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German Pages 232 Year 2004
CQMMUNICATI(
)
Band 3 2
Studien zur europäischen Literatur- und Kulturgeschichte Herausgegeben von Fritz Nies und Wilhelm Voßkamp unter Mitwirkung von Yves Chevrel und Reinhart Koselleck
Markus Raith
Erzähltes Theater Szenische Illusionen im europäischen Roman des 19. und frühen 20. Jahrhunderts
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2004
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort
D93 Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-63032-9
ISSN 0941 -1704
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2004 http:/'/www. niemeyer. de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz und Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Buchbinderei Geiger, Ammerbuch
Vorbemerkung
Mein herzlicher Dank gebührt zuallererst Prof. Dr. Volker Klotz für die - in fachlicher wie in persönlicher Hinsicht — stete und vorbildliche Betreuung der Arbeit; sodann der Landesgraduiertenförderung Baden-Württemberg für die Gewährung eines Stipendiums und der Verwertungsgesellschaft Wort, mit deren Unterstützung diese Arbeit gedruckt ist. Beide Institutionen haben das Erscheinen von Erzähltes Theater erst ermöglicht. Für die freundliche Aufnahme danke ich den Reihenherausgebern Prof. Dr. Fritz Nies und Prof. Dr. Wilhelm Voßkamp sowie dem Max Niemeyer Verlag; fruchtbare und anregende Diskussionen verdanke ich allen Teilnehmern des Doktorandenkolloquiums an der Universität Stuttgart. Schließlich wäre diese Arbeit nicht zustande gekommen ohne die fortwährende Unterstützung und Ermutigung durch meine Eltern, die immer vorbehaltlos fur mich da waren.
A mon ange simplement et heureusement present
»Hier on m'a mene au theatre. Dans des palais grands et tristes [...] des hommes et des femmes, serieux et tristes aussi, mais bien plus beaux et bien mieux habilles que ceux que nous voyons partout, parlent avec une voix chantante. [...] Et puis, ce qui est plus singulier, cela donne envie d'etre habille de meme, de dire et de faire les memes choses, et de parier avec la meme voix ...« (Baudelaire: Les Vocations)
»An dem geschmückten Theater hoch oben die Goldfigurn - schau nur, Voller Verachtung siehst du: Holz ist's, von Blech nur bedeckt. Aber das Volk darf erst dann, wenn sie fertig sind, ihnen sich nähern.« (Ovid: Liebeskunst)
»Die Menschen sind furchtbar vom Licht entstellt, Das von ihren Gesichtern träuft, und haben sie nachts sich zusammengesellt, So schaust du eine wankende Welt" (Rilke: Menschen bei Nacht)
Inhaltsverzeichnis
1.
EINLEITUNG
1
2.
VORÜBERLEGUNGEN
5
3.
T H E A T E R IM R O M A N BIS ZUR M I T T E DES 1 9 · J A H R H U N D E R T S
3.1. 3.2. 3-3. 3.4. 3.5.
4.
Ursprünge Theater in Romanen des 18. Jahrhunderts Vom Theater-Spielen zum Theater-Schauen Theater als gesellschaftliches Ereignis Die Rezeption des Bühnenspiels in Balzacs Illusions (1837-1844)
. . .
perdues
TEXTANALYSEN
4.1. 4.2. 4.3. 4.4. 4.5.
Gustave Flauberts Madame Bovary (1857) Emile Zolas Nana (1880) Herman Bangs Stuck (1887) Oscar Wildes The Picture of Dorian Gray (1890) Thomas Manns Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull (Fragm. 1922) 4.6. Marcel Prousts A la recherche du temps perdu (1918/1920) . . . .
5.
11
11 12 18 20 25
31
31 54 78 102 122 141
E R G Ä N Z E N D E B E I S P I E L E AUS DER EUROPÄISCHEN LITERATUR DES 1 9 - U N D F R Ü H E N 2 0 . J A H R H U N D E R T S
165
5.1. 5.2. 5.3. 5.4. 5.5. 5.6.
165 170 175 179 183
Emile Zolas La Curee (1871) Herman Bangs Hoffnungslose Geschlechter (1880) Heinrich Manns Im Schlaraffenland (1900) Heinrich Manns Die Jagd nach Liebe (1903) Dezsö Kosztolänyis Lerche (1928) Weitere Varianten des Sujets im 19. und frühen 20. Jahrhundert 5.6.1. Exkurs: Opern Richard Wagners im Roman
189 191
χ 6 . SCHLUSSFOLGERUNGEN
6.1. Erzähltes Theater und Romanpoetik 6.1.1. Die Welt als Bühne 6.1.1.1. Spezifische Maßnahmen zeitgenössischen Theaterbetriebs 6.1.1.2. Allgemeine Wesensmerkmale von Bühnenkunst 6.1.2. Potenzierung ästhetischer Illusion 6.2. Ausblick auf die weitere Entwicklung des Sujets im 20. Jahrhundert 7.
BIBLIOGRAPHIE
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195 196
. . .
197 200 204 215 219
1. Einleitung
Das Verhältnis des deutschen Romanciers zum Theater ist besonders; es ist nichts weniger als ein Unverhältnis. Es ist immer bestimmt und klassisch geheiligt durch die Herzensangelegenheit, mit der der repräsentative Roman der Deutschen, Goethes prosaisches Lebenswerk, davon handelt. Daß Wilhelm Meister, im Kern, ein Theaterroman ist, will hier alles besagen. 1
Wie im 19· Jahrhundert vom Theater erzählt wird, hat zumal in Deutschland eine besondere Vorgeschichte, die ins 18. Jahrhundert zurückreicht: nämlich die Lebensgeschichte des bühnenbegeisterten Wilhelm Meister, die Goethe episch entfaltet. Sie wirkt lange nach: nicht nur auf die schreibende Zunft, sondern auch auf jene, die sich des Geschriebenen annehmen. Das von Thomas Mann erwähnte Verhältnis - oder genauer: Unverhältnis - des deutschen Romanciers zum Theater findet sich in der Literaturkritik wieder. Die Bühne ist beileibe nicht nur in Wilhelm Meister, sondern auch in vielen anderen deutschen Romanen, vor allem denen des 18. Jahrhunderts, ein beliebter Darstellungsgegenstand und somit nicht eben selten Objekt literaturwissenschaftlichen Interesses. Dieses richtet sich freilich in der Germanistik hauptsächlich auf die spezifisch deutsche und von Goethe maßgeblich geprägte Bildungsidee, so daß sich entsprechende Untersuchungen weitgehend auf den Bildungs- und Entwicklungsroman des 18. Jahrhunderts und seine Epigonen im 19. Jahrhundert beschränken.2 Wie aber hält man es in den anderen europäischen Nationalliteraturen mit der Bühne als Sujet3 des Romans? Etwa in der französischen oder englischen, 1 2
3
Thomas Mann: Altes und Neues. Kleine Prosa aus fünf Jahrzehnten. Rede über das Theater zur Eröffnung der Heidelberger Festspiele 1929, Frankfurt a. M. 1953. Neben älteren Arbeiten, vor allem denen Eckehard Catholys, nehmen sich auch zwei neuere Arbeiten des Sujets an. Wolfgang Ramjoue: Theater im Bildungsroman. Ein Beitrag zur Phänomenologie des Theaters, Diss, (masch.), Wien 1970 und Rolf Selbmann: Theater im Roman. Studien zum Strukturwandel des deutschen Bildungsromans, München 1981. Noch Selbmann (S. 9) konstatiert: » [ . . . ] die Rede über das Theater im Roman des 18. und 19- Jahrhunderts wird geradezu zum Synonym für eine Geschichte des Bildungsromans.« Sujet meint hier nicht, daß der Roman ausschließlich oder auch nur hauptsächlich die Bühne zum Gegenstand habe. Anvisiert werden also nicht sogenannte Theaterromane, die die Welt der Bühne episch exklusiv ausbreiten, sondern vielmehr Romane, in denen unter anderem vom Theater erzählt wird; aber eben doch so, daß dieses Thema für das Gesamtverständnis des Werks unerläßlich ist, daß seine Funktion also über die eines bloßen Motivs hinausgeht. Was in dieser Arbeit ebenfalls
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1.
Einleitung
die nicht auf Figuren wie Anton Reiser und Wilhelm Meister zurückblicken können. Die Textbeispiele lassen vermuten, daß dieser Mangel kein solcher ist, sondern, ganz im Gegenteil, die Möglichkeit eröffnet, das Theater eben nicht vordergründig als Bildungsanstalt aufzufassen, sondern andere Aspekte in den Mittelpunkt sowohl epischen als auch literaturwissenschaftlichen Interesses zu rücken. Zugespitzt lassen sich aus dieser Überlegung Absicht, Textauswahl und Ziel unserer Untersuchung formulieren: Während hierzulande der Bildungsproblematik oft an zweitklassigen deutschen Romanen bis ins späte 19· Jahrhundert nachgegangen wird, erlebt das Theater in den impulsgebenden Werken der europäischen Erzählkunst dieses Zeitraumes eine veritable Renaissance mit ganz anderen, neuen Funktionen4 — allerdings finden sich weder in der Romanistik und Anglistik noch in anderen Philologien Untersuchungen, die sich dieses Sachverhalts in seiner Gesamtheit, über die Analyse von einzelnen Autoren hinaus, annehmen. Die neuen Funktionen des Sujets, wie sie sich zumal in französischen Romanen bereits in der ersten Hälfte des 19· Jahrhunderts herauskristallisieren, sollen hier erörtert werden: an Werken, die gerade nicht von schauspielernden Wandergesellen im Gefolge Wilhelm Meisters, sondern vom gesellschaftlichen Ereignis Theater erzählen; deren Hauptfiguren gerade nicht auf der Bühne agieren, sondern im Zuschauerraum reagieren; die vom Blick des Publikums auf ein inszeniertes Illusionsspektakel berichten; die den Lesern Wahrnehmungsprozeduren vergegenwärtigen, in deren Mittelpunkt die Frage nach der aistbesis steht; in denen schließlich von szenischer Illusion im doppelten Sinn, also von Illusionen, erzählt wird: von der auf der Bühne erzeugten Illusion und von der dadurch angeregten Vorstellungskraft der Zuschauer, die gleichsam vor ihrem inneren Auge Illusionen ganz eigener, oft ebenfalls szenischer Art entstehen lassen. Eine solche Perspektive auf das Sujet ist auch für die deutsche Literatur des späten 19- und frühen 20. Jahrhunderts nur im europäischen Kontext ergiebig. Immerhin ist dieser Zeitraum, in dem das Theater zu einem wichtigen epischen Darstellungsgegenstand avanciert, für den Roman von großer Bedeutung. Hier wird der Nährboden für den Roman des 20. Jahrhunderts bereitet. Hier erlebt aber auch das bürgerliche Theater in seinen mannigfaltigen Formen — vor
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nicht oder nur am Rande untersucht wird: Drameneinlagen im Roman oder die direkte Übernahme spezifisch dramatischer Mittel wie Dialoge, Regieanweisungen, Auflistung des Personals etc.; nostalgisch behandelte Theaterepisoden, in denen beispielsweise von Wanderbühnen erzählt oder die Lebensgeschichte von Schauspielern ausgebreitet wird. Erst fur das 20. Jahrhundert gibt es in der Germanistik mit Monika Hockers Studie zum erzählten Theater bei Heinrich Mann eine Arbeit, in der zumindest ein kleiner Teil dieser Funktionen am Werk eines einzelnen Autors untersucht wird. Vgl. Monika Hocker: Spiel als Spiegel der Wirklichkeit. Die Theateraufifuhrungen in den Romanen Heinrich Manns, Bonn 1977.
1. Einleitung
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allem Schauspiel, Oper und Operette 5 - eine Blütezeit und gelangt, ebenfalls europaweit, zu ungeheurer Popularität. Aus übernationaler Perspektive soll also untersucht werden, wie vom Theater erzählt wird. Dabei gilt es, eine Hypothese zu überprüfen: Die Bühne ist weit mehr als nur ein epischer Schauplatz unter vielen. Anders als Pferderennbahn, Börse und ähnliche Lokalitäten, auf denen sich die zumeist bürgerlichen Romanfiguren bewegen, ist das Theater als Ort der dramatischen Kunst und als Modell ästhetischer Kommunikation funktional auf die Struktur des Romans und seine Gestaltungsmittel bezogen. An erzähltem Theater lassen sich grundlegende Tendenzen in der Entwicklung der Romanpoetik vom späten 19. bis ins frühe 20. Jahrhundert verfolgen, die maßgeblich fur das 20. Jahrhundert insgesamt sind. Anders gesagt: Vom Romansujet Theater her kann die Entwicklung der Gattung in einem wichtigen Zeitraum des Umbruchs und des Wandels besser verstanden werden-. Erörtert werden daher einerseits Werke, deren Bedeutung und Neuerungskraft fur die Erzählkunst unumstritten ist: weltberühmte Romane von Flauberts Madame Bovary bis zu Thomas Manns Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Sie sind aufgrund ihrer Geltung häufig analysiert worden und haben unterschiedlichste Deutungen erfahren. 6 Unter dem Gesichtspunkt >Erzähltes Theater« soll eine neue Perspektive auf diese anscheinend längst transparent gemachten Werke erschlossen werden. Vorgestellt werden andererseits aber auch weniger bekannte Romane, die kleineren, meist ins Abseits gedrängten Nationalliteraturen angehören. Daß diese Länder überaus wichtige und für die Entwicklung des Romans aufschlußreiche Werke zu bieten haben, zeigt nicht nur Stuck des Dänen Herman Bang, der sich lange Zeit vor Heinrich Mann und der allgemeinen deutschen Bühnenbegeisterung um die Jahrhundertwende des Theaters episch angenommen hat, sondern auch Lerche, ein Roman des Ungarn Dezsö Kosztolänyi. Beide stehen gleichberechtigt in einer Reihe mit Werken von Zola, Wilde, Proust und den Brüdern Mann, um eine Entwicklung in der Behandlung des Sujets nachzuzeichnen, die zwar nationale Unterschiede erkennen läßt, aber nur übernational zu erfassen und zu verstehen ist.
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Auf diese Formen des Theaters konzentriert sich die Untersuchung; auf Formen also, die den Zuschauer mit einer fiktiven Handlung konfrontieren und nicht nur artistische Darbietungen aneinanderreihen wie Cabaret, Variete etc. Die Aufnahme überwiegend weltberühmter Romane in das Textkorpus wirkt sich auch methodologisch aus. Angesichts der Fülle bereits existierender Fachliteratur scheint es ratsam, diese nur in zwingenden Einzelfällen heranzuziehen. Für die Interpretation der Haupttexte, deren Ergebnisse weitere Beispiele vertiefen und erweitern, werden daher — in einem gesonderten Kapitel zu Beginn der Arbeit — eigene Untersuchungskategorien mit einem entsprechenden Begriffsinstrumentarium entworfen.
2. Vorüberlegungen
Bühnen- und Erzählkunst reflektieren immer auch ihre eigene Tätigkeit: als Erzählen im Erzählen, wenn in der Odyssee der epische Rhapsode Demodokos im Kreise seiner Zuhörer auftritt; wenn im Decamerone von einer Erzählrunde berichtet wird, die sich fern von der Stadt Florenz versammelt, um der Pest zu entfliehen; wenn Scheherazade Geschichten aus Tausendundeiner Nacht erzählt, um ihr Leben zu retten; wenn in Romanen Eichendorffs die handelnden Personen Märchen und Novellen vortragen; wenn schließlich in Gides Les faux-monnayeurs von der Entstehung eben dieses Romans erzählt wird. In der Bühnenkunst als Spiel im Spiel, 1 etwa die berühmte Schauspielerszene in Hamlet, in Corneilles L'illusion comique, in Tiecks Oer gestiefelte Kater, aber auch im zwanzigsten Jahrhundert bei Pirandello und anderen. Das Theater taucht seit dem sechzehnten Jahrhundert bis in die Gegenwart immer wieder als Sujet der Bühnenkunst auf. Wie im Theater über Theater, also die eigene Kunstform verhandelt wird, kann daher zunächst als Folie herangezogen werden, um hernach die Frage nach dem Vorkommen der Bühne in einer anderen Gattung, dem Roman, zu stellen. Die Reflexion über das Theater entspringt dem in der gesamten europäischen Literatur seit der Antike aufzufindenden Topos vom theatrum mundi.2 Vor allem die Bühnenkunst entwickelt ein eigenes formales Mittel, um die Vorstellung von der Welt als Theater zu vergegenwärtigen: eben das Spiel im Spiel. Dabei wird innerhalb des aufgeführten Stücks ein weiteres Schauspiel aufgeführt. Die Bühnenakteure nehmen die Rolle der Zuschauer ein, werden aber gleichzeitig vom eigentlichen Publikum beobachtet. Dieser Potenzierungs- und Autoreflexionsmechanismus basiert, ähnlich wie entsprechende epische Strategien, im wesentlichen auf dem »Prinzip der Analogie«: 3 Die künst1
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3
Zur Problematik dieser Terminologie — insbesondere das Nebeneinander verschiedener Bezeichnungen wie Theater auf dem Theater, Spiel im Spiel, Metatheater usw. (englisch play within a play und französisch theatre dans le theatre) — und zu den vielfältigen Formen dieser Erscheinung, die nicht immer im strengen Sinn ein Schauspiel im Schauspiel umfassen, vgl. die Arbeiten von Manfred Schmeling: Das Spiel im Spiel. Ein Beitrag zur Vergleichenden Literaturkritik, W A Gütersloh 1977 und Karin Schöpflin: Theater im Theater. Formen und Funktionen eines dramatischen Phänomens im Wandel, Frankfurt a. M. 1993. Vgl. Ernst-Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 6. Auflage, Bonn 1967, S. 1 4 8 - 1 5 4 . Schmeling, S. 7.
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2. Vorüberlegungen
lerische Selbstbespiegelung operiert zumeist mit ihren eigenen Formen und Inhalten. Das Kunstwerk en miniature gleicht dem, dessen Teil es ist. Vor allem zwei Funktionen lassen sich in der wechselvollen Geschichte des Spiels im Spiel ausmachen. Zunächst jene philosophisch-metaphysische, der die Reflexion über das Theater ihre Entstehung verdankt: die Vorstellung von der Welt als Bühne, die sich einem göttlichen Betrachter darbietet. Vor allem im spanischen Barockdrama, pointiert in Calderons El gran teatro del mundo, und im elisabethanischen Drama wird Theater in diesem Kontext vorgeführt. Hier findet sich aber auch - namentlich bei Shakespeare - eine zweite Funktion des Sujets, die sich auf die Kunstform Drama selbst bezieht: das Spiel im Spiel als »immanente Poetik«, 4 als Verfahren, die eigene Illusionsprozedur offenzulegen und somit zu thematisieren. Die Bühnenkunst entwickelt also bereits seit der Renaissance ein eigenes, auf ihre Darbietungsweise abgestimmtes Darstellungsmittel, um Theaterspielen vorzuführen, das Spiel im Spiel. Zu fragen ist nun: Wie wird dies in Romanen gemacht? Und allgemeiner: Wie geht die Erzählkunst mit einem anderen Modell ästhetischer Kommunikation um? In einer Kunstform, dem Roman, wird von einer anderen Kunstform, dem Theater, berichtet. Beiden gemein ist die Illusionswirkung, die sie hervorrufen. 5 Beim Lesen beziehungsweise beim Zuschauen im Theater lassen sich die Rezipienten auf eine mit bestimmten Mitteln erzeugte fiktive Welt ein. Dem Blick der Theaterbesucher bietet sich freilich eine andere Art der Illusionserzeugung dar als dem der Romanleser: »dramatische Illusion« unterscheidet sich »qualitativ von narrativer grundlegend«. 6 Im Roman wird demnach ein Modell ästhetischer Kommunikation vorgeführt, das sich von dem eigenen wesentlich unterscheidet. Was den Lesern eines Romans allein mit den Mitteln der Sprache vergegenwärtigt wird, haben die Theaterbesucher leibhaftig vor sich. Zwar ba4 5
6
Schmeling, S. 45ff. Der Begriff der Illusion beziehungsweise der Illusionierung wird in der Literaturwissenschaft in verschiedener und oft mißverständlicher Weise gebraucht. Gemeint ist zunächst ganz allgemein die »ästhetische Illusion«, die jedem Kunstwerk zugrunde liegt: »Ästhetische Illusion wirkt [ . . . ] immer als Schein des Erlebens von Wirklichkeit, [...]. Bei Kunstwerken, die nicht nur ein O b j e k t vorstellen (wie dies Zeuxis und Parrhaios tun), sondern eine ganze kleine Welt entwerfen (wie dies in der Landschaftsmalerei, im Drama oder auch in der Erzählkunst möglich ist) [...], fuhrt solches Erleben beim Rezipienten regelmäßig zum Gefühle des Hineinversetzt-Werdens in diese (Fiktions-) Welt.« Werner Wolf: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst, Tübingen 1993, S. 31. Solcherart definiert besitzt der Begriff für Theater und Roman gleichermaßen Gültigkeit. Illusionierung besteht demnach in der Eigenart des Romans, einen fiktiven Sachverhalt zu präsentieren, welcher der Anteilnahme der Rezipienten bedarf. Das Sich-Einlassen auf eine Fiktion, das Vergegenwärtigen des Geschriebenen im Akt des Lesens, macht jeder Roman per se - auch die auf Illusionsdurchbrechung abzielenden Romane des 20. Jahrhunderts von Joyce bis zum >Nouveau Roman< — zu einet minimalen Anforderung an seine Leser. Wolf, S. 17ff.
2. Vorüberlegungen
7
siert auch das dargebotene Stück auf einer Textvorlage; was die Zuschauer aber auf der Bühne sehen, existiert tatsächlich und entspringt nicht, wie beim Lesen, einem bloß psychischen Transformationsprozeß, bei dem sprachliche Zeichen in eine imaginierte Welt umgewandelt werden — dies hat der Regisseur des Stücks bereits getan. Die Bühnenakteure, wenngleich fiktive Personen mimend, sind aus Fleisch und Blut, die Kulissen und Requisiten dreidimensionale Gegenstände. 7 Alles, was auf der Bühne zu sehen, zu hören und möglicherweise zu riechen ist, wird allerdings durch den institutionellen Rahmen Theater als Spiel markiert. Er garantiert, daß [...] die Beziehung zwischen Bühne und Publikum eine doppelseitige ist: erstens eine von der Bühne ausgehende Wirkung, zweitens eine dadurch angeregte Mitwirkung des Publikums, die auf die Bühnenvorgänge gerichtet ist. Die erstere Komponente wird vor allem getragen von der sinnlich wahrnehmbaren Gegenständlichkeit der Bühnenwelt [...]. All dieses zielt in der Tat auf Illusion, also auf Vortäuschung von Realität; sie wird nur durch die Kontrolle des Spielbewußtseins nicht total, erweckt aber doch den Eindruck der unmittelbaren Nähe [.. .]. Der erste Vorgang ist also ein - vom Publikum gesehen - passiver, ein Ergriffenwerden von der sinnlichen Gegenwärtigkeit des Spiels; der zweite Vorgang ist ein aktiver, genauer: ein re-aktiver, gleichsam die Anerkennung der Spielregeln, wonach Gestalten, Raum und Zeit der Bühne usw. als etwas anderes zu gelten haben, als sie realiter sind. Dieses HineinSpielen, das qualitativ vom Sichtäuschenlassen, der Illusion unterschieden ist, wollen wir in Anlehnung an die wörtliche Bedeutung als In-lusion bezeichnen. 8
Zwischen Bühnenspiel und Zuschauern besteht gleichsam ein ungeschriebener Vertrag, der von den Rezipienten Nähe und Distanz zugleich erfordert: »Das, was auf der Bühne gezeigt wird, ist Spiel. Innerhalb der Spielsphäre nimmt man jedoch alles ernst.« 9 Um das Stück angemessen zu rezipieren, müssen die Zuschauer sich also einerseits auf das Gespielte einlassen, andererseits aber auch Distanz zu den Vorgängen auf der Bühne wahren: physisch — Zuschauerraum und Bühne sind räumlich voneinander getrennt - und psychisch - das Wissen vom Spielcharakter des aufgeführten Stücks darf nicht verloren gehen. Sind diese Voraussetzungen gegeben, ist die Anteilnahme des Publikums am Bühnenspiel dergestalt, daß es ästhetischen Nutzen aus der Auffuhrung zieht: »Das ästhetische Verhältnis der In-lusion ist das einzige, das diese zwei entgegengesetzten Haltungen vereint: persönliche Anteilnahme und urteilende Distanz.« 10 Die Inlusion der Zuschauer verhindert ihre vollständige Illusionierung durch 7
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9 10
Dies ist auch nach Schöpflin (S. 4) distinktives Merkmal der Bühnenkunst: »Die unmittelbare, auch konkret physische Beteiligung von Menschen, die den Text zum Leben erwecken oder den inszenierten Text wahrnehmen, macht also die eigentliche Besonderheit des Theaters aus.« Joachim Voigt: Das Spiel im Spiel, Göttingen 1965, S. 4. Auch Werner Wolf (S. 26) hebt die Fähigkeit zur inlusio als distinktives Merkmal angemessener Rezeption hervor. Schöpflin, S. 5. Voigt, S. 6.
8
2.
