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German Pages 208 Year 2020
Walther L. Bernecker Arbeiterbewegung und Sozialkonflikte im Spanien des 19. und 20. Jahrhunderts
Walther L. Bernecker
Arbeiterbewegung und Sozialkonflikte im Spanien des 19. und 20. Jahrhunderts
Vervuert Verlag • Frankfurt am Main 1993
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Walther L. Bernecker: Arbeiterbewegung und Sozialkonflikte im Spanien des 19. und 20. Jahrhunderts/ Walther L. Bernecker - Frankfurt am Main : Veivuert, 1993 ISBN 3-89354-052-0 NE:
© Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 1993 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Michael Ackermann Titelphoto © Hans Namuth entnommen aus: Spanisches Tagebuch 1936, Nishen,Verlag in Kreuzberg, 1986 Printed in Germany
Einleitung
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Einleitung Bis heute liegt in deutscher Sprache keine Gesamtdarstellung der spanischen Arbeiterbewegung von ihren Anfängen bis in die Gegenwart vor. Auch dieser Band kann und will nicht den Anspruch erheben, eine 'geschlossene' Darstellung der Arbeiterbewegung und der Sozialkonflikte im Spanien der Neuzeit zu sein. Er geht aber aus der jahrelangen Beschäftigung des Autors mit der Geschichte der spanischen Arbeiterbewegung hervor und vereinigt erstmalig eine Reihe unterschiedlicher Beiträge, die den gesamten Zeitraum des 19. und 20. Jahrhunderts umfassen, sich dabei allerdings auf bestimmte Aspekte und Fragestellungen der Historiographie zur Arbeiterbewegung beschränken. Die Beiträge behandeln nicht nur die Entwicklung der organisierten Arbeiterbewegung, sondern ebenso die Lage der Arbeiterschaft in den verschiedenen soziopolitischen Konstellationen sowie Protestformen und Sozialkonflikte; sie thematisieren die Entwicklung vom revolutionären Proletariat und Klassenkampf bis hin zu einer vielfältig differenzierten Arbeitnehmerschaft und deren Kampf für Demokratie und materiellen Wohlstand. Die Auswahl der Beiträge spiegelt einerseits das Interesse des Verfassers an einzelnen Themenbereichen wider; andererseits ist sie auch ein Hinweis auf die Entwicklung der Geschichtsschreibung zur Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung, die in den letzten Jahrzehnten einem deutlichen Wandel unterworfen war. Im Grunde genommen setzte eine ernsthafte Historiographie zur spanischen Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung erst vor wenigen Jahrzehnten ein. Die spanische Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts war konservativliberaler Prägung; sie vertrat überwiegend die Positionen jener Oligarchie, die nach der 'liberalen Revolution' der 1830er Jahre politisch und ökonomisch an die Macht gekommen war; zugleich legitimierte sie ideologisch das Vorherrschen des Systems. Zwar gab es auch unter den Historikern vereinzelte Versuche, die Ereignisse aus nicht-offizieller, mitunter sogar 'revolutionärer' Perspektive darzustellen; zumeist beschränkten sich diese Versuche aber darauf, die vorgenommenen Veränderungen als nicht ausreichend darzustellen, die Unzulänglichkeiten der 'bürgerlichen' Transformationen hervorzuheben. Kaum einmal wurde die Perspektive der Unterlegenen in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt, etwa die Position der Karlisten, der enteigneten Bauern, des entstehenden Industrieproletariats, der Arbeiterbewegung. Falls dies in Ausnahmefällen doch geschah, unternahmen Ver-
6 treter dieser Gruppe selbst derartige Versuche, die selten über Propagandaschriften oder hagiographische Darstellungen hinausgelangten. Die ersten seriösen Darstellungen zur Geschichte der spanischen Arbeiterbewegung stammen aus dem 20. Jahrhundert, und auch hier konnten gründlichere historische Darstellungen nur im Verlauf weniger Jahre entstehen, vor allem während der Zweiten Republik und in der nach-franquistischen Ära. Nach dem Bürgerkrieg wurde Geschichtsforschung nicht als historischkritische Wissenschaft betrieben; sie wurde vielmehr (zumindest teilweise oder notgedrungen) als Legitimation des Siegerregimes verstanden. Dies machte sich besonders deutlich in der Historiographie über die Arbeiter'Bewegung' unter dem Franquismus bemerkbar. Jahrzehntelang beschäftigten sich die in Spanien zu diesem Thema erschienenen Studien mit Ausgestaltung und 'Leistungen' der staatlichen Syndikatsorganisation. Der überwiegende Teil der Darstellungen unternahm eine verfassungsrechtliche Einordnung der Syndikatsorganisation in den Aufbau des franquistischen Staates, erörterte (pseudo-)juristische Fragen, beschränkte sich auf deskriptive Ausführungen oder - vor allem in den späteren Jahren des Franquismus referierte ausführlich die 'Erfolge' des vertikalen Syndikalismus. Selten entsprach die herrschende Geschichtsschreibung so deutlich der Sicht der Herrschenden wie im Fall der franquistischen Historiographie zur Arbeiterbewegung. Wollte man solide Untersuchungen zur Organisation der Arbeiterschaft in den Untergrundgewerkschaften der 1940er und 1950er Jahre, zu den Arbeitskämpfen in der Autarkiephase oder zur Entstehung und Entfaltung der 'neuen' Arbeiterbewegung unter dem Franquismus einsehen, so mußte man sich entweder ins Ausland begeben oder sich nach halb-legaler Literatur unter dem Ladentisch erkundigen. Eine grundsätzliche Änderung brachte erst das Ende des Franquismus, als sich nicht nur die politischen Bedingungen für wissenschaftliches Arbeiten radikal änderten, sondern auch die wissenschaftsorganisatorischen Voraussetzungen durch Öffnung von Archiven sowie durch Einrichtung von Gewerkschafts- und Parteistiftungen wesentlich verbessert wurden. Natürlich blieb auch die spanische Historiographie während des Franquismus von internationalen Forschungstrends nicht unbeeinflußt, wenn diese auch - aus unterschiedlichen Gründen - zumeist verspätet und dann nur eklektisch rezipiert wurden. Seit den 1950er Jahren etwa machten sich die wichtigsten Strömungen der internationalen Arbeitergeschichtsschreibung allmählich auch in Spanien bemerkbar: die Schule der Annales, die marxistische Geschichtsschreibung in ihren verschiedenen Tendenzen, die Sozialgeschichtsschreibung, weniger die Gesellschaftsgeschichte oder Oral History. Besonders einflußreich waren die Schule der Annales und der Marxismus,
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deren Wirkungen bis heute unvermindert anhalten. Ein wichtiger Arbeitsplatz für die neuen, kritischen Historikergenerationen war das Forschungszentrum im südfranzösischen Pau. Dort trafen sich unter der Leitung des exilierten Sozialhistorikers Manuel Tuñón de Lara zahlreiche Nachwuchskräfte aus Spanien und anderen Ländern; die Ergebnisse ihrer wissenschaftlichen Arbeiten wurden in den Coloquios de Pau vorgestellt und später einer breiteren wissenschaftlichen Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Yor über zehn Jahren, schon nach dem Ende der Franco-Ara, wies in einem Uberblick zur historiographischen Entwicklung der Arbeiterbewegung Tuñón de Lara darauf hin, daß dieser Zweig der Geschichtsschreibung "zahlreiche Risiken" laufe, "wenn er nicht in den strukturellen Gesamtzusammenhang integriert wird, in den er eingebettet ist. Es gibt keine Geschichte der Arbeiterbewegung ohne Untersuchung der Klassen und - vor allem - der Unternehmer sowie der Klassenkonflikte; es gibt keine Geschichte der Arbeiterbewegung ohne Untersuchung der Löhne, der Arbeitsbedingungen und des Lebensstandards der Arbeiter, der Unternehmergewinne und der Arbeitgeberorganisationen; es gibt keine Geschichte der Arbeiterbewegung, ohne die Funktion jener Parteien zu kennen, die keine Arbeiterparteien sind, ohne die Funktion des Staates und seiner Apparate in ihrem Verhältnis zu den einzelnen Klassen und deren Kämpfen zu untersuchen." Als wichtige Forschungsdesiderate bezeichnete Tuñón de Lara Studien "der Eliten oder, besser gesagt, der andauernden Führungsschichten in der Arbeiterbewegung; der Zusammensetzung ihrer Organismen; der Zusammenstellung ihrer Entscheidungen und deren Umsetzung in praktisches Handeln (oder deren Scheitern); des Einflusses der Partei und der Gewerkschaft auf die Klasse; aber auch eine erforderliche historische Studie der Apparate des Staates und des Klassenkampfes."1 Seit dieser Auflistung von Forschungsdesideraten sind deutliche Fortschritte in der Arbeitergeschichtsschreibung zu registrieren gewesen. Mit einem modernen, sozialhistorischen Instrumentarium versehen, wurden wichtige Studien bei den Coloquios de Pau diskutiert: die Arbeiten von Antonio Elorza über den Anarchismus in der Zweiten Republik, von Antonio Maria Calero über die andalusischen Arbeiterbewegungen, von Albert Balcells über das Verhältnis von katalanischem Nationalismus und Marxismus, von Jacques Maurice über den Klassenkampf auf dem Land, von Juan José Castillo über die katholische Gewerkschaftsbewegung, von Carlos Forcadell über die Sozialistische Partei zu Beginn des 20. Jahrhunderts, von Marta 1
Manuel Tuñón de Lara: Historia del Movimiento Obrero en España (un estado de la cuestión en los diez últimos años). Pau 1979, in: M. Tuñón de Lara u.a.: Historiografía española contemporánea. X Coloquio del Centro de Investigaciones Hispánicas de la Universidad de Pau. Balance y resumen. Madrid 1980, 231-250, Zit. 231, 249.
8 Bizcarrondo über die Sozialisten in der Zweiten Republik - um nur einige wenige herausragende Pionierstudien zu nennen. In den letzten zehn Jahren gehören zu den wertvollsten Untersuchungen Regionalstudien, insbesondere zu den wirtschaftlich am meisten entwickelten Regionen Katalonien, Baskenland, Asturien und zu den unruhigen Agrarzonen Andalusiens. Viele Pionierstudien stammten und stammen von Ausländern, wenn auch der Forschungsschwerpunkt sich allmählich immer deutlicher ins Landesinnere verlagert. * *
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Es gehört zu den Besonderheiten der spanischen Arbeiterbewegung, daß in ihr jahrzehntelang der (organisierte) Anarchismus dominierte. Diese Aussage gilt vom letzten Viertel des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Bürgerkrieges im Jahr 1939. Es gelang den Anarchisten fast von Anfang an, die große Mehrheit der Arbeitervereine für ihre Ideologie zu gewinnen und in der spanischen Regionalföderation der Ersten Internationale zusammenzuschließen. Zu eigentlichen Hochburgen des Anarchismus wurden das latifundistische Andalusien und das relativ industrialisierte Katalonien. Der Widerspruch zwischen der verspätet einsetzenden und außerdem regional (Katalonien, Baskenland) begrenzten Industrialisierung einerseits und dem Ausbleiben einer politischen 'Modernisierung' im 19. Jahrhundert andererseits verhinderte weitgehend die Integration der Arbeiterbewegung in das System des Liberalismus und der Restauration. Dieser Befund gilt nicht nur für das 19., sondern auch für große Teile des 20. Jahrhunderts. Mit der alleinigen Ausnahme der Zweiten Republik herrschte zwischen Staat und Arbeiterschaft stets eine tiefe Kluft, die sich während des Franquismus zu offener Gegnerschaft weitete. Beim Aufbau der Industrie im Zeichen eines liberalen Kapitalismus im zweiten und im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts blieben die Belange der Arbeiterschaft nahezu unberücksichtigt. Eine Sicherung oder gar Besserung der Lebensverhältnisse der Arbeiterschaft war von den Regierungen der Restaurationszeit nicht zu erwarten; erst um die Jahrhundertwende wurde zaghaft mit einer sozialpolitischen Gesetzgebung begonnen. Das oligarchische politische System der Isabellinischen Ära und der Restaurationszeit bewirkte, daß Gewerkschaften lange Zeit, weit mehr als in anderen Ländern Europas, nicht nur Interessenvertretungen der organisierten Arbeiterschaft, sondern Vehikel von Volksprotest waren. Dies gilt auch für die Sozialisten, vor allem aber für die Anarchisten. Die eigentliche Bildung einer Arbeiterbewegung mit proletarischem Bewußtsein erfolgte im Zuge der Industrialisierung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Dabei entwickelte sich der in der Arbeiterschaft dominierende 'antiautoritäre' Anarchismus in steter Rivalität zum sozialistischen Flügel der Arbeiterbewegung, der - in der Terminologie der Zeitgenossen - 'autoritär'
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genannt wurde. Die 1879 gegründete Sozialistische Arbeiterpartei (PSOE) war bis in die Jahre der Zweiten Republik, trotz ihrer Mitgliederschwäche, die wichtigste Gruppierung auf der politischen Linken. Eng mit ihr verbunden in der 'sozialistischen Familie' war die Gewerkschaft UGT, über welche die Partei ihren eigentlichen Einfluß in der Arbeiterschaft ausüben konnte. Von Anfang an setzten sich die spanischen Sozialisten nur mangelhaft mit ihren marxistischen Grundlagen auseinander. Dies mag zum einen damit zusammenhängen, daß der Marxismus vor allem durch die französischen Sozialisten 'gefiltert' in Spanien Verbreitung fand; andererseits ist es sicherlich auch auf die Theoriefeindschaft der PSOE- und UGT-Führung zurückzuführen, die sich in ihrer Rhetorik und Propaganda zwar revolutionär gab, praktisch-politisch aber von Anfang an bis zu ihrer Radikalisierung 1933/34 reformistisch-legalistisch handelte. In einem Teil der neueren Forschung wird die unzureichend geführte Theoriediskussion innerhalb des spanischen Sozialismus dafür verantwortlich gemacht, daß die PSOE-Partei weitgehend scheiterte, die Linke sich aufsplitterte und der Sozialismus vor dem Bürgerkrieg in Spanien keine einheitliche Linie einnahm. Gegenüber Anarchisten und Sozialisten blieb der kommunistische Anhang bis weit in die Zweite Republik hinein unbedeutend. Nach dem Ersten Weltkrieg hatten sich die Sozialisten mehrheitlich gegen einen Eintritt in die Kommunistische Internationale entschieden, was zur Abspaltung eines kommunistenfreundlichen Rügeis und zur Gründung des Partido Comunista de España (PCE) führte. Der PCE erlebte allerdings erst während des Bürgerkrieges einen steilen Aufstieg; mit 250.000 Mitgliedern wurde er zur dominierenden Partei auf der republikanischen Seite und konnte auch innerhalb der sozialistischen UGT beträchtlichen Einfluß ausüben. Allerdings war die Kommunistische Partei während des Bürgerkrieges nicht so sehr eine Partei der Arbeiterschaft als vielmehr des Kleinbürgertums; eine eigene einflußreiche Gewerkschaft konnte sie vor 1939 nicht aufbauen. Ihren größten Einfluß auf die Arbeiterschaft errangen die Kommunisten in der Nachkriegszeit, als sie einen Großteil der Führungspositionen in den illegalen antifranquistischen Gewerkschaftsorganisationen der Arbeiterkommissionen besetzen konnten. Waren bis zum Bürgerkrieg Anarchismus und Sozialismus die in der Arbeiterbewegung dominierenden Ideologien, so in der nachfranquistischen Ära Sozialismus und Kommunismus. Die parteipolitische, vor allem aber die gewerschaftliche Spaltung der Arbeiterschaft ist von der Zweiten Republik bis zum Nach-Franquismus erhalten geblieben, wenn auch heute die ideologische Trennungslinie anders verläuft als in den Jahren bis zum Bürgerkrieg.
10 Die Entstehung der spanischen Arbeiterbewegung fällt mit der allmählichen Durchsetzung kapitalistischer Wirtschaftsstrukturen und der Herausbildung einer (vorerst noch peripher lokalisierten) Industrie zusammen; die ökonomischen Veränderungen mußten unweigerlich zu neuen Formen von Sozialbeziehungen und -auseinandersetzungen führen. Die Entwicklung "vom Sozialprotest zum Klassenkampf', die Lebens- und Arbeitsbedingungen des Proletariats in der Isabellinischen Ära sowie der Zusammenhang zwischen agrarischen Veränderungen und Sozialbanditentum sind im vorliegenden Band die Themen des ersten Kapitels, das sich ausschließlich mit dem 19. Jahrhundert beschäftigt. - Im zweiten Kapitel über Anarchismus und Gewalt in der Restaurationsära geht es um zweierlei: Einerseits um die Ideologieund Gewaltdebatte der spanischen Anarchisten, andererseits um eine Diskussion der verschiedenen sozialwissenschaftlichen Ansätze zur Erklärung des anarchistischen Massenerfolgs in Spanien. Beide Aspekte gehören eng zusammen. Im einzelnen kommen das Verhältnis von legalen und illegalen Kampfformen, die Rolle und Bedeutung von Streiks in der anarchistischen Strategie, die Spaltung zwischen Anarchokommunisten und Anarchokollektivisten, das Verhältnis des Anarchismus zur "Schwarzen Hand" und zum Terrorismus zur Sprache. Chronologisch streckt sich dieses zweite Kapitel über das letzte Drittel des 19. und den Beginn des 20. Jahrhunderts. - Im dritten Kapitel über die Spaltung der Arbeiterbewegung spielen erstmalig die Sozialisten eine größere Rolle. Geschildert werden die Gründung von Partei (PSOE) und Gewerkschaft (UGT), sodann die Entwicklung der sozialistischen Organisationen, schließlich das politische Verhalten der Sozialisten in zwei wichtigen Phasen während des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts: in den Jahren der auf 1917 folgenden Staatskrise und während der Diktatur Primo de Riveras. - Kapitel vier untersucht die bewegten Jahre der Zweiten Republik und des Bürgerkrieges; der Schwerpunkt dieses Kapitels liegt wieder bei den Anarchisten, deren Position in den 30er Jahren heftigen Schwankungen zwischen Reformismus und Revolutionismus ausgesetzt war. In der Ausnahmesituation des Bürgerkrieges fanden Sozialisten und Anarchisten, trotz unterschiedlicher Haltung zu Grundfragen von Revolution und Krieg, schließlich zu einem umfassenden Abkommen, dessen Hauptzweck die Gewinnung des Krieges sein sollte. - Auf den Bürgerkrieg folgte für die Arbeiterbewegung die lange Nacht des Franquismus. Das fünfte Kapitel schildert Zerschlagung und Neuaufbau der durch das Siegerregime l e g a l i sierten Arbeiterbewegung; Struktur und Funktion des von den Falangisten verwalteten vertikalen Zwangssyndikats; den Wirtschaftsaufschwung der 60er Jahre und die daraus resultierenden Arbeitskonflikte; die variierende, zwischen Integrationsversuchen und Repressionsmaßnahmen schwankende Einstellung des Staates gegenüber der Arbeiterschaft; schließlich die Herausbildung und Konsolidierung neuer Interessenvertretungen der Arbeiter in Form der Arbeiterkommissionen. - Das sechste Kapitel untersucht die Rolle
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der Gewerkschaften im Übergangsprozeß von der Diktatur in die Demokratie. Gefragt wird nach der Bedeutung des Drucks 'von unten' für Richtung und Geschwindigkeit des politischen Transformationsprozesses, nach den Gründen für die Änderung gewerkschaftlicher Strategie von der Konfrontation zur Konzertation, schließlich nach der Funktion der Sozialpakte und der neokorporativistischen Strukturen im und für den Demokratisierungsprozeß. Die sechs, soeben kursorisch vorgestellten Kapitel decken chronologisch die wichtigsten Entwicklungsetappen der spanischen Arbeiterbewegung seit ihrer allmählichen Herausbildung im 19. Jahrhundert bis in die unmittelbare Gegenwart ab. Das 20. Jahrhundert nimmt, seiner realen Bedeutung für die Gewerkschaftsgeschichte entsprechend, einen breiteren Raum als das 19. ein; von den verschiedenen ideologischen Strömungen der Arbeiterschaft wird dem Anarchismus mehr Platz als dem Sozialismus eingeräumt. Kaum angesprochen werden andere Richtungen und Organisationen, etwa katholische Gewerkschaften oder Arbeitgebervereinigungen; auch Themen wie Arbeitermilieu oder Arbeiterkultur bleiben vernachlässigt. Diese Schwerpunktsetzung spiegelt damit zwar nicht getreu, aber zumindest tendenziell die Fragestellungen und Tendenzen der Forschung wider, die sich erst in neuerer Zeit verstärkt den auch im vorliegenden Band nur marginal angesprochenen Aspekten zuwendet. Daß die unter regionalistischer Perspektive oder in Zusammenhang mit peripheren Nationalismen inzwischen gut untersuchte Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung einzelner Landesteile nicht stärker berücksichtigt wurde, hängt ausschließlich mit Platzgründen zusammen, die eine Konzentration auf 'gesamtstaatliche' Aspekte erforderlich machten.
Abschließend ein Wort des Dankes: Für die technische Fertigstellung des Bandes und die Lösung zahlreicher computerbedingter Probleme danke ich Frau Regine Zürcher, für vielerlei weitere Unterstützung und die Hilfe bei der Erstellung des Anhangs Frau Annina Jegher und Frau Linda Shepard.
Zur Entstehung der Arbeiterbewegung
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I. Zur Entstehung der spanischen Arbeiterbewegung 1. Vom Sozialprotest zum Klassenkampf Der Siegeszug des Liberalismus im Spanien des 19, Jahrhunderts, die Entstehung einer vorerst noch peripher lokalisierten Industrie und die Durchsetzung kapitalistischer Wirtschaftsstrukturen mußten unweigerlich zu neuen Formen der Sozialbeziehungen und -auseinandersetzungen führen. 1 Während des 18. Jahrhunderts hatte es zahlreiche ländliche und städtische Subsistenzrevolten gegeben, die jedoch als kollektiver Sozialprotest stets im Rahmen der bestehenden und grundsätzlich akzeptierten soziopolitischen Ordnung erfolgten. Die Aufstände waren lokal begrenzt, richteten sich gegen konkret definierbare Mißstände und forderten die Wiederherstellung der vorübergehend gestörten 'gerechten' Ordnung. Auch die wenigen 'industriellen' Auseinandersetzungen, die aus den Manufakturbetrieben überliefert sind, waren 'vorpolitischer' Art und überschritten nicht den Rahmen des einzelnen Betriebs. Es war noch nicht das Bewußtsein vorhanden, einen gemeinsamen Kampf führen zu müssen, der sich gegen die Organisation der Gesellschaft selbst richtete und ein alternatives Modell propagierte. Die traditionelle (Textil-)Industrie des Ancien Régime war weit über das spanische Territorium verbreitet; es gab keine regionale Industriekonzentration von Bedeutung. Meist wurde für den lokalen Markt produziert, mitunter war das Textilwesen nach dem Verlagssystem organisiert und damit vom Handelskapital abhängig. Diese Form der Industrie stellte kein Element dar, das die sozialen Beziehungen im Ancien Régime in Frage stellte oder verändern wollte. Im Gegenteil: Sie war ein Stabilitätsfaktor, da viele Arbeiter, die in der Landwirtschaft beschäftigt oder Handwerker waren, diese 'industriellen' Tätigkeiten als Nebenerwerb praktizierten, und da es diesen Nebenerwerb gab, konnten die landwirtschaftlichen Löhne niedrig und die Bauern in Abhängigkeit von den Landherren gehalten werden. Die aufklärerischen Politiker des 18. Jahrhunderts waren sich über diese Zusammenhänge durchaus im klaren. Sie förderten daher auch die traditionelle, überwiegend handwerklich geprägte Form der Industrie, lehnten 1
Zur Krise des Ancien Régime und Entstehung des spanischen Liberalismus vgl. Fontana: Crisis; Artola: Antiguo Régimen y Revolución; ders.: Hacienda del Antiguo Régimen; Abellán: Historia.
14 jedoch die neuen, aus England bereits bekannten industriellen Organisationsformen mit ihren Massierungen von Arbeitern an einem Ort ab, da sie davon schädliche soziale Auswirkungen befürchteten. Als gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Katalonien als Folge des von den Kolonialmärkten ausgehenden Stimulus ein 'moderner' Industriesektor entstand, traten (trotz des bescheidenen Ausmaßes, das es nicht erlaubt, schon von 'Industrialisierung' zu sprechen) prompt die von den Aufklärern befürchteten Folgen ein. Zum einen erfolgte eine größere Konzentration von Arbeitskräften an einem bestimmten Ort - in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es in Katalonien schon 100.000 Textilarbeiter. Zum anderen waren diese Arbeiter nunmehr ausschließlich von ihrer Industriearbeit abhängig, da sie ihr teils handwerkliches, teils landwirtschaftliches Berufsleben aufgegeben hatten und wegen der höheren Löhne sich ganz ihrer Fabriktätigkeit widmeten. Das Schicksal dieser Arbeiter hing nunmehr von der Entwicklung ihrer jeweiligen Branche, das heißt von der industriellen Konjunktur ab; ihre Interessen waren aufs engste mit denen der Arbeitgeber verbunden. Die katalanischen Städte des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts erlebten allenthalben den Übergang von halbautonomen Arbeitskräften zu Industrieproletariern; der Prozeß fand erst gegen Mitte des Jahrhunderts seinen Abschluß. Während des größten Teils dieses Übergangsprozesses befand sich die Arbeiterschaft nicht nur in materieller, sondern auch in ideologischer Abhängigkeit von den Unternehmern. Diese wiesen ihre Arbeiter immer wieder darauf hin, daß ihr Wohlergehen nicht vom Arbeitgeber, sondern ausschließlich von der Regierungspolitik abhing. Befand sich das Land im Krieg und stagnierte der Kolonialabsatz, wurde die sich einstellende Krise im katalanischen Textilsektor nicht den Unternehmern, sondern der Regierungsentscheidung über Krieg und Frieden angelastet. In Krisenzeiten galt das absolutistische Regime als gemeinsamer Gegner von Arbeitern und Unternehmern. Die Länge des Kampfes des aufsteigenden Bürgertums gegen das Ancien Régime bedingte auch die lange Dauer der 'interklassistischen' Solidarität zwischen Unternehmern und Arbeitern. Erst allmählich erlangte die gemeinsam vorgetragene Forderung nach 'Freiheit' für die beiden Sozialgruppen einen unterschiedlichen Bedeutungsinhalt. Die Bourgeoisie hatte Mitte der 1830er Jahre mit dem Verfassungsstaat und der allgemeinen Liberalisierung des Wirtschaftssystems ihre Form von Freiheit erreicht. Wie schon im Agrarbereich, wo sie nach der Desamortisation, d.h. nach der Enteignung
Zur Entstehung der
Arbeiterbewegung
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und Veräußerung kirchlicher und kommunaler Ländereien 2 , zur Agrarbourgeoisie wurde und eine konservative Allianz mit der Aristokratie einging, läßt sich auch im industriellen Sektor eine konservative Wende der Unternehmer feststellen. Unterstützten sie 1820 bis 1823 im Verfassungskampf noch die exaltados, d.h. die radikalliberalen Kräfte, so gehörten sie seit Ende der 1830er Jahre mehrheitlich zu den moderados, den LiberalKonservativen. 3 Die Arbeiter hatten aber nach wie vor nur die 'Freiheit', ihre Arbeitskraft zu verkaufen; sie setzten den Kampf fort. Da der Staat nicht mehr mit dem Ancien Régime identifiziert werden konnte, sondern der liberale Staat des an die Macht gelangten Bürgertums war, sahen die Arbeiter in Bürgertum und Staat fortan ihre Gegner. Damit war die Klassentrennung vollzogen. Die ersten größeren Unruhen im Industriebereich erfolgten in Form von Maschinenzerstörungen. Die Protestforschung hat deutlich gemacht, daß der Luddismus - die in England entstandene Form der Maschinenstürmerei vor allem in der Textilbranche - ein Ausdruck des Arbeiterprotests ist, der in die vorindustrielle Zeit gehört und sich im Industrieproletariat kaum durchsetzen würde. Maschinenstürmerei war auch unter Handwerkern und Heimarbeitern anzutreffen, deren Existenz durch die rapide Mechanisierung der Fertigungsprozesse in den Fabriken bedroht wurde, weniger unter den ausschließlich von der Industrieproduktion abhängigen Arbeitern, die mit den Maschinen zugleich ihre eigene Erwerbsbasis zerstört hätten. Diese Beobachtung trifft auch auf Spanien zu, obwohl andererseits die Hinweise Miguel Izards zu berücksichtigen sind, daß Luddismus eine erste Form des Widerstands gegen die 'Entfremdung' war, gegen die Ausbeutung in Fabriken, die nicht nur die Moral, sondern die gesamte traditionelle Lebensweise der Landbevölkerung bedrohte. 4 Die ersten spanischen Fälle von Maschinenstürmerei fanden im levantinischen Alcoy während des liberalen Trienniums (1820-1823) statt. Einige Jahre zuvor waren für die dortige Wollindustrie neue Textilmaschinen eingeführt worden, was mit einer Verlagerung der Kapitalinvestitionen von der traditionellen Papier- zur neuen Textilwirtschaft und mit einer Konzentration von Arbeitern in dieser Branche einherging. Im März 1821 kam es zum ersten Aufstand: Uber tausend Personen, die aus der Umgebung in die Stadt
2
Zur Problematik der desamortización: y Hacienda pública.
