atomzeitalters, die Rolle der Streitkräfte und insbesondere der Infanterie, in Frage gestellt wurde. Das Auftauchen der Atomwaffe brachte die militärische Strategie vollkommen durcheinander. Für einige strategische Fachleute wurde jede Art von Krieg undenkbar, da der Einsatz dieser neuen Waffe automatisch unterstellt wurde. Unter diesem Aspekt schien in der vorgesehenen Struk-

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Ritchie, 28.4.1951; siehe auch Sinasac, The Three Wise Men, S. 27; Heinemann, Vom Zusammenwachsen des Bündnisses, Kap. 8. Reid, The Birth of the North Atlantic Alliance, S. 430. Zit. nach Holmes, The Shaping of Peace, Bd 2, S. 133. Jockel, From Demobilization to the New Look.

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tur der Streitkräfte keine Daseinsberechtigung mehr für die Infanterie. Außerdem beschleunigte die 1949 mit der Schaffung der NATO eingeleitete Kollektivierung der Sicherheit die Tendenz, die kanadische Truppenstärke zu reduzieren. Diese Gegebenheit sowie die haushaltsmäßigen Beschränkungen und die Umstellung von einer Kriegs- auf eine Friedenswirtschaft erklären zum Teil die Zurückhaltung der Kanadier, tatsächlich Truppen zur Verteidigung Europas bereitzustellen. Die Verpflichtung zum gegenseitigen Beistand schien der kanadischen Regierung auszureichen, die sich kaum vorstellen konnte, wie die Präsenz eigener Truppen in Europa das Gewicht Kanadas in den Entscheidungsgremien der NATO erhöhen könnte. Der Ausbruch der Kampfhandlungen auf der koreanischen Halbinsel im Sommer 1950 veränderte das Denken gründlich und rückte einen Krieg in Europa in den Bereich der Wahrscheinlichkeit, da das kommunistische Lager jetzt offensichtlich bereit war, Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele anzuwenden. In Kanada verdreifachte sich der Verteidigungshaushalt innerhalb eines Jahres 48 , und die kanadischen Streitkräfte wurden mit den Ziel neu gegliedert, Kontingente nach Korea und Europa entsenden zu können. Diese Maßnahmen wurden trotz der haushaltsmäßigen Beschränkungen getroffen, die für den Verteidigungssektor in Kanada bestimmend blieben. Der Koreakrieg zwang die Regierung zur Überprüfung aller Prioritäten und zur Aufgabe der traditionellen Praxis, den teilweisen Verzicht auf eine schlagkräftige Verteidigung mit dem kollektiven Sicherheitskonzept zu rechtfertigen, der wahrscheinlich durch den knappen Haushalt Kanadas zu erklären war: »Man kann sich schwerlich des Eindrucks erwehren, daß die kanadische Regierung die kollektive Sicherheit bislang weniger als einen rationalen Weg zur Gliederung der eigenen Streitkräfte für echte Ziele, sondern eher als Alternative zu Streitkräften sah. Als logische Schlußfolgerung wurde für die Verteidigung eines Landes wie Kanada irgendein kollektives Vorgehen angesehen [...]. Diese Art der Verteidigung war auch die billigste49.« Ottawa konnte sich die Isolierung nicht leisten, in die es geraten wäre, hätte es sich nicht an der westlichen Wiederbewaffnung und der Schaffung einer militärischen Organisation sowie einer integrierten Kommandostruktur beteiligt. In dieser schwierigen Phase des Kalten Krieges hatte die Entsendung eines starken kanadischen Truppenkontingents einen politischen Aspekt, insbesondere im Hinblick auf die Konsolidierung der strategischen Bande mit Europa. Dennoch wählte Kanada für die Rolle seiner Truppen in Europa eine Sonderregelung, indem es im wesentlichen Luftstreitkräfte als Beitrag zur NATO bereitstellte50. Für diese Entscheidung waren wirtschaftliche Überlegungen ausschlaggebend. Kanada hatte eine Schlüsselrolle bei der Ausbildung der alliierten 48 49 50

Ebd., S. 24 (Haushalte 1951/52 auf 1952/53). Holmes, The Shaping of Peace, Bd 2, S. 146 f. Erklärung des Verteidigungsministers Brooke Claxton (5.2.1951), in: Canadian Foreign Policy, S. 198-202.

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Flugzeugführer während des Zweiten Weltkrieges gespielt, und eine gewisse Infrastruktur aus dieser Zeit war noch nutzbar. Das riesige kanadische Territorium erlaubte auch die Ausbildung von Flugzeugführern unter Bedingungen, die jenen in Europa entsprachen51. Die Luftstreitkräfte waren aber auch am vielfältigsten nutzbar, da die kanadischen Geschwader sowohl in Europa als auch zur Verteidigung Nordamerikas eingesetzt werden konnten, weil die Bedrohung zu dieser Zeit vor allem von den sowjetischen Bombern ausging. Der kanadische Beitrag während der anfänglichen Phasen der Wiederaufrüstung war recht umfangreich. Aufgrund der akuten Lage wurde das Schwergewicht auf die Verteidigung Europas gelegt: »Als Kanada vor zwei Jahren über sein Programm entschied, mußte eine wichtige Entscheidung getroffen werden. Es mußte die Wahl zwischen der Verteidigung Europas und Nordamerikas getroffen werden [...], wobei die kanadische Regierung beschloß, praktisch die gesamte Streitkräftestruktur und Produktion auf die Verteidigung Europas auszurichten52.« Die strategische Verflechtung beruhte damit mehr auf dem Washingtoner Vertrag und der militärischen Präsenz Kanadas sowie der Vereinigten Staaten auf europäischem Boden als auf der Entwicklung irgendeiner Föderation westlicher Staaten. Trotz der wichtigen Rolle, die Europa in der kanadischen Aufrüstung spielte, war sich Ottawa bewußt, daß die Verpflichtung zur Verteidigung des nordamerikanischen Kontinents nicht vernachlässigt werden durfte: »Es ist wichtig, daß wir zusammen mit den Vereinigten Staaten unseren angemessenen Beitrag zur Verteidigung Nordamerikas leisten53.« Kanada konnte es sich nicht leisten, seine militärischen Ressourcen einzig und allein auf die europäische Verteidigung zu konzentrieren. Ottawa mußte Washington gegenüber wieder einmal seine Bereitwilligkeit demonstrieren, sich konkret für die Verteidigung Nordamerikas zu engagieren, um für Entscheidungen eine relativ freie Hand zu behalten. Dieser Aspekt der Verflechtung war ebenso wichtig wie der europäische Aspekt.

5. Von der Integration zur Konsultation (1952-1956) Die wachsende Bedeutung der militärischen Aufgaben der NATO und der Koreakrieg traten schnell gegenüber den nichtmilitärischen Aspekten des Bündnisses und insbesondere gegenüber Artikel 2 in den Vordergrund. Die gelegentlich nicht ganz durchschaubare Haltung der Amerikaner und ihr Hang, gewisse heikle Fragen im Alleingang lösen zu wollen, beunruhigte viele führende Politiker in Europa und Kanada und stellte die Art der Konsultation innerhalb des Bündnisses in Frage. Der kanadische Außenminister Lester Β. Pear-

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Jockel, From Demobilization to the New Look, S. 25-28. NATO Annual Review, Erklärung von L.D. Wilgress bei einer informellen Besprechung mit dem Sekretariat am 24.9.1953, S. 2. Ebd., S. 4.

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son unternahm 1951 eine Reise durch Europa, um die diesbezügliche Auffassung der anderen Mitgliedstaaten in Erfahrung zu bringen: »Auf meiner Rundreise konnte ich feststellen, daß bis auf Winston Churchill alle führenden Politiker Europas hin- und hergerissen waren zwischen der Erleichterung über die Sicherheit, die das nordatlantische Bündnis unter amerikanischer Führung den westeuropäischen Ländern gewährt [...] und der Furcht vor einigen Aspekten der amerikanischen Politik, durch welche die Bündnispartner zu von ihnen nicht angestrebten Vorgehensweisen verpflichtet werden könnten, und für deren Folgen sie geradestehen müßten54.« Die schrittweise Schaffung einer atlantischen Gemeinschaft wurde gleich nach Pearsons Rundreise wieder kurz ins Gespräch gebracht. Trotz der Bildung eines Ausschusses, der untersuchen sollte, inwieweit der Artikel 2 eine konkrete Grundlage für eine engere Koordinierung wirtschaftlicher, sozialer und außenpolitischer Fragen unter den Mitgliedsländern bilden könnte, »ließen die wichtigsten Mitglieder verlauten, daß ein umfassenderer Vorstoß auf der Grundlage des Artikels 2 so gut wie keine Aussichten auf Erfolg hätte«55. Der Amtsantritt von Nikita Chruscev, die nachlassenden Spannungen mit der UdSSR sowie die Aufnahme von Verhandlungen, die 1957 in die Unterzeichnung des Vertrages von Rom einmündeten, nährte bei mehreren Bündnismitgliedern die Überzeugung, daß sich die NATO nicht ausschließlich auf militärische Aspekte abstützen dürfe, wenn sie Bestand haben sollte. Laut Lester Β. Pearson ging es darum, »ob sich das Bündnis mit Erfolg den sich verändernden politischen Gegebenheiten anpassen könne, da sich die Wahrscheinlichkeit einer unmittelbaren militärischen Aggression verringert hatte, und ob ein anderer Aspekt als Angst eine enge und wirksame Koordinierung zwischen den Regierungen der Mitglieder sicherstellen kann«56. Es ist interessant, daß die Zurückhaltung der Amerikaner und Briten vorerst noch Konsultationen verzögerte. John Foster Dulles, der amerikanische Außenminister, schien die Notwendigkeit von Gesprächen über eine nichtmilitärische Zusammenarbeit erkannt zu haben, wollte jedoch sicherstellen, daß diese Zusammenarbeit nicht zu Lasten des militärischen Aspektes der NATO ging57. Deshalb wurde im Mai 1956 der Rat der »Drei Weisen« gebildet, ein erneuter Versuch, eine Lösung für das Problem der Zusammenarbeit und der Konsultation im Bündnis zu finden. Dieser Ausschuß, dem Lester Β. Pearson aus Kanada, Halvard Lange aus Norwegen und Gaetano Martino aus Italien angehörten, hatte die schwierige Aufgabe, die unterschiedlichsten Aspekte unter einen Hut zu bringen. Die Vereinigten Staaten betonten die Schwierigkeit, schnell eine Übereinstimmung auf dem Konsultationsweg zu erreichen für den Fall einer Krise, die einer raschen, wenn nicht sogar einer augenblicklichen Reaktion bedurfte. Obwohl sich die Amerikaner aufgeschlossen für eine Ausdehnung der Zusam54 55 56 57

Pearson, The International Years, S. 75. Ebd., S. 76 Ebd., S. 93. Sinasac, The Three Wise Men, S. 31.

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menarbeit zwischen den Bündnispartnern auf nichtmilitärische Bereiche zeigten, lehnten sie alle Maßnahmen ab, die in irgendeiner Weise ihre Handlungsfreiheit einschränkten. Diese ganze Frage wurde dadurch so komplex, weil niemand zur eindeutigen und genauen Abgrenzung der Parameter dieser nichtmilitärischen Zusammenarbeit und der in das Konsultativverfahren aufzunehmenden Themen fähig schien. Der Ausschuß sollte also einen Weg aufzeigen, der den Erwartungen jener Großmächte im Bündnis entsprach, die nicht durch ein umständliches Konsultationsverfahren in Krisenzeiten eingeengt werden wollten, sowie auch den kleinen und mittleren Mächten wie Kanada, für die ein neues Konsultationsverfahren den einzigen Ausweg aus einer Entscheidungshegemonie in der NATO zu bieten schien. Die wirtschaftliche Frage war auch deshalb delikat, weil der Ausschuß die Beziehungen zwischen der NATO und den anderen auf wirtschaftlicher Zusammenarbeit beruhenden Organisationen wie OEEC, EURATOM, usw. definieren sollte. Lester Β. Pearson, das wahrscheinlich einflußreichste Ausschußmitglied, war sich aber bewußt, daß angesichts der Vielzahl solcher Organisationen und der Tatsache, daß sich mehrere NATO-Mitglieder gegen die Schaffung einer neuen wirtschaftlichen Infrastruktur im Bündnis ausgesprochen hatten, kaum mit Reformen zu rechnen war, die zu einem wirtschaftlichen Zusammenrücken der Bündnismitglieder führen würden. Die politische Konsultation blieb deshalb das Hauptziel in den Empfehlungen, die der Ausschuß im Dezember 1956 vorlegte. Die Mitglieder des Ausschusses hielten die Erörterung und Abstimmung der das Bündnis betreffenden Probleme vor Einholung der Stellungnahme der einzelnen Nationen für wesentlich: »Bestenfalls kommt es zur kollektiven Entscheidung über die das Bündnis betreffenden Fragen von allgemeinem Interesse. So wird zumindest sichergestellt, daß kein Mitglied einen Schritt unternimmt, ohne über die Haltung der anderen unterrichtet zu sein58.« Der Bericht der »Drei Weisen« wurde vom Nordatlantikrat gutgeheißen, aber die von Pearson, Lange und Martino vorgelegten Empfehlungen wurden nur höflich zur Kenntnis genommen. Pearson gestand später ein: »Das Nordatlantische Bündnis konnte trotz wortreicher öffentlicher Verlautbarungen und Erklärungen der Regierungen sein nichtmilitärisches Potential nur so weit entwickeln, wie die Vereinigten Staaten — und in geringerem Umfang Großbritannien und Frankreich — bereit waren, mitzuziehen 59 .« Es zeigte sich, daß diese Staaten nicht bereit waren, in die nichtmilitärische Zusammenarbeit zu investieren. Die Suezkrise legte im übrigen offen, in welchem Umfang das Bündnis sich gegen Konsultationen wehrte. Die nur zweiseitige Initiative Frankreichs und Großbritanniens und ihr Bestehen auf Anwendung von Macht zur Lösung des Konfliktes legen Zeugnis davon ab, daß Meinungsverschiedenheiten zwischen den 58

Bericht des Dreierausschusses zit. nach: Pearson, The International Years, S. 96.

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Verbündeten möglich waren und schließlich sogar zu fundamentalen Auseinandersetzungen innerhalb des Bündnisses führen konnten. Die Vereinigten Staaten und Kanada lehnten jeden Rückgriff auf Gewalt ab und wurden bezüglich der französisch-britischen Absichten nie konsultiert. Obwohl Lester Β. Pearson mit dem Vorschlag des Einsatzes von Blauhelmen durch die Vereinten Nationen den Konflikt lösen konnte, hatte dieses Beispiel »schmerzlich offenbart, wie durch ein Zusammenbrechen der Kommunikation zwischen den Verbündeten die atlantische Allianz ernsthaft bedroht werden kann«60. Die sowjetische Intervention in Ungarn hatte den NATO-Mitgliedstaaten außerdem die Realität der sowjetischen Bedrohung Europas ins Gedächtnis zurückgerufen. Beide Ereignisse trugen gewiß nicht zur Förderung der Absichten bei, welche die Drei Weisen mit ihrem Bericht verfolgten. Tatsächlich wurde durch den Fehlschlag, die Empfehlungen des Berichts in die Tat umzusetzen, eindeutig offenbar, daß die kanadische Befürwortung des Artikels 2 sowie des politischen und wirtschaftlichen Assoziationsvorhabens in einer atlantischen Gemeinschaft weit davon entfernt waren, bei den anderen Staaten auf Zustimmung zu stoßen. Da die Ausgangsposition für einen wirksamen Konsultationsprozeß eine gewisse Gleichstellung der Mitglieder einer Organisation voraussetzt, wurde den Kanadiern aufgrund der Vormachtstellung der Vereinigten Staaten und solcher Zwischenfälle wie der Suezkrise schließlich klar, daß sie eine utopische Vorstellung von der atlantischen Allianz hatten. Die Enttäuschungen des Jahres 1956 befreiten Kanada jedoch nicht von der Notwendigkeit, seinen mächtigen Nachbarn der Entschlossenheit zu versichern, sich an der Verteidigung Nordamerikas zu beteiligen. Die Gründung der NORAD im darauffolgenden Jahr institutionalisierte eine Zusammenarbeit, der sich Kanada nicht verwehren durfte 61 .

6. S c h l u ß f o l g e r u n g Das Hauptanliegen Kanadas zwischen Kriegsende und dem Jahr 1956 war eine möglichst weitgehende Eingrenzung des Ungleichgewichts, das sich durch die Nachbarschaft zur Supermacht USA ergab. Mit anderen Worten, Kanada wollte die Isolierung in Nordamerika sowie zu ausschließliche Beziehungen zu den Vereinigten Staaten vermeiden. Dieses strategische Ziel erklärt zum guten Teil die umfangreiche kanadische Beteiligung an den alliierten Kriegsbemühungen während des Zweiten Weltkriegs, seine international orientierte Politik in der Nachkriegszeit, seine ablehnende Haltung gegenüber der OAS und sein nachhaltiges Engagement für die NATO. Ottawa verfolgte, ohne dies immer ganz offen

59 60 61

Ebd., S. 95. Sinasac, The Three Wise Men, S. 39. Zu den kanadisch-amerikanischen Beziehungen bezüglich der Verteidigung des nordamerikanischen Kontinents siehe Letoumeau/Roussel, If You Can't Beat Them, Join Them.

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einzugestehen, eine Politik der strategischen Verflechtung unter Einbeziehung der westeuropäischen Länder und der Vereinigten Staaten. Diese Politik diente zwei wesentlichen Zielen: der Verringerung der amerikanischen Vorherrschaft und der Eingrenzung der mit der Verteidigung Nordamerikas und damit auch Kanadas zusammenhängenden Probleme in einer Organisation, die andere Industriestaaten umfaßt, sowie eine sich durch diese Verflechtung ergebende Garantie gegen ein mögliches Wiederaufleben isolationistischer Tendenzen in Amerika. Dieser globalen Sicht, die sich darauf abstützte, wie die Zeitgenossen die Wahrnehmung der nationalen Interessen sahen, wird jedoch in der einschlägigen Literatur keine große Aufmerksamkeit geschenkt, wenn auch die oft sogar vordergründige Sorge aus den offiziellen Dokumenten und anderen Primärquellen aus jener Zeit ersichtlich ist. Das Konzept der strategischen Verflechtung gibt eine überzeugende Erklärung für die Vorgehensweise der kanadischen Diplomatie zwischen 1945 und 1956 sowie für die wesentlichen Beweggründe des kanadischen Engagements für die Verteidigung Europas. So sind auch mehrere wichtige Konzeptionen der kanadischen Außenpolitik dieser Zeit wie die der kollektiven Sicherheit, des Gegengewichts gegen den amerikanischen Einfluß und den Funktionalismus als kohärentes Ganzes zu sehen. Die Konzeption der Verflechtung ermöglicht somit Neuinterpretationen gewisser Abschnitte der kanadischen Geschichte, indem dort auf Elemente der Kontinuität verwiesen werden kann, wo man bislang nichts anderes als Brüche zu erkennen schien. Zwischen 1943 und 1947 setzte die kanadische Regierung auf den Prozess, von dem sie hoffte, daß er zur Schaffung einer kollektiven Sicherheitsorganisation unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen führen würde. Diese Politik war ganz offensichtlich durch die Unvereinbarkeit der sowjetischen und westlichen Haltung im Sicherheitsrat und in den verschiedenen Verhandlungen über die Abrüstung und Kontrolle der Atomwaffen zum Scheitern verurteilt. Angesichts dieser Ausweglosigkeit gab Ottawa die bevorzugte globale Lösung zugunsten der regionalen Ebene im Rahmen des atlantischen Bündnisses auf. Obwohl das kanadische Engagement in dieser Zeit zum Teil der strategischen Verflechtung galt, gibt die spezifische Sicht einer Reihe führender kanadischer Diplomaten weiteren Aufschluß. Tatsächlich legen die immer wieder vorgetragenen Vorstellungen von einer atlantischen Gemeinschaft, welche die Mitglieder des Bündnisses in einer politischen und wirtschaftlichen Organisation vereint, sowie der kanadische Einsatz für die Annahme des Artikels 2 beredtes Zeugnis für die Verfolgung einer Politik ab, welche die Integration der westeuropäischen und nordamerikanischen Staaten in mehreren Bereichen mit dem Ziel anstrebte, die nachteilige Isolierung mit der Supermacht USA zu vermeiden. Die Ablehnung der Integration durch die im Bündnis vertretenen Großmächte sowie der Ausbruch des Koreakrieges und die Wende in Richtung einer massiven Aufrüstung, die von der NATO ab 1950 betrieben wurde, bremsten allerdings die kanadischen Bemühungen um die Schaffung einer wirklichen atlantischen Gemeinschaft.

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Zwischen 1951 und 1956 waren jedoch erneut Bestrebungen erkennbar, das Konsultationsverfahren innerhalb der NATO zu verbessern und die nichtmilitärischen Aspekte im Bündnis zu stärken. Noch einmal war Kanada — und insbesondere Lester Β. Pearson — die treibende Kraft für diese Reform, die ihren konkreten Niederschlag in der Vorlage des vom Dreierausschuß verfaßten Berichts fand. Die Integration und die Verflechtung, die in der Absicht zum Ausdruck kam, die Konsultation zwischen den Mitgliedern zu vertiefen, wurden jedoch durch die höfliche, aber zurückhaltende Kenntnisnahme der Empfehlungen der »Drei Weisen« »verwässert«. Dieser relative Fehlschlag der kanadischen Diplomatie, die anderen Unterzeichnerstaaten — und insbesondere die Vereinigten Staaten, die den Kern des Problems bildeten — von ihren Vorstellungen zu überzeugen, stellte gewisse grundlegende Prinzipien der kanadischen Außenpolitik in Frage: »Der kanadischen Erwartung, die heiklen Probleme der Beziehung zu einer Supermacht am besten durch gemeinsames Vorgehen meistern zu können, war ein Dämpfer verpaßt worden62.« Die Kanadier ließen sich indessen nicht beirren und machten in der NATO einen erneuten Vorstoß. Ottawa hatte tatsächlich keine andere Wahl, als seine Politik der Anpassung an die Vereinigten Staaten im Rahmen des atlantischen Bündnisses fortzusetzen63. Die Beteiligung Kanadas an der Verteidigung Europas wurde unverändert beibehalten — ebenso die Beteiligung an der Seite der Amerikaner im NORAD. 1956 stellte die kanadische Regierung jedoch ihre Bemühungen ein, innerhalb der atlantischen Gemeinschaft die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten über den militärischen Bereich hinaus vertiefen zu wollen.

62 63

Holmes, The Shaping of Peace, Bd 2, S. 248. Siehe ders., Canada, NATO and Western Security.

Thor Whitehead Die Außenpolitik Islands 1946-1956 1. Einführung Am frühen Morgen des 10. Mai 1940 sichteten die Einwohner der isländischen Hauptstadt Reykjavik Seestreitkräfte, die sich schnell ihrer wehrlosen Stadt näherten. Ihre Ängste verstärkten sich, solange die Nationalität der Schiffe nicht auszumachen war. Die Briten hatten versprochen, das neutrale Land vor dem Schicksal Norwegens und Dänemarks zu bewahren, aber bis dahin waren es stets die Deutschen, die den ersten Schlag geführt hatten. Es war eine Situation hilflosen Abwartens und erheblichen Bangens: Die Isländer waren vor allem bestrebt, den »Schutz« zu verhindern, den Hitler Dänemark — dem Land, mit dem Island durch Personalunion verbunden war — gewährte. Wie sich herausstellte, handelte es sich bei den herannahenden Kräften um Briten. Die Royal Marines landeten in Reykjavik, ohne auf Widerstand zu treffen. Die isländische Regierung protestierte ordnungsgemäß gegen die Besetzung des Landes, arbeitete jedoch eng mit den Briten zusammen in der Überzeugung, die Unabhängigkeit und Freiheit Islands hänge von einem Sieg der Alliierten ab. 1918 hatte Island einen souveränen Status innerhalb des dänischen Königreiches ausgehandelt und seine »immerwährende« Neutralität erklärt. Auf der einen Seite war dies der Ausdruck eines starken Nationalismus und Pazifismus der gerade unabhängig gewordenen Nation, in der es jahrhundertelang keine Streitkräfte gegeben hatte. Die Neutralitätspolitik basierte aber auch auf der Annahme, daß das Land unter strategischen Aspekten beinahe oder vollkommen wertlos und auf jeden Fall mittelbar durch die britischen Seestreitkräfte im Atlantik geschützt sei. Die politische Führung Islands sah das Land als Teil der britischen Einflußsphäre und unterhielt wichtige wirtschaftliche Beziehungen mit Großbritannien — ganz abgesehen von der Tatsache, daß es dem Kreis der skandinavischen Staaten angehörte. Trotz der deutsch-dänischen Feindschaft unterhielten die Isländer freundschaftliche Beziehungen zu Deutschland, insbesondere auf kulturellem Gebiet, wo ein gegenseitiges Gefühl germanischer Verwandtschaft wie auch — vom Anstieg des Nationalismus im 19. Jahrhundert an — das Gefühl eines gemeinsamen kulturellen Erbes bestand. Wirtschaftliche Faktoren spielten eine sehr wichtige Rolle in den Beziehungen mit fremden Staaten. Die isländische Wirtschaft war und ist immer noch vollkommen vom Export ihrer Fischereiprodukte abhängig. Jahrhundertelang war Island eines der ärmsten und technisch rückständigsten Länder Europas. Ende des 19. Jahrhunderts setzte schließlich eine schnelle Entwicklung ein, aber das

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Land brauchte dringend ausländisches Kapital in irgendeiner Form, um seine späte Industrialisierung fortzuführen. Die lebenswichtige Notwendigkeit, Kapital zu mobilisieren und den Export aufrechtzuerhalten, führte dazu, daß die Isländer außerordentlich abhängig von ausländischen Märkten waren, was der Neutralitätspolitik gewisse Grenzen setzte, insbesondere in bezug auf Großbritannien. Wenn das politische System und der Bildungsstand, die Gesundheits- und Sozialfürsorge in Island auch dem Vergleich mit anderen westeuropäischen Ländern standhielten, so wies das Land durch seine auf einem Produkt beruhende Wirtschaft, den Mangel an Kapital und den starken Nationalismus in den Nachkriegsjahren doch gewisse Merkmale von Entwicklungsländern auf. Die geringe Bevölkerungszahl —1949 hatte das Land 141 000 Einwohner — führte auch dazu, daß sich die Isländer leicht in ihrer nationalen Identität und Unabhängigkeit bedroht fühlten. Island hatte ja 1262 seine Unabhängigkeit verloren und war sechs Jahrhunderte lang von Norwegen und Dänemark aus regiert worden. Während des großen Umbruchs in den dreißiger Jahren hatten sich die isländischen Staatsmänner mehreren miteinander verketteten Herausforderungen zu stellen, die den Bestand der Neutralität in Frage stellten und ihre Haltung in der Nachkriegszeit stark beeinflußten. Der wichtigste Faktor war, daß dem Land aufgrund der Fortschritte auf dem Luftfahrtsektor eine neue strategische Bedeutung zukam. Gleichzeitig geriet Island durch den Verlust seines traditionellen Exportmarktes in Südeuropa und eine fehlgesteuerte Wirtschaftspolitik an den Rand des wirtschaftlichen Zusammenbruchs. 1939 versuchte Hitler-Deutschland mit Hilfe von Tauschhandel und anderen Methoden, einen dominierenden Einfluß auf das Land zu gewinnen und sich mit Luftstützpunkten in Island festzusetzen. Die isländische Regierung war durch Hitlers Expansion auf dem europäischen Kontinent beunruhigt und machte sich auch Sorgen über die Aktivitäten der zwar nicht zahlreichen isländischen Nationalsozialisten und einer kleinen Gruppe ortsansässiger Deutscher unter Führung eines Generalkonsuls, der auf Weisung des Auswärtigen Amtes und der SS agierte. Die Regierung war auch über den raschen Aufstieg der kommunistischen Partei besorgt, die 1938 bei den allgemeinen Wahlen 8,5 Prozent der Stimmen für sich verbuchen konnte. Den Kommunisten gelang es sogar, die Arbeiterpartei durch »Einheitsfront«-Taktiken zu spalten, eine Sozialistische Einheitspartei Islands (SEI) zu bilden und dabei heimlich ihre Beziehungen zur Komintern aufrechtzuerhalten. Diese Entwicklung folgte bis zu einem gewissen Grad einem bekannten europäischen Muster, aber der relative Bedeutungsverlust der englischen Seemacht und die Schwäche des isländischen Staates machten der Regierung stark zu schaffen, da sie über keine Streitkräfte zur Verteidigung des Landes und seiner demokratischen Institutionen gegen Bedrohungen von innen und außen verfügte. Die isländische Regierimg reagierte mit der Verstärkung der Reykjaviker Polizei und versuchte, die Briten für vermehrten Warenaustausch als Mittel gegen ein Fußfassen der Deutschen zu gewinnen. Man bemühte sich auch um gute Beziehungen zu den Vereinigten Staaten in der Hoffnung, einen neuen großen Markt für isländische Produkte und ein neues Gegengewicht gegen die deutsche Umklammerung zu gewinnen.

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Bei Kriegsausbruch fand die isländische Fischereiflotte in Großbritannien einen unbegrenzten Markt, wodurch die Krise auf dem Gebiet des isländischen Fischexports teilweise behoben war. Als die Briten auf den Fall von Norwegen durch die Besetzung Islands reagierten, beschlossen sie auch, den Isländern Handelskonzessionen zuzugestehen. Diese Konzessionen trugen zusammen mit der Anwerbung von Tausenden von Arbeitskräften für Verteidigungsprojekte erheblich dazu bei, die Anwesenheit von etwa 27 000 britischen Soldaten im Land leichter zu akzeptieren. Eine neue Ära des ungeahnten Aufschwungs setzte mitten in einem verheerenden Krieg ein. 1941 erklärte sich die isländische Regierung auf britische Initiative damit einverstanden, den Vereinigten Staaten die Verteidigung Islands anzuvertrauen. Präsident Franklin D. Roosevelt griff über Island in die Schlacht im Atlantik etwa sieben Monate vor dem Angriff auf Pearl Harbor ein. Den Isländern war es gelungen, die Briten und die Amerikaner für die Garantie ihrer vollen Unabhängigkeit, Sicherheit und Außenhandelsbeziehungen zu gewinnen. Die Bezahlung isländischer Exporte an Großbritannien erfolgte weitgehend in US-Dollar über die Leihund-Pacht-Dienststelle, wodurch sich Island in reichlichem Umfang amerikanische Importe in einer Zeit leisten konnte, die durch eine erhebliche Warenverknappung und Entbehrungen in anderen Teilen Europas gekennzeichnet war. Das Schutzabkommen mit den Vereinigten Staaten bedeutete das offenkundige Abrücken vom Grundsatz der »ewigen Neutralität«. Die isländischen Minister mußten der Nation gegenüber eingestehen, daß die in der Vergangenheit unangefochtene Sicherheit des Landes aufgrund der neuen Militärtechnologie und des Angriffs auf neutrale Staaten — Dänemark und Norwegen — durch Diktatoren nicht mehr bestand. Die Voraussetzungen für Neutralität waren nicht mehr gegeben, und die Isländer waren zumindest für die Dauer des Krieges gezwungen, Sicherheit und Überleben durch Zusammenarbeit mit den atlantischen Mächten sicherzustellen. Obwohl die politische Führung sich weitgehend über diese neue Politik einig war, blieb der Gedanke der Neutralität in der Bevölkerung verankert und wurde vielleicht 1944 durch die Gründung der Republik Island noch gestärkt. Die Präsenz von über 50 000 alliierten Soldaten im Land — einer Zahl, die beinahe der Hälfte der Bevölkerung des Landes entsprach — übte offensichtlich Druck unterschiedlichster Art auf die kleine und geographisch isolierte Gemeinschaft aus. Obwohl die Beziehungen zwischen den Zivilisten und Militärs im allgemeinen überraschend gut waren, sahen die meisten Isländer die ausländische Präsenz als notwendiges Übel mit potentiellen Gefahren für ihre Kultur, nationale Identität und Sozialstruktur. Der Wunsch nach Abschottung gegen unerwünschten Einfluß von außen widersprach bis zu einem gewissen Ausmaß solchen Zielen wie der Verteidigung Islands gegen eine militärische Bedrohung durch die Nazis, der Unterstützung der alliierten Kriegsbemühungen und einer Maximierung der wirtschaftlichen Gegenleistungen der Engländer und Amerikaner. Anzeichen, daß die Westmächte und die Sowjetunion eine Organisation planten, die nach dem Krieg internationalen Frieden und Handel sicherstellen wür-

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de, ließen die Isländer optimistisch in die Zukunft schauen. Man hoffte, daß kleine Staaten wieder ohne Risiko zur Neutralität zurückkehren könnten, wenn auch in anderer Form. Diese Vision von einer schönen neuen Welt schmiedete die das Land regierende Koalition zusammen, die nach den allgemeinen Wahlen von 1942 gebildet worden war, bei denen das Mächtegleichgewicht im Althing stark ins Wanken gekommen war. Die SEI, die während der Zeit des Hitler-Stalin-Paktes im allgemeinen isoliert und verachtet war, hatte überraschend 18,5 Prozent der Wählerstimmen erhalten. Sie war jetzt die drittstärkste Partei im Land und beherrschte einige der einflußreichsten Gewerkschaften. Die politische Entwicklung entfernte sich noch weiter von den Trends in den skandinavischen Ländern, in denen die sozialdemokratischen Parteien führten, wohingegen die isländischen Kommunisten eine mit Frankreich und Italien vergleichbare Position einnehmen konnten. Die SEI profitierte auch vom politischen und persönlichen Streit zwischen Olafur Thors, dem charismatischen Führer der liberalkonservativen Unabhängigkeitspartei, und Hermann Jonasson von der links der Mitte angesiedelten agrarischen Fortschrittspartei. Diese zwei stärksten Parteien des Landes, die 38,5 Prozent und 26,6 Prozent der Stimmen errungen hatten, waren nach 1942 nicht in der Lage, eine Regierung zu bilden. Deshalb fiel der SEI die Rolle des Züngleins an der Waage im Althing zu. 1944 gelang es Olafur Thors, dem Führer der Unabhängigkeitspartei, die Fortschrittspartei in der Führung abzulösen durch Bildung einer Koalition, der »Regierung des Wiederaufbaus« unter Beteiligung der Arbeiterpartei und der SEI, die sich für eine »nationale Front« im Sinne der kommunistischen Bewegung eingesetzt hatten. Die neue Regierung ähnelte sehr den Koalitionen, die Ende des Krieges in Frankreich und in Italien die Macht übernahmen. Ihr Programm sah vor, einen großen Teil der während des Krieges angelegten Devisenreserven an britischen Pfund und US-Dollar für ein von der Regierung gestütztes Investitionsprojekt zur Modernisierung der isländischen Fischereiindustrie bereitzustellen1.

2. Der amerikanische Wunsch nach Einrichtung von Stützpunkten 1945/46 Mit Beendigung des Krieges in Europa waren Frieden und Prosperität noch nicht zurückgekehrt. Das sowjetische Vorgehen in Mittel- und Osteuropa stieß in Island auf Befremden und Kritik. Das Vorgehen der Kommunisten im eigenen Land und andernortes erschien den demokratischen Parteien in Island, der Unabhängigkeitspartei und der mit ihr in einer Koalition verbundenen Arbeiterpartei sowie der oppositionellen Fortschrittspartei, noch bedrohlicher. Die internationale Lage

1

Diese aligemeinen Informationen über die Außenpolitik Islands in den Jahren von 1914-1945 basieren in erster Linie auf der Dissertation des Verf.: Whitehead, Iceland in the Second World War; siehe auch derselbe, Ofridur i adsigi; Gröndal, Iceland, S. 13-37; Nuechterlein, Iceland, S. 1-36.

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schien im Wandel begriffen, ohne daß sich klare Entwicklungen abzeichneten. Eine gewisse Zeit hoffte man auf Besserung2. 1944 hatten die U.S. Joint Chiefs of Staff beschlossen, daß die Vereinigten Staaten versuchen sollten, sich um den Fortbestand von drei Militärstützpunkten im bewohnten südwestlichen Teil von Island zu bemühen, vorzugsweise durch einen langfristigen Pachtvertrag für den großen Flughafen Keflavik, einen Wasserflugplatz beim Flugplatz Reykjavik und den Marinestützpunkt Hvalfjördur nördlich der isländisch Hauptstadt. Schon seit 1943 hatten die amerikanischen Militärs die weitere Nutzung der Anlagen in Island als Teil eines Netzes von außerhalb des eigenen Landes liegenden Stützpunkten zum Zwecke der nationalen Verteidigung und Wahrnehmung internationaler Sicherheitsaufgaben geplant. 1944 waren die Joint Chiefs of Staff dazu übergegangen, Island mehr unter dem Blickwinkel einer möglichen Auseinandersetzung als dem einer Zusammenarbeit mit der Sowjetunion zu sehen 3 . Der US-Sicherheitsrat umriß 1947 die strategischen Interessen der USA in Island für Präsident Harry S. Truman wie folgt: »1. Stützpunkt für offensive Operationen Das Land liegt nahe an den zentralen Industrieregionen unseres einzig vorstellbaren Feindes [...] Für Angriffszwecke besitzt Island aus US-Sicht größeren potentiellen Wert als irgendwelche anderen Regionen, ausgenommen England und die afro-eurasische Landmasse. 2. Stützpunkt im Rahmen des amerikanischen Luftverteidigungssystems An Bedeutung gleich hinter Grönland rangierend: [...] liegt an der wahrscheinlichsten Route des feindlichen Angriffs gegen die wichtigste Industrieregion der USA und würde sicher einen sehr wünschenswerten Teil eines solchen Systems bilden. Die Einrichtung von US-Frühwarn- und Abfanganlagen in dem Raum [Grönland-Island] würde feindliche Luftangriffe gegen die USA erheblich behindern. 3. Vom Feind begehrter Stützpunkt Wir können definitiv nicht zulassen, daß der Feind in diesem Raum Fuß faßt. Island könnte von einem Feind als Stützpunkt für begrenzte Operationen gegen die USA verwendet werden. Island rangiert aufgrund der größeren Entfernung zu den Vereinigten Staaten an zweiter Stelle hinter Grönland. 4. Stützpunkt für die Bereitstellung von Luftfahrzeugen Rangiert hinter den Azoren, ist jedoch für Flugverbindungen nach Europa von größter Wichtigkeit4.« Für die Joint Chiefs of Staff arbeitende Planer sagten dazu 1946 aus: »Ohne Island wird die Flugroute über den Nordatlantik unzuverlässig und unsicher als reguläre Route für den Transport von taktischen Kurzstreckenflugzeugen. Ohne Island würde sich die Kapazität dieser militärischen Lufttransportroute auf Flügen in östlicher Richtung um 20 Prozent und auf Rügen in westlicher Richtung um 60 Pro2 3

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Whitehead, Lydveldi, S. 135-137. National Archives, Washington DC (NA), Modern Military Branch (MMB), JCS 1015/CCS.2, Island (8-20-43), Bericht des loint Post-War Committee, 23.8.1944. NA, MMB, NSC 2/1, Bericht, 25.11.1947.

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zent verringern. Auch aufgrund der prekären rechtlichen Lage der USA und wegen der langen Routen über die Azoren und den Südatlantik würden alle militärischen Flüge über den Atlantik — ausgenommen mit viermotorigen Flugzeugen mit geringerer Beladung — außerordentlich schwierig, und Flüge mit einmotorigen Maschinen müßten eingestellt werden5.« Schließlich wurde das Land als recht bedeutsam für die Vereinigten Staaten sowie mögliche Gegner im Hinblick auf die Durchführung von Marineoperationen und amerikanischen U-Bootabwehroperationen aus der Luft eingestuft6. Die amerikanischen und britischen Militärs waren übereingekommen, daß die Luftwaffen· und Marinestützpunkte in Island für die Schlacht im Atlantik von entscheidender Bedeutung gewesen waren und als Einrichtungen für die Zwischenlandung auf der neuen Ozeanflugroute für Transport- und Kampfflugzeuge in gleicher Weise unschätzbaren Wert besaßen. Das Auftauchen der Atombombe erhöhte den Wert noch weiter, den die Amerikaner den Stützpunkten in Island beimaßen. Im Herbst 1945 wurden die USBodentruppen schnell aus Europa abgezogen und aufgelöst. Die Abschreckung gegen die zahlenmäßig außerordentlich starke Sowjetarmee auf dem Kontinent sollte im wesentlichen durch atomar bestückte Langstreckenbomber erfolgen. Großbritannien und Island sollten die östlichsten Bomberstützpunkte in Europa für den Einsatz gegen die Sowjetunion aufnehmen7. Zunehmende Spannungen mit den Sowjets spornten die Amerikaner an, Maßnahmen zu ergreifen. Im Oktober 1945 schlug das US-Außenministerium unter Geheimhaltung vor, die drei oben genannten Stützpunkte mittels einer langfristigen Vereinbarung mit der isländischen Regierung zu pachten. Bei früheren Sondierungen hatte Premierminister Olafur Thors die Amerikaner nachhaltig gebeten, ihr Ansinnen etwas zu vertagen. Island werde in einen Wahlkampf geworfen, in dem die Kommunisten die nationalen Befindlichkeiten aufs äußerste ausreizen würden. Dadurch könne ein linkes Kabinett unter Führung seines Rivalen von der Fortschrittspartei an die Regierung kommen oder eine lang anhaltende Regierungskrise heraufbeschworen werden, der das große Modernisierungsprogramm zum Opfer fiele, von welchem die wirtschaftliche Zukunft des Landes abhinge. Außerdem würden die Isländer mehr Zeit benötigen, um sich der sowjetischen Bedrohung bewußt zu werden. Wenn das Land in Zukunft militärischen Schutzes bedürfe, sollten die Amerikaner ihr Vorgehen mit Islands traditionellem Beschützer und Haupthandelspartner — Großbritannien — koordinieren8. Olafur Thors hatte an eine Vereinbarung in der Art des Schutzabkommens von 1941 gedacht. Auf diese Weise würde nicht nur die Sicherheit Islands gewährlei5 6 7

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NA, MMB, ICS, CCS 660.2, Bericht der Joint Staff Planners, Anlage »A«, 15.4.1946. NA, MMB, NSC 2 / 1 , Bericht vom 25.11.1947. Ebd.; Sherry, Preparing for the Next War, S. 27-57,91-118; Schnabel, The History, S. 135-149, 276-283, 299-321. Nachlaß Thor Thors, im Besitz des Verfassers (PTT). Unsignierte Aktennotiz von Olafur Thors »von Anfang Mai 1945«; NA, Diplomatie Branch (DB), 859A.20/9-2145, Dreyfus, Reykjavik, an State Department, 21. und 24.9.1945.

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stet, sondern auch der überaus wichtige Außenhandel des Landes. Die Erfahrung aus der Zeit der Weltwirtschaftskrise und der totalitären Aggression lastete noch schwer auf dem Premierminister wie auch auf den Führern der drei demokratischen Parteien. Olafur Thors hatte den Amerikanern erklärt, daß die Zeit noch nicht für ein neues Schutzabkommen reif sei. Die Isländer hegten ganz allgemein eine Abneigung gegen die Vorstellung, in eine ausschließlich amerikanische Interessensphäre eingegliedert und damit völlig der westlichen Hemisphäre zugeschlagen zu werden, was der amerikanische Vorschlag für eine langfristige Pacht der Stützpunkte zur Folge gehabt hätte. Das wäre als unvereinbar mit den alten Beziehungen zu Großbritannien und mit den sehr geschätzten Bindungen zu den skandinavischen Ländern gesehen worden. Nach Abwägen all dieser Faktoren bot Olafur Thors der US-Regierung inoffiziell an, vorläufig die nicht mehr zahlreichen amerikanischen Soldaten in Island zu belassen. Auf diese inoffizielle Weise hätte er gern das Schutzabkommen aus dem Jahr 1941 zugunsten der militärischen und wirtschaftlichen Sicherheit des Landes bis zur Klärung der internationalen Lage fortbestehen lassen. Die Amerikaner zwangen ihn jedoch, offiziell auf ihren Vorschlag einzugehen, worauf er — auf den Rat der Briten hin — anbot, mit den Vereinigten Staaten eine Vereinbarung über einen kurzen Zeitraum auszuhandeln9. Gereizt durch den Widerstand der isländischen Fortschrittspartei bestand die US-Regierung auf ihrem Vorschlag einer langfristigen Pacht, wobei die Isländer meinten, daß damit ein Zeitraum von mindestens 99 Jahren gemeint sei10. Mittlerweile waren die amerikanischen Möglichkeiten eines Tauschhandels erheblich durch die Tatsache beschnitten worden, daß die Regierung Truman keinen Bedarf an isländischen Fischereiprodukten mehr hatte und aufgrund der Freihandelspolitik und der amerikanischen Geschäftspraktiken Island weder Vorrechte einräumen noch es beim Verkauf seiner Waren auf dem amerikanischen Markt unterstützen konnte11. Solange dieser Schwebezustand herrschte, verschlechterte sich die US-Position in Island weiter. Die SEI Schloß sich mit einer Gruppe linksgerichteter Verfechter der Neutralität in einem hitzigen Feldzug gegen die Verpachtung der Stützpunkte zusammen. Unter Führung zahlreicher bekannter Schriftsteller und Intellektueller des Landes, darunter der spätere Nobelpreisträger Halldor K. Laxness, wurde auf den Verlust der staatlichen Unabhängigkeit im 13. Jahrhundert hingewiesen. Das sagenumwobene »Goldene Zeitalter« sei damals durch die Machenschaften ausländischer (norwegischer) Herrscher und ihrer isländischen Lakaien beendet worden. Die Geschichte könnte sich jetzt wiederholen: Die Verpachtung der Stützpunkte an die Amerikaner sei gleichbedeutend mit dem Verkauf der ein 9

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NA, DB, 859A.20/10-2145, 10-2445, 11-1545, Dreyfus an State Department, 21. und 24.10. sowie 6.11.1945. NA, DB, 859A.20/11-11-1545, Dreyfus an Olafur Thors, 15.11.1945; Whitehead, Lydveldi, S. 138-139. NA, DB, 859A.20/9-1945,11-2945, State Department an Dreyfus, 19.9.1945, Aktennotiz von John H. Morgan, 29.11.1945.

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Jahr alten Republik. Die Nation werde im Frieden allmählich ihre Identität und Kultur verlieren und in einem Atomkrieg sofort ausgelöscht12. Die bevorstehenden Gemeindewahlen im Januar 1946 und die allgemeinen Wahlen im Sommer verschafften den Stützpunktgegnern eine ideale Plattform. Interne Rücksichten und das amerikanische Bestehen auf einer langfristigen Pacht von Stützpunkten machte es den drei demokratischen Parteien unmöglich, sich mit der SEI über die Verteidigung zu einigen. Die Amerikaner waren auch mit einer gewissen Opposition der Länder konfrontiert, die Premierminister Olafur Thors konsultiert hatte, nämlich Großbritannien, Dänemark, Norwegen und Schweden. Diese Länder befürchteten, daß durch die amerikanische Pacht der Stützpunkte das gerade im Entstehen befindliche Sicherheitssystem der Vereinten Nationen gefährdet werden könne und der Sowjetunion ein Vorwand für die dauerhafte Besetzving der dänischen Insel Bornholm, die Forderung von Stützpunkten auf schwedischen Inseln und den weiteren Anspruch auf zu Norwegen gehörendes arktisches Territorium geliefert würde13. Die Briten wollten sich auch den für sie im Krieg lebenswichtigen Zugang nach Island sichern. Sie hatten lange gehofft, Island würde weiterhin ein wichtiges militärisches Glied zwischen Großbritannien und den Vereinigten Staaten bilden und damit die Amerikaner zur Sicherung Westeuropas verpflichten. Seit 1944 hatten die Briten die US-Regierung gedrängt, eine gemeinsame Vereinbarung mit Island über den Fortbestand der Militäranlagen auf der Insel zu treffen, aber nur für den Bedarfsfall. Die britische Labour-Regierung hatte Olafur Thors deshalb den Rat erteilt, eine kurzfristige Verteidigungsvereinbarung mit den Vereinigten Staaten zu treffen und diese dann auf das Sicherheitssystem der Vereinten Nationen abzustimmen, wobei gewährleistet werden sollte, daß die Briten in eine langfristige Vereinbarung einbezogen würden14.

3. Wirtschaftsprobleme und Keflavik-Vereinbarung Zu diesem kritischen Zeitpunkt zeigte die sowjetische Regierung plötzlich Interesse für isländischen Fisch. Nachdem seit 1940 jeder Versuch eines Warenaustausches abgelehnt worden war, boten die Sowjets jetzt ein hervorragendes Tauschgeschäft an. Die Briten hatten mit der Reduzierung ihrer Fischimporte Ende 1945 begonnen, und große Mengen unverkaufter Fischereiprodukte hatten sich in Island angesammelt. Die Sowjets verhinderten somit eine bevorstehende Krise, indem 12

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Timarit mals og menningar, VI, Nr. 2 (November 1945); Utsyn, I, Nr. 1-5 (Oktober-Dezember 1945). NA, DB, 859A.20; Foreign Relations of the United States (FRUS), 1945, V, S. 99-105, Johnson, Stockholm, an State Department, 27.10.1945; Public Record Office, Kew, Surrey (PRO), FO 371/47482, Aktennotiz von Orme Sargent, 12.10.1945. PRO, FO 371 /47483, Aktennotiz Bevin, 30.10.1945; ebd., 47482, Bevin an Shepherd, Reykjavik, 27.10.1945.

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sie etwa 19 Prozent der isländischen Ausfuhr in den Jahren 1946 und 1947 aufkauften. Die Sowjetunion war Islands zweitstärkster Handelspartner, wodurch im Land und auch außerhalb die Befürchtung zunahm, daß der Kreml versuchen könnte, die wirtschaftliche Verwundbarkeit des Landes in gleicher Weise auszunutzen, wie es das nationalsozialistische Deutschland in den dreißiger Jahren getan hatte. Eine sowjetische Quelle bestätigte auch die Absicht des Kremls, Islands Abhängigkeit von den Westmächten zu verringern. Ganz eindeutig ging es der UdSSR darum, die SEI mit ihrer Forderung zu stärken, die Amerikaner müßten sich nach den Bestimmungen des zwischen Island und den USA 1941 geschlossenen Schutzabkommens aus Island zurückziehen15. Anfang 1946 wurde die amerikanische »Besetzung von Island« Gegenstand der weltweiten kommunistischen Propaganda, und der Kreml schien die Behandlung dieses Themas im UN-Sicherheitsrat zu beabsichtigen, um sich der Forderung nach Abzug eigener Truppen aus dem Iran widersetzen zu können16. Bei den allgemeinen Wahlen im Sommer 1946 hatte die SEI nur geringfügige Gewinne zu verbuchen. Das war ein Schlag für eine Partei, die behauptet hatte, »die Zukunft zu gestalten«. Aber ihre aufsehenerregende Wahlkampagne war nicht ohne Wirkung geblieben: Die drei demokratischen Parteien waren zur Zusage gezwungen worden, niemals ausländischen Mächten im Frieden Stützpunkte zu überlassen. Diese Zusagen behinderten natürlich die verteidigungspolitische Zusammenarbeit Islands mit den Westmächten über geraume Zeit'7. Nach den Wahlen nahm Premierminister Olafur Thors schließlich Geheimverhandlungen mit der US-Regierung auf, die ihren früheren Vorschlag zurückgezogen und wiederholt um einen Kompromiß gebeten hatte. Diese Verhandlungen mündeten in die »Keflavik-Vereinbarung«, in deren Rahmen die Vereinigten Staaten widerwillig der Beendigung des Schutzabkommens von 1941 und dem Abzug aller Truppen aus Island bis April 1947 zustimmten. Eine amerikanische Zivilfirma sollte im Auftrag der US-Regierung den Flugplatz Keflavik betreiben. Die Vereinigten Staaten verpflichteten sich, Isländer in technischen Disziplinen auszubilden, die nach und nach die Funktionen der 600 dort beschäftigten Amerikaner übernehmen sollten. Diese Vereinbarung sollte so lange gelten, wie die Vereinigten Staaten militärische oder politische »Kontrollinstanzen« in Deutschland unterhielten. Eine Modifizierung oder Beendigung unterlag einer 18-monatigen Kündigungsfrist frühestens nach Ablauf von fünf Jahren18. Das amerikanische Außenministerium erkannte jetzt, daß das amerikanische Ansehen in Island stark durch das Bestehen auf einem zur Unzeit (1945) vorgetragenen Ersuchen um langfristige Anpachtung von Stützpunkten gelitten hatte. Die Keflavik-Vereinbarung bedeutete nur ein sehr kleines Zugeständnis, aber 15

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Whitehead, Austurvidskipti; PRO, FO 371 /66010, Bericht Shepherd an Foreign Office, 4.6.1947; Risakow, Monopoli, S. 286-288. Text aus Molotovs Erklärung in: New York Times, 28.5.1946; NA, DB, 859A.20/4-246, State Department an Dreyfus, 3.4.1946. Whitehead, Lydveldi, S. 150-156. Ebd., S. 152-162; Treaties, 1971, Bd 8, S. 1185-1187.

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unter den gegebenen Umständen mußten die Vereinigten Staaten froh sein, daß sie wenigstens noch einen — wenn auch nur kleinen — Aufhänger in Island hatten, der wie sie hofften, als »Ausgangsbasis« für eine spätere Lösung nutzbar war. Die USA waren der Meinung, daß ihre lebenswichtigen strategischen Interessen in Island nur durch langfristige Stützpunktrechte gewahrt werden könnten, wie dies vom Nationalen Sicherheitsrat 1947 nochmals formuliert wurde19. In Island unterstützte die SEI nicht mehr die Regierung und beschuldigte ihre ehemaligen Partner des Verrats, weil sie einen »getarnten« amerikanischen Stützpunkt in Keflavik duldeten. Der linke Flügel der Arbeiterpartei und die Mehrheit der Parlamentsfraktion der Fortschrittlichen unter Führung von Hermann Jönasson votierten aus nationalistischen Gründen ebenfalls gegen die Vereinbarung20. In der nachfolgenden längeren Regierungskrise bemühten sich die beiden Rivalen — Hermann Jonasson und Olafur Thors — um Unterstützung durch die SEI21. Das beunruhigte die Amerikaner aufs äußerste. Damit war eine Verhaltensweise vorgezeichnet, die von 1947 bis 1950 beibehalten wurde: Trotz verstärkter Angst der Isländer vor der sowjetischen Expansion und kommunistischer Subversion spielte die SEI weiter das Zünglein an der Waage zwischen den beiden führenden Parteien. Die SEI hätte bei Rückkehr in die Regierung entweder die US-Maßnahmen in Keflvik behindern oder die Aufkündigung der Flughafenvereinbarung bewirken können22. Als Anfang 1947 die Entscheidung zu treffen war, lehnte der Führer der Arbeiterpartei, Stefan Johann Stefänsson, die Zusammenarbeit mit der SEI ab und bildete eine Regierung mit der Unabhängigkeits- und der Fortschrittspartei. Bei oberflächlicher Betrachtung war keine große Änderung der isländischen Außenpolitik durch den von amerikanischen Zivilisten betriebenen wichtigsten isländischen Flugplatz bemerkbar. Die umstrittene Keflavik-Vereinbarung war jedoch ein wichtiger Meilenstein, der ein Abrücken von der Neutralität kennzeichnete. Verstärkte Spannungen zwischen den Großmächten und die Schwierigkeit der Vermarktung von Islands größerer Fischproduktion diktierten ganz einfach die Fortsetzung der im Krieg eingegangenen Beziehungen mit den Westmächten in irgendeiner Form. Angesichts der Nachkriegsrealitäten hatte die isländische Regierung den Mittelweg zwischen einer Anlehnung an die Westmächte und der Rückkehr zur Neutralität eingeschlagen23. Islands wirtschaftliche Anpassung an die Friedensbedingungen erwies sich als außerordentlich schwierig und beeinträchtigte über Jahre die Innen- und Außenpolitik. Die umfänglichen Devisenreserven aus der Kriegszeit waren erschöpft, die Inflation nahm zu, und die Gewerkschaften forderten höhere Löhne, was nach

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FRUS1947,1, S. 708, Aktennotiz Matthews, 17.1.1947; NA, MMB, NSC 2/1, Bericht, 25.11.1947. Althingistidindi 1946, Β 136-274. Johannessen, Olafur Thors, Bd 2, S. 74-85; Thorarinsson, Sokn, Bd 2, S. 166 f., 181 f., 185 f. Whitehead, Lydveldi, S. 166 f. Stefänsson, Yfirlit; Nachlaß Bjarni Benediktsson, im Besitz Björn Bjarnason, Reykjavik (PBB), Aktennotiz Bjarni Benediktsson, 18.8.1948; PIT, Bjarni an Thor Thors, 23.9.1947.

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dem verärgerten Ausscheiden der SEI aus der Regierung zu erwarten war. Der Handel mit dem unter den Kriegsfolgen leidenden Europa wurde immer schwieriger, weil die Isländer höhere Preise für ihre Produkte zu einer Zeit fordern mußten, als sich die Fischereiindustrie anderer Länder wieder erholte. Das Problem der Versorgung des Landes wurde akut, da der Erlös aus den Ausfuhren in die Vereinigten Staaten (nur etwa 10 Prozent des gesamten Exportwertes) weit hinter die Kosten für die Einfuhren aus den USA zurückfiel24. Während der Weltwirtschaftskrise fehlte es der neuen Regierung an Stärke wie auch allgemeinem Konsens, um die Währung, die Krona, abzuwerten oder die Löhne und Gehälter zu reduzieren. Statt dessen wurde eine umfassende Wirtschaftskontrolle eingeführt, wie sie teilweise unter dem Staatssozialismus in Osteuropa praktiziert wurde 25 . Auch der Abbruch der Handelsbeziehungen durch die Sowjetunion im Jahr 1948 trug zu den Schwierigkeiten der Regierung bei. Die Sowjets erkannten jetzt, was sie während des Krieges befürchtet hatten: Island konnte nicht aus dem westlichen Lager herausgehalten werden, was durch die Keflavik-Vereinbarung und das isländische Interesse an der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Europa und den Vereinigten Staaten zum Ausdruck kam. Die SEI beschuldigte die Regierung fälschlicherweise des Abbruchs der Handelsbeziehungen und behauptete, das Land könne nicht ohne die SEI regiert werden und könne ohne den Handel mit der Sowjetunion nicht prosperieren 26 . Das war die Lage, bevor Island in die Marshallplanhilfe einbezogen wurde. Durch Hinweis auf die Gefahr eines wirtschaftlichen Zusammenbruchs und einer Rückkehr der Kommunisten an die Macht erreichten die Regierungen von Stefan Johann Stefänsson und seiner Nachfolger sehr großzügige US-Beihilfen und Anleihen zur Aufrechterhaltung des isländischen Außenhandels sowie für umfangreiche Investitionen in die Fischereiindustrie und in den Bau hydroelektrischer Anlagen 27 . Die britische Regierung sah sich ebenfalls gezwungen, den Import isländischer Produkte zu fördern, auch wenn dies den Interessen der eigenen Fischereiindustrie entgegenlief 8 . Die Anpassung der isländischen Wirtschaft an die Nachkriegsbedingungen wurde zugunsten der politischen Stabilität zurückgestellt, und zu diesem Zweck mußten die Amerikaner die der Marshallhilfe zugrundeliegenden liberalen Wirtschaftsgrundsätze modifizieren oder außer acht lassen.

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Landsbanki Islands, 1947-1949. Asgeirsson, Thjod i hafti, S. 188-257. Whitehead, Austurvidskipti; Osipenko, Events in Iceland. NA, DB, 859A.00/6-1147, 7-1848, Trimble an State Department, 11.6. und 18.7.1947; FRUS 1949, IV, S. 693-702; FRUS 1950, II, S. 1459-1466, Policy Statements; Asgeirsson, Efnahagsadstodin. PRO, FO 371/77428, Aktennotiz Jackling, 8.3.1949, Niederschrift Makins, 11.3.1949.

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4. Die Wahrnehmung einer sowjetischen Bedrohung Der kommunistische Staatsstreich in der Tschechoslowakei 1948 schlug in den skandinavischen Ländern wie ein Blitz ein. In weiten Kreisen wurde befürchtet, Stalin beginne durch den gemeinsamen Einsatz seiner Streitkräfte und der kommunistischen fünften Kolonne eine allgemeine Offensive gegen den Westen. Die Angst vor einem neuen Krieg sprang — insbesondere nach der Berlin-Blockade — auf Island über. Außerdem tauchte im Frühjahr 1948 erstmals eine große sowjetische Heringsflotte vor der isländischen Küste auf. Acht Jahre davor hatten die Isländer hilflos zuschauen müssen, wie britische Truppen an ihren Küsten landeten, und waren sprachlos über die Nachricht gewesen, daß deutsche Truppen mit Hilfe örtlicher Quislinge von Handelsschiffen aus in Dänemark und Norwegen eindrangen. Mittlerweile wurden unbekannte Luftfahrzeuge über Keflavik gesichtet, und eine tschechische Wissenschaftsexpedition brachte unangenehme Erinnerungen an die deutschen Expeditionen in der Hitler-Ära sowie den Prager Staatsstreich ins Gedächtnis zurück. In politischen und diplomatischen Kreisen wurde nachhaltig befürchtet, die Sowjetunion erkunde Island zu Lande, von See her und aus der Luft. Manche befürchteten, eine Gruppe Kommunisten wolle möglicherweise in einem kritischen Augenblick einen Coup inszenieren und die Flugplätze Reykjavik und Keflavik besetzen, um eine sowjetische Landung vorzubereiten. Die isländische Regierung verfügte außer den etwa 120 leicht bewaffneten Reykjaviker Polizisten über keine weiteren Kräfte29. Bis August 1948 hatten die Befürchtungen von Außen- und Justizminister Bjarni Benediktsson ein solches Ausmaß angenommen, daß er sich der amerikanischen Haltung gegenüber seinem in einer Krise befindlichen Land versichern wollte. Bjarni war der engste Vertraute des ehemaligen Premierministers Olafur Thors und stellvertretender Parteiführer der Unabhängigkeitspartei. Dieser zielbewußte ehemalige Juraprofessor hatte der SEI gegenüber eine viel härtere Gangart als Olafur angeschlagen und sah die Zeit gekommen, Island unter die Fittiche der Westmächte zu bringen. Der US-Gesandte in Reykjavik, Richard F. Butrick, hatte richtigerweise angenommen, daß die Vereinigten Staaten entgegen den isländischen Erwartungen keine Pläne zur Konzentration von Truppen und Luftfahrzeugen in Keflavik vor Ausbruch eines Krieges hatten. Stattdessen warnte Butrick Bjarni vor einem unvorhersehbaren amerikanisch-sowjetischen Wettlauf der Luftstreitkräfte, um das Land unter Kontrolle zu bekommen30. Die isländische Regierung erörterte daraufhin — offensichtlich erstmalig —, ob sie sich um eine militärische Garantie der atlantischen Mächte bemühen solle. Die 29

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Gudlaugsson/Jonsson, 30. Marz, S. 30-35, 39; PBB, Aktennotiz von Bjarni Benediktsson, 18.8.1948; NA, DB, 859A.00/5-1248, Aktennotiz Butrick, 11.5.1948; NA, IPR, 1948, 801-842, Reykjavik Leg. Conf. File, Box 10, Ragnar Stefänsson an Butrick, 8.11.1948. PBB, Aktennotiz von Bjarni Benediktsson, 18.8.1948; NA, DB, 859A.7962/8-1848, Butrick an State Department, 18.8.1948.

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Aussage des US-Gesandten hatte eindeutig das Vertrauen der Regierung in den Verteidigungswert der Keflavik-Vereinbarung erschüttert 31 . Im Herbst 1948 verschwand die sowjetische Heringsflotte, aber das Gefühl einer akuten Gefahr hielt an. Hinweise des dänischen Marinenachrichtendienstes schienen den Verdacht zu bestätigen, daß die Sowjets ein aktives militärisches Interesse an Island hatten. Der US-Gesandte in Reykjavik, der die Lage als recht bedrohlich einschätzte, bemühte sich nachhaltig bei seiner Regierung, zusammen mit den Briten einen gewissen Schutz für Island in zweckmäßig getarnter Form zu bewerkstelligen 32 . Der isländischen Regierung blieb es erspart, eine Initiative für eine Verteidigung im Kriegsfall zu ergreifen, über die sie sich seit dem Sommer Gedanken gemacht hatte. Die Länder auf beiden Seiten des Atlantiks hatten Verhandlungen über ein Verteidigungsbündnis aufgenommen und im Dezember 1948 heimlich einen Fingerzeig gegeben, daß Island zum Beitritt aufgefordert sei. Die isländischen Minister begrüßten den Gedanken eines atlantischen Bündnisses sofort, da sich so eine Lösung für das Problem der fehlenden Verteidigungsmöglichkeiten abzeichnete, durch welche sie das Land zu diesem Zeitpunkt gefährdet sahen. Sie teilten jedoch den Amerikanern und Briten mit, daß über die isländische Mitgliedschaft erst nach Klärung folgender Punkte entschieden werden könne: 1. Würden sich die Alliierten einverstanden erklären, im Frieden auf aktive Militärstützpunkte im Land zu verzichten, wie es von den Regierungsparteien in den Wahlen von 1946 versprochen worden war? 2. Würden die anderen skandinavischen Länder dem Bündnis beitreten? 3. Wie könnte Island seine Sicherheit durch Beitritt zum Bündnis stärken, ohne im Frieden Verteidigungskräfte aufnehmen zu müssen 33 ? Die US-Regierung beantwortete die erste Frage sehr schnell, indem sie ironisch äußerte, kein Interesse an Stützpunkten in Island in Friedenszeiten zu haben. Die beiden anderen Fragen konnten zu diesem Zeitpunkt nicht beantwortet werden und wurden deshalb zurückgestellt 34 . Inzwischen hatten die SEI und die linksgerichteten Neutralisten, die meist der an der Regierung befindlichen Arbeiterpartei und der Fortschrittspartei angehörten, eine hitzige Kampagne gegen Islands Mitgliedschaft in der NATO angezettelt. Aufgrund ihrer Erfahrungen aus den Jahren 1945/46 verzichteten die Amerikaner darauf, irgendwelchen Druck auf die unentschlossene Regierung auszuüben 35 . Trotzdem ließen sie ihr Interesse am Beitritt Islands zur NATO erkennen. Die Amerikaner sahen auch den größten strategischen Vorteil des bevorste31 32

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PBB, Aktennotiz von Bjarni Benediktsson, 24.8.1948. PBB, Aktennotiz von Bjarni Benediktsson, 27.10.1948; NA, IPR, 1948,801-842, Reykjavik Leg. Conf. File, Box 10, Reese an Butrick, 28.10.1948, Butrick an Marshall, 11.11.1948. PBB, Aktennotiz Bjarni Benediktsson, 7. und 11.12.1948, 12.1.1949; FRUS 1948, III, S. 315; FRUS 1949, IV, S. 20, Butrick an State Department, 11.12.1948 und 12.1.1949. FRUS 1949, IV, S. 50, State Department an Butrick, 27.1.1949. Gudlaugsson/Jönsson, 30. Marz, S. 45-89, 112-120; PTT, Thor Thors an Olafur Thors, 18.2.1949.

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henden Beitritts von Dänemark und Norwegen darin, daß Island wahrscheinlich nachziehen würde. Die Führer im Senat hatten den Eindruck, daß für die Vereinigten Staaten »einer der größten Pluspunkte dieses [atlantischen] Paktes in der Sicherung [...] von Stützpunktanlagen in Grönland und Island liege«. Der Kongreß würde vielleicht eher seine Zustimmung zu diesem Bündnis geben können, wenn diese beiden »Brückenländer« Mitglied werden würden. Ohne diese beiden Länder würden die Vereinigten Staaten »nicht viel gewinnen, während sie viel opfern müßten«36. Bis Mitte März 1949 hatten sich sowohl die Dänen als auch die Norweger zum Beitritt entschlossen. Ein Haupthindernis für den Beitritt Islands war damit aus dem Weg geräumt, und eine isländische Ministerdelegation mit Bjarni Benediktsson flog umgehend zu Gesprächen mit führenden Vertretern amerikanischer ziviler und militärischer Stellen nach Washington. Die Regierung brachte die letzte, von den Westmächten noch nicht beantwortete Frage erneut zur Sprache, das heißt den Sicherheitswert der NATO-Mitgliedschaft ohne militärische Präsenz im Frieden sowie die Wahrscheinlichkeit eines sowjetischen Zugriffs auf Island. Die amerikanischen Militärs argumentierten, die Flugplätze Reykjavik und Keflavik wären in einer frühen Kriegsphase in Gefahr, angegriffen zu werden, insbesondere durch eine fünfte kommunistische Kolonne oder durch sowjetische Truppen (in der Stärke von etwa zwei Bataillonen), die von U-Booten und getarnten zivilen Wasserfahrzeugen angelandet würden. Diese wären wahrscheinlich bestrebt, die Flugplätze funktionsunfähig zu machen oder — was als weniger wahrscheinlich erachtet wurde — sie in Vorbereitung für eine umfassende Invasion von Luftstützpunkten in Nordrußland aus zu besetzen. Die Gefahr eines größeren Angriffs auf die Südwestküste Islands weckte bei den isländischen Ministern die alarmierende Vorstellung, daß Reykjavik in sowjetische Hände fallen könne. Wie erwartet erklärten die Amerikaner, daß sie niemals eine Besetzung Islands durch die Sowjets zulassen und mit voller Kraft zum Angriff übergehen würden. Dadurch würde der am dichtesten besiedelte Teil des Landes in ein Schlachtfeld verwandelt, wenn die Isländer nicht gewisse Vorkehrungen träfen37. Diese Schlußfolgerung lag einem neuen amerikanischen Verteidigungsplan zugrunde, in dem der Flugplatz Keflavik als Sprungbrett für die Besetzung Islands im Falle eines Krieges oder eines kommunistischen Staatsstreiches dienen sollte38. Die amerikanischen Vertreter machten den isländischen Ministern jedoch nachhaltig klar, daß die Gefahr eines militärischen Vorgehens der Sowjets sehr eingeschränkt werden könne, wenn sich die Isländer aktiv an den Verteidigungsplä36 37

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FRUS 1949, IV, S. 109, Aktennotiz Acheson, 14.2.1949; Lundestad, America, S. 309,321,345. Fräsögn, Morgunbladid, 4.5.1976; FRUS 1949, IV, S. 202-206,225-229,236 f., Aktennotizen Acheson und Bohlen, 14.5.1949, Aktennotiz Hickerson, 15.3.1949, Aktennotiz Acheson, 17.3.1949. NA, MMB, Unterlagen aus dem Verteidigungsministerium, Adm. Seer. Corresp. Control Sec, Num. File CD 29-1-28, Chief of Staff, U.S. Army an den US-Verteidigungsminister, 7.2.1949.

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nen der NATO beteiligen würden. Ihre Hauptaufgabe wäre die Bewachung der Anlagen gegen Sabotage bis zum Eintreffen der alliierten Truppen39. Die Ergebnisse dieser Unterredungen in Washington waren für die isländische Regierung schwer umzusetzen, insbesondere für die Minister der Fortschrittspartei, die mit hartnäckiger linker Opposition aus ihren eigenen Reihen rechnen mußten40. Die Regierung schlug deshalb dem Parlament vor, Island solle dem Bündnis unter den Vorbehalten beitreten, die von den US-Vertretern am Ende der Gespräche in Washington noch akzeptiert wurden. Sie hatten zugestimmt, daß Island keine militärischen Anlagen einrichten oder Bündnistruppen in Friedenszeiten aufnehmen mußte. Im Krieg werde man den Bündnispartnern Anlagen vergleichbar mit denen des Zweiten Weltkrieges überlassen. Am Tag der Entscheidung versammelten sich Tausende von Demonstranten vor dem Parlamentsgebäude und forderten eine Volksabstimmung über die NATO-Mitgiedschaft. Alle verfügbaren Polizeikräfte und Hunderte von Freiwilligen waren vor allem von der gut organisierten Unabhängigkeitspartei mobilisiert worden. Die Regierung befürchtete, die SEI wolle eine Art Coup lancieren oder das Gebäude stürmen, um die Abstimmung im Parlament zu verhindern. Unter öffentlichem Aufruhr und einem durch die Fenster kommenden Steinhagel stimmten 37 Abgeordnete im Althing für den NATO-Beitritt, 13 waren dagegen. Die beiden linksgerichteten Angehörigen der Arbeiterpartei und ein Abgeordneter der Fortschrittspartei hatten sich den zehn SEI-Mitgliedern in der Ablehnung des Vorschlages angeschlossen, während sich zwei Angehörige der Fortschrittspartei, einschließlich des Parteiführers Hermann Jonasson, der Stimme enthielten41.

5. Island, der »schlafende Partner« 1949/50 Die Einrichtung von US-Luftwaffenstützpunkten in Großbritannien 1948 und der amerikanische Beschluß, weiterhin Streitkräfte auf dem europäischen Kontinent zu stationieren, hatte nicht zur Minderung der militärischen Bedeutung Islands geführt. Die alliierten Kriegspläne zwischen 1946 und 1950 basierten auf der bekannten Annahme, daß die Sowjetarmee bei Ausbruch von Feindseligkeiten rasch nach Westen vorstoßen würde. Im Gegenzug würde das Strategische Bomberkommando (SAC) der US-Luftwaffe eine atomare und konventionelle Offensive gegen die Sowjetunion eröffnen, wobei Großbritannien als der Hauptstützpunkt in Europa dienen sollte. Man war sich jedoch einig, daß Bomberoperationen schwer oder überhaupt nicht mehr unterstützt werden könnten, wenn es den

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Fräsögn, Morgunbladid, 4.5.1976; FRUS1949, IV, S. 225-229, Aktennotiz Hickerson, 15.3.1949. PTT, Bjami Benediktsson an Thor Thors, 16.12.1948, 5.1.1949; Thorarinsson, Sokn, Bd 2, S. 193-195. Althingistidindi, 1948, A 473, D 271-336, A 499, 506-511, D 93-237; Gudlaugsson/Jonsson, 30. Marz, S. 9 9 - 1 1 2 , 1 3 0 - 1 3 3 , 1 4 2 - 2 6 3 .

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Sowjets gelänge, Großbritannien in die Hand zu bekommen. In diesen Fall wollte das SAC offensichtlich seinen Brückenkopf für die Offensive in Europa auf den Flugplatz Keflavik verlagern42. Mit wachsender Truppenstärke der Alliierten auf dem europäischen Kontinent wurde die Vorneverteidigung Deutschlands ein Hauptziel der NATO-Planung. Diese Strategie stützte sich auf die Fähigkeit der Amerikaner ab, schnell Heeres- und Luftwaffenkontingente an die europäische Front zu verlegen43. Deshalb nahm die Bedeutung von Keflavik als militärischer Brückenkopf auf der Atlantikroute in den fünfziger Jahren zu. Durch einen zivilen Betreiber getarnt, investierten die Vereinigten Staaten 1947-1950 rund 12 Millionen Dollar in den Ausbau von Keflavik »als wichtigen Stützpunkt für MATS (Military Air Transport Service) und SAC« und auch für die U-Bootwaffe44. Die Planer der Bündniskräfte gingen logischerweise davon aus, daß die Sowjets »erhebliche Vorteile für ihre erste Großoffensive gewinnen könnten«, indem sie unverteidigte Anlagen in Island und andernorts im nordatlantischen Raum — und wenn auch nur »für wenige Tage« — besetzen würden 45 . Ein ehemaliger sowjetischer Nachrichtenoffizier hatte auch bestätigt, daß seine Dienststelle an der Vorbereitung von Sabotageangriffen auf einhundert militärische Ziele der Amerikaner, vorrangig auf deren nukleare Luftstützpunkte, beteiligt war46. Nach den Demonstrationen vor dem Parlamentsgebäude schien die isländische Regierung bereit, entgegen ihrer Tradition zu handeln und bewaffnete Sicherheitskräfte — möglicherweise mit der Polizei gekoppelt — aufzustellen. Durch solche Kräfte hätte die Regierung die Möglichkeit bekommen, militärische Anlagen richtig bewachen zu lassen und einen wichtigen Beitrag zum NATO-Verteidigungsplan für das Land zu leisten, wie es während der vorbereitenden Gespräche in Washington vorgesehen gewesen war. Das US-Außenministerium versuchte die Aufstellung von Sicherheitskräften zu fördern und bot für den Bedarfsfall die Hilfe durch Flugplatzpersonal an47. Die Amerikaner hatten jetzt auch ausreichend Hoffnung geschöpft, um eine neue Vereinbarung für Keflavik vor Auslaufen der umstrittenen Flughafenvereinbarung auszuhandeln. Sie waren zur Zahlung der Bewachungs- und Betriebskosten bereit, wollten jedoch auch künftig so weit wie möglich das Sagen behalten. 1950 hoffte das US-Außenministerium auf eine »passende Gelegenheit«, um die Isländer überzeugen zu können, »jene positiven Maßnahmen für die Verteidigung ihres eigenen Territoriums, insbesondere den Bereich 42

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Condit, History of the Joint Chiefs of Staff, S. 286-303, 404-407; Operation World War III, S. 160 f. Greiner, Militärstrategische Konzepte, S. 259-282. NA, MMB, CCS 660.2, Island (8-20-43), See. 5, Aktennotiz Chief of Staff, U.S. Air Force an die Joint Chiefs of Staff, 23.3.1951; Efnahagsährif, in: Fjärmälatidindi, 3 (1956), Η. 1, S. 14. Operation World War III, S. 132. Sudoplatow, Special Tasks, S. 244 f. PBB, Aktennotizen Bjarni Benediktsson, 13.7.1949, 24.3.1950; NA, DB, 740B5/3-3150, Lawson an State Department, 31.3.1950.

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um den Flugplatz Keflavik, zu akzeptieren, welche die NATO als erforderlich erachtet«48. Die Regierung von Stefan Johann Stefänssön hatte dann aber kaum mehr Zeit, um landeseigene Sicherheitskräfte aufzustellen. Im Herbst 1949 trat sie wegen Auseinandersetzungen über die Wirtschaftspolitik zurück. Überstürzt wurden Wahlen abgehalten, bei denen die SEI keinen Stimmengewinn verzeichnen konnte. Die kommunistische Offensive in Island war — wie im übrigen Westeuropa — gebremst worden. Im März 1950 waren die Unabhängigkeitspartei und die Progressiven schließlich zur Bildung einer neuen Koalition gezwungen, obwohl sich die Parteiführer nicht versöhnten. Endlich wurden die Bemühungen um die Anpassung der Wirtschaft an Friedensbedingungen ernsthaft mit einer dramatischen Abwertung der Krona und der Aufhebung einiger lähmender Steuerungsmechanismen der Regierung in Gang gebracht.

6. Der Partner wacht auf. Das isländisch-amerikanische Verteidigungsabkommen 1951 Der Ausbruch des Koreakriegs im Sommer 1950 brachte die isländischen Pläne, den Betrieb des Flughafens Keflavik zu übernehmen und vielleicht mit finanzieller Unterstützung der NATO zu bewachen, gründlich ins Wanken. Der seit Ende 1948 immer wieder drohende Dritte Weltkrieg schien näher denn je gerückt. Eine sowjetische Fischfangflotte mit etwa 100 Schiffen, einschließlich riesiger Versorgungsschiffe mit Geschützstellungen, hatte sich erneut vor der Nordküste Islands eingefunden. Die Erinnerung an die Konfrontation vor dem Parlamentsgebäude im Jahr zuvor ließ bei der Regierung Sorgen über die kommunistischen Absichten aufkommen. Als sich die Kampfhandlungen in Korea verstärkten, schlug Bjarni Benediktsson die Anwesenheit einer amerikanischen oder britischen Marineeinheit vor der Küste Islands vor, was bei den Verhandlungen in Washington 1949 für den Fall von Gefahrensituationen abgesprochen worden war49. Die Alliierten sahen allerdings keine unmittelbare Kriegsgefahr; ein sowjetischer Angriff auf Island werde nicht erwartet. Sie erklärten sich jedoch zur Entsendung von Zerstörern zum Durchsuchen der Heringsfanggründe und zur Demonstration ihrer Hilfsbereitschaft gegenüber den Isländern bereit 50 . Der neue US-Gesandte in Reykjavik, Edward B. Lawson, spürte im Juli 1950 völlig zu Recht, daß sich eine Änderung anbahnte. Die isländische Regierung und immer mehr Isländer waren bereit, alliierte Verteidigungskräfte im Land zu stationieren51. 48

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FRUS1950, III, S. 1461 f., 1466, Policy Statement, 15.5.1950; siehe auch FRUS1949, IV, S. 204, 695, 700-702. NA, DB, 840B.245/7-1450,7-2750, Lawson an State Department, 14. und 27.7.1950; PRO, FO 3 7 1 / 8 6 5 0 1 , Baxter an Foreign Office, 16., 17. und 28.7.1950. NA, DB, 840B.245/7-1450, Telegramme State Department an Lawson, 13., 14. und 15.7.1950; PRO, FO 371/86501, Harrison an Price, 20.7.1950; ebd., Baxter an Bevin, 28.7.1950. NA, DB, 840B.245/8-350,740B.5/8-950, Telegramm Lawson an State Department 36,7.8.1950.

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Inzwischen hielten es die militärischen Stellen in Washington und London für dringend geboten, in Island irgendeine Form der Verteidigung aufzubauen. Die Briten fürchteten, daß ein einseitiges Vorgehen der Amerikaner bei den Isländern einen falschen Eindruck erwecken könne, und schlugen deshalb vor, die Standing Group der NATO mit der Angelegenheit zu betrauen. Dieses Gremium traf Vorbereitungen, die Frage der Verteidigung mit Island zu besprechen. Die Amerikaner, die sich noch gut an den Schiffbruch erinnerten, den sie 1945/46 erlitten hatten, gaben den Briten zu verstehen, daß sie ebenfalls für eine NATO-Initiative seien52. Am 29. August 1950 beschloß die isländische Regierung ohne Anstoß von außen, die Sicherheitsfrage bei einer Sitzung der NATO-Rates im September anzusprechen 53 . Die Briten, denen diese wichtige Entscheidung nicht bekannt war, bemühten sich diskret um die Mithilfe des norwegischen Außenministers Halvard Lange, der sich anläßlich eines Besuches in Reykjavik als Fürsprecher für Verteidigungsmaßnahmen einsetzen sollte. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Standing Group schon — wie erwartet — eine Mitteilung an die isländische Regierung geschickt mit der Frage nach möglichen Maßnahmen, um zu verhindern, daß die Flugplätze in Reykjavik und Keflavik in feindliche Hand fielen54. Die Angelegenheit spitzte sich zu. Im September 1950 nahm Außenminister Bjarni Benediktsson an der Sitzung des NATO-Rates in New York teil und verhandelte mit der Standing Group der NATO in Washington. Bei einer Sitzung im Pentagon trug der Vorsitzende der Standing Group, der französische General Paul Ely, eine Beurteilung der militärischen Bedrohung Islands vor, wobei er auf die Gefahr eines Überfalls vor einer offiziellen Kriegserklärung hinwies. Diese Beurteilung der Lage gab den Isländern einen weiteren Anstoß, Vorkehrungen zu treffen, denn hier wurde ihnen eine umfassendere und komplexere Bedrohung ausgemalt als sie die amerikanischen Militärs im Jahr 1949 beschrieben hatten, insbesondere durch Luftangriffe. Bjarni Benediktsson teilte die isländischen Vorbehalte gegen ausländische Truppen mit, wollte sich jedoch nicht einem provisorischen NATO-Plan verschließen, der mindestens etwa 1200 Mann starke Verteidigungskräfte vorsah55. Im Oktober 1950 griff China in den Koreakrieg ein. Der Ausbruch des Dritten Weltkriegs schien bevorzustehen; möglicherweise hatte er ja schon begonnen. Im Dezember legte die Standing Group Bjarni Benediktsson schließlich die Einzelheiten ihres Verteidigungplanes vor, wobei der geschätzte Bedarf auf etwa 3300 Mann angehoben wurde. Die isländische Regierung erklärte sich unverzüglich bereit, unter gewissen Bedingungen eine Verteidigungsvereinbarung mit den Vereinigten Staaten, die

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NA, DB, 859A.20/8-949,740B.5/8-1450, Aktennotiz Hulley, 9.8.1950; ebd., Aktennotiz Byrns, 14.8.1950; PRO, FO 371/86501, Foreign Office an Oliver Franks, Washington, 8.8.1950. Thorsteinsson, Utanrikisthjonusta, Bd 1, S. 358 f. Ebd., S. 359-361; PRO, FO 371 / 86501, Franks an Foreign Office, 24.8.1950. PBB, Aktennotiz von einer Besprechung mit der Standing Group, 19.9.1950.

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im Auftrag der NATO tätig werden sollten, auszuhandeln. Diese Bedingungen dienten der Wahrung der Souveränität des Landes und dem Schutz der isländischen Menschen und Kultur gegen einen zu starken amerikanischen Einfluß. Die Regierung traf die Entscheidung in der Überzeugung, die überwältigende Mehrheit der Landsleute und der Parlamentarier hinter sich zu haben. Die Verschärfung der Koreakrise hatte die im Sommer vorgetragenen Zweifel und Vorbehalte hinweggefegt56. Im Februar 1951 begannen in Reykjavik geheime amerikanisch-isländische Verhandlungen. Die Amerikaner waren entschlossen, diese Gelegenheit zur Durchsetzung ihrer maximalen Zielsetzung zu nutzen, nämlich das Zugeständnis langfristiger Stützpunktrechte. Sie schlugen vor, die Laufzeit der Verteidigungsvereinbarung an den Bestand des Atlantikpaktes zu koppeln, wodurch fürs erste ein Zeitraum von 18 Jahren garantiert gewesen wäre. Das war für die isländische Regierung vollkommen unannehmbar, welche die Verhandlungen auf der Grundlage aufgenommen hatte, daß »im Frieden keine Stützpunkte« bereitgestellt würden und das Recht eingeräumt werden müsse, die Vereinbarung einseitig und kurzfristig kündigen zu können57. Obwohl die Minister der Unabhängigkeitspartei unter Führung von Bjarni Benediktsson bereit gewesen wären, die Vereinbarung über die Dauer des Koreakrieges hinaus zu verlängern, waren die Vertreter der Fortschrittspartei nur bereit, diese Vereinbarung als vorläufige Notfallmaßnahme zu akzeptieren. Die beiden Parteien hatten jedoch einen gemeinsamen Nenner gefunden, weshalb es so aussah, daß künftig bei der Definition des Begriffes »im Frieden«, an den der Abzug der US-Truppen gekoppelt war, keine Meinungsverschiedenheiten in der Regierung mehr auftauchen würden. Die Parteien waren sich einig, die Verhandlungen mit den Amerikanern zu nutzen, um die geplante Aufstellung der isländischen Sicherheitskräfte voranzutreiben und diese nach Möglichkeit mit einer Luftkomponente zu versehen, um die militärischen Anlagen bewachen und zu gegebener Zeit die amerikanischen Verteidigungskräfte ablösen zu können58. Bis April 1951 hatten die Amerikaner in alle wichtigen Bedingungen eingewilligt, die von der isländischen Regierung zu Beginn der Verhandlungen gestellt worden waren. Es wurde beschlossen, daß beide Parteien die Verteidigungsvereinbarung 18 Monate nach Beantragung einer Prüfung der internationalen Lage durch die NATO kündigen könnten. Die Keflavik-Vereinbarung sollte aufgehoben werden, worauf die volle Verantwortung für den zivilen Flugbetrieb auf dem Flugplatz an die Isländer übergehen sollte. Die Bedingungen der neuen Verteidigungsvereinbarung bewiesen erneut, daß die Isländer entschlossen waren, durch

56 57

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Thorsteinsson, Utanrikisthjonusta, Bd 1, S. 365-367. NA, DB, 740B.5/2-2051, 740B.5/2-2351, 740B.5/2-2751, Byrns an Lawson, 20.2.1951, Webb an Lawson, 26.2.1951, Lawson an Acheson, 27.2.1951; PTT, Nicht unterzeichnete Aktennotiz einer Sitzung im State Department, 8.3.1951. NA, DB, 7 4 0 B . 5 / 1 0 - 1 7 5 1 , Hughes an State Department, 17.10.1951, 25.1.1952; PBB, Aktennotiz von einer Besprechung mit der Standing Group, 19.9.1950. *

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die Beziehungen zu den Bündnispartnern möglichst wenige Freiheiten einzubüßen, vor allem nicht gegenüber der Supermacht, die im Namen der NATO das Land verteidigen sollte59. Der SEI gelang es nicht, eine wirksame Opposition gegen die Verteidigungsvereinbarung auf die Beine zu bringen. Die verlorene Kampagne gegen den Marshallplan und die NATO hatte die Partei geschwächt und den unterstellten Verrat etwas einfallslos klingen lassen. Dazu kam, daß die Befürworter der nationalistisch-neutralen Haltung im Parlament im Augenblick die Kriegsgefahr als so hoch einschätzten, daß sie den amerikanischen Schutz gerechtfertigt fanden, den man so lange wie nötig und als vorübergehendes Übel — wie die Besatzung in den Jahren 1940-1945 — ertragen mußte60. Am 7. Mai 1951 flogen Transportflugzeuge das erste Kontingent der US-Verteidigungskräfte in Keflavik ein, wo sie stationiert werden sollten. Nach einer Abwesenheit von nur vier Jahren kehrten die amerikanischen Truppen zurück.

7. Der amerikanische Versuch, die militärischen Anlagen auszuweiten 1951-1954 Während der Verhandlungen über die Verteidigungsvereinbarung waren die Amerikaner gezwungen worden, ihre militärischen Forderungen auf ein gewisses, von der isländischen Regierung akzeptierbares Minimum zurückzuschrauben. Im Februar 1952 kam das US-Außenministerium jedoch zu dem Schluß, daß in Island »dringend« weitere militärische Einrichtungen und Truppenteile benötigt würden. Mit der isländischen Regierung sollten Verhandlungen aufgenommen werden, insbesondere bezüglich des Baus eines großen neuen Luftwaffenstützpunktes mit der Bezeichnung »X« im Südosten des Landes einschließlich benachbarter Hafenanlagen und Verbindungsstraßen. Die Truppenpräsenz sollte von 3900 auf 7200 Mann erhöht werden61. Die offiziell als Isländische Verteidigungskräfte (Iceland Defence Forces, IDF) bezeichneten Truppen setzten sich bis dahin etwa wie folgt zusammen: 1 Infanteriebataillon, 1 Abfangjägerstaffel, 1 Marineluftaufklärerstaffel, 1 Fliegerhorstgruppe und technisches Personal für den Betrieb von drei Radarstationen an der Küste62. Die geplante Erweiterung der militärischen Anlagen war Hauptgegenstand der diplomatischen Bemühungen der USA in Island in den Jahren zwischen 1952 und 1954. 59 60 61

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Stjornartidindi, 1951, A 1 3 4 - 1 3 7 , 1 3 9 - 1 4 5 ; Thorsteinsson, Utanrikisbjonusta, Bd 1, S. 369-375. Althingistidindi,1951, A 17,188, 238, Β 86-174. NA, MMB, CCS 660.2, Island (8-20-43), T. 8, Bericht des Joint Strategie Plans Committee, 5.8.1952, Anlage »B«. Ebd., T. 8.

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Die isländische Haltung gegenüber der Verteidigung war in dieser Zeit genauso konfliktgeladen wie während des Zweiten Weltkrieges. Einerseits war die Koalition aus Unabhängigkeits- und Fortschrittspartei 1952 an die Amerikaner herangetreten, den Bau der in der Verteidigungsvereinbarung vorgesehenen militärischen Anlagen in Keflavik zügig voranzutreiben. Da für derartige Projekte bis zu 3000 Arbeitskräfte benötigt wurden, konnte die Regierung die größte Arbeitslosigkeit seit der Zeit vor der britischen Besetzung im Jahr 1940 verhindern. Es ist eigenartig, daß die Bauvorhaben in Keflavik nicht so schnell vorankamen, wie man im Frühjahr 1951 vorgesehen hatte, — und das trotz ununterbrochener amerikanischer Bemühungen um Genehmigung neuer Projekte im Lande. Folglich klagte Außenminister Bjarni Benediktsson 1951/52, die Vereinigten Staaten kämen ihrem Versprechen, das Land in angemessener Weise zu verteidigen, nicht nach. Haushaltsprobleme in Washington und die wenigen Monate pro Jahr, in denen in Island Bauvorhaben verwirklicht werden können, verzögerten die Errichtung von Wohnsiedlungen und Infrastruktur. Aber zwischen 1951 und 1953 erhöhten die Amerikaner allmählich die Zahl ihrer Soldaten von 1600 auf 3526 Mann63. Die Führer der Regierungsparteien sprachen öffentlich von der Absicht, isländische Sicherheitskräfte oder eine Heimatschutztruppe aufzustellen, schienen aber schnell durch die negative Reaktion entmutigt worden zu sein64. Währenddessen hatte die isländische Regierung die US-Anträge für neue militärische Projekte auf Eis gelegt, weil vermutet wurde, daß der ins Auge gefaßte Stützpunkt »X« für Atomangriffe gegen die Sowjetunion vorgesehen war. Während der Flugplatzverhandlungen 1946 hatte das US-Außenministerium ohne Erfolg »gewisse atomare militärische Rechte« für Keflavik beantragt65. Seitdem hatte die isländische Regierung wiederholt darauf hingewiesen, daß sie entschieden gegen die Nutzung des Landes für offensive Operationen sei. Entgegen den USKriegsplänen bestritten die Amerikaner immer, solche Absichten zu haben. Trotzdem hielten sie 1948 die Marshallplanhilfe zurück, um die Genehmigung für die Verlängerung der Start- und Landebahnen in Keflavik für die SAC-Bomberkräfte zu erzwingen66. Geheime Baupläne für Keflavik und den Stützpunkt »X« sahen Einrichtungen für den »Dauereinsatz« je eines mittleren Bombergeschwaders mit Auftankstaffeln sowie Bereitstellungsmaßnahmen für schwere Bomberstaffeln (B36 und RB-36) vor67. Der offensive Wert Islands wurde auch offen von den ver63

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67

NA, DB, 740B.13/2-1952, Aktennotizen Lawson, 5. und 14.2.1952; Thorsteinsson, Utanrikisthjönusta, Bd 1, S. 375, 381. Hermann Jonasson, Vid Hvad, in: Timinn, 11.1.1953; Ellefti landsfundur Själfstaedisflokksins, S. 72 f. NA, DB, 859A.20/8-146, Dreyfus an State Department, 1.8.1946. PBB, Aktennotizen Bjarni Benediktsson (10. und 14.8.1949); NA, MMB, RG 30, Unterlagen des Office of the Secretary of Defense, Adm. Sec. Corresp., Control Sect., Num. File CD 29-1-28, US-Verteidigungsminister an US-Außenminister, 30.8.1948. ΝΑ, MMB, CCS 660.2, Island (8-20-43), T. 7, Mitteilung des Ministers an die Joint Chiefs of Staff, 21.2.1952, Anlage »A«.

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schiedenen US-Vertretern angesprochen, die Außenminister Bjarni Benediktsson veranlaßten, sich Ende 1951 Zusicherungen durch die US-Regierung geben zu lassen68. Das US-Außenministerium, das Auswirkungen auf die hart erkämpfte Verteidigungsvereinbarung befürchtete, ging so weit, dem Außenminister die heimliche Zusicherung zu geben, daß die Einrichtungen in Island nicht ohne Zustimmung der isländischen Regierung für offensive Operationen verwendet würden69. Offensichtlich konnten sich die Isländer unter extremen Bedingungen nicht auf dieses Versprechen verlassen, wobei davon auszugehen war, daß die US-Zusicherungen besser waren als überhaupt keine Zusicherungen70. Im März 1953 fertigte ein norwegischer General, Bjarne A. 0 e n , einen Bericht für die isländische Regierung, in dem er neue und größere Militäranlagen im Lande — und vor allem den Stützpunkt »X« — für erforderlich hielt. General 0 e n stellte sich entschieden hinter alle Anträge der Amerikaner. Nach seinem Dafürhalten kamen sie der Verteidigung Islands zugute, da die Verteidigungsvereinbarung von 1951 dafür keine angemessenen Voraussetzungen geschaffen hatte. Die Regierung schien durch den Bericht des Generals beruhigt und schlug den Amerikanern schließlich vor, die Verhandlungen über ihre Anträge nach den allgemeinen Wahlen im Juni 1953 aufzunehmen. Inzwischen sollten vorbereitende Gespräche über die Möglichkeit der »engen [isländisch-amerikanischen] Zusammenarbeit für die Entwicklung isländischer Produkte und hydroelektrischer Kraftwerke« geführt werden. Es mußten Wege gefunden werden, um für die Vollbeschäftigung der isländischen Bevölkerung nach Abschluß der Verteidigungsprojekte zu sorgen. Mit anderen Worten, die isländische Regierung erwartete von den Amerikanern einen Preis für das Recht zur Erweiterung ihrer militärischen Anlagen71. Der Grund für dieses Vorgehen waren die Schwierigkeiten, die einer Liberalisierung und Entwicklung der isländischen Wirtschaft im Wege standen. 1949 und 1950 war das Land von einer Krise in die andere geschlittert, da der Handel stagnierte und die Fangquoten schrumpften. Die neue Regierung hatte das strategische Interesse der Amerikaner am Land genutzt, um Millionen von Dollar in Form verschiedenster Anleihen und Kredite weit über den von den amerikanischen Wirtschaftsfachleuten vorgesehenen Rahmen hinaus zugewendet zu bekommen. Die Sachverständigen befürchteten, daß es Island an den Ressourcen zur Aufrechterhaltung des Lebensstandards fehlen würde. Das waren keine gewichtigen Argumente für die US-Regierung, die ab 1951 vor allem daran interessiert war, die Präsenz in Keflavik aufrechterhalten und erweitern zu können. Die Isländer kannten diese Absicht und benutzten den Stützpunkt in gewissem Maße als Druckmittel. Andererseits schoben die amerikanischen Wirtschaftsexperten die 68

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NA, DB, 711.56340B/11-1851, Hughes an State Department, 18 und 24.11.1951; siehe auch ebd., 711.56340E/12-2951, Aktennotiz Hughes vom 29.12.1951. NA, DB 711.56340B/11-2451, State Department an Hughes, 21.12.1951; Thorsteinsson, Utanrikisthjonusta, Bd 1, S. 393 f. NA, DB 711.56340E/12-2951, Aktennotiz Hughes, 29.12.1951. Thorsteinsson, Utanrikisthjönusta, Bd 1, S. 383 f.