Voriiberlegungen
die Vorgänge auf der Bühne. Mit dem Begriffspaar Inlusion und Illusion als funktionierendem und nicht funktionierendem Einspielungsvermögen läßt sich die Wirkung des Stücks auf das Publikum fassen. Erzählt wird von diesem Widerspiel zwischen Rezipient und Fiktion in den Werken, die hier zu untersuchen sind. Die Vorgänge auf der Bühne, die Wirkung ihrer optischen und akustischen Reize auf die Zuschauer, werden im Roman mit den Mitteln der Sprache vergegenwärtigt. Zur epischen Darstellung kommt mithin eine Apperzeptionsprozedur, die es zweifach zu analysieren gilt. Inhaltlich ist zu untersuchen, wie die Zuschauer das aufgeführte Bühnenspiel wahrnehmen, wie sie auf das reagieren, was ihnen vorgespielt wird. Und formal ist zu untersuchen, wie der Romancier diesen Vorgang erzählstrategisch gestaltet, etwa stilistisch, syntaktisch oder metaphorisch; wie den Lesern also ein fiktiver Sachverhalt vermittelt wird, der eben davon handelt: von einer fiktiven Darbietung und ihrer Rezeption; oder anders gesagt: wie der Romancier seinen Darstellungsgegenstand vermittelt, der ebenfalls ästhetisch, mit den nämlichen Strategien, aber eben szenisch und nicht episch, operiert. Im Kontext dieser gestuften Illusionierung geht es am Beispiel der ausgewählten Romane einerseits mikroskopisch um das erzählte Wechselspiel von Bühne und Publikum, von Aktion und Reaktion; andererseits makroskopisch um die Bezüge der Theaterepisode(n) zum übrigen epischen Geschehen. Das Theatererlebnis der Romanfiguren hat eine Vorgeschichte, es hat gleichsam ein Nachspiel und es wird in ganz bestimmter Weise von diesem Ereignis und seinen Folgen berichtet. Innerhalb des Romans wird die Theaterepisode auf jeweils andere Art und Weise mit dem, was ihr vorausgeht beziehungsweise nachfolgt, verknüpft und übt so eine oder mehrere Funktionen im Gesamttext aus. Die Analyse der Theaterepisode visiert letztlich einen allgemeineren Erkenntniszusammenhang an: Gehen vom Bühnenbesuch der Romanfiguren und den epischen Verfahren, mit denen diese Episoden gestaltet werden, entscheidende Impulse für das Verständnis des Gesamttextes und seiner Poetik oder gar für weitere Werke des Verfassers aber auch anderer Romanciers aus? Die Fragestellung dieser Arbeit ist also zuvorderst poetologisch. Erörtert werden soll, wie im Roman mit einer anderen Kunstform und ihren Darstellungsmitteln umgegangen wird. Sie ist allerdings nicht in erster Linie allgemein poetologisch, sondern konzentriert sich auf eine bestimmte literatur- und sozialgeschichtliche Entwicklungsstufe, das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert. In diesem Zeitraum manifestieren sich die Folgen eines fundamentalen Wandels, dem die Institution Theater seit dem späten 18. Jahrhundert ausgesetzt ist. Die Bühne wird Teil einer Unterhaltungsmaschinerie, die das Leben in den großen Städten und namentlich in Paris, der >Hauptstadt des 19. Jahrhunderts< prägt. Der Theaterbesuch gerät zum Faszinosum einer bürgerlich bestimmten Gesellschaft, die sich in den Logen und Wandelgängen ihrer prunkvollen Theaterbauten zeigt.
2. Vorüberlegungen
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In diesem Zeitraum gelangt aber auch die Erzählkunst selbst zu einer neuen, in diesem Ausmaß nie dagewesenen Popularität. Sowohl als Kunstform wie auch als Medium der Massenunterhaltung tritt der Roman endgültig aus dem Schatten der althergebrachten Epik und entwickelt sich von einer vormals >niederen< zu einer der wichtigsten Gattungen des 19. Jahrhunderts. Es geht also um das Wechselverhältnis zweier Kunstformen, die beide einen großen Aufschwung erleben und sich innerhalb dieser Phase wesentlich weiterentwickeln. Die ausgewählten Romane werden in chronologischer Reihenfolge vorgestellt, um zu zeigen, wie sich literaturgeschichtliche Neuerungen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts durchsetzen und welcher Art sie sind. Unsere Vorgehensweise läßt sich dabei, zusammenfassend, in drei Schritte unterteilen. Der deutenden Analyse der einzelnen Beispiele folgt zunächst ihre literaturgeschichtliche Positionsbestimmung und schließlich — von Fall zu Fall — eine Perspektivierung dieser Ergebnisse auf außerliterarische Phänomene. 11 In den erörterten Romanen wird ja von einer Kunstform erzählt, die wie keine andere an gesellschaftliche und technische Veränderungen gebunden ist. Neben den elementaren Konstanten von Bühnenkunst - also den grundsätzlichen Merkmalen dieser Kunstform wie etwa die nachahmende Verstellung von Menschen für Menschen — wird gerade von den wechselnden, historisch in jeweils unterschiedlicher Ausprägung vorherrschenden Aspekten des Theaterbetriebs erzählt: von Bühnentechnik, Inszenierungspraxis und Spielstätte oder von der Sozialstruktur des Publikums. Vor allem im Untersuchungszeitraum ist die Bühne an den raschen Wandel großstädtischer Lebensform gekoppelt. Sie wird Teil einer hauptsächlich bürgerlich geprägten Urbanen Kunst- und Vergnügungskultur und profitiert dabei von zahlreichen technischen Erfindungen. Sie wird aber auch zunehmend als wirtschaftlich arbeitendes Unternehmen geführt. Diese Wechselwirkungen zwischen Technik- beziehungsweise Sozialgeschichte einerseits und der Anschauungsform des Theaters andererseits gilt es in den Romanen aufzuspüren und abschließend für das Verständnis der einzelnen Theaterepisoden wie der Entwicklung des Sujets insgesamt fruchtbar zu machen.
11
Es sollen also, ganz allgemein gesagt, nicht-literarische Kulturdokumente mit den erörterten Romanen in einen Aussagezusammenhang gebracht werden: dahingehend, daß Querverbindungen ästhetischer, gesellschaftlicher, technischer und wahrnehmungspsychologischer Natur in der Entwicklung von Theater- und Sozialgeschichte am Beispiel der Erzählkunst offengelegt werden.
3.
Theater im Roman bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts
3.1.
Ursprünge
Als eigenständiges Sujet — und nicht nur als theatrum mundi Metapher — beg e g n e t uns das Theater in R o m a n e n des 1 7 . Jahrhunderts. N a c h d e m Vorbild spanischer Schelmenromane ensteht Paul Scarrons Roman comique ( 1 6 5 1 / 1 6 5 7 ) , in d e m von einer umherziehenden W a n d e r b ü h n e berichtet wird, deren Berufsvertreter einer verachteten sozialen Schicht angehören. Die Schauspieltruppe fungiert als komischer gesellschaftlicher Gegenpart zu den Heroen höfischer E p i k , auch und zumal in ihrer Eigenschaft als Kollektiv. Scarrons Roman comique erlangt als Parodie auf idealisierende Pastoral- und R i t t e r r o m a n e g r o ß e P o p u larität. H i e r findet sich eine überwiegend positive Darstellung des Theatermilieus, 1 wie sie schon in El Viaje entretenido de Agustin
de Rojas ( 1 6 0 3 ) des
Spaniers A g u s t i n de Rojas entworfen worden ist. D i e Schauspieler, obgleich von der Gesellschaft wegen ihrer Freizügigkeit verachtet, werden ausdrücklich als »gens de m e r i t e « 2 bezeichnet. 1
Das Wanderbühnenleben ist ansonsten allerdings häufig negativ besetzt: als Welt der fahrenden Komödianten, der zwielichten Gestalten und Außenseiter, die den Seßhaften aufspielen. Die Schauspieler erscheinen hauptsächlich als Vertreter einer stigmatisierten Berufsgruppe, einer niederen sozialen Schicht. In der deutschen Literatur findet sich etwa in Johann Riemers Der Politische Stock-Fisch (1681) die Geschichte des verarmten Grafen Solande, der sich im Laufe des Romans einer Theatertruppe anschließt: »Es ist die erste ausfuhrliche Theaterepisode im deutschen Roman, mit entgegengesetzter Bewertung wie in Wilhelm Meisters theatralischer Sendung·, das Theaterdasein zeigt einen fur den Leser interessanten Abstieg des Helden in eine Gesellschaftsschicht, in der er nicht etwa nur fehl am Platz, sondern sogar in seinem eigentlichen Menschsein, dem politischen, gehindert ist.« Arnold Hirsch: Bürgertum und Barock im deutschen Roman. Zur Entstehungsgeschichte des bürgerlichen Weltbildes, 3. Auflage, Köln 1957, S. 69· Eine ähnliche Bewertung des Bühnenmilieus findet sich auch bei Grimmelshausen. Simplizissimus, Hauptfigur des gleichnamigen Werks (1669), lernt in Paris die Welt des Theaters und vor allem die erotischen Reize der Schauspielerinnen kennen, die ihn zu verfuhren suchen, etwa im 4. Kapitel des 4. Buches Beau Alman wird wider seinen Willen in den Venusberg geführt. Das Wandertheater als Sammelbecken stigmatisierter Gruppen dient hier der sittlichen Erprobung jener Romanfiguren, die eigentlich einer anderen sozialen Schicht oder einem anderen Kulturkreis angehören.
2
Charles Dedeyan (S. 329) weist auf diesen Umstand hin: »Cette oeuvre [Le roman comique\ d.Verf.] ecrite avec le desir de divertir et de faire vrai, se presente en meme temps comme une apologie de la Comedie et des comediens. A une ou deux exceptions pres, nos acteurs sont d'honnetes gens et ä mainte reprise Scarron insiste sur ce point.« Charles Dedeyan: Le Roman comique de Scarron, Paris 1983.
12
3- Theater im Roman bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts
Als Romansujet ist das Treiben der Wanderbühnen über diese sozialen Aspekte hinaus von großer Bedeutung für die Gattung selbst. Der ambivalente Titel von Scarrons Werk weist auf dieses Wechselverhältnis hin. Das Adjektiv »comique« deutet einerseits an, wovon erzählt wird - vom Leben der Komödianten andererseits aber auch, wie erzählt wird: mit den Mitteln der Komödie, die sich als einzige Form innerhalb der zeitgenössischen Gattungspoetik eignet, der Erzählkunst ästhetische Impulse zu geben: aufgrund ihrer >niederen< Stillage und aufgrund ihrer abenteuerlichen, unterhaltsamen Sujets, die prädestiniert erscheinen, im komischen Roman als Gegenpart zur idealisierten Fabel der Ritterromane zu fungieren. 3 Maurice Lever verweist in diesem Zusammenhang auf eine weitere Funktion des Theatersujets bei Scarron: Le theatre est le lieu du voyage, dans l'espace comme dans l'imaginaire, car il renferme en lui toutes les possibilites. Porte sur la scene romanesque, il se dedouble, devient theatre dans le theatre, recreation d'une illusion par une autre illusion. Lepoque raffole de ces jeux de miroirs qu'avaient dejä illustres L'illusion comique de Corneille et le Saint Genest de Rotrou. 4
Das drameneigene Spiel im Spiel kommt hier — in abgewandelter Form — im Roman vor. Wie auf der Bühne dient es in der Erzählkunst der Verdoppelung ästhetischer Illusion und übt die Funktion eines poetologischen Spiegels aus: In einem Werk der noch jungen Gattung Roman wird mit Darstellungsmitteln gearbeitet, die einer anderen Gattung, der Komödie, entlehnt sind, um von eben dieser Kunstform und ihren Berufsvertretern zu berichten.
3.2. Theater in Romanen des 18. Jahrhunderts Zwar ist den Wanderbühnen im 18. Jahrhundert zunächst kein wirksames episches Weiterleben beschieden, weil diese Form erzählten Theaters mit dem Verschwinden des burlesken Romans ins Abseits gerät. Die Darstellungsmittel des Theaters und insbesondere der Komödie werden aber weiterhin für die Erzählkunst genutzt, nicht nur in Frankreich, sondern auch in England, wo sich »the rise of the novel«5 abzeichnet. In Richardsons Clarissa (1747/1748) etwa gehen sowohl Verfahren als auch Figuren der dramatischen Kunst ein. Man »denke nur an die typischen Charak-
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Dieses Wechselverhältnis der beiden Kunstformen gilt auch umgekehrt. So orientiert sich die neu entstehende >tragedie galante< am bereits etablierten und populären galanten Roman. Maurice Lever: Le roman frangais du XVII e siede, Paris 1981, S. 152. Ian Watt: The Rise of the novel. Studies in Defoe, Richardson and Fielding, London 1957.
3.2. Theater in Romanen des 18.
Jahrhunderts
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tere des Libertin 6 und der verfolgten Unschuld, an den sorgfältig geplanten Handlungsaufbau, die Nachahmung des Bühnendialogs und der theatralischen Gesten und an die Auffassung des >TragischenRestauration comedy< nachgebildet ist. Theodor Wolpers: Samuel Richardson, Clarissa. In: Franz Stanzel (Hg.): Der englische Roman, Düsseldorf 1969, Band I, S. 147. Vgl. auch S. 405, FN 56 zur Forschungsliteratur über diesen Aspekt. Henry Fielding: The History of Tom Jones, a foundling, Wesleyan University Press 1975. Vgl. auch Norbert Millers Einführung in die Romankunst Henry Fieldings. In: Henry Fielding: Sämtliche Romane in vier Bänden, München 1965. Auch der Erzähler in Sternes Tristram Shandy (1759/1767) bedient sich nicht nur der Bühnenmetaphorik, um seine Geschichte auszubreiten, sondern auch ihrer ästhetischen Mittel, wenn er etwa das Fallen des Vorhanges episch imitiert, den Leser also abrupt vom weiteren Gang der Ereignisse ausschließt.
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3. Theater im Roman bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts
mit der Sphäre des Spiels konfrontiert. Im Gegensatz zu Tom Jones hält Partridge angesichts von Hamlets Bühnenverhalten den auftretenden Geist zunächst fur real und beginnt, vor Angst zu zittern - er vermag nicht, Spiel und Realität zu scheiden. Auch Fielding variiert hier also das drameneigene Spiel im Spiel, überträgt es in die Erzählkunst und sondiert auf diese Weise episch das Verhältnis von Illusion und Wirklichkeit vor dem Hintergrund der theatrum mundi-Vorstellung. Das Spiel mit der ästhetischen Illusion und die Legitimierung einer noch jungen Gattung: Vor allem diesen beiden Funktionen dient Theater im englischen Roman des 18. Jahrhunderts. Durch die Übernahme spezifisch dramatischer und vor allem der Komödie entlehnter Sujets und Darstellungsmittel versuchen Autoren wie Fielding, Sterne, Richardson und Smollet den Roman gattungspoetisch zu legitimieren 1 0 und Interesse für die Erzählkunst zu wecken. Dies zeigt sich auch daran, daß Fielding seinen Tom Jones als »comic epic poem in prose« 1 1 bezeichnet und auf diese Weise versucht, ihm einen Platz im Gefüge der poetischen Gattungen zuzuweisen. Neben französischen Autoren, die ähnlich wie ihre englischen Zeitgenossen Themen und Verfahren des Theaters und namentlich der Komödie für die Erzählkunst fruchtbar machen, beispielsweise Marivaux in La vie de
Marianne
(1731/1741), finden sich im 18. Jahrhundert auch Romanciers wie etwa Lesage, die einerseits noch auf die Tradition des Pikaroromans und des rrnan comique zurückgreifen, andererseits aber schon Theater als soziales Spektakel in den Vordergrund rücken. An zwei Werken Lesages zeigt sich dies exemplarisch: an Gil Blas (1715/1735) und Le diable boiteux (1707/1726). Gil Blas ist nach dem Vorbild spanischer Pikaroromane entworfen und enthält eine Episode (Drittes Buch) über die Madrider Theaterwelt. Der umherwandernde Titelheld begibt sich in die Dienste der Schauspielerin Arsenie und gewinnt auf diese Weise einen Einblick in das intrigante Bühnenmilieu. Gil Blas se met dans le goüt du theatre; il s'ahandonne aux delices de la vie comique, et s'en degoüte peu de temps apres12 ist das siebte Kapitel betitelt, das den Lesern das Leben der Schauspieler über die in diese soziale Gruppe eingedrungene Sonde, die Hauptfigur des Romans, vorfuhrt. Komödiantisch ist aber nicht nur das Personal des Romans, sondern auch sein Aufbau. Viele Passagen des Romans ließen sich direkt auf die Bühne übertragen und schöpfen ihre Figurenkonstellation aus dem reichen Repertoire der Komödie, etwa die Herr-Diener-Dialek-
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Hier ist freilich die janusköpfige Rolle der Kunstform Drama im 18. Jahrhundert zu bedenken. Zumal in England, wo seiner theoretischen Fundierung der praktische Theaterbetrieb gegenübersteht, dem der Ruf der Frivolität anhaftet. Stanzel, S. 201. Alain-Rene Lesage: Histoire de Gil Blas de Santillane, Flammarion, Paris 1935, Band I, S. 195.
3·2. Theater in Romanen des 18.
Jahrhunderts
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tik, wie wir sie auch bei Marivaux finden. Diese Nähe zur Bühnenkunst macht Gil Blas zu einem veritablen »chef-d'ceuvre de la comedie-roman«. 13 Eine andere, für das Sujet bedeutsamere epische Strategie, vom Theater zu erzählen, benutzt Lesage in seinem Roman Le diable boiteux. Auf magische Weise verschafft der Teufel Asmodee dem Studenten Cleofas einen ganz besonderen Blick auf Madrid. Er läßt ihn hinter die Wände der Häuser sehen, lüftet gleichsam die Dächer der Stadt, um die ansonsten verborgenen Aktivitäten ihrer Bewohner freizulegen: Die Welt als Bühnenausschnitt; das irdische Treiben als Schauspiel; die Menschen als Theaterhelden; die Charaktere und sozialen Stände als Rollen, die nach der kurzen Dauer der Aufführung abzulegen sind —: diese altbewährte Metaphorik gewinnt im Roman vom hinkenden Teufel eine anschauliche Dimension hinzu. Sie wird auf epischer Bühne geradezu inszeniert. Denn die Typen und Stände werden nicht bloß im übertragenen Sinn als Mimen, die Stadt als Theater verstanden: sie werden durch den Zauber Asmodees körperlich vorgeführt und von Cleofas ebenso körperlich betrachtet. Aus dem Dunkel der Nacht, wie aus dem Dunkel einer Theaterloge, beschauen beide die magisch erhellten Stuben, Zellen und Gräber wie im Licht der Bühne. 14
In Diderots Les bijoux indiscrets (1748) 15 wird hingegen von einem tatsächlichen Theaterbesuch erzählt, der gleichwohl im Zeichen der Magie steht. Man fuhrt eine Oper 16 auf, welcher auch der Herrscher und seine Begleiterin beiwohnen. Der Monarch verfugt über einen magischen Ring, mit dessen Hilfe er den Schmuck der Schauspielerinnen zum Sprechen und also zum Ausplaudern von Intimitäten zu bewegen vermag — ihn eben zu den titelgebenden bijoux indtscrets werden läßt. Die Edelsteine der Akteure beginnen daraufhin einen bunten Reigen frivoler Lieder zu singen, was die Heiterkeit der Zuschauer erregt. Auf diese Weise variiert auch Diderot das drameneigene Spiel im Spiel. Die Schauspieler werden nun zu Zuschauern beziehungsweise Zuhörern und müssen den Gesangseinlagen ihres Schmucks lauschen, während sie ihrerseits vom Opernpublikum beobachtet werden. In Kapitel 37, das von einer Theatervorstellung handelt, werden die Edelsteine erneut aktiviert. Hier richtet der Monarch seinen Ring auf eine Zuschauerin, deren Halskette sofort beginnt, die Verehrung ihrer Trägerin für den Protagonisten des aufgeführten Dramas dem übrigen Publikum mitzuteilen. Theater wird also im Zuschauerraum gespielt — sehr zum Leidwesen der Bühnenakteure.
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Immerhin war Lesage auch am Theater tätig und maßgeblich an der Um- beziehungsweise Neugestaltung des >theätre de la foire< beteiligt. Vgl. hierzu Klaus Heitmann (Hg.): Der französische Roman vom Mittelalter bis zur Gegenwart I, Düsseldorf 1975, S. 15Iff. Volker Klotz: Die erzählte Stadt. Ein Sujet als Herausforderung des Romans von Lesage bis Döblin, München/Wien 1969, S. 29. Denis Diderot: (Euvres, Bibliotheque de la Pleiade, Paris 1951, S. 1 - 2 3 4 . Kapitel dreizehn: De l'opera de Banza.
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3. Theater im Roman bis zur Mitte des 19·
Jahrhunderts
In beiden Episoden, in der Oper wie beim Schauspiel, hat es Diderot hauptsächlich auf zweierlei abgesehen: zunächst auf das Gesellschaftsspektakel Theater. Über die aufgeführten Stücke wird nicht viel gesagt, über die Zuschauer und das Privatleben der Bühnenakteure hingegen allerhand. Theater funktioniert in diesem Roman, der mit den Mitteln der Parodie und des Humors einen fiktiven Staat beschreibt, als gesellschaftliche Institution, aber auch als epischer Schauplatz, an dem soziale Mechanismen aufgezeigt werden können. Dann geht es ums Theater-Spielen an sich, um die fundamentale Ästhetik von Bühnenkunst. Das Verhältnis von Schauspieler und Publikum wird durch Potenzierung und durch Verlagerung aus dem eigentlichen Wirkungskreis der Bühne hinaus in die Zuschauerränge offengelegt. Die Grenzen zwischen künstlerischem und gesellschaftlichem Rollenspiel verwischen: hier wie dort gibt es Akteure und Zuschauer. Auf diese Weise wird episch anschaulich illustriert, was Diderot seine Figuren in einem anderen Kapitel des Romans17 theoretisch erörtern läßt: die Grundprinzipien szenischen Spiels. In Deutschland wird vom Theater erst im späten 18. Jahrhundert in größerem Umfang erzählt.18 Es entwickelt sich dann allerdings in kurzer Zeit zu einer fast unverzichtbaren Station auf dem Lebensweg der überwiegend bürgerlichen Romanhelden. Zunächst bedienen sich die Verfasser empfindsamer Reiseromane im Gefolge von Sternes Sentimental Journey erstmalig einer Darstellung des Theaters, das seine negativen Konnotationen weitgehend verloren hat. In J. G. Schummeis Empfindsame Reisen durch Deutschland (1771/1772) wird immer wieder von der 17
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Vgl. Kapitel 38 Entretien sur les lettres. Ein ähnlicher epischer Umgang mit der Theaterkritik findet sich im 22. Kapitel von Voltaires Roman Candide (1759), wo Candide und Martin in Begleitung eines ortskundigen Führers das Theater besuchen. Während Candide selbst von der Wirkung des Stücks ergriffen wird, muß er erfahren, daß ein in der Nähe weilender professioneller Kritiker ganz anderer Meinung ist. Am Beispiel von Candides Aufenthalt im Theater und anschließendem Besuch bei einer Schauspielerin werden auf komische Weise die Auswüchse des Theaterbetriebs skizziert. Da gibt es Kritiker, die prinzipiell jedes Stück verdammen, da gibt es Schauspielerinnen, die es eher auf Bekanntschaften als auf mimische Qualität abgesehen haben. In diesem Kapitel falle auch Martins die Situation gleichsam resümierendes Bonmot von den fünfzehn oder sechzehn guten Stücken, die es in Frankreich gebe, eine Zahl, die angesichts der Gesamtmenge von fünf- oder sechstausend Stükken außerordentlich hoch zu veranschlagen sei. Vgl. Selbmann, S. 196: »Begonnen hatte die so hartnäckige und folgenreiche Verflechtung von Theater und Roman mit einem sozialgeschichtlichen Vorgang: Der Aufstieg des Theaters vom zweifelhaften Vergnügen des Pöbels zur anerkannten Institution im Dienste der Bildung des Bürgertums hatte den Schauspieler und seine Biographie literarisch interessant gemacht. Damit war das Theater dem an Gesellschaftlichem interessierten Aufklärungsroman als Erzählmotiv in den Blick geraten. Die Bildungsidee des 18. Jahrhunderts in all ihren Verästelungen ist der Schnittpunkt dieses Aufstiegs von Theater und Roman.« Was nachfolgend in knapper Form zusammengefaßt wird, findet sich in dieser Studie über erzähltes Theater im deutschen Bildungsroman ausführlich erörtert.
3.2. Theater in Romanen des 18. Jahrhunderts
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Bühne und von Bühnenerlebnissen der Romanfiguren erzählt. Allerdings, so Selbmann, 1 9 hat das Theatersujet keine eigentliche Erzählfunktion. Es bleibt, wie in vielen anderen Romanen, zierendes Beiwerk von anekdotenhaftem Charakter oder komisches Motiv. Erst in Wielands Geschichte der Abderiten (11741 1777) wird erzähltes Theater in den Kontext einer allgemeinen Kunst- und Gesellschaftssatire eingebettet. Ein Jahrzehnt später legt Karl Philipp Moritz mit seinem Roman Anton Reiser (1785/1790) die Grundlage für ein Phänomen, das als »Theatromanie« 2 0 in die Literaturgeschichte eingegangen ist: die in dieser Form spezifisch deutsche Begeisterung fur das Theater und ihre ausfuhrliche und häufige Thematisierung im Roman. Dabei wird die Bühne zum Forum für eine Diskussion, die um das neue Selbstverständnis des wirtschaftlich, aber nicht politisch emanzipierten Bürgertums kreist. Als der bürgerlichen Schicht zugänglicher öffentlicher Raum und Spielstätte der ihr eigenen Kunstform — das Bürgerliche Trauerspiel — erlangt das Theater im 18. Jahrhundert große Bedeutung. Zumal im Roman, der sich neben dem Drama als neue Form künstlerischer Vermittlung etabliert und von dessen gutem Ruf zu profitieren trachtet. 21 Im Zuge dieser Entwicklung wandeln sich die Funktionen der Bühne im Roman. Sie wird — unter anderem - zum Sammelbecken für Künstlernaturen und Andersdenkende, aber auch zum Zufluchtsort aus der Enge bürgerlicher Geschäftigkeit, zur Stätte der Phantasie. Mit den Wilhelm Alm/er-Romanen, und insbesondere dem Entwurf von Wilhelm Meisters theatralische Sendung, wird schließlich gegen Ende des 18. Jahrhunderts ein Höhepunkt epischer Theaterleidenschaft erreicht. Goethes Prosa bildet gleichsam Paradigma und Zenit deutscher Theaterbegeisterung, auf die nachfolgend, bis hin zur Parodie bei Thomas Mann, immer wieder Bezug genommen wird.