Simón Segura: Desamortización; Desamortización
3
Zur Spaltung der Liberalen und zum Verfassungskampf vgl. auch: Artola: Hacienda siglo XIX; Cánovas Sánchez: Partido; Cornelias: Moderados; Fontana: Revolución.
4
Vgl. Izard: Orígenes, 309. Zu den ersten spanischen Fallen von Maschinenstürmerei vgl. Aracil/García Bonafé: Industrializació.
16 kamen, griffen die Betriebe, besonders die Real Fábrica de Paños, an und zerstörten 17 Spinnmaschinen in einem Wert von zwei Millionen reales. Die liberalen Cortes verurteilten den Zwischenfall sogleich auf das schärfste; sie betrachteten das Phänomen aber als einen Fall von Störung öffentlicher Ordnung, die bestraft werden mußte; die anvisierte Lösung entsprach den Vorstellungen des Aufgeklärten Absolutismus. Da der Ursprung der Unruhen angeblich in der Ignoranz der Arbeiter lag, die positiven Wirkungen der neuen Maschinen zu erkennen, müsse diese Ignoranz mit Hilfe philanthropischer Maßnahmen seitens der städtischen und kirchlichen Behörden überwunden werden. Noch ein zweiter Fall von Maschinenstürmerei ist bekannt geworden: 1835 kam es in Barcelona zur Niederbrennung der Fabrik El Vapor der Unternehmerfamilie Bonaplata, deren Umstände aber unklar geblieben sind, da der Zwischenfall sich in Zusammenhang mit verbreiteten städtischen Unruhen, antiklerikalen Unmutsäußerungen und karlistischer Konfliktivität ereignete. 5 Politische Behörden, Polizei und Unternehmer arbeiteten Hand in Hand, um ähnliche Zwischenfälle in Zukunft zu verhindern. 6 Die Unternehmer erhöhten die zu erbringende Arbeitsleistung, der Gouverneur verkündete 5
Revernos: Moviments socials, 23-25.
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Daß Unternehmer und Behörden aber keineswegs immer im Gleichklang handelten oder, anders ausgedrückt, daß die aufsteigende Bourgeoisie nicht vorbehaltlos die Kontrolle über den Staatsapparat innehatte -, läßt sich den Ereignissen von 1854 entnehmen, als in Barcelona abermals eine Fabrik in Flammen aufging, viele andere Sabotageakten ausgesetzt waren und mechanische Spinnmaschinen (selfactinas) zerstört wurden. Die Arbeiter wandten sich in einer Eingabe an den Generalkapitän Kataloniens und baten ihn um Beseitigung der Nachteile, die sie durch die "neuen mechanischen Erfindungen" erleiden mußten. Die Spinner erwarteten somit von der obersten Militärbehörde, daß sie zugunsten der Arbeiter in den Wirtschaftskampf eingreife und die Unternehmer zum Abbau der selfactinas zwinge. Zur Überraschung aller Beteiligten verbot der Generalkapitän tatsächlich die mechanischen Spinnmaschinen; er ordnete die Wiedereröffnung der Fabriken unter Bedingungen technologischer Regression an. Den Standpunkt der Unternehmer formulierte Laureano Figuerola im Diario de Barcelona: "Wir lesen den Antrag der Spinner und die Verfügungen der Behörden bezüglich des Verbots der selfactinas; wir lesen sie wieder und wieder, aber die Vernunft weigert sich zu verstehen, daß es jemanden gibt, der auf die Idee kommt, eine derartige Petition zu verfassen, und daß es eine Behörde gibt, die diesem Begehren entspricht" (zit. nach David Ruiz: Luddismo y burguesía en España, 1821-1855, in: Tuñón de Lara u.a.: Crisis del Antiguo Régimen, 191). Demgegenüber brachte Figuerola unmißverständlich die Haltung der Bourgeosie im Hinblick auf die neuen Produktionsbeziehungen zum Ausdruck: "Es ist das Recht der Arbeiter, den höchstmöglichen Lohn zu erhalten; es ist das Recht der Fabrikanten, die Produktionskosten zu reduzieren: Diesem ewigen Gesetz unterliegt jegliche menschliche Produktion. Bei der Debatte bezüglich der Anstellung von Arbeitern gibt es als einzige Regel, der die Menschen sich unterwerfen können, die Freiheit der einen wie der anderen Seite, die Bedingungen anzunehmen oder abzulehnen" (ebda., 192).
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drastische Strafandrohungen für jegliche "Störung der öffentlichen Ordnung". - Fabrikzerstörungen solcher Art blieben die Ausnahme. Je weiter die Industrialisierung voranschritt, desto weniger konnten die Arbeiter an der Zerstörung von Produktionsmitteln interessiert sein, von denen ihre eigene Existenz abhing. Die 30er und 40er Jahre des 19. Jahrhunderts erlebten eine dramatische Entwicklung der katalanischen Textilindustrie. Die technischen Neuerungen griffen schnell um sich. Die alten bergadanas (Textilmaschinen) wurden durch die Mule-Jennies ersetzt, von denen es 1850 schon über 475.000 gab; und die 1840 noch praktisch unbekannten selfactinas (mechanische Spinnmaschinen) beliefen sich zehn Jahre später auf nahezu 100.000. Zum gleichen Zeitpunkt wurde an noch ungefähr 180.000 Handwebstühlen gearbeitet. Angesichts dieses stürmischen Aufschwungs der Industrie gelangten die Arbeiter schnell zu der Uberzeugung, daß sie ihre Interessen nur verteidigen konnten, wenn sie sich zusammenschlössen und Widerstandskassen gründeten. Vorerst wurden alle derartigen Anträge abgelehnt. Die Behörden übernahmen die Unternehmerargumentation, derzufolge die Freiheit der Arbeiter und Industriellen zum Abschluß von Beschäftigungsverträgen durch keine gesetzlichen Regelungen eingeschränkt werden durfte. Erst 1840 gelang es den Webern, eine "Gesellschaft für gegenseitige Hilfe" zu gründen (Sociedad de tejedores): Die erste spanische 'Gewerkschaft' war geboren. 1842 zählte sie bereits 50.000 Mitglieder; schnell folgten andere Industriebranchen. Damit aber waren für die Arbeiter die ersten organisatorischen Voraussetzungen geschaffen, um in Zukunft kollektiv agieren zu können - und das nicht nur ohne Mitwirkung der Bourgeoisie, sondern gegen diese. Hätte Marx den Übergang von der Klasse "an sich" zur Klasse "für sich" nicht am englischen, sondern am spanischen Beispiel exemplifiziert, hätte er die Entwicklung des Klassenbewußtseins der spanischen Arbeiterschaft in der zweiten Hälfte der 1830er Jahre beschreiben müssen. 7
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Zur sozio-ökonomischen Entwicklung Kataloniens und zur Lage der Arbeiterschaft im 19. Jahrhundert vgl.: Vicens Vives: Catalanes; ders./Llorens: Industrials. Allgemein zur sozialen und wirtschaftlichen Situation im Spanien des 19. Jahrhunderts: Fontana: Cambio económico; Monlau/Salarich: Condiciones; Tuñón de Lara u.a.: Crisis del Antiguo Régimen.
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2. Lebens- und Arbeitsbedingungen des entstehenden Proletariats Trotz vereinzelter Industrialisierungsanfänge blieb die große Mehrheit der Bevölkerung während des gesamten 19. Jahrhunderts von der Landwirtschaft abhängig. Den meisten gelang es nicht, über das reine Subsistenzniveau hinauszugelangen. Durch die Desamortisation hatten sich die Lebensbedingungen der nunmehr nur von ihrer Arbeitskraft abhängigen Landarbeiter deutlich verschlechtert, Kleineigentümer und Pächter wurden durch hohe Steuerzahlungen bedrückt. Den Forderungen der wucherischen Geldverleiher ließ sich nur durch Ausbeutung der eigenen und der familiären Arbeitskraft nachkommen. Wegen des Arbeitskräfte-Überangebots konnten in den Latifundiengebieten des Südens die Großgrundbesitzer nahezu uneingeschränkt die Höhe der Entlohnung festlegen. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts gab es beträchtliche regionale und wirtschaftssektorale Einkommensunterschiede:
Tab. 1: Agrar- und Industrielöhne pro Tag 1850/1861 (in reales) Agrarlöhne 1850 Katalonien Murcia Andalusien Extremadura Neukastilien Altkastilien Galicien Leon
Industrielöhne 1861 12 5-6 2 3-5 4-7 3-5 4-5 2
Baumwollindustrie Wollindustrie Seidenindustrie Leinenindustrie Metallguß Metallurgie Korkenindustrie Seifenindustrie Papierindustrie
6,30 8 4,93 6 6,94 11 11,91 8,56 5,47
Quelle: Tuñón de Lara: España, 68, 108 Die Löhne in der Industrie waren zwar im Durchschnitt höher, wegen der ebenfalls höheren Lebenshaltungskosten in der Stadt waren aber auch sie
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völlig unzureichend und hatten katastrophale Lebensbedingungen des größten Teils der Arbeiterschaft zur Folge. 8 In Barcelona etwa mußte ein Arbeiter 60 % seines Lohns ausschließlich für die Ernährung aufbringen, die Hälfte davon nur für Brot. Erschwert wurde die Situation des städtischen Proletariats durch den ständigen Zuzug arbeitsloser Landarbeiter in die Städte. Intraprovinziell zog die Landbevölkerung verstärkt in die jeweilige Provinzhauptstadt. Zwischen 1834 und 1877 nahm der Anteil der Bevölkerung in den Provinzhauptstädten von 10,87 % auf 13,53 % der gesamtspanischen Bevölkerung zu; 17 dieser Hauptstädte konnten in dieser Zeit ihre Bevölkerung zumindest verdoppeln, in einigen Fällen verdreifachen. Die Neustädter mußten sich zu Niedrigstlöhnen in allen Branchen verdingen. 1860 gab es knapp 402.000 männliche und 416.000 weibliche Hausangestellte, 330.000 Industriearbeiter, 154.000 Tagelöhner in Fabriken, 665.000 handwerklich Arbeitende, über 83.000 männliche und fast 180.000 weibliche 'Arme'. 9 Ihr Leben ist für Madrid eindrücklich in den Romanen von Benito Pérez Galdós beschrieben worden. Barcelona spielte in mancherlei Hinsicht eine Sonderrolle: Der Aufschwung der Industrie und der Zuzug von Arbeitern in die katalanische Hauptstadt ließen die Stadtmauern schon in den 1830er Jahren zu einem natürlichen Hindernis für die erforderliche Expansion der Stadt werden. Diese hatte 1814 erst 83.000 Einwohner gehabt, zählte 1857 aber schon 184.000 und 1877 sogar 337.000 Einwohner. Schon lange hatten die Einwohner die Schleifung der Mauern und der Ciudadela gefordert, jenes militärischen Komplexes, den die Bourbonen zur Kontrolle und Bestrafung der Stadt wegen ihrer gegnerischen Parteinahme im Erbfolgekrieg hatten anlegen lassen. Stadtmauern und Ciudadela galten als Symbole der zentralistischen Unterdrückung durch die Madrider Regierung. Ihre teilweise Schleifung (1840-1843) galt dann auch und insbesondere der Integration jener außerhalb der Mauern entstandenen industriellen Vororte wie Pöble Nou ('Neudorf) oder Pöble See ('Trockendorf), in denen die erste Generation katalanischer Industriearbeiter lebte. Für die Mitte des 19. Jahrhunderts hat der Städteplaner Cerdá eine überaus wertvolle Statistik zur Situation der Arbeiterschaft Barcelonas erstellt. Von den 54.272 Arbeitern waren 47.572 Hilfsarbeiter (miserables), das eigentliche spanische Lumpenproletariat; 6.500 waren Facharbeiter (operarios). Die Jahreseinkünfte eines Hilfsarbeiters betrugen im Durchschnitt 2.300 reales; seine Mindestausgaben (ohne Berücksichtigung von Möbeln, Gesundheits8
Vgl. hierzu Monlau/Salarich: Condiciones; zu den Lebensbedingungen in den Latifundiengebieten vgl. Bernal: Lucha.
9
Nach Pérez Garzón: Crisis, 97.
20 oder Schulausgaben) beliefen sich auf 2.301 reales für einen Junggesellen, auf 3.071 reales für einen verheirateten Arbeiter ohne Kinder oder auf 4.176 reales für einen verheirateten Arbeiter mit zwei Kindern. Der Durchschnittslohn reichte daher in keinem Fall aus. Selbst die 'Facharbeiter' verdienten nicht genug, um die Mindestausgaben für eine Familie bestreiten zu können: Ein Weber am mechanischen Webstuhl verdiente 4.160 reales, ein Seiden- und Wollweber 3.604 reales. Auch sie konnten keine Familie auf elementarstem Niveau ernähren. Dabei ist zu bedenken, daß die Arbeiter Barcelonas im Vergleich zu dem restlichen Proletariat Spaniens im Hinblick auf das Lohnniveau noch bevorzugt waren. 10 Bis weit über die Jahrhundertmitte hinaus waren die meisten Arbeiter in Katalonien konzentriert. 1857 z.B. stammte ein Drittel der gesamtspanischen Industrieproduktion aus der Provinz Barcelona, wo es rund 100.000 Arbeiter in der Baumwollindustrie gab, je 40 bis 45 % Männer und Frauen und 10 bis 20 % Kinder. Letztere mußten vom sechsten oder siebten Lebensjahr an, ebenso wie die Erwachsenen, täglich 12 bis 15 Stunden arbeiten. Entsprechend gering war die Einschulungsrate. Barcelona lag (1860) mit 31,2 % eingeschulter Jungen und nur 13,4 % eingeschulter Mädchen noch weit unter dem Prozentsatz vieler agrarischer Provinzen." Um die Mitte des Jahrhunderts betrug in der katalanischen Hauptstadt die durchschnittliche Lebenserwartung eines reichen Bürgers bei der Geburt 38,38 Jahre, eines Handwerkers 25,41 Jahre, eines Tagelöhners 19,68 Jahre. Dementsprechend sah auch die Altersstruktur der spanischen Bevölkerung aus: 1857 machten Kinder (bis 15 Jahre) 35,7 % der Bevölkerung aus, Erwachsene (15-60 Jahre) 58,9 %, während der Anteil der über 61jährigen bei nur 5,4 % lag. 12 Die im europäischen Vergleich geringere Lebenserwartung und Bevölkerungsvermehrung waren auf die verhältnismäßig hohe Sterblichkeitsrate, auf Seuchen, Hungerepidemien und Kriege zurückzuführen. Die hohe Geburtenrate wurde durch eine ebenfalls hohe Sterberate ausgeglichen, die höher als in den europäischen Nachbarstaaten lag; sie schwankte zwischen 2,67 % (1861) und 3,79 % (1885). Noch im Jahr 1900 starben 2,89 % der Bevölkerung im Vergleich zu durchschnittlich 1,8 % in Europa. Die natürliche Wachstumsrate lag bei durchschnittlich nur 0,5 bis 0,6 %. 1 3 Bei der Frage nach den Gründen für die hohe Sterblichkeitsrate ist zuerst darauf hinzuweisen, daß die für eine Senkung der Sterblichkeitsrate 10 Nach Jutglar: Ideologías I, 162-171; zur Stadterweiterung von Barcelona vgl. Vicens Vives/Llorens: Industriais. 11 Fontana: Cambio económico, 82-85. 12 Ebda. 13 Urquija y Goitia: Revolución.
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entscheidenden Neuerungen auf den Gebieten der Hygiene, des Lebensstandards, der quantitativen und qualitativen Ernährung sowie vor allem des öffentlichen Gesundheitswesens in Spanien im Vergleich zum restlichen Europa mit deutlicher Verzögerung eingeführt wurden. Das erste Estatuto Municipal, das verbindliche Hygienevorschriften für Stadtverwaltungen aufstellte, stammt aus dem Jahr 1924! Ansteckende Krankheiten blieben daher während des gesamten 19. Jahrhunderts eine der wesentlichen Ursachen für die hohe Sterblichkeitsrate. Wegen mangelnder öffentlicher Vorsorge wurden vor allem die niederen Schichten von den Infektionskrankheiten erfaßt, die eine schichtenspezifische Erscheinung darstellten. In der Arbeiterstadt Barcelona waren noch zwischen 1880 und 1889 in über 41 % aller Fälle Infektionskrankheiten, vor allem Tuberkulose, die Todesursache. Angesichts der mangelnden öffentlichen Vorsorge mußten die auftretenden Epidemien verheerend wirken: Die durch den Bürgerkrieg in ihren Auswirkungen noch verstärkte Choleraepidemie von 1833/35 wütete sowohl im Süden (Granada, Málaga) als auch in Altkastilien (Valladolid). Die Epidemie von 1853/56 betraf etwa 5.000 (von insgesamt 9.000) Ortschaften und verursachte nach offiziellen Angaben 236.744, tatsächlich jedoch weit mehr Tote, vor allem im Norden und im Zentrum. 1859/60 brach die Epidemie erneut aus, diesmal suchte sie primär die Levante und Andalusien heim. 1858 wütete zum letztenmal in Spanien eine Choleraepidemie, sie forderte 120.254 Tote. Bei sämtlichen Epidemien waren die am meisten betroffenen Personen Frauen (1853/56: 161 Frauen auf 100 Männer; 1885: 131 Frauen auf 100 Männer) und Kinder unter vier Jahren. Zu den Seuchen kamen die Ernährungskrisen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (besonders 1856/57, 1868, 1882, 1887) zu den Hauptgründen des geringen natürlichen Wachstums gehören. Erhöhung der Preise für Grundnahrungsmittel, besonders für Getreide, und Geburtenrückgang korrelieren deutlich: Je stärker der Getreidepreis anstieg, desto deutlicher ist ein vorübergehender Bevölkerungsrückgang zu registrieren. Die am meisten betroffenen Gegenden waren die zentral-agrarischen Provinzen Cáceres, Badajoz, Segovia, Burgos und Toledo. 1 4 Um die sozialen Spannungen einigermaßen unter Kontrolle zu halten, griffen die Behörden zu zwei Mitteln: der institutionalisierten Wohltätigkeit und der öffentlichen Arbeitsbeschaffung. Wohltätigkeitsinstitutionen entstanden in allen größeren Städten, da die Kommunen die früher von der Kirche geübte Wohltätigkeit übernehmen mußten. Damit war dieser Bereich als öffentliche Dienstleistung 'kommunalisiert' (Wohltätigkeitsgesetze von 1821 und 1849). Provinz- und Lokalverwaltungen waren darüber hinaus angehalten, die öffentliche Arbeitsbeschaffung zu organisieren, deren explizites Ziel darin 14 Ebda.
22 bestand, "Explosionen und soziale Konflikte" zu verhindern. 1862/63 etwa wurden im Landesdurchschnitt 4,89 % aller Kommunalbudgets in Wohltätigkeitszwecke und 9,78 % in öffentliche Arbeiten investiert; in Madrid und Valencia stieg der Anteil für öffentliche Arbeiten auf über 18 %, in Barcelona lag er demgegenüber (wohl wegen des höheren Arbeitsplatzangebots in der Industrie) bei nur 7,2 %. Die Not in den Städten konnte durch derartige Maßnahmen aber nicht grundlegend gemildert werden. Urbane Unruhen gehörten vielmehr während des gesamten Jahrhunderts zum sozialen Erscheinungsbild spanischer Städte. Zu 'traditionellen' Aufständen, wie Subsistenz- oder Hungerrevolten, gesellten sich neue Aktions- und Kampfformen wie Streiks und Barrikadenkämpfe, die immer häufiger auch politisch motiviert sein konnten. In zahlreichen Aufständen, die sich gegen die Teuerung oder Hortung von Brotgetreide richteten, spielten Frauen eine herausragende, aber bis heute kaum untersuchte Rolle. In sog. Jornadas revolucionarias ("revolutionäre Tage") ging es meist um politische Zielsetzungen. An solchen Aktionen beteiligten sich Handwerker, Arbeiter, Dienstboten, Milizionäre, unterbürgerliche Schichten, häufig auch Intellektuelle (Lehrer, Journalisten). Seit den 1820er Jahren waren auch immer häufiger reine Arbeiterunruhen zu registrieren. Den Anfang machten 1821 die Maschinenstürmer von Alcoy. Einige Jahre später folgten die Zigarrenarbeiterinnen von Madrid, 1839 streikte der gesamte Handwerkerstand Granadas, 1840 traten die Hütemacher Madrids in den Ausstand, 1842 die Maurer. 1843 kam es zu Konflikten in der Seidenindustrie Valencias, 1855 schließlich zu einem Generalstreik der katalanischen Arbeiter zur Durchsetzung des Vereinigungsrechts und des Zehnstundentages sowie zur Einrichtung paritätisch besetzter Vermittlungskommissionen bei Arbeitskonflikten. In dieser Phase des Kampfes schlössen sich die Arbeiter meist noch den radikaleren bürgerlichen Kräften an, die als Anführer der Bewegungen auftraten. 1 5 Seit der Einführung der Dampfmaschine im Jahr 1832 bis zur systematischen Repression der Arbeiterorganisationen im Jahr 1874 durchlief der Kampf des Industrieproletariats drei Phasen zunehmender Radikalisierung. 1 6 Anfangs ging es um sozioökonomische Forderungen, die noch keine politischen Inhalte aufwiesen; zum Teil wurden die Proteste sogar gemeinsam von Arbeitern und Unternehmern vorgebracht, etwa wenn es, wie z.B. 1843, um die Abschirmung des spanischen Marktes gegen ausländische Konkurrenzimporte ging. In einem Aufruf von 1856 sprachen die Arbeiter Barcelonas 15 Zum Verhältnis der Arbeiter zu den radikalen bürgerlichen Kräften vgl. den Beitrag von Izard: Orígenes. 16 Nach Benet/Marti: Barcelona II, 4 0 9 .
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dann in einer zweiten Phase schon von einer "schmerzlichen Erfahrung", die ihre frühere Vorgehensweise für sie bedeutet habe, da ihr "Opfer" in keiner Weise honoriert worden sei. Statt dessen riefen sie zu einer Politisierung ihrer Kämpfe auf, um das Vereinigungsrecht grundgesetzlich abzusichern und ihren wirtschaftlichen Errungenschaften eine vom Gesetzgeber ausgesprochene Absicherung zu verschaffen. Hierzu wiederum forderten die Arbeiter die Möglichkeit, eigene Abgeordnete ins Parlament entsenden zu können; daraus ergab sich konsequenterweise die Forderung nach allgemeinem Wahlrecht. Das jedoch wurde von den moderados stets abgelehnt. Joaquín Francisco Pacheco, einer der 'Chefideologen' der moderados, begründete, stellvertretend für seine Partei, den Ausschluß der "niederen Klasse" von den politischen Entscheidungen damit, daß sie die "demokratischen Interessen" nicht artikulieren könne; diese Fähigkeit sei ihr vorenthalten, weil sie "über kein Eigentum verfügt, keine Intelligenz besitzt, ihr die Liebe zur Ordnung und das Bedürfnis dieser Ordnung fehlt". 17 Da die Arbeiter kein Eigentum besaßen, zählten sie auch politisch nicht. Das wichtigste Eigentum wiederum war Geld; in einigen bürgerlichen Kreisen errang um die Mitte des 19. Jahrhunderts der Wert des Geldes die Vorherrschaft über den Wert des Bodens. Der Zugang zu Eigentum gehörte zu den großen Mythen der spanischen, besonders der katalanischen Bourgeoisie. In den 'oligarchischen' Cortes von 1845 sprach ein Abgeordneter aus, was für die besitzenden Schichten Axiom ihrer politischen Einstellung war: An der Macht dürfe keine Schicht unterhalb des Bürgertums beteiligt werden, da man sonst in den Zustand "ekelhafter Demokratie [verfalle], wo die Dummheit beheimatet ist. Armut, meine Herren, ist ein Zeichen von Dummheit." 18 Die politische Kraft, die über längere Zeit hinweg das Arbeitervertrauen am meisten kapitalisierte, war die Demokratisch-Republikanische Partei. Bis weit über die Jahrhundertmitte hinaus waren die katalanischen Arbeiter davon überzeugt, daß der linksbürgerliche Reformismus dieser Partei ihre Interessen politisch vertrete. Die Entwicklung der ersten Sozialutopien auf spanischem Boden belegt dieses Zusammengehen linksbürgerlicher Kräfte mit der entstehenden Arbeiterbewegung. Die 1834 verkündete Amnestie hatte es dem liberalen Joaquín Abreu ermöglicht, von seinem französischen Exil nach Cádiz zurückzukehren und dort den in Frankreich kennengelernten Fourierismus zu verbreiten. Die fourieristische Propaganda führte Anfang der 1840er Jahre dazu, daß in der Provinz Cádiz erste Versuche zur Gründung autonomer, genossenschaftlicher Produktions- und Lebensgemeinschaften im Stile der Phalanstères unternommen wurden. Diese Form der Sozialutopie, der die damaligen 'Frühsozialisten' (José Ordax Avecilla, Sixto 17 Nach Jover Zamora, in: Historia social, 249. 18 Nach Jutglar: Ideologías I, 90, 94, 355.