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chronischen Handelsdefizite teilweise auf das schnelle Investitionsprogramm des Landes. Sie räumten aber auch ein, daß die isländische Regierung sehr um einen ausgewogenen Handel und die Erhaltung der Stabilität bemüht war72. Erstaunlicherweise erhielt Island, das aus dem Zweiten Weltkrieg große Vorteile gezogen hatte, und dem auf seinem Territorium Kriegsschäden erspart geblieben waren, unverhältnismäßig mehr US-Hilfe als jedes andere europäische Land. Tabelle 273 US-Hilfe für Island 1948-1953 (in Mio. Dollar) Zuschüsse, an die keine Bedingungen geknüpft waren Ausgaben durch die Europäische Zahlungsunion Anleihen zu nominalen Zinssätzen Zuschüsse, an die Bedingungen geknüpft waren Hilfeleistungen insgesamt

14,7 15,1 5,3 3,5 38,6

Die isländische Wirtschaft wuchs tatsächlich wieder erheblich, aber die langfristige Entwicklung blieb ungewiß. Der Marshallplan sollte Ende 1952 auslaufen, aber die US-Regierung hatte unter großem Druck von Seiten Islands beschlossen, ein weiteres Jahr Hilfe zu gewähren in der Hoffnung, die Genehmigung für die Erweiterimg der militärischen Anlagen zu erhalten. Gleichzeitig hatten die Amerikaner der Regierung in Reykjavik mitgeteilt, daß Island ab 1953 seine Industrie mit Anleihen und Privatinvestitionen aus dem Ausland weiterentwickeln müsse74. Die isländische Regierung war jetzt darauf aus, diese Entscheidung umzustoßen. Sie wollte sich die amerikanischen Anträge auf militärische Einrichtungen zunutze machen, um das lang gehegte, aber unrealistische Ziel zu verwirklichen, die Fischexporte in die USA mit Unterstützung der US-Regierung zu steigern und sich mehr Hilfe für hydroelektrische Projekte zu sichern, deren Realisierung Voraussetzung für die Entwicklung neuer Industrieprojekte war. Im Hintergrund drohte eine neue und ernsthafte Krise in der isländischen Fischindustrie. 1952 hatten die Isländer ihre Fischereihoheit vor der Küste gegen den Protest der britischen Regierung von 3 auf 4 Seemeilen ausgedehnt. Die britischen Fischer hatten dagegen mit einem Embargo gegen die Einfuhr von isländischem Fisch nach Großbritannien reagiert. Das Embargo war ein schwerer Schlag für die gefährdete isländische Regierung und vergiftete die traditionell engen Beziehungen zwischen den beiden Verbündeten75. Andere NATO-Länder, vor 72

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NA, AID-ECA, Programm für das Haushaltsjahr 1951, EPU-Assist. Iceland, Office of the Dir., Sub. Files, Box 11, Brunner an Mendenhall, 10.4.1951, Mendenhall an Brunner, 9.5.1951; ebd., Funds — Congr. Pres., Mission to Iceland, Box 7, Aktennotiz Woodbridge an Harriman, 14.3.1952. Asgeirsson, Efnahagsadstodin, S. 64. NA, AID-ECA, Eco. Cond. Iceland 1952-1955, Box 4, Aktennotiz Lawson, 14.7.1952; ebd., DB, 704B.13/2-1952, Aktennotiz Lawson, 14.2.1952. Thor, The Extension.

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allem die USA, waren besorgt, daß der Fischereistreit der SEI zu neuem Auftrieb verhelfen und die Mitgliedschaft Islands im Bündnis gefährden könnte76. Sicher waren die Beziehungen zwischen Island und den Vereinigten Staaten sehr durch die Gefahr eines Weltkrieges, die großzügige amerikanische Hilfe und durch die wirtschaftlichen Auswirkungen des militärischen Ausbaus von Keflavik gefestigt worden. Tabelle 217

Isländische Deviseneinnahmen durch die US-Verteidigungskräfte (Prozentualer Anteil an den Gesamthandelseinnahmen) Jahr 1951 1952 1953 1954 1955 1956 1957 1958

Prozent 1,01 10,25 19,91 16,56 17,28 12,73 8,94 11,49

Trotzdem war die amerikanische Position in Island nicht unverwundbar. Die Widersprüche und Probleme der Beziehungen während des Krieges waren schnell wieder zutage getreten. Sobald die amerikanischen Truppen und die zivilen Arbeitskräfte im isländischen Alltag in Erscheinung traten, wuchs in der Öffentlichkeit die Verstimmtheit über die ausländische Präsenz, obwohl es zu keinen größeren Zwischenfällen kam. Erneut erwiesen sich die Beziehungen zwischen den Soldaten und den isländischen Frauen als der heikelste und widersprüchlichste Aspekt der ausländischen Präsenz78. In einigen Ländern, in denen die USA Truppen stationiert hatten, begegnete man schwarzen Amerikanern mit besonderer Feindschaft. Das war jedoch in Island kein Problem. Wie während des Krieges hatte die isländische Regierung darauf bestanden, daß »keine [...] farbigen Soldaten nach Island geschickt werden« 79 . (In den siebziger Jahren wurde die isländische Regierung durch die Gleichstellungsgesetzgebung in den Vereinigten Staaten allmählich gezwungen, diese Forderung aufzugeben, die jahrelang von afroamerikanischen Organisationen angegriffen und auch publik gemacht worden war80.) Die SEI, die durch ihren Stalinkult und ihre prosowjetische Haltung in Mißkredit geraten war, hatte den öffentlichen Unmut nicht zu ihren Gunsten nutzen können. Als sich jedoch die Parlamentswahlen von 1953 näherten,

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NA, DB, 740B.022/8-154, State Department an Botschaft London, 4.8.1954. Sigurpälsson, Herinn og hagkerfid. Nuechterlein, Island, S. 109-113. NA, DB, 740B.5/5-251, Lawson an State Department, 2.5.1951. Whitehead, Kynthättastefna Islands.

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zeichneten sich entscheidende Entwicklungen ab, durch welche eine neue Ära in der isländischen Politik anbrach. Zum einen bildeten die nichtkommunistischen Neutralisten eine eigene Partei, die Nationale Verteidigungspartei, die sich zum Ziel gesetzt hatte, die zunehmenden zivil-militärischen Spannungen nationalistisch mit sozialdemokratischem Unterton auszuschlachten. Zweitens versuchte die Arbeiterpartei unter dem neuen linken Vorsitzenden Hannibal Valdimarsson, der Nationalen Verteidigungspartei den Rang abzulaufen. Die Arbeiterpartei faßte einen Beschluß, der die Abschottung der US-Verteidigungstruppen von der isländischen Bevölkerung und die Ablehnung aller amerikanischen Forderungen nach neuen Anlagen vorsah. Drittens reagierte die Nationalkonferenz der an der Regierung beteiligten Fortschrittspartei ebenfalls merklich auf die neuen nationalistischen Strömungen, indem sie eine ähnliche Resolution wie die Arbeiterpartei faßte. Viertens schloß die Sowjetunion mit Island ein Handelsabkommen, mit dem sie offensichtlich das britische Fischembargo wettmachen wollte81. Innerhalb kürzester Zeit hatte sich die politische Lage in Island erheblich verändert, und die Amerikaner befürchteten eine neue Aushöhlung ihrer Position82. Die Wahlen bestätigten diese Befürchtungen bis zu einem gewissen Grad, was die Amerikaner allmählich erkennen mußten. Vor allem die neue Nationale Verteidigungspartei durchbrach das erstarrte Wahlschema und sicherte sich zwei Sitze im Althing, während die Fortschrittspartei die entsprechende Anzahl an Mandaten verlor. Die SEI erlitt auch erstmalig einen Einbruch. Die Fortschrittspartei setzte mürrisch ihre Zusammenarbeit mit der Unabhängigkeitspartei fort, bestand jedoch auf dem Außenministerium, um ihr Wahlversprechen zu halten und der nationalistischen Herausforderung entgegenzutreten. Diese Entwicklung änderte den Verlauf der Verhandlungen über neue militärische Anlagen, die 1954 endlich aufgenommen wurden. Auf Drängen des neuen Außenministers, Kristirm Gudmundsson, eines engen Freundes des Parteivorsitzenden Hermann Jönasson, mußten die Amerikaner ihren Antrag auf einen Stützpunkt »X« zurückziehen und strenge Bestimmungen hinnehmen, die auf die Einschränkung der Kontakte zwischen Isländern und amerikanischen Soldaten abzielten. Schließlich mußten die Amerikaner alle größeren Projekte in Island über einen isländischen Generalunternehmer abwickeln. Auf diese Weise stellten die Regierungsparteien sicher, daß die Gewinne aus den US-Baumaßnahmen größtenteils Island zugute kamen und zivile amerikanische Arbeitskräfte ersetzt wurden. Die Genehmigung neuer Einrichtungen in beschränktem Umfang und eine Erhöhung der zulässigen Truppenstärke auf 7200 Mann waren für die Amerikaner ein kleiner Trost83. Tatsächlich schöpfte die US-Regierung diese Genehmigung nie voll aus. 81 82

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Ebd., S. 118-120,146-148; Thorarinsson, Sokn, Bd 2, S. 235-237. NA, DB 7 4 0 B . 0 0 / 4 - 1 7 5 3 , Hughes an State Department, 17.4.1953; ebd., 7 4 0 B . 5 / 1 2 - 1 0 5 3 , Smith an Streibert, USIA, 10.12.1953. Thorsteinsson, Utanrikisthjönusta, Bd 1, S. 386-398; NA, DB, 740B.5/1-2854, Aktennotiz Bonbright, 28.1.1954; ebd., 7 4 0 B . 5 / 2 - 9 5 4 , 5 / 3 - 2 9 5 4 , Lawson an State Department, 9.2.,

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8. Das Althing besteht auf dem Abzug der Amerikaner In den Jahren 1954-1956 zeichneten sich gegenläufige Tendenzen in der isländisch-amerikanischen Zusammenarbeit auf dem Verteidigungssektor ab. Zu den schon erwähnten Faktoren kam, daß sich die internationale Lage nach Stalins Tod zu bessern schien. Der »Geist von Genf« bewirkte zunehmenden Druck auf die Arbeiter- und die Fortschrittspartei, die 1951 in einer Notlage gerechtfertigte amerikanische Präsenz zu reduzieren oder zu beenden. Am einschneidendsten war, daß Hannibal Valdimarsson 1954 eine linksgerichtete Mehrheit mit der SEI im einflußreichen Isländischen Gewerkschaftbund bildete, nachdem er als Vorsitzender der Arbeiterpartei abgesetzt worden war. Hannibal Valdimarsson, der die Politik der »Einheitsfront« verfolgt hatte, wurde kurz vor den allgemeinen Wahlen 1956 aus der Arbeiterpartei ausgeschlossen, nachdem er ein Wahlbündnis mit der SEI unter der Bezeichnung »Volksallianz« gebildet hatte. Geichzeitig geriet die nicht ganz harmonische Koalition zwischen der Unabhängigkeits- und der Fortschrittspartei unter Premierminister Olafur Thors wegen der Forderungen der Fortschrittspartei nach Rückkehr zu einer straffer gelenkten Wirtschaft zunehmend in Schwierigkeiten. Die Regierung war auch aufgrund eines Streiks der Arbeiter stark angeschlagen. Es zeigte sich erneut, daß die SEI und ihre neuen Partner, die »Hannibaliten« großen Einfluß auf das Wirtschaftsleben des Landes ausübten. Diese innenpolitischen Entwicklungen und der »Geist von Genf« ebneten allmählich den Weg für eine linke Regierung unter dem Führer der Fortschrittspartei, Hermann Jonasson, der erneut zu einer neutralistischen Haltung neigte, nachdem er sich nach Ausbruch des Koreakrieges von der SEI abgewendet hatte. Die Amerikaner machten sich Sorgen über diese Entwicklung und versuchten vergebens, dem Vormarsch der Linken durch verschiedenartigste Einflußnahme auf Gewerkschaften und Studenten entgegenzuwirken. Der militärische Druck auf die isländische Öffentlichkeit war weitgehend zurückgedrängt worden, nachdem die amerikanischen Soldaten ihre Hauptstützpunkte nicht verlassen durften, aber die Verbesserung der zivil-militärischen Beziehungen schien die Opposition kaum mit der militärischen Präsenz versöhnt zu haben84. Im März 1956 gipfelte diese Entwicklung darin, daß die Fortschrittspartei der Regierung Thors die Gefolgschaft versagte. Die Fortschrittlichen brachten zusammen mit der oppositionellen Arbeiterpartei eine Resolution im Althing ein, in der die Revision des Schutzabkommens mit den Vereinigten Staaten gefordert wurde. Die US-Streitkräfte sollten aus Island abgezogen werden, und Island wollte die Bewachung und Erhaltung der Verteidigungsanlagen übernehmen, ohne irgendwelche militärischen Funktionen auszuüben. Die Resolution wurde mit

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29.3.1954; ebd., 740B.5/3-2954, 5 / 4 - 8 5 4 , State Department an Lawson, 29.3., 6.4., 6.5. und 14.5.1954; Nuechterlein, Island, S. 125-133. Ebd., S. 131-148; Thorarinsson, Sokn, Bd 2, S. 257-265; NA, DB, 6 1 1 . 4 0 B / 1 2 - 2 7 5 4 , 711.56340B/1-656, Muccio an State Department, 27.12.1954,6.1.1956.

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den Bedingungen des NATO-Beitritts (das heißt der von der US-Regierung akzeptierten Erklärung, daß im Frieden keine Streitkräfte im Land stationiert werden dürften) und dem Ende der durch den Koreakrieg bedingten Krisenlage begründet85. Im Parlament stimmte nur die Unabhängigkeitspartei gegen diese Resolution. Den Vereinigten Staaten und der NATO schien nicht mehr viel Spielraum für Verhandlungen zu bleiben: Es war ja vereinbart, daß das Schutzabkommen auslauten würde, wenn innerhalb von sechs Monaten nach Antrag auf Revision keine Einigung erzielt wurde86. Die Resolution erwies sich als erste Maßnahme einer Wahlstrategie, mit der die Fortschritts- zusammen mit der Arbeiterpartei die Regierung zu übernehmen plante. Die beiden Parteien bildeten ein taktisches Bündnis, welches das veraltete Wahlsystem für seine Zwecke nutzen wollte. Das Endziel war, die Mehrheit im Parlament zu gewinnen, indem sich die Nationalisten für die Arbeiterpartei im Kampf gegen die Volksallianz verwenden sollten87. Der lange und harte Wahlkampf erregte internationales Aufsehen. Der geforderte Rückzug der US-Streitkräfte wurde in weiten Kreisen als Sieg für die Sowjets angesehen, die lautstark den Beschluß des Althing als Verdienst ihrer »Friedensoffensive« priesen. Es wurde befürchtet, daß der Abzug der Amerikaner ein großes Loch in das nördliche Verteidigungssystem der NATO reißen, den Zusammenhalt der westlichen Allianz gefährden und das kleine, aber strategisch wichtige Island in die Einflußsphäre der UdSSR rücken würde, was auf dem Handelssektor schon bis zu einem gewissen Grad der Fall war 88 . Obwohl der amerikanische Präsident Dwight D. Eisenhower und Außenminister John Foster Dulles in ihren öffentlichen Erklärungen sehr darauf bedacht waren, den Weg zu einem Kompromiß offenzuhalten, legten die USA alle Neubaumaßnahmen in Keflavik auf Eis. Damit wurde den Isländern während der Wahlkampagne ein nachhaltiger Denkzettel verpaßt. Ihre Abhängigkeit von den Dollareinnahmen durch Keflavik hatte ihren Höhepunkt erreicht, als eine weitere wirtschaftliche Krise durch die mit einem Streik 1955 erwirkten erheblichen Lohnerhöhungen ins Haus stand. Die isländisch-amerikanischen Beziehungen waren in eine Krise geraten89. Die Unabhängigkeitspartei mobilisierte ihren mächtigen Parteiapparat nach Kräften und schlug aus der negativen westlichen Reaktion auf den Beschluß des Althing Kapital. Mit Hilfe der führenden Zeitung beschuldigte die Partei die Fort-

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Althingistidindi, 1955, A 668; Nuechterlein, Island, S. 148-154. Althingistidindi, 1955, D 224-51. Thörarinsson, Sokn, Bd 2, S. 258-261, 266 f.; Thörarinsson, Interview, 27.2.1985; Stefänsson, Minningar, Bd 2, S. 102-104. NA, DB, 711.56340B/5-356, Aisley (Oslo) an State Department, 3.5.1956; ebd., 740B.00/6-2756, Abbot (Stockholm) an State Department, 27.6.1956; ebd., 711.56340B/5-556, Dulles (Paris) an State Department, 5.5.1956; ebd., 711.56340B/7-256, Coe (Kopenhagen) an State Department, 2.7.1956; Izvestija, Moskau, 28.6.1956. Nuechterlein, Island, S. 156-161; NA, DB, 740B.OO/4-656, State Department an Botschaft Paris, 6.4.1956.

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schritts- und die Arbeiterpartei, sich den Kommunisten unterworfen zu haben und die Sicherheit und Wirtschaft des Landes aufs äußerste zu gefährden. Die eindeutig westliche Option brachte der Unabhängigkeitspartei 42,4 Prozent der Wählerstimmen, einen Gewinn von 5,3 Prozent, hauptsächlich im stärker besiedelten Südwesten. Die neu gebildete Volksallianz schnitt mit 19,2 Prozent ebenfalls recht gut ab und bewirkte auch bei der SEI einen Stimmengewinn von 3,1 Prozent. Das aus taktischen Gründen gebildete Mitte-Links-Bündnis aus Fortschritts- und Arbeiterpartei schnitt mit 33,9 Prozent überraschend schlecht ab und verlor gegenüber dem Stimmenanteil der beiden Parteien im Jahr 1953 zusammen 3,6 Prozent. Der Beschluß des Althing brachte dem Mitte-Links-Block eine Parlamentsmehrheit, aber zum Glück war es gelungen, die Nationale Verteidigungspartei aus dem Parlament zu verdrängen90.

9. Bemühen der Linksregierung um einen Kompromiß Im Juli 1956 bildete der Führer der Fortschrittspartei, Hermann Jonasson, eine Linkskoalition mit der Arbeiterpartei und der Volksallianz. Das war für die Amerikaner eine schlimme Überraschung, da sie nicht mit der Möglichkeit gerechnet hatten, daß die Volksallianz an einer Koalition beteiligt werden würde. Ihr Bemühen in letzter Minute, dies mit Hilfe von alliiertem Druck auf die MitteLinks-Parteien zu verhindern, fruchtete nichts91. Die Regierung schuf — wie erwartet — die Voraussetzungen für den Abzug der US-Verteidigungskräfte, aber die NATO-Mitgliedschaft wurde nicht in Frage gestellt. Die Regierung versprach, die isländische Fischereihoheit auf 12 Meilen auszudehnen (was schwerwiegende Auseinandersetzungen mit zwei NATO-Partnern, Großbritannien und Deutschland, erahnen ließ), die Trawlerflotte zu erneuern und neue Elektrifizierungs-, Industrie-, Landwirtschafts- und Hafenbauprojekte auf den Weg zu bringen. Dieses großartige Programm angesichts steigender Inflation sowie schwerwiegender Haushalts- und Handelsdefizite war vergleichbar mit dem 1953 von der Regierung vorgetragenen Plan, der als Preis für die militärische Expansion der Amerikaner nach Beendigung der Marshallplanhilfe entworfen worden war. Das Ziel des neuen Planes war, den Isländern Alternativen zur »entwürdigenden« Arbeit an Militärprojekten zu bieten, aber die Amerikaner befürchteten, daß Island durch die versprochene Erhöhung der Fischproduktion noch stärker von osteuropäischen Märkten abhängig würde92. Kaum waf Hermann Jonasson an der Macht, als schon die Spekulationen über die Finanzierung des Programms der Regierung begannen. Es war klar, daß das Land eine riesige Anleihe benötigte, um die Wirtschaft überhaupt über Wasser 90 91

92

Nuechterlein, Island, S. 158-162. NA, DB, 740B.00/5-1656, Gibson an State Department, 16.5.1956; Heinemann, Die NATO, S. 8. Thorarinsson, Sokn, Bd 2, S. 270-273; Nuechterlein, Island, S. 167-169; NA, DB, 74OB.00/7-356, Muccio an State Department, 4.7.1956.

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zu halten, — ohne überhaupt irgend eine weitere Entwicklung ankurbeln zu können. Die Möglichkeit sowjetischer Hilfe wurde nicht ausgeschlossen. Wie schon früher erwähnt, hatte der Ostblock seinen Handel mit Island nach Wirksamwerden des britischen Fischembargos erheblich erweitert. 1956 gingen 29,9 Prozent der isländischen Exporte in kommunistische Länder, von denen Island wiederum 26,4 Prozent seiner Importe bezog, darunter so notwendige Güter wie Öl. Der Ostblock war nicht nur bestrebt, seinen Einfluß auf die isländische Wirtschaft zu verstärken, sondern auch die diplomatischen und politischen Aktivitäten mit der eindeutigen Absicht, Island so weit wie möglich aus der westlichen Allianz herauszulösen93. Die beiden Themen, Revision des Schutzabkommens und Finanzierung des Regierungsprogramms, waren von Beginn an miteinander verknüpft94. Das US-Außenministerium entschied sich für eine härtere Gangart gegenüber der neuen Regierung, was auch die Führung der Unabhängigkeitspartei hinter den Kulissen den Bündnispartnern zu tun riet. Die Vereinigten Staaten empfahlen den alliierten Regierungen im Geheimen, dem kommunistisch angehauchten Kabinett keine wirtschaftliche oder moralische Rückendeckung zu gewähren. Island sollte innerhalb des Bündnisses durch Nichtweitergabe VS-eingestufter Unterlagen und durch Ausschluß des isländischen NATO-Botschafters von wichtigen Sitzungen isoliert werden95. Im Juli 1956 faßte der NATO-Rat, der laut Schutzabkommen beratend angerufen worden war, eine Resolution, die nachhaltig den Verbleib der US-Streitkräfte in Island empfahl. Er warnte vor der Ausdehnung des sowjetischen Machteinflusses. Angesichts der weiterhin kritischen innenpolitischen Lage sei der Stützpunkt Keflavik für die Verteidigung Westeuropas und des Nordatlantikraumes von ausschlaggebender Bedeutung96. Im September kam der kanadische Außenminister Lester Pearson dieser Empfehlung nach, indem er mit westlich orientierten Kreisen in Reykjavik »Privatgespräche« führte. Zusammen mit den größten NATOLändern bemühte sich Pearson um eine für beide Seite akzeptable Kompromißlösung97. Während die NATO-Partner ihren Einfluß auf die isländische Regierung in verschiedenster Weise geltend machten, taten die Fortschrittspartei und insbesondere die Führung der Arbeiterpartei ihr Bestes, um die Verbündeten zu beruhigen und die Krisenstimmung zu bannen. Schließlich standen die führenden Köpfe der beiden Parteien dem geforderten Rückzug der US-Streitkräfte aus Island 93

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96 97

Verzlunarskyrslur, 1956, S. 27 f.; Whitehead, Austurvidskipti; Snaevarr/Ingimundarson, Lidsmenn Moskvu, S. 225-291. NA, DB, 740B.007-356, Muccio an State Department, 4.7.1956; ebd., 7 4 0 B . 0 0 / 9 - 1 3 5 6 , 840B.10/9-1756, Gibson an State Department, 13. und 17.9.1956. Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Bonn (PA-AA), Abt. 2 / 2 0 3 , Bd 20, Aktennotiz Maenss, 1.8.1956, Aktennotiz Lupin, 16.8.1956; Thor Thors, Tagebucheintrag 14.8.1956 (im Besitz des Verf.). Department of State Bulletin, XXXV, Nr. 895 (20.8.1956), S. 308 f. Jonsson, A milli, S. 152; NA, DB, 740B.00/10-1856, Aktennotiz Gibson, 18.10.1956; Heinemann, Die NATO, S. 10.

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entweder skeptisch gegenüber oder lehnten diesen ganz ab. Diese »Rechten« waren jedoch durch Parteidisziplin gezwungen worden, nicht gegen die überstürzt getroffene Resolution des Althing vom März 1956 zu opponieren, da man gehofft hatte, im Parlament eine Mehrheit zu erreichen. Obwohl dieses Ziel verfehlt wurde, scheint die Resolution zumindest teilweise einen weiteren Stimmengewinn der Nationalisten verhindert zu haben, für die die Zeit des Aufwindes vorüber war98. Das war aber auch auf die Atmosphäre im Land zurückzuführen, die sich vor den Wahlen zu ändern begonnen hatte. Die Unabhängigkeitspartei sprach sich weiter für das Schutzabkommen aus, indem sie auf die negative Reaktion des Westens auf den Eintritt der Volksallianz in die Regierung und den Widerstand des NATORates gegen den Abzug der US-Streitkräfte hinwies. Neue weltweite Spannungen wegen des Suezkanals schienen den Erklärungen der Unabhängigkeitspartei zusätzliches Gewicht zu verleihen. Schon während des Wahlkampfes waren die Mitte-Links-Parteien in die Defensive geraten, als sie feststellen mußten, daß ihr Versprechen »die Truppen nach Hause zu schicken« nicht so populär war, wie sie gedacht hatten". Die Wahlergebnisse ließen den Schluß zu, daß die Arbeiterpartei wegen des Schutzabkommens Stimmen an die Unabhängigkeitspartei hatte abgeben müssen100. Das war ein sehr schlechtes Omen für eine Partei, die befürchten mußte, wegen eines Wahlsystems, das die ländlichen Wahlkreise favorisierte, aus dem Parlament verdrängt zu werden. Das Bündnis der Arbeiterpartei mit der Fortschrittspartei war nur eine vorübergehende Maßnahme, und der linke Kern hatte sich ohnehin schon der Volksallianz zugewendet. Die Stammwähler der Arbeiterpartei waren überzeugte Antikommunisten, und die Parteiführung mußte deshalb den Eindruck vermeiden, der Volksallianz in außenpolitischen Fragen zu weit entgegenzukommen. Die Arbeiterpartei konnte es sich einfach nicht leisten, keine Rücksicht auf die Drohung der ermutigten Rechten zu nehmen, da dies fatale Auswirkungen auf die Partei hätte haben können. Sie war auch sehr empfänglich für den Druck, der von ihren dänischen und norwegischen Partnern ausgeübt wurde, die ihr Vorgehen zum Teil mit den Amerikanern koordinierten. Die vielpublizierte Tatsache, daß ein amerikanischer Rückzug aus Keflavik die norwegische Verteidigung unterminieren würde, verletzte zutiefst die skandinavische Solidarität, der sich die isländische Arbeiterpartei voll verpflichtet fühlte101. All diese Faktoren schienen den Lauf der Dinge in den entscheidenden Monaten nach der Bildung der Linkskoalition zu bestimmen.

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Gröndal, Örlög Islands, S. 203, 207 f.; Stefänsson, Minningar, Bd 2, S. 104,108 f.; Thorarinsson, Interview, 27.2.1985; PTT, Rede Emil Jonsson bei einer Sitzung mit Dulles, 3.10.1956. Nuechterlein, Island, S. 169-175. Thorarinsson, Sökn, Bd 2, S. 268. NA, DB, 711.56340B /5-356, Aisley (Oslo) an State Department, 3.5.1956; ebd., 711.56340B/5-456, Dulles an State Department, 4.5.1956; ebd., 711.56340B/7-256, Coe (Kopenhagen) an State Department, 2.7.1956; Fridriksson, Undirheimar, S. 126; Stefänsson, Minningar, Bd 2, S. 110 f.

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Als die Arbeiterpartei den führenden Mann ihres rechten Flügels, Gudmundur I. Gudmundsson, zum Außenminister der neuen Regierung ernannte, äußerte einer seiner früheren Genossen, der jetzt zur Führung der Volksallianz gehörte, in privater Runde: »Zum Teufel [...] Ich glaube, er verrät unsere Sache102.« Damit schätzte er die Lage richtig ein, denn Gudmundur Gudmundsson bestätigte später, daß er mit dem Entschluß in die Regierung eingetreten war, »seinen Einfluß gegen diesen Plan [den geforderten Abzug der US-Verteidigungskräfte] geltend zu machen«103. Die meisten unter den führenden Mitgliedern der Arbeiter- und der Fortschrittspartei wären nicht bereit gewesen, sich Gudmundur Gudmundsson in der Mißachtung der Althing-Resolution anzuschließen, aber sie waren sicher an einem Kompromiß mit den Amerikanern interessiert. Dafür gab es unterschiedliche Gründe. Einige, allen voran Premierminister Hermann Jonasson, identifizierten sich wirklich mit dem Ziel der Resolution, aber andere erachteten einen Kompromiß als einzig gangbare Lösung angesichts der offiziellen Beschlußfassung des Althing, der latenten Ablehnung der ausländischen Präsenz durch die Bevölkerung und der Notwendigkeit der Zusammenarbeit mit der Volksallianz und den mächtigen Gewerkschaften. Die Befürworter eines Kompromisses innerhalb und außerhalb der Regierung beruhigten sich nun und übermittelten den verbündeten Regierungen auf den verschiedensten Kanälen Zeichen. Die Minister der Fortschritts- und der Arbeiterpartei formulierten nie einen endgültigen Vorschlag für die Revision des Schutzabkommens, aber es waren mehrere Vorstellungen für einen Kompromiß im Umlauf, welche die verschiedenen Ansichten innerhalb der Regierung widerspiegelten. Den meisten lag die Keflavik-Vereinbarung von 1946 zugrunde. Anfänglich neigte Premierminister Hermann Jonasson offensichtlich zu einer »Auslaufphase« über die Länge der Wahlperiode von vier Jahren, aber aus verständlichen Gründen wollte sich der Außenminister hinsichtlich des Zeitraumes nicht festlegen. Mit Abzug der USTruppen sollten amerikanische Zivilisten — »Techniker« — teilweise an die Stelle der Soldaten treten, vor allem in den Radarstationen an der Küste. Diese Stationen gehörten zum lebenswichtigen Frühwarnsystem, welches Nordamerika gegen Atomangriffe aus der Luft schützte. Der Stützpunkt Keflavik sollte ebenfalls für alliierte Luftstreitkräfte betriebsbereit gehalten und reihum von Luftwaffenverbänden genutzt werden. Schließlich tauchte auch die alte Vorstellung von der Aufstellung isländischer Sicherheitskräfte als Kern aller Kompromißvorschläge auf. In einem Notfall sollten NATO-Truppen zu Hilfe kommen, wie dies beim NATO-Beitritt Islands von den amerikanischen Militärs vorgesehen worden war104. 102 103 104

Olgeirsson, Island i skugga, S. 339. Fridriksson, Undirheimar, S. 127. NA, DB, 740B.00/5-2756, Muccio an Parson, 27.6.1956; ebd., 740B.00/9-1356, Knight an State Department, 23.8.1956, und Aktennotiz Benedikt Gröndal an Bjarne Braatoy; siehe ebd., Muccio an Stanford, 13.9.1956; ebd., 740B.00/9-2656, Aktennotiz Stanford über eine Unterredung mit Vilhjälmur Thor, 26.9.1956; PA-AA, Abt. 2 / 2 0 3 , Bd 17, Aktennotiz Kurt Oppler, 10.8.1956; Fridriksson, Undirheimar, S. 126 f.

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Bemühungen der Mitte-Links-Parteien, im Ausland um Vertrauen für die Linkskoalition zu werben, waren nicht vergebens. Im September 1956 legte die NATO ihren Plan ad acta, wonach keine der Geheimhaltung unterliegenden Dokumente nach Reykjavik weitergeleitet werden sollten. Der amtierende Außenminister Emil Jonsson, der seinen Parteigenossen Gudmundur I. Gudmundsson während einer Krankheit vertrat, hatte die Zusicherung gegeben, daß die NATO-Dokumente nicht in die Hände der Kabinettskollegen von der Volksallianz geraten würden. Das bedeutete für den Minister und seinen ebenfalls antikommunistischen und für die NATO votierenden vorübergehenden Vertreter kein Zugeständnis. Die Isländer hatten nie an den allgemeinen militärischen Verhandlungen teilgenommen, und das Außenministerium hätte unter keinen Umständen irgend jemand von der Volksallianz in NATO-Geheimnisse eingeweiht105. Tatsächlich war nur der Fischereiminister Lüdvik Josepsson Kommunist, der Kontakte mit den Sowjets unterhielt, während Hannibal Valdimarsson, der andere Minister aus den Reihen der Volksallianz, ein nationalistischer linker Sozialdemokrat blieb. Trotz der Absprache über VS-Dokumente bestand der NATO-Rat nach einem US-Antrag auf Nichtzulassung des isländischen Vertreters zu einigen wichtigen Sitzungen106. Von August 1956 an versuchte die isländische Regierung mit aller Macht, von Deutschland und später von Frankreich Anleihen zu Sonderbedingungen gewährt zu bekommen. Es ging dabei eindeutig darum, die Position der Regierung gegenüber den Vereinigten Staaten zu stärken. Kanzler Konrad Adenauer hatte im Frühjahr 1956 zu verstehen gegeben, daß er zur Gewährung eines Kredites in Höhe von 100 Millionen DM bereit sei. Es war dem Kanzler offensichtlich darum gegangen, die Position von Premierminister Olafur Thors zu stärken, mit dem er ausgezeichnete Beziehungen unterhielt107. Nun wurde unter der Hand bekannt, daß weder die Deutschen noch die Franzosen zur Gewährung von Anleihen zu Sonderbedingungen an die isländische Linkskoalition gegen den ausdrücklichen Wunsch der Vereinigten Staaten bereit seien108. Die Unterhändler der Regierung, die alle auf Islands Loyalität gegenüber der NATO abhoben, mußten auch feststellen, daß die Weltbank für sie verschlossen war. Das US-Außenministerium hatte die Fäden bei der Bank gezogen und war sogar so weit gegangen, auf New Yorker Banken Einfluß zu nehmen, keine routinemäßigen Handelskredite mehr an die isländische Nationalbank zu gewähren109. Die Amerikaner waren entschlossen, die isländische Regierung zu zwingen, ihr wirtschaftliches Überlebens- und Entwicklungsprogramm an Verhandlungen über die Neufassung des Schutzabkommens zu knüpfen. Thorsteinsson, Utanrikisthjonusta, Bd 2, S. 571 f. Heinemann, Die NATO, S. 9. 107 Helgi P. Briem an [Olafur Thors], 20.7.1956, Dokumente von Premierminister Olafur Thors (im Besitz des Verf.). 108 PA-AA, Abt. 2/203, Bd 17, Bd 4, Aktennotiz Hilger van Scherpenberg, 8.8.1956, Aktennotiz Lupin, 9.8.1956; NA, DB, 840B.10/9-1156, Perkins (Paris) an State Department und State Department an Perkins, 13.9.1956. 109 NA, DB, 840B10/7-1356, Hoover an Black, 13.7.1956; ebd., 840B.00/7-2456, Aktennotiz Elbrick, 30.7.1956; ebd., 840B.10/8-2056, Aktennotiz Beam, 20.8.1956. 105 106

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Trotz der westlichen Befürchtungen wegen des zunehmenden wirtschaftlichen Einflusses der Sowjets in Island schreckten die Amerikaner nicht vor der Aussicht zurück, daß sich die Isländer wegen Krediten an den Sowjetblock wenden könnten, wofür sich die SEI aussprach. In Moskau hatte man dem SEI-Vorsitzenden offensichtlich zu verstehen gegeben, daß die Sowjetunion zur Finanzierung des neuen hydroelektrischen Projektes bereit sei, was die isländischen Verhandlungsführer in Bonn und Paris schon ins Gespräch brachten110. Der Versuch, die »sowjetische Karte« auszuspielen, um Kredite gewährt zu bekommen, hat der Regierung nichts genützt. Im Oktober 1956 nahmen Delegationen unter Führung von Emil Jonsson und John Foster Dulles Vorverhandlungen über die Verteidigungsfrage in Washington auf. Gleichzeitig führte Vilhjälmur Thor, Direktor der isländischen Nationalbank und führendes Mitglied der Fortschrittspartei, Gespräche mit US-Vertretern über die finanziellen Nöte und Marktprobleme des Landes. Von Vilhjälmur Thor wußte man, daß er entschieden gegen den Abzug der US-Soldaten von Keflavik war. Er genoß den Ruf, »der beste Freund Amerikas in Island« zu sein und vertrat die Interessen der Kooperativen Föderation (dem finanziellen Rückgrat der Fortschrittspartei), die sich stark im lukrativen Verteidigungssektor sowie dem isländischen Handel mit den Vereinigten Staaten engagiert hatte111. Bei den Gesprächen mit den isländischen Vertretern brachten die Amerikaner das Thema Hilfe unmittelbar mit der zufriedenstellenden Lösung des Verteidigungsproblems in Zusammenhang. Bei einem Entgegenkommen der Linkskoalition wollten sich die Vereinigten Staaten — wie Deutschland — zu einer finanziellen Unterstützung Islands und zur Suche nach Wegen zur Verringerung der zunehmenden Abhängigkeit vom sowjetischen Markt bereit zeigen. Dulles wies erneut darauf hin, daß die Vereinigten Staaten nicht auf der Aufrechterhaltung des Status quo bestehen würden, da sie eine mögliche Reduzierung der Verteidigungskräfte nach schon von den Joint Chiefs of Staff ausgearbeiteten Plänen ins Auge gefaßt hatten112. Außenminister Emil Jonsson hoffte aufrichtig, eine Vereinbarung »im Rahmen der Resolution des Althing vom 28. März 1956« treffen zu können. Emil Jonsson hatte eine Kompromißlösung auf dieser Basis schon gegenüber dem kanadischen Außenminister Pearson angesprochen, der enge Verbindung mit Dulles hielt113. Die Vorgespräche in den Vereinigten Staaten endeten erwartungsgemäß ohne feste Vereinbarung. Aber die Atmosphäre war freundlich, und die Spannungen in den isländisch-amerikanischen Beziehungen hatten sich verflüchtigt. Trotz ihres no Olgeirsson, Island i skugga, S. 341 f. NA, DB 859A.20/10-1345, Dreyfus an State Department, 13.10.1945; ebd., 740B.00/9-2656, Aktennotiz Stanford, 26.9.1956. 112 NA, DB, 711.56340B / 1 0 - 1 5 6 , Dulles und andere, Aktennotiz einer Unterredung mit Emil Jonsson, 1.10.1956; ebd., 840B.00/10-256, Prochnow und andere, Aktennotiz einer Unterredung mit Thor, 2.10.1956; ebd., 711.56340B/10-356, Hoover und andere, Aktennotiz einer Unterredung mit Jonsson, 3.10.1956. in P T T / Besprechung im State Department, 1.10.1956; Jonsson, A milli, S. 151 f., 156 f. 111

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bestimmten Vorgehens waren die Amerikaner schließlich zur Annahme der Bedingungen gezwungen, die von der Mehrheit der isländischen Regierung als annehmbar und als politisch durchsetzbar erachtet wurden114. Diese Mehrheit war nachdrücklich auf die Fortsetzung der verteidigungspolitischen Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten und die dadurch gewährten Hilfsmaßnahmen und DollarAnleihen in Millionenhöhe bedacht, die der US-Vertreter während der Gespräche in Washington in Aussicht gestellt hatte. Die bevorstehende Einstellung aller Verteidigungsprojekte in Keflavik zusammen mit einer sich schnell abzeichnenden finanziellen Krise setzte die isländische Regierung dabei unter Druck. Vor allem sahen jedoch die der Fortschritts- und der Arbeiterpartei angehörenden Minister wirklich die Notwendigkeit, ihr unter strategischen Gesichtspunkten wichtiges Land auf irgendeine Weise zu schützen. Sie hatten die Kündigung des Schutzabkommens nur als letzten Ausweg für den Fall gesehen, daß man einer Neufassung nicht nähergetreten wäre. Sie hatten die NATO-Mitgliedschaft Islands nie in Frage gestellt und sehr darauf geachtet, die Volksallianz nie zu Verteidigungsgesprächen zuzulassen, welche von Ministern und Beamten geführt wurden, die in Washington Vertrauen genossen. So ist es nicht verwunderlich, daß Vilhjälmur Thors Bemühungen, die Aussicht auf sowjetische Kredite als Druckmittel gegenüber den Amerikanern zu benutzen, genau so wenig wie früher in Bonn und Paris fruchteten. Dies heißt nicht, daß die Regierungsmehrheit die Absicht und Macht gehabt hätte, die Resolution des Althing vom März 1956 zu mißachten oder einen Kompromiß zu formulieren, der den Maximalforderungen der Amerikaner Rechnung getragen hätte. Die Angelegenheit sollte bei offiziellen Verhandlungen Anfang November in Reykjavik geregelt werden. Das Resultat war bei Abschluß der Vorgespräche Ende Oktober noch nicht genau abzusehen115.

10. Festschreibung des Status quo durch die sowjetische Aggression Nur vier Wochen darauf rollten sowjetische Panzer nach Budapest hinein und beendeten die Revolution in Ungarn. Die internationale Lage hatte sich innerhalb weniger Tage gewandelt, und in Reykjavik waren akute Auswirkungen spürbar, denn es fanden lautstarke Proteste gegen die sowjetische Intervention in Ungarn statt. Eine starke Welle des Antikommunismus und die Angst vor einem neuen Krieg gab den »Rechten« in der Regierung freie Hand in den Verhandlungen mit den Amerikanern, die unter vorteilhaften Bedingungen in Reykjavik liefen. Bei 114

115

Ebd.; NA, DB, 711.56340B/10-256, Aktennotiz Elbrick, 2.10.1956; ebd., 711.5640B/11-2356, Perkins an State Department, 23.11.1956; ebd., 711.56340B/11-2756, State Department an Knight über Perkins, 27.11.1956. NA, DB, 711.56340B/10-256, Aktennotiz Elbrick vom 2.10.1956; ebd., 840B.00/10-2556, Muccio an State Department, 25.10.1956; ebd., 840B.10/10-2656, State Department an Perkins, 26.10.1956.

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der Fortschritts- und bei der Arbeiterpartei herrschte Einigkeit, daß aufgrund der vollkommen gewandelten Verhältnisse die weitere Stationierung von US-Verteidigungskräften in Island erforderlich sei. Die isländischen und amerikanischen Unterhändler kamen deshalb auch sofort überein, daß Gespräche zur Überarbeitung des Schutzabkommens auf unbestimmte Zeit »vertagt« werden sollten116. Die isländische Regierung konnte jetzt die erste Rate der Finanzhilfe anfordern, die von den Amerikanern im Oktober 1956 unter bestimmten Bedingungen in Aussicht gestellt worden war117. 1957 bekam das Land mehr als 17 Millionen Dollar an »weichen Anleihen«118. Es wäre jedoch vollkommen falsch, das endgültige Ergebnis hauptsächlich dem finanziellen Angebot der Vereinigten Staaten zuzuschreiben oder davon auszugehen, daß eine Kombination des finanziellen und politischen Drucks der Amerikaner zwangsläufig zu diesem Ergebnis geführt hätte119. Die abschließende Lösung, die Aufrechterhaltung des Status quo in Keflavik, war in erster Linie die Folge der internationalen Krise im Herbst 1956. Vor dem Beginn dieser Krise bestand Aussicht auf einen Kompromiß, für den eine Vielzahl von internen und externen Faktoren ausschlaggebend gewesen wäre, die offensichtlich auch noch zur letztlichen Lösung beitrug. Die Sorge um die nationale Sicherheit blieb immer die überragende Determinante in der isländischen Bündnis- und Außenpolitik. Die wirtschaftliche Vorteilnahme aus dieser Politik war ein wichtiger zweiter Faktor. Nach dem Wahlfieber im Jahr 1956 hatte sich die Mehrheit der Regierung um eine Lösung des Verteidigungsproblems bemüht, bei der eine Mindestsicherheit zusammen mit dem maximalen wirtschaftlichen Vorteil innerhalb der durch die unterschiedlichen innenpolitischen Faktoren gesetzten Grenzen erreicht werden sollte. Die Krise im Herbst machte diese heikle Aufgabe recht einfach und sicherte auf unerwartete Art und Weise den Status quo. Das Ergebnis ließ die Althing-Resolution vom März 1956 als Farce erscheinen, was von der Unabhängigkeitspartei dann auch so dargestellt wurde. Die Opposition, die sich ärgerte, daß die Linkskoalition von den USA wirtschaftlich unterstützt wurde, beschimpfte die Regierungsparteien, sie hätten ihr unverantwortliches Spiel mit der nationalen Sicherheit durch einen demütigenden Tauschhandel mit den Amerikanern beendet120. Die Volksallianz konnte keinen wirksamen Widerstand gegen die Lösung des Verteidigungsproblems leisten. Sie war durch die sowjetische Intervention in Ungarn vom Auseinanderbrechen bedroht und froh, den Sturm innerhalb der Regierung aussitzen zu können121. 116 117

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Althingistidindi, 1956, Β 2281-2328; Jonsson, A milli, S. 155 f. NA, DB , 840B.10/10-2556, Aktennotiz einer Unterredung mit Vilhjälmur Thor, 5.10.1956, Aide Memoire mit gleichem Datum. Thorsteinsson, Utanrikisthjonusta, Bd 2, S. 578-582. Diese Aspekte werden erörtert bei Ingimundarson, Ahrif bandarisks fjarmagns, S. 9-53. Hier abwegig Heinemann, Die NATO, S. 6-13. Nuechterlein, Island, S. 184-189. Ebd., S. 180-190.

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Die Waagschale hatte sich in die andere Richtung geneigt: Die US-Streitkräfte konnten mit verstärkter Rückendeckung in Island bleiben. Die mit den Herausforderungen des Kalten Krieges konfrontierten Isländer hatten sich entschieden, weiterhin die Rolle der Gastgeber für amerikanische Truppen zu übernehmen, die in ihrer Bewegungsfreiheit weitgehend auf ihren Stützpunkt Keflavik beschränkt waren. Auf diese Weise setzten die Isländer sich nicht der Gefahr der Wehrlosigkeit aus. Als Folge ist die erste NATO-Regierung mit prokommunistischer Beteiligung durch die amerikanische »Dollar-Diplomatie« materiell gestärkt worden. Das waren die paradoxen Auswirkungen des Kalten Krieges.

11. Schlußbemerkung Am Ende des Zweiten Weltkrieges sahen sich die Führer der demokratischen Parteien in Island mit mehreren Problemen konfrontiert. Da war zuerst die Notwendigkeit, die innere und äußere Sicherheit gegen die von ihr als expansionistisch eingeschätzte Sowjetunion zu wahren. Dieses Problem machte sich verstärkt durch die strategisch bedeutsame Lage des Landes, die Unfähigkeit des isländischen Staates, sich selbst gegen einen Angriff von außen zu verteidigen, und die linksgerichtete SEI mit einem dominanten kommunistischen Kern bemerkbar. Dazu kam der Zwang, eine erneute wirtschaftliche Talfahrt zu vermeiden durch die Aufrechterhaltung eines gewissen Außenhandels, teilweise auf der Grundlage der im Krieg begonnenen Zusammenarbeit mit Großbritannien und den Vereinigten Staaten. Zum dritten galt es, größere Märkte für die erheblich ausgebaute Fischproduktion zu finden und ausländisches Kapital zur weiteren Modernisierung der unterentwickelten Wirtschaft und Infrastruktur des Landes zu beschaffen. Die isländische Regierung, in der die Erinnerung an die Weltwirtschaftskrise und den Zweiten Weltkrieg noch recht wach war, bemühte sich um die Lösung des Sicherheits- und Handelsproblems durch Weiterführung der Zusammenarbeit mit den Westmächten. Diese Zusammenarbeit wurde offiziell durch die KeflavikVereinbarung von 1946, Islands Einbeziehung in den Marshallplan 1948 und den NATO-Beitritt 1949 bestimmt. Die führenden Politiker, die sich an die Einschätzung des Landes durch die Alliierten während des Krieges erinnerten, nutzten die strategische Lage des Landes, um wirtschaftliche Vorteile von den NATOPartnern zugestanden zu bekommen. Wenn die Isländer nicht in westliche Länder exportieren durften oder ausgeschlossen wurden, wie dies durch Großbritannien 1952 geschehen war, mußten sie sich mit ihrem Handel nach Osten orientieren, ohne ihre Sicherheit aufs Spiel zu setzen. Die Gestaltung der isländischen Außenpolitik wurde noch erschwert durch eine tief in der Bevölkerung verankerte neutralistische, pazifistische Tendenz und eine sehr nationale Gesinnung aufgrund der erst wenige Jahre zuvor erreichten Unabhängigkeit. Eine Annäherung an die Westmächte wurde durch die proso-

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wjetische SEI eingeschränkt, die an den Nationalismus appellierte und innenpolitisch ebenso wie die nichtkommunistische Nationale Verteidigungspartei großen Einfluß hatte. Die Parlamentswahlen 1946 und 1953 ließen erkennen, daß eine Kluft zwischen den Ansichten der politischen Führer und der Öffentlichkeit bestand, die in der isländischen Außenpolitik zu Ungereimtheiten führte, insbesondere zur Resolution des Althing über den Abzug der US-Verteidigungskräfte 1956. Aber solche Meinungsumschwünge erwiesen sich als vorübergehend, während die politische Führung jene Ziele weiterverfolgte, die nach ihrem Dafürhalten im nationalen Interesse lagen. Gleichzeitig wurde die Politik der Regierung auch zunehmend von immer mehr Wählern gutgeheißen, obwohl die Präsenz der US-Streitkräfte in Island lange umstritten blieb.

Helge 0 . Pharo und Knut Einar Eriksen Norwegen in der NATO 1950-1956 Die im Jahr 1949 getroffene Entscheidung, der NATO beizutreten, war das Zeichen für das Ende der norwegischen Nachkriegspolitik des Ausgleichs zwischen Ost und West oder des Brückenbaus, wie diese Politik seinerzeit genannt wurde1. Im norwegischen Parlament, dem Storting, erklärte Ministerpräsident Einar Gerhardsen, daß es »für Norwegen nicht mehr möglich sei zu versuchen, allein in Frieden zu leben, ohne sich um die Bedingungen in der übrigen Welt kümmern zu müssen«2. Damit gab die Arbeiterpartei zu, daß die exponierte strategische Lage Norwegens im sich abzeichnenden Ost-West-Konflikt es sehr unwahrscheinlich erscheinen ließ, daß Norwegen sich einem neuen größeren Konflikt entziehen könnte. Die militärische Zusammenarbeit im Frieden stellte für die norwegische Außenpolitik rein formell einen radikalen Umbruch dar. Hatte sich Norwegen doch seit seiner Unabhängigkeit im Jahr 1905 im Hinblick auf seine Sicherheit und territoriale Integrität auf den Schutz Großbritanniens verlassen, in der norwegischen Geschichtsschreibung als stillschweigende britische Garantie bezeichnet3. Die Mitgliedschaft im nordatlantischen Bündnis wurde sowohl von der politischen Elite als auch von der breiten Öffentlichkeit weitgehend akzeptiert. Dabei spielte neben der Sicherheitsgarantie auch die damit verbundene wirtschaftliche Unterstützung für den Wiederaufbau und die Weiterentwicklung der norwegischen Streitkräfte und ihrer Infrastruktur eine Rolle. Gleichzeitig lebten die traditionellen Einstellungen weiter fort. Das Unbehagen gegenüber Großmächten im allgemeinen, das Verlangen, die Sowjetunion nicht unnötig zu provozieren und eine große Achtung vor den Grundsätzen der nationalen Souveränität waren wichtige Erwägungen, die bei der Entwicklung der norwegischen Bündnispolitik 1

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Dieser Artikel basiert zum größten Teil auf unserem Band 5 der sechsbändigen Geschichte der außenpolitischen Beziehungen Norwegens, Knut Einar Eriksen und Helge 0ystein Pharo, Kald krig og intemasjonalisering 1949-1965, Oslo 1997. Überblicksliteratur: Forland, International History, S. 360-376; eine erweiterte Fassung: Ferland, Far Out, S. 167-183; siehe auch: Pharo, Jalstad und Skogrand, Ekspansjon, S. 239-263. Stortingstidende (Verhandlungen des norwegischen Parlaments — St. t.) 1949, S. 298. Einar Gerhardsen war von 1945 bis Ende 1951 Ministerpräsident, von 1951 bis Anfang 1955 Abgeordneter im Parlament und weiterhin Parteivorsitzender, bis er 1955 wieder zum Ministerpräsidenten gewählt wurde. In diesem Amt blieb er bis 1965, mit einer kurzen Unterbrechung im Herbst 1963, als die Arbeiterpartei nicht an der Regierung war. Die Frage, ob das Jahr 1949 einen Wendepunkt darstellt, wird besonders ausführlich behandelt in: Riste, Was 1949 a Turning-Point; Riste, Merkeär i norsk utanrikspolitikk; Ferland, 1949 som »vendepunkt«.

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zu beachten waren. Trotz der großen Einsicht in die Notwendigkeit der kollektiven Verteidigung verlangte die Arbeiterpartei, unterstützt von der bürgerlichen Opposition, beharrlich Sonderregelungen in bestimmten Fragen. Den Ausgangspunkt für den vorliegenden Artikel bilden die Erwägungen, die zur Mitgliedschaft Norwegens in der NATO geführt haben. Danach werden die wesentlichsten Vorbehalte gegenüber alliierten Stützpunkten in Norwegen sowie die Fragen der Souveränität abgehandelt, die in diesen Debatten eine entscheidende Rolle gespielt haben. Schließlich wird die grundsätzliche Orientierung Norwegens auf das Nordatlantikbündnis analysiert.

1. Ein Balanceakt Die norwegischen Erfahrungen aus der jüngeren Vergangenheit haben zweifellos ganz maßgeblich zur Entscheidung Norwegens für die NATO-Mitgliedschaft beigetragen. Der deutsche Angriff am 9. April 1940 und die darauf folgenden fünf Jahre der Besetzung zeigten, daß die stillschweigende britische Garantie nicht ausreichte, um eine feindliche Macht von einem Angriff auf Norwegen abzuhalten. Man mußte sich von der Prämisse der früheren norwegischen Regierungen verabschieden, daß Großbritannien schon im eigenen Interesse für die Sicherheit Norwegens sorgen würde4. Nach den Erfahrungen aus dem Krieg waren die führenden Politiker der Ansicht, daß die Zusammenarbeit im Krieg bereits im Frieden vorbereitet werden müßte. Die Verteidigung Norwegens ließ sich nicht auf die Schnelle improvisieren, wie der Feldzug von 1940 bewiesen hatte. Bis 1949 war allerdings die Einstellung der Norweger zu dieser Frage stärker gespalten, als nach den Kriegserfahrungen zu erwarten gewesen wäre. Während der Endphase des Zweiten Weltkriegs und der ersten Nachkriegsjahre entwickelten die Exilregierung in London und die ihr folgenden Regierungen der Arbeiterpartei die sogenannte Brückenbaupolitik. Man ging davon aus, daß man dem norwegischen Sicherheitsbedürfnis am ehesten durch eine zurückhaltende Außenpolitik gerecht wurde, um die Spannungen zwischen den Verbündeten des Zweiten Weltkriegs nicht noch zu verschärfen. Norwegen wollte die guten Beziehungen zu den Westmächten aufrechterhalten, aber gleichzeitig alles unterlassen, was die Sowjetunion als einseitige Ausrichtung zum Westen hätte interpretieren können. Mit dieser Politik sollte gleichzeitig ein innenpolitischer Konsens erzielt werden, denn die Sowjetunion erfreute sich in Norwegen wegen ihrer Leistungen im Krieg einer beträchtlichen Popularität. Die Politik des Brückenbaus stand allerdings unter einem gewissen Vorbehalt. Sollten sich die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und den Westmächten so weit verschlechtern, daß ein 4

Eriksen/Pharo, Norway and the Early Cold War, S. 3-21; Riste, The Genesis of the North Atlantic Defence Cooperation, S. 10-19; Skodvin, Norden eller NATO; Tamnes, The United States and the Cold War, S. 39-61.

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Krieg drohte, würde sich Norwegen zwecks einer offiziellen Sicherheitsgarantie an Großbritannien und die USA wenden 5 . Wegen der drohenden Teilung Europas in zwei verfeindete Blöcke näherte sich die Regierung der Arbeiterpartei zögernd dem Westen an, sobald der Marshallplan in Kraft getreten war. Ende Februar 1948, nach der Krise in der Tschechoslowakei und dem sowjetischen Paktvorschlag an Finnland gab es Gerüchte über einen ähnlichen Vorschlag an Norwegen. Daraufhin wandte sich der norwegische Verteidigungsminister Jens Christian Hauge (1945-1951) an die Vertreter Großbritanniens und der Vereinigten Staaten in Oslo und erkundigte sich nach den Möglichkeiten für den Schutz Norwegens durch diese Staaten. Das internationale Klima ließ der Politik des Brückenbaus keine Chance mehr, und Norwegen mußte auf seinen Vorbehalt zurückgreifen. Die Regierung der Arbeiterpartei hätte ein skandinavisches Verteidigungsbündnis mit sozialdemokratisch regierten Staaten bevorzugt. Diese Lösung galt als weniger provozierend gegenüber der Sowjetunion und politisch akzeptabler für den linken Flügel der Arbeiterpartei. Diese skandinavische Option ließ sich nicht verwirklichen, da die Norweger auf eine gewisse Öffnung dem Westen gegenüber bestanden, so etwa gemeinsame Generalstabsbesprechungen, während Schweden im Hinblick auf die Neutralität im Krieg jegliche Ausrichtung zu einer Seite bereits im Frieden ablehnte. So wurde Norwegen eines der Gründungsmitglieder der NATO6. Nachdem diese kritische Entscheidung getroffen war, mußte die Regierung mehrere schwierige Aufgaben bewältigen. Zunächst mußten die Norweger sicherstellen, daß die Alliierten willens und in der Lage waren, das Land zu verteidigen. Sie waren sich wohl bewußt, daß einige der Mitgliedsstaaten, insbesondere Frankreich, den Schwerpunkt der Alliianz lieber in Westeuropa gesehen und auf die Mitgliedschaft Norwegens verzichtet hätten. Dem Kabinett wurde allmählich klar, daß die Alliierten kurzfristig allenfalls einen kleinen Brückenkopf in Norwegen aufrechterhalten konnten. Daher mußten Mittel gefunden werden, die wichtigsten NATO-Bündnispartner zur Verteidigung des norwegischen Territoriums zu verpflichten. Nach dem Ausbruch des Koreakriegs war diese Aufgabe noch dringender geworden. Es wurde notwendig, mehr Mittel als bislang geplant in den Ausbau der norwegischen Streitkräfte zu stecken. Gleichzeitig fühlte sich die Regierung der Arbeiterpartei immer noch verpflichtet, die Sowjetunion von ihren friedlichen Absichten zu überzeugen. Der potentielle Gegner mußte überzeugt werden, daß Norwegen der NATO nur zur Verteidigung beigetreten war und daß das norwegische Territorium nicht für Angriffe gegen die Sowjetunion genutzt werden würde.

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Eriksen/Pharo, Norway and the Early Cold War, S. 3-21; Pharo, Bridgebuilding and Reconstruction, S. 125-153. Eriksen, Norge, S. 261-302; Lundestad, USA, Skandinavisk forsvarsforbund, S. 139-173; Skodvin, Nordic or North Atlantic Alliance; Lundestad, America, S. 291-328; Pharo, Scandinavia S. 194-223.

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Schließlich stand die Regierung auch noch vor der Aufgabe, einen innenpolitischen Konsens über die Mitgliedschaft im Bündnis herzustellen und besonders den linken Flügel der eigenen Partei von der Notwendigkeit zu überzeugen, sich dem kapitalistischen Westen anzuschließen. Die Notwendigkeit, die Sowjetunion zu beschwichtigen, wurde somit durch innenpolitische Erwägungen noch verstärkt. Der Balanceakt zwischen diesen gegensätzlichen Erwägungen ist von einem norwegischen Politologen und Historiker in zwei Konzepten zusammengefaßt worden: Zum einen die Abschreckung und Beruhigung und zum zweiten die Integration und Sicherung. Norwegen mußte die Sowjetunion vor einem Angriff abschrecken und gleichzeitig der Führung in Moskau versichern, daß es selbst keinerlei Angriffsabsichten hatte. Im Gegenzug mußten die Vereinigten Staaten zur Verteidigung Norwegens verpflichtet werden und trotzdem so weit auf Abstand gehalten werden, daß sie die Sowjetunion nicht provozierten7. Hauge drückte dies in einem Schreiben an Gerhardsen und Außenminister Halvard M. Lange (1946-1965) Ende April 1949 klar und deutlich aus. Die militärische Zusammenarbeit mußte so gestaltet werden, daß sie die Sowjetunion möglichst wenig provozierte und jede unannehmbare amerikanische »Einmischung in die Selbstbestimmung Westeuropas« vermieden würde8. Hauge wies darauf hin, daß es im gemeinsamen Interesse der Bündnispartner liege, die norwegische Politik der möglichst geringen Spannungen mit der Sowjetunion und der Sicherung in bezug auf die Allianz zu unterstützen. Er stellte zwei Bedingungen für den Beitritt Norwegens zur NATO. Zum einen sollten im Frieden keine ausländischen Truppen auf norwegischem Gebiet stationiert werden, und zum zweiten sollten für Nordnorwegen Sonderregelungen gelten. Die militärischen Aktivitäten der Alliierten in diesem Gebiet sollten auf ein Minimum beschränkt werden. In einem Gespräch mit dem britischen Verteidigungsminister Alexander im Frühjahr 1949 beschrieb Hauge Nordnorwegen als eine Pufferzone zwischen dem Westen und der Sowjetunion9. Diese Bedingungen für den Beitritt Norwegens zur NATO wurden offiziell in der sogenannten Grundsatzerklärung vom Februar 1949 festgehalten. Als Antwort auf zwei sowjetische Noten vom Januar und Februar gab die norwegische Regierung eine einseitige Erklärung ab, daß sie keine Stützpunkte für Streitkräfte anderer Staaten auf norwegischem Territorium einrichten würde, »solange Nor-

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Holst, Norsk sikkerhetspolitikk, Bd 1, S. 33; Tamnes, Integration and Screening, S. 59-100. Utenriksdepartementet (Archiv des norwegischen Außenministeriums — UD) 25.2/72,1, Hauge an Gerhardsen und Lange, 23.4.1949. UD 25.2/72,1, Hauge an Gerhardsen und Lange, 23.4.1949; ebd., Notiz eines Gesprächs zwischen Hauge und Alexander, 9.5.1949; ebd., Notiz eines Gesprächs zwischen Hauge und dem dänischen Verteidigungsminister Rasmus Hansen, 18.8.1949; Public Record Office (Kew, Surrey — PRO), FO 371, 84455, Gesprächsprotokoll, 2.5.1949; Stortingets arkiv (Archiv des norwegischen Parlaments — SA), Den utvidede utenriks- og konstitusjonskomite (Auswärtiger Ausschuß — UUKK), 16.2.1949.

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wegen nicht angegriffen würde oder unter der Bedrohung eines Angriffs stünde«10. Die einseitige und etwas vage formulierte Erklärung zielte sowohl auf die Sowjetunion als auch auf die eigene Opposition ab und sollte Norwegen genügend Handlungsfreiheit belassen, um sie im Notfall auch anders interpretieren zu können. 1951 ergänzte Hauge diese Erklärung im Storting dahingehend, daß sie nicht die Unterstützung der Alliierten beim vorsorglichen Bau der für die Stationierung ausländischer Truppen erforderlichen Infrastruktur ausschlösse und daß sie auch nicht als Hinderungsgrund gegen die Einlagerung von Militärgerät zu verstehen sei. Militärische Übungen der Alliierten galten ebenso wie kurze Besuche alliierter Luft- und Seestreitkräfte als vertretbar im Rahmen der Stützpunktgrundsätze. Nach Ansicht des Historikers Olav Riste, die von den meisten norwegischen Historikern in diesem Forschungsgebiet geteilt wird, liegt der Kernpunkt nicht darin, ob die Infrastruktur für die von den Alliierten finanzierten Stützpunkte bereits vorhanden ist, sondern darin, wer entscheidet, ob und wann alliierte Truppen angefordert werden. Solange die endgültige Entscheidung darüber bei der norwegischen Regierung verbleibt, läßt sich argumentieren, daß die norwegische Politik nach 1949 im Rahmen der Stützpunktgrundsätze geblieben ist11. Somit hat die Vagheit der Erklärung von 1949 ihren Zweck erfüllt.

2. Die ungeschützte Nordflanke Die größte Sorge der norwegischen Politiker war die Bedrohung durch die überwältigende militärische Überlegenheit der Sowjetunion. Ein innenpolitischer Coup durch die Kommunisten galt nicht als sehr wahrscheinlich, ebensowenig ein separater Angriff auf Norwegen zur Unterstützung eines geplanten Coups. Trotzdem führte die große Zahl kommunistischer Wähler, mehr als zwölf Prozent 1945 und immer noch mehr als sechs Prozent 1949, zu der Befürchtung, daß prominente Kommunisten und mögliche Mitläufer vom linken Flügel der Arbeiterpartei sich bei einer sowjetischen Invasion im Rahmen eines allgemeinen Krieges auf die Seite des Gegners schlagen würden. Die Kommunisten und ihre Sympathisanten waren immerhin zahlenmäßig stärker, als es Quisling und seine Nationalsozialisten 1940 gewesen waren. Daher wurden die Kommunisten bereits im Februar 1948 vom Ministerpräsidenten als Verräter gebrandmarkt, und Kommunisten wie auch potentielle Mitläufer wurden bereits vor dem Beitritt Norwegens zur NATO polizeilich beobachtet. Im gleichen Jahr wurden die kommunistischen Abgeordneten durch die Einrichtung eines speziellen Ausschusses für Außen- und Verteidigungspolitik von der Außenpolitik ausgeschlossen. Nach dem Ausbruch des Koreakriegs wur10 11

Norsk utenrikspolitik I, S. 99. St. t. 1951, S. 286; siehe auch UD 3.2/18e, I, Verteidigungsminister Nils Langhelle vor dem Verteidigungsausschuß, 19.4.1952; Riste, Isolasjonisme.

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de die Überwachung verschärft, und der Storting verabschiedete eine Reihe von Ermächtigungsgesetzen. Diese Gesetze erlaubten bei Krieg oder Krise weitreichende Maßnahmen. Es wurden Pläne für die Internierung potentieller Verräter aufgestellt und zwei Listen mit insgesamt mehr als 100 Personen zusammengestellt. Das Ausmaß der politischen Überwachung war seinerzeit nicht bekannt, aber die Gesetze sorgten für intensive politische Auseinandersetzungen 12 . Am wichtigsten war für die Norweger allerdings, die Sowjetunion abzuschrecken und der Ausübung politischen Drucks vorzubeugen. Falls die Abschreckung nicht funktionieren sollte, galt es die Unterstützung der Alliierten sicherzustellen. Der Bündnisvertrag stellte diese Unterstützung keineswegs sicher. Das wichtigste Ziel Norwegens beim Beitritt zur NATO lag darin, die Alliierten und vor allen Dingen die Vereinigten Staaten dazu zu verpflichten, Streitkräfte für die Verteidigung der Nordflanke bereitzustellen. Für den Wiederaufbau der norwegischen Streitkräfte und zum allgemeinen Ausbau der Verteidigungskapazität, die schon vor dem Zweiten Weltkrieg eher bescheiden war und durch die fünf Jahre der Besatzung ernsthaft geschwächt wurde, war materielle Unterstützung in Form von Waffenlieferungen, militärischer Ausbildung und Investitionen in die Infrastruktur erforderlich. Bevor die Vereinigten Staaten personelle und materielle Unterstützung leisten würden, waren zunächst beträchtliche innenpolitische Anstrengungen zum Wiederaufbau der norwegischen Streitkräfte erforderlich. Nach dem Krieg herrschte in Norwegen weitgehende Einigkeit hinsichtlich der Notwendigkeit größerer Investitionen auf dem Gebiet der Verteidigung. Diese Maßnahmen waren bereits vor der Entstehung des Bündnisses eingeleitet, allerdings war damals der tatsächliche Umfang noch nicht abzusehen. Die Forderungen der Streitkräfte mußten allerdings an den Rahmen der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit angepaßt werden. Nach Schätzungen hatte die Nation etwa 20 Prozent ihres Sachkapitals durch die Kriegsschäden eingebüßt 13 . Im Mittelpunkt der politischen Agenda der Arbeiterpartei standen daher auch der Wiederaufbau und die schnelle Modernisierung der Wirtschaft. Daher schlug die Regierung im Februar 1950 vor dem Hintergrund des leichten Tauwetters im Kalten Krieg nach der Unterzeichnung des Nordatlantikvertrags vor, die Verteidigungsausgaben um zehn Prozent zu kürzen, um mehr Mittel in den allgemeinen wirtschaftlichen Wiederaufbau zu investieren. Die Mitgliedschaft im Bündnis brachte Vorteile sowohl für den zivilen als auch für den militärischen Bereich. Im Mai 1950 stellte Verteidigungsminister Hauge die Vorteile der Zusammenarbeit für Norwegen vor dem Storting heraus: »Gemeinsame Verteidigung und gemeinsame Planung bedeuten für uns, daß andere und stärkere Nationen bereit sind, einen Teil ihrer militärischen Mittel zur Verteidigung unseres Landes und unserer Region bereitzustellen 14 .« 12 13

14

Grenlie, Forvaltning, S. 24-26; Stortingets granskningskommisjon, S. 155-200. Die Verluste durch den Krieg wurden später auf 16 Prozent beziffert, siehe Pharo, Bridgebuilding and Reconstruction, S. 125. St.t. 1950, S. 1170.

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Nach dem Ausbruch des Krieges in Korea mußte man sich von allen Vorstellungen verabschieden, den Verteidigungshaushalt zu kürzen. Bei konstanten Preisen wuchsen die Ausgaben für den Verteidigungshaushalt zwischen 1950 und 1955 auf mehr als das Doppelte an15. Die Wehrdienstzeit wurde für das Heer in den Jahren 1951 und 1954 verlängert, für die Marine und die Luftwaffe im Jahr 1952. In allen drei Teilstreitkräften wurde sie von 9 auf 18 Monate verdoppelt. Die Verlängerung der Dienstzeit beim Heer 1954 wurde auf Wunsch der NATO und der Vereinigten Staaten eingeführt, allerdings nur mit 18 und nicht wie gefordert mit 24 Monaten 16 . Bei den dafür erforderlichen höheren Ausgaben ließ sich das Ziel des Verteidigungsministers, eine professionelle und moderne Armee auf die Beine zu stellen, nur durch großzügige amerikanische Unterstützung verwirklichen. Bis in die Mitte der sechziger Jahre, als die direkte materielle und infrastrukturelle Unterstützung eingestellt wurde, wurden nur etwa 70 Prozent der norwegischen Verteidigungsausgaben von Norwegen getragen 17 . Daher sollte sich Hauges Erklärung von 1950 als wahr erweisen, wenn auch Konsum und Investitionen im zivilen Bereich nach dem Koreakrieg zunächst etwas litten. Trotzdem war die Konjunktur 1954/55 immer noch überhitzt, was zum Teil sicherlich daran lag, daß man versuchte, gleichzeitig für Kanonen und Butter zu sorgen. In der Folge ergaben sich daraus ernste Probleme mit der Zahlungsbilanz. Im Januar 1955 stellte die Arbeiterpartei eine neue Regierung, die eine Reihe von Spar- und Antiinflationsmaßnahmen einführte. Die von der Arbeiterpartei gestellten Regierungen mußten einen Mittelweg zwischen den Forderungen ihrer Wähler und denen der Vereinigten Staaten suchen. Die Wähler wollten einen höheren Lebensstandard und eine Lockerung der nach dem Krieg betriebenen Sparpolitik, die Vereinigten Staaten hingegen bestanden auf höheren Ausgaben für die Verteidigung. Beide Forderungen stellten eine Bedrohung für die Investitionspolitik dar, die langfristig das Wirtschaftswachstum sicherstellen sollte. Während der ersten Hälfte der fünfziger Jahre waren die Außenpolitiker in Washington wie auch die amerikanischen Militärberater in Norwegen oft unzufrieden mit den norwegischen Verteidigungsbemühungen. Sie forderten mehr Investitionen und einen schnelleren Fortschritt in Richtung auf professionellere Streitkräfte. Große Probleme waren das Fehlen eines starken Unteroffizierkorps sowie die unterentwickelten Stabsfunktionen in allen drei Teilstreitkräften. Die erhöhten Verteidigungsausgaben und die dadurch ermöglichte Vergrößerung der Streitkräfte stellen nach Meinung der Regierung Oscar Torp (November 1951 bis Januar 1955) das absolute Minimum dar, um sicherzustellen, daß Norwegen ein glaubwürdiges Mitglied im Bündnis bleiben konnte. Torp und Außenminister Lange waren sicherlich der Meinung, daß sie nicht weniger anbie15 16 17

Holst, Norsk sikkerhetspolitikk, Bd 2, S. 18-23. Bergh, Storhetstid, S. 272-282; Eriksen, Norge, S. 240-242. Holst, Norsk sikkerhetspolitikk, Bd 2, S. 23.

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ten durften, wenn die NATO und die Vereinigten Staaten ihrer Verpflichtung nachkommen sollten, Norwegen zu verteidigen, besonders da Norwegen ohnehin schon mit der Stützpunkterklärung eine Sonderrolle einnahm. Die Stützpunktgrundsätze stellen natürlich ein beträchtliches Hindernis gegen einen Einsatz der Bündnispartner für Norwegen dar. So mußte ein Mittel gefunden werden, die NATO und ganz besonders die Vereinigten Staaten bindend zur Verteidigung des norwegischen Territoriums zu verpflichten. Das war besonders wichtig, als der norwegischen Regierung klar wurde, daß nicht nur die mittlere Front, sondern auch die südliche Flanke wichtiger eingeschätzt wurde als die Nordflanke. Ein größerer Krieg konnte auch noch geführt werden, wenn die Alliierten die Kontrolle über die Nordflanke verloren hätten. Die Verhandlungen mit den noch zögernden westlichen Alliierten führten 1951 zur Einrichtung des NATO-Oberkommandos Europa-Nord (AFNORTH) in der Nähe von Oslo. Hauge betrachtete die Mitwirkung von Großbritannien und den Vereinigten Staaten als Garantie für ihre Bereitschaft, sich an der Verteidigung der Nordflanke zu beteiligen und hätte gern einen Amerikaner als Befehlshaber gesehen. Daß man sich schließlich für einen Briten entschied, war für ihn allerdings auch akzeptabel. Hauge betrachtete das Kommando zudem als gutes Mittel, hochrangige amerikanische und britische Stabsoffiziere mit den norwegischen Verteidigungseinrichtungen und den dort herrschenden besonderen Bedingungen vertraut zu machen. Dort konnten die norwegischen Interessen besser gefördert werden als bei SHAPE in Paris. Hauge war außerdem der Meinung, daß diese Einrichtung die Zusammenarbeit mit dem neutralen Schweden erleichtern würde18. Trotz der verstärkten Verteidigungsanstrengungen der Alliierten und der Einrichtung des Befehlsbereichs AFNORTH waren die politischen und militärischen Führer Norwegens zumindest bis 1955 nicht zufrieden mit dem Schutz, den die NATO bot. Die gegenseitige Kritik gestaltete das Verhältnis zum US-Militär zeitweise etwas schwierig, hauptsächlich weil die Norweger ständig Druck auf SHAPE und SACLANT ausübten mit dem Ziel, einen größeren Teil der Kräfte für die Verteidigung des Nordens einzusetzen19. Die größten Meinungsverschiedenheiten gab es bei Themen wie den alliierten Plänen für den Rückzug innerhalb des Landes und aus Norwegen bei einem sowjetischem Angriff mit überlegenen Kräften. Der von amerikanischen und britischen Stabsoffizieren dominierte Stab von AFNORTH stellte fest, daß in einem Krieg ein rascher Rückzug zu einem Brückenkopf im Südwesten, in der Nähe von Stavanger, erforderlich wäre. Von dort aus wäre ein völliger Rückzug nach Großbritannien möglich20. 18

19 20

SA, UUKK, 21.9. 23.9. 5.10, 6.10,13.11.1950, 24.4, 25.4.1951; Aasland, A Hook in the Nose, S. 86-90. Tamnes, The United States and the Cold War, S. 63-89. Statsministerens kontor (Archiv des norwegischen Premierministers — SMK), Forsvarsrädet (Bestand des Verteidigungsausschusses — FR), 23.4.1953; Riksarkivet (Norwegisches Nationalarchiv — RA), A. Andersens Papiere, undatiertes Manuskript »Spilt Melk«, ver-

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Die norwegischen zivilen und militärischen Dienststellen bestanden hingegen darauf, in Nord- und Südnorwegen eine echte Verteidigung aufzubauen. Nach ihren Vorstellungen sollten die norwegischen und alliierten Streitkräfte einen Rückzug in das Gebiet um Tröndelag in der Mitte des Landes planen, da von dort aus auch die Koordination von Einsätzen mit den schwedischen Streitkräften einfacher gewesen wäre. Die norwegischen Behörden bestanden auch unnachgiebig auf ernsthaften Verteidigungsanstrengungen. Moralisch und politisch kam es für sie überhaupt nicht in Frage, auch nur ein Stück Land ohne Kampf preiszugeben, mit Ausnahme der Finnmark. Allerdings wurde erst ab 1956 in der Kriegsplanung Rücksicht auf die norwegischen Forderungen genommen. Die norwegischen Einsatzmittel waren weit über die riesige Nord-Süd-Ausdehnung des Landes verstreut. In den frühen fünfziger Jahren gingen die alliierten militärischen Führungsstellen davon aus, daß eine Bedrohung für Norwegen hauptsächlich aus dem Südosten, durch die Ostseeausgänge und über schwedisches Gebiet kommen würde. Nach Ansicht der Alliierten war es nicht sehr wahrscheinlich, daß die Sowjets größere Operationen im äußersten Norden durchführen würden. Die Norweger waren nicht dieser Ansicht und behaupteten, daß ein sowjetischer Angriff durch Nordfinnland und Nordnorwegen ebenso wahrscheinlich wäre. Daher mußte die NATO auch die Möglichkeit eines Krieges an der äußersten Nordflanke und ohne die Einbeziehung Schwedens einplanen21. Die Norweger waren, teilweise aus taktischen Gründen, nicht mit der Annahme der alliierten Kriegspläne einverstanden, daß ein Angriff auf die Nordflanke nur im Rahmen einer Großoffensive auf die mittlere Front erfolgen würde. Oslo stand auf dem Standpunkt, daß die Sowjets zunächst im Norden angreifen könnten oder sogar einen isolierten Angriff auf Nordnorwegen in Erwägung ziehen könnten. Damit wurde die Forderung an die NATO begründet, mehr Mittel für Norwegen bereitzustellen. Obwohl die Alliierten den Süden für den verwundbarsten Teil des Landes hielten, gab es auch beträchtliche Anstrengungen im Norden, die militärische Einsatzbereitschaft zu erhöhen und sich auf die Aufnahme alliierter Verstärkungskräfte vorzubereiten. Die Hauptverteidigungslinie wurde in Troms bei Lyngen eingerichtet. Der nördlichste Bezirk, die Finnmark, war im Prinzip ungeschützt und hätte im Falle eines Krieges sofort evakuiert werden müssen. Nach den Grundsätzen der Besänftigungspolitik bestand die gesamte norwegische militärische Präsenz gegenüber der Sowjetunion aus einer kleinen Grenzschutztruppe. Südlich der Lyngen-Linie wurden die Flugplätze in Bodo und Bardufoss eingerichtet, und mit großzügiger amerikanischer Unterstützung wurden umfassende zivile und militärische Infrastrukturmaßnahmen eingeleitet. Die amerikanische Unterstützung war hierbei auch durchaus politisch motiviert. Nordnorwegen war strategisch ungeschützt und politisch verwundbar, da eine

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mutlich aus den frühen siebziger Jahren; Tamnes, The United States and the Cold War, S. 63-89. Ebd.

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beträchtliche Zahl von Kommunisten dort lebte. Das Kabinett Torp rüstete zwar nicht so schnell und so stark auf wie von den Amerikanern gewünscht, war aber dennoch die beste verfügbare Alternative. Langfristig hätte die Peitsche wohl schlechter funktioniert als das Zuckerbrot. Die Infrastrukturhilfe im Norden stützte dagegen die Regierung gegen die innerparteiliche und außerparteiliche Opposition22. Zur Verstärkung der Verteidigung von Südnorwegen mußten vor allen Dingen die alliierten Streitkräfte in Dänemark und Norddeutschland verstärkt werden. Langfristig mußte zu diesem Zweck die Bundesrepublik Deutschland wiederbewaffnet werden. Diese Lösung verursachte zwar Kopfschmerzen, war aber schließlich unvermeidbar. Unmittelbar vor dem Ausbruch des Koreakrieges erklärte Außenminister Lange sowohl den Alliierten wie auch dem außenpolitischen Ausschuß des Storting recht deutlich, daß er gegen einen solchen Schritt sei. Seiner Meinung nach würde dies höchstwahrscheinlich »die derzeit schlimmste Provokation der Sowjetunion darstellen«. Beim Treffen des Nordatlantikrats im Mai 1950 erklärte er, daß damit die Fronten im Kalten Krieg zementiert würden und der deutsche Militarismus eine neue Chance erhielte23. Aber die Stellung von Lange war zu jener Zeit schon geschwächt. Bereits im Jahr zuvor hatten sich die amerikanischen und britischen Streitkräfte auf die Aufnahme Deutschlands in die NATO vorbereitet, und bis zum Frühjahr hatten sich vermutlich der norwegische Verteidigungsminister wie auch wichtige Mitglieder des außenpolitischen Ausschusses dieser Meinung angeschlossen. Beim Treffen des Nordatlantikrats im September in New York war der Koreakrieg bereits ausgebrochen, und Lange stellte fest, daß jeglicher Widerspruch gegen diesen Schritt zwecklos war. Noch während der Sitzung kehrte Lange nach Oslo zurück und fand Unterstützung durch eine Mehrheit im Kabinett wie auch im Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten24. Die Bewaffnung der Bundesrepublik Deutschland wurde vorübergehend noch einmal in Frage gestellt, als die Sowjetunion in der Stalin-Note von 1952 ein vereinigtes, neutrales und demilitarisiertes Deutschland vorschlug. Die norwegische Außenpolitik und die politische Elite waren in dieser Frage stark gespalten. Der Außenminister war ebenso wie Ministerpräsident Torp von Anfang an dagegen, aber ein beträchtlicher Teil der Führung der Arbeiterpartei wie auch viele führende Politiker anderer Parteien brachten diesem Vorschlag viel Sympathie entgegen. Umfragen in der Öffentlichkeit zeigten, daß unter denjenigen, die sich eine Meinung gebildet hatten, die große Mehrheit gegen die deutsche Wiederbewaffnung war25. Letztlich akzeptierte der überwiegende Teil der Führung der Arbeiterpartei und der anderen Parteien die deutsche Wiederbewaffnung; bei den Parteimit22 23 24 25

Pharo, Marshallplanen, S. 206. UD 25.2/72, Erklärung von Lange bei der Sitzung des Nordatlantikrats, 17.5.1950. SA, UUKK, 11.9, 20.9,21.9, 23.9,5.10, 6.10.1950. SA, UUKK, 15.5.1952; Alstad, Norske meninger, S. 96 f.

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gliedern insgesamt war der Zuspruch erheblich schwächer. Gegen die wichtigsten Bündnispartner anzugehen, wäre politisch viel zu riskant gewesen und hätte Norwegen möglicherweise dazu zwingen können, das Bündnis zu verlassen. Die Kehrseite und viel angenehmere Seite der Medaille war die Tatsache, daß die deutsche Mitgliedschaft nicht nur das Bündnis insgesamt stärkte, sondern ganz besonders den gefährdeten südlichen Teil der Nordflanke. Dadurch wurde die norwegische Verteidigung beträchtlich verstärkt, und später konnten norwegische Verteidigungskräfte als Antwort auf die Verstärkung der sowjetischen militärischen Präsenz auf der Halbinsel Kola von Süden nach Norden verlegt werden. Trotzdem war das Problem für viele Norweger nur schwer zu bewältigen. Lange und andere Kabinettsmitglieder waren im Krieg ebenso wie Gerhardsen im Konzentrationslager Sachsenhausen gewesen. Hauge war der Führer der militärischen Widerstandsbewegung Milorg. Im Hinblick auf die Beziehung zur Bundesrepublik Deutschland schrieb Lange seinem engen Freund Dag Bryn, dem norwegischen Vertreter im Nordatlantikrat, 1953: »Wenn ich rational an die Sache herangehe, sehe ich zwar ein, daß wir ein gutes, partnerschaftliches Verhältnis aufbauen müssen, emotional bin ich aber nicht wirklich in der Lage dazu 26 .«

3. Die Stützpunktpolitik im Kreuzfeuer der Kritik Norwegen war für die Vereinigten Staaten und Großbritannien nicht nur von militärischer Bedeutung wegen seiner strategischen Lage an den wichtigsten Seefahrtswegen, es besaß auch selbst eine der größten Handelsmarinen überhaupt. Im Verlauf der folgenden Jahre erhöhte sich die strategische Bedeutung Norwegens wegen der Entwicklung der Interkontinentalbomber, denn es lag auf der kürzesten Route zwischen dem nordamerikanischen Kontinent und dem sowjetischen Kernland. Von den frühen fünfziger Jahren an wurde das norwegische Territorium außerdem immer wichtiger als Ausgangspunkt für verschiedenste nachrichtendienstliche Einsätze 27 . Aus all diesen Gründen hätten die größten Bündnispartner es nach dem Ausbruch des Koreakriegs gern gesehen, wenn Norwegen seine Stützpunktpolitik aufgegeben hätte. Besonders für die Amerikaner handelte es sich dabei um die allererste Initiative dieser Art. Die US Air Force hatte zwar bereits 1945 ihr Interesse an Stützpunkten in Norwegen bekundet, die politische Führung wollte aber seinerzeit keinen sowjetischen Angriff auf ein Gebiet riskieren, das man nicht verteidigen konnte 28 . So kam die erste US-Initiative zur Änderung der norwegischen Stützpunktpolitik im Frühjahr 1951. Das Strategie Air Command (SAC) benötigte die Flug-

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Det norske nobelinstitutt (Archiv des norwegischen Nobel-Instituts — NNI), H.M. Lange Papers 1946-51, Corr. F 3, Lange an Bryn, 14.3.1953; SA UUKK, 15.5., 17.5.1952,17.11.1955. Tamnes, The United States and the Cold War, S. 63-89. Skodvin, Norden, S. 228-230, 324 f., 333-336.

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plätze Sola und Gardermoen in Südnorwegen für seine Jäger. Diese sollten die Interkontinentalbomber bei ihrem Weg in die Sowjetunion unterstützen. Die ausgebauten Flugplätze sollten außerdem als Notlandeplätze für die Bomber dienen. Um das Funktionieren der Stützpunkte auch im Krieg sicherzustellen, hätten die Amerikaner eine moderne Fernmeldezentrale sowie Einrichtungen für die einsatznahe Bereitstellung von Material bauen müssen und technisches Personal bereits im Frieden in Norwegen stationieren müssen. Zunächst bat man um die Stationierung von 150 Mann. Die norwegische Regierung interpretierte diesen Wunsch in der Richtung, daß er auf die permanente Stationierung von Jägern bereits im Frieden abzielte. Ob das wirklich geplant war, läßt sich aus den zur Verfügung stehenden Unterlagen nicht schlüssig nachweisen. Die norwegische Regierung erklärte denn auch sofort, daß ein derartiger permanenter Stützpunkt für sie völlig unakzeptabel wäre29. Während der anschließenden Verhandlungen gelang es Hauge und seinen Beratern, den Umfang der amerikanischen Präsenz einzuschränken. Man einigte sich auf 49 Mann, 1955 wurde die Zahl auf 63 erhöht. Den Bau der Flugplätze übernahm Norwegen, und der Großteil des Geräts ging in norwegischen Besitz über. In bezug auf die Stützpunktpolitik bestand das wichtigste Ergebnis der Verhandlungen sicherlich darin, daß das SAC-Abkommen in Krise oder Krieg nicht automatisch greifen würde 30 . So konnte die Regierung auf dem Papier seinen Anspruch auf die norwegische Kontrolle über die Nutzung der Stützpunkte durchsetzen. Das SAC-Abkommen wurde etwa 30 Jahre lang geheimgehalten. Es war aber ohnehin ziemlich schnell überholt, weil die Amerikaner bereits zum Ende der fünfziger Jahre das Interesse an den Vereinbarungen verloren. Als die Reichweite der Jäger immer größer und die Luftbetankung zur Selbstverständlichkeit wurde, wurden die Stützpunkte in Norwegen nicht mehr benötigt. So wurden die meisten amerikanischen Techniker und Militärberater wieder abgezogen 31 . Im Herbst 1951 starteten die NATO und die Amerikaner einen zweiten Angriff auf die Stützpunktpolitik. Als Begründung dienten nun die Sorgen der Amerikaner wegen der schwachen skandinavischen Luftabwehr mit ihren wenigen Jägern. Um die Lücken zu füllen, schlug der amerikanische Befehlshaber Luftstreitkräfte Europa-Nord, General Robert K. Taylor, vor, 225 Jäger und Jagdbomber in Dänemark und Norwegen zu stationieren, 75 davon in Norwegen. Anfangs glaubte man, dafür etwa 3000 bis 5000 US-Soldaten in Norwegen zu benötigen; später wurde die Zahl dann auf 1000 reduziert. Die Jäger sollten in erster Linie für die Verteidigung von Skandinavien eingesetzt werden und natür29

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Diese extrem knappe Zusammenfassung basiert in erster Linie auf Materialien aus UD 33.2/18(1,1; siehe auch SA, UUKK, 9.10.1952. UD 33.2/18d, II, Memoranden von Nielsen, Verteidigungsministerium, 29.9., 4.10.1952, 7.1.1953. SMK, Regjeringens sikkerhetsutvalg (Sicherheitsausschuß des Kabinetts — RSU), 20.6.1960, beigefügtes Memorandum des Verteidigungsministeriums, 24.5.1960; Tamnes, The United States in the High North, S. 72-89.

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lieh auch, um die SAC-Stützpunkte in Gardermoen und Sola zu verteidigen. Allerdings war es angesichts der Reichweite der Flugzeuge schwierig, zwischen Verteidigungs- und Angriffszwecken zu unterscheiden, selbst wenn das Hauptziel in der Verteidigung lag. Zumindest galt das für den potentiellen Gegner. Das Thema barg in sich genug Zündstoff, unter anderem auch, weil es mitten in die Verhandlungen über die SAC-Stützpunkte platzte32. Die Vertreter von Norwegen, SHAPE und AFNORTH diskutierten über den Vorschlag, und er fand breite Zustimmung bei den Alliierten und den norwegischen Militärs33. Sowohl das abtretende Gerhardsen-Kabinett als auch zunächst die neue Regierung Torp reagierten Ende 1951 negativ auf diesen Vorschlag. Sie blieben bei der Stützpunktpolitik, die die Stationierung ausländischer Truppen in Norwegen im Frieden ausschloß. Hauge versuchte, einen Kompromiß zu entwickeln. Er hatte erkannt, daß die norwegische Luftverteidigung verstärkt werden mußte, aber er bestand darauf, daß die Stützpunktpolitik nach außen hin nicht geändert werden durfte. Besonders lag ihm daran, die Aktivitäten der Alliierten im Norden auf ein Minimum zu beschränken. Die Hauptverantwortlichkeit mußte bei der norwegischen Luftwaffe liegen, und den Flugzeugen der Alliierten sollten nur sporadische Besuche gestattet werden. Im Süden Norwegens konnte er sich dagegen eine breitere Zusammenarbeit vorstellen. Seine Lösung sah einen Wechsel der Flugzeuge zwischen norwegischen und ausländischen Stützpunkten vor. Damit aber würde es auch Stützpunkte in Norwegen geben. Er ging davon aus, daß die Flugzeuge für den Kriegsfall für den Einsatz in Norwegen vorgesehen werden könnten34. Gleichzeitig versuchte Außenminister Lange, den Druck der Alliierten zu reduzieren und bat US-Außenminister Acheson, zugunsten Norwegens zu intervenieren. Acheson hatte die Stützpunktpolitik bereits akzeptiert und war immer noch der Meinung, daß es nicht klug wäre, die Sowjetunion im Norden herauszufordern. Sowohl Lange als auch Hauge befürchteten, daß Norwegen wegen der Stützpunktpolitik künftig weniger Militärmaterial bekommen würde35. Ein anderer möglicher Ausweg lag in dem Versuch, alle Flugzeuge in Dänemark zu stationieren. Die Dänen waren allerdings nicht bereit, sich allein der nationalen öffentlichen Kritik auszusetzen und bestanden darauf, daß beide Nationen

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33

34 35

UD 33.2/18e, I, Memorandum von Nielsen, Verteidigungsministerium, 26.3.1952; ebd., Brind an Lange und Langhelle, 27.3., 29.3.1952; ebd., Memorandum für den Verteidigungsminister von Sand, 28.3.1952; Tamnes, The United States and the Cold War, S. 85-89; Villaume, Allieret, S. 393-^34. Forsvarets overkommando (Archiv des norwegischen Oberkommandos — FOK), Forsvarsstaben (Verteidigungsstab — FST)/A, copybook, FST to SjefFST, 16.4.1952, Memorandum vom 30.4.1952; siehe auch ebd., Den militaere sjefsnemda (Ausschuß der Stabschefs, DMS), Protokoll, 30.4., 8.5., 1.12.1952. UD 33.2/18e, I, Hauge in RSU, 16.12.1951. SA, UUKK, 4.3.1952; UD 33.2/18d, I, Protokoll der Besprechung zwischen Lange, dem dänischen Außenminister Ole Bjern Kraft und Acheson am 22.2.1952.