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Vgl. Selbmann, S. 32 — 33: »Das Theaterstück steht wie die meisten Erzählepisoden im Rahmen des Romans ohne Notwendigkeit. Seine Funktion liegt nur darin, den Erzähler mit der Lessing-Nachfolge seine literarische Bildung und mit der Verfertigung des Lustspiels sein poetisches Geschick unter Beweis stellen zu lassen. [ . . . ] Wie den anderen Episoden fehlt der Komödienszene und dem eingeschobenen Lustspiel die Erzählfunktion.« Vgl. Eckehardt Catholy: Karl Philipp Moritz. Ein Beitrag zur Theatromanie der Goethezeit. In: Euphorion XLV 1950, S. 1 0 0 - 1 2 3 . Vgl. derselbe: Karl Philipp Moritz und die Ursprünge der deutschen Theaterleidenschaft, Tübingen 1962. Rolf Selbmann (S. 47) wertet Anton Reiser als »ersten ernsthaften Versuch«, die »Theaterund Bildungsproblematik mit den Bedingungen einer Lebensgeschichte kausal zu verknüpfen.« Vgl. Selbmann, S. 29: »Innerhalb dieses Prozesses versucht die neue >niedere< Gattung des Romans sich an der traditionell hochgeschätzten Form des Dramas zu orientieren und zu legitimieren.«
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3- Theater im Roman bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts
3.3. Vom Theater-Spielen zum Theater-Schauen Was sich in England und Frankreich bereits im 18. Jahrhundert andeutet: die Abkehr von der Wanderbühne als Sujet des Romans und das Interesse für den Theaterbesuch, die Auffuhrung an einer festen Spielstätte, vollzieht sich in Deutschland erst um die Jahrhundertwende und im frühen 19. Jahrhundert. Die Entwicklung, tendenziell vom Theater-Schauen und nicht mehr vom Theater-Spielen zu erzählen, setzt sich nun auch in jener Nationalliteratur durch, die wie keine andere vom wandernden Schauspieler und Künstler ä la Wilhelm Meister geprägt ist. Unter den Vorzeichen romantischer Ästhetik wandelt sich die Qualität des Theatererlebnisses. In seinem Exkurs zum Spiel im Roman unterstreicht Joachim Voigt die anhaltende Bedeutung des Sujets und verweist auf »das in der Romantik häufig gebrauchte Mittel des Spiels im Spiel«. 22 Exemplarisch dafür steht Achim von Arnims Hollins Liebeleben (1802). Die Hauptfiguren dieses Romans sind auf vielfältige Weise mit der Bühne verbunden, sowohl als Akteure wie als Rezipienten. Sie müssen erkennen, daß ihr Schicksal vom aufgeführten Bühnenspiel reflektiert wird. Im Theater werden dämonische Kräfte wirksam, die Spiel und Realität untrennbar verweben: »Irrtum und Verwirrung stiften alles Unheil, Irrtum und Verwirrung sind in verschiedenartigster Richtung die Wirkung des Spiels im Spiel, und die unglückliche Verkettung dieser Täuschungen scheint auf eine unheimliche Macht zu weisen, die alles so gefügt hat.« 23 Die Bühne erweist sich als schicksalhafter, metaphysisch aufgeladener Spiegel des Lebens, der dieses nicht nur beschaubar macht, sondern auch beeinflußt. In Jean Pauls Roman Titan (1800/1803) spielt der Topos vom theatrum mund't ebenfalls eine zentrale Rolle. Vergleiche der Lebenswirklichkeit mit Komödie, Tragödie, Maskenball und Marionettenspiel durchziehen den ganzen Roman. Das Theater ist im Titan vornehmlich der zwiespältigen Romanfigur Roquairol zugeordnet, die Spiel und Realität auf unheimliche und unheilbringende Weise vermischt. Für Jean Pauls Roman gilt, was bereits bei Arnim und anderen Autoren der sogenannten frühen Romantik praktiziert wird: Der Topos vom theatrum mundi wird ins Unheimliche abgewandelt. Während Roquairol selbst Theater spielt, kommt diese Eigenschaft den Hauptfiguren späterer Romane allerdings zunehmend abhanden. Für Friedrich, den jungen Adligen in Eichendorffs Frühwerk Ahnung und Gegenwart (1815), hat das Theater seine Anziehungskraft verloren. Zwar sind in diesem Roman Maske und Verkleidung immer noch wichtige theatralische Motive, das Theater-Spielen selbst wird aber nicht mehr zur epischen Gestaltung von Friedrichs Lebensweg herangezogen.24 22 23 24
Voigt, S. 132. Voigt, S. 135. Vgl. Selbmann, S. 105: »Theater und Schauspielberuf sind nur mehr komisches Mo-
3.3. Vom Theater-Spielen
zum
Theater-Schauen
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In Ε. T. A. Hoffmanns Lebensansichten des Kater Murr (1818/1821) wird vom Theater schließlich parodistisch erzählt. Sieht man von diesem Werk ab, übt die Bühne bei Hoffmann aber immer noch einen »mächtigen Zauber« 25 aus. Sie wird zum Ort der Entrückung aus der Nüchternheit des Alltags. Die Faszination des Theaters besteht allerdings weniger darin, die Romanfiguren zum Theater-Spielen anzuregen; sie basiert vielmehr auf der Wirkung des dargebotenen Stücks. So gestaltet Ε. T. A. Hoffmann in der Erzählung Don Juan das Theatererlebnis seiner Hauptfigur als ausschließlich passives: als episch vergegenwärtigte Rezeption des Bühnenspiels. Obgleich das Werk Hoffmanns noch im Zeichen (spät-) romantischer Ästhetik steht, ist doch eine fur das Theatersujet symptomatische Akzentverschiebung spürbar. Die einstigen Theaterspieler werden in deutschen Romanen des frühen 19. Jahrhunderts mehr und mehr zu Theaterbesuchern, so wie dies in englischen und französischen Werken bereits seit dem 18. Jahrhundert zu beobachten ist. Dieser Wandel erklärt sich auch durch außerliterarische Neuerungen. Das teatro stabile hat das Wandertheater alter Prägung weitgehend ersetzt. In den Städten entstehen Bühnen als öffentliche Einrichtungen, die nicht mehr exklusives Privileg des Adels sondern fast jedermann zugänglich sind. Die neuen, prunkvollen Theaterbauten werden zu bürgerlichen Verkehrsknotenpunkten. Auch die Organisation des Theaters ist einem tiefgreifenden Wandel unterzogen. Das Schienennetz erlaubt es, Tourneen durchzuführen, die neue (gehobene) soziale Stellung eines Teils der Schauspieler, »responding to the new middleclass interest in the theatre«, entstigmatisiert die Welt der Bühne, und das Aufkommen wirtschaftlich handelnder Direktoren unterwirft den Theaterbetrieb neuen Gesetzen.26 Mit dieser Entwicklung geht ein ungeheurer Popularitätsschub der Bühnenkunst einher. In England entsteht die music-hall, in Frankreich werden Vaudeville-Theater und Opera Comique zu Publikumsmagneten. Das Theater und stärker noch die Oper avancieren zu Kunstformen, die das Interesse der bürgerlichen Öffentlichkeit auf sich ziehen. Eine besondere Rolle spielt dabei die französische Hauptstadt: »Paris war für die Komponisten der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mehr als die Hauptstadt Frankreichs und eine Weltmetropole;
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tiv und enthalten fur den adelig-christlichen Helden nichts von den Verlockungen, denen Anton Reiser, Wilhelm Meister oder Roquairol erlegen waren!« Weiter schreibt Heide Ellert in ihrer Studie über das Theater bei Ε. T. A. Hoffmann: »Zunächst einmal übt in all diesen Theatervorfiihrungen, sofern sie nicht parodistisch behandelt werden wie im Kater Murr, das Theater jene nachhaltige, ja verzaubernde und entrückende Wirkung aus, wie sie Hoffmann immer postuliert hat.« Heide Ellert: Das Theater in der Erzählkunst. Eine Studie zum Werk Ε. T. A. Hoffmanns, Tübingen 1977, S. 82. Vgl. hierzu John Allen: A History of the Theatre in Europe, New Jersey 1983, S. 275ff.: The Emergence of the Director.
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3. Theater im Roman bis zur Mitte des 19- Jahrhunderts
Paris war bereits der Mythos seiner selbst, es war, wie oft betont wurde, die musikalische Hauptstadt Europas.« 2 7 An Romanen eben jener Nationalliteratur, die sich der >Hauptstadt Europas< wie keine andere annimmt und sie mit ihrem Kunst- und Unterhaltungsbetrieb zum Mittelpunkt richtungsweisender Werke europäischer Erzählkunst macht, soll die weitere Entwicklung des Sujets zunächst skizziert werden. Einer epischen Tradition verpflichtet, welche die Bühne nicht vordergründig als Bildungsanstalt vermittelt, sondern gesellschaftskritische Aspekte im Gefolge von Lesage und Diderot aufgreift, interessieren sich vor allem französische Romanciers im frühen 19- Jahrhundert fur die bürgerliche Institution Theater: namentlich Balzac und Stendhal, die vom hauptstädtischen Opern- und Schauspielbetrieb nach 1830 erzählen.
3.4. Theater als gesellschaftliches Ereignis Le Panorama-Dramatique, aujourd'hui remplace par une maison, etait une charmante salle de spectacle situee vis-ä-vis la rue Chariot, Sur le boulevard du Temple, et oü deux administrations succomberent sans obtenir un seul succes, quoique Vignol, l'un des acteurs qui se sont partages la succession de Potier, y ait debute, ainsi que Florine, actrice qui, cinq ans plus tard, devint si celebre. Les theatres, comme les hommes, sont soumis ä des fatalites. Le Panorama-Dramatique avait ä rivaliser avec l'Ambigu, la Gälte, la Porte-Saint-Martin et les theatres de Vaudeville. 28
Mit dieser Beschreibung des Gebäudes eröffnet Balzac die Theaterepisode in seinem 1837 — 1844 entstandenen Roman Illusions perdues. Rückblickend wird ein kurzer Abriß von Geschichte und Situation des Theaters gegeben. Ohne auf dessen äußere und innere Beschaffenheit näher einzugehen, weist Balzacs Erzähler auf die finanzielle Lage des »Panorama-Dramatique« hin. Es werden Erfolge und Mißerfolge von Verwaltung und, im weiteren Verlauf des Textes, von Autoren und Schauspielern aufgezählt. Das Theater selbst ist, so erklärt er den Lesern, in einen fortwährenden Konkurrenzkampf mit anderen Bühnen verwickelt, die um die Gunst des Publikums rivalisieren. Das Hauptgewicht der Informationen liegt also auf dem ökonomischen Aspekt des Theaters. Es ist weder von Tradition und Geist der Bühne noch von schauspielerischen Glanzleistungen die Rede, welche möglicherweise an diesem Ort erbracht wurden. Vielmehr präsentiert sich das Theater als Objekt wirtschaftlicher Spekulation, das den Gesetzen des Marktes unterworfen ist, als eine Investition, mit der Geld verdient aber auch verloren werden kann. 27
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Michael Walter: »Die Oper ist ein Irrenhaus«. Sozialgeschichte der Oper im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1997, S. 37. Honore de Balzac: La Comedie humaine, Bibliotheque de la Pleiade, Paris 1952, Band IV, S. 706. Die im folgenden in Klammern angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf diese Ausgabe.
3-4• Theater als gesellschaftliches Ereignis
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Auf diesem Schauplatz bewegt sich die Hauptfigur des Romans, Lucien de Rubempre, ein junger Dichter aus der Provinz, der in Paris Karriere machen will. Über seine Gespräche im Zuschauerraum entwirft Balzac ein Panorama des anwesenden Publikums, das sich wie ein Mosaik aus Konversationsfetzen, Beobachtungen Luciens, Erläuterungen seines Freundes Lousteau und Bemerkungen des Erzählers zusammensetzt. Berichtet wird von einem Publikum, das sich gerne in der Öffentlichkeit zeigt, sich also gleichsam selbst inszeniert. Das Sehen und Gesehenwerden in den Wandelgängen und Logen der Spielstätte wirkt wie ein Schauspiel, das die Hauptfigur beobachtet. 29 Was in den Gängen besprochen wird, hat allerdings in den seltensten Fällen etwas mit den Vorgängen auf der Bühne oder dem Theater als Kunstform zu tun. Vielmehr werden Geschäfte eingefädelt, Machtpositionen abgesteckt und Beziehungen jeglicher Art geknüpft. Daß die Kunst im »Panorama-Dramatique« nicht im Vordergrund steht, zeigt sich überdies an der quantitativen Verteilung der Passagen innerhalb der Theaterepisode. Während auf einem guten Dutzend Seiten vom gesellschaftlichen Ereignis Theater erzählt wird, ist vom eigentlichen Bühnenspiel nur auf wenigen Seiten die Rede. Auf diese Weise zeichnet Balzac ein Bild des Theaterpublikums als Teil jener Gesellschaft, welche die Bühne als Kunstbetrieb zum Vorwand nimmt, um sich anderweitig umzutun: geschäftlich, amourös oder politisch. Im Theater wird seine Hauptfigur auch über den Antriebsmotor dieser Gesellschaft aufgeklärt. Der Macht des Geldes, dies ist die Botschaft der zahlreichen Gespräche im Zuschauerraum, ist die Kunst ebenso wie alle anderen Lebensbereiche ausgeliefert. 30 Das aufgeführte Stück ist dementsprechend ein belangloses, der Unterhaltung dienendes Melodram, dessen Wirkung allein auf der Erotik seiner Hauptdarstellerinnen beruht. 31 Sein Verfasser, eine des Romans, ist ausschließlich daran interessiert, den Geschmack treffen:
kurzlebigen inszenierten Nebenfigur der Zeit zu
La piece est line piece d'intrigue oü Du Bruel a voulu faire du Beaumarchais. Le public des boulevards n'aime pas ce genre, il veut etre bourre d emotions. L'esprit n'est pas apprecie ici. Tout, ce soir, depend de Florine et de Coralie qui sont ravissantes de gräce, de beaute. Ces deux creatures ont des jupes tres-courtes [. . .]. (712) 29
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»Ce melange de hauts et de bas [...] le [Lucien; d.Verf.] rendait hebete comme un homme attentif ä un spectacle inou'i.« (711/712) Diese Darstellung des Literaturbetriebs in Illusions perdues reflektiert auch die gewandelte außerliterarische Realität. Mit dem massenhaften Aufkommen von Zeitungen, Feuilletonromanen und Boulevard-Stücken erreicht die Literatur im 19- Jahrhundert einen Wirtschaftlichkeitsgrad, über den sie vorher so nie verfugt hat. Balzac selbst konnte sich bekanntlich dem Literaturbetrieb nicht entziehen, den er in seinen Romanen und insbesondere in Illusions perdues so schonungslos darstellt. »Qu'a-t-elle fait ? la salle applaudit ä tout rompre, dit Lousteau. — Elle leur a montre sa gorge en se mettant ä genoux, c'est sa grande ressource, dit l'actrice veuve du cirage.« (709)
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3. Theater im Roman bis zur Mitte des 19.
Jahrhunderts
Diese Darstellung von Ort, Publikum und Bühnenspiel in Illusions perdues verdeutlicht den Wandel, dem erzähltes Theater seit Beginn des Jahrhunderts unterworfen ist und der sich bei Balzac erstmals in seiner ganzen Konsequenz zeigt. Die Forderung an den Roman, 32 soziale Phänomene mit quasi-wissenschaftlichem Anspruch darzustellen, gesellschaftliche Realität und das heißt die Realität des aufstrebenden Bürgertums zu thematisieren, bewirkt eine Reihe tiefgreifender Veränderungen im Bereich der Erzählkunst. Dem nach romantischer Auffassung Romanhaften und Phantastischen wird als Aufgabe des Romans nun die Darstellung sozialer Zu- und Mißstände entgegengesetzt, Balzac präzisiert dies an mehreren Stellen in der Comedie humatne,33 In diesem Zusammenhang gewinnt das Theater zunehmend Bedeutung als Ort, an dem man sich trifft, an dem man sich zeigt, zu dem Personen verschiedenster Herkunft und Couleur Zutritt haben, an dem aber auch das überwiegend bürgerliche Publikum einer Kunstform, der dramatischen, begegnet. Diese vordergründig soziale Funktion des Theaters nutzen Autoren wie Balzac oder Stendhal, um ein konzentriertes Panorama der bürgerlichen Gesellschaft zu entwerfen. Durch die Gespräche im Publikum und die Verhaltensweise der Zuschauer untereinander läßt sich ein Bild der gesellschaftlichen Zustände erstellen, wie sie nach 1830 in Frankreich auftreten. Gerade das Theater, das vor allem in Paris sehr früh zu einer Institution bürgerlicher Unterhaltung, aber auch zum Objekt wirtschaftlichen Interesses wird, 34 bietet in seiner Verbindung von Kunstanspruch und auf Gewinn ausgerichteten Betrieb die Möglichkeit, zeitgemäße Themen episch zu vergegenwärtigen: die Dominanz des Geldes über ästhetische und moralische Werte etwa, den Widerspruch von Sein und Schein oder, wie in Illusions perdues, die Antagonismen von Ideal und Realität. Neben der ausführlich gestalteten Theaterepisode wird in Balzacs Roman auch von einem Opernbesuch erzählt, bei dem Lucien auf die mondäne adlige Gesellschaft der Hauptstadt trifft. In dieser Episode tritt die neue gesellschaftli32 33
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Zur Poetik des Romans vgl. ausfuhrlich Victor Zmegac: Der europäische Roman, Tübingen 1990. Im Vorwort zur ersten Ausgabe der Illusions perdues von 1837 erklärt er: »En effet, ici chaque roman n'est qu'un chapitre du grand roman de la societe. Les personnages de chaque histoire se meuvent dans une sphere qui n'a d'autre circonscription que Celle meme de la societe«. Honore de Balzac: Illusions perdues, Garnier Freres, Paris 1961, S. 756. Dieses Konzept findet sich auch im Vorwort zum Gesamtwerk: »L'immensite d un plan qui embrasse ä la fois l'histoire et la critique de la Societe, l'analyse de ses maux et la discussion de ses principes [...].« La Comedie humaine, Bibliotheque de la Pleiade, Band I, S. 16. Was Stendhal mit der Spiegelmetapher zu fassen sucht, formuliert Balzac (CH, S. 16) im Bild des Malers, dessen Ziel die Darstellung der modernen, das heißt zeitgenössischen Gesellschaft ist, »la vaste peinture de la societe«. Vgl zur »transformation capitaliste de la profession comique« im frühen 18. Jahrhundert Andrea Grewe: Monde renverse - Theatre renverse. Lesage und das Theatre de la Foire, Bonn 1989, S. 104ff.: Vom Chef de troupe zum Entrepreneur de spectacles.
3.4. Theater als gesellschaftliches Ereignis
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che Funktion des Theaters konsequent und exklusiv zutage. Das Bühnenspiel wird nicht einmal erwähnt: weder sein Verfasser noch sein Titel, weder seine Handlung noch seine Musik. Die Auffuhrung der Oper dient Balzac lediglich als Folie, um das komplexe gesellschaftliche Beziehungsgeflecht im Zuschauerraum zu zeigen. Berichtet wird von den sozialen Ritualen, 3 5 denen sich der Neuling aus der Provinz unterziehen muß und an denen er (vorerst) scheitert. Dies beginnt am Eingang des Theaters, wo Lucien zunächst wegen seiner Kleidung zurückgewiesen wird und dies endet mit der Preisgabe seines wahren Namens: Lucien de Rubempre heißt eigentlich Chardon. Durch die epische Perspektivierung auf gesellschaftliche Rituale, Verhaltensnormen und Maskeraden im Publikum wird suggeriert, daß das eigentliche Spiel jenseits der Bühne stattfindet. Im Zuschauerraum der Pariser Oper versammeln sich sowohl seine Akteure als auch seine Rezipienten: »on y est vu comme on y voit de tous cotes.« (610) Dieser Befund gilt auch fur andere bedeutende französische Romane der dreißiger und vierziger Jahre des 19· Jahrhunderts. In Stendhals Lucien Leuwen besuchen die Hauptfiguren die Oper ebenfalls nicht der dramatischen Kunst wegen. Das aufgeführte Stück wird beinahe vollständig ausgeklammert, es finden sich lediglich einige wenige Hinweise auf seine Hauptdarstellerin. Obwohl erst 1894 publiziert, wurde dieser Roman bereits in den dreißiger Jahren geschrieben und befindet sich somit in unmittelbarer Zeitgenossenschaft zu Illusions perdues. Wie bei Balzac ist auch bei Stendhal das Theater und vor allem die Oper ein Ort bürgerlicher Repräsentation. Im Schutz der Loge werden Gespräche zwischen Lucien und seinem Vater geführt, 3 6 im Dunkel des Zuschauerraums überdenken die Hauptfiguren ihre wirtschaftliche und politische Karriere. Im Publikum werden gesellschaftliche Rollen eingenommen und aufgeführt. 37 Das visuelle Abtasten der Logen ist die bevorzugte Aktivität der Romanfiguren, fur akustische Reize — die Musik der Oper — interessieren sie sich nur wenig. In einem weiteren Roman Stendhals, Le rouge et le noir, hat erzähltes Theater eine ähnliche Funktion. 3 8 Gleich zwei Kapitel sind dem Aufenthalt in einer
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Vgl. hierzu ausfuhrlicher R o l f Klein: Kostüme und Karrieren. Zur Kleidersprache in Balzacs Comedie humaine, Tübingen 1 9 9 0 . »Monsieur Leuwen, qui n'osait traiter ä fond un certain sujet en presence de sa femme, apres le diner de famille partit de bonne heure pour l'Opera, emraena son fils, ferma avec soin le verrou de sa löge.« Stendhal: Roman et nouvelles, Bibliotheque de la Pleiade, Paris 1 9 5 2 , Band I, S. 1 3 5 3 . » [ . . . ] bien penetrer Lucien du role qu'il devait jouer aupres de Mme Grandet [ . . . ] . « (Lucien Leuwen, S. 1 3 5 4 ) Hauptsächlich ist von den Ereignissen im Zuschauerraum die Rede. Man zeigt und inszeniert sich, es werden Bekanntschaften eingefädelt und gepflegt: »Le soir, il sentit bien qu'il fallait absolument paraltre aux BoufFes dans la löge de Madame de Fervaques. Elle l'avait expressement invite: Mathilde ne manquerait pas de savoir sa presence ou son absence impoli.« (Le rouge et le noir, S. 6 1 8 )
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3· Theater im Roman bis zur Mitte des 19.