24 Cámara und Ferrando Garrido) anhingen, schlug in Katalonien nie Wurzeln. Dort setzte der junge Arbeiter Juan Munts vielmehr die Gründung von Arbeitergesellschaften durch, die sich in den 1840er Jahren allerdings nur unter äußerst prekären Umständen entwickeln konnten. Nicht eindeutig geklärt sind die Beziehungen zwischen diesen ersten Arbeiterorganisationen und der republikanischen Partei von Abdón Terradas. Andererseits ist bekannt, daß Schüler von Etienne Cabet seine Lehre in Katalonien verbreiteten. Sowohl Cabetisten wie Fourieristen waren in der Demokratischen Partei vertreten. Dieses vorübergehende Zusammenwirken von Arbeiterinteressen und politischen Bewegungen erreichte 1854 konkrete Ergebnisse. Die Arbeiter Barcelonas beteiligten sich massiv an den Unruhen, die General Baldomero Espartero wieder an die Macht brachten; zugleich vertraten sie ihre Forderungen. Der Generalkapitän von Katalonien verbot sogar, auf ihre Intervention hin, die Aufstellung automatischer Spinnmaschinen {selfactinas), die von den Arbeitern als Grund für ihre Situationsverschlechterung und Arbeitslosigkeit identifiziert worden waren. Während des bienio progresista (1854-1856) setzte sich dann innerhalb der Arbeiterschaft eine Verhandlungsstrategie durch, deren Erfolge aber äußerst beschränkt blieben. Der Sturz Esparteros und die Übernahme der Regierungsgewalt durch die Unión Liberal führten nach 1854 zu einer neuerlichen Repressionswelle; nach Teilverboten wurden im Frühjahr 1857 schließlich alle Arbeiterassoziationen aufgelöst. Die unbefriedigenden Erfahrungen aus dieser Form des Zusammengehens bewirkten, daß der dritte Schritt im Radikalisierungsprozeß der industriellen Arbeiterschaft nach der Revolution von 1868 erfolgte, als sie sich von den bestehenden bürgerlichen Parteien ab- und der Ersten Internationale zuwandten. 19 Die Betrachtung der Lebens- und Arbeitsbedingungen des entstehenden Proletariats in der isabellinischen Ära (1833-1868) läßt deutlich werden, daß diese Schicht in keiner Weise, weder politisch noch ökonomisch, in das vom konservativen Liberalismus geschaffene System integriert war. Ohne Vertretung im politisch-parlamentarischen Bereich, ja, ohne die Möglichkeit zu einem gewerkschaftlichen Zusammenschluß wurden die sozialen Kräfte an der Basis der Gesellschaft zusehends radikalisiert und schon früh in eine antipolitische Richtung gedrängt. Nach 1868 sollte diese Tendenz voll zum Durchbruch gelangen.
19 Zum Verhältnis zwischen Arbeiterschaft und Demokratischer Partei vgl. Eiras Roel: Partido Democrático, sowie Jutglar: Ideologías I, 186-188; zum Fourierismus vgl. Elorza: Fourierismo; zur Arbeiterbewegung insgesamt vgl. den Überblick von Tuñón de Lara: Movimiento.
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3. Landarbeiterschaft und Sozialbanditentum In vielerlei Hinsicht ähnlich verliefen der Bewußtwerdungsprozeß der Landarbeiter und die Entwicklung der Konfliktbereitschaft im ruralen Bereich. Herausbildung und Entwicklung des Agrarproletariats im 19. Jahrundert sind bisher weit weniger gut erforscht als die Entstehung des Industrieproletariats. 20 Man hat am Beispiel Andalusiens den Ursprung des Landproletariats auf den Konzentrationsprozeß an Bodeneigentum zurückgeführt. Dieser Prozeß ist vor allem nach 1837 feststellbar, als infolge der Ubertragung bürgerlicher Eigentumstitel an die früheren senores die auf den Ländereien arbeitenden Bauern zu landlosen Tagelöhnern absanken. Zum damaligen Zeitpunkt kam es zu den ersten großen Bauernunruhen mit Landbesetzungen und Erntezerstörungen. Die andalusischen Bauern schlössen stillschweigend eine Art 'Allianz' mit den am meisten radikalisierten politischen Gruppen linksliberaler oder 'linker' Orientierung - zuerst den Progressisten, später den Demokraten und Republikanern -, von denen sie sich eine politische Lösung des Agrarproblems erhofften. Insgesamt waren die ländlichen Unruhen viel umfangreicher als die städtischen; sie wurden zu einer endemischen Erscheinung im Spanien des 19. Jahrhunderts. Nach der Einführung liberal-kapitalistischer Rechts- und Sozialverhältnisse auf dem Land hatte die rurale Konfliktivität einen konkreten Bezugspunkt. Immer wieder wurden Ländereien besetzt und Forderungen nach Landverteilung (reparto) erhoben. Der dabei laut werdende Ruf nach Republik hatte einen konkreten sozialen Inhalt. Er bedeutete Freiheit von 'Kaziken', Wiedergewinnung der Ländereien, autonome lokale Organisation. Anführer derartiger ruraler Revolten, wie z.B. derer von 1854/55, der Revolte von Utrera und El Arahal 1857 oder des Aufstandes von Loja 1861, waren häufig Handwerker, die ebenfalls einen Proletarisierungsprozeß durchliefen. Den Hintergrund der Unruhen bildete die dramatische Verschlechterung der existentiellen Situation des überwiegenden Teils der Landbevölkerung. Auf der Grundlage zeitgenössischer Zeitungsschilderungen hat E. Inman Fox die Lebens- und Arbeitsbedingungen eines andalusischen Tagelöhners im 19. Jahrhundert beschrieben 21 : "Falls er an Arbeit herankam (es gab eine hohe Arbeitslosenrate), war er vom Michaelitag zu Ende September bis Anfang November mit der Vorbereitung der Aussaat auf den Feldern beschäftigt; dabei arbeitete er von Sonnenauf- bis -Untergang, 20 Zur Thematik des Latifundismus Artola/Bemal/Contreras: Latifundismo. 21 Nach Zugasti: Bandolerismo, 21.
und
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Bernal:
Propiedad;
26 und dafür erhielt er pro Tag 21 cuartos und das Essen. Dieses bestand aus zwei warmen gazpachos und einem kalten. Gemacht wurden diese gazpachos mit 3 Pfund Brot pro Person, einer Schale Ol für je zehn Mann, Salz und Essig. Danach begann die Aussaat, wobei er 3 oder 3,5 reales für jeden noch etwas längeren Arbeitstag verdiente. Nach der Rückkehr in den Gutshof (cortijo) erhielt er dort einen warmen gazpacho\ zugewiesen erhielt er in der Knechtsstube, die vom Rauch des Pferdemistes (der als Holz diente) angefüllt war, eine Matte und eine billige Decke. Die Aussaat endete Mitte Dezember; dann wurden fast alle Tagelöhner bis Anfang Juni entlassen. Im Sommer verdiente er zwischen Ende Mai und dem Jakobstag 3 reales, manchmal sogar 4, aber vom Jakobstag an bis Ende August sank der Tageslohn für Tennenarbeiten wieder auf 2,5 reales. Man konnte somit an die sechs Monate im Jahr arbeiten und dabei ein Maximum von 540 reales verdienen. Hiervon waren Wohnung, Nahrung und Kleidung für Frau und Kinder während des gesamten Jahres zu zahlen. Die Schnitter konnten den Tageslohn erhöhen; sie erhielten 32 reales für einen Morgen abgeernteten Weizens. Wenn sie sich sehr anstrengten, konnten sie einen Monat lang 10-12 reales pro Tag verdienen; aber viele brachen erschöpft zusammen oder wurden durch die Hitze ohnmächtig. Wenn sie arbeitslos waren, mähten viele von ihnen Gras und verkauften es in den Dörfern, oder sie gingen jagen. Da sie aber weder ein Jagdrevier noch eigenen Grund und Boden hatten (über 80 % der andalusischen Bauern besaßen keinerlei Land), außerdem über keine Jagdgenehmigung verfügten, mußten sie nahezu die ganze Zeit vor der Guardia Civil fliehen, und viele landeten im Zuchthaus. Von der Schulausbildung der Kinder sprechen wir lieber gar nicht. Der Vater wartete nur darauf, daß die Kinder 6 oder 7 Jahre alt waren, um sie irgendwo als Hirten unterzubringen, wo sie sich ihr Essen und ein bißchen Geld im Monat verdienen konnten. Man braucht in der Schilderung nicht weiterzufahren, aus dem bisher Gesagten werden die äußerst armseligen Verhältnisse deutlich, in denen der andalusische Bauer lebte; deutlich werden auch der Haß oder das Ressentiment, das er seinen Herren oder den Behörden gegenüber hegen mußte, die die ihn umgebende Sozialstruktur repräsentierten. Der große Klassenunterschied und die latifundistische Gesellschaft haben in Andalusien einen ständigen Protest hervorgebracht: Sie schufen die Bedingungen für einen derartigen Protest entweder am Rande der Gesell-
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schaft (Delinquenz oder Banditentum) oder in Form B auernaufständen.''
27 von
Lange Zeit herrschten die vielfältigsten marginalen Formen von Volksunzufriedenheit vor: Banditentum, Kriminalität, Bettelei, Sozialdelinquenz. Vor allem in Andalusien kam es in einzelnen Phasen zu einer derartigen Zunahme des Banditentums, daß es die soziale Ordnung jenes Landesteils zu erschüttern schien. Diebesbanden operierten unbehelligt, und die Zahl der Einzelbanditen, die die Großagrarier erpreßten, war Legion. Diebstahl, Erntezerstörungen, aber auch Morde an Reichen häuften sich in aufsehenerregendem Maße. Bis Ende der 1850er Jahre gehörten auch die Uberfälle auf Personenkutschen zum sozialen Alltag Andalusiens. Da zwischen 1859 und 1865 jedoch die Eisenbahnstrecke zwischen Ciudad Real, Córdoba und Sevilla in Betrieb genommen wurde und der Verkehr auf den 'Königsstraßen' (caminos reales) deutlich nachließ, wurde diese Form der Kriminalität in den 1860er Jahren durch Personenentführungen mit nachfolgenden Erpressungen ersetzt. 2 2 Der 'klassische' Sozialbandit (Hobsbawm) trat im Spanien des 19. Jahrhunderts in Dreier- oder Vierergruppen auf (cuadrilla). Einen ersten Aufschwung nahm diese Form von Delinquenz nach dem Unabhängigkeitskrieg, als offensichtlich Guerrilla-Einheiten nicht mehr ins 'normale' Leben zurückfanden und sich dem Banditentum systematisch hingaben. Selbst der berühmtesten Banditengruppe jener Jahre, den Siete Niños de Ecija in der Provinz Sevilla, wird nachgesagt, sie sei aus einem Guerrilla-Trupp hervorgegangen. Die Banditen (z.B. Malas Patas, Uñas Largas oder Vaca Rabiosa) waren Bauern, fast alle waren zuvor inhaftiert gewesen. Zumeist traten sie relativ offen in den Dörfern oder den Gehöften auf, was nicht möglich gewesen wäre, wenn sie nicht die Protektion eines Großteils der Landbevölkerung genossen hätten. Deren Sympathie besaßen sie aber deshalb, weil ihre Aktionen sich gegen den 'Reichen', den Großgrundbesitzer wandten: Über die Hälfte der in der isabellinischen Ära (1833-1868) gerichtlich belegten Delinquenten waren Tagelöhner! Darüber hinaus erfuhren sie auch Protektion durch den lokalen cacique, was auf eine enge Zusammenarbeit zwischen Bandit und Lokalhonoratioren hindeutet. Bandolerismo und caciquismo waren im Spanien des 19. Jahrhunderts eng miteinander verwoben; man spricht in diesem Zusammenhang von einer Art 'Protomafia', deren Zweck die Konsolidierung der Macht der kapitalistischen Mittelschicht war. "Diese Vereinigung gewährte, indem sie die Banditen selbst kaufte, den kleinen Eigentümern gegen einen Tribut Schutz gegen das Banditentum. Das Geld verdienten die Paten, die Anwälte und Beamten, der 22 Hierzu Bemaldo de Quirós/Ardila: Bandolerismo; vgl. auch Díaz del Moral: Historia, 7392.
28 reiche Bauer erhielt Schutz, der in Madrid lebende Großgrundbesitzer erhielt den Status quo und die politische Macht aufrecht, die Bauernschaft konnte ihre Lage nicht verbessern."23 Das Banditentum manifestierte sich im wesentlichen als eine Form individueller Rebellion in einer Bauerngesellschaft. Es entstand historisch in einem Augenblick der Pauperisierung, als Wirtschaft und Gesellschaft im Übergang zum Agrarkapitalismus waren. Höhepunkte erlebte es in Phasen, die auf Kriege oder Aufstände folgten: 1812 bis 1820, 1830 bis 1840, 1869 bis 1871. Da der Bandit außerdem - in der Terminologie Hobsbawms - ein "präpolitisches Phänomen" - als "primitiver Rebell" ohne Ideologie oder Zukunftsentwurf für eine neue Gesellschaft - darstellte, konnte er agieren, solange der 'Arme' keine effizienteren Formen sozialer Agitation entwickelt hatte. Der sehor und der Staat betrachteten den zum Banditen gewordenen Bauern als außerhalb des Gesetzes stehend. Er selbst blieb aber in die bäuerliche Gesellschaft integriert und wurde von der agrarischen Bevölkerung als bewunderter Held, als Rächer und Kämpfer für die Sache der Gerechtigkeit und Freiheit angesehen.
23 Zugasti: Bandolerismo, 19.
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II. Anarchismus und Gewalt in der Restaurationsära 1. Die Arbeiterbewegung nach der Septemberrevolution von 1868 Im September 1868 wurde Königin Isabella II. gestürzt und ins französische Exil getrieben. Das von General Juan Prim geleitete pronunciamiento gegen die Regierung sollte zur Einberufung konstituierender Cortes führen. Wie schon bei früheren pronunciamientos, sollte auch bei diesem die Unterstützung durch das Volk von ausschlaggebender Bedeutung sein. Ursprünglich hatte Prim, der Kopf der Verschwörung, eine rein militärische Aktion geplant gehabt. Der Fehlschlag verschiedener vorhergegangener Aufstände zwang ihn jedoch, den Kreis der Teilnehmer zu öffnen und die Aufrufe mit einer scheinbar extremistischen Rhetorik zu umgeben, deren Ambivalenz verhängnisvolle Auswirkungen haben sollte. Der Aufstand verlief an vielen Orten nach einem ähnlichen Muster. Zuerst erfolgte die Bildung einer provisorischen Junta mit extremen Forderungen, die eine möglichst breite Mobilisierung des Volkes sicherstellen sollte. Dann mußte die siegreiche "Revolution" gegen ihre Feinde verteidigt werden. Diese waren jetzt aber nicht mehr die "Reaktionäre", sondern die Extremisten von links. In den Aufrufen ging es daher vor allem um Aufrechterhaltung von "Ordnung" und Respektierung des "Eigentums". Schließlich ernannte die aus der Madrider Junta hervorgegangene provisorische Regierung Gemeindeverwaltungen, die bald zur Auflösung der Juntas schritten. Die 1868 siegreichen Kräfte erstrebten vor allem die Erlangung der Macht und die Durchführung gemäßigter politischer und wirtschaftlicher Reformen. Ein sozialer Umsturz stand nicht auf ihrem Programm, und sie teilten auch nicht die Sorgen der Republikaner um die Situation der Arbeiterschaft. Die Geschwindigkeit, mit der der Staatsapparat reorganisiert und die revolutionären Juntas aufgelöst wurden, läßt einen wohlkalkulierten und geschickt durchgeführten reformistischen Plan erkennen, der aber nicht vorbehaltlos, wie die Ausrufung der Ersten Republik beweist, in die Tat umgesetzt werden konnte. Außer der 'glorreichen' Revolution (La Gloriosa) von Prim und Francisco Serrano gab es weitere Revolutionsversuche - die der Arbeiter und Bauern, der Republikaner und Föderalisten -, die zum Verständnis des komplexen Phänomens 'Revolution von 1868' mitherangezogen werden müssen. Diese 'anderen' Revolutionen wurden in den ersten Wochen von den Juntas repräsentiert, die sich wie ein Lauffeuer über das ganze Land ausbreiteten,
30 auf kommunaler Ebene die Organisation übernahmen, die 'Freiwilligen der Freiheit' (Voluntarios de la Libertad) als Volksmiliz bewaffneten und zahlreiche soziopolitische Forderungen aufstellten (allgemeines Männerwahlrecht, Religionsfreiheit, Recht auf Arbeit, Abschaffung der quintas, der Einberufungsmethode zum Militärdienst, und consumos, der indirekten Steuern). Hätte diese radikale Junta-Bewegung sich durchsetzen können, wäre aus dem Umsturz von 1868 wahrscheinlich eine Revolution geworden. In der durchgeführten Form jedoch war die septembrina schon deshalb keine Revolution, weil nie die Absicht bestand, über den politischen Umsturz hinaus radikale Veränderungen vorzunehmen.1 Sehr schnell ergab sich ein wichtiges Konfliktfeld im Verhältnis der Exekutive zum Proletariat, als die Provisorische Regierung eine Neuordnung im gesellschaftlichen Bereich verhinderte. Die soziale Problematik machte sich sofort brennend bemerkbar, als eine durch Dürre verschärfte Agrarkrise Hungersnot und Arbeitslosigkeit bewirkte. In verschiedenen Landesteilen (Andalusien, Galicien, Levante, La Mancha) kam es zu Landbesetzungen, Konflikte häuften sich. Die Republikanische Partei gewann an Bedeutung, da die Republikaner viel Unzufriedenheit zu artikulieren wußten und sich immer deutlicher als Alternative zum bestehenden System präsentierten. In jenen Jahren wurden auch Republikanismus und Lösung sozialer Probleme, vor allem auf dem Land, weitgehend gleichgesetzt. Die Jahre nach 1868 erlebten den eigentlichen Beginn der organisierten spanischen Arbeiterbewegung, deren Entstehung auf zwei komplementäre Initiativen zurückzuführen ist. Zum einen erkannte die Provisorische Regierung unter General Francisco Serrano schon im November 1868 das Vereinigungsrecht an, nachdem bis dahin das Assoziationsrecht auf 'Hilfsgesellschaften' (sociedades de socorro mutuo) beschränkt gewesen war. Zum anderen entsandte der anarchistische Flügel der 1864 gegründeten Internationalen Arbeiter-Assoziation im Auftrag von Michail Bakunin einen Delegierten, Giuseppe Fanelli, nach Spanien, der in Madrid und Barcelona sofort Arbeitersektionen gründete, die vorerst eine enge Verbindung mit dem föderalistischen Republikanismus eingingen. Zuerst schloß die Barcelona-Sektion eine "politische Partizipation" zugunsten der demokratischen Bundesrepublik nicht aus. Sie war eher reformistisch orientiert und trat für den Aufbau von Genossenschaften ein. Demgegenüber betonte die Madrider Sektion stärker den proletarischen Internationalismus und plädierte für die "vollständige wirtschaftliche und soziale Emanzipation der Arbeiter". Die Position der Barcelona-Sektion sollte sich aber schnell ändern. Seit 1870, nachdem Rafael Farga Pellicer direkten Kontakt mit Bakunin aufgenommen hatte, erfolgte eine Radikalisie1
López-Cordón: Revolución; vgl. auch Fontana: Cambio económico, 123-128.
Anarchismus und Gewalt in der
Restaurationsära
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rung der Katalanen im Sinne des Internationalismus und der Abwendung von der Zusammenarbeit mit politischen Organisationen. Der erste spanische Arbeiterkongreß, auf dem die Federación de Trabajadores de la Región Española (FTRE, Arbeiterbund der Spanischen Region) gegründet wurde, verkündete 1870 in Barcelona bereits ein Programm ("in der Politik anarchistisch, in der Wirtschaft kollektivistisch, in der Religion atheistisch"), das erkennen ließ, daß die spanische Arbeiterbewegung mit ihren radikalen Forderungen: vollständige Emanzipation des Proletariats, Ersetzung des Staates durch einen Bund freier Arbeiterassoziationen, Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln, eine anarchistische Orientierung nehmen würde. 2 Als 1871 Marx' Schwiegersohn Paul Lafargue nach Spanien kam, konnte er zwar eine kleine Gruppe von Arbeitern und Handwerkern (Francisco Mora, José Mesa, Paulino Iglesias u.a.) um sich scharen und die Nueva Federación Madrileña (Neuer Madrider Bund) gründen, aus der sich einige Jahre später die Sozialistische Partei bilden sollte, aber nicht mehr verhindern, daß die spanische Arbeiterbewegung primär anarchistisch orientiert blieb. Die unmittelbare Folge der vom Londoner Generalrat 1872 anerkannten Neugründung bestand darin, daß auf spanischem Boden zwei proletarische Organisationen bestanden, die sich vor allem in ihrer Haltung zur Politik und Kontrolle des Staatsapparates unterschieden. Während die marxistische Gruppe lange Zeit stagnierte, expandierte die anarchistische (trotz ihrer Illegalisierung 1872) außerordentlich schnell. 1872/73 zählte sie bereits 149 Lokalföderationen, 361 Einzelgewerkschaften und 30.000 Mitglieder. Dabei konnte die anarchistische 'Spanische Regionalföderation der Internationale' (Federación Regional Española, FRF.) auf bereits vorhandene Arbeiterzirkel, Bauemassoziationen, Kulturzentren usw. zurückgreifen. Die weitere Geschichte der spanischen Arbeiterbewegung, ihre theoretischen und organisatorischen Beschränkungen und ihre Phasenverspätung gegenüber dem restlichen Westeuropa wurden fortan wesentlich durch die defiziente industriekapitalistische Entwicklung des Landes, die Unwilligkeit der Bourgeoisie zur Durchführung sozialer Veränderungen und die Beibehaltung einer ständischen Ideologie seitens der Oligarchen an der Macht bedingt. 1871 begannen die repressiven Maßnahmen, und nahezu während des ganzen Jahres waren die 'soziale Frage' und die Organisation der Arbeiterbewegung die dominierenden Themen in Parlament, Presse und Öffentlichkeit, wozu nicht zuletzt die Pariser Commune und die Frage des politischen Asyls für die Flüchtlinge aus Frankreich beitrugen. Der spätere Restaurationspolitiker Antonio Cánovas del Castillo bezeichnete damals bereits die Intema2
Hierzu Termes: Anarquismo; Lida: Anarquismo; vgl. auch die Memoiren des "großen alten Manns" des spanischen Anarchismus, Anselmo Lorenzo: Proletariado.
32 tionale als "schrecklichen Herd von Unmoral und die größte Gefahr, die die menschlichen Gesellschaften je gelaufen sind".
2. "Direkte Aktion" und Legalismus im Anarchismus Der Zusammenhang zwischen Arbeiterbewegung und Anarchismus ist in der spanischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts weit deutlicher greifbar als in allen anderen europäischen Gesellschaften der Neuzeit. Bis zum Bürgerkrieg von 1936-1939 stellte der Anarchismus in Spanien eine bedeutende revolutionäre Kraft dar, die im Bund mit der syndikalistischen Bewegung eine erstaunliche organisatorische Stabilität aufwies. Von Anfang an - seit der Italiener Giuseppe Fanelli Anfang November 1868 als Gesandter Bakunins die Nachricht von der Gründung einer Internationalen Arbeiter-Assoziation nach Spanien brachte - hatte der iberische Anarchismus sozial und regional zwei Schwerpunkte: den feudal-latifundistischen Süden des Landes, in dem der andalusische Agrar- und Handwerkeranarchismus Wurzeln schlug, und den relativ industrialisierten Nordosten der Halbinsel, wo sich der katalanische Anarchosyndikalismus durchsetzte. Diese soziale (Landarbeiter-Industriearbeiter) und regionale (Andalusien-Katalonien) Differenzierung war nicht nur in der Forschung Anlaß für die verschiedensten Erklärungshypothesen zu den Entstehungsursachen des spanischen Anarchismus, sondern stellte die Bewegung selbst im Verlauf ihrer Geschichte wiederholt vor nahezu unlösbare strukturelle Probleme, bestimmte in wesentlichem Umfang ihre Strategie und Taktik, wirkte sich entscheidend auf die Revolutionskonzeption des Anarchismus aus und dürfte letztendlich maßgeblich für das Scheitern der Bewegung und ihren Untergang als sozialrevolutionäre Kraft verantwortlich sein. 3 Alle libertären Autoren, die sich selbstkritisch mit ihrer Bewegung und deren Rolle in den sozialen Kämpfen im letzten Drittel des 19. und ersten des 20. Jahrhunderts auseinandergesetzt haben, weisen auf die mangelnde Ubereinstimmung der verschiedenen Flügel des Anarchismus in wesentlichen programmatischen Fragen hin. 4 Inneranarchistische Auseinandersetzungen und fehlender Konsens in Grundfragen lassen sich bis in die Anfänge der Bewegung zurückverfolgen: Bereits auf dem ersten spanischen Arbeiterkongreß 1870 in Barcelona wurde das Programm erst nach verschiedenen Kampfabstimmungen und auch dann lediglich in einer äußerst verwässerten Form 3
Zu den Auseinandersetzungen innerhalb der anarchistischen Bewegung vgl. (exemplarisch) Elorza: Utopía; Brademas: Anarco-sindicalismo; C. Lorenzo: Anarquistas.
4
Zu dieser Problematik ausführlich Bernecker: Soziale Revolution.
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angenommen; die Auseinandersetzungen auf diesem Kongreß nahmen bereits den zukünftigen Dissens zwischen 'Reformisten' und revolutionären Aktivisten vorweg. Bezeichnenderweise sprach sich der größere Teil der katalanischen Delegierten, ohne sich insgesamt jedoch durchsetzen zu können, bereits damals für die jeweils gemäßigtere Formulierung der einzelnen Anträge aus. 5 Die unterschiedliche soziale und regionale Zusammensetzung der anarchistischen Bewegung Spaniens führt auch zentral in die Problematik der "direkten Aktion" und der Gewaltanwendung im iberischen Anarchismus. Denn die Frage nach den sozialen, wirtschaftlichen, politischen, gesellschaftlich-historischen Konstituierungsbedingungen des Anarchismus und seiner Entfaltung als Sozialrevolutionäre Massenbewegung hat zugleich die Frage nach den verschiedenartigen Strategien des "libertären Sozialismus" zum Inhalt. Dabei soll unter Strategie der zweckrationale und zielgerichtete Gehalt von Gewaltaktionen verstanden werden, ohne darüber zu verkennen, daß gerade im spanischen Anarchismus neben dem rationalen besonders häufig irrationale Violenzmuster verbreitet waren. Für die spanischen Anarchisten ergab sich aus dem Motto der Ersten Internationale: "Die Emanzipation der Arbeiter muß das Werk der Arbeiter selbst sein" als Folge die konsequente Ablehnung der partei- und verbandsmäßigen Einflußnahme auf politische Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse. Diese "antipolitische" Haltung, die von einer "apolitischen" deutlich zu unterscheiden ist 6 , hielt sie auch von einer (Zweck-)Koalition amit republikanischen oder sozialistischen Parteien ab und gehört zu den Grundmerkmalen der Bewegung. Antipoliticismo bedeutete für die in der Federación Regional Española (FRE) organisierten Arbeiter Ablehnung aller politischen Parteien, Gegnerschaft auch gegenüber der republikanischen Staatsform und Weigerung, an Wahlen teilzunehmen. Die bereits 1870 entbrannte Diskussion über die Angemessenheit dieser Taktik wurde für die anarchistischen Arbeiter nach der blutigen Niederschlagung der Pariser Commune 1871 durch eine republikanische Regierung endgültig im antipolitischen Sinne entschieden. Nunmehr stand es für die Anarchisten fest, daß alles Politische
5
Vgl. hierzu die Memoiren des Kongreßteilnehmers und 'Vaters' der anarchistischen Bewegung in Spanien: A. Lorenzo: Proletariado; außerdem Termes: Anarquismo.