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gemeinsam die Last zu tragen hätten. Diese Politik war nämlich nicht nur unpopulär bei der Sowjetunion, sondern auch bei der eigenen Bevölkerung36. Da dieser Ausweg nun auch verschlossen war, erhöhten die Bündnispartner den Druck auf Norwegen. Den Norwegern wurde erklärt, daß die Jäger, falls sie in einem anderen Land stationiert wären, Norwegen im Falle eines Konflikts eventuell nicht zur Verfügung stehen würden. Wenn die Infrastruktur nicht bereits vorhanden wäre, wäre es schwierig, wenn nicht unmöglich, die Flugzeuge im Krieg nach Norwegen zu verlegen. Sollte Norwegen den Vorschlag nicht akzeptieren, würden außerdem die für diesen Zweck vorgesehenen norwegischen Flugplätze nicht auf den für die Aufnahme der amerikanischen Flugzeuge erforderlichen Standard gebracht. Schließlich drohten die Amerikaner, daß der Kongreß die Militärhilfe insgesamt kürzen würde, wenn die Pläne nicht akzeptiert würden. Unter dem Druck der Amerikaner und der übrigen Bündnispartner gab das neue Kabinett Torp im Mai 1952 schließlich nach. Der Ministerpräsident versprach zu versuchen, den Storting zu einer Änderung der Stützpunktpolitik zu bewegen37. Der Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten wollte allerdings nicht nachgeben. Nur eine Minderheit seiner Mitglieder war bereit, die Beschränkungen der Stützpunktpolitik aufzuheben. Eine breite Allianz aus Mitgliedern der Arbeiterpartei und anderer Parteien unter der Führung des ehemaligen Ministerpräsidenten Gerhardsen trat gegen das Abkommen ein. Es scheint, daß Gerhardsen, immer noch Parteivorsitzender, und der frühere Verteidigungsminister Hauge, nun in der Parteizentrale tätig, davon überzeugt waren, daß die Auswirkungen des SAC-Abkommens und der Jäger-Vereinbarung zusammen eine unannehmbare Aufweichung der Stützpunktpolitik darstellten und daß in diesem Fall das SACAbkommen das geringere Übel wäre. Daher mußte Hauges Nachfolger im Amt, Nils Langhelle, den neuen NATO-Oberbefehlshaber General Matthew B. Ridgway bitten, das Angebot an Norwegen bezüglich der Jäger zurückzuziehen38. Ende 1953 und Anfang 1954 starteten die Amerikaner einen weiteren Versuch, die Stützpunktpolitik zu ändern, indem sie vorschlugen, US-Jäger zwischen Norwegen und einem anderen NATO-Land turnusmäßig auszutauschen. Tatsächlich sollte ein Jagdgeschwader in einem anderen Land stationiert werden, von dem jeweils 20 bis 25 Flugzeuge in Norwegen Dienst tun sollten. Rein formell wurden damit die Grundsätze der Stützpunktpolitik eingehalten, in der Realität jedoch wären dann amerikanische Flugzeuge permanent in Norwegen. Zu diesem Zeitpunkt trat das Kabinett Torp aus wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Gründen für eine Änderung der bislang vertretenen Politik ein. Die Angebote der Amerikaner und der Alliierten würden die norwegische Verteidigung verstärken und für den Gastgeberstaat wesentlich kostengünstiger sein als jeder andere Versuch, die norwegische Luftverteidigung zu verstärken. 36

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UD 33.2/18d, II, Skaug an Lange, 24.6.1952; ebd., Kraft an Lange, 1.7.1952; Villaume, Allieret, S. 394—434. UD 33.2/18e, II, Memorandum von Nielsen, 4.6.1952; SMK, FR, 19.4.1952. SA, UUKK, 25.6., 2.8., 4.12.1952; UD 33.2/18, II, Langhelle an Ridgway, 19.7.1952.

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Das Kabinett brachte den neuen Vorschlag vor den Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten, machte sich aber keine große Hoffnung auf seine Annahme. Und in der Tat wurde er abgelehnt, denn der Ausschuß sprach sich für die wesentlich teurere Beschaffung von Jägern aus nationalen Mitteln aus. Letztlich wurde infolge des Inflationsdrucks und wegen der Probleme mit der Zahlungsbilanz Ende 1954 auch dieser Plan gestrichen39. Um Einfluß auf die norwegische Politik zu nehmen, hat die militärische Führung der NATO vermutlich auch gezielt Indiskretionen an die Presse verbreitet, nach denen Lange für Stützpunkte in Norwegen eintrat. Diese Meldungen waren vom Inhalt her gar nicht falsch, verfehlten aber ihre Wirkung völlig. Lange und das Kabinett waren nun nämlich gezwungen, offiziell zu erklären, daß sich an der Stützpunktpolitik nichts ändern würde 40 .

4. Herausforderung und Reaktion Als die Regierung Gerhardsen 1949 den Beschluß zum NATO-Beitritt faßte, war sie davon ausgegangen, einem traditionellen Militärbündnis beizutreten. Sowohl Hauge als auch Lange stellten ausdrücklich klar, daß sie nichts von der Entwicklung der integrierten militärischen Zusammenarbeit hielten, die von einem gemeinsamen alliierten Generalstab organisiert und von einem Offizier geleitet wurde, der aus einem der größeren Bündnisstaaten stammte. Die norwegische Regierung wollte seinerzeit eine Garantie der Bündnispartner, irgendeine Art nicht genau definierter militärischer Zusammenarbeit und die Überlassung von Wehrmaterial zu günstigen Preisen. Nach dem Ausbruch des Koreakriegs ließ sich dieser Standpunkt nicht mehr halten, weil das Bündnis seine integrierte militärische Struktur entwickelte und weil die Arbeiterpartei feststellte, daß die vom Bündnis gebotene Garantie in der neuen Situation nicht mehr ausreichte. Allerdings waren die neuen Elemente der Sicherheit, die die militärische Integration mit sich brachte, nur zu einem beträchtlichen politischen Preis zu haben, sowohl innenpolitisch als auch im Verhältnis zur Sowjetunion. Man war sich quer durch die Parteien darin einig, daß der Nachbar im Osten nicht provoziert werden durfte. Auch über die praktischen Folgen dieser Einstellung war man sich weitgehend einig. Vor allen Dingen durfte das Svalbard-Archipel in keinen NATO-Vertrag einbezogen werden und mußte entmilitarisiert bleiben. Die Regierung der Arbeiterpartei und so gut wie alle Mitglieder des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten waren in dieser Hinsicht sogar noch

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UD 33.1 /8,1, Memorandum von Lange, 23.6.1954; UD 33.2/5, XIII, Protokoll des dänisch-norwegischen Treffens der Außen- und Verteidigungsminister, 13.4.1954; SMK, RSU, 4.12.1953, 3.6., 22.6.1954,17.6.1955; SA, UUKK, 8.6; RA, RP, 21.6.1955. UD 33.6/14,1, enthält eine Reihe dieser Meldungen und Langes Reaktion darauf; SA, UUKK, 4.12.1952.

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strikter als der Svalbard-Vertrag. Sogar ein ziviler Flugplatz kam nicht in Frage. In zwei scharf formulierten Noten vom Oktober und November 1951 warf die Sowjetunion Norwegen und den Westmächten vor, den Vertrag zu verletzen, indem »sie den Streitkräften des unter amerikanischer Führung stehenden Bündnisses erlaubten, militärische Maßnahmen im Gebiet rund um die Inseln auszuführen«. Damit war die Regierung gezwungen, das Verbot militärischer Einrichtungen noch einmal nachdrücklich zu bestätigen41. Es herrschte auch allgemeine Einigung in Norwegen darüber, daß die Finnmark praktisch als Pufferzone zwischen der NATO und der Sowjetunion dienen sollte, wie Hauge sich in seinem Gespräch mit Alexander im Jahr 1949 ausgedrückt hatte. Im Lauf der Entwicklung des Kalten Krieges waren sich die norwegischen Außenpolitiker auch ziemlich sicher, daß die Stützpunktpolitik ein Mittel sei, um zu verhindern, daß Norwegen in den Anfangsphasen eines allgemeinen Krieges zum Bombenziel werde. Außerdem würde sie das sogenannte Gleichgewicht im Norden garantieren. Stützpunkte der Alliierten in Norwegen könnten die Sowjets dazu verleiten, eigene Stützpunkte in Finnland zu fordern, was wiederum die Lage von Schweden stark gefährden würde42. Als die Alliierten vermehrt Druck gegen die Stützpunktpolitik ausübten, gab es besonders in bezug auf die beiden letztgenannten Punkte höchst unterschiedliche Ansichten. Der Regierung Torp, unterstützt von einigen Abgeordneten der Arbeiterpartei und auch der Opposition, ging es in erster Linie darum, Norwegen militärisch zu verstärken und die kostengünstigste Lösung für die norwegischen Sicherheitsprobleme zu finden und weniger darum, die bislang betriebene Politik der Besänftigung Moskaus fortzusetzen. Sie waren der Ansicht, daß amerikanische Stützpunkte die Lage Norwegens bedeutend verbessern würden. Wie es ein Amerikaner 1952 ausdrückte, stellte die norwegische Stützpunktpolitik sicher, daß »die Frage, wie die norwegische Nordflanke wirksam zu sichern sei [···] im Prinzip [...] eine rein theoretische Frage blieb«43. Die Mehrheit, die eine Änderung der Stützpunktpolitik weiterhin ablehnte, war ernsthaft besorgt, daß eine derartige Maßnahme beträchtliche innere Unruhen auslösen könnte. Die Politik der Besänftigung zielte ja nicht nur auf die Sowjetunion ab, sondern auch auf den linken Flügel der Arbeiterpartei sowie auf die früheren Neutralisten und Pazifisten in der Partei. Die weitgehende Einigkeit über die NATO-Mitgliedschaft Norwegens wäre sofort zerstört gewesen, wenn amerikanische oder NATO-Stützpunkte auf norwegischem Boden errichtet worden wären. Diese Gefahr war nach Ansicht der meisten Mitglieder des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten wesentlich höher einzuschätzen als eine eventuelle Auseinandersetzung mit den Amerikanern und der militärischen Führung der NATO. 41 42 43

SMK, KU, 21.8.1952; Eriksen, Svalbardspersmälet, S. 149-151. SA, UUKK, 25.6., 2.8., 4.12.1952. UD 33.2/ 18d, Aktennotiz von Nielsen für Verteidigungsminister, 29.9.1952.

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Die Bereitwilligkeit, sich so stark mit den Partnern auseinanderzusetzen, die ja überwiegend den Schutz Norwegens garantierten, ist nur angesichts der Enttäuschung über die Konsequenzen der NATO-Mitgliedschaft zu verstehen. Die Mitglieder der Regierung fühlten diese Enttäuschung, die Opposition noch viel stärker. 1950 bis 1955 gab es ernsthafte Sorgen um den Verlust an Souveränität, den die NATO-Mitgliedschaft mit sich brachte. Geäußert wurden diese Sorgen aber allenfalls im geschlossenen Kreis innerhalb der Regierung oder im Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten. Das geschah aber laut und deutlich genug, so daß den Botschaftern der anderen Bündnisstaaten »die Zurschaustellung eines ziemlich kindischen Nationalismus« auffiel und diese sich beklagten, daß die Norweger unvernünftig und stur seien, sobald sie das Gefühl hatten, ihre nationalen Interessen seien bedroht44. Der Kampf um die Souveränität zeigte sich im Großen wie im Kleinen. Der Widerstand gegen die Erhöhung der Anzahl der amerikanischen Militärberater ist ein Beispiel, ebenso die persönliche Weigerung des ansonsten prowestlich eingestellten Königs Haakon VII., das NATO-Hauptquartier zu besuchen, da er den britischen Oberbefehlshaber nicht als Instanz oberhalb der nationalen Regierungen anerkennen wollte45. Weitreichendere Konsequenzen hatten die norwegischen Forderungen nach der Kontrolle über Bombeneinsätze und mehr Mitsprache in der Verteidigungsplanung wie auch das Beharren auf dem Standpunkt, daß die Kriegführung mit irregulären bewaffneten Kräften und nachrichtendienstliche Einsätze in nationaler Zuständigkeit bleiben müßten46. Diese Politik der Abwehr allzu auffälliger Präsenz der NATO und insbesondere der Vereinigten Staaten betrieben die Regierungen Gerhardsen und Torp äußerst geschickt, der erstere allerdings mit etwas mehr Energie. Gleichzeitig betonten besonders Lange und Hauge, daß die Zusammenarbeit auf Vertrauen basieren müßte. Die Erfahrung mit der Londoner Exilregierung hatte ganz deutlich gezeigt, wie ein kleiner Staat möglichst viel Einfluß in einem Bündnis gewinnen kann47. Die Regierungen waren allerdings gleichzeitig von vielen Seiten dem Druck ausgesetzt, eine noch wachsamere Politik mit nationaler Zielsetzung zu betreiben. Eine große Anzahl der Mitglieder des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten, die nicht der Arbeiterpartei angehörten, von uns als »nationalkonservatives Bündnis« in bezug auf die Außenpolitik bezeichnet, kritisierte ständig die Regierung wegen ihrer angeblichen Bereitschaft, in Fragen der nationalen Souveränität zu schnell nachzugeben. Am deutlichsten wurde C.J. Hambro, erfahrener Staatsmann und Vorsitzender der Konservativen Partei, Veteran im Ausschuß seit der Zwischenkriegszeit und 44 45

46

47

PRO, FO 371/86535, Collier an Bevin, 22.11.1950. PRO, FO 371/116480, Aktennotiz von Hood, 10.3.1955; ebd., Außenministerium an Botschaft in Oslo, 22.3.1955; ebd., Botschaft an Außenministerium, 6.4.1955. FOK, FST/a, copybook, FST an Forsvarsdepartementet (Verteidigungsministerium — FD), 30.7.1952; ebd., Verteidigungsminister an CINCNORTH, 3.8.1953,9.5., 24.10.1956; ebd., DMS, Protokoll, 28.7.1952, 25.9., 23.10.1953; SMK, KU, 20.9.1954. SA, UUKK, 22.6.1950; Riste, Londonregjeringa, Bd 2, S. 384-388.

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berühmt für seinen Mut und seine Weitsicht nach dem deutschen Angriff im April 1940. Bereits im Sommer 1950 beschwerte er sich darüber, daß die Zuständigkeit »für die Durchführung der norwegischen Außenpolitik außerhalb unserer Grenzen liegt«. Mit der Unterstützung anderer Mitglieder des Ausschusses forderte er die Regierung auf, bei den NATO-Konferenzen »mißtrauisch und wachsam auch gegenüber unseren Partnern zu sein«48. Viele Norweger stimmten Hambro zu, als er seine Sorgen über »diese ausländischen Herren« ausdrückte, die keine Kenntnisse über und kein Verständnis für die norwegische politische Tradition hätten49. Seine Skepsis hinsichtlich der amerikanischen Außenpolitik teilten nicht so viele Norweger, aber seine Ansichten über die Regierung Eisenhower waren auf dem linken Flügel durchaus populär. In seinem letzten Jahr als Abgeordneter wurde er noch einmal ganz deutlich: »Ich habe mir stets Sorgen gemacht, daß wir der amerikanischen Führung zu sehr hinterhergelaufen sind. Diese verfolgt in Wirklichkeit gewisse materialistische und imperialistische Ziele«, die, so befürchtete er, »den Interessen des westlichen Lagers schaden könnten50.« Der Großteil der konservativen Opposition allerdings hegte weniger Befürchtungen wegen der unangenehmen US-Politik, ihm ging es hauptsächlich um den Verlust an Souveränität, der mit den vorgeschlagenen Stützpunkten einhergehen würde. Man ging davon aus, daß diese Vorschläge die Stützpunktpolitik zersetzen würden. Hambros Parteifreund Carl P. Wright war schon besorgt über AFNORTH und die amerikanische Militärmission, »und nun sollen wir auch noch US-Luftwaffenstaffeln in das Land lassen51.« Die nationalkonservative Opposition allein hätte Torp und Lange kaum viel Anlaß zur Besorgnis gegeben. Trotz ihrer Beschwerden über den Verlust der Souveränität waren diese Politiker in der Regel eisern prowestlich und pro-NATO eingestellt. Die Opposition innerhalb der Arbeiterpartei war ein weitaus größeres Problem für die Regierung Torp bei ihrem Bemühen, die politischen Turbulenzen der frühen fünfziger Jahre zu bewältigen. Sie entsprang völlig anderen Quellen und bekam auch Unterstützung von vielen Gleichgesinnten aus dem anderen politischen Lager. Teilweise hatte die Kritik ihren Ursprung im linken Parteiflügel bei denjenigen, die auch schon den norwegischen NATO-Beitritt im Jahr 1949 abgelehnt hatten. Dies war aber bei weitem die kleinste Gruppierung, und sie war im Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten, in dem sich die Debatten über die norwegische NATO-Politik hauptsächlich abspielten, kaum vertreten. Lange machte sich wesentlich mehr Sorgen um eine gemischte Gruppierung innerhalb seiner Partei, die er die »Bauern« nannte. Diese stellten einen beträchtlichen Anteil seiner Wählerschaft. Sie hatten den NATO-Beitritt, wenn auch nur 48 49 50

51

SA, UUKK, 22.6.1950. SA, UUKK, 7.4.1953. SA, UUKK, 28.11. und 5.12.1956; siehe auch ebd., 24.11.1955: »Ich habe mich immer gefragt, was die schlimmere Katastrophe ist, daß Eisenhower krank ist oder daß es Foster Dulles gut geht.« SA, UUKK, 17.11.1951.

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zögernd, unterstützt: »Tief in ihren Herzen haben sie sich nie damit abgefunden, daß wir eine aktive Verteidigungspolitik betreiben müssen und daß wir den Isolationismus hinter uns gelassen haben52.« Die immer mehr unter Druck geratene Regierung Torp suchte gegen Ende 1953 nach Auswegen aus vielen Problemen, besonders auch in der Außenpolitik. Lange hatte seinem Freund Dag Bryn geantwortet, der dem Außenminister zu einer offensiven Reaktion ;>gegen das weitverbreitete Unbehagen nicht nur über die Verteidigungsausgaben und die Amerikaner, sondern auch unsere gesamte außenpolitische Strategie« geraten hatte53. Lange fand es klüger, vorsichtiger gegen die eigene Wählerschaft und den Storting vorzugehen. Er wollte Ausdrücke wie »supranational« und »Integration« vermeiden, die Skeptiker nur provozieren und kaum jemanden zum Umdenken bewegen würden. Er wies auch vehement darauf hin, daß sowohl die Arbeiterpartei als auch die Opposition »im Rahmen der OEEC und der NATO bereits weitreichende Einschränkungen unserer Souveränität akzeptiert haben«54. Lange war offensichtlich überzeugt, daß das Kabinett der politischen und allgemeinen öffentlichen Meinung so weit wie gerade noch vertretbar vorausgeeilt war. Er hatte gute Gründe, vorsichtig zu sein. Gerhardsen und der einflußreiche Vorsitzende des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten, Finn Moe, lehnten beide 1951 den Vorschlag mit der Jagdstaffel vehement ab55. Gerhardsen hatte bereits 1951 in seiner ersten Amtszeit als Ministerpräsident ernsthafte Zweifel, ob Norwegen mit der Zustimmung zur NATO schon zu weit gegangen war oder nicht. Sicher haben die leidigen verteidigungs- und außenpolitischen Probleme mit zu seinem Entschluß beigetragen, 1951 als Ministerpräsident zurückzutreten56. Im Kreuzfeuer zwischen den NATO-Militärs und der eigenen Opposition lenkten Torp und Lange schließlich ein. Sie erkannten, daß es ihnen nicht gelingen würde, die Opposition zu spalten und daß sie wohl an ihrem eigenen Stuhl sägen würden, wenn sie sich für Wiederaufrüstungspläne stark machten und die Forderungen der NATO an Norwegen unterstützten. In der spannungsgeladenen Zeit nach dem Ausbruch des Koreakriegs und dem Eingreifen der Chinesen waren sie durchaus bereit gewesen, das Risiko einer starken sowjetischen Reaktion in Kauf zu nehmen, um eine noch bessere Garantie der NATO für Norwegen zu erwirken und die NATO zufriedenzustellen. Sie erkannten aber, daß sie sich mit einer Allparteien-Opposition im eigenen Land auseinandersetzen mußten. Torp und Lange mußten akzeptieren, daß die Stützpunkterklärung von 1949 nicht so weit verbogen werden durfte, bis sie gegenstandslos war. Ständige NATOStützpunkte, wenn auch unter anderer Bezeichnung, waren im Ausschuß für aus52 53 54 55 56

NNI, H. Langes Papiere, Corr., F 3, Lange an Bryn, 29.9.1953; Eriksen, DNA, S. 198-226. NNI, H. Langes Papiere, Corr., F 3, Bryn an Lange, 25.9.1954. NNI, H. Langes Papiere, Lange an Bryn, 29.9.1954. SA, UUKK, 25.6. und 2.8.1952. Dansk arbeiderbevegelses arkiv og bibliotek (Archiv und Bibliothek der dänischen Arbeiterbewegung, Kopenhagen — DAAB), Hansen an Hedtoft, 29.7.1952; SA, UUKK, 29.6.1954.

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wärtige Angelegenheiten des Storting nicht durchsetzbar, im Parlament schon gar nicht. Für Lange ergab sich daraus als wichtigstes Ziel, den brüchigen Konsens in der Außenpolitik zu erhalten. Wenn er zu hartnäckig auf der Einrichtung von Stützpunkten und der Integration in das Bündnis bestand, riskierte er nur, daß die internen Diskussionen wieder aufbrachen. Wie er selbst sagte, hatte man ja bereits ein beachtliches Maß an Integration erreicht. Würde man jetzt übertreiben, könnte man leicht das Gegenteil erreichen. Die große Mehrheit der Abgeordneten und die Mitglieder des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten standen mit Sicherheit hinter der NATO, auch wenn es ihnen nicht leicht fiel einzugestehen, daß die Mitgliedschaft im Bündnis gewisse Abstriche an der Souveränität erforderte. Lange war sich darüber im klaren, daß die meisten Abgeordneten in bezug auf viele Nebenaspekte der Integration nicht gut genug informiert waren, um das Ausmaß und die Unvermeidlichkeit des Vorgangs voll und ganz zu verstehen. Trotzdem versuchte die Regierung Torp vermutlich, die Zusammenarbeit mit der NATO zu schnell voranzutreiben. Vielen galt sie als zu bereitwillig, auf Forderungen von außen einzugehen, die sich nicht mit den althergebrachten norwegischen Grundsätzen und Neigungen vertrugen. Ebenso wie beim Rücktritt Gerhardsens 1951 spielten die Fragen der Außenpolitik eine entscheidende Rolle, als Torp Anfang Januar 1955 nach hitzigen Diskussionen in der Zentrale der Arbeiterpartei gezwungen wurde zurückzutreten. Gerhardsen warb weiterhin um mehr Verständnis für die Politik, die Ziele und die Bedürfnisse der Sowjetunion. Er hatte auch ein wachsames Auge auf die Forderungen der NATO in bezug auf Nordnorwegen und die Stützpunkte. Und so waren die Stützpunkte denn auch kein Thema im Kabinett, als Gerhardsen wieder Ministerpräsident wurde. Lediglich die Frage der Stationierung von Atomwaffen in Norwegen sollte während der nächsten fünf bis sechs Jahre noch für Aufregung sorgen und zur Bildung einer linken Splitterpartei führen. Änderungen an der Stützpunktpolitik waren aber kein Thema mehr. Gleichzeitig bestand die Parteizentrale darauf, daß Lange Außenminister bleiben sollte. Das wurde weithin als Zeichen gewertet, daß Norwegen seinen Kurs nicht ändern wollte. Lange stand für den Entschluß Norwegens, der NATO beizutreten und Mitglied zu bleiben. Prowestlich eingestellten Norwegern galt er als dringend notwendig, bewunderswert und äußerst nützlich, die Skeptiker begegneten ihm mit Mißtrauen. Innenpolitisch war er von besonderem Nutzen in bezug auf die anderen Parteien. Für die überwältigende Mehrheit ihrer Abgeordneten wäre jeder andere Außenminister der Arbeiterpartei eine wesentlich weniger akzeptable Lösung gewesen.

5. Demokratisch, gefährdet und nordatlantisch Lange als Außenminister unter Gerhardsen als Ministerpräsident — auf den ersten Blick ein Paradox. Tatsächlich aber symbolisieren diese beiden unterschiedlichen

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Persönlichkeiten die Gemeinsamkeiten wie auch die Spaltungen, die die norwegische Außenpolitik von 1949 bis zum Ende der achtziger Jahre bestimmt haben. Bis auf die Kommunisten und einige wenige Mitglieder des linken Flügels der Arbeiterpartei war man sich zumindest nach dem Sommer 1950 weitgehend einig darüber, daß die westeuropäischen Staaten im allgemeinen und Norwegen ganz besonders in einer äußerst schutzlosen Lage waren. Daher gab es keine Alternative zur NATO, so lange wie die Schweden es sich nicht leisten konnten, für die Verteidigung ihrer Nachbarn zu sorgen und auch nicht bereit waren, von ihrer Neutralitätspolitik abzurücken. Gerhardsen und Lange waren sich darüber einig, daß die Vorstellung einer enger verbundenen nordatlantischen Gemeinschaft den »Ausgangspunkt« für die gesamte norwegische Außenpolitik darstellen mußte. Begründet war diese Vision auf der engen atlantischen Zusammenarbeit, die die Exilregierung in London erlebt hatte. Diese Art der nordatlantischen Zusammenarbeit sollte auch Organisationen wie OEEC und den Europarat umfassen. Die nordatlantische Zusammenarbeit in diesem erweiterten Rahmen hätte dann auch Schweden einschließen und so die Kluft zwischen den skandinavischen Staaten überbrücken können, die sich durch die Entscheidung Schwedens aufgetan hatte, nicht zusammen mit Dänemark und Norwegen der NATO beizutreten. Diese Zusammenarbeit würde eine Art Parlament und regelmäßige Beratungen auf Kabinettsebene mit sich bringen. Für Norwegen war daher das Atlantische Bündnis eine Vorbedingung zur Verwirklichung der nordatlantischen Gemeinschaft. Auf diese Art wollten Gerhardsen und Lange auch die Vereinigten Staaten stärker in die nordwesteuropäische Zusammenarbeit einbinden57. Die Entscheidung für die nordatlantische Zusammenarbeit war auch auf der Furcht vor der westeuropäischen Integration begründet. Während der fünfziger Jahre sah die norwegische Regierung die sich entwickelnde Zusammenarbeit der kontinentaleuropäischen Staaten mit größter Skepsis und versuchte ihr bestes, um eine Altemativstrategie gegen die westliche Zusammenarbeit zu entwickeln58. Das hieß aber nicht, daß Oslo alle Aspekte der nordatlantischen Zusammenarbeit in einem positiven Licht sah. Es sperrte sich gegen eine Aufnahme der Türkei und Griechenlands in die NATO, weil dies den atlantischen Charakter des Bündnisses verwässerte und die Aufnahme nichtdemokratischer Staaten bedeutete59. Trotzdem blieb Norwegen dem übergeordneten Ziel der nordatlantischen Zusammenarbeit verpflichtet. Daher sind die Forderungen nach einer Sonderbehandlung innerhalb des Bündnisses eher oberflächliche Unruhen als tiefe Zweifel am Sinn der NATO-Mitgliedschaft, verursacht durch die historisch gewachsenen politischen Traditionen Norwegens. 57

58 59

RA, SMK, Β UD Kabinettspapiere aus dem Jahr 1954, Umlauf 57 aus dem Außenministerium, von Jacobsen, 7.6.1951; siehe auch ebd., Aktennotiz von Bryn, 20.10.1951. Pharo, The Norwegian Labor party, S. 201-220; Tamnes, The United States, S. 80. UD 33.2/5, II, Lange bei einer Sitzung des Ausschusses, 18.9.1951.

Nikolaj Petersen Dänemark und die atlantische Allianz 1949-1957. Die kritische Entscheidung 1. Einleitung Für Dänemark bedeuteten die Jahre 1949-1957 die oftmals schmerzhafte und umstrittene Anpassung an das Dasein als Mitglied eines militärischen Bündnisses in der Zeit starker internationaler Spannungen, deren kritischer Bereich in unmittelbarer Nähe Dänemarks lag. Die Tatsache, daß Dänemark während der ganzen Zeit tatsächlich an der Verteidigungslinie lag, die die NATO in Europa halten zu können hoffte, sorgte für besondere Begleitumstände der Anpassung an die neue Sicherheitslage. Die Mitgliedschaft in einem Bündnis war eine neue Erfahrung, da sich Dänemark seit Ende des Großen Nordischen Krieges 1 7 2 0 bemüht hatte, sich aus verwickelten Bündnissen und der Beteiligung an der europäischen Großmachtpolitik herauszuhalten — eine Einstellung, die durch Dänemarks traumatische Niederlage gegen die deutschen Staaten im Deutsch-Dänischen Krieg 1864 nur noch verstärkt wurde. Danach suchte Dänemark Zuflucht — wenn auch gelegentlich in Anlehnung an Deutschland — in einer absoluten Neutralität. Dieser Kurs war bezeichnenderweise mit geringen, manchmal nur symbolischen Verteidigungsanstrengungen gekoppelt. Der inoffizielle Slogan hinter dieser Einstellung zur Verteidigung lautete: »Was nutzt sie überhaupt 1 ?« Sowohl die Neutralität als auch die Skepsis im Verteidigungssektor wurden während des Zweiten Weltkrieges angezweifelt. »Niemals wieder einen 9. April« (Tag der widerstandslosen deutschen Besetzung Dänemarks im Jahr 1940) war die Parole der dänischen Widerstandsbewegung, die nach dem Krieg zur offiziellen außenpolitischen Doktrin erhoben wurde. Doch alte Denkweisen hielten sich weiterhin und bestimmten die Sicherheitsdebatten in der unmittelbaren Nachkriegszeit wie auch während der nachfolgenden Anpassung an die NATO-Mitgliedschaft. Die folgende Analyse beschäftigt sich mit den Spannungen dieses Anpassungsprozesses, die zwischen Dänemark und den Verbündeten sowie im Lande selbst von 1949 bis 1957 spürbar waren. Die frühen Jahre der dänischen Bündnispolitik waren im wesentlichen von fünf wichtigen Entscheidungen bestimmt, von denen jede mit ihrem Inhalt einen Beitrag zur Gesamtpolitik leistete und die zusammen die Haltung Dänemarks 1

Gute Analysen der Tradition dänischer Außenpolitik enthalten Holbraad, Danish Neutrality, und Funk, Deutschland als Problem Dänemarks.

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während des Kalten Krieges bestimmten. Vier dieser Entscheidungen werden nachfolgend beleuchtet: - die Entscheidung über den Beitritt zur NATO (1949), - der Abschluß des Grönland-Verteidigungsvertrages mit den Vereinigten Staaten (1951), - die Entscheidung gegen die Stationierung von verbündeten Truppen in Dänemark selbst (1953) und - die Entscheidung gegen Atomwaffen in Dänemark unter den derzeitigen Bedingungen (1957)2. Die Analyse, die theoretisch von Glenn Snyders Theorie des Bündnisverhaltens inspiriert ist, wird sich auf diese Entscheidungen und ihren Hintergrund konzentrieren, um die zugrundeliegenden Dynamiken und Muster der dänischen Bündnispolitik herauszuschälen. Sie stützt sich im wesentlichen auf folgende Quellen ab: Viel einschlägiges Material ist in einer offiziellen Publikation des Außenministeriums aus dem Jahr 1969 — »Dansk sikkerhedspolitik« — erfaßt. Eine andere wichtige Quelle ist Poul Villaumes äußerst umfangreiche Doktorarbeit »Allieret med forbehold«, in welcher Dänemarks NATO-Politik in den Jahren 1949-1961 beleuchtet wird. Ihr liegen eindrucksvolle Untersuchungen ausländischer Quellen, vor allem amerikanischer diplomatischer und militärischer Dokumente, zugrunde. Sie enthält sehr viele neue Informationen zu diesem Thema. Leider waren Villaume die offiziellen dänischen Quellen aufgrund des restriktiven Zugangs zu dänischen Archiven weitgehend unzugänglich. Auch jetzt können nur zwei Dokumente aus dänischen Quellen herangezogen werden, die Grönland· Akten des Außenministeriums bis zum Jahr 1951, die eine genauere Analyse des 1951 zwischen Dänemark und den Vereinigten Staaten abgeschlossenen wichtigen Grönlandvertrages ermöglichen, und die Akten des Udenrigspolitisk Naevn (parlamentarischen außenpolitischen Ausschusses) als ausgezeichnete Quelle für die innenpolitischen Aspekte der dänischen Sicherheitspolitik im Untersuchungszeitraum.

2. Dänemark tritt dem Bündnis bei Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchten sich die dänischen Regierungen von Knud Kristensen (Liberaler) in den Jahren 1945 bis 1947 und Hans Hedtoft (Sozialdemokrat) in den Jahren 1947-1950 auf die Vereinten Nationen und den Brückenbau zwischen Ost und West abzustützen. Noch im Januar 1948 warnte Premierminister Hedtoft vor dem dänischen Beitritt zu irgendeinem Machtblock. Bald wurde die dänische Sicherheitspolitik jedoch von der Suche nach Sicherheit dominiert. Während der sogenannten Osterkrise 1948 begab sich die Regierimg Hedtoft auf die Suche nach Garantien von dritter Seite als Ausgleich für die 2

Die fünfte wesentliche Entscheidung, eng mit der Bundeswehr zusammenzuarbeiten, wurde erst 1961 getroffen und liegt außerhalb des hier behandelten Zeitraums.

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momentan erkannte kritische Verwundbarkeit Dänemarks, falls die Sowjets ihr Vorgehen von 1940 wiederholen würden3. Von diesem Zeitpunkt an stufte die Regierung Dänemark als das potentiell am meisten bedrohte Land Westeuropas ein. Dieses Gefühl hielt noch lange nach dem Beitritt Dänemarks zur NATO an und verschwand eigentlich erst um das Jahr 1960, als die Wiederaufrüstung Westdeutschlands das militärische Gleichgewicht im dänischen Umfeld änderte. Bei der Suche nach Sicherheit setzte die Regierung Hedtoft auf die Bildung eines Nordischen Verteidigungsbündnisses. Eine Anlehnung an den Westen wurde indessen nie ausgeschlossen, und als die nordische Option zu Beginn des Jahres 1949 wegen unüberbrückbarer schwedisch-norwegischer Meinungsverschiedenheiten ausschied, folgte Dänemark Norwegen in der Unterzeichnung des Nordatlantikpaktes. Obwohl diese Entscheidung damals als beinahe unausweichlich betrachtet wurde, fiel sie nicht leicht. Immerhin wurde sie von vielen Entscheidungsträgern nur als Ersatzlösung betrachtet. Das traf insbesondere für die führende sozialdemokratische Partei zu, deren innenpolitische Partner, die Sozialliberalen (Radikale Venstre) an der Neutralität festhielten und im Parlament gegen den Vertrag stimmten. Die Liberalen und Konservativen sprachen sich eindeutig für die NATO-Mitgliedschaft aus, würden sich aber wahrscheinlich auch mit einer nordischen Lösung einverstanden erklärt haben. Dänemarks Beitritt zur NATO wurde somit von einer nicht ganz überzeugten Gruppierung aus widerstrebenden und etwas skeptischen Sozialdemokraten und den prowestlichen Liberalen und Konservativen bewerkstelligt. Eine weitere Schwäche der Neuorientierung der Sicherheitspolitik war die mangelnde Vorbereitung der meisten Politiker. Obwohl die Regierung eine Anlehnung an den Westen nie ausgeschlossen hatte, war man so auf eine nordische Lösung eingeschworen gewesen, daß nur wenig über das Atlantische Bündnis nachgedacht worden war. Als Dänemark dem Bündnis beitrat, fehlte das volle Verständnis für sein Hauptziel, nämlich die Verhinderung eines Krieges durch strategische Abschreckung der Sowjetunion. In den Jahren 1948/49 waren die Politiker mit der Suche nach glaubwürdigen konventionellen Garantien gegen einen direkten Angriff beschäftigt, und die Abschreckung blieb eine nebulöse und etwas beunruhigende Vorstellung4.

3. Die drei »Spiele« der dänischen NATO-Politik Glenn Snyder hat eine interessante Theorie über unser Bündnisverhalten auf der Grundlage der Spieltheorie und der Sicherheitsdilemmakonzeption entwickelt5. 3 4

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Diese aufschlußreiche Episode ist analysiert in: Petersen, Paskekrisen. Analysen der Bündnispolitik Dänemarks in den Jahren 1 9 4 8 / 4 9 sind nachzulesen bei Petersen, Optionsproblematikken; Villaume, Allieret, S. 91-120. Bezüglich der Meinungsverschiedenheiten zwischen Dänemark und Norwegen siehe Petersen, Danish and Norwegian Alliance Politics. Snyder, The Security Dilemma.

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Bündnispolitik wird in zwei Spielen gespielt, d.h. als Bündnisspiel und Gegnerspiel. Das erstere betrifft die Politik innerhalb des Bündnisses. Im vorliegenden Fall geht es um Dänemarks politische Vorstellungen im Bündnis bezüglich Gliederung, Entscheidungsmechanismen, Ausgewogenheit zwischen Europa und USA, Lastenverteilung und spezielle Bündnisvorgaben. Das Gegnerspiel beschäftigt sich mit den politischen Beziehungen zwischen gegnerischen Bündnissen und Nationen. Hier geht es um die dänische Politik gegenüber der Sowjetunion als Gegner und auch um die Politik und Strategie der NATO gegenüber dem Osten im allgemeinen. Im einen wie im anderen Spiel können zwei Hauptstrategien gewählt werden: eine Strategie »C« (für »cooperation«) oder eine Strategie »D« (für »defection« = Distanzierung). Im Bündnisspiel bedeutet eine »C«-Strategie nachhaltige Unterstützung des Bündnisses und der Bündnispartner, ein glaubwürdiges Engagement für die gemeinsame Verteidigung und ein festes Einstehen für die mehrheitlich verfolgten politischen und strategischen Ziele. Eine »D«-Strategie steht dagegen für eine nur vorbehaltliche und begrenzte Unterstützung des Bündnisses und die allgemeine Tendenz zur Einnahme einer unabhängigen oder teilweise unabhängigen Haltung. Im Gegnerspiel steht eine »C«-Strategie für eine konziliante, nicht provokative und entspannungsorientierte Politik, während die »D«-Strategie auf Entschlossenheit, Widerstand und Abschreckung abzielt. Bündnis- und Gegnerstrategien sind nicht voneinander zu trennen; denn Bündnisse werden im allgemeinen zum Schutz vor einem Gegner eingegangen, von dem man seine nationale Sicherheit bedroht wähnt. Außerdem gehen gewisse Strategien in den beiden Spielen auf natürliche Weise Hand in Hand. So ist eine kooperative »C«-Strategie im Bündnisspiel ganz natürlich mit einer entschlossenen »D«-Strategie gegenüber dem gemeinsamen Feind verbunden. Und letztendlich wirkt sich die Strategiewahl in einem Spiel auf das Für und Wider — oder »Gute« und »Böse« wie es Snyder recht unelegant bezeichnet — der Strategien im anderen Spiel aus. Im Bündnisspiel sind Sicherheit und Schutz die Hauptvorteile einer »C«-Strategie, während sein Hauptnachteil die Gebundenheit ist, d.h. der Verlust an Handlungsfreiheit zugunsten des Bündnisses. Im Gegensatz dazu steht bei der »D«Strategie die relative Unabhängigkeit als Hauptvorteil, während der größte zu vermeidende Nachteil — das Alleingelassensein, d.h. vom Bündnis im Stich gelassen zu werden, vermieden wird. Im Gegnerspiel kann eine »C«-Strategie den Vorteil der Entspannung und Verringerung der Reibungspunkte bringen, wobei Beschwichtigung das zu vermeidende Hauptübel ist. Eine »D«-Strategie dagegen kann die Abschreckung (oder Vernichtung) des Gegners als Hauptvorteil bieten, kann jedoch auch den Nachteil verstärkter Spannungen und sogar Krieg mit sich bringen. Beide Spiele sind mit Dilemmata behaftet, da sich ihre Vor- und Nachteile gegenseitig aufzuheben scheinen. Im Bündnisspiel ist es nicht einfach, die Vorteile der maximalen Sicherheit mit relativer Unabhängigkeit in Einklang zu bringen ohne gleichzeitig im Stich gelassen oder zu stark gebunden zu werden. In

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ähnlicher Weise ist es schwierig, beim Gegnerspiel Abschreckung und Entspannung zu erzielen und dabei Beschwichtigung und Spannungen zu vermeiden. In den meisten Fällen werden die Nationen eine Wahl treffen und die Nachteile zusammen mit den Vorteilen in Kauf nehmen müssen. Snyders Sicherheitsdilemma beruht auf einer »realistischen« Einschätzung der Außen- und Sicherheitspolitik. Regierungen müssen ihre Strategien auf der Grundlage einer rationalen Wahl und unbelastet von Nebenaspekten wählen. In einigen Fällen müssen die Entscheidungsträger jedoch unter innenpolitischen Bedingungen agieren, die durch konkurrierende alternative Strategien und konkurrierende politische Notwendigkeiten gekennzeichnet sind wie die Bildung einer Koalition. Dadurch wird ihre Strategiewahl in den beiden außenpolitischen Spielen beeinflußt und erschwert. In solchen Fällen kann noch ein drittes mächtiges Spiel dazukommen, nämlich das innenpolitische Spiel. Zwischen 1949 und 1957 waren die vorherrschenden Strategien der NATOMitgliedsstaaten im Bündnisspiel (d.h. die NATO-Politik) »C«-Strategien, die auf maximale Sicherheit, die US-Führung im Bündnis und den Zusammenhalt des Bündnisses abhoben. Die »D«-Strategien des Gegnerspiels (d.h. die Politik gegenüber der Sowjetunion) mit ihrer Abschreckung und Verteidigung hatten Vorrang, und gleichzeitig war die damit verbundene Gefahr starker Spannungen zwischen Ost und West in Kauf genommen worden. Schließlich war das innenpolitische Spiel in den meisten NATO-Staaten wegen des innenpolitischen Konsenses und der geringen Einbeziehung der Öffentlichtkeit in die Sicherheitsdebatte recht schwach ausgeprägt. In Dänemark tendierten die drei Spiele in eine andere Richtung. Im Bündnisspiel standen die Entscheidungsinstanzen — wenn auch oftmals von einer zwanghaften Suche nach Sicherheit geleitet — einer uneingeschränkten »C«-Strategie ablehnend gegenüber. Die Dänen konnten sich auch mit einer reinrassigen »D«Strategie nicht befreunden. Ein Grund dafür, wenn auch nicht der einzige, waren die Auswirkungen des innenpolitischen Spiels, das in einigen wesentlichen Entscheidungen dieser Zeit von großer Bedeutung war. Das innenpolitische Spiel war im wesentlichen durch die schwierige Koalition bestimmt, die den neutralistischen Kräften erhebliche Macht verlieh, und die Skepsis der Öffentlichkeit.

4. Die wesentlichen Entscheidungen in der dänischen Bündnispolitik Dänemarks Teilnahme im neuen Bündnisspiel war reaktiv, sie beruhte auf einer Reihe von Entscheidungen, die durch die Entwicklung des Bündnisses während seiner frühen Aufbaujahre bedingt waren. In dieser Zeit kristallisierte sich die dänische Bündnispolitik allmählich durch die Reaktion auf vier wichtige politische Themen heraus, die durch die NATO-Mitgliedschaft aufgeworfen worden waren. Dabei ging es um: - Dänemarks Stellung in der neuen NATO-Organisation

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die Definition der strategischen Rolle Grönlands im Rahmen des neuen Bündnisses, - die Haltung Dänemarks zur Stationierung ausländischer Truppen auf dänischem Boden und - Dänemarks Haltung gegenüber Atomwaffen. Die Entscheidungen zu diesen Themen wurden vor dem Hintergrund der sich abzeichnenden Verteidigungspolitik getroffen, die hier skizziert werden soll. Beim Eintritt in die NATO war Dänemark mehr oder weniger ohne Verteidigung. Nach Auffassung des Sozialdemokraten Rasmus Hansen, des damaligen Verteidigungsministers, war die Verteidigung sogar noch schwächer als 1940. Im Verteidigungssektor mußte man deshalb mit Nachdruck tätig werden. Die Gliederung der dänischen Streitkräfte im Kalten Krieg war Anfang der fünfziger Jahre im Rahmen von Überlegungen konzipiert worden, die von der innenpolitischen Sorge über den Umfang des Streitkräfteetats und die Länge des Wehrdienstes sowie die Beteiligung im Kräfteplanungsverfahren der NATO geprägt waren. Das Ergebnis kann bestenfalls als Kompromiß bezeichnet werden, der durch innen- und wirtschaftspolitische Rücksichten beeinflußt war. In diesen Jahren stellte Dänemark Verteidigungskräfte auf, wobei man sich hinsichtlich Gliederimg und Doktrin weitgehend an Erfahrungen der Alliierten orientierte sowie stark auf amerikanische und kanadische Militärhilfe abstützte. Tatsächlich wurden alle wichtigen neuen Waffensysteme bis Mitte der sechziger Jahre auf diese Weise beschafft, was in dieser Zeit einer Aufstockung des nationalen Verteidigungspotentials um ungefähr ein Drittel entsprach. Der national finanzierte Verteidigungsbeitrag bestand deshalb im wesentlichen aus Personal- und Betriebskosten. Nach internationalem Maßstab war der dänische Beitrag recht bescheiden, und Dänemark wurde beinahe ununterbrochen von der NATO und den Vereinigten Staaten gedrängt, diesen zu erhöhen. Das dänische Gegenargument lautete, daß die soziale Stabilität durch die Verteidigungsanstrengungen nicht gefährdet werden dürfe, da sonst eines Tages die Unterstützung für die neue Bündnispolitik nachlassen könnte. Während der Aufbauphase (1950-1953) reagierte die damalige liberalkonservative Koaliton, die mit den Sozialdemokraten zusammenarbeitete, auf die NATO-Planungsweisungen mit der Erhöhung des Verteidigungshaushaltes und der Verlängerung des Wehrdienstes. Letzterer wurde 1953 von 12 auf 18 Monate verlängert, und die Verteidigungshaushalte verdreifachten sich, d.h. stiegen von 210 Millionen Kronen im Haushaltsjahr 1949 auf 927 Millionen Kronen im Haushaltsjahr 1954. Nach 1953 flachten diese Bemühungen wieder ab. Die Wehrdienstzeit wurde 1954 im Rahmen einer innenpolitischen Wirtschaftsabsprache zwischen der jetzt sozialdemokratischen Regierung (1953-1957) und der neutralistischen sozialliberalen Partei auf 16 Monate heruntergesetzt. Die Verteidigungsbudgets verringerten sich ebenfalls etwas gegenüber dem Spitzenbetrag des Jahres 1954, und im Dezember 1957 wies die neue Regierungskoalition, der die Sozialliberalen und die kleine Gerechtigkeitspartei (1957-1960) angehörten, den Verteidigungsausschuß an, ein neues Kostenkonzept für die Streitkräfte vorzulegen, das 850 Millionen Kronen pro Jahr nicht überschreiten sollte.

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4.1 Dänemark und die militärische Integration (1950) Infolge der Art, wie Dänemark dem Bündnis beigetreten war, war das Land weniger als andere Mitgliedsstaaten auf die schnelle militärische Integration vorbereitet, die nach Ausbruch des Koreakrieges im Sommer 1950 begann6. Zuvor war die dänische Bündnispolitik stark durch das akute Gefühl der militärischen Unsicherheit bestimmt, dem die Pläne des Bündnisses wenig entgegenwirkten. So basierte der vom Verteidigungsausschuß im April 1950 angenommene mittelfristige Verteidigungsplan auf der Verteidigung der Rhein-Ijssel-Linie, also einer Linie weit jenseits der dänischen Meerengen. Bemühungen um die Zusage von Sicherheitsgarantien durch Großbritannien und nach Möglichkeit auch durch die Vereinigten Staaten waren erfolglos geblieben und führten im Frühjahr und Frühsommer 1950 bei Premierminister Hans Hedtoft (Sozialdemokrat) zu erheblicher Frustration und allerlei Überlegungen. Im Juni 1950 teilte er seine Befürchtungen der amerikanischen Botschafterin Eugenie Anderson mit, deren früherer »Eindruck seiner zweifelnden Haltung gegenüber der Wirksamkeit der NATO für die Sicherheit und Verteidigung Dänemarks sich bestätigte und verstärkte«7. Dänemarks Sorge um die militärische Sicherheit des Landes bestimmte die dänische Haltung gegenüber der militärischen Organisation des Bündnisses. Als 1949 die regionalen Planungsgruppen ins Leben gerufen wurden, begrüßte Dänemark die Schaffung der Nordeuropäischen Regionalplanungsgruppe (NERPG), da diese gewisse nordeuropäische Belange im Bündnis ansprechen konnte. Gleichzeitig argumentierte Dänemark — zusammen mit Norwegen, das in diesen Diskussionen oftmals die Führung übernahm —, daß die angelsächsischen Mächte sich eng zusammenschließen sollten. Dahinter stand die Vorstellung, sie so eng wie möglich in die Verteidigung des nordischen Raumes einzubinden. Bis zum Sommer 1950 waren diesbezüglich jedoch wenig Ergebnisse erzielt worden. Vor diesem Hintergrund reagierte Dänemark recht entschlossen auf den Koreakrieg. Nach Auffassung des Verteidigungsministers Rasmus Hansen hatte dieses Ereignis die öffentliche Meinung in Dänemark »elektrisiert«. Aufgrund des Eingreifens der Amerikaner und der Vereinten Nationen hatte das »NATO-Denken« einen ungeheuren Auftrieb erhalten8. Dänemark reagierte auch positiv auf die am 25. Juli von den USA an ihre NATO-Partner ergangene Bitte, ihre Verteidigungsanstrengungen zu verstärken. Der dänische Verteidigungshaushalt für 1949/50 belief sich auf insgesamt 310 Mio. Kronen. Am 5. August 1950 genehmigte die Regierung für die nächsten zwei Jahre zusätzliche Verteidigungsausgaben in Höhe von 300 Millionen Kronen, dazu noch einmal 100 Millionen Kronen für Zwecke der Zivilverteidigung. Nach Auffassung der US-Botschaft in 6

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Dänemarks Reaktion auf die militärische Integration wird dargestellt in: Nikolaj Petersen, Isolation oder Verstrickung; Villaume, Allieret, S. 202-220. National Archives, Washington (NA), RG 59, DF, 740.5/6-1550. Tel. 425 von Kopenhagen an das US-Außenministerium vom 15.6.1950. NA, RG 59, DF, 759.5/7-1150. Tel. 37 von Kopenhagen an das US-Außenministerium vom 11.7.1950.

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Kopenhagen stellte dies »eine dramatische Reaktion auf die Aggression in Korea« dar9. Die Finanzierung dieses höheren Verteidigungshaushaltes verursachte jedoch innenpolitische Auseinandersetzungen, und Anfang September mußten Neuwahlen angesetzt werden. Dänemark befand sich immer noch in einer Art politischem Interregnum, als die Vereinigten Staaten am 15. September dem Nordatlantikrat den Vorschlag vorlegten, gemeinsame Streitkräfte in Europa — einschließlich eines westdeutschen Beitrags — mit einem amerikanischen Oberbefehlshaber an der Spitze aufzustellen. Wegen der innenpolitischen Lage nahm der dänische Außenminister nicht an der NATO-Sitzung teil. In Vertretung stimmte sich Botschafter Henrik de Kauffmann eng mit dem norwegischen Außenminister Halvard Lange ab. Während der Sitzung stellte Lange mehrere kritische Fragen, mit denen zweifellos auch dänische Anliegen angesprochen wurden: Werden die vorgeschlagenen Streitkräfte für das gesamte Bündnisgebiet oder nur für Mitteleuropa zuständig sein? Wird der Oberkommandierende auch Rechte bezüglich der Ausbildung der ihm nicht unterstellten Truppen haben? Welche Auswirkungen haben die integrierten Streitkräfte auf die regionalen Planungsgruppen? Ist der US-Vorschlag als ein geschlossenes Paket zu betrachten10? Obwohl Acheson ermutigende Antworten gab, konnten weder Lange noch Kauffmann eine verbindliche Aussage für ihre Regierungen abgeben und baten um einen einwöchigen Aufschub. Während der folgenden Diskussionen blieben die beiden skandinavischen Regierungen in enger Verbindung, wobei die Norweger eine aktivere Rolle übernahmen. Inter alia erzwangen die Norweger die Zusage von Theodore Achilles, dem Vertreter des US-Außenministeriums, daß der Oberkommandierende mit der Verteidigung von ganz Europa beauftragt würde. Achilles befürwortete auch das Ziel, die Verteidigungslinie so weit nach Osten zu verschieben, daß Dänemark hinter dieser Linie liegen würde. Er machte dies jedoch von einer ausreichenden Truppenstärke abhängig. Es war schwierig, verbindliche Zusagen für Dänemark zu machen11. Die innenpolitische Lage, in der der amerikanische Vorschlag erörtert wurde, hatte sich noch keineswegs konsolidiert. Das Folketing (untere Kammer) hatte keine Sitzungsperiode, und sein außenpolitischer Ausschuß (Udenrigspolitisk Naevn), in dem solche Fragen üblicherweise erörtert wurden, war noch nicht offiziell gebildet worden. Statt dessen fanden inoffizielle Diskussionen zwischen den Führern der »demokratischen« Parteien statt (wodurch die Kommunisten ausgeschlossen wurden). Am 23. September gaben drei Parteien, d.h. die regierenden Sozialdemokraten, die Liberalen und die Konservativen ihre Zustimmung zum Vorschlag, während sich die Sozialliberalen widersetzten. Aufgrund dieser Gegebenheiten erklärte Außenminister Gustav Rasmussen am 26. September im Nordatlantikrat: 9 10 11

NA, RG 59, DF, 740.5/8-1050. Tel. 171 von Kopenhagen vom 10.8.1950. FRUS 1950, III, S. 329 f. Hans Hedtoft-Akten, Arbejderbevaegelsens Bibliotek og Arkiv, Kopenhagen, Tel. von der dänischen Botschaft in Oslo vom 22.9.1950.

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»Die Dänen stimmen (1) der Verteidigung so weit ostwärts wie möglich in Deutschland und (2) den von den USA vorgeschlagenen integrierten Verteidigungskräften zu. Die Dänen gehen davon aus, daß jede nationale Regierung so bald wie möglich Truppenteile für diese integrierten Kräfte benennt und sich mit diesem Thema auseinandersetzt. Aufgrund der geographischen Lage sind jedoch dänische Truppen allein nicht in der Lage, Dänemark zu verteidigen, und Dänemark geht davon aus, daß ein Auftrag der integrierten Verteidigungskräfte die Verteidigung ganz Westeuropas einschließlich Dänemarks ist. Bezüglich der deutschen Beteiligung vertreten die Dänen die Auffassung, daß alle verfügbaren Kräfte zur Verteidigung Westeuropas herangezogen werden sollten und nehmen an, daß der amerikanische Vorschlag eine Grundlage für die Beteiligung Deutschlands ohne Wiederbelebung des deutschen Militarismus bildet. Die Dänen vertreten die Auffassung, daß die grundlegende Struktur der NATO nicht verändert werden sollte. Insbesondere der NATO-Rat sollte weiterhin als oberstes Gremium mit der Führung betraut bleiben12.« In den folgenden Monaten nahm Dänemark an den NATO-Diskussionen über die Modalitäten der militärischen Integration teil, wobei vor allem das Ziel verfolgt wurde, durch die NATO-Integration irgendwie eine Antwort auf Dänemarks Sorgen um seine »verwundbaren Stellen« zu finden. Deshalb reagierte Verteidigungsminister Rasmus Hansen im NATO-Rat auf den Pleven-Plan, indem er — milde ausgedrückt — seiner »Enttäuschung« mit der Feststellung Ausdruck gab, »daß alle französischen Erklärungen und französischen Pläne die Sicherheit Dänemarks und Norwegens vollkommen außer acht lassen. Eine praktische Lösung für Dänemarks Sicherheitsprobleme muß gefunden werden 13 .« Schließlich befürwortete die dänische Regierung, die ab November 1950 von der liberal-konservativen Koalition unter Erik Eriksen (Liberaler) gestellt wurde, die bei der Ratstagung im Dezember 1950 erreichte Kompromißformel. Im Februar 1951 stimmte das Folketing dieser Lösung und der Unterstellung der in Schleswig-Holstein stationierten dänischen Brigade unter den neuen Obersten Alliierten Befehlshaber Europa (SACEUR) zu; die übrigen dänischen Verteidigungskräfte wurden nur zur Unterstellung vorgesehen 14 . Dänemarks Entscheidung für die militärische Integration kann mit mehreren Faktoren erklärt werden. Zum einen bestand wenig Entscheidungsspielraum. Der Druck auf Dänemark von außen war riesig, insbesondere nach der norwegischen Beitrittsentscheidung. Wie Außenminister Gustav Rasmussen den Parteiführern mitteilte: »Dänemark hat ein Vetorecht im NATO-Rat, jedoch nur formell, nicht wirklich15.« Andere Faktoren waren noch gewichtiger.

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FRUS 1950, III, S. 348 f. Der volle Wortlaut in Dänisch ist abgedruckt in: Dansk sikkerhedspolitik, Bd 2, S. 258 f. FRUS 1950, III, S. 492 (28.11.1950). Rigsdagstidende (Parlamentsakten) 1950-51, Folketingets forhandlinger, Sammlung 1854 ff., 2046 ff. (30.1.1951 u n d 6.2.1951). Rigsarkivet, Kopenhagen. Protokoll der konservativen Parlamentsgruppe.

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Dänemarks verzweifeltes Bemühen um mehr Sicherheit war der Hauptfaktor. Dänemark wollte verteidigt, nicht befreit werden. Nach Feststellung von Außenminister Gustav Rasmussen war das Hauptanliegen der Regierung gewesen, »daß die NATO-Mitgliedsländer wirklich verteidigt werden können«. Nach Auffassung von Verteidigungsminister Rasmus Hansen (Sozialdemokrat) konnte kaum ein anderes Land ein größeres Interesse an gemeinsamen Truppen als Dänemark haben16. Das war auch das Hauptargument der neuen Regierung, als dieser Punkt im Januar 1952 zur Entscheidung im Parlament anstand: »Wenn es uns gelingen sollte, die Verteidigungslinie weiter nach Osten zu verschieben, wodurch Norddeutschland in den verteidigten Bereich einbezogen würde, wäre sogleich erkennbar, daß dadurch auch die Halbinsel Jütland geschützt würde, was von ausschlaggebender Bedeutung für die Verteidigung von Dänemark wäre. Auf diese Weise könnte die Bodenverteidigung von Jütland nach vorn an die gemeinsame Front in Deutschland verlegt und damit natürlich erheblich verstärkt werden17.« Dies waren strategische Überlegungen für Dänemarks Zustimmung zu integrierten Streitkräften. Zur Verbesserung der Sicherheitslage waren die dänischen Politiker auch gewillt, die vorgeschlagene Wiederbewaffnung Westdeutschlands zu akzeptieren, weil dies die einzig realistische Vorgehensweise war, wenn die Verteidigungslinie der NATO nach Osten verschoben werden sollte. Obwohl dies psychologisch und politisch nur fünf Jahre nach der Befreiung und vor dem Hintergrund der nicht ungetrübten Beziehungen mit Deutschland während der letzten hundert Jahre schwer durchzusetzen war, wurden diese Gefühle der dänischen Furcht vor dem Ausgeliefertsein untergeordnet. Außer den Argumenten der NATO-Gegner spielten die Befürchtungen, daß gemeinsame Streitkräfte unliebsame Verpflichtungen (Gebundensein) mit sich bringen würden, eine nachgeordnete Rolle bei der Entscheidungsfindung. Später einigten sich die Parteien, die die NATO-Mitgliedschaft befürworteten, darauf, integrierte Streitkräfte als natürliche Folge des Bündnisses zu betrachten. Zum Zwecke der internationalen Kooperation müsse immer auf ein kleines Stück nationaler Souveränität verzichtet werden. Andererseits ist die Tatsache, daß Dänemark wie auch Norwegen sich zur Verschiebung der anfänglichen Entscheidung gezwungen sahen, ein Hinweis darauf, daß die Regierung solche Folgen nicht als so natürlich betrachtete, wie behauptet wurde. Es hatten gewisse Sorgen bestanden, daß Dänemark sich ungewollten Maßnahmen würde beugen müssen. Ganz allgemein wurde auch eine Militarisierung der NATO befürchtet, in welcher das Schwergewicht vom NATO-Rat auf die militärischen Organisationen verschoben würde. Diese Befürchtungen vor zu starker Gebundenheit waren aber vage und konnten nicht die Oberhand über die Angst vor dem Ausgeliefertsein gewinnen, 16

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Rigsdagstidende 1950-51, Folketingets forhandlinger, Col. 210 und 69, Reden im Folketing am 12. und 17.10.1950. Rigsdagstidende 1950-51, Folketingets forhandlinger, Col. 1858, Verteidigungsminister Harald Petersen (Liberaler), 30.1.1951.

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was die Regierung und die für die NATO votierenden Parteien nach größtmöglicher Sicherheit streben ließ. Somit wurde Dänemarks Beteiligung an der militärischen Integration der NATO beinahe ausschließlich im Rahmen des Bündnisspieles entschieden, während das Feind- und innenpolitische Spiel im Hintergrund blieben. Im Bündnisspiel stand die »C«-Strategie im Vordergrund, die hauptsächlich durch das Bemühen um Sicherheitsgarantien und aus Furcht vor dem Ausgeliefertsein und dem Gefühl, keine anderen Alternativen zu haben, zum Zuge kam. Die Angst vor der Gebundenheit spielte eine Rolle, war jedoch nicht stark genug, um Dänemark zu einer »D«-Strategie zu veranlassen. Nach der Entscheidung, SHAPE und die anderen höheren Kommandobehörden der NATO ins Leben zu rufen, folgte die Bildung regionaler Kommandobehörden. Dänemark war sehr zufrieden, in den Bereich Nord (Stab Oslo, Norwegen) eingegliedert zu werden, da dadurch die NATO-Zusammenarbeit mit Norwegen und die besondere skandinavische Sicht der Verteidigungspolitik gestärkt wurden. Gleichzeitig erfolgte eine Abschirmung gegen die Gebundenheit im Hinblick auf die Probleme der spannungsgeladenen Front im Bereich Mitte. Dänemark war aus Gründen der nationalen Sicherheit auch froh, daß Norddeutschland (Schleswig-Holstein) dem Bereich Nord angegliedert, der dänischen Führung unterstellt, und so die Verteidigung von Dänemarks südlichem Glacis mit Dänemark koordiniert wurde. Nachdem die Bundesrepublik 1955 der NATO beigetreten war, konnte Dänemark endlich erkennen, daß sich eine Lösung zum noch nicht gelösten Problem der alliierten Verstärkung Dänemarks abzeichnete, da in Schleswig-Holstein Truppen aufgestellt wurden. Damit entstand das Problem der militärischen Zusammenarbeit zwischen dänischen und deutschen Truppen sowie die Notwendigkeit, die Kommandostruktur zu ändern, um Deutschland einen angemessenen Einfluß zu sichern. Dieses Problem wurde 1961 mit der Einrichtung von BALTAP (HQ Baltic Approaches) gelöst, aber 1957 tauchte es erstmals auf der politischen Tagesordnung auf.

4.2 Der G r ö n l a n d v e r t e i d i g u n g s v e r t r a g v o n 1951 Wenige Monate nach der Entscheidung, integrierte Streitkräfte aufzustellen, wurde eine weitere wichtige Verteidigungsfrage gelöst, nämlich die Verteidigung Grönlands oder genauer Grönlands Rolle in der NATO-Gesamtverteidigung und in der US-Strategie. Für Dänemarks NATO-Beitritt war mit ausschlaggebend, daß geeignete Voraussetzungen für eine Dauerlösung der sicherheitspolitischen Rolle Grönlands entstanden 18 . 18

Grönland, das von den U.S. Joint Chiefs of Staff als »außerordentlich wichtig« als US-Stützpunkt nach dem Zweiten Weltkrieg betrachtet w u r d e (FRUS 1946,1, S. 1174) gab auch den Vereinigten Staaten ein wichtiges Motiv an die Hand, Dänemark auf die Liste der w ü n schenswerten Bündnismitglieder zu setzen. Siehe hierzu Petersen, Storbritannien, USA og skandinavisk forsvar.

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1949 hatten die Vereinigten Staaten schon vier große Militärstützpunkte und eine Reihe kleinerer Stellungen und Anlagen auf der Grundlage einer 1941 mit dem dänischen Botschafter in Washington, Henrik Kauffmarm, getroffenen Vereinbarung eingerichtet. 1945 war die erste außenpolitische Handlung des befreiten Landes die Anerkennung dieser Vereinbarung. 1946 begannen jedoch Regierung und Parlament vorsichtig, die Frage nach dem Auslaufen zu erheben, nachdem der ursprüngliche Grund entfallen war. Die Vereinigten Staaten betrachteten Grönland jetzt aber als wichtigen strategischen Aktivposten in der sich abzeichnenden globalen Konfrontation mit der Sowjetunion und erhoben 1947 den Anspruch, auf die Dauer Stützpunkte in Grönland zu unterhalten. Es folgten schwierige dänisch-amerikanische Verhandlungen bis die dänische Regierung im Frühjahr 1948 beschloß, diese Frage etwas in den Hintergrund abzudrängen19. Nach Dänemarks Beitritt zur NATO hofften die dänischen Entscheidungsinstanzen, daß der Nordatlantikvertrag einen geeigneten Rahmen zum Ablösen der seit 1941 bestehenden bilateralen Vereinbarung bieten würde. Dänemark hatte schon länger nicht mehr vorgegeben, allein die Verteidigung Grönlands sicherstellen zu können, beanspruchte jedoch aus politischen und Souveränitätsgründen immer noch eine gewichtige und wahrnehmbare Mitsprache. Erste Kontakte Ende 1949 offenbarten erhebliche Meinungsverschiedenheiten zwischen Dänemark und den Vereinigten Staaten. Während Dänemark die amerikanische Präsenz reduziert sehen wollte, hielten die Amerikaner nicht mit ihrem Wunsch hinter dem Berg, sie aufrechterhalten, wenn nicht sogar verstärken zu wollen. Die Gespräche fuhren sich fest und wurden zurückgestellt bis die NATOPlanung für den Atlantik Fortschritte gemacht hatte. Im Herbst 1950 einigte sich die Regionale Planungsgruppe Atlantik auf eine Version des mittelfristigen Verteidigungsplanes, die aus dänischer Sicht zufriedenstellend formuliert war. Der Plan ging von einer begrenzten sowjetischen Bedrohung Grönlands aus, dessen Verteidigung deshalb von örtlichen (wahrscheinlich dänischen) Truppen mit Luftaufklärungsunterstützung sichergestellt werden sollte. Für den Ernstfall waren Verstärkungskräfte vorgesehen, die von den USA und Kanada gestellt werden sollten. In der Praxis sah der Plan ein oder zwei amerikanische Luftstützpunkte in Grönland vor, die in erster Linie für den Luftverkehr über den Atlantik zur Verfügung stehen sollten, wodurch die bestehenden Verhältnisse mehr oder weniger unverändert geblieben wären. Als jedoch die Regionale Planungsgruppe Kanada — USA konsultiert wurde, fand eine Wende um 180 Grad statt, hinter der wahrscheinlich die US-Luftstreitkräfte standen. Der NATO-Stützpunktbedarf in Grönland war plötzlich quantitativ wie qualitativ gestiegen. Dem Oberbefehlshaber war es schließlich gelungen, seine Polstrategie durchzusetzen, durch welche Nordgrönland mit Thüle zum interessantesten Teil Grönlands wurde, während sich die US-Interessen bis dahin auf Südgrönland konzentriert hatten20. Das wesentliche Merkmal des neuen Planes 19 20

Hinsichtlich dieses Umschwungs siehe Amstrup, Grönland. Das stand in Einklang mit der bis dahin verfolgten peripheren Strategie, wonach nukleare Einsätze gegen die Sowjetunion von der Randzone, im wesentlichen von Großbritannien

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war die Einrichtung eines riesigen Bereitstellungsflugplatzes für Transit- und Mittelstreckenbomber in Thüle. Somit verlagerte sich der Schwerpunkt der Planung über Nacht von der Verteidigung Grönlands gegen ein ziemlich unwahrscheinliches Eindringen der Sowjets auf die Schaffung eines wichtigen Stützpunktes für die strategische Nuklearoffensive des Bündnisses und der Vereinigten Staaten gegen die Sowjetunion. Es kamen erhebliche Vorbehalte auf, als diese Verlagerung in Kopenhagen bekannt wurde. Während der dänisch-amerikanischen Verhandlungen, die im März 1951 begannen und im April 1951 mit der Unterzeichnung eines Verteidigungsvertrages abgeschlossen wurden, der den alten Vertrag aus dem Jahr 1941 ablöste, versuchten die dänischen Unterhändler so weitgehend wie möglich auf der »Dänemarkisierung« zu bestehen und auf Dänemarks eigenen Beitrag zur Verteidigung Grönlands abzuheben. Von Anfang an lag jedoch ein amerikanischer Vertragsentwurf auf dem Tisch, nach dem die amerikanische Präsenz in Grönland erheblich verstärkt und den US-Streitkräften viel Handlungsspielraum auf den Stützpunkten selbst und darüberhinaus eingeräumt werden sollte. Zum Schutze der dänischen Interessen stellten die dänischen Unterhändler erstens klar, daß Grönland zu Dänemark gehöre, weshalb sie als offiziellen Gegenstand des Vertrages auf der amerikanischen Unterstützung Dänemarks bei der Verteidigung Grönlands bestehen wollten. Die amerikanischen Unterhändler mokierten sich über dieses Ansinnen, erklärten sich aber schließlich damit einverstanden — zumindest auf dem Papier. Zweitens bestanden die Dänen darauf, daß der Vertrag ausschließlich auf die Verteidigung Grönlands beschränkt bleiben solle. Damit konnten sich die Amerikaner nicht einverstanden erklären, weil sie viel weitreichendere Ziele im Auge hatten. Deshalb wurde in den Vertrag schließlich auch die Verteidigung des NATOTerritoriums aufgenommen, aber ohne die neue globale strategische Rolle Grönlands besonders anzusprechen. Drittens bestanden die Dänen auf einer Reduzierung des amerikanischen Bedarfs an Stützpunkten (oder »Verteidigungsräumen«, um bei den Begriffen des Vertrages zu bleiben) und dem Recht, nationale Verteidigungsstellungen, die nicht dem Vertrag unterliegen, einzurichten. Es wurde argumentiert, »daß es in Grönland zumindest einen Ort geben müsse, an dem nur die dänische Flagge gehißt ist«. Schließlich stimmten die Amerikaner zu, drei kleinere Stützpunkte aufzugeben. In einem — Grönnedal — wurde der dänische Militärstab für Grönland eingerichtet, der technisch unabhängig vom Bündnis agierte. Die Vereinigten Staaten erhielten drei Hauptverteidigungsräume, Narssarsuaq in Südgrönland (1957/58 aufgegeben), Söndre Strömfjord in Westgrönland und den neuen Luftwaffenstützpunkt Thüle in Nordgrönland. Im Grunde handelte es sich um dänisch-amerikanische Verteidigungsräume, die aber der amerikanischen Führung unterstanden. Viertens versuchte Dänemark die amerikanischen Aktivitäten außerhalb der Verteidigungsräume einzuschränken, d.h.eine Regelung durchzusetzen, wonach aus erfolgen sollten. In diesem Konnex war der Süden Grönlands eine wichtige Etappe von Nordamerika nach Großbritannien.

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die Vereinigten Staaten die Genehmigung für die Nutzung (Übungen, Forschungsvorhaben, usw.) einholen mußten. Diese Bemühungen waren erfolgreich, wofür die Amerikaner freien Zugang zu ihren Verteidigungsräumen, umfassende Rechte innerhalb dieser Räume sowie freie Nutzung des gesamten Luftraumes über Grönland zugestanden bekamen. Ein letztes »Muß« aus dänischer Sicht war fünftens das Verbot der Fraternisation zwischen dem US-Personal und der eingeborenen Bevölkerung. Dänemark gelang es, wichtige Vorgaben in den Grönland-Verteidigungsvertrag einzubringen, aber mehr in formeller als praktischer Hinsicht. Die Amerikaner gaben in den Punkten nach, wo die dänische Souveränität formal betroffen war. Dagegen erhielten sie weitgehend das, was sie wollten, d.h. das Recht, drei große Luftwaffenstützpunkte aufzubauen und zu betreiben ohne ins Gewicht fallende Mitsprache des Gastgeberlandes, sowie freien und ungehinderten Zugang zu den Stützpunkten und zum Luftraum über Grönland21. Für das dänische Vorgehen während der Vertragsverhandlungen gab es nur einen geringen Spielraum. Niemand konnte das erhebliche amerikanische Interesse an einer verstärkten Präsenz in Grönland bezweifeln. Außerdem war der Vertrag offiziell auf Antrag der NATO ausgehandelt worden, und wichtige Partner, insbesondere Großbritannien, hatten eindeutig klargemacht, daß Dänemark den amerikanischen Wünschen entsprechen sollte. Schließlich hatte Dänemark seine eigenen Verteidigungsprobleme und kein Interesse daran, es sich mit den Amerikanern zu verderben, vor allem, da feststand, daß Dänemark für die Verteidigung Grönlands nicht allein aufkommen konnte. Wie schon vorher spielte das Bemühen um Sicherheit (oder die Furcht des Alleingelassenwerdens) eine Rolle. Die dänische Regierung behauptete, die Verteidigung Grönlands sei im Grund eine nationale Aufgabe, war sich dabei jedoch schmerzlich bewußt, daß das Land dieser Aufgabe nicht allein gerecht werden konnte, auch wenn dieses Problem nicht in vollem Umfang angesprochen wurde. Die Unterstützung der Vereinigten Staaten war deshalb erforderlich, was wiederum hieß, daß Dänemark die amerikanischen Verteidigungsinteressen in Grönland berücksichtigen mußte. Der Grönlandvertrag wurde auch im Zusammenhang mit der Verteidigung des Landes selbst gesehen. Ende 1949 argumentierte Premierminister Hedtoft im Außenpolitischen Ausschuß des Parlamentes, daß »vor dem Ausspielen der letzten Karte, nämlich Grönlands, festgestellt werden muß, was die Amerikaner wollen und was sie uns im Gegenzug geben können. Wir können keine amerikanische Politik in Grönland akzeptieren, die eine weitere Verschlechterung der Stellung Dänemarks gegenüber der Sowjetunion bedeutet. Dänemark muß Opfer bringen, jedoch auch eine Antwort auf die Frage fordern, welche Garantien für Dänemarks Sicherheit als Gegenleistung abgegeben werden22.« 21

22

Die o.a. Analyse basiert auf dänischen und amerikanischen Dokumenten, die in einem kürzlich erschienenen Bericht über Grönland zitiert werden, siehe Anm. 51. Rigsarkivet, Kopenhagen, Akten des Außenministeriums (UM), 3.E.92., Unterlagen der Sitzung des Außenpolitischen Ausschusses des Parlaments am 27.10.1949.

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So wurde die »Grönlandkarte« erstmals ganz offen im Rahmen der dänischen Sicherheitspolitik ins Spiel gebracht. Dahinter steckte die Vorstellung, daß Dänemark sich bei den Vereinigten Staaten durch Konzessionen an deren Sicherheitsinteressen in Grönland einen Bonus einhandeln könne. 1949 stellte sich Hedtoft eine fest umrissene Gegenleistung in der Form vor, daß die Vereinigten Staaten dem NATO-Partner Dänemark spezielle Garantien geben und damit zur Lösung der akuten dänischen Sicherheitsprobleme beitragen würden. Vor den Grönlandverhandlungen im Jahr 1951 teilte Außenminister Ole Björn Kraft (Konservativer) dem Außenpolitischen Ausschuß des Parlamentes mit, daß dieses Argument seit der Schaffung von SHAPE nicht mehr dasselbe Gewicht habe, meinte jedoch, daß Dänemark durch mangelndes Eingehen auf die amerikanischen Wünsche die USA verstimmen und die Vertrauenswürdigkeit Dänemarks herabsetzen würde23. So stand bei den Überlegungen in Dänemark gewiß die Vorstellung im Vordergrund, daß man durch Zugeständnisse Wohlwollen erreichen könne, was Dänemark in gewisser Weise zum Vorteil gereichen könnte. 1949 machten sich Premierminister Hedtoft und andere Sorgen über die negativen Auswirkungen der amerikanischen Stützpunkte in Grönland, aber Anfang 1951 wurde dieses Argument als nicht so gewichtig wie früher betrachtet. Außenminister Kraft argumentierte im Außenpolitischen Ausschuß, daß sich das sowjetische Mißtrauen gegenüber Dänemark durch die Schaffung von NATO-Stützpunkten auf Grönland kaum ändern würde. Es gibt kaum Hinweise, daß die Beziehungen zur Sowjetunion in der Folgezeit eine Rolle in der dänischen Grönlandpolitik spielten, obwohl die Sowjets die Aktivitäten der Amerikaner in Grönland genau beobachteten. Die Furcht vor Gebundenheit war ebenfalls aus der dänischen Haltung abzulesen, wenn auch nicht sehr vordergründig. Die dänischen Unterhändler versuchten, die Zugeständnisse in Grönland auf die Erfordernisse der NATO-Planung zu begrenzen und waren sich einig darüber, daß die Verteidigungsmaßnahmen in Grönland nicht speziell amerikanischen Interessen dienen sollten24. Sie waren deshalb bemüht, die Diskussionen auf örtliche und NATO-Verteidigungsaspekte zu begrenzen, vermieden es, auf weiterreichende strategische Aspekte einzugehen und versuchten insbesondere, einer ausdrücklichen Zustimmung zu den »offensiven« Aspekten der US-Interessen in Grönland auszuweichen . Diese »Scheu« kennzeichnete auch die Parlamentsdebatte, die auf den Vertragsabschluß folgte (27. April 1951). Als der Führer der kommunistischen Partei, Aksel Larsen, die weitergehenden strategischen Aspekte des Vertrages ansprach und vorhersagte, daß die Vereinigten Staaten in Grönland »sehr umfangreiche Kräfte stationieren würden, um die Sowjetunion [...] mit Bombern und möglicherweise mit Langstreckenraketen anzugreifen«, wurde er vom Außenminister heftig attackiert, der feststellte, daß der Vertrag einzig dem Zweck diene, die Ver23 2i

Ebd., Außenminister Kraft im Außenpolitischen Ausschuß des Parlaments, 13.2.1952. UM 105.D.la. Unterlagen der Sitzung am 17.3.1951, an der das Außenministerium, das Verteidigungsministerium und das Grönlandamt teilnahmen.

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teidigung Grönlands und des übrigen nordatlantischen Raumes sicherzustellen und Grönland nicht zur Angriffsbasis mache25. Die Furcht vor Gebundenheit führte bezüglich dieser wichtigen Folgen des Vertrages zu Verleugnung und Verdrängung. Da es kaum Hinweise gibt, daß die Entscheidung, eine neue Verteidigungsvereinbarung mit den Vereinigten Staaten zu treffen, vom Gegner oder von innenpolitischen Maßnahmen beeinflußt wurde, muß geschlossen werden, daß die Entscheidung beinahe ganz im Bündniskonnex getroffen wurde. In diesem Spiel verfolgte Dänemark eine recht eindeutige »C«-Strategie, zu der sich das Land durch den begrenzten Spielraum, das Bemühen um Sicherheit und aus Furcht vor dem Alleingelassenwerden veranlaßt sah. Die Furcht vor Gebundenheit, die zweifellos auch vorhanden war, wurde geleugnet und unterdrückt und hatte deshalb keinen wesentlichen Einfluß auf die allgemein von Dänemark vertretene Haltung. Nach Abschluß des Verteidigungsvertrages bauten die Vereinigten Staaten 1951-1952 einen riesigen strategischen Luftstützpunkt in Thüle. Während der fünfziger Jahre war dieser in erster Linie für die Operationen des Strategie Air Command vorgesehen, wobei es in erster Linie um die Bereitstellung von Mittelstreckenbombern für eine Nuklearoffensive gegen die Sowjetunion ging. Nebenbei führten die Amerikaner — mit der vorgeschriebenen Zustimmimg der dänischen Behörden — umfassende Forschungs- und andere Aktivitäten in ganz Grönland mit dem Ziel durch, die Probleme der Kriegführung in der Arktis in den Griff zu bekommen. Somit hielt Dänemark bezüglich Grönland weiter an den »C«-Strategien fest. 4.3 Militärstützpunkte auf dänischem Territorium? (1952/53) Die Frage der Einrichtung ausländischer Stützpunkte in Dänemark wurde von Außenminister Gustav Rasmussen bei seinen Unterredungen in Washington vor Dänemarks Beitritt zur NATO angesprochen. Dabei versicherte ihm Außenminister Dean G. Acheson, die Vereinigten Staaten »würden nicht davon ausgehen, daß auf dänischem Gebiet irgendwelche Stützpunkte eingerichtet werden müßten«26. Daraufhin konnte Gustav Rasmussen während der Ratifizierungsdebatte im Parlament mit Fug und Recht erklären, »daß sich die Frage der Einrichtung ausländischer Stützpunkte in Dänemark nicht stelle«27. Die Frage kam jedoch im Zusammenhang mit der Verteidigungsplanung der NATO Anfang der fünfziger Jahre auf. Daraus entwickelte sich ein Vorschlag, taktische Flugzeuge der US-Luftstreitkräfte auf dänischen Luftwaffenstützpunkten zu stationieren. In einem Bericht an den NATO-Rat erklärte der Militäraus25

26 27

Rigsdagstidende 1950-51, Folketingets forhandlinger, Col. 3699 ff., 3784 ff. Larsen war der einzige Parlamentarier, der die neue strategische Rolle Grönlands ansprach. FRUS 1949, IV, S. 193 f., Gesprächsnotiz vom 11.3.1951. Rigsdagstidende 1948-49, Folketingets forhandlinger, Col. 3642 (22.3.1949).

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schuß im November 1951, daß die Luftstreitkräfte von Dänemark und Norwegen in den folgenden Jahren nur 50 % der Stärke erreichen würden, die von den N A T O Planern zur Verteidigung des Bereichs Nord als notwendig erachtet werde. Zur Behebung dieses Mangels wurde vorgeschlagen, zwei taktische Geschwader der US-Luftstreitkräfte, d.h. etwa 150 Tagjäger und Kampfbomber, in Dänemark zu stationieren28. Der offizielle Vorwand war also die Luftverteidigung Dänemarks, aber Poul Villaume äußert den Verdacht, daß andere US-Überlegungen ebenfalls eine Rolle spielten wie die mögliche Begleitung der SAC-Bomber bei Einsätzen in Richtung Sowjetunion und zurück oder die Abwehr der gegen den Westen eingesetzten sowjetischen Bomber29. Diese These kann jedoch nur vage und indirekt belegt werden. Führende dänische Militärs und Politiker wurden inoffiziell zu Beginn des neuen Jahres über die Stationierungsabsicht informiert. Eine erste positive Reaktion ist ein Brief des ranghöchsten Soldaten, Admiral Quistgaard, an den Verteidigungsminister, vom 1. Februar 1952. Darin erläuterte er die militärische Überlegung für die Stationierung, indem er auf die Bedeutung der Luftüberlegenheit schon zu Beginn bewaffneter Auseinandersetzungen hinwies, um Luftangriffe auf zivile Ziele zu vermeiden und um die Mobilmachung des Heeres und der Marine zu schützen. Das Schreiben schloß: »Angesichts der sehr gewichtigen militärischen Gründe empfehle ich mit Nachdruck, daß die Regierung — trotz möglicher politischer Vorbehalte — der dauernden Stationierung alliierter Kräfte zur Verstärkung der dänischen Verteidigung zustimmt. Es sollten alle militärischen Voraussetzungen für die wünschenswerte schlagkräftige Verteidigung des ganzen Landes geschaffen werden30.« Die in der Regierung vertretenen Parteien, Liberale und Konservative, machten sich daraufhin diese militärischen Überlegungen zu eigen, während die Opposition und die öffentliche Meinung skeptischer waren. Aus diesem Grund behandelte die Regierung (eine Minderheitenregierung, die von der Unterstützung durch die neutralistischen Sozialliberalen abhing) dieses Thema mit der größten Behutsamkeit. Bei der NATO-Ratssitzung im Februar 1952 in Lissabon erklärte sich die Regierung damit einverstanden, den Ausbau von zwei dänischen Flugplätzen nach amerikanischen Normen in ein neues Infrastrukturprogramm aufzunehmen, aber nur nach der Zusicherung, daß damit keine Zustimmung zur friedensmäßigen Stationierung verbunden sei31. Zur Absicherung bemühte sich die Regierung, eine Absprache mit Norwegen zu treffen, was aber nicht gelang, da die norwegische Regierung beschloß, nicht von der 1949 offiziell gegenüber der Sowjetunion abgegebenen Zusicherung abzuweichen, keine fremden Truppen auf nationalem Territorium zu stationieren32.

28 29 30 31 32

Dansk sikkerhedspolitik, Bd 1, S. 89; Villaume, Allieret, S. 403,408 f. Ebd., S. 406 ff., 446 f. Dansk sikkerhedspolitik, Bd 1, S. 89 f. Ebd., S. 90. Dänemark hatte gegenüber der Sowjetunion keine derartige Zusage gemacht.

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Parallel dazu lancierte die Regierung im Sommer 1952 »eine Kampagne, um die Öffentlichkeit für diese Maßnahme zu gewinnen« 33 . Sie versuchte auch, die Sozialdemokraten für die Friedensstationierung zu gewinnen. Anfänglich war die Reaktion der Partei positiv, aber zurückhaltend. Im September 1952 genehmigte der Außenpolitische Ausschuß des Parlamentes die Prüfung der rein technischen Aspekte der Stationierung, d.h. den Ausbau der Flugplätze, zusammen mit den Amerikanern. Diese technischen Gespräche wurden jedoch im Frühjahr 1953 eingestellt. Inzwischen hatte der Widerstand gegen die Stationierung bei den Sozialdemokraten zugenommen, insbesondere bei den Hinterbänklern und an der Basis. Bei einer Sitzung mit Vertretern der US-Botschaft am 8. Dezember 1952 hob der dänische Vertreter auf fünf wichtige Punkte ab: - »Die in Dänemark stationierten Truppenteile der US-Luftstreitkräfte dürfen nicht gegen dänischen Wunsch abgezogen werden und das Land ohne Schutz lassen, ζ. B. im Falle einer Krise andernorts. - Die Flugplätze dürfen nur für taktische, nicht für strategische Zwecke genutzt werden. Das NATO-Truppenstatut soll in Kraft treten. - Die Aufgabe des Flugplatzkommandanten ist im Frieden von dänischen NATOTruppenführern wahrzunehmen, wogegen die Flugplätze im Krieg dem NATOBefehl unterstellt würden (CINCNORTH oder einem anderen Befehlshaber). - Die Stützpunktvereinbarung muß mit einer angemessenen Kündigungsfrist, d.h. innerhalb von ein oder zwei Jahren, beendbar sein34.« Weitere, zweitrangige Forderungen kamen noch zur Sprache, die vor allem darauf abzielten, der Öffentlichkeit die Stationierung schmackhaft zu machen35. Wenige Tage später teilte Außenminister Kraft seinem scheidenden amerikanischen Kollegen Acheson mit, daß insbesondere die beiden erstgenannten Forderungen unbedingt erfüllt werden müßten. Obwohl sie als Forderungen der Regierung eingebracht wurden, stand ein sozialdemokratisches »Ultimatum« an die Regierung dahinter, dessen Artikulierung damals begann. Die amerikanische Antwort war eindeutig. Es wurde klargestellt, daß die USAFTruppen in Dänemark SHAPE assigniert und dem Befehl von SHAPE unterstehen würden, was bedeutete, daß sie zur Unterstützung der Verteidigung von ganz Westeuropa und nicht nur von Dänemark vorgesehen waren. Die Vereinigten Staaten lehnten auch eine Vereinbarung mit einer einseitigen und kurzfristigen Kündigungsklausel ab. Dagegen waren die Vereinigten Staaten damit einverstanden, daß die Flugplätze nur taktisch genutzt werden sollten. Sie schlugen hinsichtlich einiger anderer Forderungen vor, eine flexiblere Haltung einzunehmen 36 .

33

34 35 36

Diese Formulierung wurde vom Außenministerium gegenüber den Amerikanern benutzt. Villaume, Allieret, S. 421. Ebd., S. 444. Ebd. Ebd., S. 446.

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Während der inoffiziellen politischen Gespräche mit der US-Botschaft Ende Januar 1953 gab der Außenminister etwas detailliertere Erklärungen zur dänischen Haltung ab37. Zum dänischen Vetorecht bezüglich der Dislozierung der stationierten Truppen erklärte er, daß — da die Sowjetunion die Stationierung als Provokation betrachte — ein erhöhtes Risiko für Dänemark bestehe, das jedoch durch die Abschreckungswirkung der Stationierung ausgeglichen werde. Wenn also die Truppen im Falle einer Krise abgezogen werden könnten, wären die Sowjets unter Umständen versucht, das ungeschützte Land anzugreifen 38 . Die Amerikaner antworteten, daß solche Überlegungen dem Grundkonsens der NATO zuwiderliefen, und dieses Recht die NATO-Verteidigung zum Scheitern bringen würde. Die USAF-Truppen würden der NATO assigniert und in Dänemark stationiert, jedoch nicht dem Land selbst assigniert. Bezüglich des zweiten Streitpunktes, der Kündigung, erklärte die dänische Regierung, es sei rechtswidrig, ein Land über so viele Jahre in einer so wichtigen Angelegenheit zu binden. Darauf antworteten die Amerikaner, daß vom Kongreß nicht erwartet werden könne, auf einer so unsicheren Grundlage zu handeln, und daß die dänischen Forderungen die gesamte finanzielle und militärische Planung der NATO über den Haufen werfen würden. Da in diesen zwei Fragen keine Einigung erzielt werden konnte (trotz wahrscheinlicher Kompromisse in anderen Bereichen), brach die dänische Regierung im Januar 1953 die Verhandlungen ab. Damals war das Ansinnen in Wirklichkeit schon verworfen worden, insbesondere nachdem Norwegen öffentlich erklärt hatte, seine Politik nicht zu ändern. Die abschließende Entscheidung fiel erst beim Parteitag der Sozialdemokraten im Juni, als der Parteivorsitzende Hans Hedtoft drei offizielle Gründe für die Ablehnung der Stationierung fremder Truppen nannte: - Die Gefahr ernsthafter Konflikte zwischen der örtlichen Bevölkerung und den fremden Truppen (wobei man auf die Erfahrungen in Island anspielte), - Norwegens Nein zu diesem Ersuchen, und - die Stationierung sei für Dänemark so lange von begrenztem Wert, bis die NATO ausreichenden militärischen Schutz an der dänischen Südflanke in Schleswig-Holstein zur Verfügung stellen würde, d.h. das alte Gefühl der Verletzbarkeit bestand weiter. Aber Hedtoft sprach auch die internationale Lage an und verwies auf ein Umdenken in der sowjetischen Politik nach Stalins Tod. Im Oktober wurde das Verbot der Stationierung zum offiziellen Credo erhoben, nachdem die Sozialdemokraten bei den Parlamentswahlen ans Ruder gekommen waren. Die Aufmerksamkeit verlagerte sich auf Alternativlösungen, d.h. einen begrenzteren Ausbau von zwei Flugplätzen, d.h. nicht für eine dauernde Stationierung, sondern zur Aufnahme 37

Ebd., S. 453 ff. Μ Wie Villaume ausführt (S. 454), war dies wirklich ein bemerkenswertes Argument, dem offensichtlich die Annahme zugrundelag, daß die dänische Sicherheit erst einmal nicht gestärkt werden würde.

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von Verstärkungskräften in einem Verteidigungsfall. Im Frühjahr 1954 wurde eine diesbezügliche Einigung getroffen39. Die Entscheidung gegen die Stationierung beruhte auf Überlegungen, die allen drei Spielen, dem Bündnisspiel, dem Gegnerspiel und dem innenpolitischen Spiel zuzuordnen sind. Beim Bündnisspiel spielte das Bemühen um Sicherheit und deren Gegenteil, d.h. die Furcht vor dem Alleingelassenwerden, gewiß eine Rolle. Die liberal-konservative Regierung unter Erik Eriksen (1950-1953), und auch die dänischen Militärs waren der Meinung, daß die Stationierung die Verteidigung Dänemarks stärken würde und eine Antwort auf Dänemarks wiederholtes Ersuchen nach alliierter Unterstützung sei. Diese Auffassung wurde anfänglich auch von den führenden Sozialdemokraten vertreten. Später zweifelten sie jedoch daran. Ohne Vetorecht bezüglich der Dislozierung dieser Kräfte könne die Sicherheit des Landes in einer Notlage preisgegeben werden. Die provokative Wirkung der Stationierung (durch verstärkte sowjetische Bedrohung Dänemarks) wurde ebenfalls vermehrt ins Feld geführt. Die Partei argumentierte schließlich, daß eine Verstärkung der Luftabwehr in Dänemark ohne gleichzeitige alliierte Verstärkung des dänischen Vorfeldes mit Bodentruppen möglicherweise die Sicherheit mehr gefährden als stärken würde. Im Sommer 1953 verlor das Argument der Sicherheit durch ein Nachlassen der internationalen Spannungen nach Stalins Tod bei den Sozialdemokraten weiter an Gewicht. Allmählich dominierte die Furcht vor Gebundenheit und der Wunsch der Handlungsfreiheit über die Sicherheitsbestrebungen. Allgemeine Vorbehalte gegenüber der Entwicklung der US-Außenpolitik unter dem neuen Team Eisenhower-Dulles spielten eine gewisse Rolle. Der entscheidende Grund war jedoch die Furcht, (durch die Verlegung der stationierten Truppen) in »lokale« europäische Kriege in Deutschland oder auf dem Balkan hineingezogen zu werden. Daraus ergab sich die unrealistische Forderung nach einem Vetorecht bezüglich solcher Dislozierungen und der Anspruch auf dänische Führung der Stationierungskräfte. Eine mögliche Einbeziehung in die strategische Kriegführung gegen die Sowjetunion ließ die dänischen Politiker, und vor allem die führenden Sozialdemokraten, vor der Zustimmung zur Stationierung zurückschrecken. Andere Überlegungen spielten zusätzlich herein. Während das Gegnerspiel, d.h. die Beziehungen zur Sowjetunion, keine merkliche Rolle in den Entscheidungen über die militärische Integration und die Verteidigung Grönlands spielten, traten sie bei der Stationierungsfrage stärker in den Vordergrund. Die Sowjetunion versuchte, den Entscheidungsprozeß durch zwei Warnnoten im Oktober 1952 und Januar 1953 zu beeinflussen, in denen die Stationierung als Bedrohung der Sowjetunion und anderer Ostseeanrainerstaaten bezeichnet wurde, wofür die dänische Regierung in vollem Umfang die Konsequenzen zu tragen habe. Die sowjetische Regierung argumentierte auch, daß die Stationierung den öffentlichen Erklärungen und Versprechen Dänemarks zuwiderliefe, einschließlich dem

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1946 im Zusammenhang mit der sowjetischen Räumung Bornholms abgegebenen Versprechen, daß die Verwaltung Bornholms »ohne Beteiligung irgendwelcher fremder Truppen« neu aufgebaut werde40. Diese Noten erinnerten eindeutig an die außenpolitische Tradition Dänemarks, auf jede Provokation zu verzichten. Der Verzicht auf Provokation hatte bei den Diskussionen in den Jahren 1948/49 eine gewisse (und immer größere) Rolle bei der Festlegung der dänischen NATO-Politik gespielt. Im September 1951 warnte der gewöhnlich als Falke bezeichnete Außenminister Kraft bei der NATO-Ratssitzung in Ottawa vor der zunehmenden Kriegsgefahr, die sich aus einer übertriebenen Wiederaufrüstung ergeben könnte: »Obwohl Beschwichtigung vermieden werden sollte, birgt eine zu energische Kriegsvorbereitung ernsthafte Gefahren41.« Im Januar 1953 wies Kraft die sowjetischen Noten zurück, erklärte aber auch, daß Dänemark stets die durch Bornholms geographische Lage in der Ostsee bestehenden Besonderheiten berücksichtigen werde42. Durch Stalins Tod und das nachfolgende Tauwetter in den internationalen Beziehungen wurde ein Verzicht auf Provokation und die Entspannung zur noch wichtigeren Motivation. Beim Parteikongreß im Juni argumentierte Hans Hedtoft, daß alle Möglichkeiten der Entspannung und einer friedlichen Lösung des OstWest-Konfliktes vor der Einleitung neuer Schritte ausgelotet werden müßten. Schließlich spielte das innenpolitische Spiel eine bedeutsame Rolle. Erstens fand die Stationierung in der Öffentlichkeit nicht viel Zustimmung, am wenigsten bei den Parteigängern der Sozialdemokraten, Sozialliberalen und Liberalen. Eine nicht veröffentlichte Gallup-Umfrage von 1953 läßt erkennen, daß sich 57 % der Bevölkerung gegen und nur 20 % für die Stationierung aussprachen43. Da die Entscheidung im gleichen Jahr mit einem Referendum und zwei Parlamentswahlen zu treffen war, bestand kein Anreiz, gegen die allgemeine Stimmung anzugehen. Tatsächlich lautete ein sozialdemokratischer Wahlslogan im Wahlkampf im Frühjahr »Nein zu den Ja-Sagern«, der auf die unkritischen NATO-Befürworter abzielte. Zweitens ließen die Wahlen des Jahres 1953 die Möglichkeit der Bildung einer sozialdemokratischen Regierung erkennen, die jedoch auf die Unterstützung der Sozialliberalen angewiesen war. Letztere waren hartnäckige Stationierungsgegner. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß dieses Motiv eine Rolle im sozialdemokratischen Kalkül gespielt hat. Drittens schmolz die 1949 eingegangene heimische »NATO-Koalition« von Sozialdemokraten, Liberalen und Konservativen in den Jahren zwischen 1950 und 1953, während der sich die Sozialdemokraten in der Opposition befanden, immer mehr zusammen. Ende 1952 führte die Partei tatsächlich außen- und verteidi40 41 42

43

Ebd., Bd 1, S. 92. FRUS 1951, III, S. 450. Dansk sikkerhedspolitik, Bd 1, S. 96. In der Praxis führte dies dazu, daß Bornholm während der ganzen Zeit des Kalten Krieges für alliierte Truppen gesperrt war und dänische Marineoperationen östlich von Bornholm Einschränkungen unterlagen. Villaume, Allieret, S. 461.