Jahrhunderts
Opernloge g e w i d m e t - Kapitel X I X l'Opera b o u f f e und Kapitel X X X Une löge aux houffes —, ein weiteres trägt den Titel des aufgeführten Ballets: Manon Lescaut (Kapitel XXVIII). W i e in Luden Leuwen und wie bei Balzac wird auch
hier das aufgeführte Stück nur am Rande erwähnt. Zusammenfassend und im Rückblick auf erzähltes Theater im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert ergibt sich folgendes Bild: Die ökonomischen und sozialen Aspekte des Theaters rücken in den Mittelpunkt epischen Interesses und verdrängen seine bisher dominanten Funktionen. Zunächst die pädagogisch-aufklärerische, wie sie vor allem in den Erziehungs- und Entwicklungsromanen deutscher Prägung zu beobachten ist. Das Theater erweist sich bei Balzac und Stendhal weniger als Forum zur Diskussion ethischer und ästhetischer Wertvorstellungen des aufkommenden Bürgertums, das sich gegen den Adel abzugrenzen sucht, sondern als Verkehrsknotenpunkt gesellschaftlicher Eitelkeiten einer Schicht, die nun selbst, zumindest wirtschaftlich, den Ton angibt. Das Theater wird nicht mehr vordergründig als Bildungsanstalt, sondern als Ort der Repräsentation, aber auch als Wirtschaftsfaktor in der großstädtischen Unterhaltungsindustrie wahrgenommen. Dieser einschneidende Wandel ist in den vorgestellten französischen Romanen — im europäischen Vergleich 39 - relativ früh vollzogen und bleibt maßgeblich bis ins 20. Jahrhundert. Dann wird auch die phantastisch-märchenhafte, auf eine doppelbödige Realität hinweisende Funktion des Theaters verdrängt, wie sie in der Erzählkunst der Romantik vorkommt. 4 0 Zwar finden sich bei Balzac noch Spuren, die das Theater als Refugium der Phantasie in einer durchkommerzialisierten Welt ausweisen. Das »Panorama-Dramatique« präsentiert sich, wenn auch nur temporär, als magischer Ort, an dem die herkömmlichen Vorstellungen von Zeit und Raum zumindest für wenige Augenblicke außer Kraft gesetzt werden kön-
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Was hier an französischen Romanen beispielhaft und pointiert gezeigt wurde, gilt in jeweils verschiedener Ausprägung und literaturhistorischer Entwicklung auch fur andere europäische Nationalliteraturen. In unmittelbarer Zeitgenossenschaft von Illusions perdues erscheint etwa Dickens Roman Nicholas Nickleby (1839), der eine umfangreiche Theaterepisode enthält. Die Bühne nimmt hier gewissermaßen eine Zwischenstellung ein. Einerseits wird sie als Objekt wirtschaftlicher Interessen gezeigt — Nicholas schreibt gar selbst ein Stück, mit dem Kasse gemacht werden soll —, andererseits steht die Hauptfigur noch selbst auf der Bühne. Einerseits wird ausgelotet, wie sich die Bühnenwelt in die Stadt hinaus bewegt - die Theaterleute sprechen bei den Bürgern vor und verteilen Handzettel - , andererseits wird das Verhältnis von Schauspielerin und Zuschauer noch nicht in dem Maße wie bei Balzac für den Roman fruchtbar gemacht; es bleibt bloße Randepisode (vgl. hierzu die folgenden Ausführungen zur Rezeption des Bühnenspiels bei Balzac). Vgl. Monika Hocker (S. 16) über Theateraufführungen im Gesellschaftsroman des 19· Jahrhunderts: »Thematisch bedeutsam ist auch hier häufig der Gegensatz von Sein und Schein. Im Unterschied zur Romantik bezieht sich die Darstellung hier jedoch nicht auf die Undurchschaubarkeit und dämonische Kraft des Scheins, sondern auf die Entlarvung des Scheins in gesellschaftlichen Verhaltensweisen.«
3.5. Die Rezeption des Biihnenspiels in Balzacs Illusions perdues
(1837—1844)
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nen. 41 Auch in Stendhals Romanen ist von dieser Wirkung die Rede: das Theater als Gegenstück zur zweckrationalisierten Welt des Bürgertums, als Ort, an dem sich die Phantasie ungehemmt entfalten kann. In Le rouge et le noir übt die Musik eine magische Kraft auf die Romanfiguren aus, 4 2 in Luden Leuwen ist es die Opernsängerin. Bei diesen Momenten der Entrückung und der Selbstvergessenheit handelt es sich aber immer nur um ein punktuelles Aufblitzen, das letztlich keine Wirkung auf die Romanfiguren ausübt. Die Phantasie anregende Kraft des Bühnenspiels dient Balzacs und Stendhals Figuren nur noch der momentanen Flucht aus den gesellschaftlichen Verhältnissen und Verpflichtungen. Sie hat ihre dämonische Komponente verloren, welche noch die Figuren Jean Pauls mit der Doppelbödigkeit von Leben und Spiel, von Realität und Traumwelt konfrontiert. 43
3-5. Die Rezeption des Bühnenspiels in Balzacs Illusions perdues (1837-1844) Balzacs Theaterepisode erweist sich nicht nur fiir allgemeine Tendenzen in der Entwicklung des Sujets als besonders aufschlußreich. Sie verdeutlicht auch strukturelle Eigenheiten erzählter Theaterbesuche. In Illusions perdues wird eine grundlegende Problematik entworfen, die als Leitfaden fur die Erörterung aller weiteren Theaterepisoden herangezogen werden kann. Wie gestaltet Balzac also das eigentliche Bühnenerlebnis seiner Hauptfigur? Nachdem zunächst, wie gesagt, in aller Ausführlichkeit von Luciens Gesprächen im Zuschauerraum und seinem Rundgang durch die Kulissen erzählt wird, ist im zweiten Teil der Episode von der Auffuhrung des Bühnenspiels die Rede: Des pensees ardentes enflammaient son äme, comme ses sens etaient embrases par le spectacle de ces actrices aux yeux lascifs et releves par le rouge, ä gorges etincelantes, [...]. les yeux fixes sur la toile, et d'autant plus accessible aux enchantements de cette vie melangee d'eclairs et de nuages qu elle brillait comme un feu d'artifice apres la nuit profonde de sa vie travailleuse, obscure, monotone. Tout ä coup la lumiere amoureuse d un oeil ruissela sur les yeux inattentifs de Luden, en trouant le rideau du theatre. Le poete, reveille de son engourdissement, reconnut l'oeil de Coralie qui le brülait; il baissa la tete [...]. (719/720) 41
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»Lousteau sortit laissant Lucien abasourdi, perdu dans un abime de pensees, volant au-dessus du monde comme il est. [ . . . ] II demeura lä durant un temps inappreciable, peut-etre cinq minutes. Ce fut une eternite.« (S. 719) » D u moment quelle eut entendu cette cantilene sublime, tout ce qui existait au monde disparut pour Mathilde. On lui parlait, eile ne repondait pas; [ . . . ] Son extase arriva ä un etat d'exaltation et de passion [ . . . ] . « (Le rouge et le noir, S. 555) »Roquairol ist ständig von einer Theatersphäre umgeben; er wird eingeführt mit einem Bericht, der ihn als Theaterspieler auf einer Redoute zeigt, und er endet mit und in einem Theaterspiel; Spiel und Leben sind auf eine unheimliche und unheilvolle Weise bei ihm miteinander verknüpft.« (Voigt, S. 135)
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3. Theater im Roman bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts
Aus den hell erleuchteten Wandelgängen versetzt Balzac seine Hauptfigur in die Intimität der dunklen Loge, sondert sie mithin vom übrigen Publikum ab, um die Wirkung des Stücks an einer Einzelperson zu verfolgen. Diese Wirkung basiert hauptsächlich auf den beiden Hauptdarstellerinnen. Ihre optischen Reize werden auf der Bühne buchstäblich ins rechte Licht gerückt. Die Scheinwerfer bestrahlen die mit Kostümen und Maquillage präparierten Körper und steigern auf diese Weise ihre Verfxihrungskraft. An die Lichtverhältnisse auf der Bühne sind die Reaktionen des Zuschauers gekoppelt. Das von den Scheinwerfern erzeugte Licht wird samt seiner physikalischen Wärmeentwicklung in drei wechselseitig verknüpften Schritten auf Luciens Psyche übertragen. Zuerst wirken die sinnlichen Reize der Bühnenakteure auf den Zuschauer ein. Sein Wahrnehmungsapparat reagiert auf diese Stimulation, er beginnt metaphorisch zu glühen. In einem zweiten Schritt — von den »sens embrases« zur »äme enflammee« — wird dieser zunächst bloß sensualistische Prozeß metaphysisch aufgeladen. Luciens Seele entflammt fur Coralie, die Schauspielerin. In einem letzten Schritt wird dann der Rahmen des Theaters, seine nur ästhetische Relation von Bühnenspiel und Zuschauer transzendiert: Die Lichtverhältnisse der Bühne spiegeln Luciens Leben. Das Schauspiel steht stellvertretend für das großstädtische Paris, welches, im Gegensatz zur Dunkelheit von Luciens bisheriger Existenz in der Provinz, wie ein Feuerwerk erscheint. Über die Theaterbeleuchtung werden also psychische und damit verbundene geographische Oppositionen metaphorisch stilisiert: zu einem inneren Kampf des Zuschauers, der die Ereignisse auf der Bühne nicht als dramatisches Spiel wahrnimmt, sondern gleichsam als lebende Reklame für all jene Reize, die Paris im Gegensatz zur Provinz zu bieten hat. Ausgelöst wird dieser Vorgang zunächst von einem Blick, den die Schauspielerin Coralie Lucien zuwirft. So wie ihr Körper, ganz leibhaftig, im Lichtkegel der Bühnenscheinwerfer erstrahlt, wird ihr Auge metaphorisch vom Licht der Liebe illuminiert. Der Blick der Schauspielerin ins Publikum schlägt eine erste Brücke vom Bühnen- zum Zuschauerbereich. Die im Theater übliche und notwendige Distanz von Bühnenakteurin und Zuschauer wird, vorerst visuell, abgebaut. Es findet eine Annäherung statt. Balzac gestaltet sie als religiös motiviertes Ringen Luciens mit dem »demon de la luxure«. 44 Seine innere Zerrissenheit gipfelt in der Frage: »[...] pourquoi ne goüterais-je pas une fois ces delices si celebres?« (721) Der 44
»Lucien, en voyant cette creature jouant pour lui seul, se souciant de Camusot autant que le garain du paradis se soucie de la pelure d'une pomme, mit l'amour sensuel au-dessus de l'amour pur, la jouissance au-dessus du desir, et le demon de la luxure lui souffla d'atroces pensees.« (721) Diese Gestaltung der Passage läßt an die Ursprünge erzählten Theaters, etwa bei Grimmelshausen, denken: die Welt der Bühne als Ort sittlicher Gefährdung. Bei Balzac ist die religiöse Thematik allerdings mit der Ökonomie verbunden, ein Aspekt, der immer wieder, etwa bei Herman Bang, aufgegriffen wird.
3.5. Die Rezeption des Bühnenspiels in Balzacs Illusions perdues
(1837-1844)
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biblische Mythos vom Sündenfall klingt hier abgewandelt an. Die ausgestellten und von einer raffinierten Lichtregie inszenierten Körper der Schauspielerinnen werden metaphysisch aufgeladen. Sie erscheinen als diabolische Versuchung, welcher der Zuschauer nicht zu widerstehen vermag. Ins Bühnenlicht getaucht, blenden ihre glänzenden Körperteile, »ses epaules dorees« (721), das Publikum: »eile eblouissait le regard avec ses bras ronds« (721). Am Ende der Episode resümiert Balzacs Erzähler: »[...] il [Lucien; d.Verf.] tombait dans cette fosse, il nageait dans un desir, entralne par le jesuitisme de la passion.« (722) Die Boulevard-Schauspielerin Coralie, gleichsam Allegorie fur das vergnügungssüchtige, dem Kommerz verschriebene Paris, hat den Zuschauer aus der Provinz erobert. Die Distanz zur Bühne ist aufgehoben, obgleich nur gedanklich. Nach Spielende wird dann auch die physische Barriere in Form der Rampe überschritten: Le lustre s eteignit. [...] Une lanterne descendit du cintre. [...] A la feerie de la scene, au spectacle des loges pleines de jolies femmes, aux etourdissantes lumieres, ä la splendide magie des decorations et des costumes neufs succedaient le froid, l'horreur, l'obscurite, le vide. [...] D'un bond, Lucien se trouva sur la scene. A peine reconnutil Florine et Coralie deshabillees, enveloppees dans leurs manteaux et dans des douillettes communes, la tete couverte de chapeaux ä voiles noirs, semblables enfin ä des papillons rentres dans leurs larves. - Me ferez-vous l'honneur de me donner le bras ? lui dit Coralie en tremblant. — Volontiers, dit Lucien qui sentit le coeur de l'actrice palpitant sur le sien comme celui d'un oiseau quand il I'eut prise. (725)
Noch einmal wird die Magie des Theaters, »la feerie« aufgerufen. Sie ist allerdings vollständig in einen sozialen Kontext eingebunden. Das Spektakel auf der Bühne hat den Zuschauer nicht in die Welt der Fiktion entfuhrt, sondern ihm revueartig und sinnlich erfahrbar die Reize seiner Wahlheimat vorgeführt. Über das Wechselspiel der Lichtverhältnisse wird auf das Romangeschehen, auf Luciens Leben in Paris, verwiesen. Im Schein einer Laterne zeigt sich der technische Apparat, der die theatralische Illusion erzeugt. Ihre einnehmende Vorderseite hat Lucien im grellen Licht der Scheinwerfer auf der Bühne erblickt, ihre unangenehme Kehrseite sieht er nur schwach beleuchtet. Analog zu dieser Passage wird im gesamten Roman verfahren. Lucien muß erkennen, daß sich hinter dem vermeintlich glanzvollen Leben der Pariser Gesellschaft ein ähnlicher Apparat wie im Theater befindet: die Ökonomie, der alles, auch die Kunst unterworfen ist. Lucien wird dies im Anschluß an seinen Theaterbesuch am eigenen Leib erfahren. Am Ende der Theaterepisode, nach dem Fallen des Vorhangs, wird die Ausgangssituation fur seine finale Desillusionierung geschaffen. Die letzte Stufe der stetigen Distanzverringerung zwischen Publikum und Bühnenakteurin ist erreicht, der Zuschauer verläßt in Begleitung der Schauspielerin das Theater. Die Großstadt Paris hat sich allegorisch bei Lucien eingehakt. Sein Bühnenerlebnis läßt sich mithin auch als Thematisierung der Frage begreifen: Was geschieht, wenn Distanz als notwendige Vorraussetzung für die
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3. Theater im Roman bis zur Mitte des 19-
Jahrhunderts
Rezeption des Bühnenspiels aufgehoben wird ? Balzac spielt diese F r a g e in Illusions perdues in all ihren Konsequenzen durch. N o c h einmal sei in diesem Z u s a m m e n h a n g auf die Ü b e r l e g u n g e n J o a c h i m Voigts hingewiesen: Wir sahen aber, daß die In-lusion von der Illusion wesentlich durch das Spielbewußtsein verschieden ist, welches erhalten bleiben muß, auch wenn die In-lusion ein erhebliches Ausmaß erreicht. Das bedeutet, daß die Spielwelt dem kontrollierenden Verstände jederzeit als Spiel erkennbar bleiben muß. Für das Theater entsteht daraus die Forderung, das Spiel als Spiel kenntlich zu machen. Das kann auf mannigfache Weise geschehen, bereits Schiller hat Vers, Phantasie und Musik als Mittel zur Entwirklichung der Dramenwelt verstanden, und schon der ganze Theaterapparat wirkt in dieser Richtung: Die äußere Apparatur der Bühne schafft eine Umgrenzung eigener Art, verwandt der Rahmenwirkung der Malerei: die Dichtung als aufgeführte bedarf des verstärkten Herausgehobenseins aus dem realen Lebenszusammenhang, und zwar eben deswegen, weil sie die dichterischen Gestalten sichtbar, ihre Rede hörbar macht. Die Bretter selbst wirken heraushebend, sie sind nicht die Welt, sie bedeuten nur die Welt. Die Rampe ist eine unübersteigbare Grenze; sie wird auch im Schauspiel nie überstiegen. 45 In Illusions perdues wird eben diese Grenze überschritten, m e h r noch: die T h e a terepisode ist in ihrer G e s a m t h e i t darauf ausgerichtet. D e r allmähliche Verlust von Luciens Spielbewußtsein wird stufenweise und äußerst detailliert ausgebreitet. Balzacs H a u p t f i g u r entwickelt ein gestörtes Verhältnis zur Bühnenfiktion, weil sie die ausgesandten ästhetischen Signale in Handlungsimpulse u m w a n delt, u m sich eben dieser fiktiven W e l t in Gestalt der Schauspielerin zu bemächtigen. Das T h e a t e r funktioniert als Organismus, der wie ein Gift auf all jene wirkt, die m i t ihm in Berührung k o m m e n . 4 6 Als Konzentrat der Sinnesreize, welche die H a u p t s t a d t auf ihre Bewohner ausübt, n i m m t es eine w i c h t i g e Position i m R e i g e n der verlorenen Illusionen und eine Schlüsselstellung im R o m a n g a n z e n ein. Lucien ist u n m i t t e l b a r vor d e m Besuch des » P a n o r a m a - D r a m a t i q u e «
an
einem Scheidepunkt a n g e l a n g t . 4 7 N a c h seiner Demaskierung in der Oper, nach einem langen Prozeß des Schauens und Lernens hat er erkannt, daß er sich zwischen Teilnahme am Literaturbetrieb und seiner A b l e h n u n g , zwischen einer finanziell 45 46
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gesicherten und einer Künstlerexistenz in A r m u t entscheiden m u ß .
Voigt, S. 5. »Pour Lucien, ces deux heures passees au theatre furent comme un reve. Les coulisses, malgre leurs horreurs, avaient commence l'oeuvre de cette fascination. Le poete, encore innocent, y avait respire le vent du desordre et l'air de la volupte. Dans ces sales couloirs encombres de machines et oü fiiment des quinquets huileux, il regne comme une peste qui devore 1 ame. La vie n'y est plus ni sainte ni reelle. On y rit de toutes les choses serieuses, et les choses impossibles paraissent vraies. Ce fut comme un narcotique pour Lucien, et Coralie acheva de le plonger dans une ivresse joyeuse.« (724/25) »Cette saillie, oü la raison prenait une forme incisive, etait de nature ä faire hesiter Lucien entre le systeme de pauvrete soumise que prechait le Cenacle, et la doctrine militante que Lousteau lui exposait. Aussi le poete d'Angouleme garda-t-il le silence jusqu'au boulevard du Temple.« (706)
3.5. Die Rezeption des Bühnenspiels in Balzacs Illusions perdues
(1837-1844)
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Die für das Romangefuge entscheidende Bedeutung des Theaterbesuchs besteht darin, daß an diesem Ort eine Entscheidung getroffen wird. Was Lucien vorher abstrakt, in Gesprächen, erfahren hat, erfährt er im Theater über die Sinne. Die lange Phase des Erstaunens und der tastenden, oft schmerzvollen Annäherung an das hauptstädtische Leben wird im Theater beendet. Wie unter einem Mikroskop fuhrt Balzac diese ganz und gar dramatische Peripetie episch vor: Im »Panorama-Dramatique« wird der Schritt vom passiven Zuschauen zur aktiven Teilnahme am Pariser Leben vollzogen. Lucien betrachtet die Schauspielerin Coralie nicht nur, er läßt sich auch körperlich, außerhalb des Theaters, mit ihr ein. Am Verhältnis von Zuschauer und Bühnenakteurin wird exemplarisch die schrittweise Vereinnahmung Luciens durch die französische Hauptstadt demonstriert. Analog zur ersten Kontaktaufnahme durch einen in den Zuschauerraum geworfenen Blick bis zur körperlichen Annäherung beim Verlassen des Theaters funktioniert Luciens Konfrontation mit Paris. Die hauptsächlich visuellen Reize, welche allerorten auf ihn einströmen, werden auf der Bühne derart gebündelt und intensiviert, daß Lucien sich ihnen nicht mehr zu entziehen vermag. Im weiteren Verlauf des Romans erzählt Balzac, vereinfachend gesagt, von den Folgen der im Theater getroffenen Entscheidung. Nach und nach ruiniert sich seine Hauptfigur und ist gezwungen, in die Provinz zurückzukehren. Der Titel des Romanzyklus, La Comedie humaine, ist also offensichtlich nicht nur metaphorisch, als spezifische Aktualisierung der theatrum mundi-Vorstellung, oder als Referenz an Dantes Divina Comedia, zu verstehen, sondern auch als Hinweis auf Erzähltechniken, die der Kunstform Theater entlehnt sind. In Illusions perdues wird nicht nur unmittelbar von der Bühne erzählt, sondern auch mit deren Verfahren: Das Widerspiel von Licht und Schatten, von erleuchteter Bühne und abgedunkeltem Zuschauerraum reflektiert den Lebensweg der Hauptfigur, ihr Schicksal zwischen Provinz und Hauptstadt. Anders gesagt: Aufstieg und Fall des Lucien de Rubempre verdichten sich im Theater und werden mit den Mitteln des Theaters vergegenwärtigt.
4.
Textanalysen
4.1. Gustave Flauberts Madame Bovary (1857) Emma Bovarys Opembesuch, zusammen mit ihrem Mann Charles, beschließt den zweiten Teil von Flauberts Roman. 1 Er steht am Ende einer langen Reihe von Enttäuschungen, die Emmas Leben in Tostes und dann in Yonville prägen: die unerfüllte Liebe zu Leon, die mißglückte Klumpfußoperation, die Affäre mit Rodolphe, der kurz vor ihrer geplanten Flucht jeglichen Kontakt abbricht. U m seiner Frau, die deswegen zunehmend in melancholische Tagträumereien verfällt, etwas Abwechslung zu bieten, schlägt Charles eine Fahrt nach Rouen vor, wo die beiden abends vor dem festlich erleuchteten Opernhaus eintreffen: La foule stationnait contre le mur, parquee symetriquement entre les balustrades. A l'angle des rues voisines, de gigantesques affiches repetaient en caracteres baroques: Lucie de Lammermoor . . . Lagardy . . . Opera . . . , etc. (493)
Die Außenseite des Operngebäudes verweist auf das Geschehen im Innenraum: Reklameplakate kündigen die Abendunterhaltung an. Auswahl und Präsentation der Informationen geben den Lesern erste Hinweise auf die nachfolgend erzählte Aufführung des Bühnenspiels: die Größe der Plakate (»gigantesques«) und ihr Schriftzug, »en caracteres baroques«, auf die ebenfalls barock anmutende, aufwendige Ausstattung der Bühne; Titel, illustrer Hauptdarsteller und Genre auf die wichtigsten Aspekte des Bühnenspiels selbst. Die Typographie dieser Schlagworte antizipiert die hernach erzählte Rezeption der Oper durch die Hauptfigur des Romans. Emma Bovary nimmt nur ganz bestimmte Partien des Stücks wahr: das Schicksal der Opernfigur Lucia, den berühmten Tenor Lagardy und die Musik. Ihre Rezeption ist, ähnlich wie die Ankündigungen im Romanschriftbild, von sensualistischen Auslassungen und Lücken geprägt. So wie das Publikum im Roman also durch die Plakate einen ersten, obgleich nur schriftlich fixierten Eindruck vom aufgeführten Stück erhält, wird dem Publikum des Romans - Flauberts Lesern — hier der weitere Verlauf des epischen Geschehens angedeutet.
1
Gustave Flaubert: CEuvres, Bibliotheque de la Pleiade, Paris 1951, Band 1, S. 2 9 0 611. Die im folgenden in Klammern angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf diese Ausgabe.
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4. Textanalysen
Dieses verlagert sich vom Außen- in den Innenraum. Emma und ihr Mann begeben sich zu ihren Plätzen: Un battement de cceur la prit des le vestibule. Elle sourit involontairement de vanite, en voyant la foule qui se precipitait ä dtoite par lautre corridor, tandis quelle montait l'escalier des premieres. Elle eut plaisir, comme un enfant, ä pousser de son doigt les larges portes tapissees; eile aspira de toute sa poitrine l'odeur poussiereuse des couloirs, et, quand eile fut assise dans sa löge, eile se cambra la taille avec une desinvolture de duchesse. (494)
Erzählt wird nun, wie die Zuschauerin den Theaterraum und das übrige Publikum wahrnimmt. Ersteren durch Berühren und Riechen: Sie erfühlt und erschnüffelt sich gewissermaßen ihre Umgebung, indem sie Türen öffnet und den Geruch der Gänge aufnimmt. Letzteres durch visuelles Abtasten: Das Theater ist für Emma in erster Linie Ort gesellschaftlicher Repräsentation, ein Rahmen für die Zurschaustellung sozialer Hierarchien, die auf Äußerlichkeiten, dem »paraitre«, 2 basieren. Das Hinaufsteigen der Treppen, eine räumliche Bewegung, wird fiir die Zuschauerin zu einer psychischen; der Aufstieg zu den Logen ein sozialer, der es ihr erlaubt, auf die Masse herabzusehen: physisch und psychisch. Mit der Bewegung nach oben, mit dem Aufenthalt in der Loge, der nicht nur räumliche, sondern auch soziale Überlegenheit impliziert, kann sich die bürgerliche Madame Bovary als Adlige geben. Analog zu den Sängern auf der Bühne, die eine dramatische Rolle einnehmen, spielt sie sich in eine soziale Rolle hinein. So wie die Hauptdarsteller der Oper sich vom übrigen Ensemble abheben, vermeint die Zuschauerin aus der Masse des Publikums herauszuragen. Daß diese Abgrenzung von »eile« und »la foule« eher in Emmas Bewußtsein als tatsächlich existiert, deutet Flauberts Erzähler an. Er entlarvt die gesellschaftlichen Ambitionen der Romanfigur, indem er ihre Gesten als unbewußte Äußerungen sozialen Rollenspiels vermittelt, das dem Spiel der Bühnenakteure gleicht. Emma ist keine Gräfin, sie fühlt sich lediglich als solche. Der Erzähler unterlegt Emmas Handlungen mit diesen, ihr unbewußten Motiven. Ein zweifacher Vergleich signalisiert, daß es dabei um die Differenz von Wunsch und Wirklichkeit geht. Die Zuschauerin schwankt zwischen den beiden Polen »en-
2
»De peur de paraitre ridicule, Emma voulut, avant d'entrer, faire un tour de promenade sur le port [...].« (494) Die Oper ist in Flauberts Roman Treffpunkt fur Geschäftsleute aller Art, Hintergrund für Börsengespräche und Arena fiir Dandys: »La salle commenfait ä se remplir, on tirait les lorgnettes de leurs etuis, et les abonnes, s'apercevant de loin, se faisaient des salutations. Iis venaient se delasser dans les beaux-arts des inquietudes de la vente; mais n'oubliant point les affaires, ils causaient encore cotons, trois-six ou indigo. On voyait lä des tetes de vieux [...] et qui [...] ressemablaient ä des medailles d'argent. Les jeunes beaux se pavanaient au parquet, [...] et Mme Bovary les admirait d e n haut appuyant sur des badines ä pomme d'or la paume tendue de leurs gants jaunes.« (494) Die Zuschauer werden nicht als Individuen gezeigt, sondern als gesichtslose Köpfe, die Münzen gleichen.