6
Vor allem Gegner der Anarchisten verwenden die Begriffe "antipolitisch" und "apolitisch" undifferenziert, um die anarchistische Haltung lächerlich zu machen. Anarchisten selbst haben sich jedoch nie als "apolitisch" verstanden; ihr antipoliticismo bezog sich ausschließlich auf die Weigerung, die bürgerlich-parlamentarischen Spielregeln einzuhalten. Hierzu ausführlich (mit Belegen) Alvarez Junco: Ideolgía, 411 ff., bes. 416f.
34 - unabhängig von der Staatsform - für die Arbeiter verderblich und infolgedessen abzulehnen sei. 7 An die Stelle der "politischen" setzten die Anarchisten die "direkte" oder "antipolitische" Aktion, unter der sie ursprünglich die unmittelbare Auseinandersetzung der sich gegenüberstehenden gesellschaftlichen Kräfte (Arbeiter und Kapitalisten), das selbständige Handeln des Volkes, ohne Rekurs auf parlamentarische Vertreter, sowie - unter direktem Rückgriff auf Bakunin - die Absicht verstanden, das Endziel der sozialen Revolution "keineswegs durch eine formale Anwendung und Verbreitung von fertigen Theorien, sondern nur durch eine ursprüngliche Tat des praktischen autonomischen Geistes" 8 zu erreichen. "Direkte Aktion" ist somit anfangs keineswegs in jedem Fall mit physischer Gewaltanwendung gleichzusetzen, wenn auch Sabotage und Terrorakte von einem extremistischen Flügel stets als legitime Mittel im Kampf gegen das Kapital betrachtet wurden; unter "direkte Aktion" fallen vielmehr auch Aktionsformen wie das Aushandeln von Kollektivverträgen, propagandistische Agitation und Streiks. Vor allem die Streiks waren während der Existenz der spanischen Regionalföderation der Internationale (1870-1888) die bevorzugte Strategie der organisierten Arbeiterschaft; sie wurden hinsichtlich des angestrebten Endziels als ein revolutionäres, vom Standpunkt des geltenden Rechts aus jedoch als durchaus legales Mittel angesehen. 1872 heißt es in einer anarchistischen Broschüre über die Ziele der Internationale: 9 "Sie soll allmählich die wirtschaftlichen Verhältnisse der Arbeiterklasse verändern [...], die Arbeitsbedingungen anheben und verbessern und die Privilegien des Kapitals beschneiden, verringern, abblocken, sie Tag für Tag abhängiger und prekärer werden lassen, bis das Kapital sich ergibt und verschwindet [...] Dies erreicht man mit dem Mittel des Widerstandes, mit der legalen und offenen Waffe des Streiks." Die Ziele, die durch den Streik erreicht werden sollten, wurden allerdings nicht als reformistische Verbesserungen der Lage der Arbeiterklasse betrachtet - Verbesserungen, die das letzte Mittel der sozialen Revolution überflüssig machen würden -, sondern als Maximierung der Ausgangsposition für den schließlich unausweichlichen revolutionären Akt, durch den die be7
Allerdings unterschieden die Anarchisten qualitativ zwischen Republik und Monarchie und gaben ersterer - da fortschrittlicher - den Vorzug. Jedoch läßt sich in dieser Frage keine einheitliche Meinung feststellen. Die Republik von 1873 wurde jedenfalls bei ihrer Ausrufung vorsichtig-positiv eingeschätzt.
8
Bakunin: Die Reaktion in Deutschland, in: Beer: Michail Bakunin, 77.
9
Zit. nach Alvarez Junco: Ideologia, 455.
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stehende Staats- und Wirtschaftsform beseitigt und die herrschaftsfreie Gesellschaft herbeigeführt werden sollte. Ziele wie der Achtstundentag, Lohnverbesserungen, Rede- und Versammlungsfreiheit oder die Freilassung politischer Gefangener fanden somit ihre Rechtfertigung nicht in sich selbst, sondern nur als taktische Mittel zur Schwächung der gegnerischen und Stärkung der eigenen Position. 10 Die Strategien, die der spanische Anarchismus in seinen "heroischen Jahren" 11 entwickelte, lassen sich nur aus dem umfassenden Entstehungszusammenhang der Bewegung erklären. Im wesentlichen kann man für die Jahrzehnte vor Gründung der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft Confederación Nacional del Trabajo (CNT) im Jahr 1910 - für die Zeit danach gelten veränderte Bedingungen - drei Grundmuster des Handelns anarchistischer Gruppen unterscheiden: 1. Zuerst ging es der spanischen Regionalföderation der Internationale darum, in der Arbeiterbewegung Fuß zu fassen. Sie instrumentalisierte zu diesem Zweck bereits vorhandene Arbeiterzirkel, Bauernassoziationen, Kulturzentren usw. und betonte dabei stets die Legalität ihres Handelns. Zur wichtigsten Taktik entwickelte sich in den Jahren 1868-1874 und (nach ihrer Wiederzulassung durch die liberale Regierung Sagasta) 1881-1884 der (friedliche) Streik. 2. Als zu Beginn der Restaurationsära (1874) die Internationale verboten und in den Untergrund gedrängt wurde, führte dies - angesichts des Fehlschlags friedfertiger Taktiken - zur Radikalisierung eines Teils der anarchistischen Bewegung und in deren Gefolge zur Spaltung der FRE. In der nun beginnenden Auseinandersetzung zwischen den syndikalistischen Vertretern friedlicher Strategien und den extremistischen Verfechtern terroristischer Maßnahmen setzte sich vor allem im Agrarproletariat Andalusiens eine Form des Aktionismus durch, die als "Propaganda durch die Tat" den Terrorismus zu einer Erscheinungsform des Anarchismus werden ließ. In den 1880er Jahren drehte sich die (auch auf internationaler Ebene stattfindende) Diskussion zwischen Anarchokollektivisten und Anarchokommunisten in Spanien um die Zweckmäßigkeit von Gewaltanwendung. Die anarchokommunistische Entscheidung der landlosen Agrarproletarier des Südens hatte die Anwendung individueller Gewalt zur Folge. Individuelle Terrorakte
10 So wurde etwa auf dem Kongreß in Barcelona (1870) der "Widerstand" als Strategie der Arbeiterbewegung mit dem Argument gerechtfertigt, daß durch ihn die Arbeiterklasse sich "intellektuell und materiell" eine günstigere Kampfbasis gegen das Kapital ertrotze. Vgl. die Resolutionen des Kongresses bei A. Lorenzo: Proletariado I, 85-120. 11 In Anlehnung an Bookchin: Spanish Anarchists.
36 rissen auch im letzten Jahrzehnt des 19. und ersten des 20. Jahrhunderts nicht ab. 3. Seit Anarchokollektivisten und Anarchokommunisten im Anarchosyndikalismus einen historisch tragfähigen Kompromiß eingegangen waren, entwickelte sich der Generalstreik immer deutlicher zur Hauptstrategie der libertären Bewegung. Die für den Anarchosyndikalismus wesentlichen Postulate waren der Föderalismus, der nur-gewerkschaftliche Kampf und die ausschließliche Methode der im Generalstreik kulminierenden "direkten Aktion". 12 Dieser verfolgte - neben den ökonomischen - auch politische Ziele: Durch ihn sollte der Staat beseitigt und die Gesellschaft syndikalistisch organisiert werden. Der Generalstreik als wirksamste Form der "direkten Aktion" wurde als ein Mittel des Klassenkampfes verstanden, dessen Ergebnis die Neugestaltung der gesellschaftlichen Lebensformen sein würde. Dabei ging es nicht um die Eroberung der politischen Macht, sondern um deren Zerschlagung. Im folgenden geht es darum, die unterschiedlichen Formen des kollektiven Sozialprotests sowie gewaltsamer Individualaktionen in Korrelation zur gesellschaftlichen Lage der Anarchisten und der daraus resultierenden Handlungsmotive zu setzen. Dabei muß auch auf die Funktion der institutionellen Gegengewalt der herrschenden Gruppen und deren Auswirkung auf die anarchistischen Violenzformen eingegangen werden. Nachdem der anarchistische Flügel der Internationale in Spanien Fuß gefaßt hatte, leitete die FRE zahlreiche Aktivitäten ein, deren Endziel die vollständige Emanzipation der Arbeiterklasse war. Der Gründungskongreß der spanischen Regionalföderation in Barcelona (1870) verabschiedete eine Resolution, derzufolge der Streik als die erfolgversprechendste Strategie der "direkten Aktion" zur Durchsetzung von Arbeiterinteressen empfohlen wurde. Betrachtet man den legalistischen Kurs des damals von Katalanen majorisierten FRE-Führungsgremiums, so liegt die Vermutung nahe, daß die Durchführung eines Streiks nicht - wie offiziell proklamiert - deshalb von der Erfüllung zahlreicher Vorschriften abhängig gemacht wurde, weil ein möglichst durchschlagender Erfolg und die solidarische Unterstützung anderer Arbeitersektionen gewährleistet werden sollten, sondern weil der syndikalistisch orientierte Flügel Streiks ganz verhindern wollte. Bis zu ihrer Illegalisierung 1874 und erneut nach ihrer Wiederzulassung 1881 kämpfte die FRE auch gegen die vielen 'wilden' Streiks an, die besonders häufig im agrarischen Andalusien stattfanden. Trotz des Widerstandes des Comité Fédéral war jedoch in der ersten Phase der Internationale der Streik die am meisten 12 Vgl. die 'klassische' Darstellung der Methoden der "direkten Aktion" bei Pouget: Sabotage.
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angewandte Strategie der Arbeiterbewegung. Dabei drängte die Arbeiterbasis zu immer neuen Streikaktionen, führte unkoordinierte und schlecht vorbereitete Protestaktionen durch, die zumeist fehlschlugen, und gab damit den Behörden ausreichend Vorwand zur Verfolgung und Unterdrückung der spanischen Regionalföderation. Infolge ausbleibender Erfolge und zunehmender Spannungen verfiel ein Großteil der Arbeiter, vor allem in den Jahren der Illegalität der Internationale (1874-1881), entweder in die Apathie der Verzweiflung oder - weit häufiger - in die Radikalität gewaltsamer Maßnahmen. 1 3 Zwischen 1868 und 1874 verfolgte die organisierte Arbeiterbewegung Spaniens einen durchwegs legalen Kurs: Durch Assoziation, Propaganda und friedlichen Streik wollte sie ihre Ziele erreichen. Vereinzelt wurde sogar die Meinung vertreten, die soziale Revolution könne auf friedlichem Weg im Rahmen der bestehenden Rechts- und Staatsordnung durchgeführt werden. Erst die massive Repression der internationalistischen Bewegung durch die republikanische Regierung Castelar Ende 1873 und die gleichzeitige Einsicht in die Erfolglosigkeit der bisherigen Streik-Strategie veranlaßten die FRE, ihre bisherigen vornehmlich friedlichen Strategien zu revidieren und sich - eher unwillig - für Gewaltmaßnahmen auszusprechen. Das Ubermaß an repressiver Gewaltanwendung durch staatliche Stellen hatte in der Arbeiterschaft nicht Gefügigkeit, sondern in einer deutlich wahrnehmbaren Eskalationsdynamik Widerstand und Gegengewalt erzeugt. Aber selbst jetzt versuchte die Organisation, die Verhältnismäßigkeit der Mittel zu wahren: Angekündigt wurden lediglich "Repressalien" als Antwort auf besondere Übergriffe des Bürgertums; die Bewegung wollte sich auf reaktive Gewaltanwendung beschränken und ließ in ihren Proklamationen keinen Zweifel daran, daß sie ihre Aktionen nur als Gegengewalt zu gouvemementaler Verfolgung und dem institutionalisierten Terror des Bürgertums verstand. In dieser Phase war Gewalt weniger Strategie als vielmehr Reaktion und Gegenwehr. Als die Internationale 1881 wieder zugelassen wurde, fand diese erste Gewaltphase der Arbeiterbewegung sofort ihr Ende; sie hatte auch mehr in der Theorie bzw. aus Drohungen als aus aufsehenerregenden "Repressalien" oder Terrorakten bestanden. Nach 1881 bestimmte weiterhin die "legalistische" Gruppe einige Jahre lang den Kurs der Organisation, der jetzt allerdings deutlich reformistische Züge aufwies; nicht nur die anzuwendenden Mittel, sondern auch das angestrebte Ziel waren ihrer revolutionären Dynamik entkleidet und durch eine unterwürfige Anerkennung bestehender Verhältnisse ersetzt worden. Respektvoll wurden "Ihre Exzellenzen, die Herren Minister" und die "Herren Zivilgouverneure" gebeten, gegen die Ubergriffe der Vertreter der Staatsgewalt 13 Zahlenmaterial zu den Streikbewegungen jener Jahre bei Nettlau: Première International.
38 vorzugehen. Die Revista Social, das offizielle Sprachrohr der Föderation, wandte sich in aller Entschiedenheit gegen die Anwendung von Gewalt durch die Arbeiter; der Valencia-Kongreß von 1883 sprach sich expressis verbis für die Aufkündigung der Solidarität mit jenen Arbeitern aus, die eine Strategie der Gewalt verfochten. Es wäre gewiß verfehlt, dieses Selbstverständnis der Anarchisten als Ausdruck ihrer faktischen Ohnmacht in jenen Jahren oder als vorweggenommene Antwort auf befürchtete Illegalisierung zu begreifen. Für die spanischen Anarchisten war es vielmehr eine von ihren Anfängen an niemals in Frage gestellte Grundauffassung, daß die soziale Revolution nicht gegen den Willen der Mehrheit des Volkes erfolgen dürfte. Es war ein lebendiges Bewußtsein davon vorhanden, daß ein untrennbarer Zusammenhang bestand zwischen dem Ziel und den Mitteln, dieses Ziel zu erreichen. Ziel und Mittel mußten miteinander vereinbar bleiben; sonst würden die Mittel das Ziel zerstören und schließlich an die Stelle des Ziels treten. 1 4 Die ständigen Appelle zu Organisation und Propaganda und die deutliche Ablehnung von Gewaltmaßnahmen sind daher nicht Ausdruck ohnmächtiger Resignation gewesen, sondern bewußte Wiederholung eines anarchistischen Grundpostulats. Der Höhepunkt dieser legalistischen Taktik fiel mit der schärfsten Verfolgung zusammen, der sich die Anarchisten in jenen Jahrzehnten ausgesetzt sahen: Die Unterdrückung der organisierten Arbeiterbewegung nach den Prozessen der Mano Negra (1883) führte zur Krise und schließlich (1888) zur Auflösung der Federación de Trabajadores de la Región Española. Da die legalistische Taktik ergebnislos geblieben war und in einem vollständigen Fiasko geendet hatte, gewannen in den 1880er Jahren linksextreme Gruppen, die bereits in den Jahren der Illegalität gewaltsame Aktionen durchgeführt hatten und auch jetzt wieder für eine Radikalisierung der Kampfmethoden eintraten, relativ leicht an Boden innerhalb der Föderation. Schließlich setzte sich der "Illegalismus" auf der ganzen Linie durch und leitete eine neue Phase in der Geschichte der spanischen Arbeiterbewegung ein.
3. Der anarchistische Massenerfolg Versucht man, nach diesem knappen ereignisgeschichtlichen Uberblick, das ideologische Grundmuster des Handelns anarchistischer Gruppen zu analy14 Zur Ziel-Mittel-Identität in der anarchistischen Revolutionskonzeption und zur marxistischen Kritik daran vgl. Bernecker: Anarchismus, 2 7 - 4 4 .
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sieren, so muß die Frage nach den Motiven für die legal-syndikalistische Taktik der FTRE-Führung Kataloniens einerseits, für die zahlreichen Streiks und Aufstände der agrar-anarchistischen Gruppen Andalusiens andererseits zu der allgemeineren Frage nach den Gründen für die außergewöhnliche Durchsetzung des Anarchismus in Spanien erweitert werden. In der einschlägigen Literatur der letzten Jahrzehnte sind auf letztere Frage mehrere Teilantworten gegeben worden, die eine Annäherung an den komplexen Forschungsgegenstand 'spanischer Anarchismus' ermöglichen. Eine der geläufigsten Erklärungen führt die anarchistische Mobilisierung auf den Millenarismus der Bewegung zurück. Constancio Bernaldo de Quirós 1 5 hat als einer der ersten spanischen Anarchismus-Forscher diesen als säkularisierte Religion bezeichnet, die auf dem apokalyptischen Glauben an eine Gesellschaft der Gleichheit beruhe. Als 1929 Juan Díaz del Moral seine bis heute grundlegende Studie über die Bauernbewegungen in der Provinz Córdoba veröffentlichte 16 , konnte er sich auf die Theorien Bernaldo de Quirós' stützen. Die Periodizität anarchistischer Rebellionen und die heftigen Leidenschaften, die während der Aufstände zutage traten, haben bei Díaz del Moral zu einer soziopsychologischen Erklärung des spanischen Anarchismus geführt. Er unterstellte dem Anarchismus, wie auch anderen religiösen prämodernen Bewegungen, eine eher magische als rational-wissenschaftliche Vorstellung der Zeit und der historischen Entwicklung. Die in ungefähren Zehnjahresabständen periodisch sich wiederholenden Aufstände der Anarchisten (1873: kantonalistischer Aufstand; 1883: Erntestreik in der Provinz Cádiz; 1892: Rebellion von Jerez de la Frontera; 1902/03: westandalusischer Generalstreik der Faßbinder, Landund Textilarbeiter) schienen seine These zu bestätigen. Gerald Brenan hat in seiner Analyse der soziopolitischen Hintergründe des Spanischen Bürgerkrieges an die Ergebnisse von Bernaldo de Quirós und Díaz del Moral angeknüpft. 1 7 Die Radikalität des andalusischen Anarchismus entspreche dem spanischen Temperament, und spanischer Individualismus und Stolz seien der beste Nährboden für eine Doktrin gewesen, "die noch extremer als der Protestantismus jeden einzelnen für sein Tun verantwortlich macht" 18 . Der Anarchismus als dynamische Massenbewegung mit 15 Bernaldo de Quirós: Espartaquismo (1973). 16 Díaz del Moral: Historia. 17 Brenan: Geschichte Spaniens; zu Brenans Anarchismusinterpretation vgl. Berneri: Background. 18 So, in Fortführung des Ansatzes von Brenan, Joll: Anarchisten, 174; vgl. auch Matthews: Anarchism, 110-116; auch nationalsozialistische Interpreten wie Dominik Wölfel: So ist Spanien. Leipzig 1937, erklären die Neigung der Spanier zum Anarchismus mit deren "Nationalcharakter". Im Rahmen der völkerpsychologischen Ansätze vgl. auch die Inter-
40 sozialrevolutionärem Impetus sei in Spanien auf "eine emotionale Basis in einem traditionellen Lebensgefahr gestoßen, das er nur zu stimulieren brauchte. 19 Die beispiellose Vitalität des spanischen Anarchismus müsse auf seine Verwurzelung in der Mentalität des einfachen Volkes zurückgeführt werden; das Zusammentreffen eines leidenschaftlichen Individualismus mit einem nicht minder intensiven Gemeinschaftsbewußtsein sei zu dem sozialrevolutionären Idealismus verschmolzen, der die "Hispanität" des Anarchismus ausmache. Der völkerpsychologische Interpretationsansatz mit seiner romantisierenden Betrachtung und Mystifizierung der spanischen Seele hat im Gefolge von Gerald Brenan und später Franz Borkenau 20 Schule gemacht. Brenan führt den Massenerfolg der Anarchisten auf deren stark idealistischen, religiös-moralischen Charakter zurück; er erklärt den spanischen Anarchismus als eine "religiöse Häresie", die den sozialen Inhalt des Evangeliums ernst genommen und als "Ausdruck von Klassenbewußtsein" interpretiert habe. 21 Die durch den Rückgang des religiösen Einflusses auf die Arbeiter während des 19. Jahrhunderts entstandene Lücke sei durch den Anarchismus ausgefüllt worden; die neue Welt sollte ausschließlich auf moralischen Prinzipien basieren. Brenan weist in seiner Untersuchung darauf hin, daß der anarchistische Widerstand gegen die Normen der liberal-kapitalistischen Industriegesellschaft komplementär zu dem Bestreben gesehen werden muß, jene vorkapipretation von Heintz: Struktur, 101-118, der - im Anschluß an Américo Castros "La realidad histórica de España" - den Spanier aus kulturanthropologischer Sicht als nichtentfremdete Persönlichkeit interpretiert, in dessen Grundstruktur (als einer Konfiguration von "dauerhaften Verhaltensdispositionen") die Voraussetzungen für den spanischen Personalismus mit seinen "häufig ausgesprochen anarchistischen Zügen" enthalten sind. 19 von Borries: Einleitung, XI; vgl. auch ders.: Anarchismus, 339-350. 20 Für Borkenau: Reñidero, 229, sind die Anarchisten "im Arbeiterlager die genuinen Vertreter des spanischen Widerstandes gegen die Europäisierung"; damit reiht er die Anarchisten in die Tradition des Antikommerzialismus und Antikapitalismus ein, die in Spanien bis weit in das 20. Jahrhundert hinein fortgewirkt hat. Der Widerstand gegen die kapitalistische Entwicklung richtete sich gegen den materielllen Fortschritt, den europäische Industrieländer erreicht hatten; er stellte sich damit auch gegen das marxistische Schema des historischen Determinismus. Für die spanischen Anarchisten stellte die Bourgeoisie keine zeitweilige revolutionäre Kraft dar; in der kapitalistischen Entfaltung der Produktivkräfte sahen sie keine notwendige Phase wirtschaftlicher Entwicklung; Zentralisation und Akkumulation waren für sie keine unvermeidlichen Imperative der Industrialisierung, sondern Mittel zur Verstärkung und Perpetuierung des bekämpften Staatswesens. Die spanischen Anarchisten haben die Zweckrationalität der kapitalistischen Entwicklung so wenig internalisiert wie deren Warenfetischismus. 21 Brenan: Spanish Labyrinth, 188-197.
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talistisch-agrarischen Verhältnisse wiederherzustellen, die ihren historischen Ausdruck bis zur desamortización des 19. Jahrhunderts, lokal auch darüber hinaus, im kollektivistischen Kommunalismus gefunden haben. Die Anarchisten wandten sich - von der Grundeinheit des überschaubaren pueblo ausgehend - gegen die Macht für sie unbegreiflicher und unkontrollierbarer ökonomischer Kräfte sowie gegen die einschneidenden Rechtsveränderungen und technisch-industriellen Neuerungen des 19. Jahrhunderts, die für viele landlose Arbeiter und Handwerker Südspaniens eine Gefährdung ihrer Existenz bedeuteten. Auf Brenans Untersuchung aufbauend, hat Eric Hobsbawm 22 darauf hingewiesen, daß der südspanische Agrar- und Handwerkeranarchismus (als lokaler und endemischer spontan-revolutionärer Protest gegen Ausbeutung und Unterdrückung einerseits, gegen die Folgen der neueingeführten kapitalistischen Rechts- und Sozialverhältnisse andererseits) in seiner Frühphase eine "archaische Sozialbewegung" quasi ohne Organisation in Form kollektiven Widerstands gegen den Einbruch neuer, für die landlosen Massen ungünstigerer Lebensbedingungen darstellte. Die anarchistischen Revolten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren demnach der Versuch, den durch die Veräußerung des Kirchen- und Kommunallandes (desamortización) und deren Begleiterscheinungen - Aufhebung der Zünfte und Zunftordnungen, der Bruderschaften, Gilden und Hilfsorganisationen, der Sozial- und Heilfürsorge, der Getreidemagazine und Hospitäler, der Feld-, Flur- und Waldgemeinschaften - abhandengekommenen "Agrarkollektivismus" 23 wiederherzustellen. Außer dem Wegfall des Flurzwanges "sind mit dem Einbruch des Besitzindividualismus auch gemeinschaftlich-genossenschaftliche Einrichtungen und das Zusammenleben in der dörflichen Gemeinde regelnde Mechanismen und Ordnungen zerstört bzw. ausgehöhlt worden" 24 , wodurch im rebellierenden Agrarproletariat Andalusiens der von der spanischen Sektion der Internationale aufgegriffene Gedanke an reparto (Landaufteilung) um sich griff und zu chiliastisch-anarchistischen Bewegungen führte. In diesem Zusammenhang interpretiert Hobsbawm die "messianischen" Streiks, deren einziges Ziel die Schaffung eines sofortigen und grundsätzlichen Wandels war, als millenarische Massenbewegung (deren Vorteil in der spontanen Einmütigkeit des Handelns, deren Nachteil aber im Mangel an Organisation, Strategie, Taktik und Geduld bestand) und als bäuerlich-revolutionäre Haltung, die zwar Produkt moderner Bedingungen war, sich diesen aber nicht anpassen konnte.
2 2 H o b s b a w m : Sozialrebellen. 2 3 Zur agrarkollektivistischen Tradition in Spanien vgl. bes. Joaquín Costa: C o l e c t i v i s m o agrario en España. B u e n o s Aires 1944. 2 4 Hellwege: Tradition, 3 2 9 .