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gungspolitische Punkte gegen die Regierung zu Felde, und zu dieser Zeit ist auch die Verschärfung ihres Standpunktes in der Stationierungsfrage zu verzeichnen. Also entsprang die dänische Entscheidung, eine permanente Stationierung verbündeter Truppen in Dänemark abzulehnen, einer Mischung aus Furcht vor Gebundenheit, Verzicht auf Provokation und innenpolitischen Überlegungen. Nach den Begriffen des Allianzspiels entsprach die Entscheidung, die Stationierung fremder Truppen auf dänischem Boden nicht zuzulassen, einer »D«-Strategie, die Dänemark (zusammen mit Norwegen) zu marginalen Bündnisländern degradierte. Nach 1953 wurde das Nein zur friedensmäßigen Stationierung fremder Truppen zu einer Konstanten der dänischen Sicherheitspolitik im Kalten Krieg, die von der liberal-konservativen Opposition akzeptiert wurde. Später —· in den sechziger Jahren — wurde dieses Nein als Teil der »nordischen Balance« gesehen, d.h. einer Konstellation nordischer Politik, durch welche der skandinavische Raum zu einem Niedrigspannungsraum in der internationalen Sicherheitspolitik wurde. In diesem Zusammenhang sind auch die mit dem Nein verbundenen Einschränkungen zu nennen. Das Nein galt nur für die »derzeitige Lage«, d.h. den Frieden und nur für Dänemark, aber nicht für Grönland. Auch galt es nicht für die alliierte Beteiligung an militärischen Übungen in Dänemark oder für andere Vorbereitungen, einschließlich der Bereitstellung von Ausrüstung zur Aufnahme von Verstärkungskräften im Falle einer Krise. Tatsächlich wurde die Verteidigung Dänemarks auf die schnelle Heranführung solcher Truppen im Bedarfsfall ausgelegt.

4.4 Dänemarks Nein zu Atomwaffen (1957) Atomwaffen standen zum Zeitpunkt von Dänemarks Beitritt zur NATO noch im Hintergrund. Es bestand natürlich ein gewisses Einvernehmen über die potentiell abschreckende Wirkung von Atomwaffen, aber die Aufmerksamkeit war während der ersten Jahre der NATO-Mitgliedschaft in erster Linie auf die Probleme der territorialen Verteidigung und weniger auf die strategische Abschreckung konzentriert. Außerdem hegten die dänischen Entscheidungsträger hinsichtlich der neuen Waffen ein gewisses Unbehagen, und die Befürchtung, daß Dänemark (Kopenhagen) Atomziel werden könnte, überlagerte oftmals andere Überlegungen. Als die Vereinigten Staaten im November 1949 im Militärausschuß vorschlugen, die USA sollten die Zuständigkeit für den strategischen Bombeneinsatz, »einschließlich des eigentlichen Einsatzes der Atombombe« übernehmen, protestierte Admiral Quistgaard, der dänische Vertreter. Wenn diese Regelung bekannt würde, könne sie zu Kriegsbeginn von der Sowjetunion als Vorwand für den Einsatz einer Atombombe auf Kopenhagen genutzt werden. Außerdem wurde befürchtet, daß bei Bekanntwerden dieser Regelung der Rückhalt der NATO in der Öffentlichkeit schwinden würde. Die dänischen Vertreter

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setzten sich deshalb dafür ein, im strategischen Konzept Atomwaffen überhaupt nicht zu erwähnen 44 . Die atomare Frage kam einige Jahre später erneut auf, als die US-Streitkräfte in Europa mit taktischen Atomwaffen ausgestattet wurden. Im November 1954 brachten die USA mit dem NATO-Dokument MC 48 militärstrategische Überlegungen ein, die den Einsatz von taktischen Atomwaffen in die Verteidigung integrierte. Sie wurden bei der NATO-Miriisterratssitzung im Dezember zur Billigung vorgelegt. Wieder wurden dänische Vorbehalte laut. Villaume vermutet, daß diese Vorbehalte wegen der freien Verfügungsgewalt laut wurden, die SACEUR und den NATO-Truppenführern hinsichtlich des Einsatzes in einem Ernstfall eingeräumt werden sollte. Nachdem die USA jedoch versichert hatten, daß MC 48 (nur) als »Grundlage für die Planung und Bereitstellung der Kräfte« diene und nicht die Übertragung irgendwelcher Vollmachten durch die Regierungen bedinge, gab Dänemark widerstrebend seine Zustimmung zu diesem Dokument 45 . Einige Jahre darauf (1957) tauchte die atomare Frage in anderer Form auf. Es ging um einen Vorschlag, den europäischen NATO-Mitgliedsstaaten taktische Atomwaffen unter einem doppelten Verschlußsystem zur Verfügung zu stellen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die Vorstellung, daß die dänischen Streitkräfte mit Atomwaffen ausgestattet werden könnten, keine Rolle in den Debatten in Dänemark gespielt. Michael H. Clemmesen schließt aufgrund der Untersuchung VS-eingestufter Streitkräfteunterlagen, daß sich die dänischen Planer in den Jahren 1955/56 zunehmend mit der atomaren Verteidigung Dänemarks beschäftigt hatten, aber nur durch die vorgeschoben eingesetzten US-Verstärkungskräfte und nicht durch dänische Truppen46. Dieses Thema wurde mit der dänischen Regierung erstmals Anfang 1957 aufgrund des amerikanischen Angebots angeschnitten, den dänischen Streitkräften konventionell bestückte »Nike«-Luftabwehrflugkörper und Artillerieflugkörper vom Typ »Honest John« zur Verfügung zu stellen. Im März 1957 befürwortete die sozialdemokratische Regierung ohne viel Aufhebens im Prinzip die Einführung der »Nike«. Wenige Tage später, am 28. März, schickte der sowjetische Premierminister Nikolaj A. Bulganin ein Drohschreiben an seinen dänischen Kollegen, Premier- und Außenminister Hans C. Hansen, in welchem er darauf hinwies, daß Dänemark sich »in große und unentschuldbare Gefahr begebe«, wenn es sich in die amerikanischen Vorbereitungen für die Dislozierung von Atomwaffen einspannen ließe. Bulganin warnte unverhohlen, ein Atomkrieg sei für Dänemark existenzbedrohend, wenn dänisches Territorium für Stützpunkte fremder Streitkräfte genutzt werden dürfe. Er wies seinen dänischen Kollegen auch recht unverblümt darauf hin, daß eine H-Bombe zur Vernichtung einer Fläche mit einem Radius von »Hunderten von Kilometern« ausreiche47. 44

45 46 47

Die abschließende Formulierung in der strategischen Konzeption lautete: »ausnahmslos alle Waffentypen«. Villaume, Allieret med forbehold, S. 503 f.; siehe UM 3.E.92. Sitzung des Außenpolitischen Ausschusses am 24.11 und 8.12.1949. Villaume, Allieret, S. 514 ff. Clemmesen, Den massive gengaeldelses. Dansk sikkerhedspolitik, Bd 2, S. 349-354.

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Auch wenn sich die dänischen Entscheidungsträger den sowjetischen Drohungen widersetzten, nahmen sie diese doch ernst. Hansens Antwort bezeichnete die sowjetischen Unterstellungen als unbegründet, wiederholte aber auch frühere Zusicherungen der dänischen Regierung, daß Dänemark als NATO-Mitglied niemals aggressive Schritte gegen die Sowjetunion oder irgendeinen anderen Staat unterstützen werde48. Vor den Parlamentswahlen im Mai 1957 beherrschte der Wahlkampf das innenpolitische Geschehen, und die Sozialdemokraten machten sich die Gelegenheit zunutze, ihr Sicherheitsprofil zu schärfen. Hansen erklärte jetzt, daß Dänemark das Angebot ausgeschlagen hätte, wenn Flugkörper vom Typ »Nike« und »Honest John« in ihrer nuklearen Version angeboten worden wären. »Keine Atomwaffen für Dänemark« war ein herausragender Slogan der Partei im Wahlkampf. Nach der Wahl bildeten die Sozialdemokraten eine Regierungskoalition mit der (früher) neutralistischen sozialliberalen Partei und der kleinen Gerechtigkeitspartei. Diese Regierung machte sich die Auffassung zu eigen, daß Dänemark auf seinem Territorium »unter den derzeitigen Bedingungen« keine Atomwaffen akzeptieren würde. Trotzdem erklärte sich die neue Regierung mit der Stationierung von Flugkörpern vom Typ »Nike« und »Honest John« einverstanden, womit eine wichtige Entscheidung getroffen war. Das eingeschränkte Nein Dänemarks zu Atomwaffen wurde offiziell bei der NATO-Ratssitzung im Dezember 1957 vorgetragen, bei der Dänemark auch vergebens den norwegischen Vorschlag unterstützte, die Dislozierung von Mittelstreckenflugkörpern in Europa zu verschieben. Bei der Sitzung argumentierte Hansen hauptsächlich mit der notwendigen Verbesserung des internationalen Klimas und der Förderung von Abrüstung und Entspannung. Einen Monat später erläuterte er den Standpunkt der Regierung ausführlicher im Folketing und verwies dabei ausdrücklich auf die vor noch nicht langer Zeit eingetroffenen sowjetischen Noten: »Unser Nein muß vor dem Hintergrund der geographischen Lage Dänemarks gesehen werden. Wenn man die Reichweite moderner Waffen berücksichtigt, ist es schwierig, vorauszusagen, welche Länder in einem künftigen Krieg am meisten exponiert sein werden, aber es ist eine historische Tatsache, daß Pläne für die Verteidigung des Raumes, zu dem Dänemark gehört, seit dem Bestehen der NATO die ganze Aufmerksamkeit der östlichen Staaten auf sich ziehen und zu starken Reaktionen Anlaß geben. Es ist deshalb wichtig, daß wir auf Maßnahmen verzichten, die — wenn auch ungerechtfertigter Weise — als Provokation ausgelegt werden könnten und damit den Entspartnungsprozeß beeinträchtigen49.«

48 49

Ebd., S. 355-359. Dansk sikkerhedspolitik, Bd 2, S. 366 f. Bulganin hatte am 12.12.1957, also unmittelbar vor der NATO-Ratssitzung einen zweiten Drohbrief an Hansen geschickt. Es folgte ein weiteres Schreiben vom 8.1.1958, in dem Bulganin die Entscheidungen Dänemarks (und Norwegens) zur Atomfrage als »entscheidenden Beitrag für den Frieden und insbesondere für die Entspannung [...] in Europa« lobte. Texte in: Ebd., S. 368-373, 374-382.

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Die Entscheidung gegen die Einführung von taktischen Atomwaffen in den dänischen Streitkräften und in Dänemark im allgemeinen entsprang einer Reihe von Überlegungen, die sich aus dem Bündnis-, dem Gegner- und innenpolitischen Spiel ergaben. Das Bündnisspiel rangierte wahrscheinlich an letzter Stelle. Das Bemühen um Sicherheit, das bei früheren Entscheidungen einen wichtigeren Stellenwert eingenommen hatte, wurde nur von den führenden Militärs und den Oppositionsparteien (den Liberalen und Konservativen) ins Spiel gebracht, die argumentierten, Atomwaffen würden die Wirksamkeit der dänischen Verteidigung verstärken und würden — da sie nur der Verteidigung dienen sollten — niemanden bedrohen. Sie wiesen auch darauf hin, daß es irrational sei, die Flugkörper »Nike« und »Honest John« ohne Atomsprengköpfe, für die sie vorgesehen waren, zu akzeptieren. Diese Argumente beeindruckten die Regierung jedoch nicht. Die Sozialdemokraten waren seit 1949 wegen der Gebundenheit an die NATO-Politik besorgt, und obwohl sich die Sozialliberalen, ihr neuer Koalitionspartner, widerwillig zu einer NATO-Mitgliedschaft bekannten, sahen sie die atomare »Falle« noch kritischer als die Sozialdemokraten. Es gibt Gründe für die Annahme, daß das Gegnerspiel den Ausschlag im Regierungskalkül gab. Dänemark sah sich 1957 starkem sowjetischem Druck ausgesetzt. Die Sowjets nutzten Dänemarks Furcht vor den nationalen Konsequenzen eines Atomkrieges aus und appellierten auch an das bekannte dänische Streben nach Entspannung und Verzicht auf Provokation. Obwohl die Regierung die sowjetische Interpretation der Gründe und Folgen einer verstärkten atomaren Aufrüstung der NATO ablehnte, widerstrebte es ihr, eine möglicherweise zu Spannungen führende Bündnispolitik zu unterstützen. Dänemark beschloß, weder durch die NATO- noch durch die Landespolitik zu der für diese Zeit charakteristischen Zunahme der Spannungen beizutragen. Das innenpolitische Spiel fiel gleichstark ins Gewicht. Als die Sozialdemokraten ihr Profil vor der Parlamentswahl schärften, geschah dies sicher mit Blick auf den späteren Koalitionspartner. Die Sozialdemokraten hatten seit 1953 mit den Sozialliberalen zusammengearbeitet, aber zum Preis von Zugeständnissen und Unsicherheiten. Um nicht mehr so sehr eingeschränkt zu werden, hoffte die Partei jetzt auf die Aufnahme der Sozialliberalen in eine Regierungskoalition. Das wäre jedoch bei einem Ja zu Atomwaffen für die dänischen Streitkräfte nicht möglich gewesen. Da die Partei gewillt war, auch aus anderen Gründen diesen Preis zu zahlen, traf die Regierung die Entscheidung über einen Verzicht von Atomwaffen auf dänischem Territorium »unter den derzeitigen Bedingungen« wahrscheinlich ohne weiteren Vorbehalt. Die Entscheidung, keine Atomwaffen auf dänischem Territorium zuzulassen, beruhte also mehr als die anderen Bündnisentscheidungen auf Überlegungen zum Gegenerspiel. Mit ihrer Betonung der Nichtprovokation und Entspannung war die dänische Politik gegenüber der Sowjetunion durch eine eindeutige »C«-Strategie gekennzeichnet. Im Bündnispiel verfolgte Dänemark eine ebenso eindeutige »D«-Strategie, die so weit ging, daß das Land sich — bis zur Einführung der Strategie der »Flexible Response« — eine Zeitlang tatsächlich von der allgemeinen

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Bündnisstrategie abkoppelte. Die innenpolitischen Auswirkungen der Entscheidung waren erheblich. Da der Verzicht auf Atomwaffen »unter den derzeitigen Umständen« an die Regierungskonstellation gebunden war, mußte trotz der Kritik der führenden Militärs und der Führer der Oppositionsparteien damit gerechnet werden, daß er für die Regierungszeit der Koalition aufrechterhalten würde. 1960 wurde der Verzicht von den Oppositionsparteien widerwillig in Verbindung mit der Unterzeichnung eines neuen Verteidigungskompromisses akzeptiert. Während der darauffolgenden Jahre ließ die Kritik am Verzicht immer mehr nach. Das Nein zu Atomwaffen war anscheinend zu etwas Unverrückbarem in der dänischen Politik und zu einem der Eckpfeiler der »Nordischen Balance« geworden. Im Sommer 1995 fiel durch einen Bericht der Regierung an das Folketing über »gewisse Aspekte des Falles Thüle« ein ironisches Licht auf diese Politik50. Laut Bericht war der US-Botschafter in Dänemark im November 1957 an Premierminister Hansen mit der Anfrage herangetreten, ob Dänemark vor der Entscheidung Amerikas, Atomwaffen auf Grönland zu stationieren, informiert werden wolle. Er fügte hinzu, daß die Amerikaner nach ihrem Dafürhalten befugt seien, aufgrund des Grönlandvertrages Waffen dieses Typs zu stationieren. Laut Bericht reagierte Hansen darauf mit der Übermittlung eines sicherheitsmäßig hoch eingestuften persönlichen Schreibens an den amerikanischen Botschafter, in dem er die amerikanische Interpretation des Verteidigungsvertrages zur Kenntnis nahm. Er erwähnte auch, daß keine konkreten Pläne für die Stationierung solcher Waffen vorgelegt worden seien, und daß die Vereinigten Staaten nicht um die Stellungnahme der dänischen Regierung nachgesucht hätten. Vor diesem Hintergrund sehe er keinen Anlaß, zu diesem Fall eine Stellungnahme abzugeben. Die amerikanische Regierung legte diesen Verzicht auf eine »Stellungnahme« offensichtlich als grünes Licht für die Stationierung aus, die wohl so lange geduldet würde, als die dänische Regierung keinen Wind davon bekomme, und begann bald darauf, die Waffensysteme in Stellung zu bringen. Daraufhin unterrichteten die Vereinigten Staaten in einer geheimen Mitteilung im Juli 1995 die dänische Regierung, daß einige (vier) Atombomben zwischen Februar und Oktober 1958 auf dem Luftstützpunkt Thüle stationiert und Gefechtsköpfe später (1959-1965) zusammen mit vier »Nike Hercules«-Batterien dorthin gebracht worden seien51. So unterlag also die dänische Politik des Verzichts auf Atomwaffen einer zeitlichen (»unter den derzeitigen Umständen«) und einer geheimen räumlichen (nur auf das kontinentaleuropäische Dänemark begrenzten) Einschränkung.

Siehe Regeringens redegoerelse til Folketinget. Politiken & Morgenavisen Jyllands-Posten, 15.7.1995. Die Frage nach der Rolle Grönlands in der US- (Nuklear-)Strategie in den Jahren zwischen 1945 und 1968 ist Gegenstand einer offiziell unterstützten Untersuchung des Dänischen Instituts für Internationale Angelegenheiten (Dansk Udenrigspolitisk Institut), das Zugang zu allen einschlägigen Dokumenten der dänischen Regierung erhalten hat.

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5. S c h l u ß f o l g e r u n g e n Wie diese Analyse zeigt, wurde die dänische Bündnispolitik durch oft komplizierte Abwägungen zwischen Überlegungen aus dem Bündnisspiel, dem Gegnerspiel und dem innenpolitischen Spiel bedingt. In seiner jüngst erschienenen Dissertation argumentiert Villaume nachdrücklich, wenn auch indirekt, daß die dänische Sicherheitspolitik der fünfziger Jahre vor allem als Bündnis- und Gegnerspiel gesehen werden müsse. Er schließt das innenpolitische Spiel nicht aus, aber er legt das Schwergewicht auf das Bündnis- (und in etwas geringerem Umfang) auf das Gegnerspiel. Er resümiert, daß die dänischen Politiker und Beamten in Kopenhagen »weit mehr als bislang angenommen [...] die entweder geheim oder öffentlich an sie herangetragenen strategischen, militärischen, ideologisch-politischen, (verteidigungs-) wirtschaftlichen und organisatorischen Forderungen der NATO und der wichtigen Bündnismitglieder im Lichte der Nichtprovokation (gegenüber der Sowjetunion) und Abschirmung (gegenüber den Bündnispartnern) und daher weniger im Lichte der Abschreckung des Ostens und der Integration in die atlantische Allianz betrachteten«52. Damit wurde die dänische Bündnispolitik laut der Analyse von Villaume im wesentlichen durch die »D«-Strategien bestimmt, während in der Politik gegenüber dem Gegner die »C«-Strategien vorherrschten. In Robert Keohanes Terminologie rangiert Dänemark als verhältnismäßig unabhängiger Spieler im Bündnis und war also kein loyales oder äußerst loyales Mitglied53. Im großen und ganzen ist diese Analyse recht überzeugend. Im Bündnisspiel war Dänemark in vielen Fällen von der Furcht vor Gebundenheit geleitet, am meisten bezüglich der Stationierung fremder Truppen und von Atomwaffen auf dänischem Boden. In diesen Fällen fiel die Furcht, zu sehr in die Bündnisstrategie hereingezogen zu werden, mehr ins Gewicht als die Sorge um die Sicherheit, d.h. als der potentielle Vorteil, daß durch die Aufnahme von alliierten Verstärkungskräften und Atomwaffen im Frieden, das Land zu einer gemeinsamen Abschreckung des Gegners und damit zu seiner eigenen Sicherheit beitragen könne. In anderen Fällen stand die Sicherheit jedoch im Vordergrund. Der Wunsch, die Sicherheit Dänemarks zu stärken, spielte eine große Rolle bei der Entscheidung für den Beitritt zum Bündnis und im Falle Grönlands, obwohl Dänemark in dieser Hinsicht außerordentlich wenig Entscheidungsspielraum hatte. Wenn in der Analyse auch die militärische Zusammenarbeit mit Deutschland berücksichtigt worden wäre, hätte sich dieser Eindruck wahrscheinlich noch verstärkt, da Sicherheit — und in diesem Fall der Schutz von Dänemarks »verwundbaren Stellen« — eine erhebliche Rolle spielte. In diesen Fällen bediente sich Dänemark der »C«-Strategien im Bündnisspiel und hatte auch keine andere Wahl. 52 53

Villaume, Allieret, S. 844. Siehe Keohane, The Big Influence.

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So verhielt es sich auch im Gegnerspiel. Grundsätzlich trat Dänemark während des Kalten Krieges militärisch nicht weiter in Erscheinung. Sogar nach dem Beitritt zum Bündnis war Dänemark weiter um gute zwischenstaatliche Beziehungen mit der Sowjetunion bemüht und tat dies auch kund. Im Gegnerspiel des Bündnisses setzte sich Dänemark stets für Verzicht auf Provokation und für Entspannung ein. Dies war eine Politik, die in der dänischen Tradition der Neutralität verwurzelt, aber auch durch die geographische Nähe zum Hauptgegner bedingt war. Die Furcht, eines der ersten Ziele in einem künftigen Atomkrieg zu sein, spielte bei den Entscheidungsträgern in Kopenhagen eine nicht unerhebliche Rolle. Aber auch hier gab es Abweichungen. In den Entscheidungen der Jahre 1950 und 1951 spielten die Beziehungen zum Gegner eine geringere Rolle als einige Jahre später. Die beiden Entscheidungen, bei denen solche Sorgen am meisten mit hereinspielten, waren jene, die am meisten mit der Innenpolitik verknüpft waren. Anfang der fünfziger Jahre waren Sicherheits- und Verteidigungspolitik durch die umfassende Koalition der Sozialdemokraten, Liberalen und Konservativen, die den Beitritt Dänemarks zur NATO bewerkstelligt hatten und weiter in sicherheitspolitischen Fragen zusammenarbeiteten, wenn auch die Meinungen in der Innenpolitik oftmals weit auseinandergingen, weitgehend von der Innenpolitik abgeschirmt. Diese Koalition hatte während der ganzen fünfziger Jahre Bestand (und sie funktioniert auch noch Ende der neunziger Jahre), war jedoch nach 1952/53 etwas durch die Tatsache geschwächt, daß die Sozialdemokraten aus innenpolitischen Gründen begannen, den Sozialliberalen und den Skeptikern in ihren eigenen Reihen gewisse Zugeständnisse in bezug auf Verteidigungskosten, Friedensstationierung und Atompolitik zu machen54. In diesem Prozess der »Domestizierung« spielten wirtschaftliche Überlegungen ebenfalls eine wichtige Rolle, insbesondere in der Festlegung der Verteidigungspolitik. In Villaumes Sicht ist die dänische Bündnispolitik der fünfziger Jahre vor allem als »Abweichler-Politik« einzustufen, da sie sich auf Werte und Vorstellungen berief, die von denen der meisten Bündnismitglieder abwichen. Diese Interpretation ist im allgemeinen richtig, sollte jedoch nicht die Tatsache verschleiern, daß Dänemark in einigen Fällen, und dabei insbesondere bezüglich der NATO-Mitgliedschaft und Grönland, eine loyale Rolle im Bündnis spielte, während die dänische Politik in anderer Beziehung weniger durch Abweichlertum als durch das »Trittbrettfahren« kleiner Staaten in einem Bündnis bestimmt war55.

Siehe die Stellungnahme zu Villaumes Dissertation: Thomsen, Skamros med forbehold. Siehe meine Erörterung von Villaumes Dissertation: Peterssen, Et vigtigt skridt. Die Theorie des Trittbrettfahrens kleiner Staaten ist erörtert in: Olson/Zeckhauser, An Economic Theory of Alliances.

Ritchie Ovendale Britische Außen- und Bündnispolitik 1949-1956 Im Februar 1949 stimmte der britische Außenminister Einest Bevin der Einrichtung des Ständigen Staatssekretärsausschusses unter William Strang zu. Das ganze Jahr hindurch trat dieser Ausschuß, der sich mit langfristigen Fragen der Außenpolitik beschäftigen sollte, häufig zusammen und untersuchte, wie Großbritannien vor dem Hintergrund des Kalten Krieges in Europa und Asien seinen Status als Großmacht bewahren könnte. Das geschah bereits mit Blick auf die Gründung der Nordatlantikpakt-Organisation. Außenminister Bevin hatte bereits im Februar 1946 für die anglo-amerikanische Allianz votiert1. Der Ständige Staatssekretärsausschuß kam 1949 zu dem Ergebnis, daß weder das Commonwealth allein noch Westeuropa allein noch Commonwealth und Westeuropa gemeinsam wirtschaftlich und militärisch in der Lage sein würden, sich gegen den politischen Gegner zu behaupten, und daß die volle Beteiligung der Vereinigten Staaten eine wesentliche Voraussetzung dafür sei, die freie Welt vor der Unterminierung durch die Sowjetunion zu schützen. Ende 1949 billigte das Kabinett dieses Votum und stellte fest, die Politik der engen anglo-amerikanischen Zusammenarbeit in globalen Angelegenheiten müsse fortgesetzt werden. Sie erfordere anhaltende politische, militärische und wirtschaftliche Bemühungen Großbritanniens. Als Anfang 1951 der Grundsatz der besonderen anglo-amerikanischen Beziehungen (»special relationship«) als Eckpfeiler der britischen Außenpolitik im Kabinett ernsthaft in Frage gestellt wurde, setzte sich der bereits vom Tode gekennzeichnete Bevin, unterstützt von Strang und Finanzminister Gaitskell, mit aller Macht dafür ein, dem Votum des Ständigen Staatssekretärsausschusses weiterhin zu folgen. Großbritannien müsse »ausreichende Kontrolle ausüben über die Politik des in bester Absicht handelnden, aber unerfahrenen Kolosses, von dessen Kooperation unsere Sicherheit abhängig ist«2. Die britischen Nachkriegsregierungen unter den Labour-Politikern Clement Attlee und Bevin waren entschlossen, die Illusion von Großbritannien als Großmacht aufrechtzuerhalten. Ihre Außenpolitik beruhte darauf, Washington zu ihrer Sicht der Realität einer Bedrohung durch die Sowjets zu bekehren. Die konservative Regierung unter Anthony Eden leitete vor der Suezkrise im Juni 1956 eine 1

2

Ovendale, The English-Speaking Alliance. Zu Bevins beträchtlichem Interesse an der Vorstellung von einer »dritten Kraft« als Ausgleich zwischen den USA und der Sowjetunion (etwa zwischen August 1947 und April 1948) siehe Young, Britain and European Unity, S. 14-18. Extremere Interpretationen siehe Kent, British Imperial Strategy; Croft, The End of Superpower. Ovendale, Willliam Strang.

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umfangreiche Überprüfung der britischen Außen- und Verteidigungspolitik ein mit der Absicht, »Änderungen in den Methoden, wenn nicht sogar den Zielen der Sowjetunion« zu berücksichtigen, d.h., deren offensichtliche Entspannungspolitik. Diese Überprüfung sollte letztlich, die erkanntermaßen geringere Bedeutung Großbritanniens in der Weltpolitik und den Bedarf an höheren Ausgaben im eigenen Land in Rechnung stellen. Eden stellte fest, daß die Zeiten der Auslandshilfe zu Ende gingen und daß es an der Zeit sei, »sich nach der Decke zu strecken«. Aber die Decke hing sehr hoch. Großbritannien mußte Mittel und Wege finden, die Habenseite seiner Zahlungsbilanz um 400 Millionen Pfund Sterling im Jahr aufzubessern. Der Premierminister war der Ansicht, das Land tue besonders in der Verteidigung zu viel zum Schutz gegen das unwahrscheinlichste aller Risiken, nämlich einen größeren Krieg. Dies bedeutete ein Umdenken in der britischen Außenpolitik, die die konservative Regierung unter Churchill unmittelbar nach ihrer Wahl eingeleitet hatte. Herbeigeführt wurde es durch wirtschaftliche Notwendigkeiten. Ermöglicht wurde es durch Entwicklungen in der Atomtechnik. Obwohl die Eisenhower-Administration die britischen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten damals nicht als »special« betrachtete, und obwohl der amerikanische Präsident Großbritannien nur als einen in einer Reihe von Verbündeten sah3, blieben die Beziehungen zu den USA der Eckpfeiler der britischen Außenpolitik. Später gab Eisenhower seinen Fehler während der Suezkrise zu und sorgte bei der Bermuda-Konferenz4 im März 1957 für eine Wiederbelebung der »besonderen« anglo-amerikanischen Beziehungen. I. 1949 änderte Großbritannien den Charakter des Britischen Commonwealth: Es wurden auch republikanische Mitgliedsländer zugelassen. Die Organisation war jetzt nicht mehr das Britische Commonwealth, sondern nur noch das Commonwealth. Der Grund dafür lag darin, daß es Indien ermöglicht werden sollte, Mitglied zu bleiben, weil das Land damals als Bollwerk gegen die Ausbreitung des Kommunismus in Asien gesehen wurde5. Dadurch änderte sich auch die britische Einstellung gegenüber dem Commonwealth. Es war nicht mehr das vertraute Organ, das 1939 Seite an Seite mit Großbritannien in den Krieg gezogen war. Mit Ausbruch des Koreakrieges im Juni 1950 machte Großbritannien bei den Informationen, die weitergeleitet wurden, einen Unterschied zwischen den alten »weißen« Dominions (Kanada, Australien, Neuseeland und Südafrika) und den neuen Mitgliedern, die oft als Sicherheitsrisiko betrachtet wurden6. 3 4

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Public Record Office, London (PRO), PREM 11/392, Churchill an Eden, 6.1.1953. PRO, CAB 128/31 Pt 1, fol. 171, CC 22(57)3, Secret, 22.3.1957; siehe Ovendale, Great Britain and the Anglo-American Invasion. PRO, CAB 128/15, fos 61-2, CM17(49)2, Secret, 3.3.1949. Australian Archives, Canberra, A5954, Box 1813, Shedden an P.A. McBride, Top Secret and

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Die Labour-Regierungen unter Attlee etablierten zwischen 1949 und 1951 die engen Beziehungen zwischen Großbritannien und Südafrika, die für die nächsten drei Jahrzehnte und länger anhielten 7 . Das war nur möglich, weil 1948 die Nationalisten an die Macht kamen, die wie die Briten daran interessiert waren, ein Vordringen des Kommunismus in Afrika zu unterbinden. Erleichtert wurde die Annäherung durch Freundschaften zwischen Labourpolitikern und Führern der südafrikanischen Nationalistischen Partei. Die Kabinettsvorlage von September 1950, mit der diese Politik eingeleitet wurde, wies ausdrücklich auf den »überzeugten Antikommunismus« der Nationalisten hin und betonte, Südafrika sei der weltweit größte Goldproduzent; Großbritannien benötige einen nicht unbeträchtlichen Teil des Goldes für das Sterlinggebiet. Zudem stelle Südafrika für britische Investitionen einen bedeutenden Markt dar und sei unter strategischen und verteidigungspolitischen Aspekten wichtig. Auch galten die südafrikanischen Uranvorkommen für das britische Nuklearprogramm als unerläßlich 8 . Brigadegeneral Basil Schonland, in den Jahren 1949/50 Vorsitzender des südafrikanischen Rates für wissenschaftliche und industrielle Forschung, leitete zwischen 1954 und 1958 die britische Atomforschungsanstalt in Harwell 9 . Nach einem Besuch der Südafrikanischen Union im Januar und Februar 1951 riet der Minister für Commonwealth-Beziehungen, Patrick Gordon-Walker, Großbritannien solle »bereit sein, diejenigen Beziehungen zur Union auszubauen, die sie an uns binden und die dafür sorgen, daß sie nicht willens ist, einen Bruch mit uns zu riskieren. [...] Diese Beziehungen liegen auch in unserem eigenen Interesse. An erster Stelle steht dabei die Zusammenarbeit in der Verteidigung und in wirtschaftlichen Angelegenheiten. Wichtig ist weiterhin, der Union in den Vereinten Nationen jede politisch vertretbare Hilfe zuteil werden zu lassen. Wer argumentiert, daß wir die Union ächten und jede Beziehung zu ihr abbrechen sollten, weil uns ihre Apartheidpolitik nicht paßt, verkennt die Realität. Eine derartige Politik würde uns nicht nur im Bereich Verteidigung und Wirtschaft schwer schaden, sondern uns auch schwächen, wenn es darum geht, Südafrika von tollkühnen Maßnahmen aus Furcht vor einem Bruch mit uns abzuhalten. Sie würde sofort und unmittelbar unsere Chancen verringern, die Territorien [Swasiland, Basutoland und Betschuanaland] zu halten, die eine wesentliche Rolle spielen, wenn es darum geht, den Einfluß und die territoriale Expansion der Union in Südafrika zu begrenzen10.« Diese Politik wurde von der konservativen Regierung fortgeführt. Aber Südafrika hielt sich in der Frage eines festen Engagements in der Verteidigung des Mitt-

7 8

9 10

Personal, 23.1.1951; zu den britischen Beziehungen zum Commonwealth siehe Mansergh, Survey; Miller, Survey. Siehe Ovendale, The English-Speaking Alliance, S. 245-270. PRO, CAB 129/42, fos 54-6, CP(50)217, Memorandum by Gordon Walker on relations with South Africa, Secret, 15.9.1950. British Defence Policy, S. 88 f. PRO, CAB 129/45, fos 224-30, CP(51)109, Memorandum by Gordon Walker on visit to Southern Africa, Secret, 16.4.1951.

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leren Ostens zurück, und im Juni 1955 beschloß das britische Kabinett, Verhandlungen über die Rückgabe des Marinestützpunkts Simonstown an Südafrika aufzunehmen. In dieser Phase hoffte das Kabinett immer noch auf eine afrikanische Verteidigungsorganisation11. Die konservativen Regierungen unter Winston Churchill und Anthony Eden mußten sorgfältig auf das im Entstehen begriffene neue Commonwealth und insbesondere auf dessen neutrale Mitgliedstaaten achten. Manchmal schien es, als sei sich der amerikanische Verbündete nicht der Tatsache bewußt, daß Großbritannien auch Beziehungen zu seinen Commonwealth-Partnern pflegte. Das wurde insbesondere deutlich bei der Genfer Konferenz 1954, bei der Eden sich aus dem britischen Engagement in Indochina lösen konnte12, und während der Waffenstillstandsgespräche über Korea13. Mitte April 1954 gab Eden diesen Eindruck in einem Telegramm an den britischen Botschafter in Washington, Sir Roger Makins, folgendermaßen wieder: »Vielleicht glauben die Amerikaner ja, die Zeit sei vorbei, in der sie auf die Gefühle oder Schwierigkeiten ihrer Verbündeten Rücksicht nehmen müßten. Diese Tendenz wird jede Woche ausgeprägter und führt zu wachsenden Schwierigkeiten für jeden in diesem Land, der enge anglo-amerikanische Beziehungen aufrechterhalten will. Wir zumindest müssen dauernd all unsere Commonwealth-Partner berücksichtigen, auch wenn einige davon den Vereinigten Staaten nicht gefallen; ich muß Sie daher bitten, diesen Aspekt unserer Politik genau im Auge zu behalten und den Amerikanern gegenüber ohne Zögern deutlich zu vertreten14.«

II. Mit der Unterzeichnung des Nordatlantikvertrags am 4. April 1949 sicherte sich Großbritannien das Einverständnis der Amerikaner, Europa im Fall eines Angriffs zu Hilfe zu kommen, wenn auch nicht als Teil der Verteidigung in Europa. In den Gesprächen, die Ende 1947 in Washington zwischen Amerikanern und Briten über den Mittleren Osten geführt wurden, erkannten die Amerikaner an, daß sie die britische Position in diesem Gebiet stützen müßten15. Die Region blieb größtenteils britisches Einflußgebiet. Das war genau das, was Großbritannien damals wollte. Aber als man mit der Berlinblockade in den Kalten Krieg eintrat, besaß die Linie, an der das Vordringen des Kommunismus aufgehalten werden sollte, einen deutlichen Schwachpunkt: Asien. Nur die Amerikaner konnten dort etwas unterneh11

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PRO, CAB 128/29, fos 152-3, CM17(55)8, Secret, 23. Juni 1955; siehe Berridge, South Africa; Berridge/Spence, South Africa. Siehe Eden, Full Circle, S. 107-145; Shuckburgh, Descent, S. 168-204; Bator, Vietnam; Warner, The Settlement. Foot, Α Substitute for Victory; Lowe, The Settlement. Eden, Full Circle, S. 99. PRO, FO 371/61114, AN4017/3997/45/G, Record of informal political and strategic talks in Washington on the Middle East, 16.10.-7.11.1947, Top Secret.

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men, und die wurden durch den Fall Chinas 1949 aller Illusionen über die Aussichten, Asien helfen zu können, beraubt. 1949 lautete eines der wichtigsten Ziele der Außenpolitik der Attlee-Regierung, den Amerikanern die Augen zu öffnen für das, was die Briten als Dominoeffekt in Asien ansahen. Der kommunistische Aufstand in Malaya ließ den Kalten Krieg in Asien für Großbritannien 1949 zur Realität werden. Aber Indochina galt als Schlüssel. In ihrer Denkschrift über Verteidigungspolitik und globale Strategie argumentierten die Stabschefs im Juni 1950: »Die Frontlinie des Kalten Krieges in Asien liegt in Indochina. Wenn diese Front nachgibt, dauert es nicht mehr lange, bis Siam und Burma unter kommunistischen Einfluß geraten. In diesem Falle würden unsere Schwierigkeiten in Malaya nahezu unüberwindbar werden, und der Kommunismus würde sich wahrscheinlich in ganz Malaya und auf den Inseln ausbreiten. Es ist nichts wichtiger als sicherzustellen, daß Frankreich die Ordnung wiederherstellt und eine stabile und letztlich befreundete Regierung in Indochina etabliert16.« Malcolm MacDonald, der britische Generalkommissar in Südostasien, legte Präsident Eisenhower die Dominotheorie ausführlich dar. Diese Theorie war schon zur Zeit des Marshallplans ein Beweggrund der britischen Politik in Europa gewesen. Anfang 1949 kam das Außenministerium zu dem Schluß, daß etwas gegen die kommunistische Bedrohung für Südostasien getan werden mußte. London war sich dessen schon am Ende des Zweiten Weltkriegs bewußt gewesen: 1946 hatte man Lord Killearn gebeten, Moskaus Einfluß in diesem Gebiet zu beurteilen. Im Außenministerium war man der Meinung, daß nur die Vereinigten Staaten den kommunistischen Vormarsch in Asien aufhalten könnten. Nach den Erfahrungen mit der Unterstützung der chinesischen Nationalisten, die an Geld und Waffen alles erhalten hatten, was möglich war, weigerten sich die Vereinigten Staaten zunächst, sich in Asien zu engagieren. Die britische Asienpolitik wurde im Außenministerium und im Ständigen Staatssekretärsausschuß unter Strang gemacht und von Bevin den Amerikanern verdeutlicht. Bei dieser Politik mußte Großbritannien sorgfältig auf amerikanische Empfindlichkeiten hinsichtlich der Anerkennung des kommunistischen China achten, da wichtige außenpolitische Themen in den Vereinigten Staaten mittlerweile wieder von nationalen Erwägungen beherrscht werden konnten. Im November 1949 wurde dem von George Kennan geleiteten Politischen Planungsstab eine überarbeitete Version der vom Strang-Ausschuß erarbeiteten Südostasienpolitik vorgelegt. Ende Dezember billigte Präsident Harry S. Truman das Dokument NSC 48/2, das die amerikanische Politik darauf festlegte, dem weiteren Vordringen des Kommunismus in Asien Einhalt zu gebieten, und das eine bemerkenswerte Übereinstimmung mit Strangs Papier aufwies. Es lief darauf hin16

Australian Archives, Canberra, A426/24, P.A. McBride an Menzies, Top Secret, 24.10.1950; PRO, CAB 131/9, D0(50)45, Report by the Chiefs of Staff on Defence Policy and Global Strategy, Top Secret, 7.6.1950. Der Großteil dieses Dokuments zusammen mit Ergänzungen aus dem Jahr 1951 liegt gedruckt vor in: Documents on British Policy Overseas, Reihe 2, Bd 4, London 1991, S. 411-134.

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aus, daß die Vereinigten Staaten in einem traditionellen Interessengebiet der Briten und Franzosen wieder einmal für diese »die Kastanien aus dem Feuer holten«. In vielerlei Hinsicht war Großbritannien der Anstifter, wenn nicht sogar der Urheber für diese Politik gewesen17. Mit dem Eingreifen der Amerikaner während der Koreakrise im Juni 1950 wurde aus der Pax Britannica somit eine Pax Americana. Für Großbritannien sah es nun so aus, als ob die Vereinigten Staaten endgültig bereit seien, sich ihrer weltweiten Verantwortung zu stellen. Gegen den Willen der Stabschefs entsandte Großbritannien Truppen, damit die Amerikaner sich bei ihrer großen neuen Aufgabe nicht alleingelassen fühlten. Als es den Anschein hatte, daß die Vereinigten Staaten kein politisches Konzept hatten, war Großbritannien schnell bei der Hand, eines zu formulieren. Die Änderung des Ziels in Korea vom reinen Zurückweisen des Aggressors am 38. Breitengrad hin zur Herbeiführung der staatlichen Einheit Koreas ging auf Großbritannien zurück. Großbritannien sorgte dafür, daß die UN-Resolution zustande kam, mit der das Überschreiten des 38. Breitengrads gebilligt wurde. Als das kommunistische China eingriff und militärische Rückschläge folgten, wurde dem britischen Kabinett erklärt, daß, was immer auch im Unterhaus gesagt werde, Großbritannien die gleiche Verantwortung trage wie die Vereinigten Staaten18. Der amerikanische Verbündete schwenkte nicht um auf eine Politik des »Asien zuerst«. Im Anfangsstadium der Koreakrise erreichte Bevin eine qualitative Änderung des amerikanischen Engagements für Europa: Nicht nur, daß die Vereinigten Staaten weiterhin bereit waren, Europa in der Verteidigung zu Hilfe zu kommen, sie wurden nun auch Teil der Verteidigung in Europa. Im Dezember 1950 einigten sich Attlee und Truman praktisch auf eine Politik des »Europa zuerst«. Dem britischen Premierminister zufolge hatte Truman auch gesagt, er betrachte außer bei einem Angriff gegen die Vereinigten Staaten die Atombombe als gemeinsamen Besitz Großbritanniens, Kanadas und der Vereinigten Staaten und werde die Verbündeten vor einem Einsatz konsultieren. Die amerikanische Öffentlichkeit kannte diese Aussage in etwas anderer Form, aber das spielte damals kaum eine Rolle. Bevin war besorgt, daß die abschreckende Wirkung der Bombe, die während der Berlinkrise so erfolgreich genutzt worden war, verloren ginge. Der sterbenskranke Bevin unterdrückte gemeinsam mit Strang und anderen aus dem Außenministerium Anfang Januar 1951 die antiamerikanische Bewegung, die von Heeresminister John Strachey geführt und anscheinend sogar von Admiral Lord Mountbatten unterstützt wurde. Es wurde ein Beschluß herbeigeführt, nach dem Großbritannien, die Länder der Westunion und das Commonwealth — wenn denn eine solche Allianz möglich wäre — der kommunistischen Bedrohung aus eigener Kraft nicht standhalten könnten. Die volle Beteiligung der Vereinigten Staaten sei eine »wesentliche Voraussetzung dafür, die freie Welt vor der Unterminierung durch die Sowjetunion zu schützen«19. 17 18 19

Ovendale, The English-Speaking Alliance, S. 144-184. Ebd., S. 211-214; Stueck, The Limits; Lowe, The Significance. Ovendale, The English-Speaking Alliance, S. 220-238.

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London war 1951 weiterhin der Meinung, daß die Verantwortung, die Australien und Neuseeland in Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten im Pazifik übernommen hatten, durchaus hilfreich sei. Der ANZUS-Sicherheitspakt paßte für Attlee und die meisten seiner Kollegen zu ihrer Vorstellung über die Entwicklung des modernen Commonwealth, in dem die Mitgliedstaaten in ihren eigenen besonderen Interessensphären die Führungsrolle spielen sollten20. Die Labour-Regierung war auch mit dem japanischen Friedensvertrag zufrieden: Außenminister Herbert Morrison fand John Foster Dulles überaus kooperativ und war der Meinung, daß Dulles als Trumans Botschafter es Großbritannien gestattet hatte, einen erheblichen Teil zu dem Vertrag beizusteuern21. Bei der Planung für Verteidigungspolitik und globale Strategie mit den Amerikanern herrschte Einigkeit darüber, daß Asien und der Pazifik amerikanisches Einflußgebiet seien. Sogar Südostasien als traditionell britisches Interessengebiet war nach Ansicht der Stabschefs in den Jahren 1950 und 1951 »wichtig«, aber nicht »entscheidend«. Diese Einschätzung sorgte in Canberra für Unruhe. Sir William Slim, der Chef des britischen Generalstabs, versuchte die Australier mit Blick auf deren Beitrag zur Verteidigung im Nahen Osten dahingehend zu beruhigen, daß Großbritannien um Malaya kämpfen werde. Das war auch die britische Linie bei der Konferenz der Commonwealth-Verteidigungsminister im Juni 1951. Doch den Australiern war klar, daß es dabei einen entscheidenden Vorbehalt gab: Die Bereitstellung britischer Unterstützungstruppen würde vom Bedarf in anderen Operationsgebieten abhängig sein. Malaya war nicht »entscheidend« in dem Sinne, wie es der Mittlere Osten war22. Ein Problem für die Labour-Regierungen bestand darin, eine Verteidigungspolitik zu formulieren, die zu einer Außenpolitik paßte, die auf der Annahme beruhte, daß Großbritannien eine Weltmacht sei. Hiroshima und Nagasaki hatten keine unmittelbare Auswirkung auf die Planungen der Stabschefs. Das war vielleicht sogar realistisch gedacht. Bis Ende der vierziger Jahre gab es noch nicht viele Atombomben, und die vorhandenen waren teilweise nicht einsatzbereit. Anfang 1948 spielte die Bombe dann erstmals eine ernsthafte Rolle in der Verteidigungsplanung, und erst als die Sowjetunion eine Bombe gezündet hatte, stellte man in den Papieren zu Verteidigungsplanung und globaler Strategie Überlegungen zu deren voller Bedeutung an und beschäftigte sich sogar mit einer Zeit, wo der bemannte Bomber der Vergangenheit angehören würde. Ende der vierziger Jahre konzentrierte sich das britische Verteidigungsdenken auf die Verteidigung des Vereinigten Königreichs und desjenigen Gebiets, das als Basis, für Verbindungslinien und als Öllieferant von kardinaler Bedeutung war: des Nahen und Mittleren Ostens. Als das Kabinett beschloß, das Mandat über Palästina zum 14. Mai 1948 aufzugeben, waren die Stabschefs dagegen. Ihrer Mei20

21

22

PRO, CAB 129/45, fos 317-27, CP(51)64, Note by Attlee on Pacific defense and appendices, Secret, 27.2.1951; O'Neill, The Korean War and the Origins of ANZUS. PRO, CAB 129/46, fos 89-96, CP(51)166, Memorandum by Morrison on Japanese peace treaty, Secret, 19.6.1951; Hosoya, Japan. Ovendale, The English-Speaking Alliance, S. 172-178.

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nung nach mußte Großbritannien dort über militärische Präsenz verfügen als vorgeschobenen Stützpunkt für die riesige Basis am Suezkanal. Ein Aufgeben der Basis in Ägypten war nahezu undenkbar. Transjordanien war als Stützpunkt ungeeignet23. Der einzige britische Besitz in diesem Gebiet war Zypern. Aber dort zeichnete sich bereits die Enosis ab, die Vereinigung mit Griechenland. Um so wichtiger wurde Ägypten, wo jedoch die britischen Stationierungsrechte nach dem anglo-ägyptischen Vertrag 1956 auslauten würden. Irgendwie mußten die Ägypter dazu gebracht werden, britischen Truppen im Notfall die Rückkehr zu erlauben. Für den Fall einer Weigerung mußten ohnehin entsprechende Pläne entworfen werden. Man kam mit den Amerikanern überein, daß für den Nahen Osten das Commonwealth zuständig sein sollte24. Großbritannien bemühte sich um definitive Zusagen seitens Südafrikas, Neuseelands und Australiens. Kanada erklärte, die Amerikaner könnten in ihrem Interessengebiet mit seiner Zusammenarbeit rechnen, und zeigte sich ansonsten nicht interessiert. Allgemein war es schwer, über eine Planungsphase hinaus Zusagen seitens der Commonwealth-Länder zu bekommen. Die Labour-Regierung unter Attlee versuchte vor ihrem Ende noch, die Ägypter durch das Angebot einer gleichwertigen Beteiligung am Kommando Nahost zu involvieren. Aber die Ägypter wollten einzig und allein den Abzug der Briten und wiesen das Angebot zurück. Großbritannien weigerte sich zu dieser Zeit, seine Truppen abzuziehen25. Bevin und die Stabschefs der britischen Streitkräfte sahen eine enge Verbindung zwischen dem Nahen Osten und Afrika: Der Nahe Osten war im Kalten Krieg der Schutzschild Afrikas. Die Sowjetunion mußte aus diesem Gebiet mit seinen reichhaltigen strategischen und materiellen Ressourcen herausgehalten und daran gehindert werden, die wichtigen Verbindungslinien um und durch den Kontinent zu stören. 1951 lag das britische Wehrmaterial, das in die sogenannte »Kenya-road«-Basis verlegt worden war, nutzlos herum und verrottete. Aber Großbritannien pflegte ja schließlich enge Beziehungen zu Südafrika. Gespräche ergaben, daß die nationalistische Regierung bereit war, angesichts der kommunistischen Bedrohung an der Verteidigung Afrikas sowie des Nahen und Mittleren Ostens mitzuwirken. Derartiges war von der Regierung unter J.C. Smuts vorher nie zu hören gewesen. Daß 1948 die nationalistische Burenpartei mit ihrer krankhaften Angst vor dem Kommunismus an die Macht kam, ließ für Großbritannien die anglo-südafrikanische Beziehung auf der Grundlage gegenseitiger Abhängigkeit zur Realität werden. Diese Beziehung bildete die Basis des britischen Umgangs mit dem Kalten Krieg in Afrika26.

23 24

25 26

Ovendale, Britain, the United States, S. 181-216. FRUS 1950, III, S. 1686 f., Approved summary of conclusions and agreements reached at a meeting of the Chiefs of Staff of the United States and the United Kingdom, Top Secret, 23.10.1950. Ovendale, The English-Speaking Alliance, S. 118-142; Louis, The British Empire, S. 226-264. Ovendale, The English-Speaking Alliance, S. 245-270.

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III. Welche Vorstellungen Bevin ab 1945 auch von einer engeren westeuropäischen Zusammenarbeit gehabt haben mag 27 , er ließ die Amerikaner und das Commonwealth deutlich wissen, daß er Großbritannien nicht als Teil Europas sehen wollte. 1950 ließ er zornig verlauten, Großbritannien sei kein zweites Luxemburg, es nehme eine ganz besondere Stellung ein. Als die Frage der amerikanischen Hilfe für Europa aufkam, hegte Bevin sogar die Hoffnung, daß diese Hilfe von Briten und Amerikanern geleistet würde. Das war für die Amerikaner aber nicht akzeptabel. Trotz aller Versicherungen, daß das nicht die Politik der amerikanischen Regierung sei, ärgerte Bevin sich zutiefst über inoffiziellen amerikanischen Druck, daß Großbritannien Teil Europas werden solle, und erklärte das auch gegenüber George C. Marshall. Als es dann 1950 schien, als sei dies doch die Politik der amerikanischen Regierung, ging Bevin heftig dagegen an. Das britische Volk setze sein Vertrauen in ein Verteidigungsbündnis zwischen den »alten« Dominions, Großbritannien und den Vereinigten Staaten. Die westeuropäischen Länder seien nicht verläßlich. Auf jeden Fall mißfiel ihm der französische Ansatz zur europäischen Einheit: Schriftlich niedergelegte Verfassungen seien schlicht und einfach nichts für Briten. Das erklärte der Außenminister gegenüber den Commonwealth-Premierministern. Bei der Konferenz in Colombo im Jahre 1950 ließ Bevin verlauten, Großbritannien werde »Widerstand leisten gegen unüberlegte Pläne zur Eingliederung der britischen Wirtschaft in die Wirtschaft anderer europäischer Länder«. Großbritannien widersetzte sich dem französischen Ansatz im Schuman-Plan von 1950, einem Projekt, das eine supranationale Behörde für die Kohle- und Stahlindustrien vorsah und das Frankreich, Deutschland und jedem anderen beitrittswilligen Land offenstehen sollte. Zwischen Frankreich und Großbritannien tat sich eine tiefe Kluft auf. Unklar ist, ob die Europäer Großbritannien überhaupt dabeihaben wollten28. Den Stabschefs mißfiel der Gedanke, daß britische Bodentruppen wieder auf dem europäischen Kontinent kämpfen sollten. Mit der Unterstützung der westeuropäischen Demokratien durch Land- und Seestreitkräfte konnten sie sich abfinden. Aber die Erinnerung an Möns und Dünkirchen lauerte immer noch in ihren Köpfen. Als Montgomery 1948 das Thema eines Einsatzes britischer Landstreitkräfte in einem künftigen Krieg gegen die Sowjetunion an einer Linie in Deutschland zur Sprache brachte, traf er auf beträchtlichen Widerspruch. Im März 1950 kam der Verteidigungsausschuß schließlich überein, daß im Falle eines Krieges zwei britische Divisionen auf den europäischen Kontinent verlegt werden sollten. Ihre Verlegung würde drei Monate in Anspruch nehmen und nur dann erfolgen, wenn die Front hielt. Die Militärs neigten zu der Ansicht, daß die (Konti27 28

Siehe Warner, The Labour Governments. Ovendale, The English-Speaking Alliance, S. 284-285; Young, Britain, France, and the Unity of Europe; ders., Britain and European Unity, S. 28-35.

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nental-)Europäer beim nächsten Mal ihren eigenen Krieg ausfechten sollten. Die Westdeutschen würden wieder bewaffnet werden müssen. Am 4. September 1951 stimmte das Kabinett der Idee einer »Europäischen Armee« grundsätzlich zu29.

IV. In der zweiten Jahreshälfte 1950 konzentrierte sich die britische Verteidigungsplanung besonders angesichts der sich verschlechternden Lage in Malaya und Indochina vermehrt auf Südostasien. Es waren stärkere Kräfte erforderlich, um der kommunistischen Gefahr Einhalt zu gebieten. Es mußte mehr Geld für die Verteidigung ausgegeben werden. Am 25. Januar 1951 akzeptierte das Kabinett einen riesigen Anstieg der Verteidigungsausgaben: Im Laufe der Jahre 1951-1954 sollten 4,7 Mrd. Pfund ausgegeben werden30. Im Mai 1951 verstaatlichte der iranische Ministerpräsident Muhammed Mossadeq die Anglo-Iranian Oil Company und zwang Großbritannien damit, Öl gegen US-Dollar zu kaufen. Die Zahlungsbilanzkrise trug zur Ausschreibung von Neuwahlen bei, in deren Folge die Konservativen mit Winston Churchill an der Spitze wieder die Regierung bildeten. Der neue Schatzkanzler stellte beim Blick auf seine Konten fest, daß die britische Wirtschaft nicht nur das Aufrüstungsprogramm nicht verkraften konnte, sondern daß die Krise des britischen Pfunds auch die Art der außen- und verteidigungspolitischen Verpflichtungen und letztlich auch die Position des Landes als Großmacht in Frage stellte31. Churchill beauftragte seinen Verteidigungsminister, Field Marshal Lord Alexander, Sparmaßnahmen einzuleiten. Die Stabschefs revidierten die globale Strategie Großbritanniens mit einem Dokument vom 17. Juni 1952. Die Alliierten waren 1952 in der Lage, schon zu Beginn eines Krieges einen verheerenden Schlag gegen die Sowjetunion zu führen. Bei den Vorbereitungen auf einen Krieg mußten nach Ansicht der Stabschefs drei wichtige Entwicklungen berücksichtigt werden, nämlich die höhere Genauigkeit und größere Vernichtungskraft der Atombombe, die Verfügbarkeit kleiner Bomben für den taktischen Einsatz und die wirtschaftliche Lage. Die Stabschefs kamen zu dem Schluß, daß es wirtschaftlich unmöglich sei, die erforderlichen Reserven für einen längeren Krieg zu schaffen. Die Bemühungen müßten sich darauf konzentrieren, Kräfte und Gerät für einen intensiven kurzen Konflikt um alles oder nichts bereitzustellen. Nach Ansicht der Stabschefs ging es im Kalten Krieg in erster Linie darum, einen Weltkrieg zu verhindern. Im Kalten Krieg müsse Europa höchste Priorität genießen, dann erst komme der Ferne Osten, und danach rangiere der Nahe und Mittlere Osten. In einem heißen Krieg müsse Europa an erster Stelle bleiben, der Nahe Osten jedoch müsse wegen der Bedeutung der dortigen 29 30 31

British Defence Policy, S. 58-84. Ebd., S. 89 f. Zur Darstellung der britischen Position in der Weltwirtschaft zur damaligen Zeit siehe Reynolds, British Policy, S. 206-210.

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Verbindungslinien, wegen des Öls und wegen der »Notwendigkeit, die Ausbreitung des Kommunismus in Afrika zu verhindern,« Priorität vor dem Fernen Osten erhalten. In ihrem Papier zu Verteidigungspolitik und globaler Strategie von 1952 zeigten die Stabschefs auf, welche Vorbereitungen auf einen heißen Krieg sie für »vernünftig« hielten. Ihre Vorschläge wurden jedoch vom Schatzamt unter R. A. Butler untergraben, wo man befürchtete, das Aufrüstungsprogramm könne den Lebensstandard in Großbritannien senken. Unterstützung fand »RAB« bei Versorgungsminister Duncan Sandys, der das Flugzeugträger- und Kreuzerprogramm der Marine attackierte und für eine Verstärkung der strategischen Bomberflotte und der Luftverteidigung durch Jäger eintrat. Aber die Befürchtung, die V-Bomber der britischen Luftwaffe könnten gegenüber sowjetischen Boden-Luft-Raketen verwundbar sein, und die Tatsache, daß die NATO im Nordostatlantik drei Trägergruppen benötigte, bedeuteten die Rettung für die Marine. Sir Rhoderick McGrigor, der Stabschef der Marine, setzte auf Zerstörer und Fregatten mit Flugkörpern sowie auf Flugzeugträger mit Senkrechtstartern. Der erfolgreiche Test der amerikanischen Wasserstoffbombe im November 1952 leistete einen Beitrag zu einer neuerlichen Überprüfung der Verteidigungspolitik, in der die Aussagen der Denkschrift von 1952 zu Verteidigungspolitik und globaler Strategie weiter unterhöhlt wurden. Churchill bestand darauf, daß Großbritannien die Wasserstoffbombe benötige, wenn es Großmacht bleiben wolle. Butler hoffte, daß eine solche thermonukleare Waffe die Ausgaben für die konventionellen Streitkräfte senken helfe. Die Stabschefs kamen zu dem Schluß, daß mit dem Vorhandensein von thermonuklearen Waffen unter der Voraussetzung, daß die Vereinigten Staaten weiterhin die Führungsrolle spielten, ein weiterer Krieg unwahrscheinlich sei, daß der Kalte Krieg aber fortdauern werde. Atomwaffen sollten das wesentliche britische Abschreckungsmittel bilden. Dieser Schritt hin zu einer Globalstrategie auf der Grundlage atomarer Abschreckung neben der Stationierung konventioneller Streitkräfte in Europa und der Reduzierung britischer Truppen im Nahen Osten fand seinen Niederschlag im »Statement on Defence« vom Februar 195532.

V. Churchills Außenpolitik entsprach der neuen Verteidigungspolitik. Die Entwicklung der Wasserstoffbombe sowie die Revision der britischen Verteidigungspolitik und Globalstrategie bedeuteten, daß der Nahe Osten für die Sicherheit Großbritanniens nicht mehr an erster Stelle stand. Mit der Aushandlung des Abzugs vom Suezkanal hoffte man 1954, Kräfte für Kolonialkriege in Kenia, Malaya 32

British Defense Policy, S. 97-109; PRO, CAB 131/12, Annex 1, D(52)26, Report by the Chiefs of Staff for the Defence Committee of the Cabinet on Defence Policy and Global Strategy, Top Secret, 17.6.1952; Jackson/Bramall, The Chiefs, S. 281-293.

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und Zypern abziehen zu können. Churchill selbst wollte, daß sich die Amerikaner im Nahen Osten engagierten — in einem Gebiet, für das nach Absprache zwischen Washington und London die Briten verantwortlich waren. Die Integration Großbritanniens in Westeuropa erschien ihm sogar noch weniger wünschenswert als der vorhergehenden Labour-Regierung. Aber der Kalte Krieg bedeutete aus britischer Sicht, daß die NATO gestärkt werden mußte, und dann war da ja noch die Frage der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik Deutschland. Das Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG), auf die die republikanische US-Regierung ihre Europapolitik gegründet hatte, zwang schließlich Außenminister Anthony Eden im September 1954 zu der Ankündigung, daß britische Truppen auf den europäischen Kontinent entsandt würden: Großbritannien werde auf unbestimmte Zeit vier Divisionen und die taktische Luftwaffe auf dem Kontinent stationieren. Eden machte diese Ankündigung, um amerikanischen Drohungen mit einem Abzug aus Europa zu begegnen und um französische Befürchtungen hinsichtlich der deutschen Wiederbewaffnung zu zerstreuen 33 . Im Fernen Osten und in Südostasien taten sich zunehmend Unterschiede auf zwischen der britischen und der amerikanischen Politik. Besonders deutlich wurde dies im Verhältnis der beiden Länder zum kommunistischen China und zur Genfer Indochina-Konferenz 1954. Die anglo-amerikanischen Differenzen wurden jedoch vorübergehend ausgeräumt mit der Unterzeichnung des Vertrags von Manila am 8. September 1954. Mit diesem Vertrag wurde die SüdostasienpaktOrganisation (SEATO) ins Leben gerufen. Churchill hoffte, der Premierminister des Friedens zu werden, wie er der Premierminister des Krieges gewesen war, und leitete Annäherungsversuche an Moskau ein. Persönlich war er besorgt, die Amerikaner könnten eine Machtprobe mit der Sowjetunion erzwingen, solange sie noch atomar überlegen waren. Während des Großteils von Churchills Amtszeit war der Eckpfeiler der britischen Außenpolitik, die besondere anglo-amerikanische Beziehung, nicht existent. Als Eisenhower Präsident wurde, degradierte er Großbritannien vom besonderen Partner zu einem Verbündeten wie andere auch. Im Januar 1953 ließ er diese Revision der besonderen Beziehung erkennen, indem er Churchill bei dessen Besuch in den Vereinigten Staaten erklärte, Großbritannien und die Vereinigten Staaten müßten zwar im Nahen Osten zusammenarbeiten, es dürfe aber keine »Absprachen« geben34. Churchill war über diese Degradierung Großbritanniens zu einem ganz normalen Verbündeten außerordentlich verstimmt. Im April 1953 beklagte er sich gegenüber Eden, es mißfalle ihm, daß Großbritannien von den Vereinigten Staaten behandelt werde, als sei das Land eines aus einer großen Masse Gleichgestellter35. Als Premierminister spielte Churchill die dominierende Rolle in der Außenpolitik. Eden war oft krank, und Churchill übernahm dann offiziell die Zustän33 34 35

PRO, CAB 128/27 Pt 2, CC62(54)1, Secret, 1.10.1954. PRO, PREM 11/392, Churchill an Eden, 6.1.1953. PREM 11/486, Churchill an Eden, 4.4.1953; siehe Boyle, The »Special Relationship«; H o p kins, The Washington Embassy.

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digkeit. Und wenn Eden nicht krank war, kam es zu Auseinandersetzungen zwischen den beiden. Daraus ging Churchill nicht immer als Sieger hervor, wie beispielsweise im Falle Ägypten. Trotzdem dominierte er mit seiner Persönlichkeit und seinen möglicherweise überholten, auf das britische Empire konzentrierten Ansichten während des Großteils seiner letzten Amtszeit die Gestaltung der britischen Außenpolitik. Chamberlain Ende der dreißiger und Bevin Ende der vierziger Jahre hatten Außenpolitik auf der Grundlage der englischsprechenden Allianz betrieben, einem Verbund der alten »weißen« Dominions mit den Vereinigten Staaten36. Churchill sah, wie er im November 1951 vor dem Kabinett erklärte, das erste Ziel der britischen Politik in der Einheit und Konsolidierung des britischen Commonwealth und dessen, was vom ehemaligen britischen Empire noch übrig war. Das zweite Ziel war die »brüderliche Verbundenheit« der englischsprachigen Welt. An dritter Stelle kam ein vereintes Europa mit Großbritannien als »eigenständigem Verbündeten und Freund in einer engen und besonderen Beziehung«37.

VI. Sofort nach seiner Ernennung zum Premierminister erklärte Churchill, es sei »von größter Bedeutung, die Amerikaner zu einem Engagement im Nahen und Mittleren Osten« zu bewegen38. Freilich war sich Churchill »nicht klar darüber, wie und wann sich die russische Bedrohung gegen den Nahen und Mittleren Osten manifestieren werde«39. Er betrachtete den Raum nicht mehr als bevorzugtes britisches Einflußgebiet. Dementsprechend wollte er die Rolle, die das Land dort spielte, reduzieren und hätte es am liebsten gesehen, wenn sich die Amerikaner engagierten. Als das Kabinett im Januar 1954 über den Vorschlag der US-Regierung beriet, das Angebot amerikanischer Militärhilfe für Pakistan mit der Einleitung einer militärischen Zusammenarbeit zwischen Pakistan und der Türkei zu verknüpfen und diese schließlich zu einem System der kollektiven Verteidigung im Mittleren Osten zu entwickeln, votierte Churchill für einen militärischen Verbund zwischen der Türkei und Pakistan, da dies Großbritannien zum Vorteil gereiche40. Für Churchill waren die Vereinigten Staaten auch ein zentraler Faktor für die Lage im Iran, wo Ministerpräsident Muhammed Mossadeq die britische Vormachtstellung im Mittleren Osten in Frage gestellt hatte, als er am 2. Mai 1951 die iranische Ölindustrie einschließlich der Anglo-Iranian Oil Company verstaatlichte. Unmittelbar vor der Amtsübergabe an Churchill hatte Attlee seinen Kabinettskollegen noch erklärt, daß Großbritannien sich in einer Frage wie dieser keinen Bruch mit den Vereinigten Staaten erlauben könne. Am Ende waren die Verei36 37 38 39 40

Ovendale, »Appeasement«; ders., The English-Speaking Alliance. Reynolds, Britannia Overruled, S. 195. PRO, PREM 11/208, fol. 6, M16(C)51, Churchill an Lord Cherwell, 10.11.1951. PRO, PREM 11/49, fos 180-3, M 1 9 0 / 5 2 , Churchill an Alexander, Top Secret, 3.4.1952. PRO, CAB 1 2 8 / 2 7 Pt 1, fos 31-2, CC1(54)2, Secret, 7.1.1954.

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nigten Staaten davon überzeugt, daß Mossadeq im Iran nicht die einzige Alternative zum Kommunismus darstellte. Der britische Auslandsgeheimdienst MI6 und die CIA leiteten den Sturz Mossadeqs ein und brachten den Schah wieder an die Macht. Der amerikanische Botschafter Loy Henderson sorgte gemeinsam mit seinem britischen Gegenüber Sir Roger Stevens für eine zufriedenstellende Abmachung über die Ölpreise. Diese Abmachung bedeutete aber, daß der Anteil britischen Kapitals in der Ölindustrie im Mittleren Osten von 49 auf 14 Prozent und der britische Anteil an der Ölproduktion von 53 auf 24 Prozent fielen. Der amerikanische Anteil stieg von 44 auf 58 Prozent, und amerikanische Firmen kontrollierten 42 Prozent des Kapitals. In den Augen der Araber schwand die Macht der Briten dahin. Am 25. August 1953 äußerte Churchill im Kabinett seine Befürchtung, die Amerikaner wollten dort die vollständige Kontrolle übernehmen. Er unterstützte die Auffassung Lord Salisburys, des Sprechers des Oberhauses, Großbritannien müsse entweder der neuen iranischen Regierung zusammen mit den Vereinigten Staaten finanzielle Hilfe leisten, um zu einer Lösung im Ölstreit zu kommen, oder »alle Hoffnungen auf eine Wiederherstellung des britischen Einflusses in Persien aufgeben«. Churchill hoffte, die Unterstützung der neuen iranischen Regierung werde auf anglo-amerikanischer Basis erfolgen41. Saudi-Arabien hatte ein Auge auf die unter dem Schutz Großbritanniens stehenden Scheichtümer am Golf geworfen, und im August 1952 besetzte ein saudisches Expeditionskorps die Oase Buraimi. Der Annexionsversuch war von dem CIA-Agenten Kim Roosevelt eingefädelt worden: Die Saudis hatten die Amerikaner mit dem Angebot von Ölbohrkonzessionen geködert. Aber die OmaniScouts unter britischer Führung vertrieben die Saudis wieder aus der Oase. Roosevelt versuchte anschließend, Abu Dhabi durch Bestechung einflußreicher Leute dahin zu bringen, die Oase an König Saud abzutreten, um den Weg für das amerikanische Unternehmen Aramco freizumachen und die unter britischer Kontrolle stehende Iraq Petroleum Company auszuschalten. Aber Großbritannien war informiert und brachte die Sache vor einen internationalen Gerichtshof, bei dessen Mitgliedern die CIA Bestechungsversuche unternahm42. Churchill ließ sich in seiner Nahostpolitik weiterhin leiten von seinem übermächtigen Wunsch, Israel zu helfen, das er als »das großartige Experiment, eines der hoffnungsvollsten und ermutigendsten Unternehmen des 20. Jahrhunderts« ansah. Auch die Stabschefs wollten sich der israelischen Kooperation im Nahen Osten versichern. Im Oktober 1952 reiste eine britische Militärmission nach Tel Aviv und führte Sondierungsgespräche mit den Israelis. Churchill beklagte sich, daß »der verstorbene Bevin mit seiner antisemitisch angehauchten Einstellung das Außenministerium auf der falschen Seite ins Rennen geschickt hat, als Israel von all den arabischen Staaten angegriffen wurde«. Churchill war der festen Über41

42

Ovendale, The Origins, S. 153 f.; Louis, Musaddiq; PRO, CAB 128/26 Pt 2, fol. 388, CC50(53)4, Secret, 25.8.1953. Ovendale, The Origins, S. 154.

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zeugung, daß Israel die größte Kampfkraft im Nahen Osten besaß und »im Umgang mit Ägypten sehr gelegen kommen könnte, wenn [der ägyptische Premierminister Muhammad] Nagib uns angreift« 43 . Doch trotz der Einwände des Premierministers beharrte das Kabinett im Juli 1954 darauf, Jordanien erneut zu versichern, Großbritannien werde im Falle eines israelischen Angriffs seinen Verpflichtungen aus dem anglo-jordanischen Vertrag nachkommen 44 . Erst die anglo-ägyptische Vereinbarung vom Dezember 1954 markierte das nachlassende britische Interesse und einen signifikanten Niedergang der britischen Macht im Nahen Osten. Nach dieser Vereinbarung mußten die britischen Truppen binnen zwanzig Monaten abgezogen werden. Die Basis am Suezkanal sollte von 1200 Mann Zivilpersonal instand gehalten werden. Das britische Empire verlor damit ein Gebiet von der Größe Wales': der größte Rückschlag für das Empire seit der Abtrennung des indischen Subkontinents. Die britischen Truppen verlegten nach Zypern und hatten dort mit dem wachsenden Terrorismus zu kämpfen. Im Gegensatz zu Eden, dem Außenministerium und den Streitkräften wollte Churchill Ägypten nicht aufgeben, sondern wünschte, daß sich die Amerikaner engagierten. Das Kabinett diskutierte die Vorgehensweise am 22. Juni 1954. Dabei wurde insbesondere darauf verwiesen, daß die strategischen Bedürfnisse Großbritanniens sich durch die Entwicklung thermonuklearer Waffen drastisch geändert hätten. Eine so große Ansammlung von Vorräten, Gerät und Personal wie bisher in den engen Grenzen der Kanalzone sei nicht mehr zeitgemäß. Am Ende akzeptierte Churchill die militärischen Argumente für einen Abzug der britischen Truppen aus Ägypten. Er strebte jetzt eine Abmachung zwischen Großbritannien und den Vereinigten Staaten auf der einen und Ägypten auf der anderen Seite an, erkannte aber auch, daß die Vereinigten Staaten sich nur beteiligen würden, wenn sie von den Ägyptern dazu aufgefordert würden. Am 7. Juli 1954 gestand Churchill ein, er akzeptiere, daß sich der Abzug der britischen Truppen aus Ägypten aus rein militärischen Gründen rechtfertigen lasse. Die britischen Bedürfnisse in der Kanalzone hätten sich mit der Aufnahme der Türkei in die NATO und der Ausweitung einer Verteidigungslinie im Mittleren Osten bis nach Pakistan drastisch geändert. Die thermonuklearen Waffen hätten einen Stützpunkt mit einer solchen Truppenkonzentration verwundbarer gemacht, und schließlich sei es auch nicht vertretbar, in Ägypten weiterhin 80 000 Mann zu halten, die anderswo dringender gebraucht würden 45 . Es war Churchills Regierung der Friedenszeit, unter der die drastische Änderung der britischen Außen- und Verteidigungspolitik stattfand, die Abkehr vom Nahen Osten als einem der drei Hauptpfeiler der britischen Strategie hin zu dem 43

44 45

PRO, PREM 11/465, fol. 18, PM/MS/53/48; fol. 16, M94/53, Churchill an Selwyn Lloyd und Sir William Strang zum Entwurf eines Aide-memoire an Israel: Churchill hatte nicht verstanden, daß Bevin nicht antisemitisch, sondern antizionistisch eingestellt war. Siehe Ovendale, Britain, the United States, S. 133. Ovendale, Churchill and the Middle East. PRO, CAB 127/27 Pt 1, fos 320-2, CC43(54)1, Secret, 22.6.1954; fos 350-1, CC47(54)2, Secret, 7.7.1954; Ovendale, Egypt; Owen, Britain and the Revision.

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Schluß, dieses Gebiet sei angesichts der Atomwaffen und in einer Zeit, in der finanzielle Zwänge die globale Rolle Großbritanniens einschränkten, von nur noch begrenzter Bedeutung. Churchill war ohnehin der Meinung, die Amerikaner sollten sich iri diesem Gebiet engagieren, für das nach der 1947 getroffenen Vereinbarung zwischen den beiden Ländern Großbritannien die Verantwortung übernommen hatte. In dieser Hinsicht unterschied sich Churchills Nahostpolitik radikal von derjenigen der ersten Labour-Regierung unter Attlee, die den Nahen Osten als britisches Revier betrachtet hatte, aus dem die Amerikaner herausgehalten werden müßten. Der amerikanische Außenminister John Foster Dulles kam 1953 bei einem Besuch im Nahen Osten zu dem Schluß, daß Großbritannien seiner Verantwortung für die Verteidigung des Nahen Ostens im Auftrag des Westens nicht mehr nachkommen könne. Im Juli 1953 sprach sich der Nationale Sicherheitsrat dafür aus, daß »die Vereinigten Staaten im Nahen Osten größere Unabhängigkeit und größere Verantwortung gegenüber Großbritannien zeigen« sollten46. Churchills letzte Regierung begrüßte die Anfänge des Machtübergangs im Nahen Osten von Großbritannien auf die Vereinigten Staaten.

VII. Zwischen 1951 und 1955 divergierte die britische Südostasien- und Fernostpolitik zunehmend von der amerikanischen. Nach der Degradierung Großbritanniens zu einem von mehreren Verbündeten, wie sie bei der Bermuda-Konferenz im Dezember 1953 noch einmal bestätigt wurde, reagierte London abweisend, als Eisenhower Churchill am 4. April 1954 brieflich drängte, den Franzosen in Indochina im Rahmen einer gemeinsamen militärischen Operation zweier besonderer Verbündeter beizustehen. Bei der Genfer Konferenz 1954 setzte Eden eine Regelung durch, die den Abzug Frankreichs und die Bildung von drei Pufferstaaten gegen das kommunistische China ermöglichte. Der Außenminister handelte häufig unabhängig von Washington, so daß die anglo-amerikanischen Beziehungen in dieser Zeit recht gespannt waren. Insgesamt war Großbritannien besorgt angesichts einer amerikanischen Politik, der es seiner Ansicht nach an Verständnis für die Region mangelte und die zum Krieg führen konnte, insbesondere mit dem kommunistischen China47. Auch in seiner Politik gegenüber Peking wich Großbritannien zunehmend von den Vereinigten Staaten ab. 1949 hatten die Briten unter dem Einfluß des sowjetischen Spions Guy Burgess die Chinesen als orthodoxe Marxisten-Leninisten betrachtet. Aber da Großbritannien die größeren wirtschaftlichen Interessen in China hatte und einen Fuß in der Tür behalten wollte, als die Kommunisten die 46

47

FRUS, 1952-1954, Bd IX, S. 394-398, Memorandum of Meeting of National Security Council, 9.7.1953. Bator, Vietnam, S. 17-125; Warner, The Settlement, S. 233-259.

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Macht auf dem Festland übernahmen, änderte es den Schwerpunkt seiner Politik und erkannte infolge eines Fehlers Rotchina im Oktober 1949 erstmals an; die dejure-Anerkennung folgte dann am 6. Januar 1950. London erwartete, daß Washington sich diesem Schritt anschließen werde. Ende der vierziger Jahre sah man in Washington den Kommunismus nicht als monolithisch an. Aber Übergriffe auf amerikanischen Besitz in Peking im Januar 1950 führten dazu, daß innenpolitischer Druck die amerikanische Politik gegenüber Rotchina bestimmte. Während des Koreakrieges bestanden beträchtliche Meinungsunterschiede zwischen Washington und London: Washington nahm Abstand von seiner Keilstrategie, die auf der Vorstellung beruhte, man könne Peking und Moskau auseinanderdividieren, und argumentierte ab August 1950, daß Peking sich in der allgemeinen Außenpolitik an Moskau halten werde, während London davon ausging, daß die Chinesen Fremdenhasser seien und der Moskauer Linie daher nicht folgen würden. Die Briten maßen Taiwan nicht die gleiche Bedeutung zu wie die Amerikaner. Sie waren geneigt, den chinesischen Nationalistenführer Tschiang Kai-schek als »Trampel« abzutun, und verkannten seine Fähigkeit, die amerikanische Regierung durch geschickte Manipulation der amerikanischen Innenpolitik in seinen Kampf gegen den Kommunismus zu verwickeln. London stand der Verteidigung der dem chinesischen Festland vorgelagerten Inseln Quemoy und Matsu durch die Vereinigten Staaten in der Krise von 1954/55 ablehnend gegenüber. Großbritannien betrieb eine Politik des Mao-tse-Titoismus, d.h., man versuchte, Peking und Moskau zu trennen; Washington dagegen sah in den fünfziger Jahren den Kommunismus als monolithisch an48.

VIII. Daß Washington sich weiter für die Verteidigung Europas engagierte, war ein ganz wesentliches Anliegen der Regierung Churchill. Ein zentraler Aspekt dabei waren die deutsche Wiederbewaffnung und die vorgesehene EVG. Der Vorschlag zur Aufstellung westdeutscher Streitkräfte kam im Dezember 1950 von den Vereinigten Staaten. Die NATO war in dieser Frage geteilter Meinung: Großbritannien war grundsätzlich einverstanden, Frankreich wollte vorher genau wissen, was geschehen würde. Am 24. Oktober 1950 sprach sich der französische Ministerpräsident Rene Pleven dafür aus, westdeutsche Streitkräfte als Teil einer supranationalen europäischen Armee unter einem einzigen europäischen Verteidigungsminister aufzustellen. Bevin bevorzugte atlantische Streitkräfte, um die Bildung eines kontinentalen Blocks unter französischer Führung zu verhindern, und verurteilte jeden Gedanken an eine »dritte Kraft«. Aber auf Rat des Ständigen Staatssekretärsausschusses gab Herbert Morrison zusammen mit dem amerikanischen 48

Ovendale, The English-Speaking Alliance, S. 183-241; Qiang Zhai, The Dragon; Dockrill, Britain and the first offshore islands crisis.

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Außenminister Dean Acheson und dem französischen Außenminister Robert Schuman im September 1951 eine Erklärung ab, die auf die Einbeziehung eines demokratischen Deutschlands in eine kontinentale europäische Gemeinschaft abzielte, die Teil einer sich ständig weiterentwickelnden atlantischen Gemeinschaft sein würde. Aber die Regierung Churchill konnte sich nicht für einen Beitritt zu supranationalen Organisationen in Europa erwärmen. Sie war »guten Willens« und wollte mit der Arbeit der supranationalen Organe assoziiert werden, aber kein Mitglied sein. Verteidigungspolitische Erwägungen, die Verbindungen zum Commonwealth und die Führungsrolle im Sterlinggebiet verböten es Großbritannien, sich irgendwelchen supranationalen europäischen Stellen »unterzuordnen«. Die Franzosen waren es dann, die die Idee einer EVG zunichte machten. Einige französische Politiker standen der deutschen Wiederbewaffnung ablehnend gegenüber. Starke Streitkräfte erschienen ihnen angesichts der offensichtlichen Entspannung nach dem Tode Stalins im März 1953 und dem Ende des Koreakrieges im Juli 1953 unnötig. Der Einsatz französischer Truppen in Indochina weckte Befürchtungen, daß deutsche Streitkräfte die EVG dominieren würden. Eden versuchte diese Befürchtungen zu zerstreuen, indem er einen Vertrag über eine Assoziierung Großbritanniens mit der EVG aushandelte, der darauf hinauslief, daß Großbritannien eine Division beisteuern würde und daß institutionelle Bindeglieder geschaffen werden sollten. Aber im August 1954 lehnte die französische Nationalversammlung die EVG ab. Bei der Konferenz im September 1954 in London schlug Eden die Ausweitung des Brüsseler Vertrages von 1948 zwischen Großbritannien, Frankreich und den Benelux-Ländern auf die Bundesrepublik Deutschland und Italien vor. Daraus ging dann 1955 die Westeuropäische Union hervor. Es wurde vereinbart, daß die deutsche Wiederbewaffnung im Rahmen der NATO erfolgen und daß die Bundesrepublik Deutschland der NATO als souveräner Staat beitreten solle49. Churchill selbst plädierte nach Stalins Tod für ein Gipfeltreffen mit der neuen sowjetischen Führung. Er ging sogar so weit, Eisenhower vorzuschlagen, daß er, Churchill, die ersten Kontakte herstellen solle. Eisenhower lehnte ab. Weitere Initiativen verzögerten sich, weil Churchill einen Schlaganfall erlitt und eine Bekanntgabe bis nach dem französischen Votum zur EVG warten mußte. Im Juni 1954 stimmte Eisenhower einem britisch-sowjetischen Treffen zu. Churchill schickte eine persönliche Botschaft an den sowjetischen Außenminister Vjaceslav Molotov. Einige Kabinettsmitglieder drohten mit dem Rücktritt. Die Rettung kam in Form eines sowjetischen Vorschlags, auf einer Außenministerkonferenz über Sicherheit und Europa und die Zukunft Deutschlands zu sprechen. Diskussionen über die deutsche Wiederbewaffnung sorgten für eine Verzögerung bis Mai 1955; da aber war Churchill nicht mehr Premierminister50. 49

50

Young, Britain and European Unity, S. 35-43; Dockrill, Britain's Policy; Wiggershaus, The Decision; Shepherd, Britain, Germany and the Cold War, S. 11-234. Young, Cold War and Detente; Gilbert, Winston S. Churchill, S. 827-845.

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Um die Wahlchancen für Premierminister Eden zu verbessern, arrangierte Eisenhower für Juli 1955 in Genf ein Gipfeltreffen der Großmächte51. Im Monat zuvor waren bei einer Konferenz der sechs Mitglieder der Montanunion in Messina auf Sizilien das Thema eines umfassenden gemeinsamen Marktes aufgeworfen und ein Ausschuß unter der Leitung des Belgiers Paul-Henri Spaak eingesetzt worden, der sich mit dieser Frage befassen sollte. Die sechs Mitglieder der Montanunion wollten ein supranationales Organ schaffen. Die gerade wiedergewählte britische Regierung versuchte dagegen vergeblich, statt dessen die Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC) aufzuwerten, die ursprünglich gegründet worden war, um die Hilfsmaßnahmen im Rahmen des Marshallplans zu koordinieren. Die Minister der Montanunion-Länder beschlossen im Mai 1956 in Venedig, zwei Verträge aufzusetzen, nämlich einen über eine Atomenergiebehörde (Euratom) und einen weiteren über die europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Die Franzosen, befremdet über die britische Haltung während der Suezkrise im Spätherbst 1956, trieben danach die Gespräche voran. Am 25. Mai 1957 wurden die Römischen Verträge über die Euratom und die EWG unterzeichnet. Zu dieser Zeit hatte sich Großbritannien für eine besondere anglo-amerikanische Beziehung der Art entschieden, wie sie bestanden hatte, bevor Eisenhower Präsident geworden war. Anträge von Außenminister Selwyn Lloyd, engere Beziehungen zu Frankreich und Europa aufzunehmen, wurden vom Kabinett zurückgewiesen52.

IX. Zu Beginn der Amtszeit Edens erreichte Großbritannien im Nahen Osten ein besseres Arbeitsverhältnis zu den Vereinigten Staaten. Das zeigte sich in anfänglich als geheim eingestuften Plänen mit dem Codenamen »Operation Alpha«, die gemeinsam erarbeitet wurden mit dem Ziel einer Beilegung des arabisch-israelischen Konflikts, der — so schien es zu Anfang — auf Kosten Israels gehen würde53. Im April 1955 trat Großbritannien dem im Februar 1955 unterzeichneten türkisch-irakischen Vertrag bei, um ein Mittel in die Hand zu bekommen, den anglo-iranischen Vertrag mit zufriedenstellendem Ergebnis neu zu verhandeln. Dieser Dreierpakt wurde als Bagdadpakt bekannt; Pakistan und der Iran traten ebenfalls bei. Washington verzichtete unter dem Einfluß israelischer Forderungen und arabischer nationalistischer Reaktionen. London hoffte, daß Washington dem Bagdadpakt beitreten werde, wenn es zwischen den arabischen Staaten und Israel zu einer Regelung gemäß »Alpha« käme54.

51 52 53 54

Reynolds, Britannia Overruled, S. 185. Young, Britain and European Unity, S. 43-52. PRO, CAB 128/29, fos. 136-7, CM15(55)6, Secret, 16.6.1955; Shamit, The Collapse. PRO, CAB 128/29, fol. 210, CM23(55)9, Secret, 14.7.1955; Reid, The »Northern Tier«; Louis/Robinson, The Imperialism of Decolonization, S. 478.

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Als das Rüstungsgeschäft zwischen der Tschechoslowakei und Gamal Abd elNasser bekanntwurde, erblickte London darin die Eröffnung einer dritten Front des Kalten Krieges im Nahen Osten durch Moskau. Eden war der Ansicht, er habe Nasser die Hand der Freundschaft entgegengestreckt, verdächtigte ihn aber jetzt antiwestlicher Neigungen. Am 4. Oktober 1955 erklärte er vor dem Kabinett: »Unsere Interessen im Nahen Osten waren wegen unserer Abhängigkeit vom Öl größer als die der Vereinigten Staaten, und wir besaßen mehr Erfahrung mit dieser Region. Wir dürfen uns nicht zu sehr davon leiten lassen, nichts ohne die volle Zustimmung und Unterstützung der Amerikaner zu tun. Wir müssen unsere Politik an unseren Interessen in dem Gebiet ausrichten und die Amerikaner dahin bringen, daß sie sie weitestgehend unterstützen. Unsere Politik muß auf der Notwendigkeit gründen, unseren erklärten Freunden und Verbündeten wie dem Irak und den Scheichtümern am Golf zu helfen, von denen unsere Versorgung mit Öl abhängig ist55.« Während sich die Beziehungen zwischen London und Kairo verschlechterten, führte Eden im Februar 1956 Gespräche in Washington und Ottawa. In der Europapolitik war Washington von der wirtschaftlichen Integration und der Idee einer Atomenergiebehörde genauso angetan wie seinerzeit von der EVG. Im Fernen Osten konnten die unterschiedlichen Ansichten der beiden Regierungen insbesondere beim Thema Tschiang Kai-schek »nicht völlig zur Deckung gebracht« werden, doch Eden sah Anzeichen dafür, daß Eisenhower die strategischen Kontrollen im Handel mit Rotchina eventuell lockern werde. Im Mittleren Osten würden die Vereinigten Staaten jedoch dem Bagdadpakt ihre volle moralische Unterstützung zukommen lassen. Auch Washington wolle ein Wettrüsten in der Region verhindern und sei trotz des Wahljahres bereit, eine feste Haltung gegenüber Israel einzunehmen. Eisenhower habe sich außerdem erneut verpflichtet, die amerikanische Unterstützung im atomaren Bereich zu verstärken, ein Angebot, das Großbritannien Zeit und Geld sparen ließe56. Nach der Absetzung des Vorsitzenden der Arabischen Legion in Jordanien, Sir John Glubb, durch König Hussein im Jahre 1956 wies Eden das Kabinett warnend darauf hin, daß die britische Nahostpolitik auf der Notwendigkeit gründen müsse, die britischen Ölinteressen im Irak und am Persischen Golf zu schützen. Die Bedrohung dieser Interessen gehe hauptsächlich vom wachsenden Einfluß Ägyptens aus. Großbritannien habe dem durch die Stärkung des Bagdadpaktes entgegenzuwirken versucht: »Zweifellos wäre ein Beitritt der Vereinigten Staaten zu diesem Pakt einer der größten Einzelbeiträge zur Überwindung unserer augenblicklichen Schwierigkeiten im Nahen Osten 57 .« Außenminister Selwyn Lloyd erklärte am 15. März vor dem Kabinett, seine Gespräche mit dem ägyptischen Präsidenten hätten ihn davon überzeugt, daß Nasser die Führung in der arabischen Welt anstrebe und bereit sei, die Hilfe der Sowjetunion anzunehmen. 55 56 57

Ovendale, Egypt, S. 152 f.; PRO, CAB 128/29, fos. 364-5, CM34(55)8, Secret, 4.10.1955. PRO, CAB 128/30, fols 112-13, CM10(56)1, Secret, 9.2.1956. PRO, CAB 128/30, fol. 178, CM19(56)1, Secret, 6.3.1956.

Britische Außen- und Bündnispolitik 1949-1956

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Großbritanniens wichtigste Aufgabe sei es, eine anglo-amerikanische Übereinstimmung zu einer allgemeinen Neuausrichtung der Politik gegenüber Ägypten herbeizuführen58. Die britische Regierung war weiterhin der Meinung, in einer Zeit, in der Großbritannien den Wert seiner strategischen Verbindungen mit Libyen überdachte, könne von den Vereinigten Staaten, die ihren wichtigsten Stützpunkt von Marokko nach Libyen verlegt hatten, erwartet werden, einen größeren Anteil an den Kosten für die Unterstützung dieses Landes zu tragen59. Das alles geschah zu einer Zeit, als London ohnehin seine gesamte Außen- und Verteidigungspolitik im Lichte der wirtschaftlichen Zwänge und der veränderten globalen Situation neu überprüfte und bewertete60. Die Ursprünge der Suezkrise von 1956 liegen teilweise in damals im Westen verbreiteten falschen Annahmen über Chamberlains Beschwichtigungspolitik und in der vielleicht sogar gefährlichen Vorstellung, daß Geschichte sich wiederholen, daß historische Analogie die Politik bestimmen könne. Eden betrachtete, wie er in seinen Memoiren schrieb, die Ereignisse der fünfziger Jahre durch die Brille der dreißiger. Nasser bedrohte durch die Verstaatlichung des Suezkanals nicht nur die vom Öl aus dem Nahen Osten abhängige britische Wirtschaft61, sondern galt dem britischen Premierminister auch als zweiter Mussolini. Dieses Mal, so meinte Eden, dürfe der »Diktator« nicht beschwichtigt, sondern müsse aufgehalten werden, bevor er weitere Maßnahmen ergriff. Darauf arbeitete Großbritannien letztlich zusammen mit Frankreich und Israel hin. Vorschläge zu einer Art organischer Assoziierung mit Frankreich wurden abgelehnt; Großbritannien bevorzugte eine breitere Assoziierung zwischen allen Ländern Westeuropas62. Am 25. Oktober erklärte Eden vor dem Kabinett, wenn Großbritannien sich einer militärischen Operation Frankreichs gegen Ägypten nicht anschließe, werde Frankreich »allein oder in Verbindung mit Israel militärisch eingreifen. [...] Wir müssen uns der Gefahr bewußt sein, daß wir geheimer Absprachen mit Israel beschuldigt werden.« Selwyn Lloyd unterstützte Eden: »Wenn nicht prompt gehandelt wird, um den Ambitionen Nassers einen Riegel vorzuschieben, untergraben wir unsere Position im gesamten Nahen Osten.« Das Kabinett war sich nicht sicher, ob die geplante britische Aktion »die US-Regierung verärgern und den anglo-amerikanischen Beziehungen anhaltenden Schaden zufügen« würde. Man glaubte, es bestehe keinerlei Aussicht auf Unterstützung oder Billigung seitens Washingtons63. Eisenhower war zutiefst verärgert, daß Eden die Operation nicht bis nach den Wahlen aufgeschoben hatte, nachdem er ihm durch das Arrangieren der Genfer 58 59 60 61 62 63

PRO, CAB 1 2 9 / 3 0 , fos 225-7, CM23(56)5, Confidential Annex, 15.3.1956. PRO, CAB 1 2 8 / 3 0 Pt 2, fol. 405, CM46(56)9, Secret, 28.6.1956. Siehe British Defence Policy, S. 110 ff. PRO, CAB 1 2 8 / 3 0 Pt 2, fos 525-8, CM62(56)2, Confidential Annex, 18.8.1956. PRO, CAB 1 2 8 / 3 0 Pt 2, fol. 563, CM67(56)6, Secret, 26.9.1956. PRO, CAB 1 2 8 / 3 0 Pt 2, fos 625-6, CM74(56)1, Confidential Annex, 25.10.1956; allgemein siehe Ovendale, The Origins, S. 168-187; Lucas, Divided We Stand; Kyle, Suez; Warner, The United States and the Suez Crisis.

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Konferenz von 1955 bei seiner Wahl geholfen und den Run auf das Pfund ausgelöst hatte. Für seine durch Suez verursachten Verluste in den Wahlen nahm er Rache — was er später selbst als den größten Fehler seiner Amtszeit betrachtete64. Daraufhin betonte das britische Kabinett mehr und mehr die Notwendigkeit, wieder enge Beziehungen zu den Vereinigten Staaten aufzubauen. Am 30. November wurde im Kabinett bekanntgegeben, Washington habe erklärt, die Vereinigten Staaten würden jede Bedrohung der territorialen Integrität oder politischen Unabhängigkeit der nahöstlichen Mitglieder des Bagdadpaktes äußerst ernst nehmen und die Ölversorgung Europas aufrechterhalten65.