4-1. Gustave Flauberts Madame Bovary
(1857)
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fant« und »duchesse«. Sie fühlt sich wie eine Gräfin, aber sie verhält sich wie ein Kind. Theater als gesellschaftliches Ereignis bildet den Hintergrund für Emmas Rezeption des Stücks. Den Vorgängen im Zuschauerraum wird allerdings nicht weiter nachgegangen. Die Ereignisse auf der Bühne rücken augenblicklich in den Mittelpunkt des Romangeschehens. Emma Bovary wohnt einer Auffuhrung der tragischen Oper Lucia di Lammermoor von Gaetano Donizetti bei, einem in der außerliterarischen Wirklichkeit existierenden, weltberühmten Stück. Auf Flauberts epischer Bühne wird also eine tatsächlich komponierte Oper gegeben, die einen künstlerischen Anspruch erhebt und über eine markante Handlungsstruktur verfugt. Zum Operngeschehen, das im Schottland des 16. Jahrhunderts spielt und auf einer Romanvorlage von Walter Scott basiert, gesellt sich die Musik, werden mithin visueller und akustischer Sinn des Betrachters angesprochen: Elle se retrouvait dans les lectures de sa jeunesse, en plein Walter Scott. II lui semblait entendre, ä travers le brouillard, le son des cornemuses ecossaises se repeter sur les bruyeres. D'ailleurs, le souvenir du roman facilitant l'intelligence du libretto, eile suivait l'intrigue phrase ä phrase, tandis que d'insaisissables pensees qui lui revenaient se dispersaient, aussitöt, sous les rafales de la musique. Elle se laissait aller au bercement des melodies et se sentait elle-meme vibrer de tout son etre comme si les archets des violons se fussent promenes sur ses nerfs. Elle n'avait pas assez d'yeux pour contempler les costumes, les decors, [...], les epees, toutes ces imaginations qui s'agitaient dans l'harmonie comme dans l'atmosphere d'un autre monde. Mais une jeune femme s'avanca en jetant une bourse ä un ecuyer vert. [...] Lucie entama d'un air brave sa cavatine en sol majeur; elle se plaignait d'amour, eile demandait des ailes. Emma, de meme, aurait voulu, fuyant la vie, s'envoler dans une etreinte. (495)
Die Zuschauerin rezipiert zunächst hauptsächlich zweierlei: das Bühnenbild und die Musik. Die Theaterkulissen lösen einen Wiedererkennungseffekt aus. Die von Emma gelesenen Romane Walter Scotts nehmen auf der Bühne konkrete Gestalt an, sie materialisieren sich. Emma glaubt sich gleichsam hineinversetzt (»se retrouvait«) in die fiktive Welt von Scotts Romanen. Sie rezipiert diese Szenerie allerdings zweifach gebrochen. Die schottischen Hörner, die sie zu vernehmen glaubt, hat sie noch nie wirklich gehört. Das Bühnenbild löst Empfindungen aus, die selbst nur aus zweiter Hand sind. Es stimuliert die Einbildungskraft der Zuschauerin, die sich lediglich aus der Imagination anderer — der Verfasser der von ihr verschlungenen Bücher — speist. Verstärkt wird die Wirkung dieser wiederaufbereiteten fiktiven Welt durch die Musik, welche direkter als jedes andere künstlerische Medium auf die Sinne einzuwirken vermag. Daß sie nicht nur die Phantasie anregt, sondern die Zuschauerin auch betäubt, zeigt der Wandel, dem Emmas Rezeption unterworfen ist: Das zunächst aktive Einspielen, das Nachverfolgen der Handlung von Scotts Roman auf der Bühne, wird zu einem passiven Erobert-Werden durch die Opernmusik. Das aktive »elle suivait« wandelt sich zu einem passiven »lui
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4. Textanalysen
revenaient«, »se laissait aller«, »se sentait elle-meme«. Flauberts Syntax verdeutlicht, daß die Zuschauerin zunehmend die Kontrolle über das Geschehen verliert, daß sie nicht mehr Herrin ihrer selbst ist. Dieser Prozeß kulminiert im Bild der Saiten, welche vom Bogen der Streicher berührt werden. Die in der Romantik populäre Vorstellung von der Seele als Saitenspiel, das auf wunderbare Weise zum Klingen gebracht wird, erscheint hier verzerrt. Nicht von der Seele, sondern von den Nerven ist die Rede, von sensualistisch funktionierenden Organen und nicht von einer metaphysischen Einheit. Diese Organe werden von der Musik nicht nur angeregt, sie werden von ihr attackiert. Das Bedeutungsspektrum von »les archets« umfaßt ja nicht nur die Bogen der Streicher, sondern auch Waffen: Bogen, mit denen Pfeile abgeschossen werden, die das Gemüt der Zuschauerin torpedieren. Vor diesem Hintergrund wird von Lucias Auftritt erzählt. Die Zuschauerin zieht erste Parallelen zur Handlung des Bühnenspiels und zum Schicksal der Hauptfigur. Sie vergleicht ihre Träume mit denen der Opernfigur: Wie Lucia sehnt sich auch Emma nach Flügeln, um davonfliegen zu können. Ihr Wunsch nach Schwerelosigkeit entspricht der rezipierten Musik, die genau diesen Zustand einnimmt. Gleichwohl funktioniert Emmas Inlusion. Zwar fühlt sie mit den Opernfiguren und zieht auch Parallelen zu ihrem eigenen Leben. Dies geschieht aber immer im Rahmen der notwendigen Distanz zur Welt der Bühne, die ausdrücklich als solche gekennzeichnet wird: »comme dans l'atmosphere d'un autre monde«. Auch Emmas Verhältnis zu Lucia ist von dieser Distanz geprägt. Vergleiche werden als solche gekennzeichnet (»de meme«) und Parallelen zum Opernpersonal durch die Verwendung entsprechender Tempusformen (»aurait voulu«) als Gedankenspiel markiert. Bühnenfiktion und Lebenswirklichkeit werden bewußt getrennt. Ganz anders als Lucia wird die zweite Hauptfigur der Oper, Edgar, in den Roman eingeführt. Wenn Flauberts Erzähler den Sänger mit einem Doppelnamen vorstellt, vermischt er Rolle und Person des Bühnenakteurs. Zur Verfiihrungskraft auf der Bühne, welche das Libretto vorschreibt, gesellt sich der Charme des Sängers in seinem Leben als Privatperson. Während der Erzähler von den gemimten liebestollen Blicken Edgars berichtet, merkt er zu Lagardy an: »On disait qu'une princesse polonaise, 1 ecoutant un soir chanter sur la plage de Biarritz [...] en etait devenue amoureuse. Elle s'etait ruinee ä cause de lui.« (495) Flauberts Erzähler hebt die Trennung von Bühnenrolle und wahrem Leben schrittweise auf, indem er Informationen über Privatperson und öffentlichen Auftritt des Sängers ineinanderschiebt und vermischt. Dabei werden die von Flaubert postulierten Regeln der impassibilite und impartialite immer wieder aufgegeben. Der Erzähler bezeichnet Lagardy als Scharlatan und nimmt auf diese Weise eine Wertung vor. 3 Der Hauptdarsteller der Oper wird 3
»Un bei organe, un imperturbable aplomb [ . . . ] achevaient de rehausser cette admirable nature de charlatan, oü il y avait d u coiffeur et d u toreador.« (496)
4.1. Gustave Flauberts Madame Bovary (1857)
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gleich zu Beginn als Betrüger stigmatisiert, obwohl dies — im Rahmen der szenischen Illusion — seine eigentliche Aufgabe ist. M i t Lagardys Auftritt 4 ändert sich die Qualität von Emmas Rezeption. Die Grenzen angemessenen Spielbewußtseins werden jetzt erstmals überschritten: Emma se penchait pour le voir, egratignant avec ses ongles le velours de sa löge. Elle s'emplissait le coeur de ces lamentations melodieuses qui se trainaient ä l'accompagnement des contrebasses [...]. Elle reconnaissait tous les enivrements et les angoisses dont eile avait manque mourir. La voix de la chanteuse ne lui semblait etre que le retentissement de sa conscience, et cette illusion qui la charmait, quelque chose meme de sa vie. Mais personne sur la terre ne I'avait aimee d'un pareil amour. II ne pleurait pas comme Edgar, le dernier soir, au clair de lune, lorsqu'il se disaient: A demain, ä demain! . . . [...] et quand ils pousserent l'adieu final, Emma jeta un cri aigü, qui se confondit avec la vibration des derniers accords. (496) Gleichsam um die physische Distanz zur Bühne zu verringern, beugt sich E m m a nach vorn und gräbt ihre Fingernägel ins Polster. Diese Körpersignale drücken ihren Gemütszustand aus. Die Zuschauerin füllt sich, einem Behältnis ähnlich, mit den Melodien der Oper, so wie in der Klosterschule, als Mädchen, m i t Rittergeschichten und Romanzen. An Emmas Rezeption des Bühnenspiels zeigt sich offensichtlich eine allgemeine Problematik: Sie leidet an emotionaler Überfülle, die nicht entweichen kann. Auch in der Oper saugt sie die Reize, die von der Bühne ausgehen, in sich auf. Empfänger dieser Reize ist das Herz, »le coeur«. W i e ein Transformator n i m m t es Musik und Handlung auf, um sie ins Bewußtsein der Zuschauerin in Form von sentimentalen Reflexionen und ungestillten Sehnsüchten zu überfuhren. Emmas erlebte Rede markiert diesen Vorgang sprachlich: Die stakkatohaften Ausrufe und die zahlreichen Pausen entsprechen dem A u f und A b der Musik beziehungsweise der Opernhandlung. Lucias Klagelied auf der Bühne entspricht die bloß gedankliche Klage der Zuschauerin. Was jenseits der Rampe wortgewaltig und öffentlich geäußert wird, verlautbart sich dieseits der Rampe still und vom Publikum unbemerkt. Allein, die Klagen von Opernsängerin und Zuschauerin gleichen sich sprachlich. E m mas erlebte Rede mutet theatralisch an, sie ist durchzogen von Superlativen (»personne sur la terre«), von romantischen Topoi (»clair de lune«) und pathetischen Ausrufen ( » A demain«). Emmas Syntax signalisiert den Lesern: Die psychische Distanz der Zuschauerin zum Bühnenspiel nimmt ab, weil sie ihr eigenes Leben auf die Handlung der Oper projiziert. Die Rückkopplungen (»retentissement«) von Bühnenfiktion und Romanwirklichkeit verstärken sich in einem der Rezeption abträglichen Maße. Emmas ehemaliger Liebhaber Rodolphe und der Sänger Lagardy agieren im Bewußtsein der Zuschauerin Seite an Seite. Sie unterscheidet nicht mehr zwischen Opernwelt und Wirklichkeit.
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Die unmittelbare und intensive Wirkung Lagardys wird durch die Verwendung des Präsens verstärkt, das die im imparfait erzählte Geschichte durchbricht: »Des la premiere scene, il enthousiasme« (496).
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4. Textanalysen
Wenn Emma am Ende einen Schrei ausstößt, erweckt dies den Eindruck, als wolle sie selbst mitsingen und mitspielen. Auf akustische Reize reagiert die Zuschauerin eben so: mit einem deckungsgleichen (»confondit«) akustischen Signal. Die Inlusion hat somit ein Ausmaß angenommen, das ihrer eigentlichen Funktion zuwiderläuft. Emmas Spielbewußtsein ist ausgeschaltet, wenn auch nur vorübergehend. An ihre Stelle tritt die Illusion. Ausdrücklich weist Flauberts Erzähler auf diesen Vorgang hin: Die szenische Illusion, die das Publikum bezaubert, verzaubert hier in einem Maße, das die Grenzen der Fiktion überschreitet. Die Zuschauerin macht das Spiel auf der Bühne zu einem Teil ihres Lebens. Szenische Illusion verschiebt sich aus dem Bereich des Ästhetischen ins reale Leben und wird somit zur Illusion im Sinne von Selbstbetrug, von Vortäuschen und sich etwas Vorspielen. Flaubert zeigt hier gewissermaßen einen fundamentalen Bedeutungswandel: den Umschwung von der ästhetischen zur außerästhetischen Illusion. Dieser fließende Ubergang verkörpert sich in der Doppelgestalt Edgar/Lagardy. Auf der Bühne mimt Lagardy im Rahmen des szenischen Spiels, im wahren Leben ist er, so warnt Flauberts Erzähler, ein gefährlicher Verführer, einer der andere - emotional — betrügt, dies zeigt das Beispiel der polnischen Gräfin. Auch Emmas Schwanken zwischen Inlusion und Illusion hängt von Lagardy ab. Die Rezeption der Zuschauerin korrespondiert mit dem Auf und Ab der von der Bühne ausgehenden optischen und akustischen Reize, vor allem aber mit Lagardys An- oder Abwesenheit: Mais ce bonheur-lä, sans doute, etait un mensonge imagine pour le desespoir de tout desir. Elle connaissait ä present la petitesse des passions que l'art exagerait. S'efforgant done d'en detourner sa pensee, Emma voulait ne plus voir dans cette reproduction de ses douleurs qu'une fantaisie plastique bonne ä amuser les yeux [. . .]. (497)
Auf die erste Phase der zunehmend unkontrollierten Einspielung folgt mit Edgars Abgang und Lucias erneutem Auftritt der Pendelausschlag in die entgegengesetzte Richtung. Das Bühnenspiel wird nunmehr als mißlungene Imitation der Wirklichkeit empfunden und die ansonsten hochgeschätzte Kunst als Übertreibung gebrandmarkt. Anders gesagt: Emma stellt den Vertrag zwischen Zuschauer und dramatischem Kunstwerk, welcher ja gerade besagt, daß es sich beim Bühnenspiel um ein mit der Realität nicht deckungsgleiches Kunst-Produkt handelt, abermals in Frage. Wieder vermischt sie Bühnenspiel und Realität. Ihre anfänglich mit Neid durchsetzte Bewunderung schlägt nun in Verachtung um. Zauberspiegel ihres Lebens oder billige Kopie: Emmas Rezeption schwankt zwischen emotionalen Extrempositionen, die — jede auf ihre Weise — den angemessenen Umgang mit der Oper verfehlen. Auch wenn Emma dem Stück zeitweise verächtlich gegenübersteht, seine Wirkung ist ungebrochen. Wie eine Droge berauscht es die Zuschauerin, die sich zwingen muß, nüchtern zu bleiben. Ein weiterer Auftritt Lagardys bricht
4.1. Gustave Flauberts Madame Bovary (185 7)
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Emmas Widerstand endgültig. Begleitet vom Chor stimmt der Tenor das berühmte Sextuor der Oper an: II devait avoir, pensait-elle, un intarissable amour, pour en deverser sur la foule ä si larges effluves. Toutes ses velleites de denigrement s evanouissaient sous la poesie du role qui l'envahissait, et, entrainee vers l'homme par l'illusion du personnage, eile tacha de se figurer sa vie, cette vie retentissante, extraordinaire, splendide, et q u e l l e aurait p u mener cependant, si le hasard l'avait voulu. Iis se seraient connus, ils se seraient aimes! Avec lui, par tous les royaumes de l'Europe, eile aurait voyage de capitale en capitale, partageant ses fatigues et son orgueil, ramassant les fleurs qu'on lui jetait, brodant elle-meme ses costumes; puis, chaque soir, au fond d'une löge, derriere la grille ä treillis d'or, eile eüt recueilli, beate, les expansions de cette äme qui n'aurait chante que pour eile seule; de la scene, tout en jouant, il l'aurait regardee. Mais une folie la saisit; il la regardait, c'est sur! Elle eut envie de courir dans ses bras pour se refugier en sa force, comme dans l'incarnation de l'amour meme, et de lui dire, de s eerier: »Enleve-moi, emmene-moi, partons! Α toi, ä toi! toutes mes ardeurs et tous mes reves!« Le rideau se baissa. (498)
Emmas Aufnahme des Stücks entspricht der szenischen Spannungskurve. Aber nicht nur die Rezeption der Hauptfigur, auch die Theaterepisode insgesamt wird offenbar analog zur aufgeführten Oper entfaltet. Bühnen- und Romangeschehen spitzen sich gleichermaßen zu, der Höhepunkt des Bühnenspiels entspricht dem entscheidenden Wendepunkt der Romanhandlung. In seinem Mittelpunkt steht abermals die gedankliche Rede der Zuschauerin, welche die Ereignisse auf der Bühne widerspiegelt. Emma läßt sich in den Bann des Hauptdarstellers ziehen, sie verliert die Kontrolle über ihr Spielbewußtsein. Ihre Imaginationskraft wird übermäßig angeregt und reagiert: mit einem erträumten Leben an der Seite des Bühnenakteurs und nach dem Vorbild der Bühnenhandlung, syntaktisch gekennzeichnet durch die beständige Wiederkehr des Konjunktivs. Emmas Phantasien sind maß- und grenzenlos (»de capitale en capitale«) wie Musik, sie sind ausschließlich passiver Natur und vor allem: sie intensivieren sich derart, daß sie nicht mehr als solche wahrgenommen werden. Der entscheidende Umschwung zeigt sich semantisch und syntaktisch. Emma glaubt, einen Blick Lagardys zu erhäschen, der Konjunktiv wird zum Indikativ. Dieses Phänomen wird von Flauberts Erzähler als psychischer Defekt, »une folie«, diagnostiziert. Er gibt den Lesern zu verstehen: Die Zuschauerin läßt sich vom Zauber der Rolle erobern und verfällt der Wirkung des szenischen Spiels. Flauberts Erzähler weiß immer mehr als seine Hauptfigur und verfolgt ihre Rezeption diskret - ohne offensichtlich in den Gang der Erzählung einzugreifen —, aber unabläßig, indem er sie erläuternd und bisweilen warnend kommentiert; indem er den illusorischen Charakter des Bühnenspiels hervorhebt und dessen Auswirkungen auf die Zuschauerin seziert. Emmas letztem - imaginierten — Aufschrei, in der pathetischen Syntax der Bühnensprache ausgestoßen und in direkter Rede widergegeben, steht der kurze, nüchterne Satz »Le
4. Textanalysen
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rideau se baissa.« gegenüber. Flauberts Erzähler arbeitet also selbst mit den Mitteln des Theaters, indem er einen sprachlichen Vorhang zuzieht. Er läßt auf diese Weise die fiktive Welt mit einem Male verschwinden und stellt ihr die ganz anders geartete Lebenswirklichkeit seiner Figuren gegenüber. Mit den Vorgängen auf der Bühne kontrastieren die Aktivitäten im Zuschauerraum. Charles erweist sich in der Pause als clownesker Gegenpol zu Lagardy. Ihm gelingt es nicht einmal, ein einziges Glas Limonade unverschüttet in die Loge zu bringen. Lagardys einnehmendem Liebeswerben auf der Bühne steht Charles unbeholfenes Verhalten im Foyer gegenüber, wo er sich bei einer Zuschauerin für sein Mißgeschick entschuldigt. Allerdings, und dies ist eine Begegnung mit Folgen, trifft Charles im Foyer auch Leon und berichtet Emma von ihrem ehemaligen Bekannten: Et, comme il [Charles Bovary; d.Verf.] achevait ces mots, l'ancien clerc d'Yonville entra dans la löge. II tendit sa main avec un sans-fajon de gentilhomme: et Mme Bovary machinalement avanja la sienne, sans doute obeissant ä l'attraction d'une volonte plus forte. Elle ne l'avait pas sentie depuis ce soir de printemps [ . . . ] eile secoua dans un effort cette torpeur de ces souvenirs et se mit ä balbutier des phrases rapides. (499)
Leons Erscheinen, im passe simple erzählt, unterbricht den Dialog der Bovarys. Es wird syntaktisch und semantisch wie ein Bühnenauftritt vermittelt, sodaß sich augenblicklich Parallelen zu Lagardy ergeben. Auch der Tenor erscheint immer unvermittelt, ohne Vorankündigung. 5 Beide, Lagardy und Leon, stimulieren Emmas Sehnsüchte in gleicher Weise. Während Lagardy als Verkörperung der Liebe erscheint und sie an Rodolphe erinnert, empfindet sie Leons Händedruck als »torpeur de ces souvenirs«. Beide Male löst die Präsenz eines Körpers beziehungsweise eines Körperteils einen emotional aufgeladenen Erinnerungsvorgang aus, der passiver Natur ist. Auch von Leon wird Emma erobert (»obeissant«). Allerdings unterscheiden sich Lagardy und Leon in einem wesentlichen Punkt. Den Blick des Sängers hat sich Emma nur eingebildet, der Angestellte aber reicht ihr in der Loge tatsächlich seine Hand. Mit Leons Auftritt bahnt sich jene Kontaktaufnahme an, die Emma im Falle Lagardys versagt bleibt. Zunächst geschieht dies, wie gesagt, über den Händedruck zur Begrüßung. In der Loge forciert Leon diesen Prozeß durch weitere flüchtige, aber keineswegs unbeabsichtigte Berührungen. 6 Emmas Theaterbekanntschaft ist also von ganz spezifischer Qualität. Die Zuschauerin begegnet nicht dem Sänger selbst, fiir
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»Tout ä coup, Edgar Lagardy parut« ( 4 9 5 ) bzw. »du fond du theatre, sous la portiere de velours, un homme apparut en manteau noir.« ( 4 9 7 ) »II se tenait derriere eile, s'appuyant de l'epaule contre la cloison; et, de temps ä autre, eile se sentait frissonner sous le souffle tiede de ses narines qui lui descendait dans la chevelure. — Est-ce que cela vous amuse? dit-il en se penchant sur eile de si pres, que la pointe de sa moustache lui effleura la joue.« ( 4 9 9 )
4.1. Gustave Flauberts Madame Bovary (1857)
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den sie sich eigentlich interessiert, sondern Leon, der gleichsam die Rolle eines Stellvertreters für den illustren Tenor übernimmt. Wunsch und Wirklichkeit stimmen nicht überein: in der Theaterloge entsteht ein Mißverhältnis. Emmas tatsächliches Zusammentreffen mit Leon erfolgt ganz anders als das erträumte mit Lagardy. Nachdem die übermächtige szenische Illusion Emmas Inlusion ausgeschaltet hat, ist sie zur körperlichen Kontaktaufnahme in der Loge bereit. Emma stürzt sich auf diese Weise in den Selbstbetrug: Leon fungiert als alltagstaugliches Double des unerreichbaren Sängers. Ist der Kontakt zu Leon hergestellt, verkehrt sich Emmas Begeisterung für die Oper in ihr Gegenteil: »Mais, ä partir de ce moment, eile n'ecouta plus [ . . . ] tout passa pour eile dans l'eloignement comme si les instruments fussent devenus moins sonores et les personnages plus recules« (499). Das Bühnenspiel verliert an Wirkung, weil es seinen Zweck erfüllt hat. Seine optischen und akustischen Reize sind durch die taktilen Reize Leons ersetzt worden. Emmas Interesse gilt nun der Realität, dem jungen Angestellten an ihrer Seite. Das abschließende Duett der Sänger auf der Bühne wird episch ausgeklammert: zugunsten eines anderen Duos, den Zuschauern Emma und Leon in ihrer Loge und beim Verlassen des Theaters. Ein psychisches, ästhetisch motiviertes Verhältnis — das Emmas zum Bühnenspiel und namentlich zu Lagardy - wird in ein physisches und soziales umfunktioniert: das zu Leon. In diesem Kontext läßt sich Emmas Rezeption der Oper auch als Umkehrung der Abstandsverhältnisse begreifen. Wird die körperliche Distanz zu Leon, stellvertretend fur Lagardy, aufgehoben, nimmt die gedankliche zum Bühnenspiel zu. Dem gegenüber steht Charles geradezu konträre rezeptive Sensibilität. Seine Einspielung findet erst statt, als Emma das Theater bereits verlassen will. Sie drängt ihn unter Mithilfe Leons zum Gehen, wohl wissend, daß der in der Oper hergestellte Kontakt vertieft werden wird. Zu diesem Zeitpunkt beginnt Emmas Mann Interesse für das Stück zu zeigen. Er reagiert in der gesamten Episode niemals wie seine Frau, sondern immer gegenteilig. Charles empfindet die Musik als störend,7 weil sie das Verständnis der Opernhandlung erschwert. Seine Reaktionen werden denen Emmas kontrastiv gegenübergestellt. Emmas Schrei folgt ohne kommentierende Überleitung Charles Frage: »Pourquoi done, demanda Bovary, ce seigneur est-il ä la persecuter?« (496). Neben Emmas Rezeption setzt Flaubert also buchstäblich Charles und seine Aufnahme des Stücks. In die langen Passagen über Emmas Eindrücke und Reflexionen werden immer wieder kurze Abschnitte eingeflochten, die seine Reaktionen auf Lucia dt Lammermoor zeigen. Diese Syntax entspricht der dargestellten Figur: sie ist einfach und knapp. Charles auf Verstehen begründete
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»II avouait, du reste, ne pas comprendre l'histoire, - ä cause de la musique, nuisait beaueoup aux paroles.« ( 4 9 6 )
qui
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4. Textanalysen