42 Da die Liberalisierung des Eigentumsrechts und die Durchsetzung kapitalistischer Rechtsverhältnisse nicht nur zur Verschärfung des Agrarproblems führten, sondern auch viele Handwerker weitgehend ihrer Existenzgrundlage beraubten - Andalusien machte im 19. Jahrhundert einen Prozeß der Entindustrialisierung durch, da es Konkurrenten aus dem Norden des Landes und aus dem Ausland nicht fernhalten konnte -, erscheint es einleuchtend, daß die lokalen Führer anarchistischer Revolten oft gerade Handwerker waren; sie trugen auch als obreros conscientes (bewußte Arbeiter) wesentlich zur Propagierung anarchistischer Ideen unter den analphabetischen Landarbeitern bei. Die sozialstrukturellen Merkmale der Teilnehmer an dem 1861 unter der Organisation des Tierarztes und Hufschmieds Ramón Pérez del Alamo stattfindenden Aufstand in Loja (Provinz Granada) deuten bereits auf die Sozialstruktur der späteren anarchistischen Bewegung voraus. Die Rebellion 25 wurde zwar hauptsächlich von analphabetischen Lohnarbeitern, in geringerem Umfang auch landwirtschaftlichen Facharbeitern {peritos agrícolas) getragen; die Führer des Aufstandes aber waren Vertreter der unteren Mittelschicht, die einen weit höheren politischen Bewußtseinsgrad als die Masse der um ihren physischen Lebensunterhalt kämpfenden Landarbeiter aufwiesen. Sowohl die Klassenzugehörigkeit und der politische Bewußtseinsstand der Führer als auch die verschiedenen Ziele 26 der am Aufstand Beteiligten lassen die Ambivalenz dessen erkennen, was bereits ein Jahrzehnt später als Handwerker- und Agraranarchismus ein Charakteristikum Andalusiens darstellte. Im Gegensatz zu den millenaristischen Deutungen der bisherigen Forschung (Constancio Bernaldo de Quirós, Díaz del Moral, Gerald Brenan, Eric Hobsbawm u.a.) setzt sich neuerdings ein Interpretationsansatz durch, der in den zahlreichen anarchistischen Streiks keine irrational-millenaristische Handlungsweise, sondern eine durchaus rationale Strategie der libertären Bewegung sieht. Dieser neue interpretatorische Ansatz wird vor allem von
25 Vgl. zu folgendem Pérez del Alamo: Apuntes. 26 Während es den Führern hauptsächlich um die Abschaffung der Monarchie und eine politische Demokratisierung ging, gab die Masse der durch die Desamortisation der unmittelbaren Gefahr der Proletarisierung ausgesetzten Handwerker und Landarbeiter dem Aufstand einen primär sozialen Inhalt; für sie war es selbstverständlich, daß die Rebellion eine Umwälzung der Eigentumsverhältnisse, den lange erwarteten reparto oder die Gütergemeinschaft zur Folge haben würde. Es war dabei hauptsächlich wohl an das von der Desamortisation betroffene Allmende-Land gedacht worden, da kein Protest gegen die Proklamation Pérez del Alamos bekannt geworden ist, in der er sich für die Respektierung des Privateigentums aussprach.
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Temma Kaplan vertreten 27 , die zwar auch von den Untersuchungen Hobsbawms, Brenans und des Sozialanthropologen Pitt-Rivers ausgeht, deren Forschungsinteresse sich jedoch auf die Frage konzentriert, unter welchen Bedingungen die anarchistische Ideologie und Strategie sich entwickelten und schließlich zu einer Volksbewegung wurden. Kaplan beschränkt ihre Studie auf die Weinbauprovinz Cädiz; sie weist nach, daß infolge exogener (vor allem wirtschaftlicher, handels- und steuerpolitischer) Hindernisse das auf Jerez- ('Sherry')Handel spezialisierte Kleinbürgertum und die von sozialem Abstieg bedrohten Handwerker und Facharbeiter der Provinz in den 1860er Jahren eine populistische Allianz mit dem Agrarproletariat eingingen und in den latifundistischen Getreideproduzenten, der bourbonischen Monarchie und dem zentralistischen Staatsapparat ihre gemeinsamen Gegner sahen. Der Anarchismus war keineswegs eine Bewegung von ausschließlich 'armen' Landarbeitern. Der drohende Verlust an Autonomie, die Mechanisierung der Fässerherstellung, der drastische Exportrückgang an guten Jerez-Weinen sowie der ungehinderte Zustrom aller Arten von Gütern trugen zum Niedergang der bis dahin unabhängigen und relativ wohlhabenden Handwerker bei. Die Situation der Weinbauern und kleinen Händler verschlechterte sich infolge der Steuerpolitik der Regierung, die einseitig die latifundistische Agrarbourgeoisie begünstigte und den Wein mit Luxussteuern und städtischen Sonderabgaben, den sog. consumos, belastete. Die breite Masse der Landarbeiter schließlich wurde durch diese Politik ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen, da einerseits infolge des Handelsrückgangs die Zahl an Arbeitsplätzen verringert werden mußte wodurch das endemische Problem der Arbeitslosigkeit noch vergrößert wurde -, andererseits die Spezial-Weinsteuern eine allgemeine Erhöhung der Lebenshaltungskosten nach sich zogen. Gerade zum Zeitpunkt der 'Kapitalisierung' der Agrarverhältnisse an der Umbruchstelle von feudaler zu bürgerlicher Gesellschaft drangen die anarchistischen Lehren in Spanien ein 2 8 und stellten eine komplexe Verbindung zwischen dem Bestreben nach mündiger (Berufs-)Autonomie und Selbstbestimmung in "freien Kommunen" mit den institutionellen Herausforderungen von Urbanisierung und Industrialisierung her. Die Anarchisten artiku27 Kaplan: Orígenes; auch Lida: Anarquismo, wendet sich gegen die These, daß die spanischen Anarchisten religiöse Millenaristen und daß Geheimbündler in der spanischen Gesellschaft isoliert gewesen seien. 28 Vgl. Hobsbawn: Sozialrebellen; Lösche: Probleme. Zu Lösches Schlußfolgerung: "Der andalusische Anarchismus war eine Bewegung der armen Leute, er zeigte die Interessen des Pueblo mit unheimlicher Genauigkeit an", ist einschränkend und modifizierend auf Kaplan: Orígenes und auf die Ergebnisse der sozialanthropologischen Forschung zu verweisen, die die Diskrepanzen zwischen anarchistischen und Pueblo-Interessen herausgearbeitet hat. Vgl. Pitt-Rivers: People, 200-223.
44 Herten ein tiefes Unbehagen der breiten Masse der Bevölkerung am sozialen Status quo und brauchten sich nicht - wie in vielen anderen Ländern - "gegen alle nationalen Traditionen" zu stellen. "In Spanien war der Anarchismus gerade ein Ausdruck föderalistischer und freiheitlicher Traditionen, die dem ganzen Volk gemein waren". 29 Zweifellos kamen die anarchistischen Theorien gesellschaftlicher Organisation, "based on the primacy of the local unit, which is also, in the Anarchist view, the natural unit" 30 , spanischem Lebensgefühl und Patria c/i/ca-Tradition entgegen. Die Idee des föderalistischen Staates wurde mit der der sozialen Revolution verknüpft. Die weitgehende Zerstörung genossenschaftlicher Traditionen durch den Einbruch kapitalistischer Wirtschaftsformen und zentralistischer modernstaatlicher Tendenzen in die historisch gewachsenen Lebensformen wenig entwickelter Landstriche in der Mitte des 19. Jahrhunderts führte zur Forderung nach Dezentralisierung und Selbstverwaltung. Zu dieser gleichsam bodenständigen Form des kommunalistischen Denkens in historischen Kategorien des autonomen pueblo kam der Anarchismus als "ideologischer Verstärker" hinzu, so daß auch im spanischen Anarchismus das Phänomen der "Schichtenverdickung" auftrat. 31 Die anarchistische Bewegung stellte die Antwort auf das Eindringen bürokratisierter und zentralisierter Verwaltungsformen in das pueblo dar, dessen sozialer Hintergrund die Bewegung beträchtlich beeinflußte. Der Widerstand gegen zentralisierte Fremdbestimmung und Aufhebung der kommunalen und beruflichen Autonomie im pweWo-Bereich hat die verschiedenen sozialen Schichten zu jener populistischen Allianz zwischen Arbeitern, Handwerkern und Kleinhändlern geführt, die die Eigenart des andalusischen Anarchismus ausmacht. Nicht nur die populistische Allianz entsprang rationalen Überlegungen der pneWo-Bewohner, sondern auch deren kollektive Maßnahmen. In Zeiten größter Not konnte die mächtige Waffe des Erntestreiks nicht angewandt werden; in solchen Hungerjahren wurden besonders häufig individuelle Gewalt- und Terrorakte (Diebstahl, Mord, Brandschatzung etc.) verübt. In guten Jahren jedoch, in denen der Bedarf an Erntearbeitem zunahm, hatten diese bedeutend bessere Chancen, ihre Interessen durch einen 'Generalstreik' durchzusetzen. Die Wahrnehmung dieser Chancen in Form organisierter Streiks stellte eine durchaus rationale Strategie der 'direkten Aktion' dar, durch die die Landarbeiter ihr Ziel einer Veränderung der sozialen Beziehungen deutlich manifestierten. Die periodischen Aufstände andalusischer Anarchisten scheinen vor allem zu Zeiten relativen Wohlergehens bzw. guter 29 Ruediger: anarcosindicalismo, 44. 30 Woodcock: Anarchism, 23. 31 Zu derselben Erscheinung im russischen Kommunismus vgl. Mühlmann: Chiliasmus, 395 ff.
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Ernten erfolgt zu sein, als die organisierten Arbeiter ihr Potential ausspielen konnten. Sicherlich lag vielen dieser Gewaltausbrüche eine gezielte Proteststrategie zugrunde, wenn auch andererseits dem intentionalen Moment kein Ausschließlichkeitsanspruch zukommt. 32 Der 'rationale' Erklärungsansatz für die andalusischen Landarbeiterstreiks als bewußte Strategien kollektiven Sozialprotests verallgemeinert weit weniger als die 'millenaristische' Interpretationsrichtung. Er kann die soziale Basis der jeweiligen Protestaktionen in die Analyse mit einbeziehen und deutet die Streiks als überlegte Reaktionen genau bestimmbarer sozialer Gruppen auf konkrete sozio-ökonomische Situationen. Allerdings dürfte auch dieser Ansatz nicht generalisierbar sein; seine Tragfähigkeit werden zukünftige Lokalund Regionalstudien erweisen müssen. Daß in kollektiven wie individuellen Protestaktionen andalusischer Anarchisten millenaristische Elemente enthalten blieben, hängt mit einer Struktur- und Strategieproblematik der libertären Bewegung zusammen, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zur Spaltung des Anarchismus in zwei sich ideologisch bekämpfende Lager führte: Gemeint ist die Auseinandersetzung zwischen Anarchokollektivisten und Anarchokommunisten.
4. Anarchokollektivismus versus Anarchokommunismus Seit dem Aufkommen der anarchistischen Bewegung in Spanien bestand parallel zur Legalismus-Strategie der FRE eine vor allem im andalusischen Proletariat verwurzelte Bereitschaft zur Gewaltanwendung. In den 1870er Jahren war es während des Verbots der Internationale in deren Reihen zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen der katalanischen Führungsgruppe, die legalistisch und syndikalistisch orientiert war, und den andalusischen Vertretern gekommen, die sich für "revolutionäre Aktionen" 33 aussprachen; diese Auseinandersetzungen gipfelten nach der Wiederzulassung der Internationale in einer Krise der Organisation, die sich institutionell im Ubergang von der Federación Regional Española zur Federación de Trabajadores de la Región Española (FTRE) niederschlug. Den Sieg trugen ganz klar die Vertreter des Legalismus davon; revolutionäre Aufstände wurden aus dem 'offiziellen' Strategie-Repertoire der Anarchisten gestrichen, wenn auch in
32
1833 z.B. wurde, nach mehreren Dürrejahren, in Jerez eine gute Getreideernte erwartet. Prompt traten die Landarbeiter A n f a n g Juni (also vor der Ernte) in den Streik und provozierten das massive Eingreifen der Regionalbehörden. Hierzu Kaplan: Orígenes, 2 5 7 .
3 3 Zahlreiche Beispiele hierzu bei Nettlau: Première International, 3 1 3 f f .
46 einigen Sektionen der organisierten Arbeiterschaft - vor allem in Westandalusien - die nie völlig erloschene Neigung zur Gewalt anhielt. Der legal-reformistische Kurs der FTRE-Führung nach 1881 wurde jedoch von den Behörden nicht in der erhofften Weise honoriert, was zweifellos damit zusammenhing, daß er sich in der eigenen Organisation, vor allem im Süden, nicht durchsetzen konnte. Bereits seit Mitte der 1870er Jahre agitierten nämlich sog. anarchistische 'Aktionsgruppen' als 'Kriegseinheiten' {unidades de guerra) gegen die Herrschaft des Bürgertums. 1873/74 hatten die einflußreichen andalusischen Anarchisten Farga Pellicer und Garcia Viñas anläßlich des Kongresses von Genf Michail Bakunin in der Schweiz aufgesucht und von diesem wahrscheinlich die Aufforderung zur Gewaltanwendung erhalten. Auch die Nachrichten über Gewaltmaßnahmen im Ausland sowie die Ergebnisse der Diskussionen auf dem Londoner Kongreß der 'Schwarzen Internationale' 1881 blieben in Spanien nicht wirkungslos. Schließlich hatten 'Links'-Abweichler, die mit dem offiziellen Appeasement-Kurs der FTRE-Führung nicht einverstanden waren, zu Beginn der 1880er Jahre eine eigene Oppositions-Organisation - Los Desheredados ('Die Enterbten') - gegründet, die terroristische Methoden als legitime Mittel im Kampf gegen Staat und Kapital betrachtete. 3 4 Die anhaltenden Gewaltakte oder -drohungen dieser Gruppierungen dienten nun der Regierung als willkommener Vorwand, um die gesamte Arbeiterbewegung - auch nach ihrer organisatorisch-institutionellen Wiederzulassung - auf das schärfste zu verfolgen. Zwischen terroristischen Untergrundgruppen und den legalen Organisationen der Arbeiterschaft - wie etwa der andalusischen Unión de Trabajadores del Campo (UTC) - wurde kein Unterschied gemacht. Einige Morde an der Jahreswende 1882/83 waren der Anlaß, um massiv gegen die Arbeiter vorzugehen. Bereits die Lektüre einer (legal vertriebenen) anarchistischen Zeitung reichte aus, um als 'Mitglied' einer terroristischen Bande verurteilt werden zu können. Jeder ungeklärte Todesfall, jeder Schaden irgendwelcher Art wurde automatisch der FTRE oder einer ihrer Teilorganisationen angelastet. Allein die reformistische Forderung der Arbeiterorganisation nach kollektiven Verträgen wurde von den Arbeitgebern und den staatlichen Behörden zumeist als revolutionärer Akt betrachtet und entsprechend geahndet.
3 4 Charakteristisch für die verschiedenen Richtungen des Anarchismus ist diese Form der Gewaltrechtfertigung allerdings nicht; insgesamt bleibt die anarchistische Lehre aktiver physischer Gewaltanwendung
gegenüber skeptisch, w a s auf ihren
anthropologischen
Optimismus, ihren Glauben an die natürliche Harmonie, ihre Kritik an der Violenz der bürgerlichen Gesellschaft zurückzuführen sein mag. A u s den anarchistischen Reihen selbst wird den Verteidigern der Gewalt die Bedeutung von Propaganda, friedlichen Mitteln und vor allem von Bildung und Erziehung entgegengehalten. V g l . hierzu Lida: Literatura, 3 6 0 - 3 8 1 .
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und Gewalt in der
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Der Hunger und die Arbeitslosigkeit des landlosen Proletariats, die blinde Wut über den institutionellen Terror lokaler Behörden, über die Ermordung angeblicher Rädelsführer und die Enttäuschung über die soziopolitische Entwicklung erzeugten innerhalb der spanischen Arbeiterschaft ein spannungsgeladenes Klima der Gewalt. Der anarchistische Terror wird nur in diesem gewalttätigen gesellschaftlichen Kontext verständlich, aus dem heraus er erwuchs. Er gehört auch zu den Grundmerkmalen eines der anarchistischen Rechtfertigungsmuster für Gewaltanwendung, das darauf hinweist, daß die bürgerliche Gesellschaft selbst auf Gewalt gründet. Alle in dieser Gesellschaft vorkommenden Gewaltformen hängen vom Grundprinzip der Autorität - die selbst eine Form von Gewalt ist - ab; die gesellschaftliche Organisation des bürgerlichen Staates erzeugt Klassen- und Rassenhaß, Armut, Ungerechtigkeit, Despotie und folglich auch Violenz. Aus diesen Gründen wird die Organisation der bürgerlichen Gesellschaft als "Kriegszustand" interpretiert, und dieser gewalttätige Zustand rechtfertigt die Anwendung von Gewalt, die - da unter Kriegsverhältnissen angewandt lediglich Verteidigungszwecken diene. Die herrschenden Gewaltverhältnisse erzwingen somit die Anwendung von Gegengewalt. Die anhaltenden Repressionsmaßnahmen gegenüber der FTRE sowie der Fehlschlag der Streikstrategie führten ab 1883 zur Radikalisierung der Internationale, zur Einflußzunahme der extremistischen Gruppierungen sowie zu den ersten Erscheinungen dessen, was später als die Phase terroristischer Attentate bezeichnet wurde. Die internationalistischen Presseorgane - Revista Social, El Eco de Ravachol, El Grito del Pueblo, Acracia, La Cuestión Social u.v.a. - forderten immer häufiger zu Gewaltmaßnahmen auf und richteten z.T. wie etwa La Revolución Social - eigene Sparten für die "Propaganda durch die Tat" ein. Unter dieser verstanden die Anarchisten damals 3 5 "mit Schrift, Wort und Tat gegen das Eigentum, die Regierung und die Religion einzutreten; den Geist der Rebellion in den proletarischen Massen zu erwecken; [...] alle Gelegenheiten, alle wirtschaftlichen und politischen Ereignisse auszunutzen, um das Volk dazu zu bringen, gegen das Eigentum vorzugehen und sich dessen zu bemächtigen, die Behörden zu beleidigen und zu verachten und das Gesetz zu brechen [...]; alle dazu aufzustacheln, sich von den Bürgerlichen das zu nehmen, was sie nötig haben, und all das in die Tat umzusetzen, was ihnen das Gefühl für die eigenen Rechte, für Gerechtigkeit und Solidarität den anderen gegenüber eingibt." Neben physischer Gewaltanwendung wurden unter "Propaganda durch die Tat" auch alle Formen des zivilen Ungehorsams, militärische Desertion, 35 La Revolución Social Nr. 6, zit. nach Alvarez Junco: Ideología, 494.
48 Mietzahlungsverweigerung, Überfälle und Diebstähle etc. verstanden. Die Diskussion über die angemessene Strategie der Arbeiterbewegung wurde zu Beginn der 1880er Jahre von zwei weiteren Problemkomplexen überlagert und verschärft: zum einen die Auseinandersetzung zwischen Anarchokollektivisten und Anarchokommunisten, zum anderen das Verhältnis der Arbeiterföderation zur Geheimgesellschaft Mano Negra. Die bereits auf dem Jurakongreß von La Chaux-de-Fonds (1880) entbrannte Diskussion zwischen Bakuninschen Anarchokollektivisten und Kropotkinschen Anarchokommunisten fand ihre spanische Fortsetzung auf dem zweiten Nationalkongreß der FTRE in Sevilla (1882) und ließ eine deutliche Spaltung der libertären Bewegung in einen eher reformistisch-syndikalistischen und einen eher kommunalistisch-terroristischen Flügel erkennen. Die FTRE-Führung, die ihren Sitz in Barcelona hatte und sich mehrheitlich aus nordspanischen Delegierten zusammensetzte, bestand für die gesamtstaatliche Arbeiterorganisation auf einem kollektivistischen Kurs, dessen Ziel das gemeinsame Eigentum an den Produktions-, Kommunikations- und Transportmitteln sowie die syndikalistische Kontrolle über den selbsterwirtschafteten Arbeitsertrag war. Diese Vorstellung, daß das Verfügungsrecht über den erwirtschafteten Reichtum nicht der Gesamtgesellschaft, sondern nur den jeweils zu Syndikaten zusammengeschlossenen Produzenten zustand, konnte die vor allem im industrialisierten Katalonien beheimateten Fabrikarbeiter, die zu Syndikaten und Berufsvereinen zusammengeschlossenen Facharbeiter sowie die mittelständischen Bauern der Nordregionen ansprechen; sie stieß jedoch auf den erbitterten Widerstand der zahlreichen andalusischen Saisonarbeiter, der vielen Arbeitslosen und der nur zu Erntezeiten eingesetzten Frauen, die sich unter Rückgriff auf kommunalistische Traditionen am pueblo als der natürlichen Einheit ihrer gesamten Existenz orientierten. Während die Kollektivisten den Syndikalismus, die Massenbewegung, den Generalstreik und einen gewissen Grad an Zentralisierung vertraten, um einen gesellschaftlichen Zustand zu erreichen, in dem nur die Produktionsmittel kollektiviert und jeder Arbeiter entsprechend seinen Leistungen entlohnt werden sollte, lehnten die Kommunisten jegliche Organisation ab, priesen die Form der autonomen Gruppe, der individuellen revolutionären Tat und des Terrorismus und strebten eine Gesellschaftsform an, in der es keinen Privatbesitz an Konsumgütern mehr gäbe, jeder nach seinen Fähigkeiten zu arbeiten hätte und entsprechend seinen Bedürfnissen entlohnt werden sollte. Die Auseinandersetzung zwischen Kollektivisten und Kommunisten war im Grunde ein Streit zwischen katalanischen und andalusischen Anarchisten. Allerdings ist hier eine Präzisierung erforderlich, da die ideologischen Fronten auch mitten durch die Reihen der andalusischen Anarchisten liefen. Für die Provinz Cádiz hat Temma Kaplan nachgewiesen,
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daß die wirtschaftliche Depression der 1860er Jahre Handwerker, Weinbauern, Kleinbesitzer und (Fach-)Arbeiter zwang, sich organisatorisch zusammenzuschließen. Die von sozialer Deklassierung Bedrohten griffen auf alte Assoziationsmodelle zurück und gründeten Kooperativen, Schutzgemeinschaften und Syndikate. Um das Jahr 1870 gab es allein in Jerez ca. 50 verschiedene Gesellschaften dieser Art, deren Protest- und Streikaktionen koordiniert und solidarisch verliefen. Diese uniones oder secciones de oficio bildeten die Grundstruktur des andalusischen Anarchismus. Dabei versuchten die Anarchisten, in diesen Organen Kleinproduzenten mit Lohnabhängigen, Bauern mit Agrarproletariern, Facharbeiter mit Hilfsarbeitern in einer populistischen Allianz zusammenzufassen. In der 1872 gegründeten Union de Trabajadores del Campo etwa waren - entgegen ihrer Bezeichnung neben landlosen Tagelöhnern und selbständigen Kleinbauern auch Bäcker, Faßbinder und Fuhrleute zusammengeschlossen. Hier gelang es den Anarchisten, ihre Bewegung mit dem militanten Syndikalismus - auch wenn dieser Ausdruck von den Zeitgenossen noch nicht verwendet wurde - und der traditionellen Arbeiterkultur zu verbinden; auf diese Weise konnte die Bewegung nicht nur die langen Perioden der Illegalität überstehen, sondern außerdem einen starken numerischen Zustrom erfahren. Diese uniones erstrebten nicht so sehr wirtschaftliche Reformen zur Besserstellung der Arbeiterklasse als vielmehr die Zerstörung des Kapitalismus und die Vernichtung der Bourgeoisie; ihre Strategie bestand nicht in reformistischen Streiks, sondern in der organisatorischen und agitatorisch-propagandistischen Vorbereitung des endgültigen Umsturzes, der sozialen Revolution. In den Reihen andalusischer Anarchisten kam es nun auch zwischen diesen in uniones syndikalistisch organisierten Arbeitern und den sich zu Geheimzellen zusammenschließenden Agrarproletariern zu erheblichen Spannungen. Erstere favorisierten deutlich die anarchokollektivistische Linie, während letztere, die am Rande des Existenzminimums dahinvegetierten, sich aus verständlichen Gründen nicht an einem bestimmten Berufszweig, sondern an der Gesamtkommune orientierten. Als die Anarchokommunisten auf dem Sevilla-Kongreß ihre Linie nicht durchsetzen konnten, spaltete sich eine Gruppe ab, die sich für die Autonomie der Kommune und die Sozialisierung von Produktion und Konsum einsetzte. Die ideologischen Differenzen zwischen Kollektivisten und Kommunisten schlugen sich unmittelbar auf die Strategie der Bewegung nieder. Während die Kollektivisten jegliche Form von physischer Violenz ablehnten, da sie repressive Maßnahmen der Regierung und ein erneutes Verbot der Arbeitervereinigungen befürchteten, sprachen sich die kommunistischen Verteidiger des Terrorismus für Gewaltmaßnahmen gegen die großen Landeigentümer und andere Vertreter des Ausbeutungssystems aus. Auf dem Kongreß von Sevilla 1882 wurde in aller Deutlichkeit darauf hingewiesen, daß es in
50 Andalusien 30.000 Arbeitslose gab, die nichts außer ihrer Armut zu verlieren hätten; 14.000 davon seien Anarchisten. Die radikale Gruppe, die sich von der FTRE-Dachorganisation abspaltete, hielt mehrere "Kongresse der Enterbten" ab und schloß sich möglicherweise mit bereits bestehenden terroristischen Geheimgesellschaften zusammen. Während somit die von den syndikalistisch organisierten Arbeitern Kataloniens bewirkte Abwendung von der terroristischen, auf Gewaltaktionen beruhenden Methode zur 'offiziellen' FTRE-Strategie wurde, widersetzten sich die andalusischen Befürworter des Anarchokommunismus dem Legalismus-Kurs der Organisation und schürten durch Aktionen terroristischer Landgruppen die Glut des agrarischen Anarchismus. In den folgenden Jahren trennte sich der Anarchismus des Südens weitgehend von der Arbeiterbewegung, verkümmerte zu Sektierertum und verlor sich im Aktivismus von Minderheiten. Gegenüber 'instrumentellen' Rechtfertigungsmustern der Gewalt, die bis zu einem gewissen Grade aus der gesellschaftlichen Lage der Anarchisten erklärt werden können, erscheint die nun einsetzende Form des individuellen Terrors weitgehend losgelöst von der soziopolitischen Situation der Akteure. Ein irrationaler Kult der Gewalt läßt diese nicht als Mittel zur Erreichung eines moralisch vertretbaren Ziels erscheinen, sondern als Aktionsform, deren Wert in ihr selbst liegt. Violenz hört auf, eine rationale Strategie zu sein, und degeneriert zu Aktionismus. Neben Andalusien war es vor allem Barcelona, wo in den beiden Jahrzehnten, die auf die kollektivistisch-kommunistische Auseinandersetzung folgten, der individuelle Tenor um sich griff. Hier wurde der anarchistische Tenorismus jener Jahre zur Praxis einzelner Révoltés in einer nichtrevolutionären Situation und kettete im Bewußtsein der Bevölkerung - bis heute - die Begriffe Terrorismus und Anarchismus aneinander. 36 Den Auftakt zu dieser gewalttätigen Phase anarchistischer Attentate und polizeilicher Repressionen bildeten der Landarbeiteraufstand von Jerez ( 1892) und die darauf folgenden außergewöhnlich harten Repressionsmaßnahmen der Regierung; als Rache für die Hinrichtungen von Jerez erfolgte 1893 das Attentat von Paulino Pallas auf General Martinez Campos; um Pallas' Hinrichtung zu rächen, warf Santiago Salvador zwei Bomben in das vollbesetzte Li'ceo-Theater von Barcelona. Als Reaktion auf diese Attentate wurden 1894 und 1896 zwei "Gesetze zur Unterdrückung des Terrorismus" verabschiedet und ein neues Polizeikorps, die berüchtigte brigada politico-social, geschaffen. 1896 warf ein Unbekannter in Barcelona eine Bombe auf die Fronleichnamsprozession. Die rund 400 festgenommenen Anarchisten wurden im Festungsgefängnis 36 Zu dieser Problematik allg. vgl. Lösche: Terrorismus, 106-116.