X. Die Suezkrise bestätigte die Notwendigkeit der von der Regierung Eden bereits im Juni 1956 eingeleiteten Neubewertung der britischen Außenpolitik. Erörterungen im Kabinett im Dezember liefen darauf hinaus, daß der militärische Wert von Vereinbarungen wie dem anglo-j or danischen Vertrag geringer gewesen sei, als man erhofft hatte, und in Zukunft wohl noch weiter sinken werde. Es wäre möglicherweise klüger, die arabischen Länder finanziell zu unterstützen, als dort Stützpunkte zu unterhalten. London setzte weiterhin darauf, die USA würden die britischen Verpflichtungen zunächst in Jordanien und dann auch in anderen Gebieten des Nahen Ostens übernehmen66. Am 8. Januar 1957, unmittelbar bevor Harold Macmillan Edens Nachfolge als Premierminister antrat, legte Lloyd dem Kabinett einen Vorschlag für eine engere militärische und politische Assoziierung zwischen Großbritannien und Westeuropa vor. Dabei ging er sogar so weit, daß Großbritannien seine »Ressourcen mit denen der europäischen Verbündeten zusammenlegen könne, damit Westeuropa als ganzes eine dritte Atommacht vergleichbar den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion werden könnte«. Das lehnte Lord Salisbury rundweg ab. Er bezweifelte vielmehr, daß »eine solche Politik mit der Aufrechterhaltung der anglo-amerikanischen Allianz zu vereinbaren« sei, die seiner Ansicht nach die besten Aussichten auf die Verteidigung der freien Welt gegenüber der sowjetischen Aggression bot67. Die Regierung Macmillan setzte auf die amerikanische Karte: Nach dem Treffen mit Eisenhower im März 1957 auf den Bermudas berichtete Macmillan, dem Präsidenten sei »sehr daran gelegen, die traditionellen Beziehungen zwischen den beiden Ländern wiederherzustellen« 68 . Unter dem Eindruck des sowjetischen 64 65

66

67 68

Aitken, Nixon, S. 244. PRO, CAB 128/30 Pt 2, fos 652-3, CM81(56), Secret, 7.11.1956; fol. 693, CM89(56), Secret, 27.11.1956; fol. 707, CM93(56), Secret, 30.11.1956. PRO, CAB 128/30 Pt 2, fos 728-9 CM97(56)2, Secret, 7.12.1956; fos 777-8, CM1(57), Confidential Annex, 3.1.1957; seihe Ovendale, Great Britain and the Anglo-American Invasion, S. 284-303. PRO, CAB 128/30 Pt 2, CM3(57), Secret, 8.1.1957. PRO, CAB 128/31 Pt 1, fol. 171, CC22(57), Secret, 22.3.1957.

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Weltraumerfolgs mit der Raumkapsel »Sputnik« konnte Macmillan bei seinem Besuch in Washington im Oktober 1957 schließlich »die besondere Beziehung zu den Vereinigten Staaten wiedergewinnen, der wir uns vorher erfreut hatten«69. Erst diese Beziehung versetzte Großbritannien in die Lage, die im April 1957 skizzierte, aber schon von der Eden-Regierung zur Debatte gestellte revidierte Verteidigungspolitik auf der Grundlage von nuklearer Abschreckung, begrenztem militärischen Engagement und verringerter Personalstärke durchzuführen, die durch die Notwendigkeit bedingt worden war, die Ausgaben zu reduzieren70. 1949 billigte die Labour-Regierung unter Attlee die Empfehlung des Ständigen Staatssekretärsausschusses, daß die britische Außen- und Bündnispolitik auf der »besonderen Beziehung« zu den Vereinigten Staaten gründen müsse. Selbst wenn eine Allianz mit Europa und dem Commonwealth gleichzeitig möglich sei, wäre sie aus sich heraus nicht stark genug, der Sowjetunion zu widerstehen. Diese Entscheidung wurde während des Koreakrieges bestätigt. In Gefahr geriet diese Politik durch den Beschluß Eisenhowers, Großbritannien zu einem aus einer ganzen Reihe von Verbündeten zu degradieren. Zu bestimmten Zeiten unter der Friedensregierung Churchill maß Großbritannien dem Standpunkt seiner Commonwealth-Partner tatsächlich großes Gewicht bei und war bereit, unabhängig von den Vereinigten Staaten zu agieren. Im Vorfeld der Suezkrise erklärte Eden am 4. Oktober 1956 vor dem Kabinett, Großbritannien dürfe sich schon gar nicht im Nahen Osten zu sehr davon leiten lassen, nichts ohne die volle Zustimmung und Unterstützung der Amerikaner zu tun. Die folgenden Ereignisse stellten diese Ansicht in Frage. Nach Suez votierte Großbritannien für eine Wiederbelebung der »besonderen Beziehung« zu Washington. Eine engere Anbindung an Westeuropa wurde 1957 abgelehnt. Die Suezkrise hatte gezeigt, daß Großbritannien und die alten Dominions wohl jeweils Außenpolitik im eigenen Interesse betreiben würden71. Die britische Bündnispolitik im Zeitraum 1949-1956 rechtfertigte die Empfehlung des Ständigen Staatssekretärsausschusses aus dem Jahr 1949, daß Großbritannien sich auf die angloamerikanische Partnerschaft verlassen müsse.

69 70 71

PRO, CAB 128/31 P f 2 , fol. 526, CC76(57)2, Secret, 28.10.1957. Ovendale, Macmillan. Lyon, The Commonwealth; Miller, Australia; Fry, Canada.

Albert Ε. Kersten Die Außen- und Bündnispolitik der Niederlande 1940-1955 1. Einführung Die Niederlage, die der niederländischen Armee im Mai 1940 innerhalb von fünf Tagen durch deutsche Truppen zugefügt wurde, die Besetzung der Zentren des Landes und das Exil der Regierimg in Großbritannien stellten in der Außen- und Sicherheitspolitik der Niederlande eine Zäsur dar. Die seit 1840 im Konsens praktizierte Politik der Nichteinmischung und Neutralität im Hinblick auf die internationalen politischen Angelegenheiten verlor urplötzlich ihre Glaubwürdigkeit als Grundlage für die Bewahrung der territorialen Integrität der Niederlande. Die selbsterklärte Bedeutung der niederländischen Neutralität — ein wesentlicher Beitrag zum europäischen Gleichgewicht von Macht und Stabilität zu sein — war durch die politischen und militärischen Gegebenheiten widerlegt. Rückblickend klang die Eloge des niederländischen Außenministers Eelco N. van Kleffens über diese Politik der Nichteinmischung in der Ersten Kammer der Generalstaaten vom 25. Januar 1940 wie das Credo niederländischer Außenpolitik, an das der Minister selbst und seine Zuhörer glauben wollten, aber nicht wie eine realistische Analyse der tatsächlichen internationalen Position des Landes. Die Niederlande wurden als eine territorial zufriedene Nation dargestellt, aufgrund ihrer geographischen Lage und ihres friedlichen Charakters ein Fanal des Friedens und eine Verteidigerin hoher moralischer Werte inmitten der im Kampf stehenden europäischen Nationen. Sie waren entschlossen, ihre Neutralität zu verteidigen, und die internationale Gemeinschaft würde jeden Aggressor, der ein neutrales Land angriff, tadeln und schmähen1. Ein wichtiges Merkmal in van Kleffens Rede betraf die Überzeugung, daß die Niederlande ihre Position zwischen den im Krieg befindlichen Seiten dadurch bestimmen könnten, daß sie ihre erklärte Neutralität durch strikte Beachtung der in der Haager Konvention von 1907 fixierten internationalen Regeln für Neutralität aufrechterhielten. Die Möglichkeit, daß Deutschland aus politischen und militärischen Gründen die niederländische Neutralität verletzen könnte, hatte in der egozentrischen Analyse keine Erwähnung gefunden. Indes deckte diese subjektive Wahrnehmung der internationalen Position der Niederlande nicht das ganze Bild ab. Jenseits der offiziellen und öffentlichen Demonstration von Vertrauen in die theoretische Neutralität war man sich in Den 1

Diese Rede ist abgedruckt bei Kleffens, Belevenissen, Bd 1, S. 298-307.

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Haag vollauf bewußt, daß die territoriale Integrität gefährdet war. Seit dem November 1939 waren der niederländischen Regierung äußerst zuverlässige Warnungen über einen bevorstehenden deutschen Angriff zugegangen, und van Kleffens hatte die Vermittlungsbereitschaft der Kriegsparteien über offizielle und private Kanäle sondiert. Der deutsche Angriff vom 10. Mai 1940 selbst kam für die niederländische Regierung nicht als Überraschung. Daß es aber nicht gelang, die niederländischen Truppen hinter die überfluteten Gebiete in die Festimg Holland zurückzunehmen, und die folglich kurze Kriegsdauer von fünf Tagen machten ihr die fragile und abhängige Lage des Landes bewußt. Jeglicher Glaube an die erklärten Segnungen der Neutralität wurde hinweggefegt. Im Sommer 1940 griff bei den Regierungsmitgliedern im Londoner Exil zumeist ein Gefühl von Resignation immer mehr um sich. Als sich dann im Herbst der militärische Siegeszug der Deutschen verlangsamte und eine Invasion der Britischen Inseln nicht stattfand, erholten sich die Niederländer von diesem schweren Schlag gegen ihr nationales Selbstbewußtsein, und es begann der Prozeß der Neuorientierung ihrer internationalen Position2. Anfänglich wurde dieser Prozeß von der tatsächlichen Kriegssituation beherrscht: Schutz vor deutscher Aggression war das Hauptthema, doch wurde allmählich offenkundig, daß die internationalen Rahmenbedingungen und die Traditionen der außenpolitischen Orientierung der Niederlande wichtiger waren als die aktuelle Kriegssituation. Die Niederlande würden ungeachtet ihrer kolonialen Besitzungen in Südostasien und der westlichen Hemisphäre eine kleine Macht bleiben; im Hinblick auf ihre Sicherheit hatte eine unbewußte Ausrichtung auf Großbritannien als dominierende Weltmacht ihre Wurzeln im 19. Jahrhundert und in den schwachen Verteidigungsmöglichkeiten des niederländischen Zentrums und des Kolonialreichs. Außerdem hatten Sicherheitsfragen in der niederländischen Politik noch nie Priorität genossen. Das Vertrauen auf die Angelsachsen wurde durch die niederländische Position im internationalen Handel, Verkehr und Finanzwesen verstärkt. Die seit Beginn des 20. Jahrhunderts wachsende Bedeutung des deutschen und europäischen Marktes für Agrarexporte hatte zu der »atlantischen« Orientierung ein Gegengewicht gebildet, war aber in der primär auf Freihandel eingestellten Wirtschaftspolitik nicht entsprechend integriert. Zu diesen Grundbedingungen kamen im Verlauf der Neubestimmung der internationalen Position der Niederlande noch zwei Hauptmerkmale hinzu, und zwar das große Interesse an den wesentlichen Sicherheitsfaktoren und die Betonung der Notwendigkeit zur Zusammenarbeit mit anderen Staaten. Die Formulierung der Schlüsselfragen war vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Rückkehr in die befreiten Niederlande im Mai 1945 bereits abgeschlossen; ihre Durchführung dauerte das nächste Jahrzehnt. Die Neubestimmung als solche geschah in dem Bemühen, die ideale internationale Position zu formulieren; ihre Realisierung indes hing vom internationalen Umfeld und ihrer ÜberDe Jong, Het Koninkrijk, Bd 2, S. 143-165; Bd 9, S. 45-77; ders., De geheime contacten.

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einstimmung mit der internationalen Sicherheitspolitik der Großmächte ab. Die niederländische Regierung mußte ihren Entwurf an die Absichten der grundsätzlich von anderen Prinzipien ausgehenden Großmächte anpassen. Dieser Prozeß der Neubestimmung der niederländischen Sicherheitspolitik und deren Anpassung an die internationalen Rahmenbedingungen läßt sich in drei Phasen unterteilen: die erste betrifft die Konzeption und Konfrontation mit der internationalen Lage (1940-1947), die zweite die veränderte Haltung gegenüber Deutschland als Folge des Kalten Krieges (1946-1950), und die dritte die Wahl zwischen einer atlantischen und einer europäischen Sicherheitspolitik (1948-1955).

2. Die Sicherheitspolitik der Niederlande Auch wenn die deutsche Invasion vom Mai 1940 die Niederlande in die von Großbritannien und Frankreich angeführte Antihitlerkoaliton gebracht hatte, bedeutete dies nicht das automatische Ende der Nichteinmischungspolitik. Der Erfolg der deutschen Kriegführung an der Westfront und ihre innerhalb von sechs Wochen errungenen Siege — die belgische Kapitulation vom 27. Mai und der französisch-deutsche Waffenstillstand vom 17. Juni — stießen keine interne Diskussion über eine Neuorientierung der niederländischen internationalen Position in dem Sinne an, den Krieg gegen Deutschland und dessen Verbündete fortzuführen. Im Gegenteil, eine Mehrheit im niederländischen Kabinett erklärte, das Land gehöre nunmehr zur schwächeren, wahrscheinlich besiegten Partei im europäischen Krieg. Für diese Gruppe von Kabinettsministern war eine deutsche Invasion Großbritanniens und dessen Niederlage eine Sache von Wochen. Vom Siegeszug der Deutschen auf dem Kontinent waren diese Kabinettsminister derart überwältigt, daß ihrer Meinung nach den niederländischen Interessen am besten gedient wäre, wenn mit dem siegreichen Deutschland eine Übereinkunft getroffen würde. Es sei besser, den nackten Tatsachen ins Auge zu sehen, als sich durch die Aufrechterhaltung des Gelegenheitsbündnisses mit Großbritannien um die Möglichkeit eines unabhängigen Arrangements mit Deutschland zu bringen. Die deutsche Reaktion auf diese Friedensgefühle von niederländischer Seite im Juni 1940 fiel gänzlich negativ aus, so daß die Fortsetzung des Bündnisses mit Großbritannien die einzige zu Gebote stehende Option darstellte3. Im Sommer und Herbst 1940 änderte sich die pessimistische Grundstimmung allmählich. Es waren vor allem das Ausbleiben der vorausgesagten deutschen Invasion Großbritanniens und die allmählich wachsende Unterstützung von Seiten der nicht kriegführenden Vereinigten Staaten für die Sache der Verbündeten, die dazu beitrugen, die Resignation in eine Hoffnung auf den Sieg umzuwandeln. Innerhalb des niederländischen Exils waren es die kompromißlose Antinazi- und

3

Documenten betreffende de Buitenlandse Politiek van Nederland 1919-1945 (DBPN), Bd 1, Nr. 110, 112, 115, 139, 166, 168, 174, 179, 195, 199 und 214; De Jong, Het Koninkrijk, Bd 9, S. 51-55, 74-78.

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Pro-Bündnishaltung von Königin Wilhelmina und Kabinettsministern wie P.S. Gerbrandy und J. van den Tempel, das erzwungene Ausscheiden des überaus mutlosen und resignierten Premiers J.D. de Geer Ende August 1940 sowie die nachfolgende Kabinettsumbildung, die den Kampfgeist der niederländischen Regierung stärkten. Im November 1941 war die Verstärkung der Pro-Bündnisfraktion im Kabinett nach dem Rücktritt der Minister für Verteidigung, Kolonien und Wirtschaft sowie der Ernennung neuer Kabinettsminister, deren Loyalität für die Sache und Kriegführung der Verbündeten völlig unbestritten war, abgeschlossen. Nachdem man sich von dem Verlust der Neutralität psychisch erholt hatte, wurde die ganze Energie in den alliierten Krieg und die Krise im Fernen Osten gesteckt. Im Mai 1940 war die Neutralitätspolitik für das niederländische Ostindien fortgesetzt worden. Nachdem Japan im Juli 1940 ein Paket mit anspruchsvollen wirtschaftlichen Forderungen vorgelegt hatte, wurde allmählich ein Prozeß in Gang gesetzt, der offen und versteckt politisch und militärisch zu einem Schulterschluß mit Großbritannien, Australien und den USA führte. Dieser Kooperation konnte der Generalgouverneur von Indien, der frühere Diplomat Alidius W.L. Tjarda van Starkenborgh-Stachouwer, nur halbherzig zustimmen. Seiner legalistischen Denkstruktur nach mußte diese auf einer paritätischen Grundlage basieren. Immer wieder konnte er darauf hinweisen, wie sehr die Pazifik- und Japanpolitik Londons und Washingtons die Position der Niederlande mißachtete. Im Grunde litt van Starkenborgh an dem gleichen, wenn auch weniger stark ausgeprägten Mangel an Realitätssinn wie die zentralen niederländischen Behörden bis Mai 1940. In den meisten Fällen jedoch wurde er von der Exilregierung, die ab dem Frühjahr 1941 eine enge Zusammenarbeit mit den möglichen Verbündeten im Fernen Osten vorzog, überstimmt4. Aufgrund der völligen Inanspruchnahme durch die japanische Bedrohung wurde der Umdenkungsprozeß im Hinblick auf die internationale Position der Niederlande hintangesetzt. Bis zur Eroberung Ostindiens durch die japanischen Truppen im März 1942 konnte die niederländische Regierung sich in der Vorstellung wähnen, eine Sonderstellung unter den Verbündeten einzunehmen — aufgrund der Lieferung von lebenswichtigen Rohstoffen für die alliierte Kriegsproduktion aus Ostindien (darunter Erdöl, Bauxit und Zinn), ihres substantiellen Beitrags zum alliierten Transport und ihrer Beteiligung an den strategischen Vorbereitungen gegen eine mögliche japanische Aggression5. Nach dem März 1942 konnten diese Ambitionen nicht mehr aufrechterhalten werden. Ungeachtet der höflichen Geste von Seiten der USA im Mai 1942, mit den Niederlanden diplomatische Beziehungen auf Botschafterebene zu pflegen — ein Beispiel, dem die britische Regierung folgte — sowie des Beobachterstatus bei den Combined Chiefs of Staff in Washington, wurde der niederländischen Regierung allmählich klar, daß sie nicht länger so tun konnte, als gehörten die Niederlande zum Club der führenden Verbündeten. Aus der Perspektive des globalen Krie4 5

Mook, The Netherlands Indies; Kersten, Londen, Washington, Batavia. Manning, The position.

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ges waren die Sowjetunion und China die wichtigsten Verbündeten für die USA und Großbritannien geworden. Dem von Kanada und Australien bei verschiedenen Anlässen unterstützten niederländischen Anspruch auf den Status einer Mittelmacht wurde nicht entsprochen 6 . Außenminister van Kleffens ließ nicht davon ab, diesen Anspruch bei diplomatischen Begegnungen wie auch öffentlich vorzubringen. Er konnte seine Gegenüber nicht überzeugen. Die Versuche, die Niederlande auf der Weltkarte als Mittelmacht präsentiert zu sehen — eine Position, die der niederländischen Vorstellung von ihrer politischen, wirtschaftlichen, kolonialen und finanziellen Wirkung auf internationaler Ebene entsprach —, waren gewissermaßen das Nebenprodukt des Umdenkungsprozesses im Hinblick auf die internationale Position der Niederlande nach dem Scheitern einer unabhängigen Verteidigung ihrer territorialen Integrität. Die Erkenntnis, daß eine sich hinter Großbritannien oder einer neuen weltweit dominierenden Macht versteckende Sicherheitspolitik durch ein bestimmteres Verhalten ersetzt werden mußte, trieb das Nachdenken über die internationale Rangordnung selbst voran. Van Kleffens' erste und sehr naheliegende Beobachtung bezog sich auf die Undurchführbarkeit einer unabhängigen Verteidigung für kleine Staaten aufgrund technologischer Entwicklungen, insbesondere im Hinblick auf die Bedeutung der Luftwaffe für einen Krieg. Als logische Konsequenz schien sich eine Zusammenarbeit mit anderen Staaten in der Region anzubieten. Sein Konzept entwickelte sich 1941 /42 auch in den gelegentlichen Gesprächen mit seinem norwegischen Kollegen Trygve Lie und dem Belgier PaulHenri Spaak. Die Option, die sogenannte Oslo-Kooperation aus den dreißiger Jahren zu neuem Leben zu erwecken, erwies sich bald als eine viel zu schmale Basis. Aus diesem Grund machte sich van Kleffens Lies Konzept einer atlantischen Kooperation zu eigen und weitete es zu dem Vorschlag aus, einen internationalen Rahmen von regionalen Sicherheitsorganisationen zu schaffen. Daß van Kleffens ein System regionaler Sicherheitsorganisationen vorzog, war auf seine Enttäuschung über die Ineffektivität des kollektiven Sicherheitssystems des Völkerbundes zurückzuführen. Eine globale zwischenstaatliche Sicherheitsorganisation war seiner Meinung nach zum Scheitern verurteilt, weil die divergierenden Interessen der am Entscheidungsprozeß beteiligten Länder eine Verständigung darüber, wie einer Aggression zu begegnen sei, nicht möglich machten. In einer kollektiven Sicherheitsorganisation auf regionaler Ebene hingegen hätten die Mitgliedsstaaten ein gemeinsames Interesse daran, aggressiven Staaten Paroli zu bieten, und sie wären eher geneigt, entschlossen zu reagieren. Van Kleffens kopierte Lies Konzept, wobei er die regionalen Organisationen um die Meere gruppierte. Für die Niederlande war dies vor dem Hintergrund ihrer überseeischen Territorien von Vorteil. Nach van Kleffens' Konzeption würden die Niederlande eine Mitgliedschaft in vier von den sechs regionalen Organisationen und damit eine Position erlangen, die sie enger an die führenden Mächte der jewei6

Thome, Britain, Australia; Kersten, Buitenlandse Zaken, S. 353-379; Kersten, Nederland.

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ligen Organisation (USA und Großbritannien) binden würde als die Staaten ohne überseeische Besitzungen. Das Konzept war somit erster Ausdruck einer »Mittelmacht«-Konzeption/ nach der für die Niederlande eine sich eng an die beiden führenden westlichen Großmächte anlehnende Sonderstellung geschaffen werden sollte. Gleichzeitig spiegelte das Konzept die ausgeprägte antikommunistische Haltung der Niederlande wider. Obwohl sich van Kleffens der starken Machtposition der Sowjetunion nach dem deutschen Angriff vom Juni 1941 bewußt war, wollte er daraus nicht den Schluß für die Notwendigkeit einer sowjetischen Mitgliedschaft in allen regionalen Gruppen ziehen. Aus dem Entwurf für regionale Sicherheitsorganisationen geht deutlich hervor, daß sich van Kleffens der dominierenden Position der Vereinigten Staaten in Fragen der internationalen Sicherheit bewußt war, und daß die Notwendigkeit bestand, die USA in die neue Ordnung hineinzulocken. Gleichzeitig kam darin eine vorrangige Beschäftigung mit Sicherheit im traditionell militärischen Sinne und ein Mangel an Einsicht in die gegenseitige Abhängigkeit von Sicherheit und wirtschaftlichen Belangen zum Ausdruck. Aus genau diesem Grund kritisierte Spaak den Entwurf denn auch, und er zeigte wenig Interesse, ihn in Whitehall oder Washington zu unterstützen. Nach der Zustimmung von Seiten des niederländischen Kabinetts tat dies van Kleffens selber, erhielt indes nur unverbindlichfreundliche Reaktionen. Regionalismus deckte sich nicht mit dem Rooseveltschen »One-world«-Konzept, demzufolge die internationale Ordnung nach dem Krieg nicht der festen Führung Großbritanniens und der USA übertragen werden sollte, sondern den Großen Vier unter Einschluß auch der Sowjetunion und Chinas7. Die niederländische Exilregierung mußte die Vorschläge von Dumbarton Oaks als Grundlage für eine internationale Sicherheitsordnung nach dem Krieg hinnehmen. Sie monierte die Vorzugsstellung der großen Mächte im Sicherheitsrat, mußte aber letzten Endes der Charta der Vereinten Nationen auf der Konferenz in San Francisco im Juni 1945 zustimmen. Die Erwartung, mit der konkreten Teilhabe am Krieg der Verbündeten international an Einfluß zu gewinnen, hatte sich nicht erfüllt, was ein gewisses Maß an Frustration hervorrief. Van Kleffens verbarg seine Enttäuschung darüber, daß die Meinung der kleineren Mächte von Seiten der Großen Vier vernachlässigt wurde, in keiner Weise; bereits am 25. März 1943 tat er sein Mißfallen über dieses Verhalten in einem Artikel in der Londoner »Times« kund und wiederholte es in verschiedenen Erklärungen mehrfach öffentlich8. Ungeachtet dieser provozierenden Haltung war van Kleffens jedoch klar, daß ein Verbleib in den Vereinten Nationen aus Gründen der Staatsräson geboten war, weil es für die Sicherheit vor der wahrscheinlichsten Gefahr — Deutschland — keine Alternative gab. In einer Rundfunkübertragung seiner Ansprache an das besetzte Holland beschrieb er im November 1943 die internationale Sicherheitslage der Niederlande plastisch: Auf dem Kontinent hätten die Niederlande einen Brückenkopf gegen eine deutsche Aggression zu bilden, Großbritannien den Stütz7 8

Kersten, Van Kleffens plan; Wiebes/Zeeman, Belgium, the Netherlands and Alliances, S. 60-71. DBPN, C, Bd 6, Nr. 207.

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punkt und die Vereinigten Staaten das Arsenal. In dieser Verkettung von Macht wäre die territoriale Integrität des zentralen Holland garantiert 9 . Am Ende des Zweiten Weltkrieges allerdings waren diese Garantien einfach nicht vorhanden. Für das erste niederländische Kabinett nach dem Krieg stand nicht die Sicherheitsfrage an erster Stelle, sondern Erneuerung, Wiederherstellung und Wiederaufbau — so die Schlagworte in seinem Programm. Unter Erneuerung wurde die Absicht verstanden, sich von der säulenartig aufgebauten niederländischen Gesellschaft entlang religiöser und ideologischer Linien, der man aufgrund ihrer Spaltung die Schuld an der fehlenden nationalen Einheit gab, zu verabschieden. Die logische Konsequenz einer neuen Gesellschaftsordnung, die die alten Strukturen über Bord werfen und neue politische und gesellschaftliche Organisationen schaffen sollte — der sogenannte Durchbruch — wurde gleichwohl nicht erzielt. Die alten politischen Parteien und Strukturen feierten fröhliche Wiederkehr, vor allem die alten wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, die nach den gravierenden Zerstörungen von 1944/45 sehr zu wünschen übrig ließen. Für die allgemeine Öffentlichkeit war Deutschland weit weg, und es befand sich unter der starken Kontrolle der Besatzungsmächte. Nur eine sehr kleine Gruppe war wirklich an Außenpolitik und der internationalen Sicherheitslage des Landes interessiert. Die Konzentration auf den Wiederaufbau schien einer Rückkehr zu Vorkriegszeiten den Weg zu bereiten, gekennzeichnet von einem Mangel an Interesse an der niederländischen Sicherheitslage. Weder die Öffentlichkeit im großen und ganzen noch die politischen Parteien besaßen ein klares Konzept für die internationale Position des Landes. Allmählich wandte sich die Aufmerksamkeit der Wiederherstellung der niederländischen Herrschaft in Niederländisch-Ostindien nach Ausrufung der Republik durch Sukarno und Hatta am 17. August 1945 zu. Die Neubestimmung der Beziehungen zu Ostindien/Indonesien nahm bis Ende 1949 ein so hohes Maß an Energien seitens der niederländischen Regierung und der politischen Parteien in Anspruch, daß die Sicherheitspolitik ausschließlich eine Domäne der Diplomaten und des Außenministers blieb. Die niederländische internationale Position war 1945-1947 nicht recht klar. Die Regierung schien dem Aufbau einer globalen kollektiven Sicherheit im Rahmen der Vereinten Nationen zuzustimmen. Obwohl das UN-Konzept in öffentlichen Dokumenten und Erklärungen akzeptiert und unterstützt wurde, unterliegt es einigem Zweifel, ob Außenminister Carel van Boetzelaer (1946-1948) viel davon hielt. Im Parlament erklärte er, die UNO sei Grundlage der internationalen Ordnung und die UN-Charta Leitlinie für die niederländische Außenpolitik. Auch schwächte er die Kritik an der Einmischung der UNO in den niederländisch-indonesischen Konflikt ab, der für Den Haag eine innere Angelegenheit darstellte und daher außerhalb der Kompetenzen des UN-Sicherheitsrats lag10. 9 10

De Jong, Het Koninkrijk, Bd 9, S. 679 f. Schaper, The Security Policy; Kersten, In de ban van de bondgenoot; Wiehes/Zeeman, Belgium, the Netherlands and Alliances, S. 83-95, 127-133.

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Im Außenministerium selbst und in den Beratungen mit seinen Botschaftern trat van Boetzelaer nicht als derjenige auf, der die UNO als Bewahrerin des Weltfriedens sah. Er hatte bereits im November 1946 erkannt, daß die wachsenden Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion sich für die UNO als hinderlich herausstellen würden. Van Boetzelaer gab einer Politik den Vorzug, die ein Engagement der USA für die westeuropäische Sicherheit garantierte. Gleichzeitig war er sich dessen bewußt, daß er Washington nicht in eine solche Position hineinlocken konnte. Fürs erste war es wichtig, die seit 1945 verfolgte Verhaltenslinie beizubehalten. Er vermied es tunlichst, in Pläne für ein Bündnis zwischen den fünf demokratischen Staaten in Westeuropa — Großbritannien, Frankreich und den Benelux-Staaten — hineingezogen zu werden, weil die derzeitige amerikanische Reaktion darauf negativ ausfiele. Außerdem würde die Sowjetunion, die verschiedentlich vor solchen Zusammenschlüssen gewarnt hatte, einen solchen regionalen Sicherheitsblock als deutlichen Affront auffassen. Und das dritte Argument, das für eine vorsichtige Haltung gegenüber einer derartigen Initiative sprach, war die Ungewißheit im Hinblick auf die Orientierung Frankreichs. Van Boetzelaer zog es vor, in der Eröffnungsphase des Kalten Krieges eine abwartende Haltung einzunehmen. Seine Politik stand im Gegensatz zu der seines belgischen Amtskollegen Paul-Henri Spaak, der »aktiv danach strebte, zu einer westeuropäischen regionalen Entente unter britischer Führung zu gelangen«11. Dessen Initiative zur Ausweitung des anglo-französischen Sicherheitsvertrags von Dünkirchen vom März 1947 auf die Benelux-Staaten in Form eines Netzwerks bilateraler Sicherheitsvereinbarungen stieß auf van Boetzelaers strikte Ablehnung. Dieser maß einem solchen Übereinkommen mit Frankreich und Großbritannien vom militärischen Standpunkt her überhaupt keine Bedeutung zu, auch weil sich der Vertrag von Dünkirchen offiziell »gegen eine zur Zeit nicht existierende deutsche Gefahr« richtete. Van Boetzelaer hielt es für besser, die Ergebnisse der im April 1947 in Moskau stattfindenden Gespräche über den sogenannten Entmilitarisierungsvertrag zwischen den vier Besatzungsmächten in Deutschland abzuwarten12. Auch wenn seitens van Boetzelaers keine Initiativen ergriffen wurden, soll nicht unerwähnt bleiben, daß er ein Verhalten an den Tag legte, das in den nächsten Jahren seine Fortsetzung fand. Jegliche Verärgerung auf Seiten der USA und der Sowjetunion mußte vermieden werden, solange deren Bemühungen um eine Friedensregelung im Hinblick auf Deutschland nicht durch den Kalten Krieg blockiert wurden. Im Fall eines definitiven Scheiterns sollte einer von den USA getragenen Sicherheitsgarantie der Vorzug gegeben werden und ein westeuropäischer Sicherheitsblock zu diesem Ziel beitragen. In van Boetzelaers Einschätzung war es nicht eine potentielle deutsche Aggression, sondern die kommunistische Gefahr, die eine zentrale Sicherheitsfrage für Westeuropa bedeutete. 11 12

Ebd., S. 149. Ebd., S. 142 f.

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Ohne ein amerikanisches Engagement sei Westeuropa nicht in der Lage, sich einer sowjetischen Aggression entgegenzustellen. Dies bedeutete nicht, daß die deutsche Aggression in der Sicherheitsliste der Niederlande ad acta gelegt worden war. Es handelte sich hierbei um eine Kernfrage, die im Konnex der westlichen Sicherheitspolitik behandelt werden sollte.

3. Die wechselnde Position Deutschlands in der niederländischen Sicherheitspolitik Deutschland hatte nach seinem Einfall im Mai 1940 auf der außenpolitischen Agenda der Niederlande einen hohen Stellenwert eingenommen. Obwohl die Diskussion auf die allgemeine Sicherheitspolitik gerichtet war, was van Kleffens' Plan für regionale Sicherheitsorganisationen zur Folge gehabt hatte, wurde die deutsche Bedrohung nicht als Einzelfrage, sondern als ein wichtiges Element in der sicherheitspolitischen Debatte behandelt. Zugleich war mit Deutschland auch die wirtschaftliche Frage verbunden und löste so Kontroversen aus. In den Kriegsjahren hatte sich die Regierung über die Frage der Nachkriegsbehandlung Deutschlands entzweit. Anfänglich hatten van Kleffens und sein Außenministerium in einer internen Diskussion versucht, zwischen dem Wiederaufleben eines militärisch dominanten deutschen Nachbarn und der Vermeidung einer starken revanchistischen Bewegung in einem besiegten Deutschland im Falle eines rigiden Friedensvertrags abzuwägen. Natürlich war der Ausgangspunkt der, daß die wirtschaftlichen und militärischen Fähigkeiten Deutschlands zur Organisation eines Feldzugs gegen Europa beschnitten werden sollten; und die Kernfrage war, wie dieses Ziel erreicht werden konnte. Eine schroffe Behandlung fand allgemein keine Zustimmung, da sie als kontraproduktiv angesehen wurde. Die Unterstützung von Separatismus, die Zerstückelung des Landes wie auch die Abtretung von Territorium wurden als gefährliche Brutstätte für Revanchismus angesehen. Der Fehler von Versailles sollte nicht wiederholt werden. Van Kleffens und seine Umgebung gaben einer schonenderen Behandlung Deutschlands den Vorzug, bei der eine Kontrolle über eine begrenzte Anzahl von deutschen Produktionskapazitäten mit einer Mitgliedschaft Deutschlands in bestimmten internationalen Organisationen verbunden werden sollte. Ursprünglich hatte van Kleffens an eine Struktur gedacht, die auf den Vorkriegsplan einer internationalen Produktionsbeschränkung hinauslief; später entwickelte er dann das Konzept einer zwischenstaatlichen Organisation zur Kontrolle der für eine Kriegsproduktion wichtigsten Rohstoffe — Kohle, Eisen und Nitrogen. Diese Organisation sollte das Produktionsniveau für jedes Mitglied festsetzen und auch mit der Kontrolle der Durchführung betraut sein. Auch wenn dieses Konzept von Experten als naiv und untauglich abgetan wurde, stellte es eine einzigartige Verbindung von Kontrolle über Deutschland mit einer auf Gleichstellung beruhenden Behandlung dar13. 13

Ebd., S. 68 f.; DBPN, C, Bd 2, S. 288 f.

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Im Frühjahr 1943 war dieses vernünftige Konzept für eine Nachkriegsbehandlung Deutschlands im Kabinett auf den starken Widerstand von Finanzminister J. van den Broek gestoßen, der für eine Zerstückelung und Annektierung beträchtlicher Teile des deutschen Territoriums plädierte. Van Kleffens hatte van den Broek zwar isolieren können, sich ein Jahr später aber selber für die Annexion deutscher Territorien als Entschädigung für die Kriegsschäden und bewußten Zerstörungen und Überflutungen im besetzten Holland ausgesprochen. Der Konsens im niederländischen Kabinett hatte sich wieder von Opposition auf Unterstützung einer Annexion verlagert — eine Veränderung der politischen Linie, die von der Nachkriegsregierung fortgesetzt wurde. Auch nachdem die kurzlebige, wenn auch starke öffentliche Unterstützung für eine Annexion Ende 1945 nicht mehr vorhanden war, hielt die Regierung daran fest, solange jede andere Art von Vergeltung für die Kriegsschäden unklar war. Ungeachtet des Widerstands von Seiten der westlichen Besatzungsmächte beharrte die niederländische Regierung hartnäckig auf ihren exzessiven Annexionsforderungen, erreichte aber Ende 1949 nur geringfügige Korrekturen der deutsch-niederländischen Grenze14. Die Frage der Abtretung deutscher Gebiete war nicht das Einzige, was die niederländische Deutschlandpolitik nach dem Krieg kennzeichnete. Die Angst vor deutscher Aggression kollidierte auf lange Sicht mit der wirtschaftlichen Abhängigkeit von Deutschland. Niederländische Politiker wußten um die große Bedeutung des deutschen Hinterlandes für den Wiederaufbau ihres Landes. Agrarexporte und Transitverkehr vom Rotterdamer Hafen nach Deutschland sowie Investitionen in deutsche Industrien hatten einen großen Beitrag zum Wohlstand der Niederlande geleistet. Der Import von Produktionsgütern aus Deutschland war für die niederländische Wirtschaft von wesentlicher Bedeutung. Dieser offizielle Standpunkt wurde von der Öffentlichkeit im großen und ganzen geteilt. Im Februar 1947 sprachen sich 77 Prozent in einer Meinungsumfrage für eine Wiederaufnahme von Handelsbeziehungen und wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Deutschland aus15. Obwohl die niederländische Regierung den Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft befürwortete, war sie sich bewußt, daß eine wirtschaftliche Gesundung per se das Instrumentarium für ein expansionistisches Deutschland schaffen konnte. Wirtschaftliche Motive, also der wirtschaftliche Wiederaufbau der Niederlande selbst, waren der Anreiz für die niederländische Regierung, die alliierte Politik einer wirtschaftlichen Erholung Westdeutschlands zu unterstützen. Solange die Alliierten Deutschland verwalteten, war nichts Schlimmes zu befürchten. Der einsetzende Kalte Krieg schuf die Gelegenheit, der deutschen wirtschaftlichen Erholung eine mehr allgemeine und geopolitische Bedeutung zu verleihen. Marshalls im Juni 1947 unterbreitetes Angebot, ansehnliche finanzielle Hilfe für den wirtschaftlichen Wiederaufbau Europas bereitzustellen, brachte die Benelux-Staaten dazu, ihre Ansichten über eine wirtschaftliche Zusammenarbeit in 14

is

Bogaarts, »Land in zieht?« Wielenga, West-Duitsland, S. 225.

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Westeuropa und Deutschlands Position in diesem Zusammenhang zu überdenken. Ihr Plädoyer für eine Einbeziehung Westdeutschlands in den Plan zum Wiederaufbau Europas — den Marshallplan — und die umfassende Nutzung seiner Produktionskapazitäten sowie für Gleichbehandlung stießen auf den scharfen Widerstand Frankreichs. Dennoch, nach der Sackgasse, in die man auf der Londoner Konferenz im Dezember 1947 über die Frage eines deutschen Friedensvertrags geraten war, wurde die Einbeziehung Westdeutschlands in das Europäische Wiederaufbauprogramm akzeptiert. Die Notwendigkeit, das deutsche Potential im Kalten Krieg auf westlicher Seite zu behalten, fand generelle Anerkennung. In den Vordergrund rückte die Diskussion über die Bedingungen. Dabei spielten die Beneluxländer zwar keine bedeutende Rolle, aber sie ergriffen jede Gelegenheit, um aus ihrer Sicht zu unterstreichen, welch ein wesentlicher Faktor Westdeutschland für den Westen im Kampf gegen den Kommunismus sei, und daß die Deutschen durch Verbesserung ihrer Lebensbedingungen für den Westen gewonnen werden müßten. Ein Scheitern könnte für die Position der westlichen Länder im Kalten Krieg von Schaden sein, weil ein neutrales — ganz zu schweigen von einem sowjetisch orientierten — Deutschland den Rest von Westeuropa unhaltbar machen würde. Daher sei die Betonung auf eine Einbindung Westdeutschlands in die neuen westeuropäischen Gruppierungen wie auch Widerstand gegenüber Vorbehalten im Hinblick auf eine potentielle deutsche Aggression in neuen Verträgen kein Zeichen für nachlassende Angst vor einer deutschen Aggression an sich, sondern für die Erkenntnis, daß das deutsche Potential für die Sicherheit des Westens notwendig sei. Eine gewisse politische Kontrolle über Westdeutschland sei notwendig16. Es sei betont, daß der niederländische Standpunkt in bezug auf die Bedeutung Deutschlands Ergebnis einer rationalen Einschätzung der niederländischen und der westlichen Position war. Diese Staatsräson kontrastierte mit der antideutschen Einstellung der niederländischen Bevölkerung und Regierung, was die bilateralen Beziehungen anging. Die bereits erwähnte Meinungsumfrage vom Februar 1947 ergab für 53 Prozent der niederländischen Bevölkerung eine »negative Einstellung« gegenüber den Deutschen, die im nächsten Jahrzehnt auch nur graduell abnahm. Die Meinung der Niederländer über Deutschland hat sich aufgrund des Kriegsleids niemals grundlegend geändert. Sie beeinträchtigte Verhandlungen über bilaterale Fragen, die im Zusammenhang mit dem Krieg standen. In solchen Fällen zeigten Regierung und Parlament der Niederlande ein Höchstmaß an Mißtrauen und Revanchismus, was das Erreichen eines Übereinkommens sehr erschwerte17.

16

17

Wiebes/Zeeman, Belgium, the Netherlands and Alliances, S. 133-149; Schaper, The security policy, S. 99-101; Kersten, Die Niederlande. Wielenga, West Duitsland, S. 225, 385-487.

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4. Sicherheit in einem europäischen oder einem atlantischen Rahmen Ungeachtet dessen, daß die Sicherheit der Niederlande von der internationalen Lage abhängig war, konnte die niederländische Regierung keinen grundlegenden Einfluß auf den Gründungsprozeß der atlantischen Allianz nehmen. In der Hauptsache ging es um eine Diskussion zwischen den Vereinigten Staaten und ihren wichtigsten Partnern im atlantischen Bündnis: Frankreich und Großbritannien. Beim Auftakt zu diesen Verhandlungen in Washington konnten die Niederlande im Verbund mit Belgien und Luxemburg eine Rolle spielen. Ende 1947 war das niederländische Außenministerium zu dem Schluß gekommen, daß es keinen Sinn mehr ergab, eine neutrale internationalistische Position vorzugeben. Jegliche Hoffnung auf ein amerikanisch-sowjetisches Übereinkommen über Deutschland war zwecklos, und ebenso sinnlos war es, sich wegen eines potentiellen sowjetischen Widerstands nicht im Hinblick auf regionale Gruppierungen zu engagieren. Die Niederlande hatten mit der Annahme des Angebots der Marshallhilfe Partei für die USA ergriffen. Es war an der Zeit, im Hinblick auf die Sicherheitsposition des Landes Flagge zu zeigen. Eine Initiative für eine westliche Gruppierung wurde in Betracht gezogen, ein solcher Schritt aber von der Zustimmung der USA abhängig gemacht. Da es sich als unmöglich herausstellte, zuverlässige Informationen über eine mögliche Reaktion der USA einzuholen, wurde die Initiative fallengelassen18. Die Rede des britischen Außenministers Ernest Bevin über eine westliche Verteidigungsunion schuf ein vergleichbares Dilemma. Die Initiative wurde begrüßt, aber würde eine solche westeuropäische Allianz das Engagement der Amerikaner für Europas Verteidigung vorantreiben oder isolationistische Tendenzen im Kongreß ermutigen? Diplomatische Demarchen beim State Department ergaben, daß eine westeuropäische Initiative der US-Regierung helfen könnte, den Kongreß von der Bedeutung der westeuropäischen Sicherheit für die Vereinigten Staaten zu überzeugen. Die Zustimmung von amerikanischer Seite war für die Niederländer wichtig, auch wenn sie keinerlei konkretes Engagement zur Folge hatte. Der nächste Schritt der Niederlande bestand nicht in der völligen Akzeptanz der britisch-französischen Vorschläge. Im Gegenteil, die Benelux-Staaten, deren Zusammenarbeit nach dem Zweiten Weltkrieg auf einer Ad-hoc-Basis zustande gekommen und erst nach 1947/48 im Zusammenhang mit Marshallplan, Westunion und Dreimächtekonferenz über Deutschland effektiv geworden war, lehnten den Entwurf für ein westliches Bündnis, das auf bilateralen Verträgen zwischen den fünf Ländern basierte, ab19. Anstelle eines traditionellen militärischen Bündnisses schlugen sie einen multilateralen Vertrag für wirtschaftliche, soziale und militärische Zusammenarbeit vor, der einen Rahmen für regelmäßige politische und militärische Konsultationen schuf. Die Benelux-Staaten versuchten auch, die 18 19

Kersten, Niederländische Regierung. Kersten, Maken drie kleinen een grote?

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deutsche Bedrohung als Vorwand für die Bildung einer Westunion zu torpedieren, mußten ihr aber in der Präambel des Vertrags zustimmen. Ungeachtet ihres Erfolgs, den Vertrag in einen größeren Rahmen einzubetten, lief dieser im Kern darauf hinaus, daß ein Angriff auf irgendeine der Signatarmächte als Angriff auf alle betrachtet werden würde 20 . Der Inhalt des Brüsseler Vertrags und seine Beratungsstruktur spiegelten die Ansichten der Beneluxstaaten über den Kalten Krieg und ihre eigene internationale Position wider. Der Kalte Krieg wurde nicht primär als militärische Frage gesehen, sondern als eine ideologische und gesellschaftliche Kontroverse. Die kommunistische Bedrohung wurde in erster Linie nicht im Sinne eines sowjetischen Angriffs auf Westeuropa interpretiert, sondern als Bedrohung der westlichen demokratischen Gesellschaft und ihres liberal-kapitalistischen Wirtschaftsund Gesellschaftssystems. Die kommunistische Machtübernahme in Prag hatte die Richtigkeit dieser Analyse der internationalen Lage gezeigt. Die Konsequenz dieser Erkenntnis lief darauf hinaus, den Schwerpunkt nicht auf militärische Aspekte zu legen, sondern auf die Verbesserung der sozialen und wirtschaftlichen Lebensverhältnisse der Menschen. Eine Anhebung des Lebensstandards würde die Möglichkeiten für den kommunistischen »inneren Feind«, die Gesellschaft zu destabilisieren, reduzieren. Wirtschaftliche und soziale Kooperation wäre im Kalten Krieg eine durchaus wirksame Waffe. Die Benelux-Staaten hatten die Erwartung, daß die Westunion innerhalb des größeren Zusammenhangs der Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC) als treibende Kraft fungieren könnte. Zu diesem Zweck war der Konsultationsmechanismus der Westunion sehr wichtig. An erster Stelle boten die alle drei Monate stattfindenden Begegnungen zwischen den Außenministern der Union den kleineren Mitgliedern die Gelegenheit, mit ihren britischen und französischen Kollegen internationale politische Fragen zu erörtern und damit eine Plattform für größere Einflußnahme zu schaffen. Die Hoffnung darauf schwand bald. Bevin und sein französischer Kollege Bidault informierten lediglich, zeigten aber keinerlei Interesse daran, internationale Angelegenheiten mit ihren Benelux-Kollegen zu diskutieren. Ihre Haltung verhinderte auch, daß die Westunion zu einem Ort für die Förderung und Vorbereitung der OEEC werden konnte. Die Ansichten über eine Politik der europäischen Zusammenarbeit gingen zu sehr auseinander, als daß eine Basis für ein gemeinsames Vorgehen der Westunion in der OEEC geschaffen werden konnte. Aus diesem Grund bildeten Verteidigungsfragen bei den Ministertreffen der Westunion den Kernpunkt. Die Bildung der Westunion reichte nicht aus, die Unterstützung der USA für die westeuropäische Verteidigung zu erlangen. Diese Bitte war von den Amerikanern mit der Frage nach den eigenen Anstrengungen der Westunion gekontert worden und somit ein Anreiz für den Militärausschuß der Union, mit dem Entwurf eines Verteidigungsplans zu beginnen. Von Seiten der Niederlande und Bel20

Wiehes/Zeeman, Belgium, the Netherlands and Alliances, S. 174-204.

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giens kam als Beitrag zur Reaktion auf die US-Nachfrage eine Vereinbarung über militärische Zusammenarbeit. Ungeachtet der Anzeichen von Bereitschaft für eine Zusammenarbeit trugen diese nicht dazu bei, die westliche Verteidigung nachhaltig zu verbessern. Der niederländische Diplomat E.J. Lewe van Aduard zog nach einer Sondierungsmission in den USA im März/April 1948 den Schluß, daß nicht mit unmittelbarer militärischer Hilfe von Seiten der USA zu rechnen sei, weil Washington immer noch an der Strategie festhalte, Westeuropa nach einem sowjetischen Einfall wiederzuerobern und eine effektive Verteidigung Westeuropas vor dem Hintergrund, daß die US-Truppen in Deutschland »Totalverlust« bedeuteten, eine Illusion sei21. Anstatt völlig zu verzweifeln, blieb die niederländische Regierung im Hinblick auf ein amerikanisches Engagement für Westeuropa optimistisch, da sie einige zuverlässige Informationen über Verhandlungen erhalten hatte, die seit Januar 1948 zwischen Amerikanern, Briten und Kanadiern im Pentagon geführt wurden. Als die Niederlande nach der Vandenberg-Resolution vom 11. Juni 1948 eingeladen wurden, an den zwischen den USA und Westeuropa in Washington stattfindenden Verhandlungen über eine Zusammenarbeit im Bereich der Verteidigung teilzunehmen, sagten sie sofort zu. E.N. van Kleffens, der niederländische Botschafter in Washington und frühere Außenminister, erhielt umfassende Vollmachten. Wie kein anderer Niederländer hatte er ein Konzept für eine atlantische Zusammenarbeit im Bereich der Verteidigimg ausgearbeitet, und er benötigte keine große Anleitung von Seiten seiner Regierung. Im großen und ganzen agierte er sehr unabhängig. Er trug zur Ausarbeitung des nordatlantischen Vertragskonzepts bei, weil er für die scharfen Kontroversen zwischen den Großmächten Kompromisse auszuhandeln verstand. Die Niederlande zielten auf eine multilaterale Sicherheitsvereinbarung ab, die die Vereinigten Staaten an Europa binden würde. Obwohl die Vereinbarung keine handfeste Garantie gegen eine sowjetische Aggression beinhalten würde, erhofften sie gewisse Notstandsvorkehrungen für Westeuropa, was an sich schon eine Verbesserung wäre. Die Vereinbarung sollte auf Gegenseitigkeit beruhen und keine einseitige US-Garantie sein, damit das amerikanische Engagement möglichst verbindlich wäre. Aufgrund ihrer Position als kleine Macht lag den Niederlanden das Versprechen der Vereinbarung ebenso wie die territoriale Festlegung sehr am Herzen. Einerseits fürchteten sie, in einen Konflikt zwischen den Supermächten außerhalb der atlantischen Region hineingezogen zu werden, aber andererseits befürworteten sie ein eher geopolitisches Herangehen, sobald die Gelegenheit für den Einschluß der überseeischen Territorien in Reichweite kam. Dieser Balanceakt auf niederländischer Seite resultierte aus der eigenen Unschlüssigkeit im Hinblick auf die Sachfragen wie auch aus der wechselnden Position, die die US-Delegation aufgrund fundamentaler Meinungsunterschiede einnahm. Obwohl der Entwurf des Nordatlantikvertrags von den Niederlanden mit großer Befriedigung aufgenommen wurde, versuchte Außenminister Dirk Uip21

Ebd., S. 235 f.

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ko Stikker, die Zustimmung zum Vertrag als Hebel im niederländisch-indonesischen Konflikt einzusetzen. Seit dem zweiten Feldzug gegen die indonesische Republik im Dezember 1948 war Washington sehr um eine behutsamere Politik gegenüber Sukarno und seinen Republikanern bemüht. Die Verärgerung auf Seiten der Niederlande über die scharfen Resolutionen des Sicherheitsrates war derart stark, daß Stikker die US-Regierung wissen ließ, er würde den Vertrag, wenn Washington seine Indonesienpolitik nicht ändere, eventuell nicht unterzeichnen. Der amerikanische Außenminister Acheson beschied darauf kühl, Washington werde in einem solchen Fall den Namen der Niederlande weglassen. Stikker verstand die Botschaft und unterzeichnete am nächsten Tag zusammen mit den anderen Ländern 22 . Der Nordatlantikvertrag gab dem amerikanischen Engagement für die Sicherheit Westeuropas konkrete Form, änderte aber nicht das militärische Gleichgewicht in Europa selbst. Zu diesem Zeitpunkt überließ Washington die Verstärkung der europäischen Verteidigung den Mitgliedern der Westunion, bot aber auch ältere Ausrüstung an. Die im Militärausschuß der Westunion geführten Planungsgespräche zeigten, daß seine fünf Mitglieder nicht in der Lage waren, eine Verteidigungsorganisation zu schaffen, die dem ersten Schlag eines sowjetischen Angriffs standhalten konnte. Auf kurze Sicht wurde ein solcher Angriff nicht als realistisch angesehen; Militärplaner rechneten aber in vier bis fünf Jahren mit einem sowjetischen militärischen Aufmarsch. Die Masse der Truppen mußte aus Heeresverbänden bestehen, und insbesondere auf diesem Gebiet waren die Aussichten nicht sehr rosig. Der Westunion fehlte es für die erforderliche Anzahl von Divisionen an Personal, und ein beträchtlicher Teil ihres Kriegsgeräts war in den Kolonialkriegen im Einsatz — das französische in Indochina und das niederländische in Indonesien. Der Krieg in Indonesien ging aufgrund der starken diplomatischen Intervention der USA langsam seinem Ende entgegen. Frankreich aber hatte nicht die Absicht, vor den Vietcong zu kapitulieren. Die einzig reale Alternative schien ein Einbringen des deutschen militärischen Potentials zu sein. Natürlich war dies — nur vier Jahre nach dem Sieg der Alliierten über Deutschland — ein heikler Punkt, aber den Militärplanern schien es die natürliche Lösung für das Problem der mangelnden personellen Reserven zu sein. Politisch war es im ersten Jahr nach der Unterzeichnung des Nordatlantikvertrags keine entwicklungsfähige Option. Auf der Grundlage der verfügbaren militärischen Reserven entwarf der von Feldmarschall Montgomery geleitete Militärausschuß eine westeuropäische Verteidigungsstrategie. Da die Truppen für das Konzept einer Vorwärtsverteidigung am Eisernen Vorhang nicht ausreichten, mußte die erste Verteidigungslinie am Rhein gezogen werden. Für die Niederlande hatte dieses Konzept eine sehr negative Nebenwirkung. Der nordöstliche Landesteil hinter der Ijssel würde von den Truppen der Westunion nicht verteidigt werden, und die Bevölkerung müßte im Falle eines sowjetischen Angriffs nach Westen evakuiert werden. Die Bemühun22

Wiehes/Zeeman, Stikker.

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gen der Niederlande, diesen Teil des Plans zu ändern, schlugen fehl. Die Regierung gab nach und willigte ein, als Teil des Verteidigungskonzepts von Montgomery spezielle Überschwemmungsanlagen an der Ijssel zu errichten23. Bei Parlamentariern galt das Konzept der Einbeziehung deutschen Personals als entwicklungsfähig, insbesondere bei den Experten für auswärtige Beziehungen, die sich für eine europäische Integration einsetzten. Ihrer Meinung nach mußte die Vereinigung Europas durch die Schaffung einer europäischen Föderation erreicht werden. Der neu geschaffene westdeutsche Staat mußte fest in diese Föderation eingebunden werden, und zwar auf gleichberechtigter Grundlage als Vorbedingung für den Wiederaufbau und die Sicherheit Europas. Angst vor einer sowjetischen Bedrohung und einem Rapallo-ähnlichen sowjetisch-deutschen Einvernehmen ließ diese Parlamentarier im Mai 1950 für eine deutsche Wiederbewaffnung optieren. Natürlich fürchteten sie ein Wiederaufleben eines deutschen Militarismus und einer deutschen Herrschaft über Europa, doch glaubten sie, diese negativen Entwicklungen durch eine Kontrolle über föderale oder vorföderale Institutionen wie den Europarat vermeiden zu können. Die Schaffung einer Europaarmee mit einer unabhängigen föderalen Befehlsstruktur wäre dabei von kardinaler Bedeutung24. Das Konzept einer Europaarmee wurde vom niederländischen Außenminister negativ bewertet. Er verharrte im Grunde in den Denkmustern seines Vorgängers van Kleffens während des Krieges und der niederländischen Nachkriegsregierungen, für die das Engagement der Vereinigten Staaten für die europäische Verteidigung den Eckpfeiler der Sicherheitspolitik darstellte. Stikkers Haltung wurde durch seine negative Einstellung gegenüber dem Konzept einer europäischen Föderation selbst noch verstärkt. Seiner Ansicht nach mußte alles, was sich für die »sakrosankte« amerikanisch-europäische Sicherheitsbeziehung als nachteilig erweisen könnte, vermieden werden. Eine Europaarmee konnte von Nachteil sein, weil ihre Existenz und Befehlsstruktur Anlaß zu gravierenden Konflikten im Hinblick auf die Verteidigungsstrategie für Europa im Falle eines sowjetischen Angriffs auf Westeuropa geben könnte. Stikker zufolge konnte diese Art einer amerikanisch-europäischen Kontroverse durch eine dominierende Stellung der Vereinigten Staaten in der europäischen Verteidigung vermieden werden. Jede Art von Ansammlung europäischer Truppen in einem Verteidigungssystem konnte eine Herausforderung für die amerikanische Führung darstellen und das Engagement gefährden, das durch den Nordatlantikvertrag herbeigeführt worden war25. Stikkers Ansicht über eine Stärkung der westeuropäischen Verteidigung traf sich mit der seines Vorgängers van Boetzelaer über eine Mobilisierung des deutschen Potentials für ein Nachkriegseuropa. Nur ging Stikker über den Punkt hinaus, an dem van Boetzelaer stehengeblieben war. Für van Boetzelaer war eine totale Einbeziehung Westdeutschlands auf gleichberechtigter Grundlage in den 23 24 25

Schulten, Die militärische Integration; Drijvende stuwen. Campen, The Quest for Security, S. 8 5 , 1 2 0 , 1 4 0 . Kersten, Niederländische Regierung, S. 193 f.

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wirtschaftlichen Wiederaufbau das Äußerste gewesen, während Stikker mit seinem wichtigsten Berater Dr. H. Hirschfeld Deutschland an der Verteidigimg Westeuropas beteiligen wollte, um die Lücke zwischen dem Eisernen Vorhang und der ersten Verteidigungslinie am Rhein zu schließen. Stikker hatte bereits im Mai 1949 im niederländischen Kabinett für eine deutsche Wiederbewaffnung plädiert, dafür aber keine Unterstützung erhalten. Ein solcher Schritt war für das niederländische Kabinett psychologisch unmöglich. All das blieb auch im weiteren Verlauf des Jahres 1949 während der Kabinettsdebatte über das Memorandum zur Deutschlandpolitik klar, auch wenn die Wiederbewaffnung in dem von Hirschfeld aufgesetzten Memorandum als eine mögliche Option — nach einem überzeugenden Argument für einen starken deutschen Beitrag zur westlichen Zusammenarbeit zur Sicherheit des Westens selbst — lediglich erwähnt wurde26. Zum damaligen Zeitpunkt konnte der deutsche Beitrag nur wirtschaftlicher Art sein, und die OEEC war dazu das beste Vehikel. Nach dem Ausbruch des Koreakrieges im Juni 1950 erfuhr die Debatte über die Verteidigung Westeuropas eine grundlegende Veränderung. Für Washington war dieser Krieg der Vorbote eines bevorstehenden sowjetischen Angriffs in Westeuropa — eine von vielen europäischen Politikern geteilte Ansicht. Auch Stikker neigte dieser Auffasung zu und machte sich Gedanken über die Konsequenzen. Eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben war unvermeidlich, würde aber den langsamen Prozeß des wirtschaftlichen Wiederaufbaus in den Niederlanden behindern. Eine deutsche Wiederbewaffnung innerhalb der NATO bedeutete eine Alternative. Bei der NATO-Ratssitzung im September 1950 bot sich Stikker eine glänzende Gelegenheit, seine Ansichten darzulegen. Stikkers Erinnerung zufolge hatte Acheson ihn aufgefordert, die Diskussion über eine Stärkung der westeuropäischen Verteidigung zu eröffnen und sich zugunsten einer Wiederbewaffnung Deutschlands zu äußern. Stikker erklärte, eine zuverlässige Verteidigung Westeuropas sei ohne einen deutschen Beitrag nicht möglich. Aus strategischer Sicht müsse die Konfrontationslinie zur Sowjetunion entlang des Eisernen Vorhangs verlaufen. Ohne diesen Puffer der norddeutschen Ebene seien die Gebiete Frankreichs, Belgiens, Dänemarks und der Niederlande einem Angriff ausgesetzt. Die Integration der alliierten Truppen in Westeuropa gäbe demnach für die Ausrichtung der Verteidigung eine zuverlässige Struktur ab27. Am Ende der New Yorker NATO-Ratssitzung widersetzte sich Frankreich noch immer einer deutschen Beteiligung an einer integrierten NATO-Armee für Europa. In den Niederlanden stieß Stikkers Zustimmung zu einer deutschen Wiederbewaffnung auf Kritik. Einerseits löste die Aussicht auf deutsche Soldaten starke Emotionen im Hinblick auf einen möglichen deutschen Mißbrauch seines militärischen Potentials bei der Verfolgung nationaler Ziele aus; andererseits wurde argumentiert, die simple Berechnung der Anzahl der erforderlichen Divisionen kön26 27

Wielenga, West-Duitsland, S. 84-88. FRUS 1950, III, S. 303 f.; Stikker, Memoires, S. 250.

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ne eine solide Eventualitätsplanung nicht ersetzen. Stikker sah diese Kritik als selbstverständlich an, weil seiner Meinung nach das Konzept einer Europaarmee nach dem amerikanischen Vorschlag für eine deutsche NATO-Mitgliedschaft ungeachtet des französischen Widerstands bedeutungslos geworden war. Aus seiner Sicht war die Hegemoniestellung der USA bei der Verteidigung Westeuropas garantiert, und aufgrund des substantiellen amerikanischen Beitrags in Verbindung mit der deutschen Wiederbewaffnung hatten sich die Aussichten deutlich gebessert28. Stikkers politische Ruhepause war nur von kurzer Dauer. Im Oktober 1950 legte Paris sein Alternativkonzept für eine deutsche Wiederbewaffnung vor: den Plevenplan für eine Europaarmee. Anfänglich war Stikker überzeugt, dieser Vorschlag der Franzosen werde von Washington abgelehnt. Stikker zufolge würde er die Aufstellung deutscher Truppen verzögern, weil die Ausführung des Plevenplans komplizierte Verhandlungen für die Integration der Armeen der westeuropäischen Länder erforderlich machte. Diese pragmatischen Argumente konnten den Kern der niederländischen Einwände indes nicht lange verhüllen — sie waren nämlich bereits im Oktober 1950 verbalisiert worden: Eine Europaarmee unter Beteiligung der deutschen Bundesrepublik bedeutete eine supranationale Konstruktion in Kontinentaleuropa unter Frankreichs Führung, und eben diese Tatsache wäre für die atlantische Allianz »fatal«. Besser hätte das Mißtrauen gegenüber den französischen Motiven nicht formuliert werden können. Wer auch immer gedacht haben mag, das Mißtrauen der Niederlande im Hinblick auf die hegemonialen Ziele der französischen Nachkriegspolitik in Westeuropa sei gewichen — offenbar durch die niederländische Beteiligung an den Schuman-Verhandlungen im Juni 1950 — sah sich durch die niederländische Politik im Zusammenhang mit dem Plevenplan eines Besseren belehrt. Die niederländische Regierung unterschied weiterhin zwischen ihrer Wirtschafts- und ihrer Sicherheitspolitik. Sie trat für eine wirtschaftliche Zusammenarbeit in Westeuropa auf supranationaler Grundlage ein, nachdem mit einer Vormachtstellung Frankreichs und langfristig Deutschlands gerechnet worden war. Auf dem Gebiet der Sicherheit indes legte sie einen anderen Maßstab an. Die europäischen Länder waren nicht in der Lage, sich ausreichend gegen die Sowjetunion zu verteidigen, und daher mußte Europa auf die USA setzen. Jede Kontroverse über Sicherheitsfragen innerhalb der atlantischen Allianz mußte vermieden werden. Die Bildung einer europäischen Gruppe konnte sich als ein solcher Stolperstein erweisen. Die Richtigkeit dieser Meinung war durch Frankreichs Rolle bei den Verhandlungen über den Nordatlantikvertrag klar bestätigt worden. Der niederländischen Regierung zufolge war es besser, daß sich alle europäischen NATO-Mitglieder der US-Macht unterordneten, als daß die kleineren Mitglieder zusätzlich den ehemaligen europäischen Großmächten unterworfen würden. Die Logik dieses Standpunkts war offensichtlich, aber für Washington war es wichtiger, die Franzosen für eine deutsche Wiederbewaffnung zu gewinnen. Offen28

Kersten, Niederländische Regierung, S. 195.

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sichtlich hatte die niederländische Regierung diesen entscheidenden Aspekt eine Zeitlang aus den Augen verloren. Stikker hatte erwartet, daß Washington den Plevenplan zu Fall bringen würde, und sich deshalb als Vermittler angeboten. Er legte einen politisch und militärisch detaillierten Vorschlag für integrierte NATOKräfte auf deutschem Boden vor. Stikker nahm die Angst der Franzosen vor einem Wiederaufleben des deutschen Militarismus ernst und versuchte, den supranationalen Plevenplan in eine zwischenstaatliche Struktur zur Integration alliierter Truppen und zur Kontrolle deutscher militärischer Einheiten umzuwandeln. Der Hauptunterschied bestand in der fehlenden politischen Superstruktur. Ende Dezember 1950 hatte der Vorschlag seine Wirkung als Alternative verloren. Zu dem Zeitpunkt war die niederländische Position sehr schwierig. Großbritannien und die skandinavischen NATO-Mitglieder hatten zu verstehen gegeben, sich nicht am Plevenplan — für Frankreichs Außenminister Schuman das einzig mögliche Instrument für eine deutsche Wiederbewaffnung — zu beteiligen. Für die niederländische Regierung war die Aussicht auf eine kleine kontinentale Gruppe zur militärischen Eindämmung der Bundesrepublik höchst unattraktiv und politisch unsicher. Sie hielt den Rahmen eines kleinen Europa der Sechs nicht für ein geeignetes Instrument, Deutschland militärisch zu integrieren. Für Stikker mußte mindestens Großbritannien dazugehören. Entsprechend dieser Haltung beschloß die niederländische Regierung, an der Konferenz über den Plevenplan nicht teilzunehmen und statt dessen einen Beobachter zu entsenden, wie es Großbritannien und die skandinavischen Länder taten29. Der Beobachterstatus bei der Pariser Konferenz setzte innerhalb des Außenministeriums eine Debatte in Gang. Die Befürworter einer europäischen Integration sprachen sich gegen diese kurzfristige Lösung für die Sicherheit innerhalb der NATO aus und plädierten für eine langfristige Lösung mittels einer supranationalen europäischen Integration, wie sie im Plevenplan — als bestem Rahmen für eine deutsche Wiederbewaffnung — konkrete Gestalt gefunden hatte. Im Frühjahr entwickelte sich die recht theoretische Debatte zu einer umfassenden Diskussion, bei der Fragen wie die Kooperation der Benelux-Staaten, die Haltung der bundesrepublikanischen Regierung und das Wichtigste, die Einstellung Washingtons zum Plevenplan einer europäischen Integration, an Bedeutung zunahmen. Anfangs wurde die Nichteinmischung des amerikanischen Beobachters in die deutsch-französischen Gespräche in Paris über die Prinzipien der Europaarmee als Demonstration mangelnden Interesses am Plevenplan interpretiert, was Jan Herman van Roijen, Botschafter in Washington, zufolge auf eine Fehldeutung der amerikanischen Politik zurückzuführen war; denn deutsche Wiederbewaffnung und eine Europaarmee hatten in der politischen Planung der USA vorrangigen Stellenwert. Aus US-Sicht konnte der französische Vorschlag zweierlei Zwecken dienen: einer französischen Zusammenarbeit bei der deutschen Wiederbewaffnung und einer raschen Entwicklung der europäischen Integration. Im August 1951 schien 29

Ebd., S. 196-201.

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klar zu sein, daß die Europaarmee demnächst politisch ein Faktum sein dürfte, weil sich Washington dafür entschieden hatte. Beim Zusammentreffen niederländischer Botschafter im August wurde der Regierung geraten, ihre Opposition aufzugeben und als Vollmitglied an der Pariser Konferenz teilzunehmen, damit fünf wichtige Änderungen am französischen Entwurf für die Europäische Verteidigungsgemeinschaft — so die neue Bezeichnung für die Europaarmee im Zwischenbericht vom Juli 1951 — vorgeschlagen werden konnten. Im einzelnen betrafen die Änderungsanträge erstens den Ersatz des europäischen Verteidigungskommissars durch eine Kommission, zweitens, die Beschränkung der Integration auf Wesentliches, drittens, den Verbleib von Haushaltsbeschlüssen in nationaler Hand, viertens, den Ausschluß einer französischen oder deutschen Vormachtstellung durch institutionelle Vereinbarungen und fünftens, das Recht der Mitglieder zum Austritt30. Auch wenn die Regierung diesen Rat nicht unmittelbar befolgte, mußte auch sie der politischen Realität ins Auge sehen. Im Oktober 1951 faßte sie den Entschluß zu einer vollen Beteiligung an der EVG-Konferenz in Paris, um Einfluß auf die Verhandlungen über die EVG nehmen zu können. Hendrik F.L.K, van Vredenburch, ein energischer und erfahrener Diplomat, wurde mit der Leitung der Delegation beauftragt. Die Instruktionen, die er erhielt, setzten sich aus zwei Hauptteilen zusammen: Der erste bezog sich auf die Kompetenzen und die Struktur der EVG als supranationale Institution. Hier stimmten die Instruktionen weitgehend mit der Position der Niederlande zur Montanunion überein. Das Herzstück der Instruktion betraf das Verhältnis zwischen EVG und NATO. Die niederländische Regierung favorisierte ein größeres Gewicht der NATO in strategischen und administrativen Belangen. Sie verfolgte vor diesem Hintergrund eine politische Linie, die sich der Bildung einer starken europäischen Struktur, welche zu einem Konflikt mit den USA führen konnte, entgegenstellte. Aus dieser Perspektive war eine klare Umschreibung der EVG-Kompetenzen wichtig. Nach niederländischem Prinzip sollten bereits der NATO zugesprochene Kompetenzen nicht an die EVG gehen. In letzter Konsequenz führte dieses Prinzip zu einer Unterordnung der EVG unter die NATO, oder anders ausgedrückt, die EVG sollte eine Einrichtung für die NATO werden, und zwar zur Gewährleistung eines westdeutschen Beitrags. In einer Reihe von Begegnungen zwischen NATO- und EVG-Vertretern auf höchster Ebene konnten die meisten dieser komplexen Probleme ausgeräumt werden. In vielen Fällen spiegelte die Vereinbarung den niederländischen Standpunkt wider, obwohl dies nicht hieß, die niederländischen Teilnehmer hätten einen substantiellen Beitrag zu ihrer Ausarbeitung geleistet. Im Hinblick auf die EVG blieb ein Punkt noch offen, und Stikker zeigte sich hier höchst stur, weil es für ihn hier um eine Grundsatzfrage ging. Anders als Adenauer und Schuman wollte er die traditionelle Klausel über die Dauer in den EVG-Vertrag aufgenommen haben. Für ihn war dies die logische Schlußfolgerung aus der Beziehung zwischen NATO 30

Ebd., S. 201-205.

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und EVG. Er hielt es für sinnlos, mit der EVG fortzufahren, falls der Nordatlantikvertrag 1969, oder auch später, ausliefe. Adenauer und Schuman erschien diese Idee wie ein Fluch in der Kirche, weil sie die EVG als Eckstein im ewigen Gebäude eines vereinten Europa sahen, wohingegen sich die Verbindung zwischen EVG und NATO aus der damaligen internationalen Lage ergebe. Es war denkbar, daß in der Zukunft die NATO verschwinden würde, nicht aber die EVG. Stikker blieb hartnäckig; und erst starker Druck von Seiten der USA bewegte ihn zur Annahme eines Kompromisses von Schuman. Im Falle einer Auflösung der NATO würde sich »eine neue Situation« ergeben; und diese Formel barg für die Niederlande die Möglichkeit, aus der EVG auszutreten31. Stikkers mangelnde Begeisterung für die EVG kontrastierte mit der Unterstützung seitens seines Amtsnachfolgers Johan Willem Beyen für die europäische Integration. Dieser erwies sich als ein unerschütterlicher Verteidiger des EVGVertrags, nachdem die französische Regierung versucht hatte, ihn zu verwässern. Als die französische Nationalversammlung die EVG zu Fall brachte, markierte dies den Beginn einer kurzen Periode effektiver und intensiver Verhandlungen unter britischer Führung. Das Ergebnis entsprach dem, was die niederländische Regierung 1950, gleich zu Beginn der internationalen Debatte über eine deutsche Wiederbewaffnung, favorisiert hatte. Bei der Entscheidung über eine deutsche Mitgliedschaft in der NATO und die darauffolgende Ausweitung der Westunion zur Westeuropäischen Union spielten die Niederlande eine eher unwesentliche Rolle, worin ihre internationale Position zum Ausdruck kam.

Schlußfolgerung Die niederländische Sicherheitspolitik erfuhr im Zweiten Weltkrieg und im Laufe des ersten Nachkriegsjahrzehnts eine Neubestimmung. Auf den ersten Blick fand eine grundlegende Neuorientierung von einer neutralen oder Nichteinmischungshaltung im Hinblick auf internationale Angelegenheiten zu einer Bündnispolitik im atlantischen Konnex statt. Der deutsche Angriff auf das Territorium der Niederlande vom Mai 1940 hatte gezeigt, daß das Nichteinmischungskonzept veraltet war und eine gewisse Schwäche in sich barg. Die Sicherheit des nationalen Territoriums war von der Achtung durch die angrenzenden Staaten abhängig gewesen und hatte keinen Anlaß zu irgendeiner Eventualitätsplanung gegeben. Das von van Kleffens während des Krieges ausgearbeitete Konzept regionaler Sicherheitsvereinbarungen hatte diesen wesentlichen Nachteil ausgeräumt. Die Mitgliedschaft der Niederlande in der Westunion und in der NATO erfüllte diesen Traum von einer gesicherteren internationalen Position. Soweit ist die Analyse recht klar und erweckt die Vorstellung, der Abschied von der Politik der Nichteinmischung habe sich ohne große Diskussionen und ohne ein Bewußtsein über den Bruch mit der traditionellen Sicherheitspolitik vollzo31

Ebd., S. 2 0 5 - 2 1 7 .

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gen. Der grundlegende Wandel der internationalen Lage als Folge des Zweiten Weltkrieges könnte die Leichtigkeit, mit der dieser Prozeß vonstatten ging, erklären, weil es in den wachsenden Spannungen des Kalten Krieges keine Alternative gab. Die demokratische Gesellschaftsstruktur, die kapitalistische Wirtschaftsordnung und die Abhängigkeit vom internationalen Handel ließen eine Zusammenarbeit mit den USA und Großbritannien als natürliche Alternative erscheinen. Beide Argumente sind nicht von der Hand zu weisen, verdecken aber gleichzeitig ein wesentliches Merkmal in der Neuorientierung der niederländischen Sicherheitspolitik. Bis 1940 hatten die Niederlande gehofft, Großbritannien werde als führende internationale Macht die territoriale Integrität der Niederlande schützen, nicht aus Gründen der Nächstenliebe für das britische Gegenüber an der Nordsee, sondern weil sich die Niederländer selbst als eine wesentliche Komponente im Gleichgewicht der Kräfte auf dem europäischen Kontinent sahen. Britische und niederländische Interessen gingen konform. Für van Kleffens bedeuteten der militärische Siegeszug der Deutschen in Europa 1939-1941 und die US-Intervention in den beiden europäischen Kriegen, daß der Frieden in Europa von den USA und deren neuer Position als führende internationale Macht abhing. Diese Beobachtung erklärt das große Interesse der Niederlande nach dem Krieg an einem Engagement der Vereinigten Staaten für die Sicherheit in Europa sowie die Fixiertheit auf eine damit verbundene amerikanische Führungsrolle. Die Niederlande ersetzten den britischen Schutz durch einen amerikanischen. Natürlich war die Vereinbarung mit den USA auf der Basis eines Vertrages etwas völlig anderes als die stillschweigende Übereinkunft über Sicherheit vor dem Krieg. Die Verpflichtungen in der Nachkriegsphase waren sehr verbindlich; der Verteidigungsetat verschlang einen beträchtlichen Teil des Nationaleinkommens. Auf diese Konsequenzen kam es der politischen Elite letztlich nicht besonders an. Der sozialdemokratische Premierminister Dr. Willem Drees hat diese Einstellung sehr exakt mit den Worten wiedergegeben, daß das Verteidigungsbudget die Versicherungsgebühr sei, die das Land für die US-Präsenz in Europa zu zahlen habe. Sie sollte allerdings nicht zu hoch sein, weil das ansonsten zu Lasten einer Verbesserung der sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen des Landes gehe und die Anfälligkeit für kommunistische Propaganda erhöhe32. In dem gezielten Wunsch nach Einbeziehung der USA in die europäische Sicherheit ist auch die Erklärung für den untergeordneten Stellenwert der europäischen Übereinkünfte zu finden. Die traditionelle Nichteinmischung in die europäische Großmachtpolitik wurde nach 1945 fortgesetzt und manifestierte sich in verschiedenen Erscheinungsformen: zunächst einmal im klaren politischen Ziel der Sicherheit vor Deutschland, was sich allerdings 1945 nach der totalen Zerstörung Deutschlands als eine sehr theoretische Frage erwies. Sie zeigte sich auch in der Angst vor einer französischen Hegemonialpolitik auf dem Kontinent und im starken Widerstand gegen eine Europaarmee, die in französischen oder deutschen 32

Beugel, Nederland, S. 21.

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Händen zu einem gefährlichen Instrument werden könnte. Es ist schwierig, diese Haltung als rein rational oder als Ergebnis einer profunden Analyse zu beschreiben. Sie hatte sehr starken Einfluß auf das Denken in Kategorien eines Kleinstaates. Im Falle Frankreichs fand sie durch das traditionelle Mißtrauen gegenüber der französischen Politik generell Nahrung, welches mehr auf Empfindungen denn auf eine in die Tiefe gehende Analyse der französischen Absichten zurückging· Das augenfälligste Beispiel für ein Denken in Kleinstaatmustern war das Verfolgen einer politischen Linie, die auf einer Analyse aus niederländischer Sicht basierte unter Nichtbeachtung der internationalen Machtverhältnisse und der eigenen Position. Hier offenbarten die Niederlande ihren Mangel an Erfahrungen in der internationalen Politik. Gleichwohl war es wichtig, daß sie ihre internationale Position in einem sehr frühen Stadium des Zweiten Weltkriegs auf der Grundlage einer korrekten Analyse sich wandelnder internationaler Machtverhältnisse neu definierten.

Luc de Vos und Jean-Michel Sterkendries Außenpolitik und atlantische Politik Belgiens 1949-1956 1. Voraussetzungen Die Außenpolitik Belgiens seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs von seiner spezifisch atlantischen Politik klar abzugrenzen, ist aufgrund der Wechselwirkungen zwischen seiner nationalen Politik, seiner Europapolitik und seiner internationalen Politik ein schwieriges Unterfangen. Wenn auch die nationale, europäische und internationale Machtebene — wenigstens theoretisch — eigene Entscheidungszentren besaßen, waren sie doch bei der politischen Entscheidungsfindung miteinander verzahnt. Sie sind also nicht klar voneinander zu trennen. Zu vergessen sind auch nicht die Forderungen der belgischen Teilstaaten (Regionen) im Bereich der internationalen Beziehungen und die Probleme, die sie auf diesem Gebiet mit dem zentralen Bundesstaat hatten. Seit 1944 läßt sich dennoch eine Neuorientierung in der Außenpolitik Belgiens ausmachen. Mit Gründung der Vereinten Nationen entstand eine weltumspannende Solidaritätsgemeinschaft zwischen den Staaten. Dies sollte die internationalen Beziehungen nachhaltig beeinflussen: Zu den Zielen der Sicherheit und Verteidigung des jeweiligen Staatsgebiets mit eigenen Mitteln oder durch das Bündnis mit anderen Nationen kamen von nun an solche gemeinschaftlichen Ziele wie die Erhaltung des Friedens und später die Sorge um die Umwelt, die von der Gesamtheit der Nationen verfolgt wurden. Dieses Phänomen zeigte sich auch auf regionaler Ebene. Frankreich, Großbritannien und die drei Benelux-Staaten schlossen 1948 gegen ein wiedererstarkendes und eventuell bedrohliches Deutschland den Brüsseler Pakt mit dem Ziel, eine europäische Armee aufzustellen. Nun koordinierte ein Gremium mit rein beratendem Charakter, die Westunion, die militärischen Anstrengungen der Mitgliedsstaaten. In den fünfziger Jahren integrierte sich Belgien in die politische wie militärische Struktur des 1949 geschaffenen Nordatlantikpakts (NATO). Eine Union der europäischen Staaten auf wirtschaftlichem Gebiet entstand 1951 mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (Montanunion). Damit verpflichteten sich die Mitgliedsstaaten, auf einen Teil ihrer nationalen Souveränität zugunsten des gemeinsamen Interesses zu verzichten. Diese Union wurde vollendet durch die Unterzeichnung der Römischen Verträge, deren einer die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) ins Leben rief, während der andere die Europäische Gemeinschaft für Atomenergie (besser bekannt als »Euratom«) begründete. Das Zeitalter der Interdependenz der Staa-

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ten brach an. Um ein besseres Verständnis der Problematik zu ermöglichen, die hier behandelt wird, seien kurz die Etappen der belgischen Außenpolitik von 1830 bis 1948 umrissen. Hervorgegangen aus der Revolution von 1830, wurde der belgische Staat als »Pufferstaat« zwischen Frankreich, Preußen und den Nordniederlanden geschaffen. Der dieser neuen Nation verordnete Status der Neutralität wurde durch die Großmächte der damaligen Zeit — Preußen, Österreich, Rußland, vor allem aber Frankreich und ganz besonders Großbritannien — garantiert. Im Verlauf des gesamten 19. Jahrhunderts verschanzte sich Belgien hinter dieser Neutralität, um seine Verteidigung zu sichern, auch wenn es einige Abweichungen von dieser politischen Linie gab — die Unabhängigkeit des neuen Königreichs Italien (1861) und die Vorgänge in Mexiko (1855-1867), in die belgisches Militär verwickelt war. Die Verletzung der belgischen Neutralität durch das Deutschland Wilhelms II. markierte eine Zäsur in der Geschichte Belgiens. Im Prinzip kann man dieses Ereignis als den Beginn einer neuen Ära bezeichnen (den Terminus a quo, wie die Historiker sagen), die sich bis 1945 erstreckte und in deren Verlauf die Politiker ein neues außenpolitisches Sicherheitskonzept suchten. Mit dem Ersten Weltkrieg hatte sich die von den Großmächten garantierte Neutralität als hinfällig erwiesen. König Albert I. bat also die verbündeten Mächte, den Status Belgiens zu revidieren und dem Land vollständige Unabhängigkeit auf allen Gebieten — einschließlich des militärischen — zu gewähren. Der Beitritt Belgiens zum Völkerbund, die Anerkennung der obligatorischen Rechtsbefugnis des Ständigen Internationalen Gerichtshofes (1925) — während es sich vorher um eine fakultative Rechtsbefugnis gehandelt hatte —, das Militärabkommen mit Frankreich (1920), vor allem aber der Rhein-Pakt (1925), der Bestandteil der Abkommen von Locarno war, sowie die Besetzung des Rheinlandes durch Franzosen und Belgier waren hinreichende Indizien für das Ende der Neutralitätspolitik des 19. Jahrhunderts. So kündigte sich die »Politik der freien Hand« an, die Politik der Unabhängigkeit (1936-1939), die inspiriert wurde durch König Leopold III., Premierminister Paul van Zeeland und einen Mann, der damals Außenminister war und im weiteren eine entscheidende Rolle bei der Ausarbeitung der Außenpolitik Belgiens in der Nachkriegszeit spielen sollte: Paul-Henri Spaak. Diese Politik schützte Belgien jedoch nicht vor den Truppen des Dritten Reiches, die am 10. Mai 1940 in Belgien einmarschierten. Einige belgische Minister, die zunächst nach Frankreich gegangen waren, entschieden sich schließlich für England und bildeten in London eine Regierung. Dort trafen sie Repräsentanten anderer überfallener Nationen. Da sie alle vor den gleichen Schwierigkeiten standen, wurden Kontakte zwischen ihnen geknüpft, und es entstanden Pläne für die Nachkriegszeit. Einige beabsichtigten ab 1941 ein regionales Bündnis für Westeuropa und erwogen, es unter britische Führung zu stellen. Die Vertreter Belgiens, der Niederlande und Luxemburgs trafen sich häufig. Aus dieser engen Zusammenarbeit entsprangen das Abkommen über die festgelegte Währungsparität zwischen Franc

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und Gulden sowie der Benelux-Vertrag (1944), der aus diesen Ländern eine zwar kleine, aber verschworene Gruppe machte, die fähig war, Inititativen auf regionaler Ebene zu ergreifen1. Während seines Londoner Exils hatte Spaak Gelegenheit gehabt, über die nach dem Krieg zu betreibende Außenpolitik nachzudenken, die nach seiner Auffassung drei Ebenen umfassen mußte: zuerst die der kollektiven Sicherheit, dann die atlantische Solidarität und schließlich die Integration Westeuropas2. Jeder Ebene sollte dann eine Struktur entsprechen, in die Belgien integriert werden sollte.

2. Auf dem Weg zu einer europäischen Armee In den Jahren unmittelbar nach dem Krieg wurde die gesamte europäische Politik von einer Frage beherrscht — dem politischen, diplomatischen und militärischen Status Westdeutschlands —, die einige gern durch die Schaffung einer europäischen Armee lösen wollten. Bereits seit 1947/48 ging die Idee einer möglichen Wiederaufrüstung Deutschlands um. Ursprünglich nahm Frankreich gegenüber der entstehenden Bundesrepublik eine distanzierte Haltung ein, außerdem hatte es davon profitiert, daß Deutschland Reparationen »in Naturalform« — wie das Protektorat des Saargebietes und die alliierte Kontrolle über das Ruhrgebiet — auferlegt wurden. Seit Beginn der fünfziger Jahre sprach sich jedoch der deutsche Kanzler Konrad Adenauer immer häufiger für eine deutsch-französische Annäherung aus. Mehr und mehr wuchs die Uberzeugung, daß eine neue Rechtsordnung Europas, getragen von einem europäischen Bewußtsein, aus einer wirklichen Gemeinschaft erwachsen mußte. Der Ausbruch des Koreakrieges (25. Juni 1950) machte klar, daß der Westen die Bundesrepublik Deutschland brauchte. Hinzu kam, daß die Armeen der siegreich aus dem Weltkrieg hervorgegangenen europäischen Nationen auf sich allein gestellt außerstande waren, eine Verteidigung gegenüber dem damaligen potentiellen Gegner, der Sowjetunion, zu sichern. Die französische Armee war im Begriff, in Indochina zu verbluten, und informierte Beobachter sahen die Rückschläge, die sie in der Region von Dong Khe und Cao Bang hinnehmen mußte, als Vorzeichen einer demütigenden Niederlage. Die Amerikaner akzeptierten nun die Notwendigkeit einer Verteidigung soweit östlich wie möglich, »ab dem Eisernen Vorhang« anstatt — wie noch kurz zuvor — die Aufnahme einer ersten Verteidigung an der Rheinlinie vorzusehen. Was aber konnten die 14 westlichen Divisionen gegen 175 bis 200, wenn auch kleinere, kommunistische Divisionen ausrichten? Am 17. August 1950 beantragte Adenauer bei den Vertretern der drei westlichen Besatzungsmächte die Zustimmung 1

2

Zur Außenpolitik Belgiens vor 1949 und zu seinem Beitritt zur NATO: Vos, Ein kleines Land in der großen Politik. Smets, La pensee europeenne, S. 52 f.

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zur Rekrutierung von 150 000 Freiwilligen, die ein Gegengewicht zu den ostdeutschen Volkspolizei-Bereitschaften bilden sollten. Dieser Vorschlag kam gerade zum richtigen Zeitpunkt. Die Amerikaner nahmen an, die sowjetische Strategie bestehe darin, die westlichen Kräfte weit vom westlichen Kriegsschauplatz, z.B. im Fernen Osten, zu binden, und anschließend den Hauptangriff in Westeuropa vorzutragen; denn für nicht wenige westliche Strategen war es offensichtlich, daß der Koreakrieg nur das Vorspiel zum Dritten Weltkrieg war 3 . Obwohl militärische Angelegenheiten nicht in der Zuständigkeit des Europarates lagen, befaßte sich seine Versammlung Anfang August 1950 mit diesem Problem. Der französische Sozialist Andre Philip bemerkte: »Europa kann seine Verteidigung nicht ohne Amerika organisieren. Doch selbst mit dieser Hilfe setzt es sich allen erdenklichen Risiken aus, wenn es in seinen nationalen Grenzen eingeschlossen bleibt4.« Einige Tage später (am 11. August) brachte Winston Churchill vor demselben Gremium seine Sorge angesichts des Geschehens in Korea zum Ausdruck. Unterstützt von Paul Reynaud, dem französischen Vorsitzenden des Finanz- und Wirtschaftsausschusses des Europarats, bot er seinen ganzen Einfluß auf, um die Annahme eines Vorschlages zur Schaffung einer europäischen Armee zu erreichen, die demokratischer Kontrolle unterliegen und in engem Kontakt mit den Vereinigten Staaten und Kanada stehen sollte. Dieser Vorschlag erhielt 99 JaStimmen, 5 deutsche Sozialdemokraten stimmten dagegen, und 27 Mitglieder (im wesentlichen Briten und Skandinavier) enthielten sich der Stimme. Im folgenden Monat forderten die USA die anderen NATO-Mitglieder auf, die zukünftige Wiederaufrüstung Deutschlands zu erwägen. Sie machten dabei geltend, die öffentliche Meinung Amerikas werde es nicht akzeptieren, wenn die GIs Europa ohne die Hilfe des bevölkerungsreichsten und am stärksten industrialisierten Landes des Kontinents verteidigen sollten. In Deutschland fand dieser Vorschlag bei der Sozialdemokratie und der evangelischen Kirche keine Gegenliebe. Dabei bot er nach Adenauers Plänen Deutschland die Möglichkeit, sich fest im westlichen Lager zu verankern. Die vagen Versprechungen der Russen hinsichtlich einer Wiedervereinigung Deutschlands konnten den Bundeskanzler kaum von seiner Meinung abbringen. Es gab jetzt besseres zu tun, als zur Politik von Rapallo zurückzukehren. Außerdem hatte das deutsche Volk die Gebietsverluste östlich der Oder-Neiße-Linie nicht verwunden, die Sowjetunion konnte jedoch andererseits nicht gegen die Interessen ihres polnischen Verbündeten handeln. Das Wiedererstehen des deutschen Militärs verursachte in Frankreich stärkste Beunruhigung, wenngleich Paris sehr klar das Problem erkannte, das sich aus dem Mangel an militärischen Kräften zu einer Zeit ergab, da ein Großteil der französischen Truppen in Übersee eingesetzt war. Dieser Umstand war um so bedeutungsvoller, als die Franzosen von den USA verlangten, die Verteidigungslinie so weit wie möglich nach Osten zu verlagern, zwischen Rhein und Elbe. 3 4

Wiggershaus, The Decision for a West German Defence Contribution. Bonnefous, L'Europe, S. 180.

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Die einzige Alternative, die sich zur Lösung dieses Problems abzeichnete, wurde von der zu dieser Zeit vom Ex-Gaullisten Rene Pleven geführten Regierung vorgeschlagen: die Aufstellung einer europäischen Armee5. Da die Einigung Europas ein sehr populäres Thema war, hatte man damit ein bequemes Mittel, um die französische Öffentlichkeit zugleich auch die bittere Pille der deutschen Wiederaufrüstung schlucken zu lassen. Am Anfang waren die USA von dieser Idee nicht angetan. Erst als klar wurde, daß die französische Nationalversammlung anders niemals einer deutschen Armee zustimmen würde, änderten sie ihre Haihing und sprachen sich offiziell für das Vorhaben aus 6 . Am 24. Oktober 1950 stand in Paris die Diskussion über das Projekt einer europäischen Armee auf der Tagesordnung der Nationalversammlung. Die Abgeordneten stimmten mit 343 zu 225 Stimmen dafür. Die erste Etappe zur Aufnahme von Verhandlungen mit den potentiellen Teilhabern an einer integrierten Streitmacht war bewältigt. Belgien, Luxemburg, Italien und Westdeutschland ergriffen die ihnen gebotene Gelegenheit. Die Niederlande zögerten, erst ein Jahr später (am 8. Oktober 1951) nahmen sie an dem Vorhaben teil, vermutlich unter dem Druck der Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik 7 . Indessen verhandelten die drei westlichen Besatzungsmächte — die USA, Großbritannien und Frankreich — mit der Bundesrepublik über die politischen Bedingungen für die Teilnahme dieses Landes an der europäischen Verteidigung. Die Amerikaner wollten so schnell wie möglich die Aufstellung deutscher »Combat teams« in einer Stärke von 5000 bis 6000 Mann unter dem Befehl des Atlantischen Bündnisses erreichen. Aber die Bundesrepublik war nicht mehr bereit, sich diskriminieren zu lassen. Sie hatte als einziges europäisches Land weder einen Verteidigungsminister noch einen Generalstab, und das geplante deutsche Verteidigungskontingent sollte darüber hinaus von den Alliierten kontrolliert werden! Frankreich untersuchte zudem, welche Garantien die beiden angelsächsischen Mächte der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft geben wollten. Großbritannien, gefolgt von den skandinavischen Ländern, lehnte es jedoch ab, sich in irgendeiner Form an einer europäischen Integration zu beteiligen. Die Hoffnungen waren fehlgeschlagen. Als die konservative Partei nach den Wahlen vom Oktober 1951 wieder an die Macht kam und Winston Churchill erneut Premierminister wurde, ruhten alle Hoffnungen auf ihm. Aber schon bald war die Leitlinie der neuen britischen Regierung in einem Satz zusammengefaßt: »We are with Europe, but not of Europe«. Diese Haltung brachte alle Bemühungen um die europäische Sache zum Scheitern und veranlaßte Spaak, von seinem Amt als Präsident der Beratenden Versammlung des Europarates zurückzutreten 8 . In Belgien hatte der Gesetzgeber in der Zwischenzeit Maßnahmen zur Stärkung des militärischen Potentials ergriffen. Der einheitlich katholischen Regie5 6 7 8

Carmoy, Fortune de l'Europe, S. 282. La querelle de la C.E.D., S. 5. Govaerts, Belgium, Holland and Luxemburg, S. 240. Meerssche, Europese integratie, S. 70 f.

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rung war es am 28. März 1951 gelungen, den Wehrdienst von 12 auf 24 Monate zu verlängern. Doch bereits im August 1952 wurde aufgrund des starken Drucks der Opposition die Dauer des Wehrdienstes auf 21 Monate, am Ende des Koreakrieges im Jahre 1953 noch einmal auf 18 Monate reduziert. Dagegen wuchs der Verteidigungshaushalt in dieser Zeit kontinuierlich an. Von 8,25 Milliarden BFr, das waren im Jahre 1950 nur 2,6 Prozent des Bruttosozialprodukts (BSP), stiegen die Ausgaben 1951 auf 13,38 Milliarden BFr (3,7 Prozent des BSP) und 1952 auf 19,96 Milliarden BFr (5,4 Prozent des BSP). Danach verringerte sich das Verteidigungsbudget; 1955 betrug es nur noch 3,8 Prozent des BSP. Neben dieser beträchtlichen finanziellen Leistung ist nicht zu vergessen, daß Belgien infolge des am 27. Januar 1950 in Washington abgeschlossenen bilateralen Abkommens Militärhilfe von den USA und Kanada erhielt. All dies versetzte Belgien in die Lage, 146 000 Mann unter Waffen zu halten und Luftstreitkräfte von 450 Flugzeugen sowie eine Marine mit 43 Schiffen zu mobilisieren9. Bei der Innenpolitik eines mehrheitlich katholischen Landes ist es immer von entscheidender Bedeutung, sich die Unterstützung der Kirche zu sichern, wenn man einen politischen Plan verwirklichen will. Kardinal van Roey, Primas der Belgischen Kirche, forderte von Anfang an die gesamte katholische Glaubensgemeinschaft des Landes auf, die Bestrebungen der Regierung nicht zu unterlaufen, und in seinem Hirtenbrief »Nos devoirs par rapport aux evenements actuels« (»Unsere Pflichten im Hinblick auf die aktuellen Ereignisse«) ging er sogar so weit, für die Verlängerung des Wehrdienstes und für andere Maßnahmen zum Schutz Belgiens vor der Sowjetunion zu plädieren10.