Rezeption der Oper 8 funktioniert als Gegenpol zum sinnlichen Einspielungsvermögen seiner Frau. Während Emmas Inlusion zu stark ist, fehlt sie ihrem Mann völlig. In der Theaterepisode werden diese fundamentalen Gegensätze zwischen Charles und Emma durch das unkommentierte Gegenüberstellen ihrer Positionen zusätzlich akzentuiert. Antipoden könnte man Flauberts Figuren in ihrer Loge nennen: Ihr Rezeptionsprozeß verläuft reziprok. An seinem Ende kehren sich die Positionen vollständig um. Von der Opernepisode ergibt sich so ein erster Eindruck: N i m m t Flaubert zunächst wie Balzac einen Rundblick über Theaterraum und Zuschauer vor, klammert er im weiteren Verlauf das übrige Publikum fast vollständig aus und wendet sich seiner Hauptfigur und ihren Begleitern zu. Emma Bovary wird es nicht wie Lucien de Rubempre ermöglicht, hinter die Kulissen zu schauen und Bekanntschaft mit den Schauspielern oder der Direktion zu schließen. Während Balzac seine Figur das Theater in alle Richtungen durchmessen läßt, um sie so an einer Vielzahl von Gesprächen zu beteiligen, die einen repräsentativen Querschnitt durch die vom Geld beherrschte Pariser Gesellschaft bieten, stattet Flaubert seine Figur nicht mit diesen Privilegien aus. Er beläßt sie vielmehr an ihrem Platz, in der Abgeschiedenheit der Loge, wo sie bis zu ihrem Aufbruch bleibt. Flaubert setzt andere Akzente als Balzac, indem er Blickfeld und Aktionsradius seiner Hauptfigur erheblich einschränkt. Die Öffentlichkeit interessiert ihn weniger als Emmas individuelle Rezeption des Bühnenspiels, der er breiten Raum beimißt. In Madarm Bovary findet gewissermaßen eine Verlagerung des Erzählschwerpunktes ins Private statt. Das zentrale Thema des Romans - Emmas Eheleben und Ehebruch — reflektiert diesen Wandel. Sowohl auf der Bühne als auch im Leben der Zuschauerin geht es um eine Eheschließung. Sondiert werden die Voraussetzungen, U m stände und Folgen dieses ganz speziellen Geschlechterverhältnisses am Beispiel von Emmas Rezeption des gemimten Liebespaares. Im abgesonderten Raum der Opernloge untersucht Flaubert die Relationen seiner weiblichen Hauptfigur zu einer männlichen Trias, die sich um sie gruppiert und verschiedene Möglichkeiten der Konkretisierung des Geschlechterverhältnisses verkörpert. Da ist zunächst Charles, der die bürgerliche Institution Ehe repräsentiert; dann Leon, der in die Privatsphäre der Bovarys eindringt — den Ehebruch gleichsam räumlich vollziehend — und schließlich Lagardy als Darsteller und Vertreter der Oper. In dieser Funktion erscheint er auch als Inkarnation von Emmas Phantasien und namentlich ihrem Liebesideal. Die Bezüge der Zuschauerin zu dieser männlichen Trias lassen sich in einem Kausalverhältnis fassen: Lagardys Spiel steigert Emmas Wunsch, der Institution Ehe zu entkommen, und fuhrt so die Stellvertreterlösung des Ehebruchs herbei. 8
»C'est que j'aime, reprit-il en se penchant sur son epaule, ä me rendre compte, tu sais bien.« (497)
4.1. Gustave Flauberts Madame Bovary
(1837)
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Die Oper scheint dabei sowohl als Ort wie auch als Kunstform eine besondere Rolle einzunehmen: als Kunstform, weil Emmas Leben durch das aufgeführte Stück mit ihren auf der Bühne fleischgewordenen Phantasien zunächst gedanklich verknüpft wird; als Ort, weil die vordergründig physischen Folgen dieser Konfrontation von Bühnenspiel und Zuschauerin hernach in der Loge gezeigt werden. Während auf der Bühne mit ästhetischer Illusion gearbeitet wird, fungiert die Loge als Ausgangspunkt für eine andere Art der Illusion: moralische und juristische Täuschung. Daß im Falle Emma Bovarys beide Formen der Illusion untrennbar verknüpft sind, ist zentrale Botschaft der Opernepisode. Flaubert erzählt aber auch vom Verhältnis der Zuschauerin zur weiblichen Hauptfigur des Bühnenspiels. Wenn Charles auf Lucias gelöstes Haar zu sprechen kommt, 9 nimmt er unbewußt Emmas Ruin vorweg, antizipiert also unwissentlich die Folgen des Opernbesuchs, von denen im nachfolgenden dritten Teil des Romans erzählt wird. Das Bild der offenen Haare taucht immer dann auf, wenn seine Frau den Ehebruch vollzieht. 10 Die tragische Opernfigur Lucia verweist so metaphorisch auf Emmas aktiven Selbstbetrug, der im Theater beginnt und schließlich zu ihrer eigenen >TragödieDemi monde< und >grand monde< haben sich vollständig durchdrungen. Es ist dies Nanas letzter öffentlicher Auftritt. Sie hat sich im Lauf des Romans nicht nur verselbständigt; sie erscheint nun entkörperlicht und ist nur noch mittelbar präsent: inhaltlich — die Gäste tanzen im Takt des Walzers aus La blonde Venus — und metaphorisch: »la valse sonnait le glas d'une vieille race; pendant que Nana, invisible, epandue au-dessus du bal avec ses membres souples, decomposait ce monde [...].« (1429/30) Am Ende des Romans wird Nanas mittelbare, metaphorische Entkörperlichung unmittelbar, innerhalb der Handlung nachgereicht: als finale Spiegelung der Premiere von La blonde Venus-, als Gegenstück zur Fleischwerdung von Nanas Namen im ersten Kapitel. Die Schauspielerin liegt auf dem Sterbebett: [...] et, apres avoir allume l'un des flambeaux de cuivre de la cheminee, eile [Rose Mignon; d.Verf] le posa sur la table de nuit, ä cöte du corps. Une lumiere vive eclaira brusquement le visage de la morte: Ce fut une horreur. [...] Venus se decomposait. II semblait que le virus pris par eile dans les ruisseaux, sur les charognes tolerees, ce ferment dont eile avait empoisonne un peuple, venait de lui remonter au visage et
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Dies zeigt sich auch am völligen Mißerfolg des Stücks La petite Duchesse, der Bordenave und sein Theater in den finanziellen Ruin treibt. Wenn sich Nana nicht selbst inszeniert, sondern versucht, eine ernsthafte Rolle zu spielen, muß sie scheitern, weil sie keine Möglichkeit mehr hat, ihren Körper zu präsentieren. »Vous savez, Nana vient d'arriver ... Oh! une entree, mes enfants! [...] D'abord, eile a embrasse la comtesse.« (1423)
4.2. Emile Zolas Nana (1880)
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l'avait pourri. La chambre etait vide. Un grand souffle desespere monta du boulevard et gonfla le rideau. - Α Berlin! ä Berlin! ä Berlin! (1485)
Zolas Roman endet, wie er begonnen hat: mit einer Demaskierung. Wirft Nana im Theater ihre Kostüme ab, um als Verkörperung einer Venus des 19. Jahrhunderts zu erscheinen, fällt hier ihre letzte - organische - Maske, unter der sich nur noch Tod und Fäulnis befinden. Auch dieser Vorgang kommt wie ein Theaterauftritt daher. Nanas Sterbezimmer wirkt wie eine Bühne. 55 Ihre Leiche ist im Schein des Leuchters zu sehen, wird also ein letztes Mal von einer artifiziellen Lichtquelle fur die Betrachter in Szene gesetzt. Nana hat sich endgültig entkörperlicht, sie ist als nunmehr abstraktes, zerstörerisches Prinzip in die Gesellschaft eingedrungen. Ihr kometenhafter Aufstieg und ihr plötzliches Ende werden medizinisch diagnostiziert: als Virenbefall, der sich vom Theaterraum über die ganze Stadt ausgebreitet hat. Die Folgen dieser Kontamination werden nur angedeutet und beschließen den Roman, indem sie ihn öffnen: hin zum realen historischen Geschehen. Auch dieser Vorgang funktioniert - als letzte Konsequenz der Analogien von Bühnenwelt und Gesellschaft - nach den Mechanismen des Theaters. Die Straßen, auf denen sich das Schauspiel der Kriegsbegeisterung zuträgt, sind zunächst von einem Vorhang verdeckt. Wie Nana im ersten Kapitel, wird der Krieg im letzten anfangs nur akustisch beschworen. Was im Falle der Schauspielerin dann in vollem Umfang episch ausgebreitet wird, deutet sich auf politischem Gebiet nur noch an. Mit der Verknüpfung von Individual- und Kollektivschicksal in der Konstruktion der Schlußpassage - Nanas Tod fällt mit dem Beginn des Krieges von 1870/71 zusammen —, endet jener Prozeß, der mit Nanas erstem Auftritt einsetzt und das Rückgrat des Romans bildet: der Niedergang einer ganzen Gesellschaft. In seinem Mittelpunkt steht das Theater. Es ist weit mehr als bloß Schauplatz, Milieu oder Metapher für gesellschaftliche Inszenierung. Der gesamte Roman ist von ihm durchdrungen. 56 Makroskopisch wird entwickelt, 55
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In Edmond de Goncourts Roman La Faustin (1881), der ebenfalls vom Leben und den Lieben einer zweitklassigen Schauspielerin handelt, wird die Schlußpassage ähnlich gestaltet. Allerdings stirbt hier nicht die Bühnenakteurin selbst, sondern eine der männlichen Hauptfiguren, der sie amourös zugetan ist. Das ganze letzte Kapitel ist wie bei Zola mit den Mitteln des Theaters erzählt. Eine sorgfältig ausgewählte Lichtregie — von Vorhängen abgedunkelte Zimmer; Kerzenlicht, welches das Gesicht des Sterbenden bescheint — und an die Bühne gemahnende Dialoge lassen die erzählte Welt wie eine in Szene gesetzte dramatische erscheinen, die sich freilich von der wahrhaft dramatischen - auf der Bühne wird Racines Phedre gespielt - grundlegend unterscheidet. Vgl. hierzu auch Auguste Dezalay: Lopera des Rougon Macquart, Klincksieck, Paris 1983, S. 99ff., vor allem die Ausführungen zu »La valeur symbolique de Nana«. Dezalay untersucht in diesem Kapitel Aspekte des Theatralischen in Zolas Roman, auf die in dieser Analyse nur am Rande eingegangen wurde. Die einzelnen Kapitel des Romans sind beispielsweise wie dramatische Szenen aufgebaut. Sie haben ihren jeweils spezifischen Schauplatz und ihr eigenes Dekor. Dezalay verweist außerdem
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4. Textanalysen
was mikroskopisch in der Theaterepisode angelegt ist. Anders gesagt: Was im ersten Kapitel im Theater stattfindet — auf der Bühne, aber auch im Zuschauerraum —, wird anschließend noch einmal entfaltet: außerhalb des Theaters als gesellschaftliches Phänomen, das den Bereich des Spiels transzendiert. Analog verfährt Zola erzählstrategisch. Was in der Theaterepisode metaphorisch nur angedeutet wird, fuhrt er hernach unmittelbar aus. Im ersten Kapitel wird also sowohl das inhaltliche als auch das formale Programm des Romans entworfen, das sich auf folgenden Nenner bringen läßt: Wovon erzählt wird, dient zugleich dieser Tätigkeit. Vor allem zwei dem Theater entlehnte Kunstmittel avancieren zu zentralen epischen Verfahren: einerseits, was auf der Bühne zu sehen ist — parodierte Mythologie andererseits, wie dies vorgeführt wird: durch eine auf das Stück abgestimmte Lichtregie. Zunächst zur Operette, zu dem, was da zu sehen ist. Auf der Bühne wird antike Mythologie verspottet und demontiert: »on cassait les antiques images.« (1112) Dies ist zugleich das Programm des Romans. Zolas Erzähler verfährt analog zum Operettenregisseur und dessen Ensemble. Allerdings hat er es vordergründig auf christliche Mythologie abgesehen. Mit Nanas Geburt wird der biblische Mechanismus von altem und neuem Testament, von Prophezeihung und Einlösung parodiert. Nana ist eben keine Erlöserin, sondern ganz im Gegenteil eine diabolische Verführerin. Wenn Graf Muffat am Ende des Romans nicht nur sein Vermögen, sondern auch seine gesamten religiösen und moralischen Uberzeugungen aufgegeben hat und wie ein Tier vor Nana auf dem Boden kriecht, gilt für die christliche Religion im Leben der Romanfiguren, was auch für die antike auf der Bühne festgestellt wird: »Toute une religion [...] trainee dans la boue.« (1112) In dem Maß, wie antike und christliche Mythologie im Roman demontiert werden, gewinnt ein anderer Bildbereich, die Tiermetaphern, an Bedeutung. Die Entwicklung dieser konträren Bildbereiche — hier übermenschlich, dort nicht-menschlich - verläuft reziprok. Während antike Mythologie zunächst, als Gegenstand der Erzählung, auf der Bühne parodiert wird, erscheint das Animalische nur in der Metaphorik des Erzählers. Am Ende des Romans kehrt sich dieses Verhältnis um. Mythologie wird nur noch metaphorisch aufgerufen, während sich die Romanfiguren wie Tiere verhalten: im Extremfall kriechen auf die Vielzahl der Motive und Themen, die beständig wiederkehren — man denke beispielsweise an die leitmotivisch gebrauchte valse Je la blonde Venus —, und die Theatralität des epischen Diskurses: » [ • • ] le developpement romanesque lie au sens des reponses et des repliques dans l'univers de la theätralite [ä Berlin, mes amis ...]«. Dezalay spricht daher bei Zola vom >roman-operaville lumiere< - Ort der Aufklärung im 18. Jahrhundert - nun
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schauern, unkontrollierte, spasmenartige Anfälle auslöst: »Es ist die Wendung von den Charakteren zu den Temperamenten, das heißt zum Interesse für das >BlutNervenFleisch< mit seinen Fatalitäten, wie es Zola im Vorwort zur zweiten Auflage seiner Therese Raquin erklärt. [...] Die animalische Sphäre meldet sich unbarmherzig-roh. Hier ist Zola der Vater aller späteren Entzauberer, die im menschlichen Körper dessen arbeitende Organe und seine Sekrete sehen [...].« (Althaus, S. 2 1 3 ; S. 238) Vgl. hierzu auch: Hans Ulrich Gumbrecht: Zola im historischen Kontext, München 1978. Zola parodiert mit seiner Theaterepisode gar die aristotelische Forderung nach der Einheit der Zeit. Das erste Kapitel des Romans setzt mit »le petit jour du lustre« ein und endet im Dämmerlicht: » [...] cette Salle, si chaude, si bruyante, tomba d'un coup ä un lourd sommeil«. Die Theaterepisode umspannt gleichsam einen wenn auch künstlich erzeugten Tag: Vom ersten Aufglimmen der elektrischen Beleuchtung bis zu ihrem Erlöschen.
4.2. Emile Zolas Nana (1880)
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auf die erleuchteten Vergnügungsboulevards übertragen wird. 59 Nicht nur Straßen und Plätze sind beständig erleuchtet, sondern auch die Schaufenster der Geschäfte. Um 1850 ersetzen große Glasfronten die kleineren Scheiben, die Schaufenster wirken nun wie verglaste Bühnen. Ihre Auslagen werden mit künstlichem Licht bestrahlt und somit ästhetisch inszeniert. 60 Diese beleuchtungstechnische und ästhetische Nähe von Bühne und Schaufenster bündelt sich bei Zola in der Anlage der Hauptfigur. Nanas fehlende mimische Qualitäten lassen sie zu einem Ausstellungstück werden, das auf der Bühne des Theaters wie in einem Schaufenster vorgezeigt wird. Dies legt auch der wichtigste Schauplatz des Romans nahe, das »theatre des Varietes«. Immer wieder verläßt Nana die Bühne durch den Hinterausgang, der an die »Passage des Panoramas« anschließt, wo Muffat die Bühnenakteurin erwartet. 61 Das Bühnenspiel wird also nicht nur dramaturgisch als überflüssige fiktionale Veredelung von Ausstellungstücken denunziert, sondern auch architektonisch, durch die Wahl des Schauplatzes. Das Theater erscheint als Bestandteil einer Großstadtwelt, die aus Schaufenstern und Panoramen, aus illuminierten Boulevards und Passagen besteht, welche allesamt einem Zweck dienen: Dinge und Personen beschaubar zu machen. Diese architektonische Nähe wirkt sich auch ästhetisch aus. Letztlich verkörpert Nana, wenn sie auf der Bühne die alten sinnstiftenden Mythologien sprengt, eine neue Art der Religion. Man verehrt sie als beschaubare und eigens zu diesem Zweck ausgestellte, gleichsam inszenierte Ware. Nana, die Theater-Venus des 19. Jahrhunderts, entsteigt daher nicht dem Meer, sondern einer Silbermine des Ätna, Schauplatz des dritten Aktes. Sie wird auf der Bühne gewissermaßen symbolisch in die Pariser Finanzund Warenzirkulation hineingeboren. Nana ist also nicht nur deswegen ein eigentlicher Theaterroman, weil seine Hauptfigur Bühnenakteurin und in der Welt der Variete-Theater zuhause ist, sondern weil mit den Mitteln des Theaters von etwas erzählt wird, das nach dessen Mechanismen funktioniert, aber dennoch die Welt der Bühne transzendiert: von einer im Zerfall befindlichen Gesellschaft, deren als Krankheit diagnostizierte Verfalls- und Abhängigkeitserscheinungen im Sinne des Theaters episch vorgeführt und durchleuchtet werden.
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Wolfgang Schivelbusch: Lichtblicke. Zur Geschichte der künstlichen Helligkeit im 19. Jahrhundert, München 1983, S. 11. Schivelbusch, S. 1 4 1 - 1 4 2 : »Im übrigen folgte die Schaufensterbeleuchtung den von der Theaterbeleuchtung vorgezeigten Wegen. [...] Mit dem elektrischen Licht schließlich, das nicht mehr wegen Feuergefahrlichkeit außerhalb des Schaufensters installiert werden mußte, wurde eine Lichtfuhrung möglich wie auf der Bühne des Theaters.« Das Theater befindet sich also in unmittelbarer Umgebung der von James Thayer 1779 eröffneten illusionistischen Panoramen, die von der um 1800 entstandenen Passage direkt betreten werden konnten. Diese Panoramen funktionieren wie Schaufenster und Variete-Bühne: durch optische Effekte werden Dinge präsentiert.
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4. Textanalysen
4.3. Herman Bangs Stuck (1887) Bangs R o m a n 6 2 über Aufstieg und Fall eines Kopenhagener Theaters ist in zwei Teile gegliedert. Der erste, Ein Regen von Gold betitelt, beginnt mit einem abendlichen Spaziergang. Der junge Journalist Herluf Berg ist in Begleitung seines Freundes Lange auf dem Weg ins Theater, wo man Das
Glücksmädel,
einen Pariser Operettenimport, gibt: Der Vorhang ging auf. Man war bei Hofe. Das Publikum beklatschte sofort den über und über goldglänzenden Saal, während durch alle Türen Pagen hereinströmten [...]. Der ganze Saal wurde zu einem einzigen Opernglas. [...] Man ließ die Operngläser sinken, und der ganze Saal applaudierte eifrig. Dies war die berühmteste Nummer der Operette »Der Kußchor«. Man haschte einander, man walzte, man neckte und küßte. [...] Erfreut über den Beifall gebärdeten die Chordamen sich im Rampenlicht wie aufgeplusterte Hühner. Die Stimmung hielt an, während der Konflikt sich zuspitzte und alles auf einen Wirrwar von Lärm und Tanzrhythmen zusteuerte. [...] Niemand begriff etwas; im Orchester kämpften Trommel und Triangel gegeneinander ... Ohrenbetäubender Lärm: das war der Glanzpunkt der Operette. (378/79) Bang eröffnet seinen Roman wie Zola m i t einer Theaterauffiihrung. Gespielt wird eine Operette, deren Verfasser ungenannt bleibt. 6 3 Die Leser erfahren lediglich, daß man es auf der Bühne m i t den amourösen Verwicklungen der Hauptfigur, des Gänsemädchens, zu tun hat, die sich im ländlichen Milieu der Provence zutragen. An anderer Stelle wird erwähnt, daß es um die erste Liebe dieses Mädchens geht, vom dänischen Bearbeiter auf einen K u ß reduziert, »aus Rücksicht auf die Gefühle unseres Publikums.« ( 3 7 6 ) Auch von der Rezeption des Bühnenspiels durch die eingangs auftretenden Hauptfiguren ist zunächst nicht die Rede, im Gegenteil: das Zuschauerkollektiv erscheint metaphorisch als großes Opernglas, welches sinnbildlich die Qualität dieser kollektiven Rezeption andeutet: Das Publikum applaudiert dem Bühnenbild, dem Aufmarsch der Statisten und vor allem dem goldglänzenden Saal. Es begeistert sich hauptsächlich fur die bloß optischen Effekte der Aufführung. So entsteht ein erster Bezug zum Titel des Anfangsteils, Ein Regen von Gold. Die Qualität des Bühnenspiels entspricht der Qualität seiner Rezeption. Die Operette endet in einem ausgelassenen und heiteren Chaos, welches das Publikum eben so erwidert: Man applaudiert und ruft durch den Saal. Die Ereignisse 62
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Herman Bang: Stuck (dänischer Originaltitel: Stuk), Ausgewählte Werke in drei Bänden, deutsch von Irma Entner, Band I, Rostock 1982. Die im folgenden in Klammern angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf diese Ausgabe. Es handelt sich um Edmond Audrans Komische Oper in drei Akten La Mascotte, Text von Henri Alfred Duru und Henri Charles Chivot, uraufgeführt 1880 in Paris. Audrans Stücke erfreuten sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts großer Beliebtheit beim Publikum, sowohl in Frankreich als auch im europäischen Ausland. Vgl. hierzu Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters in 8 Bänden, hg. von Carl Dahlhaus, München/Zürich 1986, Band I, S. 117.
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auf der Bühne scheinen auch in diesem Roman mit denen im Zuschauerraum durch Analogiewirkungen verknüpft zu werden. Dem Aufmarsch der Pagen, »ein ganzes Heer von Trikots« (382) entsprechen im Zuschauerraum »die Köpfe[n], die sich langsam hin- und herwiegten« (379)· Gezeigt wird jeweils ein Kollektiv: hier auf der illuminierten Bühne, dort im Halbdunkel des Zuschauerraums, entindividualisiert und als pars-pro-toto auf eine Masse an Körperteilen beziehungsweise Kleidungsstücken reduziert. Während sich diese Kollektiv-Metaphern augenblicklich entsprechen, wird ein anderer, beide Seiten der Rampe betreffender Bildbereich erst allmählich entwickelt. Muß das Gänsemädchen auf der Bühne noch leibhaftig »gackern« (376), wird dieses Verhalten im weiteren Verlauf der Episode als Bild zunächst auf den Chor und dann auf die Zuschauer übertragen: »[...] im Parkett fuhren die Gesichter aufeinander zu, und es gab ein emsiges Geflüster, ein eifriges Getuschel, als wäre plötzlich eine Aalhaut in einen Hühnerhof gefallen.« (377). Auch nach der Vorstellung entsteht der Eindruck, daß es sich mit Publikum und Operettenpersonal ähnlich verhält: Berg und Lange kamen ins Foyer hinaus: Geschubse und Gestoße; vor lauter Lachen und Lärm verstand keiner sein eigenes Wort. Das war das junge Kopenhagen, strahlend, in stramm sitzenden Kleidern, übermütig bei Gasluft und Gedränge, wie ein Fisch im Wasser. (380)
Wie auf der Bühne dominieren im Foyer Verständigungsschwierigkeiten und ziellose Bewegungen, die in ein heiteres Durcheinander münden. Man versteht seine eigenen Gespräche genauso wenig wie man die Handlung der Operette begriffen hat. Auf der Bühne wie in der Gesellschaft — oder zumindest ihrer tonangebenden Schicht, dem »jungen Kopenhagen« - herrscht ein fröhliches Durcheinander, das sich vor allem durch zweierlei auszeichnet: einen hohen Lärmpegel, der die eigentlichen, kommunikativen Funktionen von Sprache überdeckt, und nicht-zielgerichtete, dem Tanzen und Umherirren auf der Bühne ähnlichen Körperbewegungen, welche die Zuschauer ebenso wie die Sänger als Kollektiv ausführen. Bangs Tiermetaphorik bündelt diese Gemeinsamkeiten von Operettenpersonal und Publikum: Der Lautcharakter ihrer sprachlichen Äußerungen ersetzt weitgehend deren kommunikativen und intelligiblen Inhalt. Die Zuschauer scheinen das aufgeführte Stück überdies auch olfaktorisch zu rezipieren. Da wird genauso häufig gewittert, geschnuppert und geschnüffelt 64 wie geredet. Die Wahrnehmung des Publikums ist mithin reduziert und selektiv. Sie ähnelt der Witterung jener Tiere, mit denen die Romanfiguren — auch im weiteren Verlauf der Handlung — beständig verglichen werden. Dem entspricht die Darbietung auf der anderen Seite der Rampe: dort wird animalisch gegackert. 64
»Redakteur Isaksen bewegte energisch die Nase auf und nieder und schnupperte zum Vorhang hinauf, als wollte er das Stück mit Hilfe seines Geruchsinns taxieren.« (380)
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Beschlossen wird diese erste Episode, indem die Ereignisse im Theater nach draußen verlagert werden. Ähnlich wie in Nana scheint das Publikum, den »Kußwalzer« auf den Lippen, auch in diesem Roman das Bühnengeschehen mit sich hinauszutragen: »Dann verteilte der Lärm sich auf die tiefen wartenden Straßenschlünde, [...] sickerte hier in einen Torweg, dort in eine Gasse - als hätte das schweigende Grau der Steinzeilen ihn langsam aufgesogen« (383). »Lärm« und »Straßenschlünde« als Charakteristika von Bühnenspiel und Großstadt: Theater und urbanes Gemeinwesen, Kunstform und Architektur werden hier erstmals in Bezug zueinander gesetzt. Das Operettentreiben sickert metaphorisch von der Bühne in die ganze Stadt. Allerdings endet in diesem Roman das erste Kapitel nicht mit dem Verlassen des Theaters. Berg und Lange setzen ihren Spaziergang fort, der sie zum Tivoli, einer weiteren Stätte abendlichen Vergnügens und also abendlichen Lärmens fuhrt. Dieser Ort gleicht dem Theater ästhetisch und architektonisch. Auch hier ist alles illuminiert: »Der Name >Tivoli< erstrahlte in Leuchtbuchstaben« (383) und selbst die »kunstvoll angelegten Beete prangten im Lichtschein in taufrischer Pracht.« (383) Im Inneren wird ausgelassen getanzt, 65 man walzt, dreht sich, ruft durcheinander, applaudiert und lacht. Die Operette verläßt so auf doppelte Weise das Theater. Sie setzt sich innerhalb der Romanhandlung durch das Verhalten der Figuren in den Tivoli fort, sie wird aber auch metaphorisch in die Stadt verlagert. Konferenzrat Hein, Vorsitzender der Bank, tritt im Saal auf und hält eine Rede auf den technischen und wirtschaftlichen Fortschritt, die wie das Bühnenspiel mit Hoch- und Bravo-Rufen aufgenommen wird: »[...] alle saßen so vergnügt und mit strahlenden Gesichtern da, als hätten sie all das kostbare Gold bereits vor sich [...].« (392) Ein Regen von Gold wird nun ökonomisch konnotiert: nicht mehr mit dem Dekorgold der Kulissen, sondern mit echtem Gold, von dem das junge, aufstrebende Kopenhagen träumt. Zugleich wandelt sich das Bild der Fische. Es steht nun fur die Geschäfte, 66 mit denen man eben jenes Gold zu erwerben trachtet. Das Theater wird auf diese Weise - zunächst implizit — mit dem Wirtschaftsgebaren der Kopenhagener Bürger verknüpft. Wie der Innenraum des Tivoli präsentiert sich auch sein Außenraum, der Vorplatz, wo Berg und Lange einem Feuerwerk, also einem ganz anderen Regen von Gold, beiwohnen: Lange stimmte in das langgezogene Aah der Menge ein, als die letzten Funken herabfielen. [...] Ein Regen von Schwärmern war die letzte Nummer. [...] im N u war der