Anarchismus und Gewalt in der
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von Montjuich grausam gefoltert, was in Spanien selbst und vor allem im Ausland heftige Proteste auslöste. Die vorerst letzte im Zusammenhang mit dem Montjuich-Prozeß stehende Handlung war 1897 die Ermordung des Regierungschefs Antonio Cánovas del Castillo durch den aufgebrachten italienischen Anarchisten Michele Angiolillo. Dieser ersten Phase massierter terroristischer Gewaltaktionen (1893-1897) folgte wenige Jahre später eine zweite Phase (1904-1906) nicht minder spektakulärer individueller Violenz: das Attentat von Joaquín Miguel Artal auf Regierungschef Antonio Maura (1904), die von anonymen Terroristen 1905 in Barcelona auf den Ramblas de las Flores gezündeten Bomben und der Attentatsversuch von Mateo Morral auf König Alphons XIII. am Tage von dessen Hochzeit. Die Intentionalität dieser Erscheinungsformen vornehmlich kommunikativer Gewalt läßt sich nur schwer festlegen. Sie mögen als Warnsignal oder Appell, in einem eher instrumentellen Sinne auch als exemplarische Bestrafung repräsentativer Vertreter (König, Regierungschef etc.) oder Erscheinungsformen (Theater, Kirche etc.) des Systems angelegt gewesen sein. In der Regel sollte wohl mittels Anwendung physischen Zwangs durch Vertreter sozial unterprivilegierter Schichten auf deren gesellschaftliche Benachteiligung hingewiesen werden. Aus der Sicht dieser Anarchisten war die zeitgenössische Gesellschaft völlig ungerecht strukturiert; durch seine Protestaktionen wollte der Anarchist auf den herrschenden Unrechtszustand hinweisen. Die damaligen anarchistischen Texte zur Gewaltproblematik beginnen daher auch häufig mit einer akkusatorischen Deskription des sozialen Status quo, den es zu verändern gelte. Dabei waren sich die Anarchisten völlig darüber im klaren, daß sie durch Eliminierung einiger Vertreter des von ihnen bekämpften Systems dieses selbst in keiner Weise ändern würden. Das Ziel ihrer terroristischen Anschläge bestand vielmehr darin, die Gesellschaft wachzurütteln, die allgemeine Aufmerksamkeit auf die soziale Ungerechtigkeit zu lenken, der "Gesellschaft des Banditentums" einen schweren Schlag zu versetzen. Sicherlich stand jedoch die Arbeiterbewegung Barcelonas nicht in toto hinter diesen Attentaten. In den Jahren um die Jahrhundertwende "the anarchists concerned themselves primarily with the working-class struggle and the creation of unions, rather than with the throwing of bombs". 37 Joaquín Romero Maura hat die sozialpsychologische Situation der Bombenwerfer 37 Romero Maura: TerTorism, 147. Allerdings nahmen ab der Jahrhundertwende, nach dem Fehlschlag des katalanischen Generalstreiks von 1902 und infolge der Wirtschaftskrise die Aufrufe zur Gewalt und zur "Propaganda durch die Tat" in den anarchistischen Organen wieder zu.
52 charakterisiert 3 8 : " T h e situation in which the Barcelona anarchists found themselves at this time was almost bound to generate the kind o f lunatic fringe terrorism we have seen. Without the support o f the workers, the movement was reduced to a nucleus o f militant veterans (like Herreros, Basons, Castellote, Lorenzo, Prat, Ferrer) and a pleiad o f young unknowns, many of them without professions, pedantic, jacobinical, enamoured o f intolerance, men who preferred Nietzsche to Tolstoy [...]". Der K a m p f zwischen kollektivistischem Anarchismus und aufständischem Anarchokommunismus endete erst Anfang des 2 0 . Jahrhunderts in einem Kompromiß, der den Bakuninismus als Grundlage des Klassenkampfes und der Arbeiterorganisation und den "freiheitlichen Kommunismus" als Endziel im revolutionären Syndikalismus vereinigte, dessen Prinzipien eine willkommene Lösung der Diskrepanz zwischen der Praxis des revolutionär-anarchistischen Flügels der spanischen Arbeiterbewegung und der Notwendigkeit, sich ein Organ für kollektive Aktionen zu schaffen, darstellten. In gewisser Weise könnte man - unter Anwendung der Typologie von Charles Tilly bei den Anarchokommunisten von einer eher "primitiv "-kommunalen, bei den Anarchokollektivisten von einer "modern'-verbandsmäßigen Form kollektiver Gewalt sprechen und im Wechsel der Organisationsform der Gewalt das Kriterium ihres geschichtlichen Wandels e r b l i c k e n . 3 9 Oder anders ausgedrückt: An der Diskussion zwischen Anarchokollektivisten und Anarchokommunisten läßt sich deutlich die Interdependenz von veränderter Produktionsweise, Qualifizierungsprozessen der Arbeiterschaft und ihrem differenzierten Organisations- und Strategieverhalten aufzeigen: Während die (anarchokollektivistischen) Industriearbeiter und qualifizierten Agrararbeiter sich bereits syndikalistisch organisiert hatten, daher kollektive Pressionen in Form von Streiks ausüben konnten und eine insgesamt rationale Kampfstrategie verfolgten, verfügten die (anarchokommunistischen) Landarbeiter über keine solide Organisationsstruktur und waren in ihrer subjektiven Uberzeugung voneinander isolierte Einzelkämpfer, deren einzige W a f f e - da Kollektivmaßnahmen nicht in Frage kamen - individuelle Terrorakte waren. Die zur Analyse der lokalen Agraraufstände Andalusiens in der Literatur häufig verwendete Bezeichnung "irrationale Gewalt" erscheint problematisch, insofern unter "irrationaler" Gewalt die Entladung von Aggressionen ohne erkennbaren Zweck - im Gegensatz zur "rationalen" Gewaltanwendung als Mittel zur Erreichung bestimmter Ziele - verstanden wird. Hier ließe sich eher mit dem B e g r i f f der "kommunikativen" Gewalt operieren, die vor allem 38 Romero Maura: Terrorism, 152. 3 9 Tilly: Violence; vgl. hierzu auch Waldmann: Strategien, 14-18.
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einen reformbedürftigen Sachverhalt ins öffentliche Bewußtsein rücken will und zugleich eine Appell- und Drohstrategie darstellt. Denn trotz der Spontaneität und Emotionalität aufrührerischer Gewalthandlungen andalusischer Anarchisten war deren Strategie bis zu einem gewissen Grade auch rational und vor allem selektiv. Andeutungsweise rational insofern, als sie zumindest eine ungefähre Vorstellung des von ihnen angestrebten herrschaftsfreien Endzustandes hatten; selektiv insofern, als sie vor allem - allerdings nicht ausschließlich - Personen und Objekte angriffen, die für sie in besonderem Maße das bestehende System der Ausbeutung und Repression symbolisierten. 40
5. Die " Schwarze Hand" Als die internen FTRE-Auseinandersetzungen zwischen Anarchokollektivisten und Anarchokommunisten noch in vollem Gange waren und die spanische Internationale sich vollends in zwei sich bekämpfende Blöcke zu spalten schien, wurden die Einheit und das Selbstverständnis der Organisation durch die "Mano-Negra-Prozesse" erneut schwer belastet. Die Mano Negra ('Schwarze Hand') war eine anarchistische Geheimorganisation, deren Wirkungsbereich vor allem die Provinzen Cádiz und Sevilla waren. Wahrscheinlich ist sie in den Jahren der Illegalität nach 1874 entstanden; sie stand wohl auch zumindest hinter einem Teil der täglichen Gewaltmaßnahmen im Süden, die sich gegen Ende der 1870er Jahre in atemberaubender Weise häuften. Brandstiftungen, Erntezerstörungen, Landbesetzungen, Streiks, Uberfälle und Morde waren an der Tagesordnung; ein Ende des Gewaltklimas war nicht abzusehen. Die Situation der Landarbeiter wurde von Tag zu Tag unerträglicher. Mißernten erhöhten die Arbeitslosigkeit und zwangen viele Tagelöhner zur Auswanderung; Brotpreiserhöhungen verhinderten die Versorgung der Bevölkerung mit Grundnahrungsmitteln und führten zu zahlreichen Fällen von Hungertod; spontane Landbesetzungen hatten massive Repressionsmaßnahmen der Polizei zur Folge und steigerten den fatalen Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt; Gefängnishaft und Hinrichtungen willkürlich gefangengenommener Arbeiter verschärften erneut die Spannung im Agrarproletariat und provozierten Vergeltungsmaßnahmen. Selbst die Comisión Federal der 'Spanischen Regionalföderation' rief die Arbeiter zur offenen Gewaltanwendung auf; es sei Pflicht eines jeden Revolutionärs, sich gegen das Unrecht zu erheben und für die soziale Revolution zu kämpfen. Die illegal zusammentretenden Conferencias Comarcales
4 0 Waldmann: Strategien, 43.
54 sprachen sich 1880 einstimmig für bewaffnete Kämpfe und Repressalien als Mittel der Auseinandersetzung mit Staat und Kapital aus. 4 1 1883 - zu diesem Zeitpunkt erreichte die Versorgungskrise ihren Höhepunkt - wurde die Öffentlichkeit durch eine Reihe von Verbrechen aufgeschreckt, die der ländlichen Geheimorganisation Mano Negra angelastet wurden. Die Behörden warfen dieser "geheimen Vereinigung von Entführern, Mördern und Brandstiftern" vor, sie wolle die Regierung stürzen, den Staat zerstören und die landbesitzende Aristokratie Andalusiens eliminieren. Die Verfolgung einzelner Mörder diente der Regierung erneut - wie schon so oft - als Vorwand, um einen Vernichtungsfeldzug gegen die Internationale in Andalusien zu starten. Der Mano Negra wurde unterstellt, sie habe knapp 50.000 Mitglieder; zwischen Februar und März 1883 füllten sich die Gefängnisse mit Tausenden verhafteter Arbeiter. Für die Behörden stand es fest, daß die Mano Negra der Internationale angehörte. Diese jedoch beeilte sich, sofort jegliche Verbindung zwischen Mano Negra und ihrer spanischen Sektion zu leugnen; sie behauptete sogar, die Mano Negra sei eine Erfindung der Regierung, um die Arbeiterbewegung insgesamt unterdrücken zu können. 4 2 Die starr abweisende Haltung der FTRE erklärt sich zum einen aus dem Bestreben, die (legal operierende) Internationale vor Repressalien und möglicherweise einem erneuten Verbot zu schützen, spiegelt andererseits eine tiefe Divergenz zwischen den Agrarinteressen des Südens und den Interessen der Industriearbeiter in den städtischen Zonen wider. Indem die Internationale sich mit Nachdruck von den "Dieben, Entführern und Mördern" der Mano Negra distanzierte, trug sie zu deren Niederlage und Untergang bei. 4 3
41
Bereits
1872
hatte
die
Regionalföderation
für den
Fall
ihrer
Illegalisierung
mit
"Bürgerkrieg, Klassenkrieg, Krieg z w i s c h e n Armen und Reichen" gedroht. Vgl. Lida: Anarquismo, 255; s o w i e dies.: M a n o Negra, 46. 42 Diese Behauptung wurde auch jahrzehntelang in der Forschung aufgestellt, s o zuletzt noch von Waggoner: Black Hand, 1 6 1 - 1 9 1 . N a c h dem Fund der
Mano-Negra-Staluten
besteht heute kein Zweifel mehr daran, daß es die Geheimorganisation tatsächlich g e g e ben hat, wenn auch ihre Bedeutung von den Behörden sicherlich bewußt übertrieben worden ist. 43 Welcher Art die Beziehungen z w i s c h e n Mano
Negra
und F T R E waren, ist nicht genau
festzulegen. Lida, die beste Kennerin der Materie, weist darauf hin, daß zwischen d e m Programm und den Statuten der Mano
Negra
einerseits und d e m Vokabular und der
revolutionären Zielsetzung der Internationale andererseits eine deutliche Affinität bestand. Die Statuten der Mano Negra
v e r w e i s e n selbst auf diesen Zusammenhang: "Nachdem die
Internationale Arbeiter-Assoziation
von den bürgerlichen Regierungen außerhalb der
Legalität gestellt und damit daran gehindert worden ist, die soziale Frage - die gelöst werden muß - auf friedlichem W e g e anzugehen, mußte sie zu einer revolutionären Geheimorganisation werden, um die g e w a l t s a m e soziale Revolution durchzuführen." Lida: M a n o Negra, 255.
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Restaurationsära
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Die Terrormaßnahmen der Mano Negra verstanden sich - dies belegen zahlreiche libertäre Quellen - in erheblichem Umfang als Repliken auf 'strukturelle' Gewalt bzw. als Reaktionen auf Repressionsmaßnahmen des Staates. Dabei fallen unter den Begriff der strukturellen Gewalt alle menschenunwürdigen Lebens- und Arbeitsverhältnisse. 44 Die Reaktion auf repressive Maßnahmen der Behörden läßt erkennen, daß dem Staat das Monopol auf Gewaltanwendung abgesprochen wurde. Es steht fest, daß die staatlichen Sicherheitsorgane und die wirtschaftlich dominierende Schicht durch ihr Verhalten in großem Umfang zum Ausbruch und zur Eskalation der gewaltsamen Ausschreitungen beigetragen haben. Die Anwendung von Gewalt ist daher als interaktiver Vorgang zwischen Machtträgern und Machtunterworfenen zu deuten. Bezeichnenderweise richteten sich die meisten - allerdings nicht alle - Terrormaßnahmen gegen die Vertreter des politischen Systems, nicht sosehr gegen die kapitalistischen Inhaber wirtschaftlicher Machtpositionen (was bei dem proklamierten Endziel der sozialen Revolution und der wirtschaftlichen Emanzipation der Arbeiterklasse hätte vermutet werden können); die Objekte anarchistischen Terrors verstärken somit die Interpretation, daß es sich beim anarchistischen Terror um revolutionäre Gewaltanwendung handelte, die bewußt der institutionellen Violenz entgegengesetzt wurde. Andererseits ging die gesellschaftlich und politisch führende Schicht in ihrer Auseinandersetzung mit dem Terrorismus nicht nur nicht auf dessen Motive und die gesellschaftliche Lage der Gewalttäter ein, aus der diese Motive resultierten, sondern sie setzte vielmehr von Anfang an Anarchismus und Terrorismus gleich, um auf diese Weise eine kraftvolle soziale Bewegung, die ihre Klassenherrschaft bedrohte, zu diskreditieren und ins kriminelle Abseits zu rücken. Anarchisten wurden nicht als Vertreter einer soziopolitischen Bewegung mit dem Ziel gesellschaftlicher Totalveränderung dargestellt, sondern als geistig Gestörte oder Kriminelle. Die in den 1870er Jahren entstandenen geheimen Untergrundgruppen des Südens gehörten zwar formal der spanischen Sektion der Internationale an, wandten aber von Anfang an andere Methoden an als die Comisión Federal in Barcelona. Die radikale Haltung der südlichen Sektionen, die im (individuellen oder kollektiven) Terrorismus die einzig mögliche Waffe im Kampf gegen die wirtschaftliche Macht des Kapitals und die politische Macht des Staates sahen - die für sie in der Person des lokalen cacique verkörpert wurde -, mußte unweigerlich mit den legalistischen Organisationsprinzipien der syndikalistisch orientierten uniones und Industriearbeiter zusammenstoßen. Der Anarchismus wurde mit seiner Betonung der Individualität und Autonomie des Arbeiters sehr schnell die geistige Heimat 4 4 Der Begriff der "strukturellen Gewalt" geht zurück auf Galtung: Gewalt.
56 verschiedener sozialer Gruppen; es gelang ihm jedoch nicht, die als Folge ungleichmäßiger Entwicklung zwischen Industriezentren und Agrarregionen auftretenden verschiedenartigen Interessen des Industrie- und Landproletariats in einer gemeinsamen Strategie überzeugend zu bündeln. Der im Laufe der Herausbildung eines modernen Industriesektors immer deutlicher hervortretende Dualismus zwischen Stadt und Land hatte auf Strategie und Organisation der Arbeiterbewegung verheerende Auswirkungen. Die faktische Spaltung der anarchistischen Arbeiterschaft auf organisatorischem (geheime Zellen - öffentliche Arbeitervereine) und strategischem (Terrorismus - Legalismus) Gebiet, das Scheitern der reformistischen FTRETaktik und die massive Repression durch die Behörden führten in den 1880er Jahren zum Niedergang und schließlich (1888) zur formellen Auflösung der Internationale. Die ideologische Krise der Internationale spiegelte die durch ungleichmäßige Entwicklung differenzierten Interessen ihrer Mitglieder wider. Die Auflösung der FTRE 1888 machte deutlich, daß der legal-syndikalistische Kurs der Anarchokollektivisten nicht das gesamte Interessenspektrum der Bewegung umfaßte. Die terroristischen Geheimorganisationen des agrarischen Südens reihten sich in die lange Tradition von Revolten, revolutionären Verschwörungen, bewaffneten Aufständen oder sporadischen Umstürzen ein, wie sie für das Spanien des gesamten 19. Jahrhunderts charakteristisch sind. Die in diesen spontanen Ausbrüchen zum Ausdruck kommende Hoffnung auf radikalen Wandel konnten die vornehmlich politisch-reformistisch orientierten und insgesamt erfolglosen Republikaner nicht auffangen; so wandten sich die bäuerlichen Massen dem Internationalismus zu. Die 1880er Jahre markieren Höhepunkt, Krise und Peripetie dieses Zustroms. Jetzt mußte der Anarchismus durch Verlagerung seines Aktionsschwerpunktes zeigen, daß er die Interessen der Landarbeiter mit denen der städtischen Industriearbeiter koordinieren und in einer gemeinsamen Strategie, deren übereinstimmendes Ziel die soziale Revolution war, integrieren konnte.
Die Spaltung der
Arbeiterbewegung
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III. Die Spaltung der Arbeiterbewegung 1. Die Anfänge des organisierten Sozialismus Zu Beginn der 1870er Jahre war es bereits zur Spaltung der eben erst entstehenden organisierten Arbeiterbewegung Spaniens in einen marxistischen ("autoritären") und einen anarchistischen ("antiautoritären") Flügel gekommen. 1 Die auf dem zweiten Nationalkongreß der spanischen Sektion der Internationale im April 1872 ausgeschlossene Richtung der "Autoritären" organisierte in Madrid die Richtung des marxistischen Sozialismus, die 1879 zur Gründung der Sozialistischen Partei (Partido Democrático Socialista Obrero Español, seit 1888: Partido Socialista Obrero Español, PSOE) führte. Diese entwickelte sich anfangs, unter der Führung von Pablo Iglesias, ausgesprochen langsam, was sicherlich auch auf ihre selbstbestimmte Isolierung von den übrigen demokratischen Linksparteien zurückzuführen war. Nachdem 1887 das neue Vereinsgesetz die Bildung von Gewerkschaften ermöglicht hatte, wurde 1888 von Francisco Mora und Antonio Garcia Quejido die sozialistische Gewerkschaft Allgemeiner Arbeiterbund (Unión General de Trabajadores, UGT) ins Leben gerufen, die als Zweig des europäischen Sozialismus der Zweiten Internationale gemäßigt-reformistisch war. Bei ihrer Gründung hatte die Gewerkschaft etwas über 3.000, einige Jahre später erst 6.000 Mitglieder (Schwerpunkte: Madrid, Vizcaya, Asturien). Die von den Sozialisten errichteten Volkshäuser (casas del pueblo) wurden bald zu Sammel- und Mittelpunkten der in PSOE und UGT organisierten Arbeiter. Der quantitative Durchbruch gelang der Gewerkschaft allerdings erst im 20. Jahrhundert (vgl. Tab. 2). Manuel Pérez Ledesma hat in seiner Untersuchung des spanischen Sozialismus um die Jahrhundertwende auf den ideologischen Wandel hingewiesen, den die Partei von Iglesias damals durchlief. 2 Lange Zeit ist in der Literatur betont worden, daß bis zur Spaltung der Sozialistischen Partei im Jahr 1921 der Einfluß von Jules Guesde dominierend war; zweifellos bestand dieser Einfluß, vor allem auf Iglesias, Jaime Vera und Antonio García Quejido. Spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts spielten im spanischen Sozialismus aber auch die Gedanken von Paul Lafargue, von Gabriel Deville und 1
Vgl. hierzu weiter oben im zweiten Kapitel:"Die Arbeiterbewegung nach der Septemberrevolution von 1868".
2
Pérez Ledesma: Etapa.
58 die Übersetzung des 'Kommunistischen Manifest' sowie des ersten Bandes von 'Das Kapital' eine große Rolle. Man wird also von mindestens drei Phasen sprechen müssen, die der spanische Sozialismus durchlief: In einer ersten Phase waren die Sozialisten vom guesdisme beeinflußt, jenem streng marxistischen Kurs, der die Gewerkschaften der revolutionären Arbeiterpartei unterordnen und sie in ihrem Sinne instrumentalisieren wollte. Immer deutlicher wurde in dieser Phase (den 80er Jahren) jedoch die mangelnde Übereinstimmung zwischen dem theoretisch-revolutionären Anspruch und der reformistischen Praxis der sozialistischen Bewegung, die seit ihrem Beginn die gewerkschaftlichen Lohnforderungen vertreten hatte. In einer zweiten Phase, der zweiten Hälfte der 1880er Jahre, übten die Sozialisten Kritik an ihrer früheren Haltung und versuchten, auch mittels ihres neuen theoretischen Organs La Nueva Era, theoretischen Anspruch und praktische Politik in Übereinstimmung zu bringen. In einer dritten Phase (1895-1905) ging es darum, eine neue theoretische Synthese zu formulieren, die jede kurzfristige Revolutionsperspektive preisgab. In Übereinstimmung mit den marxistischen Thesen der Zweiten Internationale wurde vielmehr betont, daß die wirtschaftliche Rückständigkeit des Landes und die mangelnde Entwicklung der Bourgeoisie eine sozialistische Revolution verhinderten. Diese 'menschewistische' Haltung führte bei der Definierung einer sozialistischen Strategie zur deutlichen Distanzierung von jeglichem 'Revolutionismus', vor allem anarchistischer Prägung, der herbe Kritik erfuhr. 3 Ein Überblick über die spanische Arbeiterbewegung in der Restaurationsära (1875-1923) läßt deutlich werden, daß diese zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits die Charakteristika und Organisationsformen aufwies, die sie bis zum Ende des Bürgerkrieges beibehalten sollte. Es läßt sich von einer Art gewerkschaftlichem Dualismus sprechen. Die Arbeiterorganisationen bildeten zwei große Blöcke, deren Trennung ideologisch und geographisch einigermaßen klar definierbar ist. Die Sozialisten dominierten in Madrid, den Bergwerkszonen und in der Schwerindustrie (Baskenland, Asturien); die Anarchosyndikalisten hatten ihr Schwergewicht in den Agrarzonen Andalusiens und im 'revolutionären Dreieck' Katalonien - Zaragoza (Aragonien) Valencia. Einige Ausnahmen zu dieser schematischen Aufteilung bestätigen diese im Grunde nur (etwa die sozialistischen Einflußbereiche im Süden, die praktisch nur Industrieenklaven waren: Rio Tinto, Puertollano, Linares).
3
Hierzu Pérez Ledesma (Hg.): Pensamiento.
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Arbeiterbewegung
Tab. 2: Entwicklung der UGT-Mitgliedschaft 1890-1932 Datum
Sektionen
1890 1892 1899 1900 1902 1907 1911 1914 1917 1920 1927 1929 1931 1932
36 97 65 126 251 225 328 393 464 1 078 1 425 1 511 4 041 5 107
Mitglieder 3 896 8 014 15 264 26 088 40 087 30 066 77 749 119 144 99 520 211 342 223 349 228 507 958 451 1 041 539
Quelle: Fusi: Movimiento, 72. Es ist oft versucht worden, diese 'Zweiteilung' der Arbeiterschaft mit sozioökonomischen, sozial-psychologischen oder anderen Gründen zu erklären. Die Ausnahmen, die sich derartigen Erklärungsversuchen entgegenstellen, sind aber derart zahlreich, die Institutionalisierung von Parteien und Gewerkschaften war außerdem derart gering, daß es in den meisten Fällen sinnvoller erscheint, auf personelle und lokale Faktoren zurückzugreifen, um die regionale Verankerung einer bestimmten Arbeiterorganisation zu erklären. Ein weiterer Faktor bedarf der Erwähnung. Trotz der Bildung von Gewerkschaften und der Entstehung einer Arbeiterbewegung im modernen Sinne war diese zumindest bis 1910 äußerst schwach und schlecht organisiert. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind kaum 5 % des spanischen Proletariats gewerkschaftlich organisiert gewesen, und die industriellen Arbeitskämpfe bildeten kein politisches Problem von nationaler Tragweite. Sie blieben vielmehr isoliert und auf einige wenige Bereiche und Regionen beschränkt. 4 In Vizcaya gab es vor 1890 weder eine bemerkenswerte politische noch eine gewerkschaftliche Aktivität seitens der Arbeiterschaft, in Asturien setzte 4
Von den 1.271 Streiks, die zwischen 1904 und 1913 stattfanden, ereigneten sich 50 % in nur vier Provinzen (25 % Barcelona, 12 % Madrid, 8 % Vizcaya, 5 % Valencia). Hierzu Fusi: Movimiento, 65.
60 diese erst im 20. Jahrhundert ein. Auch der Anarchismus bildete in Katalonien bis zum Ersten Weltkrieg keine Massenbewegung. Die bedeutendste Gewerkschaft im Textilbereich etwa, die einflußreiche Las Tres Clases de Vapor, die 1890 schon 21.000 Mitglieder hatte, wurde von reformistischen Sozialisten angeführt. 5 Insgesamt muß man von einem Mangel an politischer und gewerkschaftlicher Mobilisierung, von einer Unterentwicklung der spanischen Arbeiterbewegung sowie, allgemein, von einer ausgesprochenen Schwäche der demokratischen Linken sprechen. 6 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts unterstützten die katalanischen Arbeiter die Republikanische Partei (Partido Republicano) von Alejandro Lerroux, die sich vorübergehend zu einer Arbeiterpartei entwickelte. Bis zum Ersten Weltkrieg praktizierten die in Katalonien tätigen Arbeiter eine "doppelte Loyalität": Bei Wahlen stimmten sie für Lerroux, gewerkschaftlich waren sie bei den Anarchosyndikalisten organisiert. In jedem Fall war ihr Einfluß im politischen Bereich eher unbedeutend.