3. Das EVG-Projekt Der erste Schritt zur europäischen Integration wurde mit der Schaffung der Montanunion getan. Faktisch wurde diese auf Initiative von Robert Schuman, Außenminister der Regierung Pleven, durch den am 18. April 1951 in Paris unterzeichneten Vertrag gegründet. In Wirklichkeit war der deutsche Kanzler Konrad Adenauer der geistige Vater dieses Werkes. Er hatte es vorgezogen, daß die Montanunion als französische Initiative in die Geschichte einging. Von nun an sollte die Produktion von Kohle und Stahl, zweier Grundstoffe des modernen Krieges, von einem supranationalen europäischen Gremium kontrolliert werden, um so jedem möglichen deutsch-französischen Konflikt die Grundlage zu entziehen. Es handelte sich dabei also um eine mehr politische als wirtschaftliche Entscheidung. Die französischen Stahlproduzenten brachten ihre Unzufriedenheit zum Ausdruck, sie standen jeder Form der Einmischung der Politik in ihre Geschäfte ablehnend gegenüber. Sie ließen verlauten, daß sie im Falle eines Krieges durchaus zur Zusammenarbeit untereinander im Rahmen der 9 10

De Belgische Landmacht, S. 44 f.; Govaerts, Belgium, Holland and Luxemburg, S. 216. Roey, Au service de l'Eglise, S. 401-414 (Brief vom 25.1.1951).

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nationalen Wirtschaft fähig wären, ohne daß man sie dazu auffordern müßte. Die französischen Arbeitgeber fürchteten einerseits die deutsche Konkurrenz, aber andererseits hofften sie, die Deutschen mit Hilfe der Montanunion kontrollieren zu können. Das supranationale Modell der Montanunion stand Pate für die — freilich mißlungene — Bildung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) und letztlich für die erfolgreiche Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Der Beitritt Griechenlands und der Türkei zur NATO am 16. Februar 1952 hatte die Südflanke der Organisation verstärkt. Kammer und Senat Belgiens setzten dem Beitritt der beiden neuen Mitglieder wenig Widerstand entgegen, und die öffentliche Meinung zeigte wenig Interesse für die Angelegenheit. Das französische Parlament verabschiedete am 19. Februar 1952 einen Gesetzentwurf über die Schaffung einer europäischen Armee, und drei Monate später (27. Mai 1952) unterzeichneten Frankreich, die Bundesrepublik Deutschland, Italien und die Benelux-Länder im Salon de l'Horloge des französischen Außenministeriums in Paris den EVG-Vertrag. Er war der krönende Abschluß vieler Treffen, die in Paris zwischen den Vertretern der Regierungen dieser Länder zwischen dem 15. Februar 1951 und dem Januar 1952 stattgefunden hatten. Die vorgesehene Organisation der EVG wies eine große Ähnlichkeit mit den Strukturen der bereits existierenden Montanunion auf. Ursprünglich sollte ein Kommissar eingesetzt werden, der über die Machtbefugnisse eines Verteidigungsministers verfügen und einzig und allein einer noch zu bildenden Versammlung gegenüber verantwortlich sein sollte. Der belgische Außenminister van Zeeland wiederum schlug vor, daß dieser Kommissar nur die Beschlüsse des Ministerrats ausführen sollte, da die Versammlung, deren Bildung noch ausstand, nicht über eine ausreichende demokratische Basis verfüge 11 . Belgien unterstützte das Vorhaben der Einsetzung eines einzigen Kommissars, während die Deutschen, die Italiener und die Niederländer einem Kollegium von Kommissaren mit verteilten Befugnissen den Vorzug gaben. Trotz des belgischen Widerstandes wurde letztlich auf Vorschlag Frankreichs die prinzipielle Entscheidung über ein Kommissariat mit neun Mitgliedern — davon sechs mit und drei ohne Geschäftsbereich — getroffen. Jeder der Mitgliedstaaten sollte einen Kommissar mit Geschäftsbereich haben, während Frankreich, Italien und Deutschland darüber hinaus noch einen Kommissar ohne Geschäftsbereich stellen sollten12. Der ursprüngliche Vorschlag Frankreichs sah auch vor, daß die Versammlung der EVG einige der wichtigsten Machtbefugnisse der nationalen Parlamente übernehmen sollte. Die belgische Regierung lehnte dies ab, sie wollte sogar, daß die Versammlung dieselbe sein sollte wie die der Montanunion. Schließlich mußte sie sich einem Kompromiß beugen. Die Benelux-Länder sollten in gleicher Weise ver11

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Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten. Bestand EVG. Aktensammlung 15397. Allgemeine Akten 1948 — Okt. 1951, Note pour le Conseil des Ministres, Armee europeenne, Brüssel, 15.10.1951, S. 11, zit. nach Gonfroid, Le »monde catholique«, Bd 1, S. 57. Ebd., S. 57-64.

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treten sein, während Frankreich, Italien und Deutschland jeweils drei zusätzliche Mitglieder entsenden durften13. Innerhalb der EVG sollte die reale Entscheidungsbefugnis auf Betreiben Belgiens in den Händen des Ministerrats liegen. Schließlich sollten die Kommissare ihren jeweiligen Parlamenten rechenschaftspflichtig sein, so daß eine gewisse demokratische Kontrolle gewahrt bliebe. Für die belgische Regierung ging es dabei um eine Bedingung sine qua non für ihren Beitritt, solange es noch keine in allgemeiner und direkter Wahl gewählte Versammlung gab. Zu Beginn hatte Belgien die Einstimmigkeit von Beschlüssen im Ministerrat gefordert. Unter dem Druck der großen Staaten akzeptierte es eine gewisse Gewichtung. Die drei Großen sollten einen Koeffizienten von drei Stimmen erhalten, Belgien und die Niederlande zwei Stimmen und Luxemburg eine Stimme. Ein Beschluß sollte dann einer Mehrheit von neun von vierzehn Stimmen bedürfen14. Der Gerichtshof sollte derselbe sein wie der der Montanunion. Ursprünglich hatte Belgien versucht, den Teil seiner Streitkräfte, der unter europäischem Befehl stehen sollte, auf 5000,10 000 und 15 000 Mann zu begrenzen15. Die anderen Länder zogen dabei jedoch nicht mit. Belgien konnte jedoch verhindern, daß alle belgischen Streitkräfte integriert wurden. Im Normalfall sollten die Kräfte des Stützpunktes Kamina und das Fallschirmjägerregiment für Kommandoeinsätze, die Polizei, die Gendarmerie und die Leibgarde des Königs immer unter nationalem Befehl bleiben. Belgien erreichte weiterhin, daß im Vertragsentwurf die Unterstellung der ΕVG-Truppen unter die NATO verankert wurde, sowie ein Verbot der Aufstellung zusätzlicher nationaler Streitkräfte16. Von Anfang an hatte die belgische Delegation das Prinzip der Division als höchste nationale Befehlsebene verteidigt, und dieses wurde letzten Endes von den anderen Nationen angenommen17. In der Innenpolitik wurde der zu Beginn des Koreakonfliktes eingeführte lange Wehrdienst ernsthaft in Frage gestellt. Der belgische Verteidigungsminister De Greef sprach sich für eine im EVG-Bereich einheitliche Dauer des Wehrdienstes von 24 Monaten aus. Damit hätte er zwar innenpolitisch seine Position gestärkt. Da aber die verschiedenen Delegationen sich nicht auf einen so langen Wehrdienst einigen konnten, ließ sich eine Verkürzung des Wehrdienstes in Belgien nicht vermeiden18.

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Ebd., S. 68. Ebd., S. 69-75. Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten. Bestand EVG. Aktensammlung 15397. Allgemeine Akten 1948 — Okt, 1951, Nr. A T / 5 1 / D 1107, Organisation de 1'Armee europeenne, 15.10.1951, S. 9, zit. nach ebd., S. 51. Dok. 4, Konferenz der Minister der Benelux-Länder zum Meinungsaustausch über die Schaffung einer EVG,Brüssel, 25.10.1951, S. 5, zit. nach ebd., S. 55. Eine detaillierte Analyse der fachlichen Verhandlungen findet man in Guerisse, Les travaux du Comite interimaire, S. 18 und Anhang. Ebd., S. 76 f. Ebd., S. 78-82.

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Die militärische Ausbildung, Logistik, Verwaltung, Wehrgerichtsbarkeit sowie die Militärpolizei sollten mehr oder weniger integriert sein. Belgien befürchtete, die Rüstungsausgaben der anderen Mitgliedstaaten mittragen zu müssen, aber schließlich hielt es sich an den in der NATO geltenden Verteilerschlüssel. Es sollte auch der Tatsache Rechnung getragen werden, daß Belgien zweisprachig ist; dennoch akzeptierte Belgien, daß Französisch die Sprache des Kommissariats sein sollte19, während Englisch als Befehlssprache vorgesehen war20. Die Benelux-Staaten waren unzufrieden mit der auf fünfzig Jahre festgelegten Geltungsdauer der EVG, doch vermochten sie nicht, die deutsch-französische »Front« zu durchbrechen 21 . Einige Staaten dachten auch an eine Vereinheitlichung des äußeren Bildes der Truppen durch Einführung einheitlicher Uniformen. Bis 1953 sollte die Europäische Armee gemäß diesem Vertrag 44 bis 47 Divisionen mit jeweils etwa 13 000 Mann aufbieten. Frankreich sollte 15 bis 16 aufstellen, Deutschland und Italien jeweils 12, und die Benelux-Länder insgesamt 6 bis 7. Eine Armee ohne demokratische Kontrolle schien jedoch unvorstellbar. Deshalb wurde im Artikel 38 des EVG-Vertrages die Schaffung einer europäischen politischen Föderation vorgesehen. Damit schien es, als könnte die militärische Integration Grundlage eines politisch geeinten Europa werden.

4. Die Einstellung Belgiens und Frankreichs zur EVG Die drei Westmächte hatten versprochen, das Besatzungsregime in Deutschland zeitgleich mit der Ratifizierung des EVG-Vertrages zu beenden. Zwischen 1953 und August 1954 brach jedoch die größte politisch-ideologische Auseinandersetzung aus, die Frankreich seit der Dreyfus-Affäre erlebt hatte. Rein äußerlich betrachtet, schien es um die Wiederaufrüstung Deutschlands zu gehen, aber das Problem lag tiefer, es war ein Streit um die Existenz Frankreichs, um das Fortbestehen des Nationalstaates 22 . Warum stieß das EVG-Projekt in Frankreich auf so heftigen Widerstand? Ein Aspekt allein kann das nicht erklären; in dieser Frage spielten mehrere Elemente unterschiedlicher Herkunft eine Rolle. Sie gehören sowohl in den Bereich der französischen Innenpolitik als auch in den der internationalen Beziehungen. Zunächst wollten die Franzosen, daß die dem Vertrag unterstehenden Einheiten so klein wie möglich sein sollten, um ein militärisches Wiedererstarken 19

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Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten. Bestand EVG. Allgemeine Akte März — Mai 1952. Dok. 56: Zusammenkunft der belgischen Delegation in den Diensträumen des Botschafters Belgiens, rue de Tilsitt, unter Vorsitz von van Zeeland, 19.5.1952, S. 7, zit. nach Gonfroid, Le »monde catholique«, Bd 1, S. 98. Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten. Bestand EVG. Allgemeine Akte März — Mai 1952. Dok. 70 ff: Note des Ministers für Auswärtige Angelegenheiten, Paris, 21.5.1952, S. 4, zit. nach ebd., S. 99. Ebd., S. 101 f. Haas, The Uniting of Europe, S. 126.

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Deutschlands zu verhindern. Doch das hätte unausweichlich ein Auseinanderbrechen der französischen Armee hervorgerufen, da man schwerlich zweierlei Maß auf diesem Gebiet anlegen konnte. Schließlich war eine neue politische Mehrheit in Frankreich an die Macht gelangt. Die Initiative für eine europäische Armee war von der Regierung Pleven gekommen, die sich auf mehr als hundertsechzig Repräsentanten des Mouvement Republicain Populaire (MRP — Republikanische Volksbewegung) mit katholischer und proeuropäischer Orientierung stützte. 1954 war dagegen Pierre Mendes-France Regierungschef geworden, der von drei Abgeordnetenfraktionen unterstützt wurde — den Gaullisten, den Radikalen und den Sozialisten. Hatten nicht Angehörige der linken Intelligentsia unter anderem das EVGProjekt als »Vatikan-Europa« bezeichnet? In gewissen, auf stark protektionistischen Positionen beharrenden rechten Kreisen stand man ebenfalls jeder Form der europäischen Integration ablehnend gegenüber. Im übrigen läßt sich feststellen, daß die EVG in Frankreich aufgrund des Indochinakrieges und der Probleme in Nordafrika auf einen gewissen Widerstand stieß. In den Vorstellungen der Menschen war eine nationale Armee absolut unabdingbar für die Erhaltung des französischen Weltreichs. Darüber hinaus schien der Tod Stalins am 5. März 1953 eine Periode der Entspannung in den Beziehungen zwischen den beiden Blöcken und ihren jeweiligen Verbündeten zu verheißen. Durfte man folglich die Russen durch die Schaffung einer europäischen Armee provozieren? Außerdem trug die negative Haltung der Labour-Regierung in Großbritannien dazu bei, die Bemühungen der Europa-Anhänger zu schwächen23. Und die belgischen Reaktionen auf den EVG-Vertrag? Nach einer 1950 durchgeführten Umfrage waren 59,1 Prozent der Belgier für eine europäische Armee, während 13,5 Prozent sie kategorisch ablehnten. Im Dezember 1954, d.h. unmittelbar nach dem Scheitern der EVG, stellte man fest, daß 28,49 Prozent der Belgier das Scheitern des Vertrages bedauerten, während 26,06 Prozent darüber zutiefst befriedigt waren. In den flämischen Verwaltungsbezirken gab es mehr Anhänger als Gegner der EVG, während in Wallonien und in Brüssel die Situation genau umgekehrt war. Unter Freiberuflern war die Ablehnung der EVG am stärksten24. In den politischen Kreisen Belgiens zeigte man sich im Gegensatz dazu von Anfang an als Anhänger der EVG, wenn auch die belgische Regierung die Wiedervereinigung Deutschlands ebenso fürchtete wie seine Neutralität. Einerseits konnte ein wiedervereinigtes, unbewaffnetes und nicht in Westeuropa integriertes Deutschland von der Sowjetunion angezogen werden, andererseits ein politisch neutrales und bewaffnetes Deutschland in Europa wieder den Ton angeben25. Im

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Laer, De houding van Belgie, S. 21-23. INSOC, 1950, Nr. 5, S. 23-80; 1955, Nr. 1, S. 7-50. Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten. Bestand EVG. Aktensammlung 15397, Allgemeine Akte Nov. — 28.12.1951. Endgültige Fassung der Rede Paul van Zeelands auf der 4. Tagung des Atlantischen Rates in Rom, Nov. 1951, S. 2, zit. nach Gonfroid, Le »monde catholique«, Bd 1, S. 36.

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Februar 1953 wurde ein Sonderausschuß der Kammer gebildet, der den Vertrag und seine Folgen für Belgien untersuchen sollte. Die Regierung ließ durch Außenminister van Zeeland verlautbaren, der EVGVertrag werde die Verteidigung der freien Welt erheblich stärken. Auch biete er eine Lösung der immer noch offenen deutschen Frage, und er sei ein Beitrag zur europäischen Idee. Der belgische Minister kündigte auch an, daß im Falle des Scheiterns der EVG-Projekte Deutschland mit seiner eigenen Armee in die NATO eintreten werde, oder daß die Amerikaner dann wieder zu einer peripheren Strategie zurückkehren würden 26 . Verteidigungsminister De Greef legte seine Sicht der Dinge dar, insbesondere die rein militärischen Folgen, die sich aus dem Vertrag ergäben. Zunächst plädierte der Minister für eine europäische Armee auf der Basis nationaler Korps27. Was den im Vertrag vorgesehenen achtzehnmonatigen Wehrdienst angehe, müßte jede Änderung durch den EVG-Rat eingebracht werden 28 ; dies stünde in klarem Widersprach zur belgischen Verfassung. De Greef dementierte jedoch alle Gerüchte bezüglich einer eventuellen Denationalisierung und erklärte außerdem, daß die beiden Sprachgemeinschaften innerhalb der belgischen Divisionen erhalten bleiben würden 29 . Minister van Zeeland verwies darauf, daß der Vertrag die Entsendung von Truppen in die belgische Kolonie in Afrika, den Kongo, zuließe30. Außerdem sah Artikel 12 die Möglichkeit vor, Truppen dem integrierten Kommando zu entziehen, um möglichen inneren Unruhen zu begegnen 31 , was als Anzeichen dafür gelten darf, daß die Frage der Staatsform in den Köpfen noch sehr gegenwärtig war. Kritiker betonten, mit der Integration belgischer Verbände in die Europäischen Armee könne die Regierung weder über das Verteidigungsbudget, noch über die Dauer des Wehrdienstes, noch über die Wehrpflichtigen bestimmen. Der Staatsrat argumentierte am 15. Januar 1953, die Kommandogewalt des Souveräns über die Armee und sein Recht, Verträge abzuschließen, gehörten mit dem Beitritt zur EVG endgültig der Vergangenheit an; der Vertrag sei daher verfassungswidrig 32 . Es handele sich um einen Verlust von militärischen und diplomatischen Hoheitsrechten, ja es sei ein Angriff auf die nationale Souveränität. Ungeachtet dessen unterstützte die große Mehrheit der Parlamentarier der Christlich-Sozialen Partei Belgiens (PSC) die Regierung in ihrem proeuropäischen Vorgehen. Dennoch hatten einige Abgeordnete, wie De Schryver und van Cauwelaert Zweifel, während andere, wie Paul Struye und vor allem De Vleeshauwer, der Meinung waren, daß Belgien sein Heil nicht außerhalb der NATO suchen 26

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Pariamentsannalen, Kammer, 1953/1954, Nr. 7/8, 10.11.1953, S. 5; ebd., Nr. 2, 12.11.1953, S. 4-9. Ebd., Nr. 2,12.11.1953 S. 10. Ebd.; ebd., Nr. 9, 26.11.1953, S. 11. Ebd., Nr. 7/8, 25.11.1953, S. 13. Ebd., S. 17. Ebd., S. 18. Le Soir, 16.1.1953, S. 1.

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könne33. Zwei andere Argumente wurden von Vleeshauwer vorgebracht: der Nichtbeitritt Großbritanniens zum EVG-Vertrag und die Tatsache, daß Belgien nicht genügend Truppen hätte, um den Kongo zu verteidigen. Jedoch beeinflußte die positive Haltung des Vatikans gegenüber diesem Projekt sicher die Position der PSC-Parlamentarier. Zwar war der Vatikan noch 1951 nicht für die Wiederaufrüstung Deutschlands gewesen, da er befürchtete, daß die Sowjetunion sich dadurch hinreichend provoziert fühlen könnte, um einen Konflikt auszulösen, im Jahre 1953 jedoch setzte ein Wandel ein34. Dieser rief allerdings in der katholischen Presse Belgiens keinen wirklichen Meinungswandel hervor. So machten »La Libre Belgique«, die große nationale katholische Tageszeitung, und die regionale Tageszeitung »Le Rappel«, in ihren Artikeln weiterhin Stimmung gegen die EVG35. Vor diesem Hintergrund, und auch um die Erwartungen einer bestimmten Anzahl von Parlamentariern zu befriedigen, versprach die belgische Regierung, Vorschläge für eine Anpassung der Verfassung an die Bestimmungen der Montanunion und der EVG zu unterbreiten. Bei der anderen großen Partei des politischen Lebens in Belgien, der Belgischen Sozialistischen Partei (PSB), fürchtete man vor allem die sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Wiederaufrüstung. Die sozialistischen Jugendorganisationen hatten bereits mehr als eine halbe Million Unterschriften gesammelt, um eine Verkürzung des Wehrdienstes zu erreichen! Unterstützt von anderen Politikern, fuhr Spaak indessen fort, sich für die EVG stark zu machen: »Ich glaube, daß das unerläßlich ist, daß diese Abtretung eines Teils der Souveränitätsrechte unumgänglich ist, denn für mich fügt sich die EVG ein in den Rahmen einer europäischen Politik. Und ich glaube, daß wir versuchen müssen, ein neues Europa zu schaffen, ein integriertes Europa, ein vereintes Europa, und um das zu erreichen, müssen wir bereit sein, einige Souveränitätsrechte abzutreten36«. Obwohl zur Opposition gehörend, stellte sich die Liberale Partei auf die Seite der EVG, während die kommunistischen Abgeordneten versuchten, das »deutsche Ungeheuer« aus der Versenkung zu holen. Am 26. November 1953 stimmte die Abgeordnetenkammer über den Gesetzesentwurf in seiner Gesamtheit ab. 200 Mitglieder von 212 nahmen daran teil; 148 von ihnen stimmten mit »ja« (PSC — 96, PSB — 40, Liberale —12), 49 stimmten dagegen (9 Abgeordnete der PSC, darunter De Vleeshauwer, 30 von der PSB, darunter Camille Huymans und Hendrik Fayat 4 Liberale, darunter Hilaire Lahaye, und die 6 anwesenden kommunistischen Abgeordneten), drei enthielten sich der Stimme (je ein Vertreter von PSC, PSB und Liberalen)37. 33

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Zu Struyes Kampagne gegen die EVG, unter anderem im Rahmen der »Grandes conferences catholiques ä Bruxelles«: Le Soir, 26.3.1953, S. 5 und De Standaard, 3.5.1953, S. 5: Senaatsvoorzitter Struye zet zijn ongenadige critiek op E.D.G.-verdrag voort [Senatspräsident Struye setzt seine gnadenlose Kritik gegen die EVG fort]. Gonfroid, Le »monde catholique«, Bd 2, S. 134-136. Ebd., S. 275-283. Parlamentsannalen, Kammer, 1953/1954, Nr. 5,19.11.1953, S. 7. Ebd., Nr. 9, 26.11.1953, S. 14. Die Sitzverteilung in der Abgeordnetenkammer in der Legislaturperiode 1950-1954 war: PSC —108, PSB — 77, Liberale — 20, Kommunisten — 7.

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Am nächsten Tag las man in der Zeitung »Le Soir« vom »nationalen Zusammenhalt«, der sich in diesem Votum manifestiere, und die Zeitung fügte noch hinzu, daß »die Opposition die Interessen der Allgemeinheit über die Parteiinteressen gestellt« habe 38 . Drei Monate später (am 12. März 1954) sollte die zweite Kammer des Belgischen Parlaments über den EVG-Vertrag befinden. 167 Senatsmitglieder nahmen an der Abstimmung teil, 125 stimmten dafür (PSC — 75, PSB — 31, Liberale —19), 40 dagegen (11 von der PSC, darunter Pholien und Struye, 26 Abgeordnete der PSB, darunter Fraktionschef Henri Rolin, und die drei kommunistischen Senatoren), und zwei enthielten sich der Stimme (je einer von PSC und PSB)39. Wie ging die Abstimmung über den EVG-Vertrag in den beiden anderen Benelux-Ländern aus? Zum einen stimmte in den Niederlanden die zweite Kammer am 23. Juli 1953 mit ähnlichem Ergebnis ab. Von den 100 Parlamentariern sprachen sich 75 für den EVG-Vertrag aus, während 11 dagegen stimmten. Zum anderen wurde in Luxemburg am 7. April 1954 ein vergleichbares Ergebnis erreicht; es gab 46 Ja- und 4 Nein-Stimmen. In Deutschland hatten sich alle im Bundestag anwesenden sozialdemokratischen Abgeordneten sowie einige andere Parlamentarier am 19. März 1953 gegen die EVG ausgesprochen, insgesamt 166. Dagegen hatten 224 für den Vertrag gestimmt. Nur der starken Persönlichkeit Adenauers gelang es, die Einheit innerhalb der CDU zu wahren, denn eine beträchtliche Zahl ihrer Mitglieder — mit evangelischer und pazifistischer Ausrichtung — fürchtete den endgültigen Verzicht auf die Wiedervereinigung Deutschlands und auf die Aussöhnung mit Rußland. Bei den Pariamentswahlen in Belgien (März 1954) verlor die PSC ihre absolute Mehrheit. Die Liberalen und die Sozialisten bildeten schnell eine neue Regierung, in der Spaak wiederum das Ressort der Auswärtigen Angelegenheiten übertragen wurde. In Frankreich kündigte sich ebenfalls ein politischer Wechsel an, wie bereits erwähnt. Die Regierung war am 18. Juni im Gefolge der Niederlage von Dien Bien Phu gefallen. Damit verlor auch Außenminister Georges Bidault, ein glühender Verfechter der europäischen Idee, sein Amt. Ihm folgte Mendes-France, ein linker Politiker, der auch Präsident des Ministerrates geworden war.

5. Scheitern des Entwurfs in Frankreich Auf Bitten der Amerikaner und der Briten riet Spaak den Franzosen zur Ratifizierung des Vertrages40, da er im Aufbau der Gemeinschaft die einzige Chance für das Überleben des europäischen Kontinents sah. Nachdem er seine Kollegen

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Le Soir, 28.11.1953, S. 1. Parlamentsannalen, Senat, 1953/1954, Nr. 55,12.3.1954, S. 1223. Die Sitzverteilung im Senat für die Legislaturperiode 1950-1954: PSC — 90, PSB — 62, Liberale — 1 9 , Kommunisten — 3. Spaak, Combats inacheves, S. 275.

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aus den anderen Benelux-Staaten konsultiert hatte41, beschloß Spaak eine Konferenz einzuberufen, an der auch Vertreter Frankreichs, Deutschlands und Italiens teilnehmen sollten. Am 30. Juni 1954 traf Spaak Mendes-France, um diese Konferenz vorzubereiten. Der Präsident des Ministerrates bedeutete ihm, daß alle seine Bemühungen im Augenblick auf den Konflikt in Indochina konzentriert waren. Er verlangte außerdem von Spaak, Änderungen in den Vertrag einzubringen, da er der Meinung war, daß er sonst im Parlament nicht über eine ausreichende Mehrheit verfügte, um die Ratifizierung durchzusetzen42. Die geplante Konferenz fand in Brüssel statt. Sie begann am 19. August 1954. Die Diskussionen erwiesen sich bald als sehr langwierig. Mendes-France, eine sehr sensible Persönlichkeit, führte sich auf wie ein Angeklagter. Es gelang ihm, den anderen Delegationen zahlreiche Konzessionen abzuringen. Eine Unterredung zwischen Spaak und Mendes-France bezeugt, daß letzterer bereits vor der Zusammenkunft entschlossen war, bis zum Bruch zu gehen43. Spaak44 notierte: »Nur seine [Mendes-Frances] eigenen Probleme interessierten ihn45.« Auch das wenig diskrete Vorgehen des Botschafters der USA in Paris, David Bruce, sorgte für Unruhe. Bruce übermittelte den Delegationsleitern Botschaften von Außenminister John Foster Dulles, in denen dieser verlangte, den Forderungen der Franzosen nicht nachzugeben. Als diese davon erfuhren, waren sie darüber sehr aufgebracht46. Nach seiner Rückkehr bemühte sich Mendes-France in keiner Weise darum, den Vertrag durch sein Parlament ratifizieren zu lassen; er erklärte sich offiziell für neutral. Eine in der Zeitung »Le Monde« vom 16. August 1954 erschienene Umfrage vermittelte ein sehr gespaltenes Bild: Es gab in Frankreich etwa genausoviele Anhänger wie Gegner der EVG, während es 1952 und 1953 jeweils eine relative Mehrheit für die vorgesehene Institution gegeben hatte47. Am 30. August 1954 lehnte eine Mehrheit von 319 Abgeordneten, darunter die Kommunisten, die überwiegende Mehrzahl der Gaullisten und etwas mehr als die Hälfte der Radikalen und der Sozialisten (obwohl diese Partei offiziell die EVG unterstützte), die Behandlung des EVG-Vertrages ab. 264 Parlamentarier, unter ihnen fast alle Mitglieder der MRP-Fraktion, hatten das Projekt befürwortet. Nur zwölf Abgeordnete enthielten sich der Stimme, und die dreiundzwanzig Mit-

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Zum Zeitraum 1945-1955 schreibt Spaak: »Mit meinen beiden Amtskollegen aus den Benelux-Ländern, Bech und Beyen, bildeten wir ein Triumvirat, und wir arbeiteten im besten Einvernehmen, jeder entsprechend seinem Temperament: mehr lächelnde Mäßigung bei Bech, mehr Willenskraft und Unbeugsamkeit bei Beyen, mehr Leidenschaft bei mir. All das zusammen bildete eine Kraft, die es uns ermöglichte, unsere Rolle auszufüllen« (Ebd., S. 315). Ebd., S. 277. Ebd., S. 289 f. Eine ausführliche Biographie bei Willequet, Paul-Henri Spaak. Spaak, Combats inachevees, S. 292. Fontaine, Histoire, S. 138. Castarede, De l'Europe de la raison, S. 45.

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glieder der Regierung nahmen wie üblich nicht an der Abstimmung teil. Nach dem Ende der Abstimmung intonierten die gaullistischen und die kommunistischen Abgeordneten gemeinsam die Marseillaise, die ersten aus Nationalismus, die anderen im Namen der internationalen Solidarität der Werktätigen. Als Folge dieser Ablehnung mußte das italienische Parlament nicht einmal mehr zur Abstimmung schreiten. In Belgien dagegen hatte sich der Parlamentarische Ausschuß für Auswärtige Angelegenheiten mit knapper Mehrheit für die Gründung der EVG ausgesprochen (im März 1953 und im Juli 1954). Bei den konzeptionellen Debatten über dieses Projekt war einmal mehr festzustellen, daß die Parteien katholischer Ausrichtung eifrige Befürworter der europäischen Integration waren. In der Zeitung »Temps nouveaux« der Christlich-Sozialen Partei Belgiens, brachte der Text zu einer Karikatur (»Frauen sind wie das Wetter. Ein Narr, wer ihnen traut48«) die Enttäuschung zum Ausdruck, die in allen Bevölkerungskreisen Belgiens herrschte. Europa hatte das Stelldichein mit der Zukunft verpaßt. Warum bewirkte der Impuls, den die militärische Integration durch das EVGProjekt erfahren hatte, nicht mehr politische Einheit in Europa, so wie es einige Politiker erhofft hatten? Der Aufbau Europas basierte letzten Endes auf zwei grundlegenden Zweigen der Nachkriegswirtschaft — Kohle und Stahl. Warum war das, was auf wirtschaftlichem Gebiet möglich war, auf militärischem Gebiet nicht möglich gewesen? Zweifellos sind Fragen der Verteidigung und der Sicherheit immer von besonders sensibler Natur. Sie wurden deshalb in einigen Ländern, z.B. Frankreich, als Bestandteil der nationalen Souveränität empfunden, den man nicht an ein supranationales Organ übertragen wollte. Dagegen können sich die Austauschprozesse in einer Marktwirtschaft nach westlichem demokratischem Muster ihrem Wesen nach nicht auf einen Staat allein beschränken. Der Wirtschaftsverkehr muß ganz einfach die Grenzen überschreiten, die Abschottung der Staaten gegeneinander durchbrechen, kurz — Motor des Austausche sein. Vielleicht muß man darin einen der Gründe für den Erfolg der Aufbaujahre des europäischen Einigungswerks sehen.

6. Die Westeuropäische Union Am Tag nach der Abstimmung durch die französische Nationalversammlung prangerte der amerikanische Außenminister Dulles öffentlich die französische Haltung heftig an49. Spaak und mehr noch seinem britischen Kollegen Anthony Eden gelang es jedoch, die Verärgerung der Vereinigten Staaten zu beschwichtigen. Der Brite manövrierte geschickt zwischen Mendes-France, Dulles und Adenauer. Dulles ergriff gleichwohl Partei für Deutschland und kehrte Frankreich den 48

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Temps Nouveaux, 8 (1954), Nr. 36,4.9.1954, S. 1, zit. nach Gonfroid, Le »monde catholique«, Bd 2, S. 147. Spaak, Combats inachevees, S. 302 f.

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Rücken. Die Franzosen begannen sich isoliert zu fühlen, deshalb nahmen sie mit Erleichterung die britische Einladung zu einer internationalen Konferenz an. Sie fand am 28. September 1954 in London statt und führte die Außenminister Belgiens, Frankreichs, der Niederlande, Luxemburgs, Deutschlands, Italiens, Großbritanniens, der USA und Kanadas zusammen. Ihr Ergebnis sollte eine Ersatzlösung für die gescheiterte integrierte europäische Armee sein, da die Notwendigkeit einer militärischen Zusammenarbeit zwischen den Staaten nach wie vor gegeben war. Man kam auf die Idee, den Brüsseler Pakt um Italien und Deutschland zur Westeuropäischen Union (WEU) zu erweitern. In Belgien gab es wenig Widerstand gegen einen deutschen Beitritt zu dieser Organisation. 1955 sprachen sich in der Kammer 181 Abgeordnete dafür aus, 9 dagegen, 2 enthielten sich der Stimme. Aber bis heute ist die WEU kaum mehr als ein Ort der Diskussion, ein rein beratendes und nicht entscheidungstragendes Organ gewesen. Sie erreichte nur Ergebnisse auf dem Gebiet der Rüstungsstandardisierung; hier wirkt vor allem die im Oktober 1953 von Frankreich, Italien, den Niederlanden, Belgien und Luxemburg geschaffene FINBeL (seit 1956 FINABeL). Schließlich ist hervorzuheben, daß über die WEU Großbritannien seinen Platz in der europäischen Integration wiedergefunden hat. Für die deutsche Wiederbewaffnung wurde 1955 unter dem Einfluß der Vereinigten Staaten eine Lösung gefunden, allerdings wurden dadurch die Ausgangsdaten der europäischen Sicherheit stark verändert 50 . Diese Lösung ermöglichte es, von nun an auf dem Gebiet der Operationsplanung eine Strategie der Vorneverteidigung anzuwenden. Im Fall eines bewaffneten Konflikts würde das Territorium Deutschlands ebenfalls verteidigt, und die Aufnahme der Verteidigimg sollte vom Rhein auf eine wesentlich weiter östlich gelegene Linie verlagert werden. Gegenüber der sowjetischen Bedrohung hatte Belgien nun ein schützendes Glacis östlich seiner Grenzen.

7. Ein kleines Land als Mitglied eines großen Bündnisses In den Tagen nach der Unterzeichnung des Brüsseler Pakts am 17. März 1948 wurden zwischen den Amerikanern, den Kanadiern und den Briten Verhandlungen über die Grundlagen der zukünftigen NATO geführt. Etwas später veranlaßte die amerikanische Regierung ihr Parlament zur Annahme dieses Entwurfs. Der amerikanische Außenminister nahm Verbindung mit den Botschaftern der fünf Mitgliedstaaten des Brüsseler Pakts auf. Dabei spielte der Vertreter der Niederlande, van Kleffens, eine wichtige Rolle. Kleffens neigte im Prinzip stärker zu einer atlantischen Gemeinschaft als zu einem Regionalpakt, wie er von Belgien befürwortet wurde. Die Verhandlungen mündeten schließlich in einen Vertragsentwurf, zu dessen Beitritt Island, Dänemark, Norwegen, Italien und Portugal 50

Deutschland war in der Zwischenzeit der WEU (1954) und der NATO (1955) beigetreten.

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eingeladen wurden. Der NATO-Vertrag wurde am 4. April 1949 in Washington unterzeichnet. Die Debatte über den NATO-Beitritt im belgischen Parlament wies viele Parallelen zu der über den Brüsseler Pakt auf. Die kommunistischen Abgeordneten beharrten auf dem aggressiven Charakter des Vertrags und bestritten, daß er mit der Charta der Vereinten Nationen im Einklang stehe. Die erste Kammer des Parlaments — die Abgeordnetenkammer — sprach sich am 4. Mai 1949 mit 139 Stimmen gegen die 22 Nein-Stimmen der Kommunisten bei einer Enthaltung für den Vertrag aus. Bei dieser Abstimmung waren 40 Abgeordnete nicht anwesend, darunter ein Kommunist. Anschließend wurde der Vertrag an den Senat, die zweite Kammer des belgischen Parlaments, überwiesen (12. Mai 1949), wo er mit 127 Stimmen gegen die 13 Stimmen der kommunistischen Fraktion (von der 4 Mitglieder abwesend waren) ratifiziert wurde. Ein Zufall der Geschichte wollte es, daß am selben Tag die Blockade Berlins endete 51 . Das atlantische Bündnis mußte am Anfang seines Bestehens schwierige Zeiten durchleben. Während der Suezkrise von 1956 reagierten Frankreich und Großbritannien auf die Nationalisierung des Kanals durch Gamal Abd el-Nasser, indem sie auf die altgewohnte »Kanonenbootpolitik« zurückgriffen. Gemeinsam mit Israel marschierten sie in Ägypten ein. Der weitere Gang der Ereignisse ist bekannt, die Reaktion von Präsident Dwight D. Eisenhower, der von den USA ausgeübte Druck und der ruhmlose Rückzug der westeuropäischen Alliierten. Diese politische Situation brachte die belgische Regierung in eine äußerst unangenehme Lage, da sie zwischen ihren Beziehungen zu Frankreich und Großbritannien einerseits und zu den USA andererseits hin- und hergerissen war. Die Ereignisse im Nahen Osten hatten ebenso wie die in Ungarn Rückwirkungen auf die belgische Innenpolitik. In der Vollversammlung der Vereinten Nationen hatte sich der Vertreter Belgiens bei der Abstimmung über die Resolutionen, die Frankreich und Großbritannien zum Waffenstillstand aufforderten, der Stimme enthalten. Diese Geste überraschte viele, denn fast alle Länder, darunter die USA, hatten für diese Resolution gestimmt. Belgien enthielt sich, weil es einerseits die französisch-britische Intervention bedauerte, andererseits aber nicht die Freundschaft zu zwei seiner traditionellen Verbündeten beschädigen wollte. Außenminister Spaak wurde deshalb vom sozialistischen Fraktionsvorsitzenden im Senat, Henri Rolin, heftig kritisiert. Es war nicht das erste Mal, daß Spaak wegen seiner Politik von seinen Parteifreunden angegriffen wurde. In der PSB warf man Spaak seine proamerikanische Haltung und seine Vorbehalte gegenüber der neuen sowjetischen Politik vor. Außerdem herrschte seit einiger Zeit zwischen Spaak und dem Vorsitzenden der PSB, Max Busset, kein Einvernehmen mehr. Mehr noch, Mitte Dezember 1956 war allgemein bekannt, daß Spaak von der politischen Bühne Belgiens abtreten würde, um Generalsekretär der NATO zu werden 52 . 51

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Parlamentsannalen, Kammer, 1948/1949, 4.5.1949, S. 13; ebd., Senat, 1948/1949, 12.5.1949, S. 1448. Eyskens, De Memoires, S. 418.

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Luc de Vos und Jean-Michel Sterkendries

Die Suezkrise zeigte hinlänglich die Schwäche des westlichen Bündnisses. Vor allem in Frankreich wurden dadurch die antiamerikanischen Gefühle geschürt, die bei einem Teil der Bevölkerung bereits vor dieser Krise existiert hatten. All das verstärkte sich noch, als Charles de Gaulle 1958 erneut an die Macht kam und die Allianz in Frage stellte. 1966 zog Frankreich seine Streitkräfte aus der militärischen Struktur des Bündnisses zurück, gleichwohl blieb es Mitglied der NATO und der WEU. Das war der Grund, weshalb das Oberste Hauptquartier der Alliierten Streitkräfte in Europa (Supreme Headquarters of Allied Powers in Europe, abgekürzt SHAPE) seinen Sitz von Fontainebleau nach Belgien verlegte, und zwar nach Casteau (in der Nähe von Möns, Provinz Hainaut), während die zivilen Institutionen sich in Evere in der Nähe von Brüssel niederließen.

8. Zusammenfassung Belgien hatte ab 1830 eine Periode der Neutralität durchlebt, aber die Invasion der deutschen Truppen zerstörte 1914 das durch die Übereinkunft der Nationen geschaffene Gleichgewicht. Die zweite deutsche Aggression von 1940 besiegelte das Scheitern des neutralistischen Konzepts, das sich in der Zwischenzeit zu einer Politik der Unabhängigkeit entwickelt hatte. Belgien war auf der Suche nach einem neuen Gleichgewicht. Während des Zweiten Weltkriegs arbeiteten die in London im Exil lebenden belgischen Politiker Entwürfe für das Belgien der Nachkriegszeit aus. Alle waren auf die Zusammenarbeit zwischen den Staaten gerichtet, sei es auf globaler, atlantischer oder regional-europäischer Ebene. Die Staaten konnten nicht mehr auf sich allein gestellt für ihre Sicherheit aufkommen, der Nationalismus wurde aufgebrochen, zwischen den Staaten entstand nach und nach eine gegenseitige Abhängigkeit. Die von Spaak propagierte dreistufige Außenpolitik Belgiens wurde nicht Wort für Wort umgesetzt, sondern erfuhr einige Modifizierungen. So war Belgien unter den ersten Nationen, die der UNO beitraten, und seine Integration in die militärpolitische Struktur der NATO verlief parallel zu seinen Bemühungen um Europa. Der Zeitverlust durch das Projekt einer europäischen Armee ist wohl in erster Linie auf das Problem des Festhaltens an der nationalen Souveränität zurückzuführen. Für einige Länder, wie z.B. Frankreich, war dieses Problem der Stein des Anstoßes und wurde eine der Ursachen für das Scheitern der EVG, während die Benelux-Länder diese Klippe ohne Probleme umschifften. Für Belgien war das um so einfacher, als es den Mittelpunkt eines neuen Gleichgewichts für seine Außenpolitik suchte und ein politischer Wille zur Erfüllung dieses Anspruchs existierte.

Hermann-Josef Rupieper Die NATO und die Bundesrepublik Deutschland 1949-1956 1. Einleitung Zweifelsohne hätten sich die Beziehungen zwischen den westlichen Siegermächten und der westdeutschen Bevölkerung nicht so rasch und grundlegend geändert, wenn die sowjetische Politik in Nachkriegseuropa und besonders in der sowjetischen Besatzungszone von der großen Mehrheit der Bevölkerung nicht als äußerst bedrohlich empfunden worden wäre. Psychologisch war die Mehrheit der Deutschen bereit, wie sowohl das Verhalten der Wehrmacht in den letzten Kriegsmonaten als auch die Flüchtlingstrecks nach Westen zeigen, sich aus Furcht vor den Russen und Angst vor Vergeltung wegen des deutschen Vernichtungskrieges in Osteuropa nach Westen zu orientieren1. Auch von der amerikanischen Besatzungsmacht in den ersten Nachkriegsjahren durchgeführte Meinungsumfragen sprechen eine deutliche Sprache2. Der Weg von der bedingungslosen Kapitulation bis zur allmählichen partnerschaftlichen Westintegration verlief jedoch weder geradlinig, noch war er für die Politiker in Westdeutschland überschaubar. Deutsche Vorstellungen über die Entwicklungen in Nachkriegseuropa waren selbstverständlich nicht gefragt. Zu sehr hatten Angriffskrieg, Besatzung, Ausbeutung der besetzten Länder und Holocaust das Ansehen des deutschen Volkes und seiner Politiker in Europa und der Welt erschüttert. Nicht selten galt Nachkriegsdeutschland als Forschungsfeld von Anthropologen und anderen Sozialwissenschaftlern für Feldstudien, um herauszuarbeiten, warum sich Deutschland offensichtlich so stark von den westlichen Demokratien unterschied und zweimal im Lauf eines Jahrhunderts europäische Kriege ausgelöst hatte, die zu Weltkriegen führten3. Allenfalls war es für sicherheitspolitisch Interessierte möglich, nach dem ersten Schock der Wahrnehmung des Ausmaßes der Kriegszerstörungen und der Atomisierung der Gesellschaft politische, wirtschaftliche und sicherheitspolitische Probleme in enger Bindung und unter Berücksichtigung der Interessen der Besatzungsmächte in aller Verschwiegenheit zu formulieren. Gerade deshalb ist bemer1

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3

Siehe Löwenthal, Vom Kalten Krieg zur Ostpolitik, S. 609; Henke, Die amerikanische Besetzung, S. 169 ff. Merritt/Merritt, Public Opinion in Occupied Germany, mit einer Fülle von Beispielen; siehe auch dies., Public Opinion in Semisovereign Germany; Noelle/Neumann, The Germans, S. 553; Clemens, Changing Perceptions, S. 29 ff. Siehe Rodnik, Postwar Germans; The Civic Culture.

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kenswert, daß bereits etwa zwei Jahre nach Kriegsende (west)deutsche Politiker und ehemalige Generale der Wehrmacht, die nicht mit dem Odium der Nähe zur NSDAP und zu Hitler belastet waren, Überlegungen über die deutsche Stellung in Europa anstellten, die einerseits die prekäre Entwicklung der Verschlechterung der Beziehungen der Siegermächte untereinander zum Anlaß nahmen, um über sicherheitspolitische Fragen nachzudenken. Zu dem Zeitpunkt hätten öffentliche Diskussionen dieses heiklen Themas noch als Verstoß gegen alliierte Entmilitarisierungskonzepte mit Strafen geahndet werden können4. Die Phase einer weitgehenden sicherheitspolitischen Abstinenz dauerte etwa bis zum Beginn der Berliner Blockade, der ersten wichtigen Zäsur für den Wandel der alliierten Politiker gegenüber den Westdeutschen, will man nicht frühe Äußerungen des späteren Bundeskanzlers Konrad Adenauer aus dem Herbst 1945 heranziehen, die immer wieder zitiert worden sind, um die Festlegung Adenauers auf die Sicherung der Westzonen zu untermauern: »Das von Rußland besetzte Gebiet scheint für eine nicht absehbare Zeit [aus diesen Überlegungen] ausscheiden zu müssen5.« Zwar wurden sicherheitspolitische Überlegungen gelegentlich in der von den Besatzungsbehörden kontrollierten Presse aufgegriffen, aber eine Erfüllung deutscher Sicherheitsbedürfnisse konnte bei den Westmächten trotz der zunehmenden Konfrontation zwischen Ost und West keineswegs eingefordert werden. Von 1948 bis zum Ausbruch des Koreakrieges im Juni 1950, der zweiten Zäsur, wurde auch von westdeutschen Politikern und sicherheitspolitisch interessierten Personen, zunächst noch vorsichtig, dann immer offener die Problematik der westdeutschen Sicherheit im Kalten Krieg in die Öffentlichkeit getragen. In diese Phase fielen die Diskussionen im Deutschen Büro für Friedensfragen, kursorische Debatten im Parlamentarischen Rat, bei denen sicherheitspolitische Überlegungen zunächst nur allgemein als Grundrechte eines Staatswesens angesprochen wurden und ausschließlich an einer westeuropäischen Koalitionsarmee orientiert sein konnten, zumal die Entmilitarisierungsbestimmungen des Potsdamer Abkommens weiter bestehen blieben und im Petersberger Abkommen vom 22. November 1949 noch einmal von der Bundesrepublik auf Wunsch der Westalliierten ausdrücklich der Verzicht auf die Schaffung bewaffneter Einheiten bestätigt worden war. Bis zur Gründung der Bundesrepublik spielte daher die am 4. April 1949 gegründete NATO in den öffentlichen Äußerungen westdeutscher Politiker nur eine marginale Rolle6. Daran anschließend folgte eine Phase, die bis zur Aufnahme der Bundesrepublik Deutschland in die NATO im Mai 1955 reichte und durch die innen- und außenpolitische Auseinandersetzung um eine sicherheitspolitische Konzeption für die junge Bundesrepublik gekennzeichnet war, die Sicherheit für und auch 4 5 6

Wettig, Entmilitarisierung, S. 234 ff. mit der Entwicklung deutscher Positionen. Küsters/Menning, Kriegsende und Neuanfang, S. 206. FRIJS 1948, III, S. 344; zur Rolle des Koreakrieges für die sicherheitspolitischen Diskussionen in der Bundesrepublik siehe Mai, Westliche Sicherheitspolitik, bes. S. 99-152; Schubert, Wiederbewaffnung und Westintegration, S. 17-21.

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vor Deutschland bringen sollte. Für die bundesdeutsche Politik beinhaltete dies auch die Suche nach Wegen, die mittelfristig die Wiederherstellung der deutschen Einheit nicht ausschlossen. Die Prioritäten dieser Politik, die Suche nach Sicherheit, Souveränität, Freiheit und Wiedervereinigung bestimmten die Auseinandersetzungen in der Politik der jungen Bundesrepublik nach 1949 und wurden von den Vertretern der politischen Parteien und gesellschaftlichen Gruppierungen unterschiedlich gewichtet. Die folgenden Ausführungen sollen einen Überblick über die westdeutschen Diskussionen darstellen. Dabei kann es nicht nur darum gehen, die sicherheitspolitische Dimension der Westbindung zu betonen. Vielmehr handelte es sich bei dieser Entwicklung um grundsätzliche Fragen der Neuorientierung des Staatswesens nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus, die in Parallelität zu den sicherheitspolitischen Überlegungen geschahen und die Basis für sie bildeten: 1. die politisch-verfassungspolitische Entscheidung zur Gründung eines demokratischen Verfassungsstaates als Abkehr von deutschen Sonderwegen und Zurückweisung von Nationalsozialismus und Kommunismus; 2. eng damit verbunden war die Herausbildung der politischen Kultur einer Zivilgesellschaft, die jede Sonderstellung des Militärs in der Gesellschaft aufgrund der historischen Erfahrungen von Kaiserreich und Weimarer Republik ablehnte; 3. die wirtschaftliche Integration in die von den USA dominierte Weltmarktordnung und 4. die sicherheitspolitische Dimension eines noch ungesicherten Staatswesens an der Grenze der sich herausbildenden Blöcke. Unter Berücksichtigung dieser Probleme war die Sicherheitspolitik der Angelpunkt aller Entwicklungen, ohne die ein prosperierendes demokratisches Staatswesen nur schwer aufgebaut werden konnte 7 .

2. Vom Kriegsende zum Grundgesetz Jede Diskussion der Stellung von Regierung, Politik und Öffentlichkeit zur NATO in den Jahren 1949-1956 muß davon ausgehen, daß Einstellungen zur und Perzeptionen der NATO in der bundesrepublikanischen Gesellschaft sowohl traditionelle Haltungen als auch Erfahrungen rekapitulierten, die in den Jahren der Weimarer Republik und der NS-Zeit geprägt worden waren und in der Zeit der Besatzungspolitik 1945-1949 im kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung präsent waren. Zunächst wurden alle sicherheitspolitischen Konzeptionen bereits vor der Gründung der NATO mit Blick auf die geopolitische Lage Westdeutschlands formuliert. Die Rede des amerikanischen Außenministers James F. Byrnes im Sep7

Mai, Westliche Sicherheitspolitik, S. 99 ff.; Schwarz, Entscheidung für den Westen, S. 9 f.; Dokumente zum Zusammenhang von Westintegration, Sicherheit und deutsche Frage siehe Sicherheitspolitik der Bundesrepublik; Westintegration, Sicherheit und deutsche Frage.

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tember 1946 in Stuttgart wurde, so Carlo Schmid8, als Ankündigung der Bereitschaft der USA zur Verteidigung Westeuropas gegen die Sowjetunion verstanden. In privaten Kreisen ließen sich Politiker der ersten Stunde aus einem breiten Parteispektrum wie Konrad Adenauer (CDU), Theodor Heuss (FDP), Carlo Schmid (SPD), Hans Ehard (CSU), Gebhard Müller (CDU), Eberhard Wildermuth (FDP) und andere wohl auch mit Duldung der Alliierten von ehemaligen Wehrmachtoffizieren über Sicherheitsfragen informieren. Eine wichtige Funktion bei der Herausbildung sicherheitspolitischer Vorstellungen nahm auch das am 15. April 1947 in Stuttgart gegründete Deutsche Büro für Friedensfragen beim Länderrat der amerikanischen Zone ein9, das zunächst zur Vorbereitung einer deutschen Konzeption für einen Friedensvertrag gedacht war, dessen Mitarbeiter jedoch sehr schnell erkennen mußten, daß auf absehbare Zeit keine gesamtdeutsche Regelung möglich war. Daraufhin kümmerte man sich um sicherheitspolitische Aspekte der westdeutschen Realität, auch wenn man weiterhin von »Deutschland« sprach. Hier wurden auf Veranlassung von zivilen Mitarbeitern der Behörde von ehemaligen Generalen der Wehrmacht wie Herbert von Böckmann, Leo Geyr von Schweppenburg, Hans Speidel und anderen Analysen zur Bedrohungssituation eines entwaffneten Deutschlands angefertigt, die auch an die Mitglieder des Verfassungskonvents in Herrenchiemsee und den Parlamentarischen Rat gelangten. In diesen Analysen ging es vor allem um internationale Sicherheitsgarantien für das entmilitarisierte Deutschland. Einig war man sich weitgehend dahin, daß eine Verteidigung gegen Angriffe erlaubt sei. Da eine europäische Lösung der Sicherheitsproblematik kaum erreichbar schien, wurde in diesem Konnex zum Beispiel auch die Gewährleistung der deutschen Sicherheit durch die UNO diskutiert. Man war sich ferner bewußt, daß das Problem der Sicherheit implizit auch die Frage der Teilung Deutschlands aufwarf, da man nach menschlichem Ermessen nicht für die Deutschen in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) sprechen oder planen konnte10. Die Mitglieder des Verfassungskonvents und des Parlamentarischen Rates haben, obwohl diese Frage nicht im Zeitraum der Verhandlungen stand, gleichwohl Überlegungen über die Sicherheit Westdeutschlands angestellt, was sich nicht zuletzt in den Artikeln 24 und 26 des Grundgesetzes zeigte, die den Beitritt zu kollektiven Sicherheitssystemen erlaubten und die Übertragungen von Hoheitsrechten auf supranationale Organisationen gestatteten. In den Parteien und der Öffentlichkeit wurden diese grundlegenden Weichenstellungen jedoch nur rudimentär wahrgenommen oder äußerst zurückhaltend behandelt11. Die Formulierungen änderten jedoch nichts daran, daß aus eigener Kraft die Lösung der sicherheitspolitischen Probleme nicht angestrebt werden konnte. 8 9 10

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Schmid, Erinnerungen, S. 277. Piontkowitz, Anfänge westdeutscher Außenpolitik; Foerster, Innenpolitische Aspekte. Höfner, Die Aufrüstung, S. 85 ff. mit wichtigen Informationen aus erstmals ausgewerteten Nachlässen; Foerster, Innenpolitische Aspekte, S. 405 ff. Ebd., S. 421-i29; Höfner, Die Aufrüstung, S. 104-122; Hrbik, Die SPD, S. 147.

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Eine wichtige Rolle bei der Vorbereitung sicherheitspolitischer Konzeptionen nahm auch seit März 1948 der Laupheimer Kreis ein, zu dem neben den oben genannten Personen im Umfeld des Deutschen Friedensbüros auch Theodor Eschenburg, Generalleutnant a.D. Adolf Heusinger, Otto Lenz, August Heinrichsbauer, Friedrich Sieburg, der Historiker Hans Rothfels und andere gehörten, die sich gegenseitig über die Diskussionen und die Sicherheitslage informierten12. Bereits seit 1946/47 hatten sich ferner ehemalige Generalstabsoffiziere, später die Angehörigen der 1949/50 gegründeten Soldatenverbände und des Wehrpolitisch Interessierten Kreises mit der Verteidigung der Westzonen, später der Bundesrepublik gegen die Sowjetunion befaßt. Allen Beteiligten war klar, daß es sich hierbei um ein gesamteuropäisches Problem handelte. Eine Verteidigung Westeuropas ohne deutsche Hilfe war jedoch nicht möglich. Aus diesem Bewußtsein heraus wurden sehr schnell Forderungen an die Westmächte nach Gleichberechtigung, Anerkennung und Akzeptanz der ehemaligen Wehrmachtsoldaten gestellt13. Diese Hinweise auf die allgemeinen Überlegungen zur sicherheitspolitischen Stellung Deutschlands im Konnex des Kalten Krieges sind notwendig, um deutlich zu machen, daß bereits vor der Gründung der NATO am 4. April 1949 und vor der Gründung der Bundesrepublik Deutschland von einzelnen Vertretern der politischen Parteien, ehemaligen Wehrmachtoffizieren und sicherheitspolitisch interessierten Personen relativ weitgehende Überlegungen angestellt worden sind, die zumeist eine westdeutsche Sicherheitspolitik im Konnex einer westeuropäischen Konstellation betrafen und damit die Grundlage für das Konzept einer Koalitionsarmee legten. Andererseits waren sich noch bei der ersten Wehrdebatte im Deutschen Bundestag am 16. Dezember 1949 alle Fraktionen einig in ihrer Ablehnung einer Wiederbewaffnung auf westdeutschem Gebiet, und Adenauers Interviews zur Sicherheitspolitik Ende 1949 riefen bei den Westmächten und in der westdeutschen Bevölkerung beträchtliche Unruhe hervor14.

3. Die Regierung Adenauer Für den ersten Bundeskanzler, Konrad Adenauer, war die Westbindung der jungen Bundesrepublik Deutschland der Dreh- und Angelpunkt seiner politischen Überzeugung. Bereits frühzeitig erkannte er, daß die Option für den Westen auch eine Option für den Atlantikpakt implizierte. So erklärte er am 26. April 1949 vor der CDU/CSU-Arbeitsgemeinschaft in Königswinter: »Wenn wir diesen deutschen Bund schaffen, dann [...] optieren wir für die Mächte, die im Atlantikpakt vereinigt sind. Das sind die Mächte, die sich zusammengeschlossen haben, um

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Höfner, Die Aufrüstung, S. 66 ff.; Wettig, Entmilitarisierung, S. 244; Foerster, Innenpolitische Aspekte, S. 414. Meyer, Zur Situation, S. 690 ff. Wettig, Entmilitarisierung, S. 281 ff.; Richardson, Deutschland und die NATO, S. 17 ff.; Foerster, Innenpolitische Aspekte, S. 442 ff.

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gegenüber Asien die christlichen und die europäischen Ideale hochzuhalten15.« Ziel dieser Politik war es aus der Sicht des Kanzlers, einerseits die europäischchristliche Zivilisation und Deutschland vor dem bolschewistischen Asien zu retten; andererseits sollte die Bundesrepublik ein »Mindestmaß an politischer und militärischer Sicherheit« erhalten und fest an den Westen gebunden werden16. Bereits kurze Zeit nach der Gründung der NATO hatte Adenauer als Präsident des Parlamentarischen Rates in einem Interview am 25. Mai 1949 deutlich gemacht, daß eine künftige Bundesregierung als gleichberechtigter Partner diesem kollektiven Sicherheitssystem beitreten sollte17, eine Position, die er auch nicht aufgab, als die französische Sicherheitspolitik mit dem Pleven-Plan im Oktober 1950 die kollektive Verteidigungspolitik des Westens auf ein »Nebengleis« lenkte18. Auch wenn der Bundeskanzler die europäische Integration zur Überwindung nationalstaatlicher Gegensätze anstrebte und in einer europäischen Armee »die Anfänge eines wirklichen Europas, einer europäischen Macht« sah19, so war für ihn aus sicherheitspolitischen Gründen die Präsenz der USA in Westeuropa unverzichtbar. Nur die USA und damit die NATO garantierten eine adäquate Abschreckung gegen eine Machtausdehnung der Sowjetunion. In den Jahren 1950-1952 forderte er trotz der Verhandlungen über eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft immer wieder die Aufnahme in die NATO und gab offensichtlich diese Hoffnung nie auf. In seinem Verständnis gewährte nur die NATO durch die Präsenz der USA Sicherheit. Den Pleven-Plan hielt er, wie auch der deutsche Verhandlungsführer bei den Pariser Gesprächen, der spätere Verteidigungsminister Theodor Blank, für indiskutabel und instruierte Blank entsprechend20. In Adenauers Verständnis zeichnete sich eine NATO-Lösung der deutschen Sicherheitsproblematik durch mehrere Vorteile aus: Die NATO-Organisation war bereits vorhanden und würde sofort Sicherheit gewähren, während die EVG erst noch geschaffen werden mußte. Niemand konnte sagen, wie lange die zu erwartenden komplizierten Verhandlungen dauern würden. Der Atlantikpakt war seiner Natur nach zunächst noch ein politischer Pakt, konnte daher nicht aggressiv sein und von der Sowjetunion auch nicht als Offensivbündnis empfunden werden21. Im Konfliktfall besaßen zudem alle Vertragspartner der NATO ein Mitspracherecht. Deutschland würde nicht mehr Objekt alliierter Politik sein22. Für Adenauer, der über eine Beteiligung an einem Verteidigungsbündnis auch die Rückgewinnung der Souveränität uncf die Gleichberechtigung der Bundesrepu15 16 17 18 19

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Die Unionsparteien, S. 476 f. Gersdorff, Adenauers Außenpolitik, S. 275; Wiggershaus, Die Entscheidung. Wettig, Politik im Rampenlicht, S. 94. Zum Begriff siehe Schwarz, Adenauer, S. 879. Die Unionsparteien, S. 260: Adenauer am 9. Januar 1949 vor der CDU/CSU-Arbeitsgemeinschaft. Gersdorff, Adenauers Außenpolitik, S. 280. Lenz, Im Zentrum, S. 163 (Adenauer am 5.11.1951); Reed, Germany and NATO, S. 10. Lenz, Im Zentrum, S. 245, 4.2.1952.

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blik im Bündnis anstrebte, bot die NATO daher auch aus innenpolitischen Gründen einen entscheidenden Vorteil gegenüber der EVG, in der die deutsche Gleichberechtigung durch französische Verhandlungspositionen eingeschränkt war. Die NATO-Lösung, die Adenauer während der Verhandlungen über den EVG-Vertrag sowohl bei den alliierten Hohen Kommissaren als auch durch Walter Hallstein in Paris immer wieder ins Spiel brachte, hätte die Diskriminierung der Bundesrepublik beseitigt und Adenauer in den Auseinandersetzungen mit der SPD-Opposition unter Kurt Schumacher geholfen23. Auch nachdem ihm von amerikanischer Seite mehrfach deutlich gemacht worden war, das erste Ziel sei die europäische Einigung, gab er die Hoffnung auf einen späteren NATO-Beitritt nicht auf, waren doch nur auf diese Art und Weise die mit der Dauer des Ratifizierungsverfahrens in Frankreich und der Kritik der SPD-Opposition im Bundestag, ja der Unzufriedenheit der eigenen Partei und der Koalitionsparteien über die Vorleistungen des Kanzlers gegenüber den Westalliierten zunehmenden Probleme zu bewältigen24. Besonders die FDP setzte sich im Verlauf der Wehrdebatte für die Durchsetzung deutscher Rechte ein und betonte wesentlich stärker als CDU und SPD den Gedanken einer Nationalarmee. Außerdem wurden aus der eigenen Partei und den Parteien der Koalitionsregierung immer wieder Stimmen laut, die Fragen der Sicherheitspolitik erst nach letzten Versuchen zur Schaffung der deutschen Einheit behandeln wollten und die »Politik der Stärke« gegenüber der Sowjetunion für einen Irrweg hielten25. Ferner existierte sowohl im Bundestag als auch in gesellschaftlichen Vereinigungen eine kleine aber öffentlichkeitswirksame Gruppe von Kritikern der Westintegration, die zur Rettung der deutschen Einheit Neutralitätsmodelle diskutierten und EVGwie NATO-Lösung ablehnten26. Die Kritik aus der eigenen Koalition änderte jedoch nichts daran, daß der Kanzler in seinen öffentlichen Äußerungen bis zum Scheitern der EVG in der französischen Nationalversammlung am 30. August 1954 an dem innen- und militärpolitisch umstrittenen Konzept einer europäischen Armee festhielt. Danach ging es ihm vor allem um die Teilnahme »an der westlichen Verteidigung ohne Diskriminierungen« und den direkten Beitritt in das Nordatlantische Bündnis27. Für den Pragmatiker Adenauer waren die Rückgewinnung der Souveränität und die Mitgliedschaft in der NATO die zentralen Ziele seiner Europapolitik, konnte er doch nur in diesem Rahmen seine deutschland- und europapolitischen Vorstellungen innen- und außenpolitisch durchsetzen, zumal auch die Finanzierung der Verteidigungslasten der Bundesrepublik im Rahmen der Aufbringung 23 24 25

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27

Gersdorff, Adenauers Außenpolitik, bes. S. 279-291; Lenz, Im Zentrum, S. 239. Adenauer, Teegespräche, S. 107. Wagner, FDP und Wiederbewaffnung, S. 41-65, S. 114 ff., 157 ff.; siehe auch Heuss/Adenauer, Unserem Vaterland zugute; Mai, Westliche Sicherheitspolitik, S. 141 ff.; Schubert, Wiederbewaffnung und Westintegration, S. 149 ff. Dohse, Der Dritte Weg, mit Beispielen; Schubert, Wiederbewaffnung und Westintegration, S. 128-150. Adenauer, Erinnerungen 1953-1955, S. 292; Gersdorff, Adenauers Außenpolitik, S. 312.

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der Kosten für die Besatzungstruppen und später der Finanzausgleich für die NATO-Truppen nicht unumstritten war28. Für den Bundeskanzler besaß die Sicherheitsfrage nicht nur eine militärische, sondern auch eine psychologische und politische Funktion. Amerikanische Truppen in Deutschland im Rahmen der NATO waren auch ein Pfand der amerikanischen Sicherheitsgarantie, konnte man doch davon ausgehen, daß sie bei einem sowjetischen Angriff sofort involviert sein würden29. Für Adenauer bildete der angestrebte Beitritt zur NATO somit die Krönung der Westbindung und die endgültige Sicherung der Bundesrepublik Deutschland in einer westlichen Wertegemeinschaft. Dieses Ziel war im Herbst 1954 greifbar. In den Verhandlungen um die Pariser Verträge wird die Dominanz dieser Konzeption in Adenauers Denken erneut deutlich. Um so mehr mußten ihn und seine Berater die Diskussionen in Folge des »New Look« in der Eisenhower-Administration und die Vorlage des RadfordPlanes treffen, da man offensichtlich auf die nukleare Dimension der Verteidigung nicht vorbereitet war und zunächst an den Vorgaben zur Aufstellung westdeutscher Streitkräfte festhielt30.

4. Opposition und Gewerkschaften Während Adenauer für seine Außen- und Sicherheitspolitik relativ klare Vorstellungen besaß, die jedoch auch in seiner eigenen Partei und der Koalitionsregierung nicht unumstritten waren, da die Frage der Wiedervereinigung beim Bundeskanzler hinter den unmittelbaren Zielen Souveränität und Sicherheit rangierte, war die Position der Opposition wesentlich komplizierter. Auf einer Sitzung am 10./11. Dezember 1948 beschäftigte sich der Parteivorstand der SPD in Abwesenheit des erkrankten Kurt Schumacher offenbar zum ersten Mal mit dem Problem der »deutschen Sicherheit«. Bereits zu diesem Zeitpunkt ließ sich der Vorstand von Überlegungen leiten, die in den folgenden Jahren wie ein roter Faden die politische Argumentation hinsichtlich der sicherheitspolitischen Überlegungen bestimmten und das brisante Problem einer deutschen »Wehrverfassung« zunächst einmal aufschoben, ohne daß man zu diesem heiklen Thema in einer Partei mit einem pazifistischen Flügel eine eindeutige Position beziehen mußte: Für Verteidigungsfragen waren die alliierten Militärgouverneure zuständig, eine Position, die im Januar 1949 auch noch von CDU und CSU vertreten worden war. Schließlich hatten die Alliierten Deutschland entmilitarisiert und erklärt, daß ein Verteidigungsbeitrag nicht notwendig sei, ja die Eliminierung militaristischer Traditionen zu einem grundlegenden Ziel der Besatzungspolitik erklärt. Damit waren Zuständigkeiten festgelegt, an denen die Sozialdemokratische Partei auch nicht zu rütteln dachte. 28 29 30

Hierzu Henzler, Fritz Schäffer, S. 402 ff.; Strauß, Erinnerungen, S. 248. Ebd., S. 242. Cioc, Pax Atomica, S. 1 ff.; Greiner, Das militärstrategische Konzept, S. 211 ff.; ders., Nordatlantische Bündnisstrategie, S. 116 ff.; Lyman, Nato and Germany, S. 89 ff.

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Zur Verhinderung einer Aggression aus dem Osten, die durchaus nicht ausgeschlossen wurde, war nach Meinung führender sozialdemokratischer Politiker jedoch der »Ausbau einer demokratisch zuverlässigen Polizei« notwendig. Gegen die Gefahr eines »östlichen Totalitarismus stellte man den Aufbau einer »konsequente[n] und soziale[n] Politik in Westdeutschland«. Genauso wichtig war, so Carlo Schmid, daß zwar in der Zukunft ein Wehrbeitrag nicht grundsätzlich ausgeschlossen wurde, dieser jedoch nur im Rahmen eines kollektiven Sicherheitssystems erfolgen konnte31. Als sich der Parteivorsitzende Kurt Schumacher wenig später zu diesem Thema äußerte, klang die Ablehnung schon schärfer. Er sah in den Überlegungen zur Wiederbewaffnung eine Reaktion der Regierung auf russische Interessen hinsichtlich der »Remilitarisierung der Ostzone« und stellte fest: »Die Idee aber, darauf mit einer Remilitarisierung des Westens zu antworten, ist vom Gesichtspunkt des Friedens, der nationalen Moral und der einfachsten Menschlichkeit ganz indiskutabel.« Mit dieser Äußerung verband er scharfe Angriffe auf die Politik des Bundeskanzlers und betonte als Ziel der Sozialdemokratie den »ökonomischen Magnetismus, der den Osten anziehen und die Menschen geistig und politisch erobern kann«32. Mit dieser scharfen Ablehnung eines westdeutschen Wehrbeitrages, die bis zum Ausbruch des Koreakrieges im Juni 1950 beibehalten wurde, nahm der Parteivorsitzende sicherlich Rücksicht auf die breite pazifistische Strömung innerhalb der Partei, die sich nach den Erfahrungen mit dem deutschen Militarismus und den Schrecken des Zweiten Weltkrieges gegen jeden Wehrbeitrag aussprach. Auf dem SPD-Parteitag im Mai 1950 wandte Schumacher sich ferner mit dem Argument, der Beitritt zum Europarat würde auch den Eintritt in die NATO nach sich ziehen, gegen eine Beteiligung der Bundesrepublik am Parlament in Straßburg. Hier wird jedoch bei Schumacher, der die Meinung der pazifistischen Kräfte seiner Partei keineswegs teilte, eine weitere Überlegung deutlich: Es mußte sichergestellt werden, daß Deutschland offensiv östlich der Reichsgrenzen von 1937 verteidigt werden konnte, um das Land »vor dem Schicksal der verbrannten Erde zu bewahren«. Ob Schumacher diese Position, die er von nun an mehrfach wiederholte, wirklich für realistisch hielt oder ob er darin vornehmlich eine Chance sah, Entwicklungen, die von der SPD ohnehin nicht kontrolliert werden konnten, zu beeinflussen, um die Einheit der Partei aufrechtzuerhalten, muß offenbleiben. Die Argumentation implizierte jedoch keine prinzipielle Ablehnung der NATO33. Nachdem Bundeskanzler Adenauer in einem Interview mit der »New York Times« am 17. August 1950 die Verstärkung der amerikanischen Truppen in der 31

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Löwke, Für den Fall, daß, S. 3 6 - 4 0 ; Die SPD unter Kurt Schumacher, Sitzung vom 1 0 . / I L 12.1948; Klotzebach, Der Weg zur Staatspartei, S. 210, Albrecht, Kurt Schumacher, S. 75. Zur Haltung der C D U / C S U im Januar 1949 siehe Die Unionsparteien, S. 369: »Solange Deutschland nicht handlungsfähig ist, obliegt den Besatzungsmächten die treuhänderische Verantwortung für den Schutz der deutschen Sicherheit.« Schumacher, Kampf; Albrecht, Kurt Schumacher, S. 76; Hrbik, Die SPD, S. 147 ff. Albrecht, Kurt Schumacher, S. 76; Artner, A Change of Course, S. 3-54.

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Bundesrepublik, die Aufstellung von Polizeieinheiten und die Schaffung einer »starken deutschen Verteidigungskraft« gefordert hatte, antwortete Schumacher weinige Tage später, am 23. August. Er unterstützte zwar die Forderung nach amerikanischen Truppen, erklärte die Verhandlungsbereitschaft seiner Partei hinsichtlich einer Bundespolizei, lehnte jedoch scharf eine Aufstellung deutscher Einheiten ab, bevor nicht die Ostgrenze der Bundesrepublik durch amerikanische und andere alliierte Truppen dermaßen gesichert war, daß bei einem eventuellen sowjetischen Angriff eine Offensivverteidigung an »Njemen oder Weichsel« gewährleistet war34. Als Schumacher am 17. September 1950 erneut Stellung bezog, betonte er wiederum das Problem eines Krieges auf deutschem Boden, kritisierte jedoch auch die in seiner Partei verbreitete »Ohne-mich«-Haltung und ließ erkennen, daß die Neuwahl des Bundestages vor einer derartig gravierenden Entscheidung wie einem westdeutschen Verteidigungsbeitrag notwendig sei, da bei den Bundestagswahlen 1949 die Wiederbewaffnungsfrage noch keine Rolle gespielt hatte. Außerdem stellte sich die zentrale Frage nach der Aufrechterhaltung der Einheit der Nation im geteilten Deutschland. Eine Volksbefragung lehnte er wohl auch mit Blick auf die Propaganda der KPD und der DDR ab. Genauso ablehnend verhielt sich Schumacher gegenüber dem Pleven-Plan, der seiner Meinung nach weder die deutsche Gleichberechtigung brachte noch die Offensivverteidigung Deutschlands ermöglichte. Die Diskussionen um einen Verteidigungsbeitrag im Rahmen der EVG brachte neue Argumente, ohne daß die alten aufgegeben worden wären. Schumacher betonte nunmehr immer wieder die Gefahren für die deutsche Einheit, die sich aus einer zu engen militärischen Bindung an den Westen ergäben, und warnte gleichzeitig vor dem Wiedererstehen des Einflusses des Militärs auf die Gesellschaft35. Auch die Unterzeichnung der EVG-Verträge änderte nichts an den grundlegenden Positionen der SPD. Schumacher wie auch andere SPD-Politiker waren durchaus bereit, die Bundesrepublik gegen eine als aggressiv empfundene Sowjetunion zu verteidigen, aber ihre Ansichten über eine Verteidigungskonzeption waren meilenweit von den Vorstellungen der Westmächte entfernt, die die Bundesrepublik in den fünfziger Jahren und darüber hinaus zum Gefechtsfeld machten36. Auf dem Parteitag in Dortmund 1952 war es der Wehrexperte der SPD, Fritz Erler, der die grundsätzliche Zustimmung der Partei zu westdeutschen Streitkräften und die Beteiligung an einem System der kollektiven Sicherheit unter der Voraussetzung deutscher Gleichberechtigung zum Ausdruck brachte. Er stellte eine Verbindung her zwischen den Bemühungen um die deutsche Wiederverei34

35 36

Schumacher, Die deutsche Sicherheit, S. 8,11; Albrecht, Kurt Schumacher, S. 77; Hrbik, Die SPD, S. 150 ff.; allgemein siehe Gerster, Zwischen Pazifismus und Verteidigung. Albrecht, Kurt Schumacher, S. 77; Hrbik, Die SPD, S. 147 ff. Albrecht, Kurt Schumacher, S. 81; Hrbik, Die SPD, S. 163 ff.; zur militärstrategischen Diskussion in der Bundesrepublik und teilweisen Übereinstimmung dieser Positionen mit der Haltung der SPD siehe Brill, Bogislaw von Bonin.

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nigung, um ein europäisches Sicherheitssystem, die Gleichberechtigung aller Teilnehmerstaaten und die demokratisch-parlamentarische Kontrolle zur Verhinderung einer militärischen Entwicklung wie in der Weimarer Republik37. Alle sicherheitspolitischen Konzepte mußten der SPD entweder außenpolitisch oder innenpolitisch Schwierigkeiten bereiten, da die Sozialdemokraten grundsätzlich in den Jahren 1950-1955 immer wieder Chancen für ein Ausloten der Position der Sowjetunion sahen, auf der Priorität der Wiedervereinigungspolitik beharrten, aber sich nicht in der Lage zeigten, den Gordischen Knoten von Einheit, Sicherheit, europäischer Integration, Präsenz der USA auf dem europäischen Kontinent und verteidigungspolitischen Realitäten zu zerschlagen 38 . Daher wirken die unterschiedlichen Konzepte in der SPD, die von einem kollektiven Sicherheitssystem im Rahmen der UN-Charta über eine koalitionäre Armee der westeuropäischen Staaten bis zum Verzicht auf den Beitritt zu einem Bündnis für den Fall der Wiederherstellung der Einheit reichen und zumeist ohne Zeitvorstellung blieben, relativ diffus und inkonsequent. Um unterschiedliche Zielsetzungen unter einen Hut zubringen, blieb es beim »Ja-Aber« der Partei39. Nachdem die SPD-Opposition nach dem Scheitern der EVG für kurze Zeit in ihren Positionen gestärkt schien und Vier-Mächte-Verhandlungen und »Bündnislosigkeit«, jedoch nicht Neutralität forderte 40 , setzten sich allmählich die Pragmatiker in der Partei durch, die wie Fritz Erler, Helmut Schmidt oder Adolf Arndt die »NATO-Lösung nicht mehr absolut und unter allen Umständen verwerfen« wollten. Sie hatten erkannt, daß auch die Frage der Wiedervereinigung nicht vor Sicherheit und Souveränität gelöst werden konnte 41 . Auch die von Sozialdemokratie, einem Teil der Gewerkschaften und einigen Theologen getragene PaulskirchenBewegung konnte an dieser Entwicklung nichts ändern. Zwar wurden die Verträge zum NATO-Beitritt und die Gesetzgebung zur Schaffung der Bundeswehr gegen die Stimmen der SPD im Bundestag angenommen, aber die Partei war trotz aller innerparteilichen Probleme auf dem Wege, die Bundeswehr zu akzeptieren und bei der Wehrgesetzgebung mitzuarbeiten 42 . Wenn die Sozialdemokratie erst in der Endphase der Auseinandersetzungen um einen westdeutschen Verteidigungsbetrag zusammen mit den Gewerkschaften aktiv wurde — und dies auch noch halbherzig —, so war dies nicht zuletzt 37

38

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42

Hrbik, Die SPD, S. 166 ff.; Volkmann, Die sozialdemokratische innerparteiliche Diskussion; zu Erler siehe Soell, Fritz Erler. Hrbik, Die SPD, S. 147 ff.; Volkmanri, Die sozialdemokratische innerparteiliche Diskussion, S. 156 ff. Hrbik, Die SPD, mit Hinweisen auf Erich Ollenhauer, Gerhard Lütkens, Schmid, Heinz Kühn; Brill, Bogislaw von Bonin, S. 229 f. Hrbik, Die SPD, S. 214 ff. Brief Andt an Ollenhauer, 5.11.1954, zit. nach Volkmann, Die sozialdemokratische innerparteiliche Diskussion, S. 170 f. Hrbik, Die SPD, S. 244 f.; Cioc, Pax Atomica, S. 1 ff.; Volkmann, Die sozialdemokratische innerparteiliche Diskussion, S. 171 ff.; allgemein zum Verhältnis von Militär und Gesellschaft siehe Bald, Militär und Gesellschaft, S. 53 ff.; Rupp, Außerparlamentarische Opposition.

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darauf zurückzuführen, daß der DGB, obwohl die Mehrheit der Gewerkschafter Mitglied der SPD war, unter seinem 1. Vorsitzenden Hans Böckler zunächst an einer Sicherung der Mitbestimmungsrechte in der Montanindustrie interessiert war, die man nur über eine Kooperation mit dem Bundeskanzler erreichen zu können glaubte. Außerdem sah der DGB-Vorsitzende in der Ausdehnung des Kommunismus in Osteuropa eine Bedrohung für eine demokratische Gesellschaftsordnung. Ähnlich wie Adenauer lehnte Böckler eine westdeutsche Armee ab, zeigte jedoch seine Bereitschaft zur Unterstützung einer gleichberechtigten deutschen Beteiligung an einer europäischen Streitkraft43. Der Wille zur Verteidigung des neuen Staatswesens nach innen und außen bedeutete zudem, daß man sich um die soziale Integration der ehemaligen Soldaten kümmern mußte. Da die Gewerkschaften eine wichtige Rolle im öffentlichen Meinungsbildungsprozeß spielten und nach den Erfahrungen der Weimarer Republik und der NS-Zeit nicht bereit waren, sich nur auf wirtschaftspolitische Probleme zu beschränken, war es selbstverständlich, daß sie zu Fragen der Sicherheitspolitik, einem zentralen Thema des demokratischen Wiederaufbaus, Stellung nehmen mußten und wollten. Wenn der Bundesvorstand daher am 21. November 1950 eine Erklärung zur »Verteidigung der westlichen Kultur und der persönlichen Freiheit« verabschiedete und gleichzeitig für ein europäisches kollektives Sicherheitssystem votierte, so befand man sich nur scheinbar in Übereinstimmung mit der Position der SPD, denn die Ablehnung von Schuman-Plan und Pleven-Plan durch Schumacher, der im Schuman-Plan ein »Vorzimmer der NATO« sah, widersprach dem Ziel des DGB, soziale Gerechtigkeit und Vollbeschäftigung für die Arbeiterschaft zu erlangen. Dies war nur im europäischen Konnex möglich44. Für die SPD-Mitglieder in den Gewerkschaften bedeutete diese Konzeption einen Loyalitätskonflikt, der allerdings dadurch gemildert wurde, daß sich die Nachfolger Böcklers, Christian Fette und Ludwig Rosenberg zu einer europäischen Lösung der Sicherheitsproblematik und zu einer Europa-Armee bekannten. Schwieriger wurde die Lage durch das Scheitern der EVG. Sie wurde noch komplizierter, weil innergewerkschaftlich durch ein Aufbrechen von Konflikten zwischen DGB und einigen Einzelgewerkschaften die bisherige »moralische Rückendeckung« der Regierung in der Sicherheitsfrage wegfiel und die Gewerkschaften durch die Politik des Bundeskanzlers in der Mitbestimmungsfrage äußerst verärgert waren. Mit der Durchsetzung der Planungen für eine NATO-Lösung durch die Bundesregierung sowie die USA und Großbritannien in den Pariser Verträgen näherten sich die Gewerkschaften immer mehr der Position der SPD und betonten nunmehr die Notwendigkeit einer Auslotung aller Chancen für die Wiedervereinigung 43

44

Foerster, Innenpolitische Aspekte, S. 531 f.; Cioc, Pax Atomica, S. 18 ff.; Volkmann, Zur innenpolitischen Diskussion. Volkmann, Gewerkschaften, S. 149 ff.; Artner, A Change of Course, S. 1 ff.; Bald, Militär und Gesellschaft, S. 65 ff.

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und eine allgemeine Abrüstung. Gleichzeitig tat sich ein Konflikt zwischen dem DGB und einem Teil der Einzelgewerkschaften und Mitglieder auf, da sich viele ihrer Mitglieder an der Paulskirchenbewegung beteiligten. Außerdem sah sich die Gewerkschaftsführung in dieser Phase mit einer massiven Propaganda der KPD und des FDGB, der kommunistischen Gewerkschaftsorganisation der DDR, konfrontiert. Nachdem der Beitritt zur NATO erfolgt war, akzeptierten die Gewerkschaften allmählich das Bündnis, zumal die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Rahmenbedingungen den Gewerkschaften Einflußnahmen auf die Gestaltung der Streitkräfte erlaubten45.

5. Kirchen und öffentliche Meinung Wurden bisher die Positionen der wichtigsten politischen Parteien und die Haltung der Gewerkschaften skizziert, so soll nunmehr knapp auf die Haltung der Kirchen und die öffentliche Meinung eingegangen werden. »Die Haltung der beiden Kirchen in der Bundesrepublik in der Frage der politischen und militärischen Westintegration war [...] im Anfang ein direktes Spiegelbild ihrer Einstellung gegenüber dem neugegründeten Staat46.« Hinter dieser Formulierung verbirgt sich nicht nur die Problematik der Wiederherstellung der deutschen Einheit und der Zeithorizont der Akteure, sondern auch eine grundsätzliche Ausrichtung der Politik. Die Evangelische Kirche ging von der staatlichen Einheit Deutschlands aus, während die Katholische Kirche die Bundesrepublik als ein Provisorium von unabsehbarer Dauer ansah, das zur Sicherung von Freiheit und Demokratie in den Westen integriert werden mußte. Deshalb stand die Evangelische Kirche einem westdeutschen Verteidigungsbeitrag — gleichgültig ob in der EVG oder in der NATO — wesentlich skeptischer gegenüber. Gerade deshalb ist es bemerkenswert, daß sich die Positionen der beiden Kirchen bis zum Koreakrieg und teilweise darüber hinaus kaum voneinander unterschieden. Nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges und den Entmilitarisierungsbestrebungen der Alliierten beherrschten antimilitaristische Grundpositionen beide Kirchen und die Öffentlichkeit. Die Auseinandersetzungen zwischen Adenauer und seinem Innenminister Gustav Heinemann um einen Wehrbeitrag, in denen unter anderem auch konfessionelle Aspekte eine Rolle spielten, sind dafür nur ein Indiz47. Mit der Forderung nach Aufstellung einer europäischen Armee im Herbst 1950 änderte sich allmählich die gemeinsame Einstellung der Kirchen, auch wenn auf Seiten des Linkskatholizismus Forderungen nach »sozialer Aufrüstung« statt militärischer Aufrüstung vertreten wurden und es durchaus nationale Kreise in 45 46

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Volkmann, Gewerkschaften, S. 153-161; Bald, Militär und Gesellschaft, S. 65 ff. Doering-Manteuffel, Die Kirchen und die EVG, S. 317; ders., Katholizismus und Wiederbewaffnung; zur Evangelischen Kirche siehe Vogel, Kirche und Wiederbewaffnung. Koch, Heinemann und die Deutschlandfrage, S. 106 ff.; vgl. dagegen Gerstenmaier, Streit und Friede, S. 328 f.

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der Katholischen Kirche gab, die, wie die Katholische Arbeiterbewegung (KAB), eine Europa-Armee ablehnten und eine nationale Armee bevorzugten. Das Konzept der innerhalb des Katholizismus populären europäischen Integration auf der Basis einer christlich-abendländischen Zivilisation führte die Katholische Kirche hinter die Positionen des Bundeskanzlers, während die Evangelische Kirche sich spaltete — Konflikte, die auch in der interkonfessionellen CDU ausgetragen wurden48. Da die Frage eines (west)deutschen Wehrbeitrages nicht nur traditionelle Erfahrungen und die Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges tangierte, sondern auch die politische, wirtschaftliche und soziale Ausrichtung der Nachkriegsgesellschaft betraf, kann es kaum überraschen, daß die öffentliche Meinung, wie alle zeitgenössischen Untersuchungen zeigen, zutiefst gespalten war, in ihren Reaktionen schwankte und eindeutige Mehrheiten bei Meinungsumfragen nur selten zustande kamen49. Gegen diese ambivalente Haltung der Bevölkerung wurden unter Leitung von Staatssekretär Otto Lenz öffentlichkeitswirksame Einrichtungen (die Arbeitsgemeinschaft Demokratischer Kräfte [ADK], die Gesellschaft für Wehrkunde, die Atlantische Gesellschaft und andere Organisationen) aufgebaut und aus Reptilienfonds des Bundeskanzleramtes finanziert50. Die Bedeutung dieser Organisationen für die Durchsetzung eines Wehrbeitrages bei einer mehrheitlich ablehnenden oder ambivalenten Bevölkerung, für den Beitritt zur NATO und die Akzeptanz der Bundeswehr in der Gesellschaft ist nur schwer einzuschätzen. Für den Bundeskanzler war sie beachtlich51. Wichtiger als diese Propagandainstrumente war sicherlich, daß für die Mehrheit der Bürger der Bundesrepublik die Sowjetunion als Bedrohung empfunden wurde und der Beitritt zur NATO durch die amerikanische Präsenz auf westdeutschem Boden als Garant für eine höchstmögliche Sicherheit in einer komplexen Nachkriegswelt empfunden wurde. Daß die Verteidigungskonzeption der NATO jedoch keineswegs absolute Sicherheit liefern konnte, blieb lange Zeit ein wunder Punkt der westdeutschen Verteidigungspolitik52.

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Doering-Manteuffel, Die Kirchen und die EVG, S. 320 ff.; Gerstenmaier, Streit und Friede, S. 3, 321. Naef, The Politics, Τ. 1, S. 496-519 mit graphischen Übersichten; Volkmann, Die sozialdemokratische innerparteiliche Diskussion, S. 166 ff.; Noelle/Neumann, The Germans, S. 436 ff.; Merritt/Merritt, Public Opinion; vgl. auch Merritt, Democracy imposed, S. 365 ff. mit einer Übersicht der Einstellungen zur NATO, zur EVG und zu einem Verteidigungsbeitrag ohne eindeutige Festlegung. Naef, The Politics, Τ. 1, S. 519-523; Nolte, Deutschland und der Kalte Krieg, S. 402-412; teilweise polemisch, aber mit vielen Informationen siehe Stosch, Die Adenauer-Legion. Ebd., S. 13 ff., S. 79 ff. Die Darstellung der Diskussion in Brill, Bogislaw von Bonin, S. 117 ff.; Cioc, Pax Atomica, S. 18 ff.; Pöttering, Adenauers Sicherheitspolitik, S. 91 ff.

Georges Soutou Frankreich und das atlantische Bündnis 1949-1956 1. Einleitung Es ist nur unzureichend bekannt, daß Frankreich bei der Entstehung des Atlantikpakts eine wesentliche Rolle spielte. Angesichts der für unterrichtete Kreise bereits offensichtlichen Bedrohung durch die UdSSR dachte bereits im Herbst 1945 in Paris manch einer an ein Bündnis mit Amerika1. Nach dem Scheitern der Londoner Konferenz vom Dezember 1947 führte Außenminister Georges Bidault mit seinen Kollegen Ernest Bevin und George Marshall Gespräche, um ein Bündnis zwischen den drei Ländern zu sondieren. 1948 drängte Paris sehr stark darauf, daß die Vereinigten Staaten so eng wie möglich an den militärischen Gremien des im März auf britische Initiative geschlossenen Brüsseler Vertrages beteiligt und daß darüber hinaus eine echte atlantische Allianz ins Leben gerufen werden sollte. Für die Mehrheit der französischen Verantwortlichen in Politik und Militär war das Bündnis mit den Vereinigten Staaten die Hauptsache, der Brüsseler Pakt war angesichts der UdSSR unzureichend2. Und auch allgemein gesehen, bestand in dem gesamten Zeitraum, mit dem sich diese Studie beschäftigt, und noch danach für die Mehrheit der Verantwortlichen und der öffentlichen Meinung kein Zweifel darüber, daß im Hinblick auf die UdSSR Frankreichs Sicherheit auf einem Bündnis mit Amerika beruhte, selbst wenn die Meinungen über dessen Modalitäten auseinandergingen3. Zwei Hauptpunkte sind hervorzuheben, weil sie den folgenden Verlauf weitgehend erklären: Für die Mehrheit der politischen und militärischen Führung mußte sich das atlantische Bündnis vor allem auf seine drei Hauptpartner, auf die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich stützen. Paris forderte sofort eine führende Rolle innerhalb eines politisch-strategischen Dreimächtedirektoriums. Ein derartiger Anspruch schien angesichts der weltpolitischen Rolle Frankreichs an der Spitze der Französischen Union gerechtfertigt. Er erschien zudem notwendig, um Frankreich den gleichen Status zu sichern wie Großbritannien, das seit dem Krieg besondere Bindungen mit Amerika unterhielt. Und diese Forderung schien außerdem unerläßlich, damit die Allianz auch als Rückversicherung gegenüber einer deutschen Gefahr dienen konnte, die ab 1948 zwar vielleicht in den Hintergrund trat, jedoch gleichwohl nicht vergessen war. Es galt also, sich so eng wie Soutou, Le General de Gaulle. Ders., Georges Bidault. Ders., France, S. 113.

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möglich an Amerika zu binden. So meinte man Frankreichs Interessen und weltpolitische Rolle am besten zu vertreten, insbesondere durch Verhinderung eines anglo-amerikanischen Tete-ä-Tete4. Aber außer dieser sehr »atlantischen« Strömung gab es noch eine andere, mehr »europäische«, welche ihre Gedanken 1948/49 zwar nicht durchzusetzen vermochte, jedoch nie verschwand, was einige wichtige Episoden im weiteren Verlauf besser verständlich macht. 1948/49 wurde diese Strömung von den damaligen sozialistischen Führern, wie dem Präsidenten der Republik Vincent Auriol und dem Verteidigungsminister Paul Ramadier, vertreten, außerdem von bestimmten Christdemokraten (MRP) wie Robert Schuman, dem Außenminister von Juli 1948 bis Dezember 1952, von Jean Monnet sowie von einigen Militärs wie General Jean de Lattre, Befehlshaber der Landstreitkräfte des Brüsseler Vertrages. Diese Strömung war der Ansicht, daß Frankreich allein seiner Kräfte wegen im atlantischen Bündnis keine wichtige Rolle spielen könne. Anstatt sich von seiner vorgeblich weltpolitischen Rolle benebeln zu lassen, stünde es dem Land besser an, innerhalb der Allianz an die Spitze eines europäischen Pfeilers zu treten. So könne man im übrigen auch die Amerikaner und Engländer besser von der Notwendigkeit überzeugen, Kontinentaleuropa von Anfang an zu verteidigen und sich nicht mit einer peripheren Strategie zu begnügen, die zunächst die Räumung des europäischen Kontinents vorsah und erst später seine Rückeroberung, wenn die Sowjetunion durch einen ein oder zwei Jahre andauernden strategischen Bombenkrieg geschwächt sein würde. Außerdem könnte ein europäischer Block an der Seite der Vereinigten Staaten nützlich sein, um den Sowjets nicht den Eindruck zu vermitteln, sie stünden einem von Washington gesteuerten westlichen Block gegenüber. Somit würde man eine Verschärfung des Kalten Krieges vermeiden und die Aussichten auf Ost-West-Verhandlungen nicht aufs Spiel setzen5. Der Gedanke einer europäischen Armee von 1950 entsprang ähnlichen Erwägungen, ebenso wie die Überlegungen von 1956 bis 1958 über einen europäischen oder euroafrikanischen Pol innerhalb der Allianz. Neben der andauernden Bündnistreue Frankreichs als Grundfaktum vermittelt das jeweilige Spiel dieser beiden Strömungen zwischen 1949 und 1956 einen Begriff von den komplexen Hintergedanken, die in diesem Bereich von den Verantwortlichen in Paris genährt wurden. Insbesondere wird deutlich, auf welche Art sie glaubten, ihre nationalen Interessen im atlantischen Rahmen vertreten zu können einschließlich der Kriegsinteressen in Indochina und später in Algerien. Bereits 1953 mußten sie sich eingestehen, daß, im Gegensatz zu ihren Hoffnungen, die atlantische Allianz und die Integration in die NATO die anglo-amerikanische Vertrautheit mitnichten gemindert hatten, das Gegenteil war der Fall. Von diesem Zeitpunkt an zeichneten sich in Paris zwei Tendenzen ab, der Versuch, die Amerikaner von der Rückkehr zu den ursprünglichen Beweggründen der Allianz zu überzeugen und Frankreich endlich in den Dreierclub für Globalstrategie 4 5

Georges Bidault veranschaulicht diese Strömung hervorragend: Soutou, Georges Bidault. Ders., De Lattre.

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aufzunehmen oder aber innerhalb des Bündnisses einen europäischen Pol unter französischer Leitung zu bilden. Bedenken, die oft auf das Jahr 1958 datiert werden, tauchten in Wirklichkeit schon viel früher auf. Die von General Charles de Gaulle im Memorandum vom 17. September 1958 entwickelten Argumente erscheinen bereits 1953 in den Noten des »Service des Pactes« des Außenministeriums, der mit den politischen und diplomatischen Gesichtspunkten von Bündnissen befaßt war.