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»Dazwischen taumelten ein paar Bankherren aus der Provinz in Schwalbenschwanz und Schnürstiefeln mit krebsrotem Gesicht in dem Durcheinander herum und fielen über den Tisch hinweg Freunden und Bekannten glückselig um den Hals [...].« (385) Ein Freund Heins »ließ seine Serviette von oben über die Menge baumeln, als ob er angelte. Das da sind die Fische, sagte er und lachte [...].« (392)
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ganze Himmel, wohin man auch sah, ein einziger wilder Taumel flüchtiger, rasch geborener Sterne, die über Tausenden von Gesichtern erstrahlten . . . während langanhaltender Beifallsjubel aus den Niederungen aufstieg [...] (395/96)
Die Zuschauer, ein Kollektiv von »zahlreichen Nacken« (395), bejubeln ein Schauspiel, welches sich wie das Bühnenstück ausnimmt. So wie die Kulissenschieber im Theater künstliche Orte erzeugen, schaffen die Feuerwerker mit den Mitteln der Technik einen artifiziellen Raum. Wo auf der Bühne das Operettenpersonal walzt, tanzen am Himmel die Feuerwerkskörper. Sie benötigen allerdings keine Beleuchtung, sondern illuminieren selbst: das Publikum und die Stadt. Das Licht, im Theater zwar wichtiges, aber bloßes Beiwerk, avanciert hier zum eigentlichen Gegenstand des Geschehens. Das Feuerwerk wirkt wie eine verselbständigte, autonome Theaterbeleuchtung, die, von der Bühnendecke in den Himmel versetzt — also vom Mikroskopischen ins Makroskopische —, die lärmenden, applaudierenden Zuschauer beleuchtet. Dergestalt wird inhaltlich nachgereicht, was am Ende der Theaterepisode metaphorisch bereits vollzogen ist: das Operettentreiben sickert vom Theater in die Stadt. Das Feuerwerk illuminiert die Bewohner Kopenhagens von oben und läßt sie auf diese Weise wie Bühnenakteure erscheinen. Gleich zwei epische Lichtquellen theatralischer Prägung sind am Ende des ersten Kapitels auf die Stadt und ihre Bewohner gerichtet: das Feuerwerk als riesiger Scheinwerfer, als verlängerte Leuchtkraft der Bühne und die Außenlichter des Theaters selbst: »Und weit hinten, über allen Häusern, leuchtete gleich einer strahlenden Wolke das Licht der elektrischen Lampen vom Victoria-Theater.« (399) Was sich in diesem Lichtkreis abspielt, wird in den folgenden Kapiteln einem ganz speziellen Publikum - der Leserschaft des Romans - exemplarisch an den eingangs aufgebauten Analogien von Gesellschaft und Operette vergegenwärtigt. Bang läßt seine Leser in die Verästelungen jenes Gemeinwesens eindringen, das im Eingangskapitel nur skizzenhaft vorgestellt wird: als tanzendes und lärmendes Zuschauerkollektiv, das sich an verschiedenen Orten abendlicher Unterhaltung amüsiert, in deren Mittelpunkt - architektonisch und ästhetisch - das Theater steht. Die im ersten Kapitel noch gesichts- und geschichtslos gebliebene Hauptfigur Berg wird im folgenden zweiten Kapitel mit individuellen Zügen ausgestattet und an verschiedenen für sie bedeutsamen Orten gezeigt. Zunächst besucht Berg abermals das Theater. Er sieht nun aus der Nähe und im Tageslicht, was er zuvor aus der Distanz des Zuschauerraums und von elektrischem Licht illuminiert beobachtet hat: Er blickt hinter die Kulissen. In diesem Kapitel wird die technische Kehrseite der Bühnenkunst gezeigt. Das Theater erscheint nicht mehr als Ort des ästhetischen Spiels, sondern als Gebäude, das zu wirtschaftlichen Zwecken saniert wird: Berg wurde von Schwindel erfaßt, wenn er dort hinunterschaute, wo das Gerüst auf schweren Beinen ruhend aus dem Dunkel aufwuchs und sich über den ganzen Raum
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4. Textanalysen verzweigte, bis zur Kuppel hinauf, deren Luken dem Tag entgegenlachten - ein Riesenkörper, an dem alles sang und schaffte . . . Hoch oben hingen wie Fliegen an der Decke die Maler und trällerten im Chor das »Kußlied« in den Lärm. Baumeister Martens stand neben Berg auf der Brücke und gestikulierte; von dem, was er sagte, konnten beide kein Wort verstehen [...]. (400)
Das Operettentreiben hat sich in der Tat in die Stadt verlagert. Die Doppelnatur des Theaters — Gebäude und Ort des szenischen Spiels — wird genutzt, um einen fließenden Ubergang vom Geschehen auf der Bühne zum Geschehen außerhalb der Bühne herzustellen. Der Lichtregie und den Kulissen auf der Bühne entspricht hier die gleißende, weithin sichtbare Kuppel mit ihren im Dunkel verborgenen Stützen; den Bühnenakteuren und ihren Zuschauern die Arbeiter, welche im Chor das »Kußlied« singen und wie Fliegen umherschwirren. Das Theater erscheint als lebendiger Organismus, als »Riesenkörper« im Riesenkörper Kopenhagens, gleichsam als Herz- und Pulsschlag der Stadt. Die Kommunikation auf der Theaterbaustelle gleicht dem Gesang auf der Bühne und den Gesprächen im Zuschauerraum. Der allgegenwärtige Lärm übertönt das Gesagte; er macht eine Verständigung unmöglich. Die Kommunikation sucht sich folglich auch hier andere Kanäle: hauptsächlich Gestik und Mimik. Besonders signifikant ist diese Form der Verständigung für Baumeister Martens, eine Figur, die in diesem Kapitel eingeführt wird. 67 Martens, der »immer über die vielen fremden Wörter stolperte« (401), ist eine der Schlüsselfiguren des Romans. Er verziert und verschönert Kopenhagen, er überzieht die Stadt mit jenem Material, das dem Roman seinen Namen gibt, mit Stuck, mit »Fassaden, Vergoldungen und Spiegelglas, gepackt von einem wahren Fieber nach Imitation und leuchtenden Farben [...].« (403) Hier zeigen sich nicht nur zum ersten Mal explizit die Bezüge zu Romantitel und -sujet, hier wird auch eine zentrale Reflektorfigur für die mannigfaltigen architektonischen und kommunikationsästhetischen Verknüpfungen von Stadt und Theater in den Roman eingeführt. So wie Martens halb Kopenhagen mit Stuck überzieht, macht er sich auch an die Renovierung des »Victoria-Theaters«, dessen Aufstieg und Fall vor allem seiner Arbeit entspringt. Im Theater wird also hier wie dort imitiert: Auf der Bühne agieren Spezialisten für szenische Imitation, im und um das Theatergebäude agiert Martens, Fachmann für architektonische Imitationen. Dabei assistieren ihm neben Berg der junge Adolf und Buchhalter Spenner. Wie Martens und das Zuschauerkollektiv weisen auch diese beiden Figuren sprachliche Defizite auf, die durch Gesten, Blicke und Geruchswahrnehmungen
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»[...] dann aber fand er keine Worte mehr und stand nur da und fuhr mit dem rechten Arm durch die Luft, als breitete er die ganze Pracht von Stuck, Putz und Farben vor seinen frohen Augen aus [...].« (401)
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kompensiert werden. 68 Diese Gruppe beabsichtigt, das Theater zu renovieren, um es mit neuem Glanz zu versehen: Martens deckte die Arbeit mit einer Hand so behutsam ab, als lüftete er ein wenig die Bettdecke in einer Wiege; und dann standen sie alle vier und sahen sich das Pappmachemodell an, während Martens nun auch das Dach abnahm, damit sie hineinschauen konnten, und Adolf sich hinabbeugte, um den kleinen Wimpel auf dem Dach anzupusten, so daß er wehte. (410)
Nachdem das Theater zunächst als Ort des Spiels, dann als im Umbau befindliches Gebäude gezeigt worden ist, präsentiert es sich nun in einer weiteren Variante: als Pappmachemodell, auf das seine Architekten in demiurgischer Pose herabsehen. Dieses Bild erscheint freilich ironisch gebrochen. So wie der Titel des ersten Teils, Ein Regen von Gold, zwar auf Jupiter verweist, der sich in dieser Form Danae nähert, im Roman selbst aber vielfach verzerrt erscheint — als Feuerwerk, als Dekorgold im Theater, als Metapher für die Geschäfte der Kopenhagener Bürger —, erfährt auch der Mythos vom Olymp und seinen Göttern, die das Geschehen auf der Erde nicht nur beobachten, sondern auch lenken, eine parodistische Modifikation: Das Pappmachetheater ist ganz wörtlich zu nehmen. 6 9 Genauso erweist sich das Kommunikationsvermögen der Bauherren als ironisch gebrochenes Abbild antiker Mythologie. Anders als die folgenschweren Äußerungen der Olympier beschränken sich ihre Gespräche auf belanglose Bemerkungen und vor allem: auf Durcheinanderreden, Lachen und Trinksprüche. Bauherren, die nicht zu kommunizieren vermögen, belassen es bei oberflächlichen Andeutungen, wo sie eigentlich in die dreidimensionale Tiefe gehen sollten. 70 Im weiteren Verlauf des Romans verstärken sich diese Analogien von Architektur und Sprache. Berg verläßt die Baustelle und begibt sich in die Zeitungsredaktion. Die Bühne wird somit — zumindest vorläufig — zugunsten der Hauptfigur und ihres beruflichen Umfeldes ausgeklammert. Wie im Theater entsprechen sich an Bergs Arbeitsplatz Mobiliar und Kommunikation. Martens hat auch das Redaktionsbüro mit Möbeln beliefert; die neuen Sofas wirken brüchig, »mit Heu gestopft« (412). Genauso brüchig und substanzlos ist die Kommunikation der Journalisten. Die Gespräche, die Berg mit seinen Kollegen führt, gleichen denen auf der Baustelle. 71 Auch und vor allem in der Zeitungs68
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»Buchhalter Spenner zog immer den Kopf zwischen die Schultern, wenn er sprach; als wollte er sich vor seinen eigenen Worten verstecken [...].« (406) Martens erklärt seinen Kollegen, daß die Kulissen in der Tat aus Pappe sind: »Er reichte die Gipsarbeit mit der Kehrseite nach oben Berg hin: Das dralle Knäblein war dünnste Pappe. Teufel, Teufel, sagte Adolf [...] so pfiffig ist man also.« (402) »Ja, der Teufel hol die Geschichte mit dem Grund! sagte Adolf. Wir haben immer noch Wasser in den Kellerräumen, sagte Martens.« (405) »Er hatte eine verschleierte, ständig bebende Stimme, sodaß es beinahe klang, als stotterte er, und während des Sprechens biß er sich mit seinen kleinen Zähnen unabläßig auf die Lippen.« (413)
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4. Textanalysen
redaktion, einem Ort, wo Schrift und Sprache von essentieller Bedeutung sind, wo mit Sprache zu ökonomischen Zwecken gearbeitet wird, steht es mit dieser nicht zum besten. 7 2 Bergs Redaktionsbesuch läßt die Leser erahnen: Nicht nur im Theater, in der ganzen Stadt — ihrer Architektur, ihrer Gesellschaft, ihren Kommunikationskanälen — wird gestützt, imitiert, verputzt und vergoldet, wird eine vorzeigbare Oberfläche artifiziell erzeugt. Bang pointiert all dies durch eine abermalige Parodie. Wo auf dem epischen Schauplatz Baustelle - mit architektonischem Schwerpunkt - antike Mythologie ironisch gebrochen wird, karikiert er am Beispiel der Zeitungsredaktion — mit sprachlichem Schwerpunkt - christliche Mythologie. Redakteur Arnoldsen berichtet von einer Debatte, die um die biblische Schöpfungsgeschichte kreist: »Es ging um die Erschaffung der Welt — um die sechs Tage . . . Den zehnten Abend haben sie über die sechs Tage und das erste Buch Mose geredet [ . . . ] . « (413/14) Auch hier wird, wie so oft in diesem Roman, um des Redens willen geredet. Die sprachlichen Äußerungen der Romanfiguren erweisen sich geradezu als Gegenstück zur demiurgischen Macht des christlichen Logos, über den debattiert wird. Sie zeigen keinerlei Wirkung, sie verpuffen wie die Feuerwerkskörper überm Tivoli; sie sind, wie im Theater, bloße Geräuschkulisse; ihre kommunikative Qualität ist, wie die Gipsfiguren auf der Baustelle und die Sofas in der Redaktion, nur oberflächlich, ohne solide Basis. Im Roman selbst werden diese Analogien durch eine Reflexion Bergs zusammengefaßt: » [ . . . ] dieses Theater, das ihn im Bann hielt, das so voller Leben steckte, wo alles tätig war, als ginge es darum, eine ganze Stadt zu bauen; dieses Theater, das für ihn zu einem Symbol wurde, zum großen Symbol fur diese ganze Stadt, die zu leben begann.« (421) Diesem ersten Querschnitt durch das Kopenhagener Gemeinwesen - Bangs Hauptfigur wird auf der Baustelle und im Redaktionsbüro in ihrem geschäftlichen Umfeld gezeigt — folgt am Ende des zweiten Kapitels ein vertikaler Schnitt, in die zeitliche Tiefe, der den Journalisten und Theaterbetreiber mit einer individuellen Geschichte ausstattet. Die bisher schemenhaft gebliebene Hauptfigur des Romans erhält nun spezifische Züge. Berg erinnert sich an seine Kindheit: 7 3 » [ . . . ] sah er wie eine Landschaft, die plötzlich von der Sonne beleuchtet wird, sein ganzes Leben vor sich, das Ferne greifbar nah.« (421) Die Beleuchtungsverhältnisse wechseln also: Bergs Rückblick steht im Zeichen einer natürlichen Lichtquelle. Von der Sonne metaphorisch beschienen wird seine Kindheit ausgebreitet. Dabei funktioniert das natürliche Licht der Sonne als Gegenstück zu den elektrischen Lampen, in deren Lichtkreis sich 72
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» [ . . . ] die anderen, deren Buchstaben sich zwar forsch gaben, hatten im Grunde bloß dieselben mageren altjüngferlichen Zeichen auf verrückte Weise gestreckt, indem sie jedem einzelnen Buchstaben eine Stütze unterzogen.« (415) Vgl. hierzu auch: Antje Wischmann: Ästheten und Decadents, Frankfurt a.M. 1991, S. 80ff. über das Ausblicksmotiv bei Bang.
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Bergs Leben als Erwachsener abspielt. Aber nicht nur wie beleuchtet wird, auch was da beleuchtet wird, steht sich kontrastiv gegenüber. Im Rückblick auf Bergs Kindheit erscheint gegenständlich, was vorher metaphorisch auftaucht. Hier werden die Romanfiguren nicht m i t Tieren verglichen, hier ist von wirklichen Tieren die Rede, die Berg als K i n d auf dem Land umgeben. Hier wird nicht das Bild des Goldregens erneut variiert, sondern vom Gewächs dieses Namens erzählt, das Bergs Mutter im Garten anpflanzt. Auch die Kommunikation unterscheidet sich wesentlich von derjenigen des »jungen Kopenhagen«, das sich im Theater und im Tivoli amüsiert. A u f dem Land ist es still. Wenn geredet wird, dann nur das nötigste, aber essentielle, 7 4 in knappen, präzisen Sätzen. Zwar singt und tanzt man auch dort, diese Aktivitäten haben aber einen ganz bestimmten, oft rituellen Sinn und stehen in engem Bezug zum Leben der Romanfiguren. Wenn dann im weiteren Verlauf des Kapitels berichtet wird, wie Berg heranwächst und immer intensiver am gesellschaftlichen Leben teilnimmt, sich dem großstädtischen Leben in Kopenhagen und das heißt der Erzählgegenwart nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich nähert - Berg zieht vom Land weg - , wandelt sich die Art der epischen Darstellung. Das Verhalten der Romanfiguren wird abermals m i t Tiermetaphern belegt, ihre Konversationen präsentieren sich erneut als inhaltloses Stimmengewirr. 7 5 Die Episode endet m i t Bergs Studentenzeit, welche eine Brücke zur Erzählgegenwart schlägt. Berg wohnt in Kopenhagen und vergnügt sich abends im Theater, im Tivoli und auf Bällen, fasziniert von der Vielfalt der Unterhaltungsmöglichkeiten, welche die Hauptstadt zu bieten hat. Die Rückkopplungen zwischen Sprache und Architektur, wie sie im ersten und zweiten Kapitel ganz allgemein entworfen werden, bestimmen also auch die individuelle Lebensgeschichte der Hauptfigur. Sie werden allerdings in zweifacher Weise erweitert. Erstens räumlich, wenn ihr Wirkungsradius das Zusammenspiel von Theater und Großstadt transzendiert. N u n erscheint die Großstadt an sich als (sprachlicher) Antipode zum ländlichen Milieu. Zweitens durch eine zeitliche Dimension, welche die räumliche ergänzt. Die Sprache auf dem Land ist auch die Sprache der Kindheit. Beide gehören der Vergangenheit an, die durch eine ganz anders geartete Gegenwart ersetzt worden ist.
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»Mutter, sagte Herluf auf einmal mitten aus seiner Bilderbuchwelt heraus, bist du glücklich? [ . . . ] Ja, sagte sie dann und ließ das Nähzeug sinken, ich bin glücklich.« (423) So ist immer wieder vom sprachlichen Durcheinander in den Ballsälen die Rede. An anderer Stelle zeigt sich diese Entwicklung geradezu exemplarisch: »Beide, Herluf wie auch Hein, redeten, um was immer es ging, wichtigtuerisch und gebrauchten alle möglichen Kunstworte — wobei sie insgeheim das Gefühl hatten, als bewegten sie sich über dünnes Eis, bis es zur Gewohnheit wurde und ihnen nichts mehr ausmachte.« (444)
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4- Textanalysen
Sprache erhält vor diesem Hintergrund eine dritte, mythologische Dimension. Mit dem Rückblick auf Bergs Kindheit und Jugend variiert Bang den biblischen Mythos vom verlorenen Paradies zu einer Geschichte des Sprachverlustes. Die klare, präzise Kommunikation zwischen Mutter und Kind auf dem Land weicht letztlich einem gleichsam babylonischen Stimmengewirr in den Kopenhagener Vergnügungsstätten. Reflektiert wird dieser Prozeß von den beiden konträren epischen Lichtquellen Sonne und Kunstlicht, welche die Episode insgesamt strukturieren und die Entwicklung der Romanfiguren in ihrem gegensätzlichen Licht zeigen: die natürliche Sprache, die auf dem Land benutzt wird, weicht einer künstlichen Sprache, wie man sie in der Großstadt pflegt. Bergs individuelle Lebensgeschichte steht stellvertretend für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung. Was exemplarisch an einer Person festgemacht wird, gilt auch fiir das Gemeinwesen, der sie angehört. So wie Bergs Leben, das während seiner Kindheit auf dem Land vom natürlichen Kreislauf des Sonnenlichts bestimmt wird und später dem artifiziellen Rhythmus der hell erleuchteten Großstadt unterworfen ist, verläuft auch, wenngleich langsamer und differenzierter, die gesamtgesellschaftliche Entwicklung. Davon wird im nachfolgenden dritten Kapitel erzählt. Dem vertikalen Ausloten von Bergs Kindheit und Jugend folgt ein weiterer Querschnitt durch das Gemeinwesen, dem er in Kopenhagen angehört: nicht als Journalist oder Bauherr des Theaters, sondern als Privatperson. Nach den sozialen werden nun die emotionalen Verästelungen des »jungen Kopenhagen« sondiert. In diesem Kapitel ist erstmals von Herluf Bergs geplanter Verbindung zu Asta Heltz - einer Nebenfigur des Romans — die Rede, welche nie zustande kommt. Sie scheitert wie so viele andere amouröse und familiäre Beziehungen an der Unfähigkeit der Romanfiguren, wirksam zu kommunizieren. Im entscheidenden Moment des Zusammenseins — eine Aussprache über die mögliche gemeinsame Zukunft ist unvermeidlich — vermag Berg nicht das zu sagen, was Asta eigentlich hören will. 76 Am Ende der Passage werden die Konsequenzen dieses kommunikativen Unvermögens resümiert: »Und alles zwischen ihnen blieb vage, man lebte nur mit umschreibenden Worten und Redewendungen: das Verhältnis entwickelte sich so, daß es zum Bruch kam [...].« (467) Bis in die Privatsphäre der Romanfiguren reichen die Analogien zum Theater. So wie auf der Bühne die Hochzeitsnacht des Gänsemädchens nur umschrieben und angedeutet wird, verhalten sich auch die Zuschauer in ihrer Lebenswirklichkeit: sie vermögen die Dinge nicht beim Namen zu nennen. Bergs Verhältnis zu Asta ist symptomatisch fiir die zahlreichen konfliktbeladenen 76
»Aber gepeinigt von Unsicherheit, beinahe Furcht, wie sie ihn stets überkam, wenn sie beide allein waren, begann er — nur um überhaupt etwas zu sagen, um nicht stumm dazusitzen - ihr alles [über das Theaterprojekt; d. Verf.] zu erzählen. Er sprach von der großen Aufgabe, von der Arbeit [...]. Er redete und redete immer weiter; [...]« (463)
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Verbindungen, die auch die übrigen Romanfiguren eingehen. Der berufliche und private Querschnitt durch Bergs Leben, als exemplarischer Vertreter des »jungen Kopenhagen«, offenbart allerorten erhebliche kommunikative Defizite. Auf der Baustelle und in der Redaktion wird genauso aneinander vorbeigeredet wie beim intimen Miteinander. Eine weitgehend auf Akustik beschränkte oberflächliche Verständigung - Lachen, Lärmen und Singen - , die dem Operettentreiben auf der Bühne entspricht, kaschiert das Unvermögen der Romanfiguren, sich wirksam mitzuteilen. Eine zweite Theaterauffiihrung beschließt den ersten Teil des Romans. Sie wird im letzten, fünften Kapitel erzählt, das in seiner Struktur dem ersten gleicht. Allerdings sind die Zuschauer jetzt nicht mehr gesichtslos, sondern mit einer individuellen Geschichte versehen, sie sind den Lesern bekannt und vertraut. Abermals flanieren Berg und Lange durch Kopenhagen und wie bei der eingangs erzählten OperettenaufRihrung betreten die Hauptfiguren den Zuschauerraum verspätet. Das Stück, Dumas' Prinzessin von Bagdad',77 aufgeführt zu Ehren des Ärztekongresses, hat bereits begonnen. In dieser Episode wird also nicht von Musiktheater, sondern von einem Schauspiel erzählt, dessen Autor im 19. Jahrhundert erhebliche Popularität genoß. Zunächst nehmen die Zuschauer Dumas' Stück wie die Operette auf. Sie begeistern sich für das Bühnenbild, dessen Opulenz, wie schon beim Glücksmädel, Staunen hervorruft. Das Publikum erscheint auch in dieser Epsiode als Kollektiv von »weißen Hemdbrüstefn]« (494) und wird auf ein Körperteil reduziert: »Es war, als würde der ganze Saal zu einem einzigen Ohr.« (495) 78 Aus diesem Kollektiv wird jetzt allerdings eine Einzelperson herausgegriffen: Frau Gerster hatte sich auf ihrem Platz im ersten Rang vorgebeugt. Sie hörte nicht die Worte Lionettes und Nourwadys, sie betrachtete den vollen Saal. Dieser Tag war gleichsam das Ziel ihres Lebens. Und während sie dasaß, dachte sie an die unendlich langen Jahre in der Provinz, wo sie - die Augen stets und ständig auf Kopenhagen gerichtet — Stein für Stein ihre Existenz aufgebaut hatte. Langsam hatte sie ihn [ihren Mann; d.Verf.] vorwärts geschoben, [...] vorwärts ins Licht. (494)
Im Theater kreuzen sich gesellschaftlicher und szenischer Auftritt. So wie die Bühnenakteure im Licht der Scheinwerfer agieren, zeigen sich die Ärzte im gesellschaftlichen Rampenlicht. Veranschaulicht wird dies an Frau Gerster, der Ehefrau eines Medikus. Nachdem die Romanfiguren aus Bergs Umfeld in den vorhergehenden Kapiteln mit individuellen Zügen ausgestattet worden sind, 77 78
Bei dieser Auffiihrung werden Autor und Titel explizit genannt: La Princesse de Bagdad (1881) von Alexandre Dumas Sohn. Bangs Metaphorik verdeutlicht, daß das Kopenhagener Publikum immer unangemessen reagiert. Obwohl die Musik hier keine bedeutende Rolle spielt, wird der ganze Saal zu einem »Ohr«, während er beim Glücksmädel, also bei Musiktheater, wie ein »Opernglas« erscheint.