2. Arbeiterschaft und Staatskrise (1917-1923) Der Erste Weltkrieg sollte für die Entwicklung der spanischen Arbeiterbewegung von entscheidender Bedeutung werden. Mitten im Krieg, im Jahr 1917, trafen drei Krisen aufeinander, die dem Restaurationssystem einen Schlag versetzten, von dem es sich nicht mehr erholte. Die erste dieser Krisen ging vom Militär aus, das sich (teilweise) im Frühsommer 1917 Anordnungen der Regierung widersetzte; aus der Kraftprobe zwischen der Offiziersbewegung und der Regierung ging letztere geschwächt hervor. Der zweite Krisenherd lag im katalanischen Nationalismus, dessen bürgerliche Träger durch die wirtschaftliche Entwicklung während des Ersten Weltkriegs ökonomisch und politisch deutlich gestärkt worden waren. Die katalanische Bourgeoisie erblickte im Sommer 1917 die Chance, ihren Einfluß auf die Madrider Regierung zu erweitern, die katalanische Autonomie auszubauen und eine Verfassungsrevision im Sinne einer föderalistischen Staatsstruktur herbeizuführen. Allerdings mußte die ursprüngliche Hoffnung, die krisenhaft zugespitzte Situation vom Sommer 1917 zu einer Ausweitung der katalanischen Autonomie nutzen zu können, unerfüllt bleiben, weil die 5
Vgl. Izard: Industrialismo.
6
Diese Aussage gilt nicht nur für den industriellen, sondern auch für den agrarischen Bereich, wo es eher selten zu Landwirtschaftsstreiks kam. Zwischen 1875 und 1900 wurde ein einziger (1893) registriert, und bis zum Ersten Weltkrieg gab es nur etwas mehr als 30; vgl. Fusi: Movimiento, 75.
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'bürgerlich'-katalanische Bewegung mit den gleichzeitig vorgetragenen sozialen Forderungen der Arbeiterschaft nichts zu tun haben wollte und außerdem das Militär, dessen Unterstützung man vorübergehend erwartet hatte, sich klar von den katalanischen 'Separatisten' distanzierte. Die dritte, gleichzeitig auftretende Krisensituation entstand aus dem im August 1917 von der UGT ausgerufenen "revolutionären Generalstreik", dessen Ursache die Verschlechterung der sozioökonomischen Lage der Arbeiterschaft war. Diese wiederum resultierte aus der Kehrseite der wirtschaftlichen Kriegsentwicklung. Man hat nachgewiesen, wie die Kriegssituation sich auf Spanien und seine Wirtschaft auswirkte. Äußerlich dominierten die Anzeichen von Prosperität: Uberschüsse in der Zahlungsbilanz, beachtliche Gewinne im Industriesektor. Längerfristig waren die Folgen der anomalen Außenwirtschaftssituation aber verheerend. Nach 1918 geriet die spanische Wirtschaft in die Krise, ihre Struktur wurde geschwächt, da während des Krieges ein Prozeß der Entkapitalisierung stattgefunden hatte. Der Krieg wirkte wie ein wirksames automatisches Schutzsystem für die spanische Produktion. Das Problem bestand darin, daß die spanische Wirtschaft sich fieberhaft an dieses anomale Schutzsystem anpaßte und von der irrigen Vorstellung ausging, daß es sich um eine 'normale' Situation handelte. Die wegen dieser Protektion erforderliche Importsubstitution zeigte deutlich, daß die Wirtschaft nicht in der Lage war, sich selbst mit dem Kapital und der Technologie zu versorgen, welche die Export- und die Produktionszunahme erforderten. Die Folge war die schwerwiegende Entkapitalisierung, unter der Spanien nach 1918 litt. Der nach 1914 einsetzende kriegsbedingte Prosperitätsschub ist zahlenmäßig klar zu belegen. 7 Die erforderliche Importsubstitution führte zur Erschließung neuer Kohlebergwerke und zu einem Anstieg der Kohleförderung von 3,8 (1913) auf 6,1 (1918) Mio. t. Die erforderlichen Substitute für die chemische Industrie führten zum Beginn einer chemischen Schwerindustrie. Die Produktion von Baumwolltextilien konnte um 16 % gesteigert werden, der Auslandsabsatz stieg auf das Zweieinhalbfache, Die Produktionsziffern der Wollweberei lagen 1918 fast viermal so hoch wie 1913, der Durchschnittswert der von 1914 bis 1918 ausgeführten Wollgarne und -Stoffe war zwanzigmal höher als 1913. Die Eisen- und Rohstahlerzeugung hatte sich 1917 gegenüber 1913 von 242.000 auf 470.000 t fast verdoppelt; die Gewinne der Reedereien kletterten in den Kriegsjahren nahezu auf das Dreizehnfache. Die Gewinne der Banken verfünffachten sich fast zwischen 1915 und 1920 von 25 auf 119 Mio. Peseten, die Zahl der Privatbanken stieg von 52 auf 91. Die spanischen Goldreserven kletterten zwischen 1913 und 1920 von 664 Mio. auf 2,5 Mrd. Peseten; gleichzeitig erhöhte sich die Menge der 7
Fontana/Nadal: Spanien.
62 zirkulierenden Banknoten um mehr als das Doppelte auf drei Mrd. Peseten, außerdem wurde die Ausgabe von Schuldscheinen in Höhe von einer Mrd. genehmigt. Spanien konnte eine große Anzahl Auslandsschuldanleihen nationalisieren und den hohen Anteil ausländischer Kapitalien an der Eisenbahn zurückkaufen; in den Kriegsjahren war die spanische Handelsbilanz (vgl. Tab. 3) zum ersten Mal im 20. Jahrhundert positiv.
Tab. 3: Spanische Handelsbilanz 1901-1922 (in Mio. Peseten) Jahr
Importe
Exporte
Saldo
1901 1902 1903 1904 1905 1906 1907 1908 1909 1910 1911 1912 1913 1914 1915 1916 1917 1918 1919 1920 1921 1922
908,3 884,9 933,7 920,8 1058,4 1015,1 947,1 980,9 956,9 999,3 994,5 1051,1 1308,8 1025,5 976,7 945,9 735,5 590,0 900,2 1423,3 2835,9 2716,1
756,8 813,4 901,2 917,3 954,8 897,7 943,4 892,9 925,4 970,1 976,0 1045,4 1078,5 880,7 1257,9 1377,6 1324,5 1009,0 1310,6 1020,0 1579,6 1319,3
-
151,4 71,5 32,4
-
3,4 103,6 117,3 3,7 87,9 31,4 29,1 18,5
-
5,6 230,3 144,8 281,1 431,6 589,0 418,9 410,4 - 403,3 - 1256,2 - 1396,8
Quelle: Roldán/García Delgado: Formación I, 25. Diese Zahlen stellen jedoch nur die glänzende Vorderseite der Medaille dar. Die negative Kehrseite, das Ergebnis einer sehr ungleichgewichtigen Entwicklung, war nicht weniger aufsehenerregend. Obwohl der Export an Wert (aber nicht an Umfang) deutlich zunahm, wurde die Einfuhr derart drastisch
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gedrosselt, daß das Handelsvolumen insgesamt sank (mengenmäßig um 68 %, wertmäßig um 35 %). Die erforderliche Zunahme an Energieerzeugung führte wegen der Errichtung zahlreicher kaum lebensfähiger Unternehmen zu einer Verringerung der Produktivität. Wegen hoher Transportkosten sank die Erzförderung (Eisenerz und -kies) von 12 Mio. t (1913) im Wert von 146 Mio. Peseten auf 4,7 Mio. t (1919) im Wert von 65 Mio. Peseten, was zur Entlassung von 16 % der Minenarbeiter und in deren Gefolge zu Arbeitslosigkeit und sozialen Unruhen führte. Die Orangenproduktion Valencias geriet in die Krise, da wegen der Beschädigung oder Versenkung zahlreicher Schiffe nicht genügend Transportraum zur Verfügung stand. Die Bauindustrie litt unter Rohstoffmangel; die überhöhten Frachtkosten wurden auf die Verbraucher abgewälzt. Die sozialen Auswirkungen dieser Entwicklung gingen zu Lasten der Arbeiterschaft. In der Textilindustrie blieben die Löhne lange Zeit eingefroren; der Anstieg der Sparquote der großen Masse der Bevölkerung blieb weit hinter der Preissteigerung und der Erhöhung der Geldumlaufgeschwindigkeit zurück, so daß von einer Verarmung der Mehrheit und einer Bereicherung der Minderheit gesprochen werden kann. Da die enorme Kapitalakkumulation auf Kosten der Arbeitnehmer erfolgte, war die wirtschaftliche Entwicklung einer dringend erforderlichen Ausweitung des Inlandmarktes nicht förderlich, was sich vor allem nach dem Zusammenbruch der Hochkonjunktur negativ bemerkbar machen sollte. Die Regierung konnte aus politischen Gründen keine 'Kriegssteuer' auf außerordentliche Gewinne durchsetzen; auch eine Preiskontrolle gelang ihr nicht. 8 Der forcierte Export von Gütern aller Art führte zu Warenverknappung auf dem Binnenmarkt, zu Preisanstieg auch für Grundbedarfsartikel und in deren Gefolge zu starker Unzufriedenheit unter den zahlreichen Industriearbeitern. Im Juli 1916 schlössen die anarchosyndikalistische Confederación Nacional del Trabajo (CNT, 'Nationalbund der Arbeit') und die sozialistische UGT ein Abkommen über Zusammenarbeit bei Streiks und bei Forderungen nach politischen Reformen. Um die Produktion nicht zu gefährden, waren die meisten Unternehmer auch zu Lohnzugeständnissen bereit. Die gewerkschaftliche Gemeinsamkeit hielt allerdings nicht lange an: Die Anarchosyndikalisten warfen den Sozialisten wegen ihres grundsätzlich reformistischen Kurses vor, die Interessen der Bourgeoisie zu vertreten; die Sozialisten konterten mit dem Vorwurf, die CNT stehe im Sold des deutschen Kaiserreichs. Seit März 1917 spitzte sich die Situation dramatisch zu. In Valencia fand ein Eisenbahnerstreik statt, in Bilbao traten 27 000 Stahlarbeiter in den Aus8
Jackson: Reforma, 43-45.
64 stand. Die Regierung reagierte mit der Verkündigung des Kriegszustandes, die ursprünglich rein lohnpolitischen Forderungen der Arbeiter wurden erweitert und erfaßten die Einsetzung einer provisorischen Reformregierung und Wahlen zu einer verfassunggebenden Nationalversammlung. Der gemeinsame CNT-/UGT-Aufruf zu einem Generalstreik formulierte als Ziel die "Erzwingung eines grundsätzlichen Wandels im System, der dem Volk ein Minimum an würdigen Lebensbedingungen und die Fortentwicklung emanzipatorischer Maßnahmen garantiert". Der schließlich im August 1917 - zum gleichen Zeitpunkt wie die katalanische Parlamentarierversammlung von den Sozialisten ausgerufene "revolutionäre Generalstreik" wurde aber weder von den oppositionellen Katalanen noch von den revoltierenden Militärs unterstützt. Im Gegenteil: Der Chef der bürgerlich-katalanischen L/iga-Partei, Francesc Cambö, und die katalanische Industriebourgeoisie wurden sich sehr schnell ihrer Klasseninteressen bewußt und bekannten sich unmißverständlich zur Restaurationsordnung. Das Militär schlug im Namen von Recht und Ordnung den Arbeiteraufstand rücksichtslos nieder. Obwohl im Sommer 1917 die Proteste des Militärs, der Arbeiterschaft und der politisch organisierten Katalanen gleichzeitig artikuliert wurden und eine Staatskrise heraufbeschworen, erfolgte kein zielgerichtetes Zusammenwirken. Zu unterschiedlich waren Voraussetzungen und Interessen. Das Militär wandte sich als Vertreter der "nationalen Einheit" gegen die "separatistischen" Katalanen, diese kehrten gegenüber der Arbeiterschaft ihren Klassenstandpunkt hervor; die Arbeiter wiederum waren gespalten und letztlich isoliert. Diese Konstellation bedingte auch, daß die Krise von 1917 weitreichende Folgen für die beteiligten sozialen Gruppen hatte. Krone und Militär rückten enger zusammen, die militärischen Bindungen an die dynastischen Parteien lockerten sich weiter. Durch sein Eingreifen rettete das Militär nicht nur vorübergehend die Autorität und Position des Königs, sondern verhinderte auch die von den übrigen sozialen Kräften geforderte Verfassungsdiskussion. Die Arbeiterschaft sowie allgemein die Linke sah ihr bis dahin bestehendes Vertrauen in das Militär erschüttert, das seither nie wieder als ein verläßlicher Verbündeter betrachtet wurde. In den folgenden Jahren schwerer sozialer Unruhen wurde das Mißtrauen zwischen Arbeiterschaft und Militär, das zur Unterdrückung der Streiks eingesetzt wurde, weiter vertieft. Die konservativen Katalanisten rückten näher an den Zentralstaat heran, in dessen Regierung sie in den Folgejahren Minister entsandten. Damit zerfiel die Einheit der Katalanisten, fortan konnte sich ein linker Katalanismus entwickeln. Die Sozialisten schließlich wurden, infolge des Fehlschlags des revolutionären Generalstreiks, in ihrer reformistischen Grundüberzeugung bestärkt, die Anarchisten wiederum radikalisiert. Im Grunde genommen läutete die Krise von 1917 das Ende der Restaurationsära ein. Der britische Statesman schrieb damals, die Krise sei "das erste
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Anzeichen dafür, daß die politische Struktur der Restauration zusammenzubrechen beginnt". 9 Seit in Spanien die ersten Nachrichten über die russische Februarrevolution eintrafen und ein Ende des Krieges, damit auch der wirtschaftlichen Hochkonjunktur, absehbar war, stieg die Konfliktivität deutlich an; in ihrem Gefolge, vor allem unmittelbar nach Kriegsende, hatten die Gewerkschaften einen massiven Zulauf zu registrieren. 10
Tab. 4: Gewerkschaftlicher Mitgliederstand und Streiks 1914-1920
Jahr
1914 1915 1916 1917 1918 1919 1920
CNT
15000 30 000 75 000 350 000 715000
UGT
Streiks
119 144
212 169 237 306 463 895 1060
76 99 89 160 211
000 520 601 480 342
verlorene Arbeitstage (in 1000)
2415 1784 1819 4001 7261
Nach 1917 häuften sich die Krisensymptome, die sich schwerpunktmäßig in drei Bereichen bemerkbar machten: im staatlichen, im sozialen und im kolonialpolitischen. Im staatlichen Sektor äußerte sich der Zersetzungsprozeß des Restaurationssystems im immer schnelleren Wechsel der Regierungen. Kabinette der "nationalen Konzentration" banden vorübergehend alle systemtragenden Parteien zusammen, um den Forderungen der Arbeiter, der Republikaner und der nationalistischen Regionalisten begegnen zu können. Der Wahlerfolg der Sozialisten war zwar noch äußerst bescheiden - 1910 hatte Iglesias als erster Sozialist ein Cortes-Mandat erlangt, 1918 entsandte der PSOE erst sechs Abgeordnete ins Parlament -, aber die Parteimit9
Nach Carr: España, 122.
10 Die Zahlen von Tab. 4 sind verschiedenen Quellen entnommen. Zur Streikstatistik vgl. Tuñon de Lara: 1917-1920. Die Streikangaben entstammen den Unterlagen des Instituto de Reformas Sociales; sie sind mit Sicherheit sehr unvollständig. Die Statistik der verlorenen Arbeitstage nach Elorza: Wirtschaftswachstum. Zum Gesamtzusammenhang vgl. auch: Historia 16, Sondernummer "España".
66 gliedschaft stieg, nach dem Tiefstand (1916) von 76.304, von 89.601 (im August 1918) auf 211.142 (im Mai 1920). Das kazikistische System der Wahlmanipulation funktionierte nicht mehr, durch Parteineu- und -umbildung zerfiel das Parlament in immer mehr Gruppen und Fraktionen. Die Staatsordnung schien sich aufzulösen, das Land unregierbar geworden zu sein. Immer häufiger trat König Alfons XIII. als 'Kabinettsmacher' auf, da das Parlament dazu nicht mehr in der Lage war. In konservativen Kreisen häuften sich die Rufe nach einer "zivilen Diktatur", die gegen die "bolschewistische Anarchie", gegen den "Separatismus" und die "Schwäche des Liberalismus" einschreiten sollte. Besonders dramatisch verliefen in der unmittelbaren Nachkriegszeit die wirtschaftliche Entwicklung und in ihrem Gefolge die sozialen Auseinandersetzungen. In der Nachkriegsdepression mußten allein in Katalonien 140 Textilfabriken schließen, im Baskenland standen die Werften leer, Bergwerke sowie die Eisen- und Stahlindustrie mußten zu Kurzarbeit übergehen und massenweise Arbeiter entlassen. Die angespannte Situation im Sozialbereich führte zwar zu gewissen staatlichen Zugeständnissen (1919: Einführung des Achtstundentages in der Industrie durch die liberale Regierung Romanones; 1920: Schaffung des Arbeitsministeriums). Insgesamt jedoch sah sich die Arbeiterbewegung, im Gegensatz zur Weltkriegssituation, in die Defensive gedrängt. Am härtesten war die Auseinandersetzung in Katalonien, wo die Unternehmer nicht nur eine protektionistische Schutzzollpolitik als anachronistisch-wirtschaftliches Krisenmanagement durchsetzen konnten, um sich erneut den Binnenmarkt zu reservieren, sondern außerdem auch auf staatliche Hilfe bei der systematischen Repression der Arbeiterschaft zählen durften. 11 Darüber hinaus gelang es den katalanischen Unternehmern, als Gegengründung zur radikalen CNT die im November 1919 entstandene katholisch-traditionalistische Gewerkschaft Sindicato Libre Regional ('Regionale Freie Gewerkschaft') vorübergehend zu instrumentalisieren, die im zwischengewerkschaftlichen Kampf zur ärgsten Gegnerin der CNT
11 Den größten Erfolg erreichten die Anarchosyndikalisten mit dem Streik in der Transport-, Licht- und Elektrizitätsgesellschaft La Canadiense im Frühjahr 1919, dem sich schließlich der größte Teil der städtischen Arbeiter Barcelonas anschloß; 70 % der Industrieproduktion der Provinz Barcelona wurden unterbrochen, 4 4 Tage war Barcelona praktisch paralysiert. Die britische Geschäftsleitung des Unternehmens und die Regierung in Madrid waren zu Zugeständnissen bereit, nicht jedoch das Heer und die Provinzialregierung. Der Generalkapitän Kataloniens proklamierte das Kriegsrecht, der Arbeitskampf wurde radikalisiert und leitete die vier Jahre andauernde Phase höchster Konfliktivität ein. Zum Gesamtzusammenhang vgl. Meaker: Revolutionary Left; zum Canadiense-Streik vgl. Brenan: Geschichte Spaniens, 73-93; Lacomba Avellán: Crisis.
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wurde und aufs engste mit dem Gouverneur Kataloniens, General Severiano Martínez Anido, zusammenarbeitete. 1 2 In Katalonien begannen die Unternehmer 1919 eine bis zur Diktatur Primo de Riveras (1923) andauernde Großoffensive gegen die Arbeiterorganisationen, die jenen Landesteil zum Schauplatz der wohl heftigsten Sozialkonflikte im damaligen Nachkriegseuropa machte. Auf dem Congreso de la Comedia beschloß die CNT Ende 1919 den provisorischen Eintritt in die 'Rote Gewerkschaftsinternationale' - der Beschluß wurde 1922 in Zaragoza allerdings schon wieder rückgängig gemacht. Außerdem verabschiedete sie ein radikales Programm, das den "libertären Kommunismus" zum Ziel der Bewegung machte, zu dessen Erreichung auch Methoden der "direkten Aktion" unter Einschluß von Gewalt erwogen wurden. Der katalanische Unternehmerverband (Federación Patronal) nahm im Arbeitskampf jener Jahre eine weit unnachgiebigere Position als die Madrider Zentralregierung ein, die viel häufiger zu Konzessionen und Vermittlungsaktionen als die Arbeitgeberseite bereit war. In dieser Situation beherrschte General Anido, fast als Statthalter des Unternehmerverbandes, zwei Jahre lang Katalonien wie ein unabhängiges Gebiet, auf dem die Gewalt-Repression-Gegengewalt-Spirale zwischen 1919 und 1923 zu über 700 politischen Attentaten führte. Die gedungenen Pistolenschützen (pistoleros) der Unternehmerseite und die radikalisierten Anarchosyndikalisten lieferten sich in Barcelona fast täglich Gefechte und Straßenschlachten, deren prominenteste Opfer der konservative Ministerpräsident Eduardo Dato (1922) und der gemäßigte CNT-Führer Salvador Seguí (1923) waren. Außer im industrialisierten Katalonien scheint 1918 bis 1920 die Situation auf dem andalusischen Land besonders konfliktreich gewesen zu sein. Jene Jahre werden oft das "bolschewistische Triennium" genannt. 1 3 Zweifellos wurden die zahlreichen Landbesetzungen und Agraraufstände - der Höhepunkt wurde 1919 mit 200 und 1920 mit 183 Landarbeiterstreiks erreicht von den aus Rußland eindringenden Nachrichten über die dortige Revolution beeinflußt, obwohl auch die Kenntnis über die Ereignisse im entfernten Rußland sehr beschränkt gewesen sein dürfte. Immerhin gab sich die Sozialistische Partei 1918 zum ersten Mal ein Agrarprogramm. Die Anarchisten erblickten in der Russischen Revolution die langersehnte Gelegenheit, den verhaßten Kapitalismus abzuschaffen und den sozialistischen Reformismus zu eliminieren. "Bolschewismus" wurde zum Schlüsselwort und Lieblingsthema von Agitatoren und Propagandisten. Das Schreckbild einer 12 Die Literatur über die 'Freien Gewerkschaften' ist äußerst gering. Vgl. die Quellenpublikation
und Einführung v o n
Elorza:
Sindicatos;
eine
differenzierte Beurteilung
Winston: Apuntes; ders.: Carlist; vgl. auch Carrasco Calvo: Teoria.
bei
68 verallgemeinerten "Bolschewismusgefahr" entsprach übrigens durchaus den Interessen der Bourgeoisie und wurde von dieser bewußt geschürt, um die Intensivierung der Repression leichter rechtfertigen zu können. Das revolutionäre Fieber jener Jahre erfaßte vor allem einen Flügel der Sozialistischen Partei, aus dessen Abspaltung 1920/21 - zusammen mit einer ebenfalls minoritären Fraktion der Anarchosyndikalisten - die 'Kommunistische Partei Spaniens' (Partido Comunista de España, PCE) hervorging. 1 4
3. Die Gewerkschaften während der Diktatur Primo de Riveras(1923-1930) In den Jahren 1922/23 waren nahezu alle sozialen Kräfte vom politischen System der Restauration enttäuscht: Die grundbesitzende Oligarchie, die den größten Teil der Diktatur-Politiker stellen sollte, war wegen der "bolschewistischen Agitation" auf dem Land erschreckt; in Katalonien wollten weder Industrielle noch Arbeiter an der Spirale von Terrorismus und Repression weiterdrehen. Die Mittelschichten ersehnten "Ruhe und Ordnung" zur Fortführung ihrer Geschäfte. Militärs und Politiker wünschten einen Abschluß des Marokkokrieges. Es bedurfte einer neuen Politik, die endlich eine "nationale Regeneration" herbeiführte. Der Staatsstreich des Generalkapitäns von Katalonien, Miguel Primo de Rivera, im September 1923 wurde daher von den meisten sozialen Gruppen mit Erleichterung, zumindest mit Gleichgültigkeit hingenommen. Intellektuelle äußerten sich zustimmend, die Unternehmer zeigten unverhohlen Zufriedenheit. Zum Zeitpunkt des Staatsstreichs erfuhr Primo de Rivera vielfältige Unterstützung, vor allem aus Kreisen der Wirtschaft. Sowohl die ländliche wie die städtische Bourgeoisie hatten die atmosphärischen Bedingungen für den Staatsstreich geschaffen, indem sie immer wieder sagten, sie könnten dem sozialen Radikalismus nicht Einhalt gebieten, wenn sie weiterhin auf die parlamentarischen Politiker vertrauten. Der Katalanist Cambö behauptete sogar, in Vertretung der katalanischen Großbourgeoisie, daß die Diktatur in Barcelona geboren worden sei und Ergebnis des dortigen ambiente war. Alle "normalen" Methoden zur Bekämpfung der gewerkschaftlichen Demagogie, argumentierte er, seien fehlgeschlagen. Deshalb sei eine neue Form der Bekämpfung sozialer Unruhen erforderlich geworden. Die Euphorie, mit der die katalanischen Industrie- und Handelskammern den 13 Zusammenfassend Maurice: propösito. 14 Hierzu Hermet: Communistes; Meaker: Revolutionary Left.