2. Frankreichs Erwartungen und Ansprüche bei der Unterzeichnung des Atlantikpakts Bei den Abschlußverhandlungen zum Atlantikpakt machten die französischen Verhandlungspartner ihre Unterzeichnung von bestimmte Bedingungen abhängig. Zuallererst sollte der Vertrag Nordafrika einschließen. Anfänglich wünschte Frankreich, daß ganz Nordafrika, einschließlich Marokkos und Tunesiens, mit einbezogen werde. Aber schließlich begnügte man sich damit, von den — äußerst zögerlichen — Amerikanern die Einbeziehung der französischen Departements in Algerien zu erreichen. Dies war in den Augen der Regierung natürlich aus innenpolitischen Gründen unabdingbar. Die öffentliche Meinung und das französische Parlament hätten es nicht hingenommen, daß der Atlantikpakt zwar Alaska, nicht aber Algerien abdeckte6. Es entsprach jedoch zugleich dem Willen, das Bündnis auch auf den Mittelmeerraum auszurichten, der für Frankreichs Strategie und Interessen unerläßlich war, während die Amerikaner dazu neigten, ihr Interesse auf Skandinavien zu richten, wo die bevorzugten Luft- und Seezugänge ins Herz der UdSSR lagen. Dies ist auch der Grund für die ausschlaggebende Rolle Frankreichs bei der Aufnahme Italiens als Gründungsmitglied. Frankreich setzte diese Aufnahme gegen das anfängliche Zögern der Engländer und Amerikaner durch7. Nach Unterzeichnung des Atlantikpakts stellte sich das Problem der Aufrechterhaltung des Brüsseler Vertrags vom März 1948 und dessen Verhältnis zum neuen Bündnis. Präsident Auriol, Verteidigungsminister Ramadier, die Verantwortlichen des Quai d' Orsay mit Robert Schuman an der Spitze und gewisse Militärs, darunter vor allem der Befehlshaber der Landstreitkräfte des Brüsseler Vertrages, General de Lattre waren starke Befürworter einer Aufrechterhaltung des Vertrages und seiner Gremien als europäischen Eckpfeiler innerhalb der atlantischen Allianz8. Diese Haltung entsprach verschiedenen Überlegungen: Man wollte die Europäer dazu bringen, ihre Interessen in Washington gemeinsam zu vertreten anstatt mit den Amerikanern einzeln zu verhandeln, vor allem über Militärhilfe und Waffen-

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Archive du Ministere des Affaires Etrangeres (AMAE), Service des Pactes, Note des Generalsekretariats des Außenministeriums, 19.1.1949. Ebd. Reau, Paul Ramadier; Soutou, De Lattre.

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lieferungen9. Ferner waren sich die Franzosen der juristischen Vorteile des Brüsseler Vertrages im Vergleich zum Washingtoner Vertrag wohl bewußt. Der Brüsseler Vertrag garantierte unverzüglichen, auch militärischen Beistand im Falle eines Angriffs, während der Atlantikpakt in diesem Punkt wesentlich weniger konkret war; fünfzig Jahre Gültigkeit, während der Atlantikpakt schon nach zwanzig Jahren gekündigt werden konnte. Sodann sollte der Brüsseler Pakt es ermöglichen, die Vorstellung einer Verteidigung Westeuropas ostwärts des Rheins besser gegen die anglo-amerikanischen Tendenzen zu vertreten. Denn in Washington begnügte man sich mit einer peripheren Strategie, bei der zunächst der Rückzug vom westeuropäischen Kontinent und erst hernach seine Wiedereroberung vorgesehen war10. Schließlich wollte die damalige französische Führung auch der Allianz einen europäischen Charakter verleihen, um der UdSSR nicht den Eindruck eines gegen sie gerichteten rigiden Blocks zu vermitteln, und gegebenenfalls zwischen Europa und den Vereinigten Staaten gewisse Vermittlungsmöglichkeiten wahrnehmen 11 . Andere französische Verantwortliche dagegen, wie Ministerpräsident Bidault oder der Chef des Generalstabs für nationale Verteidigung, General Juin, waren gegen eine Aufrechterhaltung des Brüsseler Vertrages und wünschten ganz im Gegenteil den französischen Einfluß auf die atlantischen strategischen Diskussionen durch bevorzugte zweiseitige Beziehungen mit Washington sicherzustellen. Dies waren zwei unterschiedliche Vorstellungen von den Interessen und der Rolle Frankreichs in der Welt — mehr europäisch die einen, mehr atlantisch die anderen 12 . Eine andere Hauptsorge der Franzosen seit Aushandlung des Atlantikpakts bestand darin, an der Globalstrategie der Allianz voll beteiligt zu sein. Bereits 1948 hatte Paris vergeblich um die Teilnahme französischer Offiziere am anglo-amerikanischen Gremium der »Combined Chiefs of Staff« ersucht, das auf den Zweiten Weltkrieg zurückging. Ab Januar 1949 forderten die Franzosen im Rahmen der Atlantischen Allianz ein anglo-amerikanisch-französisches strategisches Gremium mit Sitz in Washington 13 . Während seines Washingtoner Aufenthalts zur Vertragsunterzeichnung im April 1949 erreichte Robert Schuman die grundsätzliche Zustimmung Dean Achesons zur Schaffung eines solchen Dreimächtestabes in Washington. Dies war der Beginn der ständigen Gruppe (Standing Group), die im September 1949 formell eingerichtet wurde 14 . Für Paris war dies ganz wesentlich. Denn wenn

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AMAE, Service des Pactes, Brief Ramadiers, Minister für nationale Verteidigung, an Robert Schuman, Minister für auswärtige Angelegenheiten, 4.9.1949. AMAE, Service des Pactes, Note des Quai d'Orsay für Ramadier, 26.9.1949, Note des Ministeriums für nationale Verteidigung, 27.10.1949. Soutou, De Lattre. Ders., Georges Bidault; außerdem warfen einige dem Brüsseler Vertrag vor, Großbritannien zu begünstigen und wünschten, mit den Amerikanern direkt und ohne Umweg über die Engländer zu sprechen: siehe Stehlin, Retour ä zero, S. 58. AMAE, Service des Pactes, Note des Generalsekretariats für den Minister, 19.1.1949. AMAE, Service des Pactes, Note für den Generalsekretär (genehmigt von Robert Schuman), 26.4.1949.

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es zum Konflikt mit der Sowjetunion kommen sollte, so war anzunehmen, daß dies ein globaler Konflikt sein oder werden würde. Und dann konnte Frankreich sein Verteidigungssystem nur dann sinnvoll organisieren, wenn es an den Entscheidungen auf dieser Ebene mitwirken konnte. Insbesondere brauchte Frankreich eine Beteiligung an den anglo-amerikanischen Entscheidungen über die Globalstrategie und die Schauplätze im mittleren Osten und im pazifischen Raum, um sicherzustellen, daß Europa von den Angelsachsen nicht vernachlässigt würde, die immer noch sehr dazu neigten, zu ihrer peripheren Strategie zurückzukehren. Natürlich war es auch unabdingbar zu verhindern, daß die westliche Allianz im anglo-amerikanischen Tete-ä-Tete geführt wurde. Die Statusgleichheit in NATOAngelegenheiten war für die französische Regierung stets ein grundlegendes Anliegen — das kann gar nicht genug betont werden15. Schließlich hatte Frankreich 1949 ja beträchtliche Interessen in Asien und im mittleren Osten, welche allein schon eine enge strategische Koordination mit London und Washington rechtfertigten und weit über die angezeigten Überlegungen hinausgingen 16 .

3. Einrichtung der Struktur des Atlantikpakts und erste französische Enttäuschungen Die Strukturen der atlantischen Allianz wurden bei der Sitzung des Atlantikrates vom 17. September 1949 eindeutig festgelegt. Bei dieser Gelegenheit wurde der Militärausschuß geschaffen, in dem die Chefs der Führungstäbe der Mitgliedstaaten vertreten waren, sowie dessen ständiges Gremium, die Standing Group mit Sitz in Washington und bestehend aus Vertretern der Vereinigten Staaten, Großbritanniens und Frankreichs. Die Einrichtung der Standing Group entsprach einer unabdingbaren Forderung der Pariser Regierung 17 , erschien dieser jedoch unzureichend, da sie nicht die Aufgabe hatte, die strategische Planung der anderen Gremien der Allianz zu leiten, sondern lediglich zu koordinieren. Außerdem enttäuschte eine andere Entscheidung vom 17. September die Franzosen sehr: die Schaffung von fünf regionalen Planungsgruppen (Nordeuropa, Westeuropa, Südeuropa, Nordamerika, Nordatlantik). Die Amerikaner wirkten nämlich nur in den beiden letztgenannten Gruppen mit, was ihrer Absicht entsprach, ihr unmittelbares Engagement bei der Verteidigung Europas trotz Pakt möglichst zu begrenzen und sich auf globalstrategische Angelegenheiten zu konzentrieren 18 . Paris hätte sich eine vollkommen andere Organisation gewünscht. Zunächst bedauerte man natürlich, daß die Vereinigten Staaten nicht an den Pla-

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Ebd.; AMAE, Service des Pactes, Note des Verteidigungsministeriums, 23.9.1949. AMAE, Service des Pactes, Noten des Generalsekretariats, 17.2. und 27.7.1949. AMAE, Service des Pactes, Note des Generalsekretariats des Außenministeriums an den Minister für nationale Verteidigung, 26.9.1949. Woyke, Die Militärorganisation, S. 137.

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nungsgruppen für Europa beteiligt waren, denn man verstand sehr wohl deren distanzierende Überlegungen in dieser Hinsicht19. Des weiteren fürchtete man, die Zerstückelung des vom Pakt abgedeckten Gebietes in fünf de facto von einander unabhängige Planungsgruppen werde trotz der mit der Koordinierung beauftragten Standing Group die Verteidigung Westeuropas beeinträchtigen, und zwar zugunsten der für die Engländer und Amerikaner vielleicht wichtigeren Schauplätze, wie z.B. Asiens oder des mittleren Ostens. In Paris hatte man sich ein ganz anderes System vorgestellt: Eine anglo-amerikanisch-französische strategische Leitungsgruppe in Washington, welche die Globalstrategie des Bündnisses tatsächlich leitete; umfassende, der Washingtoner Gruppe nachgeordnete Stäbe für bestimmte Operationsgebiete und vor allem einen euro-afrikanischen Raum von Skandinavien bis zur Sahara und bis zum mittleren Osten, der in Subschauplätze unterteilt wäre. Man sah in einer derartigen Führungsorganisation eine wesentlich bessere Antwort auf eine etwaige sowjetische Aggression, die wahrscheinlich Gesamteuropa und den mittleren Orient zugleich betroffen hätte. Darüberhinaus dachte man natürlich, daß die Führung des euro-afrikanischen Kriegsschauplatzes einem französischen General gebührt hätte, was die Rücksichtnahme auf die französischen strategischen Interessen bei einem etwaigen »peripheren« Ausrutschen der Angelsachsen sichergestellt hätte20.

4. Der Koreakrieg und seine Bedeutung für die Stellung Frankreichs im atlantischen Bündnis Der Ausbruch des Koreakrieges am 25. Juni 1950 bewirkte, wie man weiß, eine Stärkung des atlantischen Bündnisses und sogar eine Veränderung seiner Beschaffenheit: Die Bildung einer integrierten atlantischen Führung in Europa und die Verstärkung der amerikanischen Streitkräfte auf dem Kontinent engagierten nämlich de facto die Amerikaner weitaus mehr in der Verteidigung Europas, als sie es 1949 beabsichtigt hatten. Frankreich war von dieser Entwicklung unmittelbar betroffen, auch wenn seine direkte Beteiligung am Koreakrieg bewußt auf ein einziges Bataillon beschränkt blieb21 und seine politische Führung dazu neigte, die amerikanische Reaktion auf diesen Konflikt übertrieben zu finden — insbesondere gegenüber China22. Vom französischen Standpunkt aus hatte der Koreakrieg — es muß wohl so gesagt werden — zahlreiche positive Folgen. Zunächst einmal gestanden die Ame19 20

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AMAE, Service des Pactes, Brief Ramadiers an Schuman, 11.10.1949. AMAE, Service des Pactes, Note des Service des Pactes für den Minister, 13.6.1950; Soutou, De Lattre. Moch, Une si longue vie, S. 434 f. Insbesondere hätte man es in Paris vorgezogen, China zu schonen, und sei es auch nur, um es zu bewegen, seine Unterstützung der Vietminh in Indochina zu verringern (AMAE, Generalsekretariat, Note Pievens für Schuman, 19.9.1950, und Bericht über das Gespräch PlevenAttlee, 2.12.1950).

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rikaner damals ein, daß die sowjetische Bedrohung in Europa nicht nur politischer und sozialer Natur war, sondern auch einen direkten und unmittelbar militärischen Gesichtspunkt enthielt, da ja die Lage in Deutschland an jene in Korea erinnerte. Die Art der Bedrohung, die zuvor in Paris und Washington ganz unterschiedlich bewertet worden war, stimmte nunmehr überein. Endlich schlossen die Amerikaner sich der seit Ende 1947 bestehenden pessimistischen Sichtweise der französischen militärischen und politischen Führung an23. Auf der anderen Seite führte der Koreakrieg zu einem entscheidenden Fortschritt bei der atlantischen Integration. Bereits vor dem Beginn der Feindseligkeiten in Asien beurteilten die Franzosen diese Integration als unerläßlich, und zwar nicht nur im Hinblick auf die militärische Effizienz, sondern auch im finanziellen Bereich, damit die Vereinigten Staaten dazu beitrügen, die europäischen Wiederaufrüstungsanstrengungen zu finanzieren. Sie waren sogar bereit, bis zu einem gewissen Grad eine transatlantische Wirtschaftsintegration und eine enge Koordinierung der Außenpolitik ins Auge zu fassen24. Am 16. April verlangte Ministerpräsident Bidault öffentlich die Schaffung eines hohen atlantischen Rats zur Leitung der Bündnisangelegenheiten auch im wirtschaftlichen und politischen Bereich25. Von der Entwicklung der Integration erwarteten sich die Franzosen nicht nur ein wachsendes Engagement der Amerikaner und eine Erweiterung der Vollmachten der Washingtoner Standing Group, die über die einfache, am 17. September 1949 definierte Koordinatorenrolle hinauswachsen und zu einem echten strategischen Entscheidungszentrum des Bündnisses werden sollte26. Dank der Integration und mithin der direkteren Beteiligung der Amerikaner an der Verteidigung Europas hoffte man, den Briten endgültig Paroli bieten zu können. Diese versuchten, sich zum Führer der europäischen Bündnisstaaten aufzuschwingen und ihre entschieden »peripheren« strategischen Konzeptionen durchzusetzen 27 . Die Integration sollte es Frankreich zudem ermöglichen, sich in den privilegierten anglo-amerikanischen strategischen und politischen Dialog einzubringen und so einen ebensolchen internationalen Status wie Großbritannien zu erlangen. Der Ausbruch des Koreakrieges veranlaßte Paris, seine Position zu diesem Thema zu verdeutlichen. In zwei Memoranden vom 5. und 17. August 1950 forderte Frankreich den Aufbau einer integrierten Verteidigung und eine Verstärkung der amerikanischen Militärpräsenz in Europa28. Weitgehend zufriedengestellt wurde Frankreich bei den Bündnisgesprächen, die von Juli bis Dezember stattfanden und damit endeten, daß die USA vier zusätzliche Divisionen nach Euro23 24 25 26 27

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Soutou, De Lattre; Greiner, Zur Rolle Kontinentaleuropas. AMAE, Service des Pactes, Note der politischen Abteilung, 24.4.1950. Soutou, Georges Bidault. AMAE, Service des Pactes, Note des Service, 13.6.1950. AMAE, Service des Pactes, Brief des Ministers für nationale Verteidigung, Rene Pleven, an den Minister für auswärtige Angelegenheiten, Robert Schuman, 6.6.1950, Antwortschreiben Schumans, 13.6.1950. Doise/Vai'sse, Diplomatie, S. 412.

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pa entsandten. Zudem wurde Anfang 1951 der integrierte Stab in Europa (SHAPE) geschaffen, mit dessen Führung General Dwight D. Eisenhower betraut wurde. Auf dem Gebiet der strategischen Konzeptionen förderte der Koreakrieg die Unterstützung für die französischen Thesen. Mit dem Eingeständnis einer unmittelbaren sowjetischen militärischen Gefahr in Europa gaben die Joint Chiefs of Staff ihren ursprünglichen, entschieden peripheren Plan auf, der zunächst die Evakuierung Kontinentaleuropas vorsah. Statt dessen schlossen sie sich den französischen Konzeptionen an, die vor allem vom Befehlshaber der Landstreitkräfte des Brüsseler Vertrages, General de Lattre, vertreten wurden. Die westliche Verteidigung sollte so nah wie möglich am Eisernen Vorhang erfolgen (»Vorneverteidigung«)29. Für die französische Wiederaufrüstung waren die Entscheidungen vom Sommer und Herbst 1950 ebenfalls sehr einträglich. Trotz des amerikanischen Militärhilfeprogramms von 1949 war der Beitrag der Vereinigten Staaten zu den französischen Rüstungsanstrengungen bis dahin begrenzt. Mit Korea änderten sich die Dinge. Ohne daß es möglich wäre, hierauf näher einzugehen, sei darauf hingewiesen, daß Frankreich von 1951 bis 1954 für 4 Mrd. $ amerikanische Militärhilfe erhielt, und zwar in Form von Lieferungen, Off-Shore-Aufträgen usw. Frankreich bekam somit 40 % der den Alliierten zugestandenen Gesamthilfe, und diese Hilfe deckte zwischen 1951 und 1954 die Hälfte des Bedarfs der französischen Streitkräfte an Ausrüstung. Die Off-Shore-Aufträge (Aufträge an die französische Industrie für die französischen Streitkräfte, die von den USA bezahlt wurden) erleichterten im übrigen die Wiederankurbelung und Modernisierung der französischen Rüstungsindustrie 30 . Der Koreakrieg war auch von Vorteil für Frankreichs Stellung im Indochinakrieg, wo sich mit der Katastrophe von Cao Bang im Oktober 1950 die Lage gerade verschärfte. Ab dem nordkoreanischen Angriff räumten die Amerikaner nämlich ein, daß der Indochinakrieg kein Kolonialkonflikt war, was bis dahin weitgehend ihre Meinung gewesen war, sondern Teil des Konflikts zwischen der freien Welt und dem Kommunismus. Damit waren sie bereit, Frankreich auch im finanziellen Bereich zu unterstützen. Am Ende des Konflikts 1954 übernahmen die Vereinigten Staaten 75 % der Ausgaben für den Indochinakrieg 31 . Allerdings hatte der Koreakrieg nicht nur positive Folgen. Zunächst mußte man sich damit abfinden, daß die Stäbe des Brüsseler Vertrages in der neuen, integrierten atlantischen Organisation aufgingen. Frankreich hatte jedoch diese Stäbe trotz der Geburt des Atlantikpakts beibehalten wollen. Außer der Tatsache, daß der Brüsseler Vertrag juristisch sicherer, weil für die Vertragspartner bindender war, sah Frankreich hierin das Mittel, einen kontinentaleuropäischen strategischen Pol aufrechzuerhalten, dessen Spitze es eingenommen hätte32. Aber für 29 30

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Soutou, De Lattre. Bozo, La France, S. 46; für den bedeutsamen Sonderfall der Luftwaffe siehe Vial, De 1' impuissance. Zu Frankreich und dem Indochinakrieg siehe Folin, Indochine. AMAE, Service des Pactes, Brief des Ministers für nationale Verteidigung an den Minister für auswärtige Angelegenheiten, 11.10.1949.

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die unmittelbare Zukunft war die Sorge um die Aufrechterhaltung eines europäischen Pols weniger wichtig als das wachsende Engagement der Amerikaner, dies war wesentlich. So erklärte Robert Schuman: »Wir bekommen nun, was wir uns zwischen den beiden Kriegen erhofft haben: Die Vereinigten Staaten erkennen an, daß es für Amerika weder Frieden noch Sicherheit gibt, wenn Europa in Gefahr ist33.« Erst später, mit den Ereignissen von 1956, trat die Sorge um die Bildung eines europäischen strategischen Pols wieder zutage. Viel heikler und sogar dramatisch war eine andere Folge des Koreakrieges, die deutsche Wiederbewaffnung, de facto von den westlichen Militärs bereits 1948 ins Auge gefaßt und von Washington offiziell im September 1950 zum Ausgleich für die Verstärkung der NATO und der amerikanischen Militärpräsenz in Europa gefordert34. Politisch war das für die französische Regierung nur fünf Jahre nach Kriegsende eine heikle Sache, da viele Franzosen (und sogar auch manche Politiker) die deutsche Bedrohung immer noch gefährlicher einschätzten als die sowjetische35. Ohne gleich so weit gehen zu wollen, fürchtete eine Mehrheit der Politiker und Diplomaten gleichwohl ein Wiederaufleben des deutschen Nationalismus. Sie hatten Angst, ein wiederbewaffnetes Deutschland werde das atlantische Bündnis in einen Krieg zur Wiedereroberung der verlorenen Ostgebiete hineinziehen, oder andersherum, ein wiederbewaffnetes und mithin vom Westen unabhängigeres Deutschland werde mit Moskau einen Vertrag schließen. Außerdem würde der amerikanische Vorschlag rasch dazu führen, Deutschland zum Eintritt in die atlantische Allianz zu veranlassen, was für Frankreich schwere Unannehmlichkeiten zur Folge hätte, auf die noch zurückzukommen sein wird36. Lediglich die sich der Unterlegenheit des Bündnisses angesichts der Sowjetarmee bewußten Militärs räumten die Notwendigkeit einer deutschen Wiederbewaffnung ein37. Aber diese Frage sollte das politische Leben Frankreichs bis 1954 vergiften und die Stellung Frankreichs gegenüber der atlantischen Allianz äußerst erschweren.

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Ebd., S. 33. Soutou, France and the German Rearmament Problem; Guillen, La France; ders., Les chefs militaires; Poidevin, La France. Über den für die damalige französische Führung langwierigen und schwierigen Übergang von der Vorstellung einer vorwiegend deutschen Bedrohung zu der sowjetischen siehe Soutou, Les dirigeants f r a ^ a i s . AMAE, Generalsekretariat, Note des Generalsekretärs des Quai d' Orsay, Alexandre Parodi, für Schuman, 16.9.1950. Darin wird die Sitzung eines interministeriellen Ausschusses unter Vorsitz Pievens vom selben Tage resümiert. Guillen, Les chefs militaires.

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5. Frankreich in der Zwickmühle zwischen Indochinakrieg und Europäischer Verteidigungsgemeinschaft (EVG). Die Lissaboner Lösung des Atlantikrats vom Februar 1952 Man muß sich vor Augen führen, daß zwischen 1950 und 1954 drei Fragen unentwirrbar vermischt waren, der Indochinakrieg, die Frage der deutschen Wiederbewaffnung und die amerikanische Finanzhilfe für Indochina und die französische Wiederaufrüstung38. Es kann hier nicht jede dieser Fragen im einzelnen aufgerollt werden, aber es ist wichtig, ihre Wechselwirkungen zu verstehen, die in diesen Jahren Frankreichs Bündnispolitik im wesentlichen bestimmten. Hervorzuheben ist, daß die Katastrophe von Cao Bang im Oktober 1950 sich just in dem Augenblick ereignete, als man in Paris begann, das Projekt einer europäischen Armee auszuarbeiten. Was Deutschland angeht, so entsprach der amerikanische Plan vom September 1950, zwölf deutsche Divisionen auf- und der integrierten atlantischen Führung zu unterstellen, nicht den Vorstellungen der französischen politischen Führer (auch wenn viele Militärs ihn einfach und wirkungsvoll fanden). Dieser Plan würde nämlich unvermeidlich dazu führen, daß die Bundesrepublik früher oder später Vollmitglied der atlantischen Allianz würde, was wiederum unumgänglich Frankreichs Stellung als bedeutsamsten Partner der Vereinigten Staaten auf dem europäischen Kontinent beeinträchtigen und andererseits den Wert des Bündnisses als Garantie auch gegenüber Deutschland mindern würde, was ja immer noch ein wesentlicher französischer Hintergedanke war. Im Namen der Gleichheit der Rechte wäre man außerdem veranlaßt gewesen, der Bundesrepublik die Souveränität einzuräumen, wie sie es bereits unmißverständlich gefordert hatte, was Paris schon deshalb um keinen Preis wollte, um nicht seinen Einfluß auf die Entwicklung der deutschen Frage zu verlieren. Und schließlich würde der Bündnisbeitritt eines Landes mit nationalen und territorialen Forderungen aus dem französischen Blickwinkel den defensiven Charakter dieses Bündnisses verändern39. Daher das französische Projekt einer europäischen Streitmacht, das bereits im Oktober 1950 als Antwort auf amerikanische Vorschläge erarbeitet wurde und sich 1951 zum Vorhaben der europäischen Verteidigungsgemeinschaft wandelte40. Abgesehen von der Tatsache, daß dieser Plan es vermied, eine deutsche Armee im eigentlichen Sinne zu schaffen, verfolgte er für die Franzosen im wesentlichen das Ziel, die Amerikaner durch die Wiederbewaffnung Deutschlands zufriedenzustellen (da Washington von dieser Wiederbewaffnung die Verstärkung der atlantischen Allianz und die Finanzhilfe an Frankreich abhängig machte), ohne 38 39

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Dieser Punkt wird sehr klar dargelegt bei Moch, Histoire de rearmement, S. 107-124. Guillen, La France et l'integration de la RFA; AMAE, Generalsekretariat, Note Frangois Seydoux', Leiter der Europaabteilung, über das deutsche Problem, 9.8.1951; ebd., Note der politischen Abteilung an Schuman, 24.8.1951. Poidevin, Robert Schuman; Monnet, Memoires; Clesse, Le projet de CED.

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jedoch Deutschland in den Atlantikpakt aufzunehmen. Somit würde dieses Projekt einer europäischen Streitmacht es ermöglichen, der Bundesrepublik im Namen der europäischen Integration die volle Souveränität nicht zurückzugeben und die Garantien der atlantischen Allianz in bezug auf Deutschland zu bewahren41. Außerdem erschien die Formel einer europäischen Armee den Franzosen (zweifellos zu Unrecht, aber aufrichtig gemeint) weniger provozierend für die Sowjets als die amerikanische Lösung. Man hatte nämlich die Hoffnung immer noch nicht aufgegeben, mit Moskau eine Regelung der deutschen Frage auszuhandeln. Allerdings konnte Frankreich in einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft, so wie sie 1951 ausgearbeitet wurde, nur dann die beabsichtigte Kontrolle und Führung des Ganzen behalten, wenn sein militärischer und finanzieller Beitrag zur europäischen Verteidigung höher als der deutsche wäre. Aber wegen des Indochinakrieges, der beträchtliche Kräfte und Mittel verschlang, erschien dies sehr schwierig, und es war durchaus denkbar, daß Deutschland zukünftig den größten Beitrag zur EVG leisten und damit die EVG mit Hilfe des vorgesehenen Wahlmodus auch kontrollieren würde42! Es gab also einen Widerspruch zwischen dem französischen Einsatz in Indochina und der Beteiligung Frankreichs an der EVG. Ebenso bestand ein Widerspruch zwischen dem Indochinakrieg und der Modernisierung der französischen Streitkräfte in Europa, obwohl die Franzosen doch die ersten gewesen waren, die gesagt hatten, daß diese Modernisierung unerläßlich sei für die Verteidigung soweit wie möglich ostwärts des Rheins 43 . Hier lag das Zentrum der Schwierigkeiten der französischen Atlantikpolitik. Es gab nur zwei Mittel, aus diesen Widersprüchen herauszukommen. Das erste bestand darin, endlich die Drei-Mächte-Führung der Allianz festzuschreiben, die es Frankreich ermöglicht hätte, diese Widersprüche besser in den Griff zu bekommen — und gleichzeitig als Bremser dessen aufzutreten, was Paris seit dem Koreakrieg als übermäßige Aggressivität Amerikas gegenüber der UdSSR und China erschien. Eine Ost-West-Entspannung, auf die zu hoffen Paris noch nicht aufgegeben hatte, hätte nämlich Frankreichs militärische Verpflichtungen in Asien und Europa erleichtert und somit die dadurch bedingten Widersprüche vermindert44. Das zweite Mittel bestand in der Erlangung massiver amerikanischer Finanzhilfe. Damals bestand noch die Hoffnung, gleichzeitig in Indochina Krieg führen und die französischen Streitkräfte in Europa ausreichend modernisieren und ent41

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Zu der für Paris hohen Bedeutung einer Nichtzugehörigkeit Deutschlands zur Allianz siehe Moch, Histoire du rearmement allemand, S. 283-289; Soutou, France and the German Rearmament Problem. Daveau, Le poids de la guerre d'Indochine; zur Pariser Besorgnis im Hinblick auf das deutschfranzösische Gleichgewicht innerhalb der EVG siehe AMAE, Generalsekretariat, Brief Schumans an Acheson, 26.1.1952. Zu dem sehr bezeichnenden Fall der zwischen Indochina und der Modernisierung ihrer Kräfte in Europa zerrissenen Luftwaffe siehe Vial, De l'impuissance. AMAE, Generalsekretariat, Telegramm Schumans (damals auf einer Konferenz der drei Außenminister in Washington) nach Paris, 13.9.1951.

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wickeln zu können. So wollte man den strategischen Notwendigkeiten gerecht werden, die beharrlichen amerikanischen Forderungen in dieser Richtung erfüllen und eine deutliche Überlegenheit über Deutschland in Rahmen der EVG bewahren. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, daß der Militäranteil der Haushaltsmittel Frankreichs von 18,3 % (1950) über 27,6 % (1951) zwischen 1952 und 1954 auf über ein Drittel anstieg45. Bereits 1950 war dieses Problem Gegenstand ständiger und grundlegender Verhandlungen mit den Amerikanern, deren umfangreicher Beitrag zu den Kosten der französischen Wiederaufrüstung und zum Indochinakrieg weiter oben erwähnt ist46. Man könnte vermuten, daß es Frankreich gelang, diese Widersprüche im atlantischen Rat aufzulösen, der im Februar 1952 in Lissabon tagte. Am Vorabend dieses Treffens von kapitaler Bedeutung, dessen Aufgabe es vor allem war, nach dem Bericht des »Rats der Weisen« (Temporary Council Committee [TCC], darunter Jean Monnet), den von jedem Bündnismitglied zu erbringenden Militärbeitrag festzulegen, waren sich die französischen Verantwortlichen der angeführten Widersprüche voll bewußt. Kurz zuvor, am 19. Februar, im Anschluß an eine Debatte über die EVG, hatte die Nationalversammlung über eine Tagesordnung abgestimmt, die der EVG im Grundsatz zustimmte, jedoch nur unter einer Reihe von Bedingungen, welche die aufgeführten Widersprüche und Hintergedanken klar widerspiegelten: Deutschland dürfe nicht in das atlantische Bündnis aufgenommen werden, im Falle eines Scheiterns der EVG müsse Paris von den Engländern und Amerikanern eine formale Garantie erhalten (hier ging es de facto um einen etwaigen Austritt Deutschlands), die französische Truppenstärke innerhalb der europäischen Streitmacht müsse der der anderen Mitgliedsstaaten mindestens ebenbürtig sein, und die Höhe der amerikanischen Hilfe an Frankreich im Rahmen der EVG müsse dem Umfang der französischen Anstrengungen in Indochina Rechnung tragen. Die französischen Führer reisten nach Lissabon ab, fest entschlossen, sich auf diese Tagesordnung zu stützen, um die im Hinblick auf Deutschland als notwendig erachteten Garantien zu erhalten und zudem eine massive amerikanische Unterstützung sowohl für die Streitkräfte in Europa als auch für Indochina und so die aufgezeigten Widersprüche zu lösen47. Sie wurden weitestgehend, wenn nicht gar vollkommen zufriedengestellt. Der Rat von Lissabon bestätigte, daß die Bundesrepublik nicht in die Allianz aufgenommen würde. Es wurde eine anglo-amerikanisch-französische Erklärung entworfen, die zur Veröffentlichung bei der Unterzeichnung des EVG-Vertrages (vorgesehen am 27. Mai 1952 in Paris) bestimmt war. Darin verpflichteten sich die

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Doise/Va'isse, Diplomatie, S. 414. Moch, Histoire du rearmement allemand; Triconnet, Rene Mayer. AMAE, Service des Pactes, Note Herve Alphands, EVG-Unterhändler, an Robert Schuman, 20.2.1952, sowie zwei Noten Jean Monnets, 21.2.1952, Pressekonferenz Schumans in Lissabon, 26.2.1952; ebd., Generalsekretariat. Note Maurice Schumans, Staatssekretär, an Robert Schuman, 21.2.1952.

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Angelsachsen, in Europa Truppen zu unterhalten und gemäß Artikel 4 des Atlantikpakts im Falle einer Bedrohung der Integrität der EVG sich mit den Franzosen zu konsultieren (was allerdings wesentlich weniger weit ging als die von Paris gewünschte förmliche Garantie in Form eines Vertrages). Vor allem erreichte Frankreich eine amerikanische Hilfe von 500 Mio. $ für 1952, welche die 1100 Mrd. FF Militärkredite ergänzte, die Frankreich in seinem Haushalt bereitzustellen sich verpflichtete und die es ihm ermöglichen sollten, zugleich den Indochinakrieg fortzusetzen und 14 Divisionen aufzustellen, die Ende 1952 unmittelbar zur Verteidigung Europas verfügbar sein sollten. Diese Divisionen, sowie 20 weitere, die 1954 aufgestellt werden sollten, waren der französische Anteil an den Lissaboner Streitkräftezielen der Allianz, der Frankreich gleichzeitig eine gewisse Überlegenheit gegenüber Deutschland sicherte4*. Schließlich wurde die NATO umgegliedert. Der atlantische Rat wurde zu einem ständigen Gremium, um das herum sich alle zivilen NATO-Gremien gruppierten und das seinen Sitz in Paris haben sollte. Diese Neuorganisation entsprach vollkommen der damaligen Sichtweise der Franzosen, die sich eine hochgradige atlantische Integration wünschten49. Die französischen Politiker glaubten nämlich sowohl bei der EVG als auch bei der NATO an die Integration als ein Mittel, mit dem man die Amerikaner eng an die Verteidigung Europas binden und so wirkungsvoll der sowjetischen Bedrohung begegnen könne, mit dem das deutsche Problem zu lösen sei und Frankreich die Ausübung seiner Führungsrolle in Kontinentaleuropa ermöglicht würde. Sie hofften sogar, die enge Zusammenarbeit mit den Amerikanern und Engländern auf den Indochinakrieg ausweiten zu können. Tatsächlich gestattete es der Rat von Lissabon den Franzosen, die Idee einer Art NATO für Asien wachzurufen50. Man erkennt hier die Bedeutung des Rates von Lissabon für die Verwirklichung der französischen Ziele. Manche Verantwortliche glaubten wohl, bei dieser Gelegenheit einen großen Schritt in Richtung auf eine Dreimächteführung der Bündnisangelegenheiten getan zu haben. Aber alle waren doch nicht überzeugt, daß Frankreich mit dem Indochinakrieg als zusätzliche Belastung in Europa tatsächlich den deutschen überlegene oder gleichwertige Truppen auf die Beine stellen könne, und einige haben sich gefragt, ob die Zielsetzung von 14 französischen Divisionen nicht rein politischen Erwägungen entsprang51. Tatsächlich wurde bereits im März die Regierung Edgar Faure wegen einer geplanten 15-prozentigen Steuererhöhung zur Erfüllung der in Lissabon eingegangenen Verpflichtungen hinsichtlich einer militärischen Verstärkung gestürzt. Die geforderte beträchtliche finanzielle Anstrengung übertraf das für die französische Öffentlichkeit annehmbare Maß52. Bereits 1953 zeigten die Verschärfung 48 49

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AMAE, Service des Pactes, Französisch-amerikanischer Vertrag, 25.2.1952. AMAE, Service des Pactes, Rundschreiben Schumans an die französischen Diplomaten über die Ergebnisse der Lissaboner Konferenz, 9.3.1952. AMAE, Service des Pactes, Elements d' une declaration de M. President Schuman sur la situation en Lndochine, 20.2.1952. Stehlin, Retour ä zero, S. 116 ff.; Bozo, La France et Γ ΟΤΑΝ, S. 48. Elgey, La Republique, S. 273-277. Im Jahre 1952 gab Frankreich den gleichen Prozentsatz

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des Indochinakonflikts und die Radikalisierung der französischen Opposition gegen die EVG die Zerbrechlichkeit und Irrealität der in Lissabon festgehaltenen Lösungen.

6.1952-1953: Frankreich setzt auf die atlantische Integration, kann jedoch seine Konzeptionen nicht vollständig durchsetzen Vor und nach dem Treffen des Atlantikrats in Lissabon waren die französischen Verantwortlichen stets bestrebt, der Washingtoner Standing Group eine Hauptrolle zukommen zu lassen. Sie hätten in ihr gerne das Hauptleitungsorgan der NATO gesehen. Außerdem hätten sie gewünscht, daß die Zuständigkeit dieses Gremiums über den atlantischen Raum hinaus auf sämtliche strategischen Kriegsschauplätze erweitert worden wäre. Zunächst ging es natürlich darum, Lehren aus dem Krieg von 1939-1945 zu ziehen und zu betonen, daß ein Konflikt mit der UdSSR notwendigerweise weltweit sein würde, und daß man zwischen den einzelnen Operationsgebieten Wechselwirkungen in Betracht ziehen müsse53. Aber es galt natürlich auch, die weltpolitische Rolle Frankreichs zu unterstreichen und seinen Sonderstatus innerhalb der Allianz auf gleicher Ebene mit Großbritannien zu bekräftigen54. Indessen begriffen manche Verantwortliche sehr früh, daß die Schaffung integrierter Stäbe, vor allem SHAPE, 1951 die Standing Group de facto entwertet hatte. Darüberhinaus überwog der anglo-amerikanische Einfluß in diesen integrierten Stäben deutlich 55 . Im übrigen zogen es die Amerikaner vor, sich auf Nichtmitglieder der Standing Group abzustützen, um ihre Auffassungen durchzusetzen. Tatsächlich wurde die Standing Group nie das echte Dreierdirektorium für weltstrategische Angelegenheiten oder das oberste Entscheidungsgremium der Allianz, das Frankreich sich erhofft hatte 56 . Es war SACEUR, gleichzeitig Befehlshaber der amerikanischen und der alliierten Streitkräfte in Europa, der tatsächlich die Verantwortung für die atlantische Strategie trug, und nicht die Standing Group als ständiges Organ des Militärausschusses, das nach den politischen Weisungen des Atlantikrats arbeitete, und dem die integrierten Stäben hät-

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seines Bruttoinlandsproduktes für die Verteidigung aus wie Großbritannien (11,8 %), d.h. 4 bis 5 % mehr als die anderen europäischen Länder. Nur die USA gaben mit 16,6 % mehr aus (AMAE, Service des Pactes, Note vom 13.1.1953). Zum globalen Aspekt der strategischen Überlegungen der französischen militärischen Führung dieser Zeit vgl. Abzac-Epezy/Vial, Quelle Europe. AMAE, Service des Pactes, Note des Service des Pactes vom 20.3.1951; ebd., Schreiben des Ministers für Verteidigung an den Minister für auswärtige Angelegenheiten, 12.3.1951; ebd., Antwort Schumans vom 14.3.1951; ebd., Brief des Generalsekretärs Alexandre Parodi an den Botschafter in Washington Henri Bonnet, 6.10.1952; ebd., Note des Vertreters bei der Standing Group, General Ely, 18.12.1952. AMAE, Service des Pactes, Note des Generalsekretärs für nationale Verteidigung, 5.5.1952. Bozo, La France, S. 36 ff., 55-59; Beaufre, LOT AN, S. 52 f.

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ten unterstellt sein müssen, hätte man wirklich befolgen wollen, was im September 1950 beschlossen worden war. Auch die Organisation der NATO-Kommandobehörden erfolgte nicht zur vollen Zufriedenheit. Zunächst einmal hatten die Franzosen nur ein Kommando inne (Europa-Mitte), wohingegen die Amerikaner über sieben und die Engländer über fünf Kommandos verfügten. Im übrigen betrachteten sie den Bereich Europa-Mitte (Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Benelux) als strategisch zu eng. Außerdem waren diese Kommandobehörden, vor allem SHAPE, viel zu stark amerikanisch geprägt, als daß sie wirklich integriert gewesen wären57. Darüber hinaus war auch noch das einzige den Franzosen zugefallene Kommando, nämlich Europa-Mitte, anfangs unvollständig. Während die Kommandos EuropaNord und Europa-Süd über sämtliche Land-, Luft- und Seestreitkräfte in ihrem Sektor verfügten, war das beim Kommando Europa-Mitte nicht der Fall. Seine Luftstreitkräfte waren direkt SACEUR und dessen Oberbefehlshaber der Luftstreitkräfte unterstellt. Das hätte bedeutet, daß im Kriege die tatsächliche Führung zwischen SACEUR und dem französischen Befehlshaber Europa-Mitte hätte geteilt werden müssen, während der amerikanische Befehlshaber Europa-Süd und der britische Befehlshaber Europa-Nord wirkliche Befehlshaber in ihrem Sektor gewesen wären. Gleichwohl erreichte Paris 1953, daß der Befehlshaber Europa-Mitte gleichfalls die Führung der Luftstreitkräfte erhielt, und so gewann ganz allgemein das Kommando Europa-Mitte allmählich an Bedeutung58. Die Frage des Kommandos im Mittelmeerraum war besonders heikel, weil die strategischen Interessen der drei Hauptalliierten unterschiedlich gelagert waren. Für die Amerikaner war das östliche Mittelmeer am wichtigsten, um Luft-SeeOperationen gegen die Sowjetunion und den Balkan zu führen. Für die Engländer war die Ost-West-Achse wesentlich und für die Franzosen die Nord-Süd-Achse, die Frankreich mit Nordafrika verband. Schließlich akzeptierten die Franzosen bei der NATO-Ratstagung im Dezember 1952 ein integriertes Kommando für das Mittelmeer, das einem Briten anvertraut wurde. Zum Ausgleich erreichten sie eine für sie anscheinend zufriedenstellende Lösung, nämlich daß dessen Stellvertreter Franzose war. Außerdem wurden die Zonenkommandos im Mittelmeer und im Atlantik so eingerichtet, daß das westliche Mittelmeer und alle nordafrikanischen Gewässer von Marokko bis Tunesien französischem Befehl unterstellt wurden59.

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Ebd., S. 54-58; Bozo, La France, S. 55-59. AMAE, Service des Pactes, Note des Generalsekretärs für nationale Verteidigung, 22.7.1952; ebd., Sitzungsprotokoll des nationalen Verteidigungsausschusses, 24.7.1952; Bozo, La France, S. 56 f. AMAE, Service des Pactes, Note des Verteidigungsministers an den Vertreter bei der Standing Group, 22.1.1951, Telegramm des Service des Pactes, 20.12.1952.

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7. Die neue Lage im Jahre 1953 und erste Zweifel an der Integration Ende 1952 trat ein wichtiges Ereignis ein. Die sehr für das atlantische Bündnis und ganz auf die EVG eingestellte Regierung Antoine Pinay wurde gestürzt und machte einer Regierung Rene Mayer Platz. Diese kam mit Unterstützung der Gaullisten in der Nationalversammlung an die Macht, mußte aber im Gegenzug versprechen, dafür zu sorgen, daß Frankreichs Partner Zusatzprotokolle zur EVG akzeptierten, die Paris trotz der vorgesehenen militärischen Integration seine Handlungsfreiheit in bestimmten Bereichen sichern sollten. In der Tat wuchs nämlich die Gegnerschaft gegen die EVG im Parlament und im Lande. Bezeichnenderweise und wahrscheinlich infolge eines Übereinkommens mit den Gaullisten wurde Robert Schuman im Außenministerium durch Georges Bidault ersetzt. Nun war letzterer ein wesentlich größerer Befürworter der atlantischen Allianz als der EVG. Er war nämlich der Meinung, daß Frankreich eine weltpolitische Rolle auf gleichem Niveau spielen müsse wie die Vereinigten Staaten und Großbritannien, und daß es seine internationale Handlungsfreiheit nicht in einem europäischen Ganzen versickern lassen dürfe60. Die neue Regierung bewertete daher Frankreichs Rolle sowohl in der EVG als auch in der NATO neu und war insbesondere darauf bedacht, daß die Integration der französischen Streitkräfte in die zukünftige EVG Frankreichs Stellung im atlantischen Bündnis nicht verringerte. Auch ging sie dazu über, eine spürbare Neigung der neuen Eisenhower-Administration zu bekämpfen, die davon ausging, daß die Einrichtung der EVG es den Amerikanern ermöglichen werde, ihr militärisches Engagement in Europa zu reduzieren. Aber wenngleich Georges Bidault — wie übrigens zahlreiche zivile und militärische Verantwortungsträger — unbestritten ein Befürworter der Allianz war, so gefiel ihm die Entwicklung, die das Bündnis seit 1950 genommen hatte, doch nicht. Tatsächlich entsprach diese, nur sehr unvollkommen den französischen Vorstellungen. Insbesondere war man weiter denn je entfernt von jenem Dreierdirektorium für politisch-strategische Angelegenheiten und Globalstrategie, welches die Franzosen in der einen oder anderen Form seit 1949 angestrebt hatten, und Frankreichs unterwertige Stellung in den integrierten Stäben wurde bereits erwähnt. 1953 gingen die Franzosen an den Versuch, diese Lage zu korrigieren und auf das zurückzukommen, was in ihren Augen der ursprüngliche Geist der Allianz gewesen war, eine besondere Verantwortung und eine führende Rolle für die drei Großmächte der NATO. Bereits Anfang 1953 — also viel früher als allgemein angenommen — konnte man in Paris erste Zweifel und Vorbehalte in bezug auf die in der atlantischen Allianz von 1950 bis 1952 gefundenen Regelungen beobachten61. Zunächst wurde offensichtlich, daß die in Lissabon beschlossenen äußerst ehrgeizigen Streit60 61

Soutou, Georges Bidault. Doise/Vai'sse, Diplomatie, S. 426 ff.

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kräftezahlen nicht erreicht werden würden. Im Hinblick auf den Indochinakrieg sowie auf die Aufstellung von Kräften für die europäische Armee, die den deutschen Kräften überlegen sein sollten, war Frankreich gezwungen, den größten Teil seiner Militärausgaben dem Unterhalt einer umfangreichen Truppe zu widmen. Dadurch konnte die Produktion von schweren Ausrüstungsgütern und Flugzeugen nicht weiter ausgebaut werden. Großbritannien schlug einen völlig anderen Weg ein; es trug wenig zu einer Stärkung der Allianz im Sinne der Lissaboner Ziele bei, entwickelte jedoch moderne Waffen, vor allem seine Luftfahrtindustrie und die Kernforschung. So hatte Großbritannien im vorangegangenen Jahr seine erste Atombombe zünden und seinen internationalen Einfluß steigern können. Dies stellte die britisch-französische Statusparität in Frage, die für die Franzosen eine wesentliche Richtschnur war. All dies geschah, als ob die Vereinigten Staaten (und Großbritannien) nichts mehr hielten von der Strategie der »Vorneverteidigung« so nah wie möglich am Eisernen Vorhang und gestützt auf beträchtliche konventionelle Streitkräfte, wie diese Strategie 1952 definiert worden war62. Paris begriff sofort, daß die Strategie der neuen Eisenhower-Administration sich stärker auf Kernwaffen stützen würde63. Die Angelsachsen verständigten sich darauf, die Bündisangelegenheiten zu regeln, sie behielten sich die große Nuklearstrategie und die Entwicklung der »angesehenen« Waffensysteme vor, während Frankreich das Fußvolk lieferte. Infolgedessen befand das französische Außenministerium Anfang 1953, daß Frankreich offen mit den USA verhandeln und verlangen sollte, daß die Angelsachsen zu den Beschlüssen von 1950-1952 zurückkehrten, und zwar sowohl hinsichtlich des Wiederaufrüstungsprogramms als auch der »Vorneverteidigung«. Außerdem sollte Frankreich an der Herstellung und Forschung im Bereich moderner Waffen beteiligt werden, wenn möglich im Rahmen eines integrierten atlantischen Programms, in dem die Angelsachsen nicht die einzigen wären, die sich mit den wirkungsvollsten und zudem für die wissenschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung profitabelsten modernen Waffen ausstatteten. Das war für die sich ihres Rückstands in diesem Bereich äußerst bewußten Franzosen eine sehr wichtige Überlegung. Andernfalls hatte sich Frankreich selbst der Erforschung moderner Waffen zuzuwenden — und dabei natürlich seinen NATO-Beitrag an Divisionen in bezug auf die Lissaboner Zielsetzungen zu reduzieren 64 . Es sei daran erinnert, daß Frankreich 1952 mit einem ehrgeizigen Fünfjahresplan zur atomaren Entwicklung begonnen hatte, und daß man sowohl in der Armee als auch im Kommissariat für Atomenergie mit ersten Studien zur Entwicklung von Kernwaffen begann 65 . In Paris war man der Meinung, daß Frankreich seine eigenen Konzeptionen überprüfen und ebenfalls der wissenschaftli62 63 64 65

AMAE, Service des Pactes, Note des Service des Pactes, 2.7.1953. AMAE, Service des Pactes, Note Herve Alphands, 8.6.1953. AMAE, Service des Pactes, Noten des Service des Pactes, 13.1. und 30.4.1953. Duval/Mongin, Histoire des forces nucleaires.

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chen Forschung und den modernen Waffensystemen Priorität einräumen müsse, wenn die Angelsachsen tatsächlich die Lissaboner Zielsetzungen aufgeben sollten, den sowjetischen Streitkräften konventionelle Streitkräfte in ausreichender Zahl entgegenzustellen, und sich einer See-, Luft- und Kernwaffen-Strategie zuwendeten (was tatsächlich dem von John Foster Dulles im Januar 1954 angekündigten »New Look« entsprach)66. Andernfalls würde Frankreich die politisch-strategische Führung des Bündnisses den Angelsachsen überlassen müssen67. Dies galt um so mehr, als die vieldeutigen Erklärungen der neuen amerikanischen Administration vermuten lassen konnten, daß die Vereinigten Staaten ihre Streitkräfte in Europa reduzieren wollten, insbesondere angesichts der deutschen Wiederbewaffnung und des Übergangs zu einer eindeutig nuklear geprägten Strategie. Es gab schließlich keinerlei zwingende Verpflichtung der Amerikaner, in Europa Truppen zu unterhalten 68 . Frankreich riskierte mithin die schlimmstmögliche Lage: ein wiederbewaffnetes Deutschland (im Falle eines Scheiterns der EVG und einer einseitigen US-Entscheidung möglicherweise gar mit eigener Nationalarmee im Rahmen der NATO, d.h., ein militärisches Übergewicht Deutschlands in Europa); der Kontinent ohne amerikanische (und britische) Streitkräfte; infolgedessen eine unzureichende atlantische Verteidigung, die die »Vorneverteidigung« aufgegeben hätte und mithin Frankreich nicht wirksam gegen die UdSSR schützen würde, wobei auch noch dessen alter Gegner mächtig wiederbewaffnet wäre69. Zu dieser beginnenden Infragestellung der atlantischen Integration, die nun nach der französischen Überzeugung vor allem die Angelsachsen und bald vielleicht auch Deutschland begünstigte, kam die Entwicklung der internationalen Lage hinzu. Stalins Tod und die wachsende Gegnerschaft der Franzosen zur EVG (seit Ende 1952 wurde bereits deutlich, daß es schwierig sein würde, sie vom französischen Parlament ratifizieren zu lassen) hatten ein ganz anderes Klima geschaffen als das von 1950-1952. Die »Atlantische Bewegung«, deren Höhepunkt in Frankreich 1952 mit der Regierung Pinay erreicht worden war, befand sich auf dem Rückzug. Viele Parlamentarier und Politiker (fast aller Parteien) sowie zahlreiche Diplomaten meinten von nun an, daß es vor einer endgültigen Zustimmung zur Wiederbewaffnung Deutschlands und der Ratifizierung der EVG angebracht wäre, einen letzten Vorstoß zu Verhandlungen mit der Sowjetunion zu unternehmen, um eine deutsche Wiederbewaffnung, aber auch eine wachsende deutsch-amerikanische Vertraulichkeit zu unterbinden, die man schon mit großer Beunruhigung vorausahnte. Diese Lage schwächte natürlich jene Politiker, die die EVG ratifiziert haben wollten und den bisher zurückgelegten Weg weiterzuverfolgen wünschten; dies waren sowohl Rene Mayer, Ministerpräsident von Januar bis Juni 66 67 68 69

AMAE, AMAE, AMAE, AMAE,

Service Service Service Service

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Pactes, Pactes, Pactes, Pactes,

Note des Service des Pactes, 8.6.1953. Noten des Service des Pactes, 23.6.1953. Noten des Service des Pactes, 26.10. und 6.11.1953. Noten des Service des Pactes, 5. und 14.11.1953.

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1953, als auch sein Nachfolger Joseph Laniel70. Hinzu kam noch, daß der Indochinakrieg sich 1953 erneut verschärfte und Paris noch mehr in die Lage eines Bittstellers gegenüber Washington drängte. All diese Faktoren, Verzug der Ratifizierung des EVG-Vertrages, Indochinaproblem, Haltung gegenüber der Sowjetunion nach Stalins Tod, Probleme des atlantischen Bündnisses, waren 1953 Gegenstand ständiger Diskussionen zwischen Paris, Washington und London, die auf der Bermudakonferenz im Dezember 1953 ihren Höhepunkt fanden. Angesichts der beschriebenen Schwierigkeiten und wachsenden Widerstände waren die französischen Verantwortlichen (Ministerpräsident Laniel und Außenminister Bidault) entschlossen, bei dieser Gelegenheit zum französischen Ausgangskonzept des Bündnisses zurückzukehren, und zwar so, wie es sich 1949 darstellte. Hinausgehend über die nach dem Koreakrieg geschaffenen und für Paris letztendlich enttäuschenden integrierten NATO-Gremien und -Mechanismen galt es zurückzukehren zu einer ständigen Abstimmung zwischen den drei Hauptmächten, auch über globale Strategieprobleme, zu denen nunmehr Fragen der Nuklearstrategie hinzukamen. Nur unter dieser Bedingung konnte Frankreich einer Wiederbewaffnung Deutschlands zustimmen. Insbesondere galt es, durch eindeutige Verpflichtungen hinsichtlich Planung und Truppen, zurückzukehren zur »Strategie der Vorneverteidigung«, wobei eine Koordinierung zwischen dieser und der amerikanischen Nuklearstrategie sicherzustellen und eine Zusammenarbeit in der wissenschaftlichen und Waffenforschung zu entwickeln war71. Bei ihrem Aufbruch zur Bermudakonferenz hatten Laniel und Bidault ein genaues Programm dieser Art im Gepäck, das vom Service des Pactes des Quai d' Orsay erarbeitet worden war und dem der französische Vertreter in der Standing Group, General Paul Ely, zugestimmt hatte72. Dieses Programm kündigte schon weitgehend die Standpunkte de Gaulles im Jahre 1958 an. Die französische Seite war allenfalls bereit hinzunehmen, daß die Abstimmungen mit den Engländern und Amerikanern informell und diskret verlaufen könnten, um die anderen Bündnispartner nicht vor den Kopf zu stoßen.

8. Die Bermudakonferenz (6.-8. Dezember 1953) und das Scheitern der französischen Konzeption für das atlantische Bündnis Bei dieser anglo-amerikanisch-französischen Konferenz ging es im wesentlichen um Fragen einer Konferenz mit den Sowjets über Deutschland, worüber man ja schon seit Stalins Tod debattierte, um die EVG und um Probleme der atlantischen Allianz. Über den ersten Punkt wurde man sich leicht einig, was zu der Außen70 71 72

Soutou, France and the German Rearmament Problem; ders., Georges Bidault. AMAE, Service des Pactes, Noten des Service des Pactes, 5. und 14.11.1953. AMAE, Service des Pactes, Note, 23.11.1953 (Bermudakonferenz. I iste der Probleme, die im

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ministerkonferenz in Berlin im Februar 1954 führen sollte. Es sei darauf hingewiesen, daß in der damals entscheidenden internationalen Frage, nämlich der der Beziehung mit der Sowjetunion hinsichtlich Deutschlands, der Abstimmungsprozeß zwischen Washington, London und Paris ausgezeichnet lief. In diesem Bereich bestand ein echtes westliches Direktorium, und die Unzufriedenheit der Franzosen in anderen Bereichen des Bündnisses darf die Realität der Zusammenarbeit auf dieser Ebene nicht vergessen machen. Die sowjetischen Noten von 1952 über Deutschland und Molotovs Vorstöße bei der Berliner Konferenz von 1954 führten auf Seiten der Westmächte zu gemeinsamen, abgestimmten Antworten, wobei Frankreich allzeit seinen Standpunkt vertreten und oft auch durchsetzen konnte73. Zum Thema EVG verlief die Diskussion hingegen dramatisch. Die Engländer und Amerikaner ermahnten ihre französischen Kollegen, den Vertrag schnell ratifizieren zu lassen, andernfalls drohten sie mit dem Abzug ihrer Streitkräfte vom europäischen Kontinent (»agonizing Reappraisal« würde Dulles es alsbald öffentlich nennen). Bidault antwortete, indem er mit Nachdruck auf das Opfer hinwies, das Frankreich erbringen sollte. Als einzige der drei Westmächte sollte es seine militärische Souveränität opfern. Um den EVG-Vertrag durch das Parlament ratifizieren zu lassen, brauche Frankreich die Hilfe seiner Partner. Dann präsentierte er den in Paris seit Jahresbeginn ausgearbeiteten Reformkatalog für das atlantische Bündnis: Bestätigung der Strategie der »Vorneverteidigung«; um die Bestätigung glaubwürdig zu machen, Verstärkung der atlantischen Allianz, deren Entwicklung mit der der EVG parallel verlaufen müsse; Stärkung insbesondere ihrer politischen Aufgaben durch institutionelle Änderungen; Harmonisierung der NATO- und EVG-Bestimmungen. Die Franzosen waren vor allem sehr besorgt über die unterschiedliche Vertragsdauer der atlantischen Allianz und der EVG, nämlich zwanzig und fünfzig Jahre, und über den wesentlich zwingenderen Inhalt des EVG-Vertrags. Sie fürchteten, durch ihn verpflichtet zu werden, ohne daß die Engländer oder Amerikaner durch den Atlantikpakt in ähnlicher Weise gebunden wären oder nicht mehr gebunden wären, falls dieser hinfällig werden würde. Insbesondere forderte Bidault ausdrücklich von seinen Gesprächspartnern die Verpflichtung, daß Amerika und Großbritannien sich nicht nach zwanzig Jahren aus dem Atlantikpakt zurückzögen. Die anderen französischen Forderungen waren förmliche Verpflichtung auf Seiten der Engländer und Amerikaner, auf dem europäischen Kontinent Truppen in einem ausreichenden Verhältnis zu den deutschen Streitkräften zu unterhalten, und Fortschreibung der Führungsrolle Frankreichs innerhalb der Allianz über die Standing Group auch nach Konstituierung der EVG74. Am 8. Dezember for-

73 74

Zusammenhang der atlantischen Organisation und der westlichen Strategie aufgeworfen werden könnten). Soutou, La France et les notes sovietiques. AMAE, Service des Pactes, Sitzungsprotokoll, 6.12.1953, und Text des Beitrags Bidaults vom selben Tag.

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derten die Franzosen darüber hinaus, daß die drei Länder ihre Forschung und Produktion im Nuklearbereich koordinieren sollten75. Zuletzt wünschten sie sich eine trilaterale Zusammenarbeit bei den Studien und Forschungen im Bereich der konventionellen Rüstung 76 . Es war schwierig, den Partnern die Befürchtungen und Hintergedanken Frankreichs hinsichtlich der EVG und des atlantischen Bündnisses überzeugend zu vermitteln. Sicher, das Bündnis mußte gegenüber den Sowjets Wirkung zeigen, daher die Forderung nach Rückkehr zu den Beschlüssen von 1950-1952 und zur »Strategie der Vorneverteidigung« sowie der Wunsch nach Stärkung der NATO. Aber die Allianz mußte auch in der Lage sein, Deutschland unter Kontrolle zu halten. Tatsächlich ging Frankreich im Rahmen der EVG eine enge Verbindung mit Deutschland ein, weil dies das einzige Mittel war, die Neubildung einer deutschen Nationalarmee zu vermeiden, aber von nun an fürchtete Frankreich innerhalb der EVG einen Zustand der Unterlegenheit gegenüber der Bundesrepublik. Daher die Forderung an die Angelsachsen, über die Frist von zwanzig Jahren hinaus in der NATO zu verbleiben und im Verhältnis zu den deutschen Streitkräften Truppen in ausreichender Zahl in Europa zu unterhalten. Daher auch die Forderung nach Beibehaltung der weltpolitischen Rolle Frankreichs innerhalb der Allianz einschließlich des nuklearen und Rüstungsbereichs. Damit waren die Franzosen nunmehr in puncto Integration, sei es im europäischen, sei es im atlantischen Bereich, in einem gewissen Widerspruch gefangen. Dieser Widerspruch spiegelt übrigens auch die tiefgreifenden Meinungsverschiedenheiten zwischen den Pariser Verantwortlichen selbst wider, zwischen jenen, die schon die EVG beiseite schieben und den Grad der atlantischen Bündnisintegration vermindern wollten (in der Regel mehr oder minder vom Gaullismus beeinflußte Politiker, Diplomaten und Militärs), und den anderen, die den 1950 eingeschlagenen Weg weiterverfolgen wollten. Bidault selbst versuchte ein schwierig zu erreichendes Gleichgewicht zwischen beiden Lagern herzustellen 77 . Im europäischen Bereich meinte man die Integration zur Kontrolle Deutschlands zu brauchen und suchte gleichzeitig nach Mitteln, den Nachteilen dieser Integration zu entrinnen. Auf der atlantischen Ebene hatte man seit Jahresbeginn vom französischen Standpunkt aus sehr deutlich die Nachteile der Integration gesehen, zumindest so, wie die Amerikaner sie praktizierten, aber um diesen Nachteilen auszuweichen, um die Allianz zu stärken und Deutschland zu kontrollieren, suchte man eine Stärkung der atlantischen Integration. Man wollte sicherlich eine andere Integration als die seit 1950 praktizierte und bestand auch auf Frankreichs Sonderrolle in der NATO, auf der Dreimächteführung der Allianz auf gleicher Ebene mit den Vereinigten Staaten und Großbritannien, was für Frankreich ein Mittel war, trotz Integration seine eigene weltpolitische Rolle zu bewahren. Um jedoch auf diese Weise aus den Widersprüchen 75 76 77

Der britischen und amerikanischen Delegation am 8. Dezember übergebener Text, ebenda. AMAE, Service des Pactes, Note, 1.12.1953. Soutou, Georges Bidault.

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herauszukommen, hätte es der Zustimmung der Partner zu Bidaults Vorschlägen auf den Bermudas bedurft. Churchill bezeugte jedoch Bidault gegenüber keinerlei Sympathien: Frankreich solle schlicht und einfach die EVG-Verträge ratifizieren. Dulles war zugänglicher, merkte aber an, daß eine Diskussion über die französischen Vorschläge zu einer Reform und Stärkung der Allianz nur stattfinden könne, wenn Paris die EVG ratifiziert habe78. Hinsichtlich der EVG und der NATO-Reform war die Bermudakonferenz für die Franzosen ein totaler Fehlschlag. Ob es nun um die in ihren Augen grundlegende Frage der Beziehung zwischen EVG und NATO ging (vor allem die Verpflichtung, englische und amerikanische Truppen in Europa zu behalten) oder um die Nuklearprobleme, Washington zeigte keinerlei Öffnung79. Das Scheitern der Bermudakonferenz und die bei dieser Gelegenheit äußerst starre Haltung der Angelsachsen verschlimmerten in Frankreich die EVG-Krise und beschleunigten den Rückzug des »atlantischen Geistes«.

9.1954: Das Ende der Integration als Grundsatz der französischen Europa- und Atlantikpolitik. Die nuklearen Probleme rücken in den Vordergrund Das Jahr 1954 war gekennzeichnet durch einen tiefgreifenden Wandel der Position Frankreichs hinsichtlich des atlantischen Bündnisses. Zunächst wurde mit Abschluß der Genfer Verträge am 20. Juli 1954 der Indochinakrieg beendet. Von nun an benötigte Frankreich weit weniger dringend die amerikanische Hilfe, deren Grenzen sich übrigens bei der Belagerung von Dien Bien Phu deutlich gezeigt hatten, als die Amerikaner (und die Engländer) sich geweigert hatten, der belagerten Garnison zu Hilfe zu kommen80. Das Scheitern der EVG am 30. August bedeutete andererseits einen dauerhaften Rückschlag für das Konzept der integrierten Verteidigung an sich. Die Pariser Verträge vom 23. Oktober brachten die Wiederbewaffnung Deutschlands, und zwar nach der von den Amerikanern von Anfang an befürworteten Formel, die Frankreich ursprünglich um keinen Preis hatte haben wollen, eine SACEUR unterstellte deutsche Armee von 12 Divisionen und somit die Aufnahme der Bundesrepublik Deutschland in die atlantische Allianz. Es zeigte sich allerdings, daß die Franzosen, wenn sie sich mit der deutschen Wiederbewaffnung gerade noch abfinden konnten, keinesfalls bereit waren, ihre militärische Souveränität zu opfern. Damit standen sie im Gegensatz zu den Befürwortern einer europäischen Armee, die gedacht hatten, eine deutsche Wiederbe-

78 79 80

AMAE, Service des Pactes, Sitzungsprotokoll der Außenminister, 6.12.1953. AMAE, Service des Pactes, Brief Jean-Marc Boegners, Leiter des Service des Pactes, 17.12.1953. Folin, Indochine, S. 247 ff.; siehe auch Dien Bien Phu. Um die Enttäuschung der glühendsten Anhänger der Allianz angesichts der angelsächsischen Haltung in der Schlacht von Dien Bien Phu zu ermessen, siehe Aron, Les articles.

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waffnung wäre nur in einem europäischen Rahmen denkbar. Letztendlich erschien die amerikanische Formel, die von den französischen Militärs immer bevorzugt worden war 81 , der französischen öffentlichen Meinung noch am annehmbarsten 82 . Nach dem Indochinadrama und nach Überwindung der EVG-Krise war die Stellung Frankreichs gegenüber der atlantischen Allianz in gewisser Weise weit weniger kompliziert. Endlich kam man aus den oben beschriebenen Widersprüchen und Wechselwirkungen heraus. Man konnte glauben, Frankreich werde jetzt in ein Stadium atlantischer »Normalität« einschwenken, und die amerikanische Hilfe, die bis 1964 vorgesehen war, werde die Modernisierung der französischen Streitkräfte in Europa und die Aufstellung der 14 Divisionen ermöglichen, zu denen Frankreich sich im Rahmen der Westeuropäischen Union verpflichtet hatte. Diese war ja durch die Pariser Verträge auf der Grundlage des Brüsseler Vertrages von 1948 geschaffen worden. Der Algerienkrieg sollte diese Hoffnung sehr schnell zerstören, und schon im November 1954 beunruhigten sich SACEUR und die NATO über den Umfang der auf Kosten der französischen Streitkräfte in Europa nach Algerien entsandten Verstärkungen 83 . Gleichwohl und selbst abgesehen vom Algerienkrieg, der von nun an ein wachsendes Störelement in den politischen und militärischen Beziehungen zwischen Paris und der Allianz bildete, sollte sich die Position Frankreichs gegenüber dem Bündnis 1954 tiefgreifend ändern; oder genauer, die seit Anfang 1953 spürbare Entwicklung in Richtung auf eine Rückkehr zum amerikanisch-britisch-französischen Triumvirat zu Lasten der seit 1951 praktizierten Integration sollte sich beschleunigen. Das lag an verschiedenen Faktoren. Zunächst einmal wollte Pierre Mendes France — seit 1954 Ministerpräsident und Marin der Genfer und Pariser Verträge — bei voller atlantischer Bündnistreue eine größere Unabhängigkeit Frankreichs gegenüber der amerikanischen Politik84. Hierin war er der Spiegel einer breiten Strömung der französischen öffentlichen Meinung, die seit 1953 ganz offensichtlich mehr um die nationale Unabhängigkeit besorgt und dem atlantischen Gedanken gegenüber kritischer eingestellt war85. Wenn Mendes France andererseits auch der Wiederbewaffnung Deutschlands zugestimmt hatte, so wollte er doch, daß Frankreich eine Überlegenheitsspanne gegenüber Deutschland bewahrte. Diese Überlegenheit sollte auf Atomwaffen beruhen, für deren Herstellung man sich durch geheimen Beschluß auf einer Sitzung aller Verantwortlichen entschieden hatte, die am 26. Dezember 1954 unter dem Vorsitz von Mendes France stattgefunden hatte86.

Zumindest von der Mehrheit unter ihnen. Einige, wie General Ely, waren dagegen entschiedene Anhänger der EVG. Siehe dazu Vial, La militaire et la politique. Soutou, France and the German Rearmament Problem. AMAE, Service des Pactes, Note des Service des Pactes für den Minister, 29.11.1954. Soutou, Pierre Mendes France. Ders., France. Ders., La politique nucleaire.

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Die französische Überlegenheit sollte aber auch auf der Einsetzung einer politischen und militärischen Leitung der Allianz durch die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich beruhen. Das war die alte französische Idee von 1948, die nunmehr dazu dienen sollte, Frankreichs Überlegenheit gegenüber Deutschland zu kennzeichnen. Entscheidenen Einfluß auf die Entwicklung der französischen Haltung hatte jedoch 1954 die tiefgreifende Richtungsänderung im atlantischen Bündnis im Gefolge der neuen amerikanischen Doktrin der massiven Vergeltung. Im Laufe des Sommers untersuchten die NATO-Instanzen die Anwendung dieser auf strategischen und taktischen Atomwaffen beruhenden neuen Strategie auf die Verteidigung Europas. Sie wurde auf der Atlantikratssitzung vom Dezember 1954 angenommen (MC 48). Bereits im August wies der französische Vertreter in der Standing Group, General Jean Etienne Valluy, nachdrücklich auf die Bedeutung dieser neuen, von den Amerikanern angestrebten Strategie hin. Jeder sowjetische Angriff auf Europa zöge einen sofortigen und massiven Gegenschlag mit strategischen und taktischen Atomwaffen nach sich. Diese Drohung sollte die Sowjets von einem Angriff abschrecken oder im Falle eines Krieges den Sieg der Allianz sicherstellen. Für Frankreich stellte die neue Strategie einen großen Vorteil dar. Die Amerikaner schlossen sich nunmehr wirklich der »Strategie der Vorneverteidigung« an, da für einen nuklear-taktischen Gegenschlag die ganze Tiefe des europäischen Kriegsschauplatzes erforderlich war. Und dank der Atomwaffen wurde es jetzt möglich, Europa auch ohne Aufstellung aller in Lissabon vorgesehenen Truppen wirklich zu verteidigen. Im Rahmen der neuen Strategie wären die bestehenden (durch die Wiederbewaffnung Deutschlands verstärkten) Sicherungskräfte ausreichend unter der Voraussetzung ihrer Anpassung an die Bedingungen eines atomaren Konflikts. Doch brachte die neue Strategie ein schweres Problem mit sich. Europas Verteidigung sollte noch stärker von den Vereinigten Staaten abhängig sein, und Frankreichs »Unterwerfung« im militärischen Bereich gegenüber Amerika würde sich vergrößern87. Der Generalstab in Paris sowie der Service des Pactes im französischen Außenministerium erfaßten sofort die Bedeutung der neuen Strategie und zogen zwei grundlegende Folgerungen: Für Frankreich war es nun mehr denn je erforderlich, über alle Einzelheiten der atomaren Strategie unterrichtet und an den Entscheidungen über einen Kernwaffeneinsatz im Kriege beteiligt zu sein, was wiederum das Problem der Dreimächteführung im Bereich der Globalstrategie auf eine noch dringlichere Grundlage stellte. Zudem galt es nun, unbedingt eine nationale Atomrüstung zu entwickeln, wenn Frankreich seine Unabhängigkeit und seine Stellung im Bündnis bewahren wollte88. Die Nuklearisierung

87

88

AMAE, Service des Pactes, General Valluy an den Chef des Generalstabs der Streitkräfte, 13.8.1954. AMAE, Service des Pactes, Generalstab der Streitkräfte, Abteilung für allgemeine Studien, Aktennotiz für den Minister, 21.8.1954; ebd., Note Jean-Marc Boegners, Leiter des Service des Pactes, 25.8.1954.

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der NATO im Jahre 1954 warf all die bereits zuvor wahrnehmbarem Probleme wieder auf, nur mit viel größerer Dringlichkeit. Am 10. September trat ein Verteidigungskomitee zu dieser Frage zusammen. Anwesend waren der Präsident der Republik, Rene Coty, Pierre Mendes France sowie die wichtigsten Minister und betroffenen Militärs, alle überzeugt von der Bedeutung der Neuigkeiten aus Washington. Das Atom war nun nicht mehr nur eine weit entfernte Garantie und ein letztes Mittel, es wurde ein Instrument zum sofortigen Gebrauch. Man konnte es nicht mehr beiseite lassen bei der Vorbereitung auf einen Krieg in Europa, was zuvor weitgehend möglich gewesen war, auch wenn man natürlich verschwommen auf die Wirksamkeit amerikanischer strategischer Bombardierungen gezählt hatte, um die konventionelle Unterlegenheit des Westens auszugleichen. Die von den militärischen NATO-Instanzen befürwortete neue Strategie wurde gebilligt. Ohne an diesem Tage gelöst zu werden, wurde die Frage einer französischen Atomrüstung emsthaft ins Auge gefaßt. Man war sich einig, daß eine Beteiligung Frankreichs am Entscheidungsprozeß über einen Atomkrieg unerläßlich sei. Ein solcher Krieg betraf ja nicht nur die amerikanischen strategischen Waffen, sondern mit den taktischen Atomwaffen ganz Europa. Hierzu bedurfte es der Bildung eines engen politischen Ausschusses, bestehend aus den Regierungschefs der drei westlichen Großmächte, die über einen Einsatz von Atomwaffen zu entscheiden hätten 89 . In den folgenden Monaten wurden diese beiden Fragen aktiv verfolgt. Die Entscheidung, eine Kernexplosion vorzubereiten, fiel am 26. Dezember. Auch wenn ein paar Tage später — aus politischen Opportunitätsgründen und weil keine Eile bestand, da die Explosion erst in einigen Jahren stattfinden sollte — Mendes France in einem förmlichen Regierungsschreiben auf die Bestätigung dieser Entscheidung verzichtete, begann die Atomenergiekommission bereits im Januar 1955 aktiv in dieser Richtung zu arbeiten90. Was nun die französische Beteiligung am nuklearen Entscheidungsprozeß innerhalb der Allianz betraf, so sahen die Pariser Verantwortlichen darin eine durch die weltpolitische Rolle Frankreichs gerechtfertigte strategische und politische Notwendigkeit. Daß die atomare Entscheidung auf die drei westlichen Großmächte beschränkt sein sollte, erschien ihnen vertretbar durch die in einem Krieg offenbar werdende äußerste Dringlichkeit. Im Dezember 1954 forderte Paris von den Engländern und Amerikanern die Schaffung eines Ausschusses der drei Regierungschefs, dem die Entscheidung zum Einsatz von Atomwaffen obliegen sollte91. Die deutsche Wiederbewaffnung und der Übergang der Allianz zu einer Strategie der massiven atomaren Abschreckung fielen zusammen. Beides drängte Paris, die Anfang 1953 eingeleitete Entwicklung zu vollenden und sich von der seit 1951 praktizierten Integration abzuwenden, um sie durch eine Dreimächteführung 89 90 91

Soutou, La politique nucleaire. Ebd. AMAE, Service des Pactes, Noten des Service des Pactes, 8.11. und 13.12.1954.

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des Bündnisses zu ersetzen — mit dem Hintergedanken, eines Tages Frankreichs Teilhabe an dieser durch eine eigene atomaren Bewaffnung mehr Gewicht zu verleihen. Sicher, es ging nicht darum, die Integration als solche oder die Führungsrolle Amerikas in der Allianz in Frage zu stellen, sondern man wollte im Lichte der seit 1951 erworbenen Erfahrungen und der Entwicklung der internationalen Verhältnisse ernsthaft ein neues Gleichgewicht der Kräfte anstreben.

10.1956: Nach der Enttäuschung von Suez zu einem europäischen Pol innerhalb der NATO? Washington war jedoch in keinem Fall bereit, den Einsatz von Kernwaffen zu teilen. Allein SACEUR in seiner Eigenschaft als Befehlshaber der amerikanischen Streitkräfte in Europa werde über den Einsatz taktischer Atomwaffen entscheiden — ohne irgendeine Kontrolle von Seiten der Alliierten, die zu jener Zeit nicht einmal über die vorgesehenen Ziele unterrichtet waren. Verhandlungen, die 1955 von General Valluy, dem Vertreter Frankreichs in der Standing Group, mit dem Ziel geführt wurden, die französische Luftwaffe im Geiste des MC-48-Dokuments mit Atombomben auszurüsten, scheiterten im Dezember, was den nuklearen Frust, den man in Paris immer mehr verspürte, noch steigerte92. 1956, unter der Regierung des Sozialisten Guy Mollet, der übrigens ebenso auf eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber den Vereinigten Staaten bedacht war, kam ein neues Motiv der Unzufriedenheit zu der amerikanischen Weigerung hinzu, die Nuklearentscheidung zu teilen und dem französischen Vorhaben einer Dreimächteführung in der Allianz endlich stattzugeben. Im Frühjahr 1956 gewannen die Franzosen den Eindruck, daß die Amerikaner angesichts des nuklearen Fortschritts der Sowjets die Doktrin der massiven Vergeltung aufgeben wollten, auf der seit 1954 die NATO-Strategie beruhte, und nunmehr versuchten, den nuklearen Schlagabtausch auf Ost- und Westeuropa zu begrenzen, was auf eine Minderung der amerikanischen Nukleargarantie und eine Aufgabe der Abschreckung zugunsten der Perspektive eines »begrenzten Atomkrieges« in Europa hinausliefe93. In Wahrheit scheint damals nichts dergleichen in Washington ins Auge gefaßt worden zu sein. 1956 wollten die Amerikaner tatsächlich die taktischen Nuklearstreitkräfte der NATO in Europa verstärken, allerdings, weil sie zu dem Schluß gekommen waren, daß strategische Atomschläge gegen sowjetisches Territorium, welche aufzugeben keineswegs in Frage stand 94 , eine sowjetische Offensive in Europa erst nach dreißig Tagen beeinträchtigen würde. Nun konnte aber die NATO über einen so langen Zeitraum nicht standhalten, ohne auf taktische Atomwaffen zurückzugreifen, da der Westen konventionell unterlegen war. Dabei blieb 92 93 94

Facon, Le general Mailly. Soutou, Die Nuklearpolitik. Rosenberg, US Nuclear War Planning 1945-1960, S. 48.

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man übrigens im Rahmen der Abschreckung. In erster Linie galt es, den Russen klarzumachen, daß die Rechnung, die man ihnen unterstellte (sie seien bereit, den amerikanischen strategischen Atomschlag einzustecken, wollten in der Zwischenzeit jedoch Europa als Geisel nehmen) nicht aufgehen konnte95. Gleichwohl sahen die Amerikaner nun nicht mehr den Einsatz von 170 taktischen Sprengköpfen in Europa und dem Mittleren Osten vor, wie in den Plänen festgehalten, die seit Annahme des Prinzips der unmittelbaren und massiven nuklearen Vergeltung auf jeden sowjetischen Angriff durch die NATO im Dezember 1954 erstellt worden waren, sondern 170096! Einige amerikanische Offiziere, die wegen einer derartigen potentiellen Zerstörung Europas bestürzt waren, sollen General Valluy, Frankreichs Vertreter in der Washingtoner Standing Group, im Mai 1956 gewarnt haben, und dieser hat daraufhin seinem Verteidigungsminister Maurice Bourges-Maunoury geschrieben, desgleichen auch der Botschafter in den USA, Maurice Couve de Murville, der seinem Minister Christian Pineau schrieb97. Aber 1956 änderte sich die französische Politik insgesamt durch den Algerienkrieg, der in diesem Jahr und über Jahre hinaus zu einer Hauptsorge des Landes, ja zu einer regelrechten Zwangsvorstellung wurde. Auf politischer Ebene waren Politiker und Militärs darüber entzweit, ob der Verteidigung der französischen Besitzstände in Nordafrika und im übrigen Afrika, oder der Mitwirkung Frankreichs in der NATO und der Modernisierung seiner Streitkräfte der Vorrang einzuräumen sei98. Auf technischer Ebene wurde erneut die Modernisierung der französischen Streitkräfte durch einen Kolonialkonflikt behindert 99 . Ganz allgemein machte der Algerienkrieg in den Augen der Pariser Verantwortungsträger deutlich, daß die NATO der weltpolitischen Lage nicht angemessen war. Für die Politiker in Paris bestand die sowjetische Bedrohung nicht nur in Europa, sie war nicht allein militärisch und direkt, sie war auch indirekt und subversiv und offenbarte sich auch in Afrika und in Mittelost. Man sah nämlich oft im algerischen Aufstand eine Folge des »internationalen Kommunismus« 100 . Infolgedessen schien es überhaupt nicht angemessen, daß die NATO, und vor allem ihre drei Hauptmitglieder, ihre Politik gegenüber der Sowjetunion nicht auch in jenen Regionen koordinierten, die offiziell nicht vom Pakt abgedeckt wurden. Es war insbesondere unverständlich, daß Frankreich nicht die volle Unterstützung seiner Alliierten im Algerienkrieg erhielt. Diese Überlegungen führten nun keineswegs zu einer Infragestellung der NATO. Die aus den Parlamentswahlen vom Januar 1956 hervorgegangene Mehrheit der Linken und linken Mitte war genau so atlantisch wie die vorangegangene gemäßigte Mehrheit. Aber man war gleichwohl mehr und mehr davon überzeugt, daß die NATO einer umfas95 % 97 98 99 100

Wampler, NATO Strategie Planning, S. 26 ff. Ebd., S. 27. Private Quelle. Delmas, A la recherche. Die Konsequenzen für die Luftwaffe siehe Facon, Le general Mailly. Michael, Decolonisation, S. 178 ff.

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senden Reform bedürfe und daß Frankreich innerhalb der Allianz die Spitze eines europäischen und sogar euro-afrikanischen Pols einnehmen müsse. Ein weiterer bestimmender Faktor war natürlich die amerikanische Haltung in der Suezkrise, die mit der Landung der Engländer und Franzosen in Port Said Anfang November und mit dem bedrohlichen sowjetischen Kommunique in der Nacht vom 5. auf den 6. November ihren Höhepunkt erreichte. In Paris war man davon überzeugt, daß die Amerikaner bei dieser Gelegenheit ihre nukleare Garantie zurückgezogen hätten. Da konnte der atlantische Oberbefehlshaber in Europa, General Alfred M. Gruenther, nach der sowjetischen Note vom 5. November noch so sehr beteuern, die Vereinigten Staaten würden ihre Alliierten im Falle eines russischen Angriffs unterstützen; in den militärischen und diplomatischen Kreisen in Paris glaubte man zu wissen (zu Unrecht), daß Washington über diese Erklärung wütend gewesen sei und Gruenther beinahe entlassen worden wäre101. Tatsächlich war Eisenhower fest entschlossen, einen Atomkrieg auszulösen, sollten die Sowjets die Engländer oder Franzosen angreifen, und zwar auch dann, wenn dieser Angriff im Mittleren Osten erfolgen sollte, d.h. außerhalb des vom Atlantikpakt gedeckten Gebietes102. Nebenbei ist hier anzumerken, daß während der Suezkrise die Briten und Franzosen die Amerikaner über die mit Israel geschlossenen Verträge und über die geplante Operation nicht unterrichtet hatten103. Eine solche mangelnde Absprache innerhalb der Allianz wäre einige Jahre früher undenkbar gewesen und bewies zur Genüge, daß das Bündnis in einer Krise steckte. Außerdem kamen 1956 zwei neue Faktoren zum Tragen. Einerseits wurde unter den Europäern seit 1955 der »europäische Wiederaufschwung« verhandelt, der im April 1957 zu den römischen Verträgen führte (EWG, EURATOM). Alle möglichen Ideen in Sachen Europa auf der Grundlage einer deutsch-französischen Annäherung wurden nach der schwierigen Zeit in der Folge des Scheiterns der EVG von 1954 erneut diskutiert. Andererseits teilte Bundeskanzler Konrad Adenauer voll und ganz die Pariser Besorgnis angesichts der Entwicklung der amerikanischen Nuklearstrategie. Diese schien sich von der 1954 beschlossenen Strategie der massiven Vergeltung zu entfernen, die ja für die Europäer den Vorteil hatte, sehr abschreckend zu sein. Die französischen Verantwortlichen waren davon überzeugt, daß die massive strategische und taktische nukleare Abschreckung vom französischen und europäischen Standpunkt aus die bestmögliche Strategie sei, vorausgesetzt, die Angelsachsen unterhielten daneben umfangreiche konventionelle Truppen in Europa, um ihre Entschlossenheit herauszustellen und somit die Abschreckung zu verstärken und auf einen sowjetischen Überfall unterhalb der atomaren Schwelle antworten zu können104. Aber nun schien Washington eine gewaltige taktische 101 102 103 104

Private Quelle. Ambrose, Eisenhower, S. 500. Suez 1956. AMAE, Service des Pactes, Noten des Service des Pactes, 10.12.1956 und 3.1.1957.

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Nuklearschlacht in Europa ins Auge zu fassen, möglichst ohne strategische Waffen einsetzen zu müssen. Das erschien als Versuch, angesichts der sowjetischen Fortschritte die Zerstörung der Vereinigten Staaten zu vermeiden. In den Augen der Franzosen und auch der Deutschen war damit die Abschreckung abgeschwächt. Ein Konflikt in Europa, der den Kontinent verwüstet hätte, rückte stärker in den Bereich des Möglichen. Außerdem meinte auch Adenauer, daß die Europäer in der Allianz, in die die Bundesrepublik im Jahr zuvor eingetreten war, nicht genug Gewicht besäßen. Die Deutschen entdeckten gerade, wie sehr das Bündnis von den Angelsachsen dominiert wurde. Mit der von beiden geteilten Auffassung (unwichtig, daß sie falsch war) bezüglich einer Abschwächung der strategischen US-Garantie, mit ihrer Befürchtung hinsichtlich einer taktischen atomaren Zerstörung Europas und auch mit ihrer gemeinsamen Überzeugung, daß die Europäer in der Allianz mehr Gewicht haben müssen, waren sich bei einem Treffen am 29. September Guy Mollet und Adenauer in der Einschätzung einig, daß die amerikanische Präsenz auf dem alten Kontinent zwar immer noch unerläßlich sei, daß jedoch europäische Verteidigungsanstrengungen im Rahmen einer wiederbelebten Westeuropäischen Union (WEU) unternommen werden müßten 105 . Am 6. November, anläßlich eines offiziellen Besuchs Adenauers in Paris, im dramatischsten Augenblick der Suezkrise, an dem Tag, an dem die Engländer, die Franzosen mitziehend, die Operation aufzugeben beschlossen, überreichte Guy Mollet dem Kanzler den vom Quai d' Orsay und dem Verteidigungsministerium ausgearbeiteten Entwurf eines Protokolls über »deutsch-französische Zusammenarbeit im Bereich militärischer und Rüstungskonzeptionen« 106 . Es läßt sich vermuten, daß Paris, nachdem es begriffen hatte, daß die Vereinigten Staaten Frankreich allein die Neuorganisation der Allianz nicht zugestehen wollten, die es seit 1954 und sogar 1953 gefordert hatte, es für erforderlich hielt, innerhalb des Bündnisses eine Art europäischen Pol zu bilden. Im Dezember 1956 lud Verteidigungsminister Bourges-Maunoury seinen deutschen Kollegen Franz-Josef Strauß zur Besichtigung von militärischen und Forschungsanlagen nach Frankreich ein. Diese Einladung sollte im Januar 1957 zur Unterzeichnung des Abkommens von Colomb-Bechar führen, das eine breite Zusammenarbeit in Strategie und Rüstung vorsah. Dieses Abkommen wurde durch ein deutsch-französisch-italienisches Protokoll weitergeführt, das am 28. November 1957 von den drei Verteidigungsministern unterzeichnet wurde und eine Zusammenarbeit im Bereich der Atomwaffen vorsah. Die Franzosen selbst hatten im Sommer 1956 endgültig beschlossen, sich so schnell wie möglich mit Atomwaffen auszurüsten. Die Verhandlungen auf höchster Ebene zogen sich bis zur Rückkehr de Gaulles an die Macht im Juni 1958 hin107.

105 106 107

Soutou, Les problemes. AMAE, Generalsekretariat, Note, 22.1.1957. Soutou, Les accords.

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Georges Soutou

Für die französischen Verantwortlichen stellte sich das Endergebnis der fortschreitenden Revision ihrer Atlantikpolitik seit 1953 so dar: Es ging für sie vor allem — und zweifellos mehr als wirklich um die Schaffung einer europäischen Atommacht — darum, auf die Amerikaner Druck auszuüben, damit sie endlich einer Reform der atlantischen Allianz zustimmten und insbesondere anerkannten, daß der Besitz von Atomwaffen und die Entscheidung in Sachen Nuklearstrategie nicht den Angelsachsen allein vorbehalten bleiben dürfe. Gleichwohl Schloß man in Paris den Weg einer europäischen Atomrüstung nicht aus, falls Washington sich weigerte, die NATO in diesem Sinne zu reformieren. Dies ist die logische Konsequenz der Entscheidungen von 1954 über die massive Vergeltung, die — wie man im Rückblick begreift — die Problematik der atlantischen Allianz von Grund auf veränderten. Dies ist auch die Konsequenz des beständigen französischen Strebens seit 1948, an den wichtigen Entscheidungen der Allianz voll beteiligt zu sein. Gleichzeitig ist dies die Rückkehr zur Konzeption zahlreicher französischer Verantwortlicher aus den Jahren 1948-1950, nach der Frankreich innerhalb der atlantischen Allianz die Leitung eines europäischen Pfeilers übernehmen sollte. Man stellt also in dieser Geschichte eine große Kontinuität fest, eine Kontinuität, die übrigens mit der IV. Republik nicht zu Ende war. Mit seinem Memorandum vom 17. September 1958 an Eisenhower und Macmillan forderte de Gaulle nämlich nichts anderes als seine Vorgänger: die Mitwirkung Frankreichs an den Atomwaffenplänen der Allianz und die gemeinsame Definition einer globalen Strategie und Politik, die auch die in den Atlantikpakt nicht einbezogenen Gebiete abdeckte108. Sicherlich, die Philosophie de Gaulles schloß den Begriff der atlantischen Integration von vornherein aus, während die Verantwortlichen in der IV. Republik ihr im allgemeinen treu geblieben waren und sich vor allem darum bemüht hatten, sie im Sinne der französischen Interessen zu verbessern109. Demnach war der Bruch von 1958 weniger radikal als zuweilen angenommen wird. In jedem Falle war er das Endergebnis einer Entwicklung, die 1953 begonnen hatte.

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Va'isse, Aux origines. Die derzeitige französische Geschichtsschreibung beharrt vielleicht zu sehr auf einer Kontinuität in diesem Bereich und schmälert allzu häufig die unterschiedliche Sichtweise der beiden Republiken.

Antonio Varsori Italiens Außen- und Bündnispolitik 1949-1956 Im Frühjahr 1945 war Norditalien durch einen erneuten alliierten Truppeneinsatz und den Partisanenaufstand befreit worden. Die deutschen Armeen auf dem »Stiefel« hatten sich ergeben, und die letzten Überbleibsel von Mussolinis faschistischer Republik waren ausgelöscht. Der Krieg war vorüber, aber trotz des im September 1943 unterzeichneten Waffenstillstands und der Unterstützung der Kriegführenden war Italien ein besiegter Feindstaat, besetzt von alliierten Truppen. Es mußte damit gerechnet werden, daß diese Situation bis zur Unterzeichnung und anschließenden Ratifizierung des Friedensvertrages andauern würde. Italiens Niederlage bewirkte eine dramatische Veränderung seiner internationalen Rolle und stellte die im befreiten Land sich neu formierende antifaschistische Führung vor ernsthafte und schwerwiegende Probleme. Nach dem Zweiten Weltkrieg konzentrierte sich die Mehrzahl der Entscheidungsträger auf die schwierigen Herausforderungen im Land selbst, von der »konstitutionellen Frage« über den wirtschaftlichen Wiederaufschwung, die schwierigen Beziehungen zwischen den verschiedenen politischen Kräften bis hin zu den sozialen Mißständen. Die neue Führungsriege konnte jedoch Italiens internationale Rolle nicht außer acht lassen, da offensichtlich war, daß das innere Gleichgewicht eng mit dem internationalen Ansehen Roms verknüpft war. Darüber hinaus hegte die Mehrzahl der führenden Persönlichkeiten in Italien die Hoffnung, daß dem Land der Wiederaufschwung gelingen würde und damit die Rolle einer Mittelmacht wiederherzustellen sei, um einen gewissen Einfluß in zwei Bereichen ausüben zu können, in denen Rom traditionell seit der Vereinigung eine Rolle gespielt hatte: in Europa und im Mittelmeerraum1. Zwischen dem zweiten Halbjahr 1945 und Ende 1946 galt die ganze Aufmerksamkeit der italienischen Außenpolitiker dem Friedensvertrag, um zu vermeiden, daß dem Land ein Friede zu Bedingungen auferlegt wurde, denen Strafcharakter hätte unterstellt werden können. Italien konnte keinen wirklichen Einfluß auf den Friedensprozeß nehmen, und der Vertrag war in erster Linie das Ergebnis von Entscheidungen und Kompromissen der Siegermächte. Als im Herbst 1946 der Vertrag in groben Umrissen bekannt wurde, war in der italienischen Öffentlichkeit wie bei den führenden Politikern tiefe Unzufriedenheit über das Ergebnis der Pariser Friedenskonferenz zu verspüren.

1

Zu Italiens internationaler Rolle in der unmittelbaren Nachkriegszeit siehe L'Italia e la politica di potenza; Di Nolfo, La Repubblica ist eine Studie, die sowohl die internen wie die internationalen Faktoren sorgfältig abwägt.

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Aber Premierminister Alcide de Gasperi und der Anfang 1947 zum Außenminister ernannte Carlo Graf Sforza kamen zur Überzeugung, daß es für das Land am besten sei, sich in die Entscheidungen der Siegermächte zu fügen, da nur so — zumindest theoretisch — die Aussicht auf die Rückgewinnung der vollen Souveränität und eines gewissen diplomatischen Spielraumes bestand. Im Februar 1947 unterzeichnete Italien den Friedensvertrag, der von der Konstituierenden Nationalversammlung im Juli 1947 ratifiziert wurde, obwohl für zwei Bereiche — die Zukunft des Freistaates Triest und der früheren Kolonien — eine endgültige Lösung noch ausstand. Schon am Vorabend der Unterzeichnung des italienischen Friedensvertrages brachte die Regierung Truman ihr Interesse an seiner schnellen Revision zugunsten der Forderungen Roms zum Ausdruck2. Anfang 1947 wurde Italien immer noch von einer antifaschistischen Koalitionsregierung unter Beteiligung der Christdemokraten, der italienischen Kommunistischen Partei (PCI) und der Nenni-Sozialisten (PSI) — wobei letztere ein enges Bündnis mit den Kommunisten eingegangen waren — regiert. Aber der sich abzeichnende Kalte Krieg begann, das schon schwer belastete politische Gleichgewicht zu zerstören. Im Januar 1947 hielt sich Alcide de Gasperi zu wichtigen Gesprächen in den Vereinigten Staaten auf. Bei dieser Gelegenheit wurde der führende Christdemokrat als Ansprechpartner Washingtons für Italien anerkannt. De Gasperi konnte feststellen, daß seine Position in den Augen der Amerikaner an Gewicht gewonnen hatte. Er wurde auch unterrichtet, daß Washington ein weltweites Engagement plante, um dem expansionistischen Streben Moskaus Einhalt zu bieten3. Der Premierminister zog bei seiner Rückkehr nach Italien Nutzen aus den internen Unstimmigkeiten in der Regierung und verbannte die Kommunisten wie auch die Nenni-Sozialisten aus seinem Kabinett. Die linken Parteien protestierten nicht zu sehr, da die ersten allgemeinen Wahlen bevorstanden und sowohl die PCI wie die PSI auf einen Sieg hofften. Angesichts dieser Lage war es besser, in der Opposition zu bleiben, da somit eine Kritik an einer scheinbar schwachen Ein-ParteienRegierung, die sich mit schwerwiegenden wirtschaftlichen und sozialen Problemen herumschlagen mußte, leichter fiel4. Wenige Wochen darauf hielt jedoch der US-Außenminister George C. Marshall seine berühmte Rede in Harvard, durch welche das Europäische Wiederaufbauprogramm in Gang kam. Die italienische Regierung begrüßte Marshalls Rede mit Nachdruck, da der amerikanische Plan als Quelle für die dringend benötigte wirtschaftliche Hilfe gesehen wurde und in Verbindung mit der bevorstehenden Wahlkampagne genutzt werden konnte. Italien wurde die Gelegenheit geboten, sich an einem internationalen Vorhaben unter theoretisch gleichen Bedingungen wie die mächtigsten europäischen Staaten zu beteiligen. Es ist bezeichnend, daß die italienischen Stellen auf eine möglichst frühzeitige Einbeziehung in die Verhandlungen über den Marshallplan 2 3 4

Poggiolini, Diplomazia della transizione. Siehe z.B. Serfaty, Gli Stati Uniti, über de Gasperis Besuch in den USA. Galante, La fine.