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Diktator begrüßten, wurde von diesem mit "sozialem Frieden" und den höchsten Schutzzöllen in Europa belohnt. Zu den verschiedenen Gruppen, die anfangs die Diktatur unterstützten, gesellte sich noch, zweifellos einzigartig im europäischen Kontext, die Unterstützung Primo de Riveras durch die Sozialisten. Unter Rückgriff auf die katholische Soziallehre nahm Primo de Rivera noch vor der Falange in den 30er Jahren die Verschmelzung von Nationalismus und Sozialismus vor. Der Diktator war zweifellos am Wohlergehen der Arbeiterschaft interessiert. Ihm schwebte in seiner patemalistischen Grundeinstellung eine Interessenharmonie zwischen Kapital und Arbeit vor. Die Zusammenarbeit der Sozialisten mit dem Regime erfolgte vor allem durch die paritätischen Schiedsgerichte (Comités Paritarios), die seit 1926, übrigens gegen den erklärten Willen der Unternehmer, zur Regelung von Arbeitskonflikten im Industriebereich eingerichtet wurden. UGT-Chef Francisco Largo Caballero wurde 'Staatsrat' für Arbeitsfragen. In den Jahren der Diktatur sanken die sozialen Auseinandersetzungen deutlich. Hatte es 1923 noch 465 Streiks gegeben, ging diese Zahl in den Folgejahren auf durchschnittlich 100 zurück. Die Zusammenarbeit von PSOE und U G T mit der Diktatur resultierte aus der sozialistischen Uberzeugung, daß nur durch eine Kooperation mit den staatlichen Instanzen die Errungenschaften der Arbeiterbewegung aufrechterhalten werden konnten. Julián Besteiro, der seit dem Tod von Pablo Iglesias (1925) zur Symbolfigur des spanischen Sozialismus wurde, befürchtete andernfalls die Entfesselung eines Bürgerkrieges, und Largo Caballero war von den guten Absichten des Generals gegenüber der Arbeiterschaft überzeugt. Die pragmatische Haltung der Sozialisten rief zwar Widersprüche und innere Auseinandersetzungen hervor. Insgesamt gelangten sie aber in ihrer Analyse der soziopolitischen Situation zu dem Ergebnis, daß die Diktatur die einzige Lösung darstelle, um den sozialen Spannungen der vorhergehenden Epoche ein Ende zu bereiten und einer starken Bourgeoisie zur Konsolidierung zu verhelfen, die die Unterentwicklung und den Archaismus der sozialen und politischen Strukturen überwand und dadurch auch die Situation der Arbeiterschaft in Stadt und Land verbesserte. Infolge ihrer "kooperativen" Haltung und der Bevorzugung durch die Diktatur konnte die UGT ihre Mitgliedschaft über ihre traditionellen Einzugsbereiche aus den Sektoren Eisenbahn, Stahlindustrie und Bergbau hinaus ausdehnen. In der Sozialistischen Partei blieb ein minoritärer Flügel bestehen, der sich einer Zusammenarbeit mit Primo de Rivera widersetzte. Die Mehrheit aber war von den wirtschaftlichen Vorteilen für die Arbeiter und den organisatorischen Vorteilen für die Partei derart überzeugt, daß sie die Beschneidung der bürgerlichen Freiheiten und die Eliminierung des konstitutionellen Systems bedenkenlos in Kauf nahm. 1930 stimmten Besteiro und
70 die asturischen Delegierten auch gegen eine sozialistische Beteiligung an der republikanischen Verschwörung gegen die Diktatur. Die enge Zusammenarbeit zwischen dem organisierten Sozialismus und der Diktatur schlug sich aber nicht in einer deutlichen Zunahme der Mitgliederzahlen nieder. Diese erlebten keine großen Änderungen, so daß insgesamt eher von einer Stabilisierung gesprochen werden kann. Hatte der PSOE 1926, nach dem Mitgliederschwund der Nachkriegsjahre, 8.561 Mitglieder, so 1929 immer noch nur 10.528. Der eigentliche Aufschwung in Partei und Gewerkschaft (vgl. Tab. 2) erfolgte erst nach Primo de Riveras Rücktritt und dann vor allem zu Beginn der Zweiten Republik (1930 hatte der PSOE 18.207, ein Jahr später 67.336 und 1932 schon 75.133 Mitglieder), wobei der spektakuläre Anstieg der UGT von 277.011 (1930) auf 958.451 Mitglieder (1931) primär auf die Gründung der sozialistischen Landarbeitergewerkschaft Federación Nacional de Trabajadores de la Tierra (FNTT) zurückzuführen ist, die 42 % der Mitgliedschaft umfaßte. 1 5 Der PSOE beteiligte sich nicht an den Verschwörungen gegen die Diktatur. Im Gegenteil: Der Kongreß von 1928 lehnte eindeutig einen Antrag von Indalecio Prieto und anderen ab, die "Kollaboration" mit dem Regime zu beenden und sich den Republikanern anzunähern. Erst 1929 distanzierten sich die Sozialisten von der Diktatur. Sie weigerten sich, an der 'Beratenden Versammlung' (Asamblea Consultiva) teilzunehmen, mit der Primo de Rivera seinem Regime seit 1926 eine repräsentative Fassade geben wollte. Auch nach ihrer Distanzierung von der Diktatur blieben PSOE und UGT allerdings vorsichtig. Der republikanischen Verschwörung schlössen sie sich erst spät, im Oktober 1930, an. Im Gegensatz zu den Sozialisten kam für die Anarchisten eine Zusammenarbeit mit der Diktatur nicht in Frage. In den Jahren 1919 bis 1923 war die CNT durch den offenen Kampf mit dem katalanischen Unternehmerverband und den Terrorschwadronen Martínez Anidos deutlich geschwächt worden. Der Einfluß ihrer gemäßigten Führer hatte in einem Klima zunehmender Radikalisierung nachgelassen. Ende 1922 trat die CNT der anarchosyndikalistischen 'Internationalen Arbeiterassoziation' bei, deren explizites Ziel es war, den Klassenkampf zu verschärfen, gegen ein Ubergreifen politischer Parteien auf die Gewerkschaften anzukämpfen, schließlich den Kapitalismus und den Staat zu zerstören. Die Anarchisten waren 1923 bereit, sich Primo de Riveras Staatsstreich entgegenzustellen, erfuhren mit dieser Haltung aber nur bei der kleinen Kommunistischen Partei, nicht jedoch bei den Sozialisten Unterstützung. Im Mai 1924 ordnete der Zivilgouverneur Kataloniens die
15 Contreras: PSOE, 53, 55, 85, 109.
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Schließung der CNT-Lokale und der Büros ihres Organs Solidaridad an. Die Gewerkschaft wurde in den Untergrund gedrängt.
Obrera
In den ersten Jahren nach Gründung (1910) der CNT hatten erfolglose Streiks, Repressionen durch die Regierung und Meinungsverschiedenheiten innerhalb der CNT ein wirksames Auftreten der anarchosyndikalistischen Organisation verhindert. Ihr Kurs hatte zwischen dem anarchistischen Dogmatismus der extremistischen Fraktion und der von einer Gruppe um Salvador Seguí 16 und Angel Pestaña vertretenen Linie geschwankt, die ein "realistisches" revolutionäres Programm entwickeln wollte, sich für weitschauende Taktiken und Anpassung an die Umstände aussprach und im Syndikalismus ein Mittel sah, sich dem Fernziel der Abschaffung des Staates, des kapitalistischen Systems und des Privateigentums zu nähern. Ausdruck ihrer tastenden Unsicherheit war sowohl der Pakt mit der sozialistischen Gewerkschaft UGT (1917) als auch der vorübergehende Eintritt in die 'Rote Gewerkschaftsinternationale' (RGI) 1 7 bei gleichzeitigem Festhalten an den von Bakunin entworfenen Prinzipien gewesen. Ende 1922 trat die CNT auf der internationalen syndikalistischen Konferenz in Berlin, endgültig dann auf ihrem Kongreß 1923 in Zaragoza, der 'Internationalen Arbeiterassoziation' (IAA) bei 1 8 , deren explizites Ziel es war, den Klassenkampf zu verschärfen, gegen ein Übergreifen politischer Parteien auf die Gewerkschaften anzukämpfen, die "Willkürherrschaft aller Regierungen" zu bekämpfen, schließlich den Kapitalismus und den Staat zu zerstören. 19 Die IAA verwarf die Diktatur des Proletariats, sprach sich für die direkte revolutionäre Aktion der Unterdrückten aus und betonte - bei strikter Ablehnung jeglicher "politischer" Betätigung - die Eigenschaft der Arbeiter als Produzenten. Der Anarchosyndikalist Eusebio Carbó berichtet anschaulich über den Gesinnungswandel, der innerhalb der CNT in jenen Jahren stattfand und dazu führte, daß der eben erst beschlossene Beitritt zur RGI wieder rückgängig gemacht und durch den Beitritt zur IAA ersetzt wurde: "Während des Jahres 1922 hatten wir Nachricht von dem Bestehen der IAA erhalten [...] Aus ihrer Prinzipienerklärung und ihren Statuten entnahmen wir, daß die IAA sich bemühte, die großen Uberlieferungen der internationalen Arbeiter-Association fortzusetzen und in der Arbeiterschaft wach zu halten. Die Ideen und Methoden der CNT waren völlig im Ein16 Zu Salvador Segui vgl. Cruells: Salvador Segui; vgl. auch Bernecker: Soziale Revolution, bes. 188. 17 Zu der überwältigenden Wirkung, die die Russische Revolution für kurze Zeit auf die spanischen Anarchisten ausübte, vgl. Meaker: Revolutionary Left. 18 Zur Gründung der syndikalistischen IAA: Rocker Memoiren, 44.
72 klang mit denen der IAA, und wir erkannten, daß, obwohl wir der Dritten Internationale angeschlossen waren, unser Platz nirgends anders sein konnte als in den Reihen der IAA. So kam es, daß die Konferenz von Zaragoza einstimmig und fast ohne Debatte den Anschluß der CNT an die IAA vollzogen hat. Seitdem gehört die spanische Landesorganisation der IAA an, durch die sie mit dem revolutionären Proletariat der ganzen Welt verbunden ist. 1931 ratifizierte der Kongreß von Madrid die Prinzipien, welche der Kongreß von 1919 angenommen hatte 20 , indem er erklärte: 'Die auf diesem Kongreß vereinigten Delegierten geben der Meinung Ausdruck, daß sich im Schöße der Arbeiterorganisationen aller Länder immer stärker das Bedürfnis nach einer vollständigen Befreiung der Menschheit von jeder moralischen, politischen und wirtschaftlichen Unterdrückung geltend macht; der Kongreß ist der Meinung, daß ein solches Ziel nur durch den gemeinschaftlichen Besitz der Erde und der Arbeitsinstrumente und durch die völlige Ausschaltung jeder wie immer gearteten Staatsorganisation erreicht werden kann. In diesem Sinne erklärt der Kongreß in voller Übereinstimmung mit der Internationalen Arbeiter-Association, daß das Ziel der spanischen CNT nur die Verwirklichung des freiheitlichen Kommunismus sein kann.'" 21 Nicht alle Syndikalisten verfochten so vorbehaltlos, wie es Carbós Zusammenfassung suggerieren möchte, das Ziel des libertären Kommunismus. Während der Diktatur Primo de Riveras begann sich innerhalb der im Untergrund operierenden CNT eine "reformistische" Strömung durchzusetzen, die zum Sturz des Diktators eine Zusammenarbeit mit republikanischen Parteien und Oppositionsgruppen befürwortete. Um zu verhindern, daß sich die Arbeiter dem Reformismus und der Zusammenarbeit mit politischen Organisationen oder dem sowjetischen Kommunismus und der Lehre von der Diktatur des Proletariats zuwendeten, wurde im Jahre 1927 auf einem illegalen Kongreß in Valencia die 'Iberische Anarchistische Föderation' (.Federación Anarquista Ibérica, FAI) als Geheimorganisation gegründet, die sich die Reinerhaltung der Lehren Bakunins zur Aufgabe machte. Die Gründungsdokumente der FAI sind zwar verlorengegangen; es liegt aber ein 19 Nach: Prinzipienerklärung der IAA, 44. 2 0 Der Madrider CNT-Kongreß von 1919 gehört zu den wichtigsten anarchosyndikalistischen Kongressen Spaniens. Die Delegierten bekannten sich zu den von Bakunin in der Ersten Internationale vertretenen Prinzipien, wenn sie sich auch für den "vorläufigen" Beitritt zur Dritten Internationale aussprachen. Vgl. Congresos Anarcosindicalistas; vgl. auch Bemecker (Hg.): Kollektivismus, 45.
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zusammenfassender Bericht über die konstituierende Sitzung vor, der es ermöglicht, die Diskussionen auf der Gründungssitzung in Valencia am 24. und 25. Juli 1927 zumindest in ihren großen Zügen zu rekonstruieren. 22 Die FAI wurde als Zusammenschluß der Uniao Anarquista Portuguesa (UAP) 23 , des 'Nationalbundes Anarchistischer Gruppen Spaniens' und des 'Bundes Anarchistischer Gruppen spanischer Sprache in Frankreich' gegründet. Nach 1923 waren alle anarchistischen Gruppierungen sowie die CNT aufgelöst worden. Trotzdem war im Untergrund ein anarchosyndikalistisches Verbindungskomitee (Comité de Relaciones Anarquistas) bestehen geblieben. Seit dem Kongreß anarchistischer Gruppen in Lyon (Juni 1925) bestand außerdem der exilierte 'Bund Anarchistischer Gruppen spanischer Sprache in Frankreich'. 1925 hatte auch die Reorganisation anarchosyndikalistischer Gruppen im Landesinneren begonnen, die zur baldigen Einsetzung eines provisorischen "Nationalkomitees" führte, an dessen Spitze Miguel Jiménez und José Llop traten. 24 Diese Organisationen schlössen sich mit dem klaren Ziel zusammen, dem Anarchismus in der Arbeiterbewegung zur Durchsetzung zu verhelfen. Im Hinblick auf das Zusammenwirken "rein" anarchistischer Organisationen mit der "syndikalistischen" CNT beschloß die Gründungsversammlung: "Man kommt überein, daß die Klasseneinheit nicht möglich ist, der Syndikalismus hat sie angestrebt und ist gescheitert, daher muß die anarchistische Einheit gesucht werden. Die Arbeiterorganisation ist nicht nur dazu da, die Klassenlage zu verbessern, sie muß auch auf die Emanzipation der Arbeiterklasse hinarbeiten, und da diese in der Akratie möglich ist, muß die Arbeiterorganisation ein weiteres Mittel des Anarchismus werden. Die Arbeiterorganisation muß zum Anarchismus zurückkehren, wie es vor der Auflösung der Spanischen Regionalföderation und der Bildung anarchistischer Gruppen am Rande der 21 Carbö: IAA. 22 Vgl. den z u s a m m e n f a s s e n d e n Bericht in: C u a d e m o s de R u e d o Iberico, 2 9 3 - 2 9 5 ; dt. in: Bernecker (Hg.): Kollektivismus, 9 8 - 1 0 4 . N a c h dem Bericht der konstituierenden FAISitzung läßt sich sagen, daß die FAI von A n f a n g an eine e n g e Zusammenarbeit mit der CNT, aber keine Beherrschung der Gewerkschaft anstrebte. Vgl. Buenacasa:
CNT;
Bernecker: Anarchismus, 2 0 - 2 3 . 23 Die
Uniao Anarquista Poriuguesa
war A n f a n g 1923 auf der Konferenz von Alanquer als
Zusammenschluß von z w ö l f anarchistischen Gruppen entstanden. A u f ihrer ersten K o n f e renz im Juli 1926 diskutierte die U n i o n bereits ein m ö g l i c h e s Z u s a m m e n g e h e n mit den spanischen anarchistischen Gruppen und deutete damit schon auf die Gründung der FAI voraus. V g l . Merten: Anarchismus. 2 4 G ö m e z Casas: Historia.
74 Arbeiterbewegung war. Beide Organisationen müssen sich vereinigen, denn die anarchistische Bewegung darf das wirtschaftliche Problem nicht außer Acht lassen und sich ausschließlich auf die übrigen Fragen konzentrieren. Es wird beschlossen, dieses Ziel zu verkünden. Die (anarchistischen) Gruppen, ihre Zusammenschlüsse und das Nationalkomitee laden die Gewerkschaftsorganisation und das Komitee der CNT zu gemeinsamen Plenarsitzungen bzw. zu Lokal-, Bezirks-, Regional- und Nationalversammlungen ein, sie schlagen die Übernahme der Gewerkschaftsorganisation in die anarchistische Bewegung und ihre Verbindung mit dem Gruppenaufbau vor, ohne daß es zu einer Vermischung oder gar zum Verlust des jeweiligen Gepräges käme. Generalföderationen werden der Ausdruck dieser breiten anarchistischen Bewegung sein und über Generalräte verfügen, die so genannt werden, weil sie sich aus Vertretern der Gewerkschafts- und der Gruppen-Organisationen zusammensetzen. Diese Generalräte bilden Kommissionen für Erziehung, Propaganda, Agitation sowie für andere Bereiche, die für beide Organisationen gleichermaßen von Bedeutung sind." 25 Die FAI beschloß, an jedem Aufstand gegen die Diktatur Primo de Riveras teilzunehmen "und zu versuchen, ihn von seiner politischen Richtung abzubringen; die Aktion des Volkes soll auf die Zerstörung aller Gewalten und die freie Gestaltung des Lebens gelenkt werden". Hinsichtlich der Organisation des Aufstandes trafen die anwesenden Delegierten eine wichtige Entscheidung, die auf das zukünftige Verhältnis zur CNT hindeutete: "Soll ein Aktionskomitee gebildet werden, das aus der Gewerkschafts- und Gruppenorganisation 26 oder nur aus letzterer hervorgeht? Die erstere Lösung wird - in Anlehnung an Katalonien - beschlossen; nur falls die Gewerkschaftsorganisation nicht kann oder will, wird die zweite Lösung praktiziert." Die Resolution läßt deutlich werden, daß die FAI von Anfang an eine enge Zusammenarbeit mit der CNT, aber keine Beherrschung oder Indoktrination der Gewerkschaft anstrebte, wenn auch betont wurde, daß man sich "um die reformistische Strömung" in der Gewerkschaftsbewegung "kümmern" müsse. Insgesamt ist jedoch bei der häufig aufgestellten Behauptung, der syndikalistischen Massenbewegung Spaniens sei der anarchistische Wille der minoritären FAI aufgezwungen worden 27 , zu gering veranschlagt wor25 Zit. nach: Bernecker (Hg.): Kollektivismus, lOOf. 26 Unter "Gruppenorganisation" war der Zusammenschluß der locker strukturierten grupos de afinidad zu verstehen, die mit der Gewerkschaft nichts gemein hatten, sondern eher den Charakter revolutionärer Zellen aufwiesen. 27 Den FAI-Einfluß betont etwa Bar Cendón: Confederación. Die "offizielle" Verbindung zwischen C N T und FAI wurde durch die Verteidigungs- und Pro-Gefangenen-Komitees
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den, daß die CNT aufgrund ihrer historischen Genese keine reformistische Gewerkschaftsorganisation darstellte, sondern seit ihrer Gründung dem revolutionären Syndikalismus, der antipolitischen Grundhaltung und dem Kampf gegen Staat und Privateigentum verpflichtet war.
hergestellt. Während erstere Streiks und Aufstände organisierten, kümmerten sich letztere um das Schicksal gefangener Genossen und deren Familien. Die treibende Kraft bei der Koordination von CNT- und FAI-Aktivitäten war zweifellos die "spezifische" Organisation FAI.
Republik und Bürgerkrieg
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IV. Republik und Bürgerkrieg (1931-1939)
1. Der Anarchismus zwischen Reformismus und Revolutionismus Trotz der weitgehenden programmatischen Ubereinstimmung zwischen CNT und FAI blieb im Anarchosyndikalismus der Zweiten Republik (1931-1939) eine "reformistische" Tendenz bestehen, und das Verhältnis zwischen den beiden anarchistischen Organisationen gehört zu den Grundproblemen der Gewerkschaftsbewegung in jenen Jahren. Die nicht immer problemlosen CNT-FAI-Beziehungen wurden durch den 1928 beschlossenen trabazón (Verband) bestimmt, der die "brüderliche Zusammenarbeit" (José Peirats) zwischen den beiden Organisationen regeln sollte und nach Beginn des Bürgerkrieges in der stets gemeinsamen Verwendung der Initialen "CNT-FAI" manifest wurde 1 ; die praktischen Auswirkungen des trabazón auf das komplexe CNT-FAI-Verhältnis eröffneten der FAI die Möglichkeit zum Eintritt in alle CNT-Komitees. Der massive Einbruch in CNT-Gremien darf jedoch nicht allein unter der Perspektive der doktrinären Majorisierung der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft gesehen werden; im Bewußtsein des gemeinsamen revolutionären Endziels 2 fühlten sich die Faistas eher als CNT-Mitglieder denn als Anarchisten, die in einer reformistischen Organisation über die Reinheit der Lehre zu wachen hätten. Beide Organisationen CNT und FAI - lehnten den bestehenden Staat ab und erstrebten eine "Reorganisation des gesamten gesellschaftlichen Lebens auf der Basis des freien Kommunismus durch die direkte revolutionäre Aktion der Unterdrückten" 3 ; der organisierte Anarchismus bedeutete für die Zweite Republik - auch wenn er keine explizite 'Theorie' des Übergangs zum herrschaftsfreien Kommunismus entwickelte - zusammen mit den Sozialisten der UGT die 1
In den 1970er Jahren vertraten führende CNT- und FAI-Mitglieder (mit Unterschieden in den Nuancen) die fast übereinstimmende Meinung, die FAI habe weder die C N T beherrscht noch versucht, der Gewerkschaftsorganisation ihren Willen aufzuzwingen. Vgl. hierzu: Cuadernos de Ruedo Iberico, 147-246. Peirats: Anarquistas, 277, behauptet sogar, die FAI sei von der CNT beherrscht gewesen. Ihre angebliche Wächterrolle über die Prinzipien des "reinen" Anarchismus habe sich auf die antipolitische Einstellung und auf revolutionären Aktivismus beschränkt.
2
Hierzu: Estatutos generales de la FAI. Valencia 1927.
3
Prinzipienerklärung der IAA, 44.
78 größte revolutionäre Gefahr von links. Die verschiedenen Tendenzen innerhalb der CNT verschärften sich bereits gegen Ende der Diktatur Primo de Riveras, somit unmittelbar nach der FAI-Gründung. Einer der zentralen Diskussionspunkte war die Revolutionskonzeption der Anarchisten. Die führende Rolle der angestrebten Revolution wurde - im Gegensatz zum Marxismus - nicht dem Industrieproletariat zugesprochen; in Anlehnung an Bakunin gingen die spanischen Anarchisten vielmehr von der Vorstellung aus, eine primär auf die proletarisierten Bauern gestützte spontane Erhebung könne den Kapitalismus noch vor seiner Entfaltung zerstören. Diese sich auf die ländliche Kommune stützende Revolutionsvorstellung wurde in Spanien von dem einflußreichen Redaktionsstab der theoretischen anarchistischen Zeitschrift La Revista Blanca übernommen; in den ständigen publizistischen Aufrufen zur sozialen Revolution wurde der kleinen Landkorhmune eine ausschlaggebende Rolle zugesprochen: Da die Mehrheit der spanischen Bevölkerung in Landkommunen lebe, eigneten sich diese besonders zur gesellschaftlichen Reorganisation auf libertärer Basis. Die Revolutionsvorstellungen spanischer (besonders andalusischer) Anarchisten waren weitgehend von der agrarischen Lebenswelt geprägt, die sich erst im allmählichen Übergang zur bürgerlich-kapitalistischen Produktionsweise befand. Der auf "freien Municipien" basierende, Autarkie anstrebende wirtschaftliche Kommunalismus blieb bis zum Bürgerkrieg die Leitvorstellung dieses "maximalistischen" Kreises des spanischen Anarchismus. Er idealisierte den ländlichen Rahmen, der für die Lokalisierung der nachrevolutionären Gesellschaft in Agrarmunicipien konstitutiv sein würde, lehnte "Kultur und Weisheit" als verderbliche bürgerliche Relikte ab und strebte darauf hin, die Personen, die angeblich unersetzliche Funktionen ausübten und die sich daher gar selbst für unersetzlich hielten, ihrer Amter zu entheben, was für die neue Gesellschaft schon deshalb kein Problem darstellen würde, weil alle "Lebensfaktoren" auf "ein Minimum vereinfacht" sein würden. 4 Wenn auch Teile der CNT diese Revolutionsvorstellung nicht übernahmen, blieb doch für die Ausprägung des anarchosyndikalistischen Revolutionsbegriffs die Agrar- und Besitzstruktur Spaniens entscheidend. In der Illusion einer jederzeit realisierbaren, voluntaristischen Kriterien unterworfenen Revolution stellte sich "das Ende der Herrschaft des Menschen über den Menschen als eine gegen das jeweils waltende Unrecht moralisch aufgebrachte revolutionäre Volksbewegung" dar 5 , die - gewissermaßen als Voraussetzung zur sozialen Revolution - zuerst den Staat zerstören mußte. Dabei wurde die Analyse des Regelgefüges des bestehenden kapitalistischen Systems nicht ernsthaft in Angriff genommen; an die Stelle 4
Vgl. Qué es el comunismo libertario, in: La Revista Blanca Nr. 262 vom 25.1.1934.
5
Mattick: Marxismus, 202.
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(1931-1939)
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der Reflexion über die theoretischen Bedingungen der als Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit in Herrschaftsfreiheit imaginierten Anarchie trat der Glaube an die Realisierbarkeit dieses Endzustandes, ohne daß die Realisierungsproblematik aufgerollt worden wäre. Im rhetorischen Stereotyp der stets abrufbaren Revolution und in der Mythisierung des Generalstreiks wurde die hyperbolische Attitüde sichtbar, in der sich nicht so sehr die wirkliche revolutionäre Haltung als vielmehr der kompensatorische Glaube der Erniedrigten und Gekränkten an eine solche revolutionäre Tatkraft offenbarte. Der "reformistische" Syndikalist Juan Peirö übernahm 1930 die Bestimmungen des CNT-Gründungskongresses, denen zufolge der revolutionäre Syndikalismus als Mittel, der Anarchismus als Endziel der Arbeiterbewegung interpretiert wurden. Peirö betonte in seinen Schriften vor allem die Erforderlichkeit solider technischer Vorbereitung zur Übernahme der Produktion, ausreichender Ausbildung zur Bewältigung der wirtschaftlichen Probleme und einer starken Organisation zur Verteidigung der Revolution. Habe sich diese erfolgreich durchgesetzt, so verliere in der "stabilisierten Phase" der Syndikalismus seine bisherige Bedeutung zugunsten der Kommune, die dann den "Schnittpunkt aller individuellen, moralischen und wirtschaftlichen Werte der Gesellschaft" darstelle. 6 Die größte Gefahr für eine erfolgreiche Durchführung der Revolution sah Peirö einerseits in der anarchistischen Ablehnung der notwendigen Organisation, andererseits in der Überbetonung der Spontaneität. Peirös Schrift bedeutete die Einleitung zu einer von 1931 bis 1936 offen und erbittert geführten Auseinandersetzung zwischen den extremen Flügeln von CNT und FA1.7 Der putschistischen Praxis-Besessenheit der Anarchisten um die Zeitschrift La Revista Bianca mit ihrem Glauben an die unmittelbare Realisierbarkeit ihres Endziels setzte der französische IAA-Funktionär Pierre Besnard für die vorrevolutionäre Phase die organisatorische Funktion der Gewerkschaft, für die nachrevolutionäre den "freiheitlichen Kommunismus" als Übergangsstadium und erste Etappe auf dem Weg zum "freien Kommunismus" entgegen. Damit erhielt der freiheitliche Kommunismus eine der "Diktatur des Proletariats" im Marxismus vergleichbare Funktion zugesprochen. 6
Peiró: Problemas, Kap. IX. Über die N o t w e n d i g k e i t der Vergesellschaftung der Produktionsmittel bestand bei allen anarchistischen Theoretikern seit der Ersten Internationale bis über den Bürgerkrieg hinaus Einigkeit; die schwierigere Frage der Distribution und Konsumtion der Güter konnte jedoch nicht übereinstimmend geklärt werden.
Dieser
Aspekt der sozialisierten Wirtschaft führte im Bürgerkrieg zu unterschiedlichen Realisierungen.
80 In der nicht ohne persönliche Härten geführten Diskussion wurde das Problem der Herbei- und Durchführung der sozialen Revolution nach der Proklamierung der Zweiten Republik und dem Bruch innerhalb der CNT von unmittelbar "praktischer" Relevanz. Die gemäßigteren CNT-Mitglieder hatten den steigenden FAI-Einfluß im Anarchosyndikalismus mit zunehmender Sorge beobachtet und sich im August 1931 entschlossen, in einem gemeinsamen Manifest ihre Position - die sie für die "ursprüngliche" revolutionär-syndikalistische hielten - von der der 'Faisten' abzugrenzen. Beide Gruppen differierten primär in bezug auf Strategie und Taktik der sozialen Revolution. Die gemäßigteren Kräfte, die sich Treintistas nannten, warfen der FAI die Überbetonung voluntaristischer Elemente, maximalistische Erwartungen, Blanquismus und bolschewistische Methoden vor 8 ; führende FAI-Mitglieder sahen demgegenüber mit der Republik die Gefahr gekommen, die anarchistische Bewegung könne "in den Sozialdemokratismus fallen" 9 , und betonten daher die nur vom Willen revolutionärer Gruppen abhängige Realisierbarkeit des sozialen Umsturzes. Dieser "vereinfachenden, klassischen und etwas träumerischen Vorstellung von Revolution" (7ra/2f