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drängten. Im Herbst 1947 bestätigte die Regierung in Rom ihre Unterstützung des amerikanischen Vorhabens. Zudem legte Sforza Vorschläge für die Schaffung einer französisch-italienischen Zollunion vor5. Ein solches Vorgehen sollte Roms Interesse an einem europäischen Gesamtprojekt hervorheben, auf das der Marshallplan aufbaute. De Gasperi und auch Sforza hofften, mit derartigen Entscheidungen die Beziehungen Roms zu Washington zu stärken und die freundschaftlichen Beziehungen zu Frankreich, das sich zunehmend verständnisvoll gegenüber den innenpolitischen Problemen und der internationalen Rolle Italiens zeigte, erneuern zu können6. Tatsächlich standen die italienischen Wahlen für die Westmächte zwischen Ende 1947 und Anfang 1948 im Rampenlicht, da die Halbinsel als eine jener europäischen Regionen eingeschätzt wurde, die von der expansionistischen Politik der Sowjetunion bedroht waren. Die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich unterstützten die von de Gasperis Christdemokraten geführten gemäßigten Parteien nachhaltig. Die antikommunistischen Kräfte hoben auf ihre Anlehnung an den Westen ab, die wiederum durch die Bindung an den Marshallplan vorgegeben war. Insbesondere die Vereinigten Staaten wurden in den verschiedensten Bereichen aktiv. Ihre Bemühungen reichten von wirtschaftlicher Hilfe bis zu Propaganda. In diesem Zusammenhang versuchte die Regierung Truman auch, das internationale Ansehen Italiens zu stärken. Zusammen mit den Amerikanern unterstützen die Franzosen und Briten in einer offiziellen Erklärung Roms Anspruch auf den Freistaat Triest7. Die Regierung de Gasperi begrüßte die Unterstützung der Westmächte, da die gemäßigten Parteien ernstliche Befürchtungen bezüglich des Wahlergebnisses hegten. Die italienischen Stellen nutzten das kommunistische Schreckgespenst nicht nur geschickt aus, um mehr wirtschaftliche Hilfe zu bekommen, sondern auch zur Stärkung der internationalen Rolle Roms. Das italienische Außenministerium konzentrierte sich auf die im Zusammenhang mit der Revision des Friedensvertrages stehenden nationalen Ziele wie die Zukunft von Triest und der ehemaligen Kolonien. Aus der Wahl im April gingen die Christdemokraten erfolgreich hervor, obwohl sich die Kommunisten als mächtige politische Kraft etablieren konnten, deren Anliegen keine italienische Regierung unberücksichtigt lassen konnte8. Anfang 1948 — in den letzten Phasen des italienischen Wahlkampfes — begannen die westeuropäischen Mächte mit der Ausarbeitung von Plänen für die Schaffung eines wirkungsvollen westlichen Verteidigungssystems, dem sich die USA innerhalb kurzer Zeit anschließen konnten. Obwohl Stalins Politik hauptsächlich als politische und propagandistische Drohung gesehen wurde, betrachteten Lon-

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Bagnato, Storia, zu dieser interessanten Episode. Beiträge in II Piano Marshall e l'Europa; Di Nolfo, L'Italie et le Plan Marshall, bezüglich der Haltung Italiens zum Marshallplan. Miller, The United States and Italy; Quartararo, Italia et Stati Uniti, informieren über die USPolitik gegenüber Italien. Di Nolfo, La Repubblica, insbesondere Kap. 8.

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don, Paris und die Benelux-Länder ein westliches Bündnis als einzigen Weg zur Sicherung Westeuropas. Die meisten führenden Politiker Westeuropas gingen davon aus, daß nur die Vereinigten Staaten eine wirkliche militärische Garantie für die »Alte Welt« übernehmen konnten. Dabei war insbesondere das britische Kabinett überzeugt, daß die Regierung Truman nur dann für ein festes Engagement in der Verteidigung der Alten Welt gewonnen werden könne, wenn Westeuropa gegenüber Washington einen definitiven Nachweis über die Entschlossenheit der Verteidigung mit eigenen Mitteln erbringen würde. Ende Januar 1948 gab der britische Außenminister Ernest Bevin seinen Plan für eine »Western Union« bekannt, und innerhalb von zwei Monaten unterzeichneten — beschleunigt durch Zwischenfälle wie den Staatsstreich in Prag fünf Nationen (Großbritannien, Frankreich und die Benelux-Staaten) einen politischmilitärischen Bündnisvertrag, den Brüsseler Vertrag. Zwischen Ende März und Anfang April trafen Vertreter aus den USA sowie aus Großbritannien und Kanada in Washington zu Geheimverhandlungen zusammen, um Wege und Mittel für die Schaffung eines westlichen Verteidigungssystems zu prüfen 9 . Sforzas erste Reaktion auf die von Bevin im Januar gehaltene Rede war zustimmend, da die Aussagen des britischen Außenministers als weitere Gelegenheit gesehen wurden, Rom in ein westliches System gleichberechtigt mit den führenden Westmächten einzubeziehen. Innerhalb kurzer Zeit änderte die Regierung de Gasperi ihre Haltung drastisch: Bevins vager Plan mündete in den Brüsseler Vertrag ein, der von der italienischen Linken beinahe unverzüglich als aggressives Bündnis bezeichnet wurde, das den internationalen Frieden bedrohen würde. De Gasperi und seine Mannschaft wußten nur zu gut, daß weite Kreise in Italien nach der traurigen Erfahrung des Zweiten Weltkrieges jegliche Beitrittspläne zu einem Militärbündnis ablehnten, das das Land sogar in einen Krieg hineinziehen konnte. Sogar der linke Flügel der Christ- wie der Sozialdemokraten neigte zum Pazifismus, wenn nicht sogar zur Neutralität. Die Führungsriege in Italien unterschätzte auch den Einfluß des Brüsseler Vertrages, da ihm die Vereinigten Staaten noch nicht beigetreten waren. Nach den Wahlen kam das italienische Außenministerium jedoch zur Überzeugung, daß sich das internationale Ansehen Italiens durch den Sieg der Christdemokraten und durch die US-Unterstützung entscheidend verbessert habe. Nach Auffassung einiger Diplomaten und Politiker war es möglich, die Beitrittsabsicht Italiens zum Brüsseler Vertrag zu erklären und insbesondere von London gewisse diplomatische Zugeständnisse zu erhalten. Aber die italienischen Stellen hatten das westliche Interesse an der Rolle des Stiefelstaates weit überschätzt. Nach Meinung der führenden westlichen Mächte hatte sich das innenpolitische Gleichgewicht in Italien stabilisiert, und sie konzentrierten ihre Aufmerksamkeit auf akutere Probleme wie die Berlin-Blockade und die Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Schaffung eines westlichen Verteidigungssystems.

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Siehe z.B. Varsori, II Patto di Bruxelles.

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Andererseits wurde Italien unter militärischen Gesichtspunkten eher als Belastung und weniger als Aktivposten gesehen. Die italienischen Streitkräfte unterlagen aufgrund der Klauseln des Friedensvertrages strengen Beschränkungen, und in London wurden Roms erneute Ambitionen im Mittelmeerraum als erhebliche Beeinträchtigung der imperialen britischen Interessen empfunden. Italiens vager Beitrittsantrag zum Brüsseler Vertrag wurde vom britischen Außenministerium rundweg abgelehnt 10 . Dieser diplomatische Rückschlag veranlaßte die gemäßigten italienischen Führungskreise, die heikle Frage der nationalen Sicherheit zu überdenken. Es kam hinzu, daß die innenpolitische Lage trotz des Wahlsiegs der antikommunistischen Parteien keineswegs stabil war. Im Sommer 1948 fanden in Italien wegen des mißglückten Attentats auf den Kommunistenführer Palmiro Togliatti gefährliche Ausschreitungen statt. Über einige Wochen hinweg glaubten die Regierungskreise in Rom, sie könnten Italiens internationale Probleme durch Unterstreichen der italienischen Unterstützung für die europäische Sache und durch die Entwicklung enger bilateraler Beziehungen zu den Vereinigten Staaten im Verteidigungsbereich — vielleicht nach griechischem oder türkischem Modell — lösen11. Beide Vorgehensweisen waren zum Scheitern verurteilt. Roms europäische Partner beachteten Sforzas Pläne kaum, die auf eine Stärkung der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit in Europa (OEEC) abzielten, während sich die Vereinigten Staaten auf die Anfangsverhandlungen zur Schaffung eines Atlantischen Bündnisses konzentrierten 12 . Im Herbst 1948 schienen die italienischen Führungskreise beinahe gelähmt. Die Vereinigten Staaten, Kanada und die Staaten des Brüsseler Vertrages schickten sich an, ein Militärbündnis zu schaffen, in das Italien eintreten mußte, wenn es nicht aus dem Kernbereich des westlichen Systems ausgeschlossen werden wollte. Die Regierung in Rom wagte jedoch nicht, die linke Opposition in diesem brisanten Bereich herauszufordern und hoffte immer noch, Italien könnte seine Einbeziehung in ein westliches Militärbündnis aushandeln. Tatsächlich war Italiens Beitritt zum Atlantikpakt das Ergebnis externer und interner Faktoren. Unter die externen Faktoren ist zu zählen, daß französische Politiker die frühzeitige Einbeziehung Italiens in den Atlantikpakt als ein Mittel sahen, ein Gegengewicht gegen den in Paris empfundenen Führungsanspruch der englischsprachigen Nationen zu schaffen. Einige Vertreter des US-Außenministeriums fürchteten, daß Italiens Ausschluß aus dem neuen Bündnis dem politischen Prestige de Gasperis ungeheuer schaden würde. Aus dem Bereich der internen Faktoren ist zu nennen, daß die in den wichtigsten westlichen Hauptstädten akkreditierten italienischen Botschafter nichts unversucht ließen, die Regie10

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Ders., La scelta occidentale, bezüglich der italienischen Politik; zur Haltung der Vereinigten Staaten siehe Smith, The United States. In den Anfängen des Kalten Krieges stärkte die Regierung Truman einige befreundete Staaten, insbesondere die Türkei, durch Gewährung von Militärhilfe, siehe dazu Pach, Arming the Free World. Varsori, La scelta, S. 136-159.

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rungskreise in Rom zu überzeugen, daß Italien die Gelegenheit verpassen würde, zu den Kernländern des westlichen Systems zu zählen, wenn kein Aufnahmeantrag in das atlantische Bündnis gestellt würde. Die Botschafter stellten auch klar, daß Italien keinerlei Gelegenheit haben würde, irgendwelche Vergünstigungen im Zusammenhang mit seinem Beitritt zum neuen Bündnis auszuhandeln13. Trotz des freundlichen Zuspruchs der Franzosen, der Hilfe von führenden amerikanischen Stellen und der Appelle der einflußreichsten Botschafter verhielt sich die Regierung in Rom sehr vorsichtig, im wesentlichen wegen der Sorgen über die innenpolitische Lage. Erst Anfang Januar 1949 stellten Sforza und de Gasperi den Antrag auf Mitgliedschaft im atlantischen Bündnis. Aufgrund dieser Entscheidung wurde Italien im April 1949 eines der Gründungsmitglieder des atlantischen Bündnisses, wobei jedoch darauf hingewiesen werden muß, daß im Abschlußstadium der Verhandlungen keine Vertreter Italiens zugelassen waren. Großbritannien hatte immer noch Vorbehalte gegen Roms Beitritt zum Bündnis. Auch Truman und Acheson hatten noch Ende März 1949 Zweifel, ob ein früher italienischer Beitritt möglich und zweckmäßig sei. Nur Frankreich unterstützte den italienischen Aufnahmeantrag und ging dabei sogar so weit, mit dem Abbruch der Verhandlungen zu drohen 14 . Die italienischen Führungskreise äußerten erneut ihre Sorgen über die innenpolitischen Folgen des Beitritts. Als der Vertrag dann unterzeichnet war, hoben sie auf die politischen und wirtschaftlichen Vorteile der Mitgliedschaft im Bündnis ab und spielten die militärischen Verpflichtungen herunter. Außerdem unterzeichnete Italien Anfang Mai den Vertrag, durch den der Europarat ins Leben gerufen wurde. Diese beiden Vorgänge wurden von der italienischen Öffentlichkeit nicht klar getrennt gesehen, sondern als Teil eines breitangelegten Bekenntnisses zum Westen. Trotz der Schwierigkeiten, die Italien im Zusammenhang mit dem Beitritt zum atlantischen Bündnis zu bewältigen hatte, versuchte die Regierung Profit aus diesem diplomatischen Erfolg zu schlagen, und erneuerte ihren Anspruch auf die ehemaligen Kolonien. Sforzas Bemühungen mündeten in die »Sforza-Bevin-Vereinbarung« ein, die dem italienische Ansinnen entgegenkam. Dieser Kompromiß wurde jedoch von den Vereinten Nationen verworfen. Ende 1949 mußte sich Italien mit dem kleinen Erfolg einer zehnjährigen Treuhänderschaft über Somaliland, die ärmste und rückständigste der früheren italienischen Kolonien, zufriedengeben15. Italiens Position in der Kolonialfrage war zwar aufgrund des Betritts zur atlantischen Allianz etwas gestärkt, aber die gezielten Bemühungen der Regierung de Gasperi im Jahr 1949 um eine maßgebliche Rolle in der frühen Aufbauphase des Bündnisses waren nicht von Erfolg gekrönt. Die wichtigsten atlantischen Mächte hatten nicht genug Vertrauen in den militärischen Wert Italiens. Ihr Augenmerk lag auf dem Rhein. Der Mittelmeerraum wurde dagegen noch als weniger brisant erachtet. 13 14 15

Ebd., S. 303-326. Varsori, Italy and Western Defence, S. 200-202. Siehe z.B. Rossi, L'Africa italiana, S. 397 ff.

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Es gab einige bilaterale Kontakte zwischen führenden italienischen und französischen Militärs, aber es wurde sehr bald offenkundig, daß man in Paris Italien als einen »Juniorpartner« betrachtete, der sich dem Willen der großen Bündnismitglieder zu beugen hatte16. Führende italienische Militärs sprachen sich vorrangig für die Entwicklung enger Beziehungen zu ihren amerikanischen Kameraden aus, von denen sie sich mehr Zugeständnisse und Hilfe versprachen17. Die Regierung in Rom mußte auch feststellen, daß die Mitgliedschaft im atlantischen Bündnis und die damit verbundene und von Washington vertretene Wiederaufrüstung die Wirtschaft des Landes belasten könnte, deren zügiger Wiederaufbau doch zu den Hauptzielen der gemäßigten Führungspersönlichkeiten gehörte18. Nicht zuletzt die geringen Erfolge der Italiener im Zweiten Weltkrieg ließen kein großes Vertrauen in die Rolle Roms in einem westlichen Verteidigungssystem aufkommen19. Im Mai 1950 trat der französische Außenminister Robert Schuman mit einem Plan zur Schaffung einer integrierten europäischen Kohle- und Stahlgemeinschaft hervor. Westdeutschland war der offensichtliche Partner in dem von Jean Monnet konzipierten Projekt. Es war die Absicht führender französischer Kreise, durch ein Bekenntnis zu Europa die französische Führung in Westeuropa zu festigen und zugleich die genaue Kontrolle des westdeutschen wirtschaftlichen und politischen Wiedererstarkens zu ermöglichen20. Weitere europäische Staaten wurden zur Beteiligung am Schumanplan aufgefordert. De Gasperi und Sforza bekundeten beinahe augenblicklich ihr Interesse an diesem Projekt. Italiens internationale Rolle würde gestärkt, wobei einige führende Persönlichkeiten in Rom hofften, daß die italienische Wirtschaft, insbesondere die Stahlindustrie, Gewinn aus dem Wettbewerb mit mächtigeren Wirtschaftssystemen ziehen könnte21. Es fällt auf, daß entgegen der protektionistischen Traditionen in Italien eine kleine, aber einflußreiche Gruppe von Politikern, Vertretern der Wirtschaft und hohen Beamten in der Nachkriegszeit die Auffassung vertrat, die wirtschaftliche Zukunft des Landes sei eng mit einer Politik des Freihandels und der offenen Märkte gekoppelt. Ihrer Meinung nach sollte die italienische Außenpolitik von solchen Zielen geleitet werden22. Im Juni 1950, nur wenige Wochen nach Bekanntgabe des Schumanplanes, griffen nordkoreanische Truppen Südkorea an. Die Furcht vor einer bewaffneten Auseinandersetzung zwischen Ost und West erfaßte augenblicklich die westlichen Hauptstädte. Die Stärkung des westeuropäischen Verteidigungssystems und die 16

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Bezüglich der Beziehungen zwischen Frankreich und Italien siehe z.B. Guillen, Les vicissitudes. Zu den Beziehungen zwischen Italien und den amerikanischen Militärs siehe die interessanten Ausführungen bei Nuti, L'esercito italiano. Zur Frage der Wiederbewaffnung Italiens siehe Sebesta, L'Europa indifesa. Siehe britische und französische Unterlagen, zit. in Varsori, Italy and Western Defence. Siehe z.B. Poidevin, Robert Schuman, S. 244-298; Roussel, Jean Monnet, S. 540-566. Bezüglich Italien und Schuman-Plan siehe Ranieri, L'Italia. Siehe die sehr interessante Bemerkung in Carlis, Cinquant' anni.

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Wiederbewaffnung Westdeutschland waren Washingtons und Londons entscheidende Ziele. Sowohl die Vereinigten Staaten wie Großbritannien übten starken Druck auf Frankreich wegen der Einbeziehung der Bundesrepublik in die atlantischen Verteidigungsstrukturen aus. Aber die Regierung in Paris fürchtete, daß Bonn durch eine solche Entscheidung wieder die volle Souveränität zurückerlangen könnte. Wieder einmal bot die europäische Sache der französischen Regierung einen geeigneten Ausweg, und Ende Oktober 1950 legte der französische Premierminister Rene Pleven den Plan für eine integrierte europäische Streitmacht in Übereinstimmung mit den im Schumanplan umrissenen Vorstellungen vor23. Die italienischen Führungskreise widersetzten sich dem französischen Vorgehen nicht. Tatsächlich hätte die Regierung de Gasperi die amerikanischen und britischen Pläne vorgezogen, da aus ihrer Sicht die Einbeziehung Westdeutschlands in das atlantische Bündnis die wirksamere Garantie für die Sicherheit Italiens war. Auch würde die wirtschaftliche Belastung durch die Wiederbewaffnung Westeuropas von der Bundesrepublik Deutschland mitgetragen werden müssen. Außerdem müßten die Vereinigten Staaten eine wichtigere Rolle in der Verteidigung der Alten Welt spielen24. Italien war zunehmend bereit aufzurüsten, eine Haltung, die von den wichtigsten Verbündeten Roms begrüßt wurde. Auch aufgrund der 1951 in dieser Richtung getroffenen Entscheidungen hoffte man, die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich veranlassen zu können, die militärischen Klauseln des Friedens Vertrages zu revidieren25. Tatsächlich hofften die italienischen Regierungskreise, daß sich ihr Einstehen für das atlantische Bündnis und die amerikanische Europapolitik in barer Münze vor allem auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet auszahlen würde, sie spekulierten auf eine einflußreichere Rolle im künftigen Nordatlantikpakt und für die Industrie des Landes auf einen Gewinn aus der Wiederbewaffnung. Hinsichtlich des Plevenplanes zielte die Zustimmung der Regierung de Gasperi zum Vorgehen der Franzosen darauf ab, Paris zufriedenzustellen und gegenüber den Vertretern der USA Roms Einsatz für die europäische Sache zu verdeutlichen. Man ging davon aus, daß die lauwarme Unterstützung der italienischen Regierung für den Plan zur Aufstellung europäischer Streitkräfte den Beziehungen zwischen Rom und Washington nicht schaden, dafür aber die Beziehungen zwischen Rom und Paris stärken würde. Nach Auffassung der meisten führenden Politiker in Italien war dem Plevenplan ohnehin keine lange Lebensdauer beschieden26. Zwar nahm eine italienische Delegation an den anfänglichen Verhandlungen über den Plevenplan teil, aber die Aufmerksamkeit Roms konzen-

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24 25 26

Bezüglich der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft siehe Fursdon, The European Defence Community; Clesse, Le projet de C.E.D. Varsori, Italy between Atlantic Alliance and EDC. Sebesta, L'Europa indifesa, S. 186-205; Poggiolini, II problema del revisionismo, S. 725-736. Varsori, Italy between Atlantic Alliance and EDC, S. 270-275.

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trierte sich in den ersten sechs Monaten des Jahres 1951 auf Italiens Rolle in der im Entstehen begriffenen NATO-Organisation, insbesondere auf die Entwicklung bilateraler Beziehungen zwischen Rom und Washington im Hinblick auf das mediterrane Operationsgebiet 27 . Die im Sommer 1951 in Paris geführten Verhandlungen über den Plevenplan mündeten in den Entwurf eines »Rapport interimaire« ein, in dem Beschaffenheit und Ziele der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) nach dem Vorbild der Montanunion umrissen wurden. Mittlerweile hatte die Regierung Truman ihre Haltung zum Plevenplan vollkommen geändert. Die Vereinigten Staaten unterstützten die projektierte Europäische Verteidigungsgemeinschaft mit Nachdruck. Somit schien die Europäische Armee Wirklichkeit zu werden. Die italienischen Stellen waren über eine solche Entwicklung sehr beunruhigt. Die Schaffung der EVG gefährdete die bilateralen Beziehungen, die Rom im Rahmen der NATO zu Washington aufgebaut hatte. Dadurch würde die Bedeutung der zentralen europäischen Front (d.h. die militärische und politische Rolle Westdeutschlands und Frankreichs) auf Kosten des mediterranen Operationsgebietes gestärkt und Rom um die wirtschaftliche und militärische Hilfe der USA gebracht werden, da diese von nun an von einer neuen europäischen Organisation verwaltet werden würde. Die EVG würde Italiens Druckmittel in einer vorwiegend militärischen und von Paris und Bonn dominierten Organisation schmälern 28 . De Gasperis Reaktion verfehlte nicht ihre Wirkung: der christdemokratische Parteiführer profitierte von den Vorschlägen, die vom Führer der Föderalisten, Altiero Spinelli, erarbeitet worden waren, und legte einen Plan vor, der auf die Umbildung der EVG in ein politisches Integrationsinstrument abzielte. Die Politik De Gasperis schien Aussicht auf Erfolg zu haben, da Artikel 38 des EVG-Vertrages die Schaffung einer Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG) vorsah, deren Rahmen durch die Versammlung der EVG erarbeitet würde 29 . Durch die Unterstützung der EPG spielte Italien eine wichtige Rolle in der Endphase der Pariser Verhandlungen, die zum Entwurf des EVG-Vertrages führten. Gleichzeitig gelang es der Regierung in Rom, sich bei der immer noch vorrangig auf die europäische Integration hinarbeitenden Regierung Truman ins rechte Licht zu rücken. Italien hegte die Hoffnung, bei erfolgreichem Überführen der EVG in eine umfassendere EPG, in der politische Ziele im Vordergrund stehen würden, seine Interessen wahren und Fragen der wirtschaftlichen Integration gleichberechtigt mit seinen großen westeuropäischer Partnern aushandeln zu können. Schließlich würde der NATO in einem solchen Rahmen immer noch ein ausschlaggebender Einfluß im militärischen Bereich eingeräumt. Der Atlantikpakt war jedoch ein Bündnis, das auf zwischenstaatlicher Zusammenarbeit beruhte, und die Regierung in Rom konnte hoffen, ihre Rolle weiter zu stärken und ihre 27 2S

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Ranieri, L'Italia, passim; Sebesta, L'Europa indifesa, S. 130-144. Bezüglich der italienischen Beurteilung des »Rapport interimaire« siehe Varsori, Italy between Atlantic Alliance and EDC, S. 276 f. Preda, Storia di una speranza.

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Beziehungen zu den Vereinigten Staaten zu verbessern, auch wenn Rom immer noch hauptsächlich auf die politischen und wirtschaftlichen Aspekte der NATO baute 30 . Im zweiten Halbjahr 1952 erzielte de Gasperi mit seiner Strategie einen weiteren Erfolg, als die Unterzeichnerstaaten des EVG-Vertrags einem französisch-italienischen Projekt zustimmten, das die entsprechend erweiterte MontanunionVersammlung zur Erarbeitung eines gültigen Rahmens für die EPG ermächtigte 31 . De Gasperi mußte jedoch immer die innenpolitischen Folgen der Einbeziehung Italiens in das EVG-Projekt im Auge behalten. Obwohl der Premierminister immer bemüht gewesen war, der italienischen Öffentlichkeit den friedlichen Charakter der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft und auch die positiven Folgen für das internationale Ansehen und die wirtschaftlichen Interessen Italiens darzulegen, lancierten die linken Parteien eine wirkungsvolle Propagandakampagne gegen de Gasperis Aussagen. Sowohl die Nenni-Sozialisten wie auch die Kommunisten erklärten, daß die EVG das Wiederaufleben des deutschen Militarismus begünstigen und den internationalen Frieden gefährden würde 32 . Trotz de Gasperis Bemühungen verfehlte eine solche Propaganda ihren Einfluß auf weite Teile der italienischen Öffentlichkeit nicht. Roms Option für den Westen — und insbesondere die Mitgliedschaft in der NATO und in der EVG/EPG — wurde ebenso harsch von der Rechten kritisiert, die behauptete, de Gasperi sei unfähig gewesen, im Gegenzug Zugeständnisse in der Triestfrage zu erhalten. Die Parteien des rechten Spektrums widersetzten sich unverhohlen einer Unterstellung der italienischen Truppen unter eine supranationale europäische Streitmacht33. Auch vom linken Flügel der Christdemokraten wurden noch pazifistischen Ideen vertreten. De Gasperi hatte zunehmend mit den innenpolitischen Folgen seiner Außenpolitik zu kämpfen. Die allgemeinen Wahlen rückten näher. Italiens Option für den Westen war ein umstrittenes Thema, das leicht von der Linken wie der extremen Rechten ausgeschlachtet werden konnte. Von Ende 1952 an bewegte sich de Gasperi in der Außenpolitik viel vorsichtiger. Das italienische Engagement für die EVG wurde reduziert, und die Ratifizierung des Pariser Vertrages wurde verschoben. Roms Mitgliedschaft in der NATO konnte nicht verneint werden, aber die militärischen Aspekte des Bündnisses wurden heruntergespielt. Die immer noch ungelöste Triest-Frage war das Thema aller politischen Parteien34. Während des ersten Halbjahres 1953 — die Wahlen waren für den Juni angesetzt — war der Führer der Christdemokraten gezwungen, seine Aufmerksamkeit und Energie auf innenpolitische Fragen zu konzentrieren, vor allem auf seinen Versuch,

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Varsori, Italy between Atlantic Alliance and EDC, S. 278-283. Preda, Sulla soglia. Brunori, I Partigiani. Bezüglich der Triestfrage siehe Valdevit, La questione. Varsori, Italy between Atlantic Alliance and EDC, S. 283-285.

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das Mehrheitswahlrecht einzuführen, das von der Linken sofort als »Schwindelsystem« gebrandmarkt wurde 35 . Die internationalen Entwicklungen während der ersten Monate des Jahres 1953 erleichterten de Gasperi die Arbeit nicht. Die neue Regierung Eisenhower schien sich einer unnachgiebigen antikommunistischen Politik verschrieben zu haben. Als Folge des republikanischen »New Look« übte Washington Druck auf die europäischen Verbündeten aus, den EVG Vertrag zu ratifizieren und militanter gegen »den Feind im eigenen Land« — im Fall Italiens also gegen die PCI und die PSI — vorzugehen 36 . Aber durch beide Zielsetzungen wurde das politische Gleichgewicht des Stiefelstaates gestört. Im März 1953 sah die westeuropäische Öffentlichkeit in Stalins Ableben und dem nachfolgenden außenpolitischen »Tauwetter« ein Anzeichen für das Ende des »Kalten Krieges«. Aufgrund der erneuten Friedensbemühungen Moskaus schien die Wiederbewaffnung Westdeutschlands (d.h. die Schaffung der EVG und der EPG) insbesondere nach französischer und italienischer Auffassung weniger dringend zu sein. Der amerikanische Druck wurde als Einmischung in die Innenpolitik der Bündnispartner empfunden. Weite Teile der westeuropäischen Öffentlichkeit priesen dagegen Winston Churchills nachhaltige Bemühungen um Entspannung 37 . De Gasperi unterlag in den Wahlen im Juni 1953 und mußte im August aus dem Amt scheiden. Giuseppe Pella, ein gemäßigter Christdemokrat, bildete eine Ein-Parteien-Regierung, die als Übergangslösung betrachtet wurde. Tatsächlich arbeitete Pella auf die Stärkung seines Kabinetts und seines politischen Ansehens hin. Nach seiner Auffassung war dies durch Befürwortung einer nationalistischen Politik im Blick auf die Triestfrage zu erreichen. Deshalb knüpfte der Premierminister die Ratifizierung des EVG-Vertrages an eine stärkere amerikanische und britische Unterstützung der italienischen Ansprüche auf den Freistaat. Damit zielte er natürlich auf die Zustimmung der nationalistischen Parteien des rechten und linken Spektrums ab. Pellas Strategie scheiterte jedoch. Weder die Regierung Eisenhower noch Churchills Kabinett hatten die geringste Neigung, sich Roms beinahe unverhohlener »Erpressung« zu beugen. Italien wurde als kleiner Störenfried betrachtet. Washington und London sahen Pellas Politik hauptsächlich als taktisches Vorgehen. Andererseits brauchten die gemäßigten italienischen Parteien die wirtschaftliche Hilfe des Westens und die militärische Garantie der NATO38. Ende 1953 trat Pella von seinem Amt zurück, und Mario Scelba, der unter de Gasperi Innenminister gewesen und als entschlossener Antikommunist bekannt war, wurde zum Ministerpräsidenten ernannt. Attilio Piccioni, ein führender Christdemokrat, wurde Außenminister. Scelba und Piccioni, die kaum über außen-

35 36

37 38

Piretti, Le ellezioni politiche, S. 370-384. Ein entschiedenes Vorgehen gegen die Kommunisten und Nenni-Sozialisten wurde oft von der neuen US-Botschafterin in Rom, Clare Boothe Luce, gefordert. Siehe Di Nolfo, La Repubblica, S. 400 f. Siehe z.B. Ashton, In Search of Detente, S. 66-104. Siehe insbesondere die detaillierte Studie von Leonardis, La »diplomazia atlantica«.

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politische Erfahrung verfügten, versuchten, in der Außenpolitik wieder auf de Gasperis Linie einzuschwenken. In ihren Erklärungen hoben sie auf Italiens Loyalität gegenüber der NATO und ihr Einstehen für die europäische Sache ab. Die Regierung hatte jedoch einen schwachen Stand. Infolge des Rückzugs de Gasperis aus der aktiven Politik (er starb im August 1954) und der Wahlen von 1953 waren die Regierungskoalitionen weitgehend von den unsteten Beziehungen zwischen den Mittelparteien und den verschiedenen Fraktionen innerhalb der Christdemokraten geprägt. Insbesondere in der katholischen Partei befürwortete der konservativere Flügel einen gewissen Schulterschluß mit Teilen der extremen Rechten, während der linke Flügel die Einbeziehung der Nenni-Sozialisten in eine künftige Mitte-Links-Koalition plante (solche Gegensätze wurden endgültig erst in den frühen sechziger Jahren mit der Bildung der Mitte-Links-Koalition gelöst39). Roms Außenpolitik war offensichtlich Ausfluß der labilen politischen Verhältnisse. Während der ersten Jahreshälfte 1954 konzentrierten Scelba und Piccioni ihre Aufmerksamkeit auf die »quereile de la C.E.D.« und die Abschlußverhandlungen über Triest. Die italienische Regierung betonte ihr Bestreben, den EVG-Vertrag vom Parlament ratifizieren zu lassen, bezweifelte jedoch, ob die französische Nationalversammlung zustimmen würde. Die beiden wußten auch nur zu gut, daß eine Parlamentsdebatte über europäische Streitkräfte in Italien auf erhebliche Ablehnung stoßen und zu ernsthaften Schwierigkeiten in der Regierungskoalition selbst führen würde. Während sich die Regierung in Rom vordergründig dem Druck der USA beugte, spielte sie auf Zeit, um das Ergebnis der »querelle de la C.E.D.« in Frankreich abzuwarten. Scelba und Piccioni waren sich bewußt, daß die italienische Öffentlichkeit mehr an der Zukunft von Triest interessiert war als am Schicksal der EVG. Deshalb war die italienische Diplomatie vorrangig bemüht, diese heikle Frage zu lösen. Italiens Mitgliedschaft in der NATO wurde von den meisten Entscheidungsträgern vor allem als Ausdruck der fruchtbaren bilateralen Beziehungen zwischen Rom und Washington und als lebenswichtige Garantie für das innenpolitische Gleichgewicht in dem Mittelmeerstaat gesehen40. Es überrascht nicht, daß die italienische Regierung in den letzten Phasen der EVG-Krise eine sehr untergeordnete Rolle spielte, obwohl die italienische Delegation bei der Brüsseler Konferenz (August 1954) den Forderungen von MendesFrance weniger kritisch gegenüberstand als die anderen Europäer und die USVertreter. Nach Ablehnung des EVG-Vertrages durch das französische Parlament waren die italienischen Stellen hauptsächlich über das Schicksal des westlichen Bündnisses besorgt. Sie beschworen offen ihre Treue zur NATO und ihre enge Bindung an die Vereinigten Staaten. Die gemäßigten Politiker befürchteten, eine Krise in der NATO könnte die Regierung Eisenhower zu einer isolationistischen Politik veranlassen. Eine solche Entscheidung der US-Regierung würde Rom der 39

40

Bezüglich der innenpolitischen Entwicklungen zwischen der Mitte der 50er und den frühen 60er Jahren siehe z.B. Lepre, Storia della prima repubblica, S. 157-222. Canavero, La politica estera.

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lebenswichtigen amerikanischen Garantie berauben und auch das innenpolitische Gleichgewicht Italiens ins Wanken bringen 41 . Als das britische Kabinett im September 1954 eine Kompromißlösung auf der Grundlage der Einbeziehung Westdeutschland und Italiens in den Brüsseler Vertrag und Bonns Aufnahme in die NATO vorschlug, befürwortete die Regierung in Rom den britischen Plan, da man hoffte, so die NATO zu retten und das amerikanische Engagement in Westeuropa zu sichern. In Rom wertete man die Aufnahme der Bundesrepublik in die NATO als strategisches Plus. Dagegen war die italienische Regierung in gewisser Weise über das offensichtliche Fehlen europäischer Aspekte im britischen Plan und über die erneuerte französisch-britische »Entente« besorgt. Nach Auffassung der Regierung in Rom schienen die Vereinbarungen von London und Paris (September — Oktober 1954) — wenn sie der Stärkung des atlantischen Bündnisses dienen sollten — eine Gewichtsverlagerung im westlichen System zu bewirken, in dem nun die Vereinigten Staaten, Großbritannien, Frankreich und Westdeutschland die Führung übernahmen. Das internationale Ansehen Italiens, das sich aufgrund des europäischen und atlantischen Engagements allmählich erholt hatte, war ernsthaft gefährdet. Weitere zur Entspannung beitragende Faktoren, die im Juli 1955 zur Gipfelkonferenz in Genf führten, schienen die Rolle der führenden westlichen Staaten bei der Festlegung der neuen europäischen Ordnung zu unterstreichen. Trotzdem herrschten bei den Entscheidungsträgern in Italien widersprüchliche Auffassungen über die Bedeutung der Entspannung sowie ihre Folgen für die Innenund Außenpolitik. Während gemäßigte Politiker und Diplomaten befürchteten, die Entspannung könne Moskaus Friedensstrategie förderlich sein und die von der PCI und PSI befürworteten neutralistischen Tendenzen wecken, vertraten einige linke Christdemokraten die Auffassimg, daß Rom durch eine Verringerung der Spannung zwischen Ost und West mehr Spielraum für diplomatische Manöver gewinne. Dieselben politische Kreise konzentrierten ihre Aufmerksamkeit auf die wachsenden Schwierigkeiten, mit denen sich London und Paris im Mittelmeer und im Mittleren Osten auseinandersetzen mußten, und auf das wachsende Unbehagen der Regierung Eisenhower über das britische und französische koloniale Erbe. Auch war im Oktober 1954 die Triestfrage endgültig geregelt worden. Die italienische Regierung mußte sich nicht mehr mit einem Problem herumschlagen, das negative Auswirkungen auf das internationale Ansehen Italiens und auf die italienische Innenpolitik gehabt hatte42. 1955 und 1956 schien die italienische Regierung eine wirksame Außenpolitik zu verfolgen. Im Hinblick auf die europäische Integration favorisierte die Regierung in Rom die »Wiedergeburt Europas«, indem sie eine aktive Rolle in den Verhandlungen übernahm, die in die Verträge von Rom und die Schaffung des Gemeinsamen Marktes und von Euratom einmündeten. In seiner NATO-Politik 41 42

Varsori, Italy between Atlantic Alliance and EDC, S. 286-292. Ders., L'azione diplomatica.

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betonte Rom die politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit. Der italienische Außenminister Gaetano Martino, der im September 1954 Piccionis Nachfolge angetreten hatte, gehörte dem Ausschuß der »Drei Weisen« an, der vom Nordatlantikrat zur Reform der Bündnisorganisation ernannt worden war43. Zur selben Zeit versuchte die italienische Regierung, eine wirksamere Rolle im Mittelmeer zu spielen und versuchte, ihre Beziehungen zur Regierung Eisenhower zu intensivieren, deren Sorge über diesen lebenswichtigen Raum laufend zunahm. Außerdem zeigte Rom Entgegenkommen gegenüber jenen Mittelmeeranrainem und mittelöstlichen Staaten, die im Begriff waren, ihre vollständige Unabhängigkeit von ihren ehemaligen europäischen Herren zu erreichen44. 1957 waren zehn Jahre seit Unterzeichnung des Friedensvertrages vergangen, der den Tiefpunkt in Italiens internationalem Ansehen gekennzeichnet hatte. Italien schien ein Mitspracherecht in internationalen Angelegenheiten zu haben. Das Land war Mitglied zahlreicher internationaler Organisationen. 1955 war Italien infolge der Entspannung in die Vereinten Nationen aufgenommen worden, was ihm früher durch ein sowjetisches Veto verwehrt worden war. Italien war Vollmitglied im westlichen Verteidigungssystem, also in NATO und WEU. Es hatte zur Wiederbelebung des europäischen Integrationsprozesses beigetragen und konnte sich auf enge Beziehungen mit den USA berufen. Trotz der militärischen Niederlage, einer schwachen Wirtschaft und einer wirren politischen Lage hatten die italienischen Entscheidungsträger die Rolle Italiens im sich formierenden westlichen System zum Tragen gebracht und seine Defizite (etwa die wirtschaftliche Rückständigkeit oder die Existenz einer mächtigen kommunistischen Partei) in wichtige Aktivposten verwandelt. Bei zahlreichen Anlässen war die Stärkung des internationalen Ansehens des italienischen Staates durch die führenden westlichen Staaten, insbesondere die USA, als nützliches Instrument zur Stabilisierung der innenpolitischen Verhältnisse verstanden worden. Hinzu kommt, daß der Verlust der afrikanischen Kolonien der Regierung in Rom den Vorteil bot, sich in den Augen früherer Kolonialvölker als ein Land darzustellen, dem nicht mehr das europäische Kolonialerbe anhing. Tatsächlich waren die Hauptziele der italienischen Außenpolitik der wirtschaftliche Wiederaufschwung und die Wiederherstellung des politischen Prestiges gewesen. Auch wenn der Kalte Krieg die Aufgaben der Führungsriege in Italien erleichtert hatte, waren die Aspekte der Konfrontation zwischen Ost und West in Rom stets Anlaß zu innenpolitischen Konflikten und zu einer Belastung für die knappen wirtschaftlichen Ressourcen des Landes gewesen. In diesem Zusammenhang hatte die italienische Regierung versucht, den Westen für ihre Version des Engagements zu gewinnen. Der Atlantikpakt galt als Instrument für die politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit, die EVG und die WEU als 43

44

Die europafreundliche Rolle von Martino ist nachzulesen in Gaetano Martino e l'Europa; hinsichtlich seiner Rolle in der NATO siehe FRUS, 1955-57, IV. Beiträge von B. Vigezzi und E. Di Nolfo in Power in Europe. Siehe auch Bagnato, Vincoli europei; ders., L'opinion publique.

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Mittel zur europäischen Integration. Europa und das Mittelmeer waren die beiden Regionen, in denen Italien einen gewissen Einfluß ausüben konnte. Die traditionellen westeuropäischen Mächte (Frankreich, Deutschland, Großbritannien) und die Mittelmeerländer waren Roms offensichtlichste Partner, aber Rom behielt immer die Position der Vereinigten Staaten im Auge. Das Interesse Amerikas an Italiens Loyalität zum westlichen Lager wurde als lebenswichtiger Faktor betrachtet, der die innenpolitische Lage stabilisierte und die internationale Rolle Italiens stärkte. Schließlich schaffte Italien in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre — auch aufgrund seiner internationalen Optionen — eine stete wirtschaftliche Entwicklung, durch die ein rückständiges Land in einen modernen Industriestaat verwandelt wurde. Trotz dieser Errungenschaften blieb das internationale Gewicht Italiens beschränkt, insbesondere im Vergleich mit den großen westeuropäischen Partnern. Aus militärischer Sicht erschien der Stiefelstaat nicht als ein großer Aktivposten, und sei es auch nur aus mangelndem Interesse der herrschenden Eliten, die internationalen Möglichkeiten Italiens richtig einzuschätzen. Während es Italien in der Mitte der fünfziger Jahre möglich gewesen war, die schwerwiegenden Probleme, von denen einige der wichtigsten Partnerländer beeinträchtigt worden waren (z.B. die Krise der Vierten Republik in Frankreich), für sich zu nutzen, übten von Ende der fünfziger Jahre an das Frankreich de Gaulles und Westdeutschland einen maßgeblichen Einfluß in Westeuropa aus, dem Italien nichts entgegenzusetzen hatte. Washington schätzte Italien zwar als treuen Verbündeten, sah das Land jedoch im Vergleich mit Frankreich, Großbritannien und Westdeutschland als einen Partner von geringerem Gewicht. Über lange Zeit wirkten sich die innenpolitischen Verhältnisse in Italien nachteilig auf die Außenpolitik aus. Auch wenn die Option für den Westen ein Dreh- und Angelpunkt der italienischen Nachkriegspolitik gewesen ist, so waren die Entscheidungsträger in Rom damals und später hauptsächlich aufgrund der Schwächen des politischen Systems nicht in der Lage, im westlichen Bündnissystem die führende Rolle zu spielen, für die sie sich oft stark gemacht hatten.

Luis Andrade Portugiesische Außen- und Bündnispolitik 1949-1956 1. Einleitung Portugals Beitritt zur NATO ist für die Außen- und Bündnispolitik des Landes während der Nachkriegszeit von grundlegender Bedeutung. Dieser Schritt bedeutete einen tiefgreifenden Wandel der Rolle, die Portugal jahrhundertelang gespielt hatte — einer Rolle, die geprägt war von Beziehungen, die man als »unverfängliche Bündnisse« bezeichnen könnte, speziell gegenüber den anderen Staaten auf dem europäischen Festland. Zumindest seit dem Zeitalter der Entdeckungsfahrten hatte der portugiesische Staat stets eine Außenpolitik verfolgt, die hauptsächlich davon gekennzeichnet war, möglichst zu vermeiden, in europäische Angelegenheiten hineingezogen zu werden. Im Zweiten Weltkrieg z.B. gelang es der portugiesischen Regierung, sich aus dem Konflikt herauszuhalten, dabei aber eng mit den Alliierten Mächten zusammenzuarbeiten, besonders nach 1942. In unserem Jahrhundert ist Portugal mit Ausnahme seiner Beteiligung am Ersten Weltkrieg durchweg bestrebt gewesen, sich aus Streitigkeiten jeder Art in Europa herauszuhalten, solange die eigene territoriale Unversehrtheit nicht gefährdet war. Vor dem Zeitraum, der hier behandelt wird (1949-1956), hatte es bereits einen ersten Kontakt gegeben, als Großbritannien sich im Vorfeld der NATO-Gründung Anfang Oktober 1948 diesbezüglich an die portugiesische Regierung gewandt hatte. Die anfängliche Reaktion von Außenminister Jose Caeiro da Matta ließ darauf schließen, daß er entweder die Tragweite der Angelegenheit nicht richtig erkannte oder sich mit dem Gedanken nicht so recht anfreunden konnte, denn er versäumte es, Ministerpräsident Antonio de Oliveira Salazar davon zu unterrichten. Bald darauf sah das britische Außenministerium sich veranlaßt, erneut an den portugiesischen Botschafter Antonio de Faria heranzutreten, auf daß sich die Regierung seines Landes eingehend mit dem Thema befassen möge. Die Verantwortlichen in Portugal waren zu jener Zeit in der Frage des NATOBeitritts ihres Landes uneins, und zwar aus unterschiedlichen Beweggründen. Einige waren dafür, weil sie dachten, damit werde eine Wiederbewaffnung Portugals ermöglicht und gleichzeitig ein engeres Verhältnis zu den Alliierten geschaffen. Dies sahen sie als äußerst positiven Schritt in die Zukunft und vor allem als geeigneten Weg zur Sicherung der überseeischen Besitzungen Portugals an. Zu den Vertretern dieses Standpunktes gehörte General Kaülza de Arriaga, der in seinem Buch über die portugiesische Landesverteidigung ausführt: »Die portugiesische Beteiligung an der atlantischen Allianz hat unsere Streitkräfte in die Lage versetzt zu lernen, wie man mit modernsten Mitteln und Vorgehensweisen Krieg

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führt, und sie dadurch qualitativ auf internationales Niveau angehoben1.« Generell ist festzustellen, daß Portugals Beitritt zur NATO von der militärischen Führung unterstützt wurde. Wer den gegenteiligen Standpunkt vertrat oder zumindest nicht nur positive Aspekte an der Sache sah, hielt dagegen, daß ein NATO-Beitritt Portugals zum einen die bilateralen Beziehungen zu Spanien erheblich beeinträchtigen und zum anderen amerikanischen Bestrebungen, sich auf portugiesischem Territorium — speziell auf der Inselgruppe der Azoren — ständige Militärstützpunkte einzurichten, Vorschub leisten könne. Gegen diesen Punkt hatte Salazar, zumindest während des Zweiten Weltkrieges, erhebliche Vorbehalte. Der Regierungschef zweifelte folglich, ob der Beitritt Portugals zur NATO der richtige Weg wäre, auch aufgrund der Tatsache, daß er keine weiteren Vorteile für sein Land erkennen konnte als die, die sich ohnehin aus dem englisch-portugiesischen Bündnis ergaben, das bis auf das Jahr 1373 zurückging und sich im Zweiten Weltkrieg als so immens wichtig für Großbritannien erwiesen hatte. Er gewann offenbar auch den Eindruck, die USA seien hauptsächlich deshalb an einem Beitritt Portugals zur NATO interessiert, weil sie sich ständigen Zugang zu Militärstützpunkten auf den Azoren sichern wollten, den Salazar nicht ohne weiteres gewähren wollte. Alles in allem sah er keine dringende Notwendigkeit für einen Beitritt seines Landes zur NATO, denn Portugal unterhielt ja bereits mit Großbritannien formelle Bündnisbeziehungen und gehörte somit zumindest indirekt der atlantischen Allianz bereits an. Salazar hatte während des spanischen Bürgerkrieges und ebenso im Zweiten Weltkrieg selbst vorhergesagt, eine der schwerwiegendsten Folgen beider Konflikte, wenn nicht sogar die schwerwiegendste überhaupt, werde die kommunistische Machtausdehnung in Europa sein. Er teilte die Ansicht, wonach die westliche Welt vor der gewaltigen Bedrohung einer — wie er es nannte — »Sowjetisierung Europas« vom Ural bis zum Atlantik stand. Salazars Haupteinwand gegen Portugals NATO-Beitritt bestand in der ständigen Präsenz der Alliierten Mächte, speziell der USA, auf portugiesischem Territorium in Friedenszeiten, die sich daraus ergäbe. Wenn es soweit käme, würde Portugal — so seine Sicht •— zumindest teilweise seine nationale Würde einbüßen mit den auf der Hand liegenden Folgen für die Souveränität und den Stolz seines Volkes. Generell war Salazar nicht gerade begeistert von der Idee, in Friedenszeiten einem Verbündeten, gleich welchem, ein ständiges Nutzungsrecht auf eigenem Grund und Boden zuzugestehen. Auch nahmen ihn stets die Beziehungen zum Nachbarland Spanien stark in Anspruch, denn er gehörte zu denen, die meinten, Spanien hätte von Anfang an, also schon bei der Gründung 1949, in das atlantische Bündnis aufgenommen werden sollen. Ein weiterer sehr wichtiger Umstand hängt damit zusammen, daß beispielsweise Kriegsminister Santos Costa ganz klar erkannte, Portugal könne sich nur über den Beitritt zum Atlantikpakt die militärische Unterstützung Amerikas 1

Kaülza de Arriaga, Portuguese National Defence, S. 17.

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sichern, weshalb er zu einem der stärksten Verfechter eines portugiesischen NATOBeitritts wurde2. Die innenpolitische Diskussion über diese Frage nahm einige Zeit in Anspruch (zumindest die ersten Monate des Jahres 1949), während in Washington die Alliierten bereits eifrig am NATO-Vertragstext feilten. Erst im März antwortete Portugal offiziell auf die Einladung der amerikanischen Regierung — genau zu dem Zeitpunkt, als die vorbereitenden Gespräche für die NATO-Gründung zum Abschluß gebracht wurden3. Für die Haltung Portugals zum atlantischen Bündnis ist ein sehr wichtiger Beweggrund zu berücksichtigen, nämlich die Erhaltung des portugiesischen Kolonialreichs. Dieser Punkt stellte lange Zeit eines der Kernelemente portugiesischer Außenpolitik dar4. Diese Frage verkörperte auch während des Zweiten Weltkrieges eine der Hauptsorgen der portugiesischen Regierung, und eben diese Sorge um die überseeischen Besitzungen veranlaßte Portugal schließlich, im fortgeschrittenen Stadium des Krieges (1943) zu einer Halbing überzugehen, die damals mit »kooperativer Neutralität« umschrieben wurde. Faktisch bedeutete dies, daß Portugal den Alliierten Mächten militärische Einrichtungen überließ — den Briten 1943, den Amerikanern 19445. Man kann diesen Kurs nach der Lehre von den internationalen Beziehungen durchaus als gutes praktisches Beispiel für Realpolitik werten; denn was Portugal erreichen wollte, indem es seine Neutralität erklärte, war die Erhaltung nicht nur seines unversehrten Staatsgebietes, also des portugiesischen Territoriums einschließlich der Atlantikinseln, sondern auch seiner überseeischen Besitzungen. Um dieses Ziel zu erreichen, verhielt sich das Land bis 1943 nach außen strikt neutral und ging, als sich klar abzeichnete, daß die Alliierten Mächte den Krieg gewinnen würden, zu einer »kooperativen Neutralität« über.

2. Die Entwicklungen im Vorfeld der Gründung der atlantischen Allianz Um die Stellung Portugals in der atlantischen Allianz richtig verstehen zu können, sei zunächst an die hauptsächlichen Motive erinnert, die zur Gründung der »Nordatlantischen Vertragsorganisation« (NATO) im April 1949 führten. Die Idee eines atlantischen Bündnisses kam schon vergleichsweise früh auf, möglicherweise im Zusammenhang mit dem britischen Bestreben, die USA in die Verteidigung Europas einzubinden. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges erkannten sowohl die Europäer als auch die Amerikaner, daß etwas getan werden mußte, um den sowjetischen Expansionismus in Europa und anderswo einzudämmen. Das entscheidende Jahr in diesem Zusammenhang war 1947, das Jahr, in dem die Erkenntnis sich faktisch durchgesetzt hatte, daß Europa seinen Wie2 3 4 5

Telo, Os Agores e a NATO. Ebd., S. 18. Andrade, Os Agores. Ders., Neutralidade Colaborante.

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deraufbau nicht aus eigener Kraft werde schaffen können. Es war auch das Jahr, in dem das wirtschaftliche Leben in Deutschland ganz zum Erliegen kam und in dem die beiden großen Siegermächte des Zweiten Weltkrieges, die USA und die UdSSR, als einzige berechtigterweise für die Zukunft noch das Attribut »Weltmacht« für sich in Anspruch nehmen konnten — allerdings mit politischen Grundüberzeugungen auf beiden Seiten, die zu antagonistischen Lösungen führten. Das Jahr 1947 hat auch besondere Bedeutung aufgrund der Truman-Doktrin und der Harvard-Rede von George Marshall, und zudem kennzeichnet es das Ende des amerikanischen Isolationismus und den vorläufigen Abschluß der Konsolidierung sowjetischer Macht in Osteuropa. Allgemein hatte die Niederlage Deutschlands und Japans ein enormes Machtvakuum östlich und westlich der Sowjetunion hinterlassen, aus dem Moskau sofort Kapital schlug, indem es Frieden und Sicherheit in Westeuropa und in der ganzen Welt bedrohte. Dies veranlaßte Winston Churchill, anläßlich einer Rede in Fulton/Missouri die Zweiteilung des europäischen Kontinents in zwei Einflußsphären zu beklagen: »Ein eiserner Vorhang wurde heruntergelassen. Was sich dahinter abspielt, wissen wir nicht6.« Es war hauptsächlich die sowjetische Bedrohung, die zur Gründung der atlantischen Allianz führte, dem einzigen Mittel, das geeignet schien, sich glaubwürdig dieser Bedrohung zu stellen. Andererseits waren die geostrategische Bedeutung des portugiesischen Staatsgebietes, speziell der Azoren, und die Ereignisse innerhalb Europas die Hauptgründe für die an Portugal ergangene Aufforderung, Gründungsmitglied der NATO zu werden, wodurch das Land in die Lage versetzt wurde, einen bedeutenden Beitrag zur Verteidigung und Sicherung der westlichen Welt zu leisten. Vor dem Hintergrund sowjetischer Expansionsbestrebungen in der Welt, speziell in Europa, hielt Präsident Truman am 12. März 1947 seine historische Rede vor dem amerikanischen Kongreß, in der es hieß: »Es muß ein Grundsatz der Vereinigten Staaten von Amerika sein, freie Völker zu unterstützen, die sich gegen den Versuch einer Unterwerfung durch bewaffnete Minderheiten oder Druck von außen wehren7.« Als Truman diese Rede hielt, dachte er in erster Linie an Griechenland und die Türkei — Länder, in denen dieser Druck besonders stark zu spüren war. »Könnte ein bestimmtes Jahr als Wendepunkt im amerikanischen Denken über internationale Verpflichtungen bezeichnet werden, dann das Jahr 1947. Der strenge Winter 1946/47 in Europa hatte nicht nur fortdauerndes Elend der Menschen in Form von Hunger, Kälte, Arbeits- und Hoffnungslosigkeit drastisch vor Augen geführt, sondern auch die Versuchungen, die der Kommunismus angesichts des Scheiterns eines demokratischen Kapitalismus scheinbar als Lösung bereithielt. Es war das Jahr, in dem die neutralistische Tendenz in der außenpolitischen Richtung, zumindest aber ihre scheinbare Ziellosigkeit unter der Regierung Truman, durch das zugrundeliegende Konzept der >Eindämmung< (containment) ersetzt 6 7

North Atlantic Treaty Organization, S. 13. Ebd., S. 18.

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wurde. Ausgelöst wurde diese Wende von den Thesen George Kennans über das Zusammenleben mit den Russen, die rasch breiten Anklang fanden8.« Schon 1944/45 war Kertnan zu der Erkenntnis gelangt, Präsident Roosevelts eifriges Bemühen, ein Klima der Partnerschaft und des Verständnisses im Verhältnis zur Sowjetunion zu schaffen, sei politisch, historisch und moralisch ein Fehler9. Es gab auch Entwicklungen in andere Richtungen. Nachdem bereits ein Bündnisvertrag zwischen Großbritannien und Frankreich vom 4. März 1947 existierte — nämlich der Vertrag von Dünkirchen, in dem beide Länder zumindest auf dem Papier Vorkehrungen für ein gemeinsames Vorgehen gegen eine künftige deutsche Bedrohung getroffen hatten — kamen Vertreter dieser beiden Staaten am 17. März 1948 mit Repräsentanten Belgiens, Luxemburgs und der Niederlande zusammen, um den Brüsseler Vertrag zu unterzeichnen. Dessen Hauptziel bestand darin, ein gemeinsames Verteidigungssystem aufzubauen und die kulturellen und wirtschaftlichen Beziehungen untereinander zu intensivieren. Unterdessen kam es aber zu einer Reihe von Ereignissen, die wesentlich zur Gründung der NATO beitrugen. Eines davon war der Sturz der tschechoslowakischen Regierung im Jahre 1948 infolge einer internen kommunistischen Revolte, die von der Roten Armee gestützt wurde. Paul-Henri Spaak kommentierte dieses Ereignis folgendermaßen: »Der entscheidende Faktor in der internationalen Politik nach dem Zweiten Weltkrieg war der Staatsstreich in Prag. Der Umstand, daß an die Stelle einer fortschrittlichen demokratischen Regierung ein totalitäres, von einer kommunistischen Minderheit beherrschtes Regime gesetzt wurde, nimmt in der Nachkriegsgeschichte eine Ausnahmestellung ein. Die Tragödie in der Tschechoslowakei war Auslöser für einen Sturm der Entrüstung im Westen. Von 1948 an war einem jeden in Westeuropa und in der Neuen Welt klar, daß die westlichen Nationen um ihrer eigenen Sicherheit willen sich zusammenschließen und dem sowjetischen Rußland klarmachen mußten, daß Prag der letzte Akt von sowjetischem Imperialismus auf dem europäischen Kontinent gewesen war, den wir hinnehmen würden10.« Ein weiteres Ereignis, das eine Schlüsselbedeutung für die Bildung der atlantischen Allianz hatte, war die fast ein Jahr andauernde Berlin-Blockade (20. Juni 1948 bis 12. Mai 1949). Aus diesem Klima von Mißtrauen und Besorgnis erwuchs im Westen der Drang zur Zusammenlegung von Verteidigungsmitteln, der zum Motor der Entwicklung hin zur Gründung der NATO wurde. Vor diesem Hintergrund sah sich Portugal trotz seiner neutralen Rolle im Zweiten Weltkrieg in verschiedener Hinsicht unter Druck gesetzt, sich an der Verteidigungsorganisation der westlichen Welt zu beteiligen. Salazar hatte bereits während des spanischen Bürgerkrieges wiederholt auf die Gefahr hingewiesen, die iberische Halbinsel könne dem Kommunismus anheimfallen. Und auch in den 8 9 10

Kaplan, NATO and the United States, S. 13. Cook, Forging the Alliance, S. 58. Zit. nach Cottrell/Dougherty, The Politics of the Atlantic Alliance, S. 13 ff.

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Jahren des Zweiten Weltkrieges stellte er mehrfach öffentlich fest, Portugal sei moralisch dazu verpflichtet, mit den westlichen Alliierten bei der Eindämmung sowjetischer Expansionsbestrebungen in Europa zusammenzuarbeiten. Nur wenige Tage nach Kriegsende definierte er vor der Nationalversammlung die Leitlinien für die künftige portugiesische Außenpolitik: »Mit dem Ende des Krieges ist auch unsere Politik der Neutralität beendet, und Portugal ist, wie jedes andere Land auch, ein Mitglied der Völkergemeinschaft. Allerdings gehören wir nicht zu denen, die sich gerade jetzt auf die schwierige Aufgabe konzentrieren müssen, die neue Satzung der Staatengemeinschaft zu formulieren. Unter den gegebenen Umständen sind wir nur der > kleine Mann auf der Straßeentangling alliances< kämen für Amerika überhaupt nicht in Frage — seien unnötig, unvorstellbar, unmöglich12.« Dann aber kam die sogenannte Vandenberg-Resolution, die am 19. Mai 1948 verabschiedet wurde und das Ende des amerikanischen Isolationismus bedeutete. Auf ihrer Grundlage konnten die USA sich mit anderen Ländern zusammenschließen, um sich gegen eine Aggression von außen zu verteidigen. In der VandenbergResolution wurden ausdrücklich einige Bedingungen für ein mögliches Zusammengehen Amerikas mit Europa definiert13. Man kann darin im Grunde genommen den direkten Anstoß zur Gründung der NATO sehen (der Nordatlantikvertrag wurde am 4. April 1949 in Washington unterzeichnet). Hier war ein radikaler Kurswechsel in der amerikanischen Außenpolitik zu erkennen. 150 Jahre lang hatten die Amerikaner ihre auswärtigen Beziehungen nach dem Grundsatz gestaltet, den George Washington in seinen berühmten Abschiedsworten seinen Landsleuten ans Herz gelegt hatte, nämlich sich um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern und sich von >entangling alliances< fernzuhalten und Verstrickungen in europäische Konflikte zu vermeiden14. Eines war klar: Infolge sowjetischer Expansionspolitik empfanden die Staaten des freien Europa angesichts der bereits deutlichen Bedrohung immer stärker die Notwendigkeit, Verteidigungsstrukturen irgendwelcher Art zu schaffen, um sich selbst zu schützen. »Es war unvermeidlich, daß sie sich früher oder später an die n

12 13

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Salazar, Portugal, a Guerra e a Paz (Rede vor der Nationalversammlung am 18.5.1945), in: Discursos e Notas Politicas, S. 101 ff. Cook, Forging the Alliance, S. 112. Kaplan, NATO and the United States, S. 23. Professor Kaplan macht in seinen Ausführungen geltend, die Forderung, daß alle Anstrengungen, europäische wie amerikanische, mit der Charta der Vereinten Nationen in Einklang stehen müßten, sei die Bedingung, die hierin am deutlichsten zum Ausdruck gebracht worden sei. Cook, Forging the Alliance, S. IX.

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Vereinigten Staaten wenden würden, die als einzige über die Macht verfügten, die UdSSR zu beeindrucken oder gar dazu zu bewegen, klein beizugeben. Die Reaktion der Vereinigten Staaten war prompt und entschlossen15.« Nur drei Tage vor Veröffentlichung des Wortlauts des Nordatlantikvertrages erging an Portugal, ebenso wie an Dänemark, Island, Italien und Norwegen, offiziell die Einladung, Gründungsmitglied des Bündnisses zu werden16. Es liegt auf der Hand, daß Portugal so gut wie gar nicht an der Ausarbeitung des Vertragstextes beteiligt war. In einer Rede vor der Nationalversammlung in Lissabon stellte Salazar fest, die Beteiligung der portugiesischen Regierung an der Formulierung des Vertrages sei relativ bescheiden gewesen. Sie habe im wesentlichen darin bestanden, einige Bemerkungen vorzubringen, auf einige Aspekte besonders hinzuweisen und zu versuchen, die hypothetischen Auswirkungen und präzise Bedeutung einiger Stellen des Vertrages nach Möglichkeit zu klären17. In derselben Rede betonte Salazar ausdrücklich, niemand dürfe sich Illusionen über den Status quo in Europa nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hingeben. Angesichts der wirtschaftlichen Lage auf dem alten Kontinent und der geistig-moralischen Erschöpfung und inneren Zerrissenheit in den europäischen Ländern sei die Sowjetunion in der Lage mit ihren Armeen bis zum Ärmelkanal und zu den Pyrenäen vorzustoßen18. Er stellte weiterhin fest, die Vereinigten Staaten und Kanada leisteten mit ihrer Initiative zur Schaffung des Nordatlantikpaktes einen unverzichtbaren Beitrag zu einer wirksamen Verteidigung auf dem europäischen Kontinent, und bewirkten mit ihrem Know-how und ihrer finanziellen Unterstützung eine Wiederbelebung der darniederliegenden Wirtschaft in den europäischen Ländern. Salazar erkannte, daß Europa ohne amerikanische Hilfe nicht in der Lage war, den Rest seines moralischen Erbes und seine Freiheit zu schützen und zu bewahren. Amerika gab seine isolationistische Haltung nur widerwillig auf, leistete Westeuropa jedoch schon aus Gründen der eigenen Sicherheit Hilfe und Unterstützung19. Gemeinsame Interessen ließen die Nationen der nordatlantischen Region zusammenrücken. Aber »über die Notwendigkeit der Zusammenlegung von Ressourcen zur Abwehr gemeinsamer Gefahren hinaus gibt es auch die zeitlosen Bindungen einer gemeinsamen Kultur — gemeinsame Werte, politische Institutionen, die miteinander vereinbar sind, und ein Netz von Kommunikation und den Austausch wissenschaftlicher, sozialer, politischer, wirtschaftlicher und künstlerischer Gedanken und Vorstellungen — die das Leben der Völker auf beiden Seiten des Atlantik von den frühesten Tagen bis heute bereichert haben20.« Im Grunde geht die nordatlantische Gemeinschaft in zeitlicher Hinsicht und im Hinblick auf ihre politische Zielsetzung über die Herausforderungen, die das totalitäre 15 16 17 18 19 20

Documentation sur 1ΌΤΑΝ, S. A l , III, S. 1. Ebd., S. A l , IV, S. 1. Salazar, Discursos e Notas Politicas, S. 421. Ebd., S. 406. Ebd., S. 420 f. Strausz-Hupe/Dougherty/Kintner, Building the Atlantic World, S. 4.

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Denken alter wie neuer Prägung für den Westen darstellte, hinaus. Der wesentliche Punkt liegt darin, daß diese Gemeinschaft nicht erst dadurch entstanden ist, daß im Jahre 1949 die NATO gegründet wurde — wie wichtig dieses Bündnis für die Sicherheit der Mitgliedstaaten auch sein mag. Die Allianz ist das Ergebnis von Kontakten und Austausch über Jahrhunderte hinweg sowie der Anpassung der europäischen Kultur an die Rahmenbedingungen der Neuen Welt21. Manch einer ist der Ansicht, die nordatlantische Gemeinschaft habe stets eine »Kultur des Dialogs« verkörpert, einen ständigen Gedankenaustausch zwischen Vertretern Europas und Nordamerikas. Andererseits hatte Washington sich am Ende des Zweiten Weltkrieges einem aktiven internationalistischen Programm verschrieben, das man auch weiterverfolgt hätte, wäre die Sowjetunion nicht geopolitisch und ideologisch als Rivale in Erscheinung getreten. Dieser Kernpunkt kam im Dokument des National Security Council (NSC 68) des Jahres 1950 zum Ausdruck, in dem Amerikas Strategie für den Kalten Krieg in klaren Worten definiert wurde als Strategie, die darauf abzielt, weltweit »Rahmenbedingungen zu schaffen, unter denen das amerikanische System überleben und gedeihen kann«22. Und genau das ist seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges geschehen.

3. Portugal — Gründungsmitglied der atlantischen Allianz Wie bereits erwähnt, wurde Portugal, obwohl es am 4. April 1949, als das Bündnis ins Leben gerufen wurde, kein demokratischer Staat war, dazu aufgefordert, Gründungsmitglied der NATO zu werden. Der Grund hierfür liegt auch darin, daß Salazar schon in den Jahren 1944/45 mehrfach gemahnt hatte, die westlichen Alliierten müßten etwas unternehmen, um einer sowjetischen Expansion in Westeuropa vorzubeugen. Salazar war der festen Überzeugung, Portugal sei moralisch dazu verpflichtet, an der Verteidigung einer bedrohten Kultur mitzuwirken23. Auch wurde die Ansicht vertreten, der Beitritt Portugals zum atlantischen Bündnis sei ganz einfach die logische Fortsetzung des englisch-portugiesischen Bündnisses aus dem Jahre 1373. Mit anderen Worten, es habe sich für Portugal schlichtweg angeboten, dem Atlantikpakt beizutreten, da das Land ja bereits mit einer der führenden Seemächte der NATO verbündet war und diese Allianz somit nur auf die aus dem letzten Weltkrieg hervorgegangene überlegene Seemacht ausdehnen würde. Dennoch gab es hochrangige Vertreter Portugals, die mit diesem außenpolitischen Kurs überhaupt nicht einverstanden waren. Für sie stellte er ein unverständliches Abweichen von traditionellen Direktiven portugiesischer Außenpolitik dar, nämlich jeder Art von Verstrickung in europäische Probleme aus dem Wege 21 22 23

Ebd. FRUS 1950,1, S. 238. Nogueira, The Pull of the Continent, S. 69.

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zu gehen24. Einer der schärfsten Kritiker des portugiesischen NATOBeitritts schrieb dazu: »Von den Vereinigten Staaten wurde eines Tages beschlossen, und das ist gar nicht lange her, denn es geschah mit der Stimme Roosevelts, die Grenzen ihres Einflußund Interessenbereiches festzulegen. Und ohne lange Umschweife wurde dabei die Inselgruppe der Azoren einfach in diesen Bereich einbezogen. Beim Atlantikpakt machen sie jetzt das gleiche mit ganz Portugal25.« Außerdem konnte Portugal den sowjetischen Militäraufmarsch in Mitteleuropa nicht als unmittelbare Bedrohung seiner eigenen Unabhängigkeit und territorialen Unversehrtheit empfinden, und es tat dies auch nicht. Wohl aber mußte der portugiesische Staat darauf bedacht sein, sein Kolonialreich zu wahren, und um dieses Ziels zu erreichen, waren freundschaftliche Beziehungen zu den beherrschenden Mächten im Atlantikraum, nämlich Großbritannien und den Vereinigten Staaten, von entscheidender Bedeutung. Einige der Gründe dafür, daß Portugal aufgefordert wurde, Gründungsmitglied der NATO zu werden, sind bereits genannt. Der wichtigste war aber die geopolitische und geostrategische Bedeutung der Azoren. Diese Inselgruppe mitten im Atlantik spielte schon während des Zweiten Weltkrieges eine sehr bedeutsame Rolle als Unterstützungsbasis, mit der den Seemächten ermöglicht worden war, einen großen Teil des Atlantischen Ozeans zu beherrschen 26 . Ein weiterer Aspekt ist die Tatsache, daß Portugals Verpflichtungen im Rahmen seiner auswärtigen Beziehungen nicht mit einem Beitritt zur NATO kollidieren durften. Weder das auf das Jahr 1373 zurückgehende Bündnis mit Großbritannien noch der »Freundschafts- und Nichtangriffsvertrag« mit Spanien von 1939 einschließlich des Zusatzprotokolls von 1940 standen der Absicht Portugals, sich der atlantischen Allianz anzuschließen, entgegen. Nach 1945 waren die Vereinigten Staaten die führende Seemacht. Im September 1951 Schloß Portugal ein bilaterales Verteidigungsabkommen mit den USA, das immer wieder neu verhandelt wurde, wobei die jüngste Anpassung Anfang 1995 erfolgte. Portugal leistet im Rahmen der atlantischen Allianz einen bedeutsamen Beitrag zur Sicherheit des Westens: »Das Entstehen neuer Bedrohungen und die Verstärkung der schon bestehenden hat die Rolle Portugals als Bindeglied immer wichtiger werden lassen, da das Land an der Nahtstelle zwischen der europäischen und der amerikanischen Komponente des Bündnisses gelegen ist27.« Von portugiesischem Territorium aus ist es möglich, die Seerouten im Ostatlantik, den Zugang zum Mittelmeer, die Routen Europa-Afrika, Europa-Lateinamerika, Europa-USA sowie Europa-Kanada zu kontrollieren und darüber hinaus auch — sehr bedeutsam — die Routen für eine rasche Verlegung von Verstärkungskräften im Falle einer Krise an Europas südlicher Flanke, im nordafrikani24 25 26 27

Crollen, Portugal, S. 31. Zit. nach Gomes, Politica Externa de Salazar, S. 239. Andrade, Os Agores. Gama, Politica Externa Portuguesa, S. 185.

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sehen Raum oder im Nahen Osten. Bis zum Zerfall des sowjetischen Imperiums, der 1989 mit dem Fall der Berliner Mauer seinen Anfang nahm, bestand eine der zentralen Funktionen der Azoren darin, die Bedrohung Europas und der Vereinigten Staaten durch sowjetische U-Boote zu überwachen. Angesichts all dieser Gesichtspunkte läßt sich leicht nachvollziehen, daß nach der Gründung der NATO sowohl die weitere Entwicklung der Bedrohung als auch die Formulierimg der NATO-Strategie zur Eindämmung dieser Bedrohimg oder zur Abschreckung vor einer Aggression im Konfliktfall maßgeblich zu einem allmählichen Wachsen des Stellenwertes Portugals innerhalb der europäischen Verteidigungsplanung und damit natürlich auch in der westlichen Welt insgesamt beitrugen. Ein weiterer sehr wichtiger Aspekt ist die Tatsache, daß durch den Teil des Atlantik zwischen den portugiesischen Inseln und dem portugiesischen Festland einer der meistbefahrenen und wichtigsten Seeverbindungswege der Welt verläuft. Infolgedessen stellten die geographische Lage Kontinentalportugals und der Azoren im besonderen einen entscheidenden Faktor dar, als die Partner sich 1949 entschlossen, das Land zum NATO-Beitritt einzuladen.

4. Die Bedeutung der Azoren seit Ende des Zweiten Weltkrieges Seit Ende des 15. Jahrhunderts haben die Azoren im Rahmen der Expansionsbestrebungen Portugals eine wichtige Rolle als Unterstützungsbasis gespielt. Der damit verbundene Stellenwert wuchs stetig an und dürfte im Zweiten Weltkrieg seinen Höhepunkt erreicht haben. In der Nachkriegszeit blieb die Bedeutung der Azoren in vielerlei Hinsicht erhalten, obwohl die weltpolitischen Konstellationen sich grundlegend verändert hatten. Das auf das 14. Jahrhundert zurückgehende Bündnis zwischen Portugal und Großbritannien ist über all die Epochen stets eines der tragenden Elemente portugiesischer Außenpolitik gewesen. Die Briten brauchten zur Umsetzung ihrer Außen- und Verteidigungspolitik stets überseeische Häfen und Stützpunkte, und Portugal bedurfte allzeit des Schutzes der mächtigen britischen Kriegsmarine. Das gleiche gilt auch für das Verhältnis zu den Vereinigten Staaten, besonders in diesem Jahrhundert. So stellte Präsident Roosevelt in einer Rede im Mai 1941 fest, daß es eine ernsthafte Bedrohung für die Sicherheit der Vereinigten Staaten darstellen würde, wenn die Azoren vom Feind besetzt würden 28 . In einem Telegramm an Premierminister Churchill schrieb er, daß »wir beide voll und ganz erkennen, wie wichtig es bei einem Krieg zu Lande, zu Wasser und in der Luft ist, eine Lufttransport- und Überführungsflugroute im mittleren Atlantik über die Azoren zu schaffen, weil dabei Millionen von Gallonen an Flug-

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Morrison, History of the United States Naval Operations, S. 65.

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benzin und Tausende von Flugstunden für Piloten wie für Triebwerke eingespart werden können29.« Hier kommt zum Ausdruck, daß im Zweiten Weltkrieg wie auch in der Zeit des Kalten Krieges der Aspekt der Sicherheit nicht das einzige Kriterium war, das für die USA im Vordergrund stand. Es galt auch, personelle und finanzielle Gesichtspunkte zu berücksichtigen, denn über die Azoren konnte eine schnellere und damit auch billigere Brücke zwischen den USA einerseits und Europa, Nordafrika und dem Nahen wie dem Fernen Osten andererseits geschlagen werden. Ein bedeutsames Beispiel hierfür war der Yom-Kippur-Krieg, in dem der Flugplatz Lajes auf den Azoren eine Schlüsselrolle in der Unterstützung Israels durch die USA spielte. Die Nutzung der Azoren und Islands für die Luft- und Seeaufklärung, insbesondere die U-Bootabwehr, brachte den Vereinigten Staaten Ersparnisse von etwa sechs Milliarden Dollar30. Der finanzielle Aspekt war für die USA schon immer von äußerster Wichtigkeit. In jüngster Zeit konnte man beobachten, daß die Amerikaner heute genauso wie damals bestrebt sind, sich den Zugriff auf Stützpunkte im Ausland zu sichern, um sich die Möglichkeit der Projektion ihrer militärischen Macht in Krisen- oder Konfliktsituationen im Nahen Osten oder sonstwo in der Welt zu bewahren. Über die Unberechenbarkeit und die Unsicherheit, die die Welt heutzutage kennzeichnen, können die USA nicht einfach hinweggehen. Die Wahrung der Handlungsfreiheit auf den Meeren im Zweiten Weltkrieg hatte genauso wie heute zentrale Bedeutung. Um eine Unterbrechung der Seeverbindungswege im damaligen Konflikt zu verhindern, plante die oberste amerikanische Militärführung, wie Llewellyn Woodward schreibt, für den Fall eines Angriffs der Achsenmächte auf das portugiesische Festlandterritorium die Besetzung der Azoren und der Kapverdischen Inseln. Dies zeigt deutlich die immense Bedeutung der Wahrung dieser Handlungsfreiheit für die internationalen Beziehungen — und zwar damals wie heute. In den Nachkriegsjahren und zu Beginn des Kalten Krieges waren die USA und die UdSSR die beiden mächtigsten Staaten der Welt, speziell im Bereich militärischer Schlagkraft. In diesem Zusammenhang verspürten die Vereinigten Staaten fortgesetzt die Notwendigkeit, sich den Zugriff auf Einrichtungen im Atlantik, die ihnen der portugiesische Staat 1944 zugestanden hatte, dauerhaft zu sichern. Hierbei darf man allerdings nicht vergessen, daß Salazar den Alliierten Mächten diese Nutzungsrechte erst eingeräumt hatte, nachdem er ausdrücklich Garantien erhalten hatte, daß Portugal nach dem Krieg die alleinige Bestimmung über seine Kolonialbesitzungen beibehalten werde31. In der Nachkriegszeit sollten sich die Azoren dann erneut als äußerst nützlich für die Alliierten Mächte erweisen — und zwar hauptsächlich für die USA, wie z.B. während der Berlin-Blockade, im Koreakrieg, im Libanonkrieg, im Konflikt um Belgisch-Kongo, im Yom-

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FRUS 1943, II, S. 553. Cottrell/Moorer, US Overseas Bases, S. 14.

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Kippur-Krieg und auch im britisch-argentinischen Krieg um die Malwinen/Falklandinseln. In den ersten Jahren des Bestehens der NATO »können die Azoren eindeutig nichts anderes als einen Eckpfeiler der NATO-Strategie der frühen fünfziger Jahre dargestellt haben, als aufgrund der Lage im Fernen Osten (Korea) die Furcht vor einem konventionellen sowjetischen Großangriff stark anwuchs. [...] Trotz der gegenwärtigen Betonung auf Abschreckung im strategischen Denken und weniger auf Verteidigung, trotz des technologischen Durchbruchs bei militärischen Transportflugzeugen und eines Klimas der Entspannung stellen die Stützpunkte auf den Azoren nach wie vor eindeutig den wichtigsten Beitrag Portugals für die USA und die NATO dar32.« Das Seegebiet, das von portugiesischem Territorium in einem sogenannten »strategischen Dreieck« umgrenzt wird (vom portugiesischen Festlandsterritorium, den Azoren und den Kapverdischen Inseln), ist von überragender Bedeutung, weil die Seetransportwege, die dieses Gebiet kreuzen, Hauptschlagadern für die Versorgung Europas in verschiedenen Bereichen darstellen. Einer dieser Bereiche betrifft natürlich den Transport von Rohöl. 65 Prozent des Bedarfs für Europa werden durch Portugals strategisches Dreieck transportiert. Generell gilt, daß 50 Prozent aller Rohstoffe aus Nord- und Südamerika, Afrika, dem Nahen Osten und dem Mittelmeerraum dieses Dreieck passieren, eine ausschließlich wirtschaftlich genutzte Zone von rund 1,27 Millionen Quadratkilometer Ausdehnung und damit eine Hauptdrehscheibe des Welthandelsverkehrs33. Die Inselgruppe der Azoren nimmt also eine Schlüsselstellung im Nordatlantik ein. Sie bildet ein wichtiges Element im »Inselgürtel« und kann als Stützpfeiler der Sicherheit der Vereinigten Staaten äußerst große Bedeutung erlangen, besonders im Rahmen der Umsetzung strategischer Konzepte wie etwa der »Vorneverteidigung« oder der »raschen Verstärkung«. Insofern fällt Portugal im allgemeinen und den Azoren im besonderen eine strategisch ganz entscheidende Rolle zu als »Schwelle« oder »Plattform« im Atlantik zwischen einem Kriegsschauplatz im eher westlichen Teil Europas und dem amerikanischen Binnenland. Nur dort sind schließlich die Kräfte und Mittel für eine echte Verstärkung der Kräfte im Falle eines Konfliktes tatsächlich auch vorhanden34. Dies waren im wesentlichen die Motive hinter der Absicht der US-Regierung, die amerikanische Präsenz auf den Azoren aufrechtzuerhalten, speziell in einer Zeit, die von höchst gefährlichen und unberechenbaren politischen und strategischen Rahmenbedingungen gekennzeichnet war. So bezeichnete Dean Acheson die Azoren und speziell den Flugplatz Lajes einmal als den weltweit wichtigsten Stützpunkt der USA überhaupt35. Von Christopher Cocker wurde die geostrategische Bedeutung der Azoren hingegen mit folgenden Worten beschrieben: 31 32 33 34 35

Crollen, Portugal, S. 35. Ebd., S. 57. George/Leeson, Portugal, S. 256. Miguel, Portugal, S. 30 ff. Zit. nach Cocker, NATO, the Warsaw Pact, S. 63 f.

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»Von den Einrichtungen auf der Inselkette aus war es möglich, U-Boote im Umkreis von 1000 Meilen aufzuklären.... [Diese Einrichtungen waren] das Bindeglied zwischen der 6. US-Flotte im Mittelmeer und deren Hauptversorgungsdepots an der Ostküste der Vereinigten Staaten. Kaum geringer war die Bedeutung der Flugplätze Terceira und Santa Maria, die im Jahre 1961 14 000 Starts, d.h. mehr als 40 Flüge pro Tag, verzeichneten und denen bei einer großangelegten Verlegung amerikanischer Truppen auf dem Luftweg eine Schlüsselfunktion zugekommen wäre36.« In einem an den US-Verteidigungsminister gerichteten Memorandum formulierten die Joint Chiefs of Staff, die Oberbefehlshaber der amerikanischen Teilstreitkräfte, folgenden Standpunkt: »Die Bedeutung Portugals liegt in erster Linie in der Bedeutung der auf den Azoren ausgeübten Rechte der US-Stützpunkte und in zweiter Linie in der Mitgliedschaft Portugals in der NATO. Der Wegfall der Azoren würde die Reaktionsschnelligkeit, Verläßlichkeit und Führbarkeit größerer US-Truppenkontingente ernsthaft beeinträchtigen37.« Es steht außer Frage, daß die Azoren seit jeher einen Eckpfeiler der NATO, speziell der strategischen Interessen der Vereinigten Staaten, darstellen.

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Ebd. Ebd., S. 64.

Gregor Μ. Manousakis Griechenland und die NATO 1949-1956 1. Die kommunistische »Aggression« und die Truman-Doktrin Als am 4. April 1949 der Nordatlantikvertrag in Washington unterzeichnet wurde, befand sich Griechenland noch im Krieg. Es ging ihm um die Abwehr der kommunistischen »Aggression« 1 , die bereits während der Besatzungszeit (1941-1944) durch die kommunistischen Partisanenverbände zum Ausdruck gekommen war. Dieser, zunächst als Rebellion aufgefaßte Bürgerkrieg erreichte im Dezember 1944 einen Höhepunkt, als die Kommunisten versuchten, Athen gewaltsam zu besetzen. Die nächste »Runde« setzte 1946 ein. Sie wurde von den kommunistischen Nachbarn Griechenlands initiiert und vielfältig unterstützt. Auf Antrag Athens wurde die Lage in Griechenland zwischen 1946 und 1948 Gegenstand ausgedehnter Debatten in den Vereinten Nationen (UNO). Die UNO verurteilte letztlich den kommunistischen Block als Urheber und Antriebsmotor des neuen Angriffes gegen Griechenland2. Die Kämpfe wurden erst im August 1949 mit der vollständigen Aufreibung der kommunistischen Verbände im Norden des Landes beendet. Griechenland ebenso wie die gesamte westliche Welt blieb bis zum Beginn der sechziger Jahre im Dunkeln über die Initiatoren der kommunistischen »Aggression« gegen Griechenland. Bis dahin wurde angenommen, daß Albanien und Bulgarien, vor allem aber Jugoslawien im Auftrag Moskaus mit den kommunistischen Partisanen als »Stellvertreter« den Angriff gegen Griechenland führten. Erst nach der Veröffentlichung der »Gespräche mit Stalin« von Milovan Djilas 1962 wurde bekannt, daß Stalin gegen den Aufstand in Griechenland war, da er keinen zusätzlichen Konflikt mit Großbritannien und den Vereinigten Staaten wollte3. Der Bürgerkrieg wurde von den Griechen kaum als eine heiße Form des damals einsetzenden Kalten Krieges wahrgenommen, was er in Wirklichkeit war. Vielmehr faßte man die russische Ausbreitung in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg als eine neue Form des Panslawismus auf. Entsprechend wurde der Bürgerkrieg als Aggres-

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Erst nach dem Sturz der Militärdiktatur und der Abschaffung der Monarchie (1974) wurde unter der Regierung Konstantin Karamanlis eine Teilrevision der jüngsten Geschichte des Landes vorgenommen und dabei die kommunistische Ansicht über einen Bürgerkrieg offiziell akzeptiert. Kyrou, He nea epithesis. Djilas, Gespräche mit Stalin, S. 299 ff.

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sion gegen Griechenland perzipiert: als ein Versuch der slawischen Nachbarn Griechenlands, an das Nordufer der Ägäis zu gelangen. Diese Sichtweise war von den Tatsachen nicht weit entfernt. Wohl waren die Partisanen, die für den Sieg des Kommunismus in Griechenland kämpften, von sozialpolitischen Vorstellungen geleitet und von kommunistischen Ideen inspiriert. Doch die nördlichen Nachbarn Griechenlands, insbesondere Jugoslawien unter Josip Broz Tito, und Bulgarien unter Georgi Dimitroff, strebten mit Wissen und Billigung der Führung der griechischen Kommunisten eine Balkanföderation an, die außer dem bereits damals bestehenden Jugoslawien das griechische, serbische und bulgarische Makedonien als 6. und Bulgarien selbst als 7. Teilrepublik umfassen sollte4. Unter diesen Umständen war Hellas bewußt, daß es auch nach der verlustreichen Niederschlagung der Partisanen nicht allein in der Lage wäre, dem kommunistischen Druck von innen und außen standzuhalten. Der Bürgerkrieg hat außer den verheerenden Sachschäden, die schwerer waren als die des Zweiten Weltkrieges, insgesamt 182 234 Tote und Verwundete verursacht, gegenüber 455 594 Toten und Verwundeten im Zweiten Weltkrieg5. Als Seemacht mit besonderen Interessen im Mittelmeer unterhielt Großbritannien traditionell enge Beziehungen zu Griechenland. London wollte und konnte auch nach dem Zweiten Weltkrieg nicht auf Griechenland als Partner verzichten. Winston Churchill gelang es im Oktober 1944 in Moskau, den Wunsch Großbritanniens bei Stalin informell durchzusetzen, »90 Prozent Einfluß in Griechenland« zu behalten. Daher das britische Engagement im Nachkriegshellas. Doch die vielfältigen Folgen des Krieges waren in Griechenland so ruinös, daß sich Großbritannien überfordert fühlte und gezwungen sah, sich zurückzuziehen. Am 24. Februar 1947 setzte London die Vereinigten Staaten darüber offiziell in Kenntnis. Das traf sich mit der gerade damals ausgereiften Absicht Washingtons, die weitere sowjetische Expansion »einzudämmen«. Bezeichnend dafür ist, daß drei Tage zuvor, am 21. Februar Dean G. Acheson dem damaligen Außenminister, General George C. Marshall, ein Memorandum vorgelegt hatte, in dem die prekäre Lage in Griechenland beschrieben und eine Reaktion seitens der Vereinigten Staaten vorgeschlagen wurde. Aus dieser Einschätzung wurde die Truman-Doktrin geboren, die Präsident Harry S. Truman am 12. März 1947 vor dem Kongreß verkündete. Sie erklärte es zur offiziellen Politik der Vereinigten Staaten, freie Völker in ihrem Kampf gegen die »innere und äußere kommunistische Aggression« zu schützen6. In der Tat haben die Truman-Doktrin und der anschließende Marshall-Plan Hellas in die Lage versetzt, die kommunistische Rebellion militärisch niederzukämpfen und wirtschaftlich zu überstehen. 4 5 6

G.A.L., He enantion, S. 263 ff. Gyalistras, Ethnikoi Agones, Tafel gegenüber S. 264. Vgl. Loth, Kalter Krieg, S. 299; aus weniger ausgewogener Sicht Krippendorff, Die amerikanische Strategie, S. 37 f.; ausführlicher Roumpates, Dhoureios Hippos, S. 39 ff.

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Trotzdem hatte die Truman-Doktrin auch negative Folgen für Griechenland. Der Zweite Weltkrieg hatte keine Erneuerung der politischen Landschaft bewirkt. Die politischen Akteure der Vorkriegszeit kehrten 1944 fast vollzählig auf die politische Bühne des Landes zurück, mit ihnen ihre Eifersüchteleien und politischen Differenzen. Trotz des Bürgerkrieges bestand daher ein Parteienhader, der für das amerikanische Engagement wenig ermutigend wirkte. Die Vereinigten Staaten mißtrauten der Fähigkeit der politischen Klasse, das Land aus den vielfältigen Krisen herauszuführen. Von großer Bedeutung für die politische Entwicklung war außerdem, daß jenseits der Rhetorik der Truman-Doktrin die Vereinigten Staaten in Griechenland und der Türkei mehr die Basis ihrer militärischen Präsenz im Ostmittelmeer und Nahen Osten suchten als sonst irgend etwas7. Unter diesen Umständen sah Washington sich veranlaßt, seine Hilfe an eine gewisse Einschränkung der souveränen Rechte Griechenlands zu binden. Zwischen Athen und Washington wurde am 8. Juli 1947 eine Vereinbarung über die amerikanische Hilfe an Griechenland unterzeichnet. Sie war die Grundlage für die Entsendung der American Mission for Aid to Greece (AMAG), die laufend die Bedingungen und die Abmachungen festlegen sollte, unter denen die jeweilige Hilfe gewährt würde8. Dies bedeutete, daß der AMAG das Recht zuerkannt wurde, sich in die innenpolitischen Angelegenheiten des Landes einzumischen. Sehr bezeichnend dafür ist ein Kommentar der »Washington Post« im Zusammenhang mit dieser Vereinbarung: »Diplomatische Kreise in Washington könnten in der jüngeren Geschichte nichts Vergleichbares mit dieser Bereitschaft eines unabhängigen Landes finden, seine inneren Angelegenheiten in die Hände eines anderen zu legen9.« Die Folge davon war, daß die amerikanische Präsenz in Griechenland eher als dominant denn als partnerschaftlich empfunden wurde. Trotz aller Bemühungen der radikalen Linken erlangte jedoch dieses Empfinden vorerst keine schwerwiegende politische Relevanz, auch weil das bürgerliche politische Spektrum des Landes bis in die zweite Hälfte der fünfziger Jahre nie ernsthaft jene ursprüngliche Vereinbarung bedauert hat. Die dagegen gerichtete Argumentation blieb ein Metier der Linken, das aber in den folgenden Jahren je nach der aktuellen politischen Situation den Antiamerikanismus in Griechenland genährt hat. Trotz dieser Dissonanzen stand Griechenland schon vor der Gründung der NATO voll unter dem Schutz der Vereinigten Staaten. Dies entsprach der traditionellen außenpolitischen Orientierung des Landes hin zu den westeuropäischen Demokratien, deren Verbündeter es sowohl im Ersten als auch im Zweiten Weltkrieg gewesen war. Insofern wies aus griechischer Sicht der Beitritt des Landes zur NATO keinerlei Probleme auf. Sowohl die politische als auch die militärische Führung des Landes billigten den Beitritt, freilich mit Ausnahme der Kommuni-

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Ebd., S. 80 f. Ebd., S. 42. Zit. nach Seirenidies, He stratiotike parousia, S. 21.

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sten, die geschickt, aber folgenlos, mit dem Argument agierten, als Mitglied der Allianz werde Griechenland seine Unabhängigkeit einbüßen 10 . Sehr bezeichnend für den allgemeinen Konsens, auf dem die Mitgliedschaft des Landes fußte, ist, daß ihr bis heute die politische Literatur außer einigen eher sporadischen Hinweisen keine Beachtung geschenkt hat. Dies erklärt si^h vor allem durch die unmittelbaren Nachkriegserfahrungen Hellas'. Die »kommunistische Gefahr« und die »expansionistischen Absichten« des Sowjetblocks waren für die Griechen keine theoretischen Erwägungen, sondern Realitäten. Folgerichtig wurde der Beitritt zur NATO allgemein als Schutz durch starke Verbündete empfunden, der Sicherheit bedeutete gegenüber »den expansionistischen Absichten unserer Nachbarn im Norden gegen Makedonien und Thrakien, hinter welchen der uralte Drang der Russen stand, das Mittelmeer zu erreichen« 11 . Außerdem betrachteten die Griechen die Mitgliedschaft ihres Landes in der NATO als eine Selbstverständlichkeit, die ihnen kaum jemand streitig machen konnte. Sie hatten ihr Soll im Zweiten Weltkrieg durch die Abwehr des italienischen Angriffs (1940/41) und die damit bedingte Verzögerung des Angriffes des Dritten Reiches gegen die Sowjetunion mehr als erfüllt. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg hatten sie, lange vor Korea, den ersten gewaltsamen Versuch des kommunistischen Blocks, sich in Europa auszubreiten, erfolgreich abgewehrt. Undiskutiert herrschte die Meinung vor, der Westen könne mit Blick auf den Ostblock nichts ohne die Mitwirkung Griechenlands unternehmen, zumal auch wegen dessen exponierter geographischen Lage. Freilich handelte es sich um eine sehr subjektive Einschätzung, die nicht frei von Selbstüberschätzung war. Wie die Dinge um die Mitgliedschaft Griechenlands in der Allianz wirklich lagen, läßt George F. Kennan vermuten. Er meinte, daß die NATO auf die Atlantik· Anrainer beschränkt bleiben sollte, damit eine Wiederaufrüstung nicht den wirtschaftlichen Wiederaufbau Europas hemmte. »An diese Überlegungen über den Hauptzweck eines solchen Paktes Schloß ich die Empfehlung, es nicht zur Aufgabe unserer Politik zu machen, irgendwelche Länder zum Beitritt zu bewegen, die nicht eigentlich zum nordatlantischen Raum gehörten. Mit diesem Grundsatz wären, wenn man ihn übernommen hätte, natürlich Griechenland und die Türkei und wahrscheinlich auch Italien ausgeschlossen gewesen. Er war von dem Wunsch diktiert, alles zu vermeiden, was die Sowjetführer als aggressive Einkreisung ihres Landes deuten könnten. Zugegeben: das griechische und das türkische Regime waren antikommunistisch. Aber das und nur das zum Kriterium für die Zulassung zum Pakt zu machen, schien mir ein gefährliches Präzedenz zu schaffen. Auch der Grad der Übereinstimmung mit unseren Vorstellungen von Demokratie und persönlicher Freiheit würde vor allem die türkische Regierung nicht für die Mitgliedschaft qualifiziert haben. Angesichts der Einbeziehung Portugals konnte man ihn in der Tat auch kaum zum Kriterium machen. Der einzig vernünftige Maßstab für die Mitgliedschaft im Atlan10 11

Hierzu kurz bei Melas, Anamneseis, S. 139 ff. Ebd., S. 139.

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tikpakt war also der geographische. Er war als einziger unzweideutig und in seiner rein defensiven Bedeutung klar erkennbar. Bis zum heutigen Tage kann ich keinen anderen Grund für die Aufnahme Griechenlands und der Türkei erkennen als unseren Wunsch oder besser den Wunsch bestimmter Regierungskreise, in diesen Ländern Militärstützpunkte einzurichten; und ich finde es bedauerlich, daß wir diesem Impuls nachgaben. Eine einseitige Erklärung über die Bedeutung der Integrität dieser Länder für unsere Sicherheit wäre ohne weiteres möglich gewesen und in diesem Rahmen hätten wir ihnen jeden militärischen Beistand bieten können, den wir zu gewähren und sie zu akzeptieren für angebracht hielten. Ihnen statt dessen die Verpflichtung abzunehmen, daß sie im Falle eines Krieges zwischen den Vereinigten Staaten und Rußland die Vereinigten Staaten verteidigen würden, beeinträchtigte nicht nur ganz unnötigerweise ihre nachbarlichen Beziehungen zur Sowjetunion, sondern verwischte gleichzeitig den rein defensiven Charakter des Paktes und machte den Begriff >Nordatlantisch