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4. Textanalysen
werden diese nun - in erlebter Rede - den Ereignissen auf der Bühne gegenübergestellt. Mit der dramatischen Handlung und dem pathetischen Liebesrausch der personae dramatis kontrastiert das stille, langsame Ringen der Zuschauerin um gesellschaftlichen Aufstieg. Ihrem stummen inneren Rückblick auf die vergangenen Jahre steht die expressive, emotional aufgeladene Sprache der Schauspieler entgegen, die sich niemals scheuen, das auszusprechen, was ihr Publikum nicht zu äußern vermag. Das auf der Bühne ausgestoßene »Ich liebe Sie Lionette« (495), im Roman in direkter Rede wiedergegeben, ist ja gerade jener Satz, den etwa Asta Heltz von Berg vergeblich zu hören hofft. Derartig präzise, direkte Aussagen überdecken die Romanfiguren stets mit ihrem fortwährenden Lachen und Plappern. Wo die Akteure auf der Bühne das entscheidende »Ich liebe Sie« aussprechen, geraten die Zuschauer in ihrer Lebenswirklichkeit ins Stocken und verstummen. Die zweite Theaterauffiihrung ergänzt so die erste: Während das Operettentreiben, welches auf Musik und Tanz basiert, analog zum gesellschaftlichen Verhalten der Zuschauer dargestellt wird, zeigen sich am Schauspiel - einer Kunstform, deren Medium das gesprochene Wort ist - , gerade die kommunikativen Defizite dieser Gesellschaft. Operette und Schauspiel funktionieren als Analogon beziehungsweise Opposition zum sprachlichen Gebaren der Gesellschaft, die sich im Theater vergnügt. Höhepunkt der zweiten Theaterepisode ist die Schlußszene von Dumas' Stück. Ein letztes Mal ist hier vom Goldregen die Rede. 7 9 Die Bühnenakteure baden im Pappmachegold der Theaterkulissen, was eine kollektive, rauschhafte Begeisterung beim Publikum hervorruft, das ja auch, aber realiter, im Gold zu baden trachtet. W i e im ersten Kapitel suchen die Zuschauer nach der Vorstellung die Restaurants und Ballsäle Kopenhagens auf. Der exzessive, von einer im Dekorgold badenden Schauspielerin ausgelöste Jubel setzt sich in die ganze Stadt fort. Die Küchen der Restaurants sind » w i e zum Fest erleuchtet«, die »Gesichter der weißen Köche« gleichen der Ärzteschar im Theater, und die Unterhaltung der Gäste erscheint als »Chor der Gespräche« (498/99). Die Episode endet schließlich in einem allgemeinen Lärmen, Singen und Applaudieren, untermalt von den Klängen des »Kußwalzers«, den das Orchester anstimmt. Was nach der Aufführung des Glücksmädels in Heiterkeit ausklingt, wird nun ins Ekstatische verzerrt: »Keiner konnte mehr etwas hören; die Trommelfelle verweigerten den Dienst; wie der Pulsschlag des Rausches selbst schlugen die
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»Man dachte nicht mehr an die Handlung, man kümmerte sich nicht um das Drama. Man sah nur, atemlos und verwirrt, diese halbnackte, zügellose Frau, die ihre herrlichen entblößten Arme in Nourwadys geprägtem Gold gleichsam badete. Und wie elektrisiert von dem kalten Metall, wie berauscht vom Anblick all des Goldes hob sie mit einem Triumphschrei den entblößten Arm mit einer Handvoll der blinkenden Münzen hoch - sie fielen wie ein goldener Regen über Nourwadys Teppich, während der Vorhang sich hastig senkte. Das war kein Beifall, das war Raserei.« (496)
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elektrischen Klingeln an [...] während alles in demselben Mahlstrom von Lärm unterging.« (502) Zwei biblische Geschichten werden am Ende des ersten Romanteils aufgerufen: der Tanz um das goldene Kalb durch den Auftritt einer Schauspielerin im Theater, die, im Gold badend, die Zuschauer zu Begeisterungsstürmen und vor allem ekstatischen Bewegungen animiert; und biblische Untergangsszenarien sowohl die Vernichtung Sodoms als auch die Apokalypse - durch den Vergleich des sich feiernden Kopenhagen mit einem »Tollhaus« (502), mit einem »Mahlstrom von Lärm«. Im Sinne der Bibel stellen diese Passagen die Romanhandlung gleichnishaft dar. Bang erzählt ja gerade vom Kopenhagener Tanz um das goldene Kalb Theater und dessen Untergang. Wie in der Bibel gibt es aber auch hier einen Mahner, der, mit prophetischer Gabe ausgestattet, vor dem drohenden Untergang warnt: den Erzähler. Beständig deutet er die Gefahren an, die mit der Euphorie der Romanfiguren einhergehen: Der Vorhang hob sich und sank. Noch einmal ging er hoch: die Primadonna stand allein. Als sie das Gesicht von ihrem Bukett mit den skandinavischen Farben hob — der Kronleuchter im Saal war bereits herabgelassen —, wurde das elektrische Licht mit einemmal geschwenkt, so daß es über den Saal fiel, und sie schrak zusammen, als hätte sie plötzlich in Parkett und Logen Hunderte von grünlichen Leichen erblickt, die ihr in dem scharfen Licht Grimassen schnitten. »Was ist denn, was ist denn?« rief man aus den Kulissen; sie taumelte fast. »Es war das Licht«, sagte sie und hielt sich fest, als der Vorhang unten war. »Das Licht fiel über den Saal.« (496)
Ein zentrales Verfahren wird — hier wie im ganzen Roman — wirksam, um Verdachts- und Gefahrenmomente zu suggerieren. Die Lichtquellen richten sich zunächst auf jene Stellen, die ansonsten im Dunkel bleiben. Im Theater ist dies der Zuschauerraum. Ein Vergleich im irrealis läßt die Leser sodann erahnen, daß an diesen gewöhnlich unbeleuchteten Stellen existentielle Gefahren lauern: Tod und Zerfall. Konstruktionen dieser Art finden sich allenthalben. Beispielhaft sei eine Passage zu Beginn des Romans angeführt, wo Berg und Lange das Feuerwerk vorm Tivoli betrachten: »Mitten durch das Dunkel tanzten die schwachen Lichter von den Laternen der Feuerwerker und warfen hüpfende Schatten über die hohen Galgenskelette des Feuerwerks [...].« (396) Das Feuerwerk als »Galgenskelett«: Anders als die Romanfiguren, die auf das Spektakel am Himmel genauso gebannt reagieren wie auf die Operette, nimmt Bangs Erzähler eine differenzierte Sicht der Dinge ein. Er macht auf die Gefahren aufmerksam, welche die Begeisterung der Romanfiguren fur alles, was glänzt und schimmert, birgt. Am Ende der Passage wird von dieser zunächst metaphorisch signalisierten Bedrohung unmittelbar erzählt. Die Lichtquellen verlöschen: mit dem Ende des Feuerwerks befinden sich Berg und Lange im nächtlichen Halbdunkel. Sie verhalten sich nun ganz anders als an den illuminierten Stätten des Vergnügens. Weder tanzen sie, noch lachen sie, noch sprechen sie miteinander: »Auch jetzt
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4- Textanalysen
gingen beide schweigend nebeneinander her.« (397) Berg findet einen Raketenstock, dessen leere, schwarze Hülse zum Vorschein kommt. Hier zeigt sich, was sich jenseits der Illumination, im Dunkeln, befindet: ein Artefakt, mit dem der Glanz des Feuerwerks erzeugt wird, ein Artefakt, das analog zum eingangs geschilderten Operettenspektakel funktioniert. Feuerwerk wie Bühnenspiel verdanken ihre Wirkung der Distanz zum Betrachter. Sie ist notwendig, um den technischen Produktionsapparat zu verbergen, welcher die ästhetische Wirkung erzeugt. Immer wieder überschreiten die Romanfiguren diese Distanz und blicken hinter die Kulissen: auf der Wiese vorm Tivoli oder auf der Theaterbaustelle. Aber erst Bangs Erzähler stellt zwischen diesen Ereignissen Zusammenhänge und das heißt vor allem Analogien zwischen Licht, Technik und Sprache her. Auch der Raketenstock verweist auf die Kommunikation der Romanfiguren: Ihre Gespräche sind ohne eigentliche Substanz; ist das sprachliche Feuerwerk aus Lachen und Lärmen verpufft, bleibt nur noch eine ausgebrannte Hülle zurück. Wie mit dem Feuerwerk verhält es sich aber auch mit der epischen Beleuchtung. Immer wieder erlöschen im Roman für kurze Zeit alle Lichtquellen, sodaß die Leser einen freilich provisorischen Blick auf die unbeleuchteten Stellen der erzählten Welt werfen können. In diesen Passagen blitzt die Kehrseite des vergnügungssüchtigen »jungen Kopenhagen« auf. Der erste Teil des Romans endet eben so: Berg und Adolf kehren im Morgengrauen heim, bezeichnenderweise die Zeit, »da man die Laternen löschte - nicht mehr Nacht und noch nicht Tag« (502). Im Zwielicht taucht all das wieder auf, was ansonsten vom schrillen Lärm und vom elektrischen Licht überdeckt wird. Es ist still, man schweigt, Vagabunden liegen im Halbschlaf, »wie Tiere auf der Lauer im Schatten« (503). Nachdem sich Berg von Adolf verabschiedet hat, begibt er sich in die menschenleere Redaktion, wo er in der Dunkelheit ein Streichholz anzünden muß. Dabei fällt sein Blick auf eine Inschrift, die über dem Schreibtisch seines Kollegen angebracht ist: »HERR, VERGIB IHNEN, DENN SIE WISSEN NICHT WAS SIE TUN« (500). An dieser zentralen Stelle des Romans wird die Bibel ganz explizit aufgerufen. Im winzigen Lichtkreis eines Streichholzes, das nach kurzer Zeit wieder erlischt, leuchtet ein Bibelzitat auf, das sich offensichtlich auf das Treiben der Kopenhagener Gesellschaft bezieht. Es erscheint im Roman in Großbuchstaben, hebt sich also typographisch vom übrigen Text ab. Hier wird nicht nur die Verbindung von Licht und Sprache, wie sie allenthalben in Stuck zu beobachten ist, pointiert, hier werden auch die Erzählstrategien im Roman selbst offengelegt. Wie die Inschrift im Licht des Streichholzes blitzen auch die Warnungen und Verweise des Erzählers immer nur kurz auf. Ihre Botschaft aber ist eindeutig, wie das groß gedruckte biblische Zitat, dessen luzide Sprache dem Lautgewirr der Romanfiguren gegenübersteht. Hier die kleine Flamme, die eine präzise Botschaft enthält, dort die allerorten präsente
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elektrische Beleuchtung, die das substanzlose Plappern der Romanfiguren illuminiert. Derart werden die Kontraste am Ende des ersten Teils auf den Punkt gebracht. Die Gesellschaft feiert sich bei und nach einer apokalyptisch anmutenden Theaterauffiihrung, während der Erzähler eine letzte Warnung buchstäblich aufblitzen läßt: bezeichnenderweise einer Stelle der Bibel entnommen, die von der Kreuzigung Jesu handelt. Wenn Adolf, am Ende des ersten Teils, auf dem Heimweg zu Berg sagt: »Jetzt aber werden wir ernten«. (503), nimmt er die Ereignisse des zweiten Romanteils unwissentlich vorweg. In der Tat ernten die Romanfiguren im zweiten Teil des Romans die Früchte ihrer Arbeit. Allerdings fällt diese Ernte nicht wie erhofft aus, dies deutet der Untertitel Regen und Asche an. 8 0 Die im ersten Teil stets latent vorhandenen Untergangsvisionen werden nun explizit aufgerufen. Die Romanfiguren sehen sich im weiteren Verlauf des Geschehens nicht mit einem Regen von Gold, sondern mit Tod und Zerfall konfrontiert. Die prophetisch anmutenden Mahnungen des Erzählers bewahrheiten sich, sie werden im zweiten Teil des Romans eingelöst. Oder, um das zweite zentrale epische Verfahren zu benennen: Die dunklen Seiten der Stadt - architektonisch und sozial — treten zutage, sie werden ins Licht gerückt. Auch der zweite Teil des Romans besteht aus fünf Kapiteln, die zu denen des ersten Teils in kontrastiv-spiegelbildlicher Anordnung stehen, so wie im Titel die Attribute Gold und Asche. Erster Schauplatz ist daher nicht das Theater, sondern der Tagungsraum der Zentralbank, wo über die mittlerweile angewachsene Schuldenlast der Bühnenbetreiber diskutiert wird. Im Vordergrund des Geschehens steht nun der Vorsitzende der Bank, Konferenzrat Hein: »Der Konferenzrat schob den schweren Eichenstuhl zurück [ . . . ] (Konferenzrat Hein haßte alles, was Imitation hieß, und so war der Sitzungsaal des Bankrats mit Möbeln von beinahe mittelalterlicher Solidität ausgestattet).« (504) Hein wird gleich zu Beginn des zweiten Teils als seine prägende Figur eingeführt, er fungiert als Gegenpart zu Baumeister Martens, der die Geschicke des Theaters zuvor entscheidend bestimmt. Auch hier gehen Mensch und Architektur eine enge, für den ganzen Roman signifikante Verbindung ein. Während Martens Fassaden produziert, steht Hein für Solidität in jeder Hinsicht. A m Ende des ersten Kapitels begegnen sich die beiden bei der Inspektion des Theaters: Die Märzsonne war unbarmherzig; überall an den Möbeln, am gesamten Inventar, sah man abgeschabte Stellen [...] Unter den schwarzen, goldverzierten Tischbeinen jedoch war die nach oben gewandte Kehrseite der Platte grauweiß - unpolierte Kiefer. Ganz perplex blieb der Konferenzrat vor den beiden Tischen mit den aufwärtsgewandten, lackierten Beinen stehen: sämtliche Tische waren so. [...] Im selben Moment hatten die drei, noch bevor er den Mund auftat, die unglückselige Kehrseite erblickt - Adolf hätte 80
Neben biblischen Katastrophenszenarien wird mit dem Bild der Asche auch auf den Untergang von Pompeji angespielt. Bereits im ersten Teil des Romans ist auf der Baustelle von den »pompejanischen Wände[n]« (469) des Theatergebäudes die Rede.
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4- Textanalysen alle diese verdammten Tischbeine zerschlagen können; Martens redete zuerst, verwirrt wie ein Schulbub, den man in der Stunde beim Mogeln ertappt hat. (523/24)
In der richtigen Beleuchtung und unter einem geeigneten Blickwinkel zeigt sich die Kehrseite der prächtigen Theaterbauten. Zusammen mit dem natürlichen Licht der Sonne wird Konferenzrat Hein dem Erzähler zum Instrument, um die von ihm bereits im ersten Teil des Romans angedeuteten Betrügereien aufzudecken. Die Analogie von Theaterarchitektur und dem Vorgehen der Betreiber offenbart sich hier in ihrem ganzen Ausmaß: allerorten wird vertuscht und betrogen. Man stempelt Freibillets ab und ahmt Unterschriften nach, Zeitungsartikel werden beschönigt, bald nennt sich jedermann »Direktor« und selbst die Köche und Angestellten wirtschaften in die eigene Kasse. Wie im ersten Teil dient das Theater auch im zweiten Teil als Ausgangspunkt fur einen Querschnitt durch das »junge Kopenhagen«, der die Nähe von Bühne und Gesellschaft illustriert. Daß das Vortäuschen, Verputzen und Vergolden nicht auf die Geschäftswelt und exemplarisch auf das Victoria-Theater beschränkt ist, zeigt das folgende zweite Kapitel. Hier wird von einem Ball im Haus der Familie Gravesen erzählt, die sich gesellschaftlich aufputzt. Wo an gleicher Stelle im ersten Teil des Romans die Renovierungsmaßnahmen am Theater gezeigt werden, ist nun von den Ballvorbereitungen die Rede, die diesen bis ins Detail gleichen. Die Töchter der Familie arrangieren die Räume wie Martens das Theater, »denn die Gravesenschen Möbel bedurften schon ein wenig der stützenden Wände und wollten lieber nicht von allen Seiten gesehen werden.« (528) Auch hier bedient man sich verschiedener Lichtquellen, um das Ganze »in einem kleidsamen Dämmerlicht« (528) zu zeigen; von den Nachbarn werden Blumentöpfe ausgeliehen und am Ende der Vorbereitungen resümiert die Hausherrin: »Ja, ja es ist keine Kunst, mit fremdem Gut zu wirtschaften, dachte Frau Gravesen.« (530) Auch der Ball selbst gleicht der Operettenaufführung. Ein Klingelzeichen eröffnet die Veranstaltung, professionelle Tänzer, Bühnenakteuren ähnlich, sind geladen, und wie schon im Theater kommt Berg zu spät. Den Lesern wird also suggeriert: Die auf optische Wirkung bedachte Walzerseligkeit ist nicht auf die Bühne beschränkt, das gesamte gesellschaftliche Leben ist von ihr durchdrungen. Deutlichstes Indiz fiir dieses Phänomen ist der »Kußwalzer«, der, wie La valse de la blonde Venus in Nana, den Roman durchzieht und von den Figuren immer wieder angestimmt wird. Auch auf dem Gravesen-Ball ist er zu vernehmen, was einen Gast zu der Bemerkung veranlaßt: » [ . . . ] das ist das fröhliche Kopenhagen.« (537) Was sich hinter dieser künstlichen Fröhlichkeit verbirgt, wird im folgenden dritten Kapitel gezeigt. Analog zur Architektur des Theaters, zu den Pappfiguren, die wie Gipsarbeiten wirken, präsentiert sich die Gesellschaft. Die auf dem Ball vorherrschende Fröhlichkeit ist trügerisch, unter ihrer Fassade verbergen sich Schmerz und Verzweiflung. Was im ersten Teil des Romans nur angedeutet
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wird, entlädt sich jetzt in einer Vielzahl privater Tragödien. Während die Romanfiguren zunächst fortwährend lachen und singen, strömen nun ihre Tränen. Beständig wird geweint, man weint selbst, man weint mit und über die anderen. Die Folgen der fehlerhaften sprachlichen Kommunikation zeigen sich nun in ihrem ganzen Ausmaß: [...] zuweilen überkam sie eine hastige, überstürzte Redseligkeit, als wolle sie sich plötzlich alles von der Seele plappern, was sie peinigte, nur reden und reden, über alles mögliche, während sie mit stets denselben leblosen, starren Augen dasaß. »Morgen fahre ich«, sagte sie plötzlich. (566)
Letztlich lassen sich alle privaten Katastrophen auf einen einzigen Punkt reduzieren: die Unfähigkeit der Romanfiguren, das auszusprechen, was sie denken und fühlen. Die Differenz zwischen Signifikat und Signifikant wird so groß, daß psychische Spannungen sprachlich nicht mehr zu bewältigen sind. Sie benutzen folglich andere Kanäle, um sich zu veräußern: die Tränendrüsen. Genauso wie die Augen 81 der epischen Akteure sind sie Medium unmittelbarer und präziser Kommunikation. Auch wenn die Romanfiguren nichts oder das Gegenteil dessen sagen, was sie eigentlich meinen, ihr Blick drückt stets ihren wahren Bewußtseinszustand aus. Zumeist folgt den Gesprächen der Figuren ein Zustandsbericht ihrer Augen, die das Gesagte relativieren oder widerlegen. Mimik und Augenausdruck, so dürfen die Leser schließen, können nicht wie gesprochene oder geschriebene Worte gefälscht oder vorgetäuscht werden. Sie sind authentische Reflektoren des Bewußtseins, während sprachliche Äußerungen zur bloßen Fassade verkommen. 82 Das Leben der Romanfiguren erweist sich letztlich als Gegenstück zur Operettenfröhlichkeit. Was sich auf der Bühne als scherzhaftes szenisches Spiel präsentiert, hat in der Realität fatale Konsequenzen. Die amourösen Verwicklungen des Gänsemädchens bleiben folgenlos — zudem hat man die entscheidenden Stellen der Zensur unterworfen - , das Verhältnis der Romanfiguren Erhard und Mathilde aber mündet in eine Katastrophe: »[...] die ganze Geschichte dieses Liebe-Spielens, das sie zur Mutter gemacht hatte.« (573) Im entscheidenden Moment, wenn sich Erhard zur Vaterschaft bekennen und Mathilde einen Heiratsantrag machen sollte, vermag er dies, wie Berg bei Asta, 81
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»[...] die unsteten Augen (das Weiße gerötet, als wären alle Adern geplatzt) starr auf den Boden geheftet — als wäre er, schien es Berg, so wie er da stand, schon jetzt durch Schloß und Riegel von ihnen getrennt.« (624) Auch Mundpartie und Lippen erweisen sich immer wieder als untrügliches, bisweilen verräterisches Sprachrohr fiir die Gemütslage der Romanfiguren: »Nur ein Kind, wiederholte sie und hielt die Häkelnadel an ihre rebellisch zuckenden Lippen.« (578) »[...] sie redete und lachte [...] und er redete mit. Doch im Gehen fühlten sie beide, wie sie einander von Minute zu Minute mehr entglitten, bis es ihnen zuletzt vorkam, als wären all die alten, vertrauten Worte, an deren Gebrauch sie doch mit schmerzlicher Beharrlichkeit festhielten — als ob sie Spreu durch eine Mühle jagten — immer so leer und inhaltlos gewesen wie jetzt. Sie sprachen kein vernünftiges Wort miteinander.« (568)
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nicht auszusprechen. 83 Zur sprachlichen Barriere k o m m t die Unfähigkeit, zu handeln, Emotionen also physisch zu veräußern. Erhard kann seine Geliebte nicht einmal küssen, obwohl die ganze Stadt doch beständig im »Kußwalzer« davon singt. Was auf der Bühne leicht und folgenlos verläuft, wird in der Realität zum unüberwindbaren Hindernis, zum Auslöser fur Katastrophen. Dieser Opposition entsprechen die Beleuchtungsverhältnisse: Was im ersten Teil des Romans im Lichterglanz erstrahlt, befindet sich jetzt im Schatten. Die Dunkelheit dominiert das Romangeschehen: sowohl im Theater als auch in der Privatsphäre der Romanfiguren, deren individuelle Tragödien am Ende des vierten Kapitels ein letztes Mal gezeigt werden. In der Dunkelheit der Nacht bricht etwa Adolfs »ganze Angst [ . . . ] m i t einemmal hervor« (600). So wie dem Theaterdirektor ergeht es fast allen Romanfiguren, die nun die Konsequenzen ihres Tuns tragen müssen. Kopenhagen erscheint als Panoptikum der Trauer. In abgedunkelten Zimmern, beim schwachen Licht der Kerzen, wird vom Ende all jener zwischenmenschlichen Beziehungen erzählt, die am K o m munikationsdefizit der Romanfiguren scheitern. So wie das Theater im ersten Teil zum »großen Symbol für diese ganze Stadt, die zu leben
begann« ( 4 2 1 )
wird, steht es nun für Tod und Zerfall: » [ . . . ] erhob sich die schmale Fassade des Victoria-Theaters stumm und finster wie ein seltsames Grabmal.« ( 6 0 8 ) M i t den privaten Tragödien geht der Zusammenbruch des Theaters einher. Im vierten Kapitel wird, wie im ersten Teil, von einer Probe erzählt. Man studiert eine neue Operette ein, Der lustige
Krieg,84
um mit einer letzten, ver-
zweifelten Bemühung den finanziellen Ruin vom Victoria-Theater abzuwenden. Der Name dieser Operette pointiert eine Grundproblematik des Romans: das Verhältnis von (Bühnen-)Spiel und Realität. Das Attribut »lustig« kann seine Verbindung mit dem »Krieg« nur im Theater, in der W e l t der Operette, eingehen. In der Lebenswirklichkeit der Romanfiguren scheitert die Vereinigung des Gegensätzlichen, auch wenn Berg und seine Kollegen dies bis zum Ende nicht wahrhaben wollen. W i e der Titel des Stücks karikieren auch die in den Roman eingefügten Lieder aus der Operette die Romanhandlung: »Laßt uns den Frohsinn preisen, lustig ist dieser Krieg« ( 6 1 4 ) wird da gesungen, während draußen die Gläubiger warten. Die » S t i m m u n g « , ein von den Romanfiguren ständig benutzter Begriff, ist bei diesen Proben demnach eine ganz andere als bei der Beleuchtungsprobe im
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»Weshalb umfaßt du ihren Kopf nicht - und küßt sie [ . . . ] und sagst, sagst ihr, was das einzig Vernünftige, das einzig Ehrenhafte wäre: Wir zwei, die wir einander lieben, müssen doch wissen, es ist unser Kind . . . [ . . . ] Doch er tat nichts anderes, als daß er ihr ein wenig linkisch das Glas Wein reichte und sagte: Das wird dich wärmen.« (572) Bei diesem Stück handelt es sich um eine Operette in drei Akten von Johann Strauß: Der lustige Krieg, Text von F. Zell und Richard Genee, uraufgeführt 1881 in Wien. Sie gilt als eine der erfolgreichsten Operetten des Komponisten im 19. Jahrhundert. Vgl. auch hierzu Pipers Enzyklopädie, Band VI, S. 62.
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entsprechenden vierten Kapitel des ersten Teils. Wird dort alles ins gleißende Licht der neuen Scheinwerfer gerückt und mit frenetischem Applaus bedacht, ist hier das Dunkle, Zerfallende tonangebend: »Teufel - was fur eine Moderluft hier drinnen« bemerkt Berg beim Betreten des Theaters. Noch immer lachen die Romanfiguren unentwegt, aber diesem Lachen wohnt nun nichts Heiteres mehr inne. 85 Es wird zu einem Symptom der Agonie, das den letzten Zuckungen eines Sterbenden gleicht: »Adolf konnte gar nicht mehr aufhören mit seinem hohen, keuchhustenähnlichen Gelächter.« (593) Die Allianz von elektrischem Licht und Lachen, die ihren Ursprung im ausgelassenen, von den Scheinwerfern beleuchteten Operettentreiben auf der Bühne hat, wird an diesem Ort auch wieder aufgelöst. 86 Mit den Lichtverhältnissen wandelt sich die Metaphorik: die Sängerin wirkt nun wie ein »drehkrankes Schaf« (597), die Kritiker sitzen »frierend und gottergeben« (596) im Saal, dessen »hochgeklappte Sitze dumpf der Rampe entgegenglotzten.« (596) Im letzten Kapitel des Romans verläßt der »Operettenstaat« (6l6) abermals die Bühne und begibt sich in die Stadt. Nicht metaphorisch wie im ersten Kapitel, sondern leibhaftig. Die Schauspieler verlassen das Theater, um eine Petition bei der Bank einzureichen. Ein finaler Schritt der Entzauberung wird hier vollzogen. Auch die Bühne als letzte Bastion des artifiziellen Frohsinns fällt. Durch die Schuldenlast gezwungen, die Sphäre des Spiels und der künstlichen Beleuchtung zu verlassen, bieten die Schauspieler draußen einen ganz anderen Anblick: »Doch als Herluf alle diese geschminkten Gesichter f...] hier im Tageslicht vor sich sah, überfiel ihn von neuem Verwirrung.« (616) Aber nicht nur ihr Erscheinungsbild, auch ihre Handlungsweise wandelt sich. Außerhalb des Theaters verhalten sich die Mimen wie die Bürger der Stadt, denen sie sonst aufspielen. Sie reden unentwegt, verstehen einander nicht, »schluchzen und weinen« (616). Am Ende des Romans werden also jene eingangs entworfenen Analogien umgekehrt, die auf dem Zusammenspiel von Architektur und gesellschaftlichem, das heißt: vor allem sprachlichen Verhalten beruhen. Nachdem zunächst die heitere Ausgelassenheit von der Bühne auf die Zuschauer übertragen worden ist, die Bürger der Stadt also im Theater von dessen Atmosphäre infiziert worden sind, ist hier das Gegenteil der Fall. Die Schauspieler verlassen ihr eigentliches Milieu und übernehmen in der Stadt die Kommunikationsformen ihrer ehemaligen Zuschauer. 85
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Adolf beginnt zu lachen, »mit seinem unangenehm hohen Gelächter, ohne zu wissen worüber (alle lachten sie wie in einem Anfall, der so plötzlich vorüber war, als hätten sie m i t einemmal vergessen zu lachen)«. An anderer Stelle ist von der »krampfhaften Fröhlichkeit« der Theaterbetreiber die Rede, die sich in einem »Chor lärmenden Gelächters« (592) entlädt. »Als die Tür sich geschlossen hatte, brachen Adolf und Berg wieder in ein langes, lautes Gelächter aus, bis sie plötzlich wie auf ein Kommando innehielten, verlegen über ihr eigenes leeres Lachen, das erstarb. Lange saßen sie s t u m m , während es ganz dunkel wurde im Raum.« (594)
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4. Textanalysen
In der Bank empfängt Konferenzrat Hein die Theatertruppe. Die spiegelbildliche Anlage der beiden Teile des Romans wird durch diese Passage abgerundet. Während das Romangeschehen im ersten Teil von zwei Theateraufführungen eingerahmt wird, bilden im zweiten Teil die beiden Bankepisoden die Klammer, welche die privaten Tragödien umschließt. Am Ende steht der Konferenzrat wie zu Beginn des zweiten Teils im Mittelpunkt des Geschehens. Es werden noch einmal die sprachlichen Differenzen sondiert, die sich bereits bei seinem ersten Auftritt offenbaren. Im Büro des Bankiers zeigt die Rhetorik der Schauspieler keine Wirkung, sie scheinen gar ihr mimisches Talent eingebüßt zu haben: »sie verloren sich nur in langen Deklamationen [...]« (618). Die Komödianten agieren nun wie alle anderen Figuren des Romans. Allein der Konferenzrat unterscheidet sich von ihnen: »[...] seine Sätze erschienen noch knapper und klarer als gewöhnlich.« (618) In der Bank endet die Geschichte des Victoria-Theaters, nicht aber der Roman. Stuck wird nur vordergründig mit dem Zusammenbruch des Theaters — und das heißt dem Erlöschen seiner Leuchtkraft — beschlossen. Auch im solide gebauten Bankgebäude gibt es Stellen, die unbeleuchtet bleiben: »[...] merkwürdig sah es aus, als flüchtete die Dunkelheit sich wie hastige große Fledermäuse nur in die Gewölbe hinauf und versteckte sich dort.« (621) Mit einem Vergleich im irrealis, seiner zentralen Strategie, um mahnend und warnend ins epische Geschehen einzugreifen, signalisiert Bangs Erzähler hier: Die eben vorgetragene Geschichte vom Aufstieg und Fall des Victoria-Theaters steht exemplarisch fur andere Projekte der Massenbegeisterung, in die sich das »junge Kopenhagen« köpf- und vor allem sprachlos stürzt, um Stille und Dunkelheit erneut zu überdecken. Am Ende der Passage, im Büro des Konferenzrates, deutet sich eine neue Erscheinungsform solch kollektiver Euphorie an: »Das Licht der Straßenlaternen fiel auf die Wand und über die große Karte von Nordeuropa. Er starrte lange auf diese Karte, auf Dänemark: es schien, als würden die Konturen in dem flackernden Licht unruhig [...]« (623). Mit diesem Beleuchtungswechsel wandelt sich auch die Perspektive auf die Ereignisse in der Stadt. Die panskandinavische Idee, bisher nur auf kulturellem Gebiet, im Bereich des Theaters, von Bedeutung, wird nun politisch akzentuiert. Hier deutet sich eine neue Form der Massenbegeisterung an, die im letzten Kapitel an zwei verschiedenen, aber inhaltlich zusammenhängenden Schauplätzen entwickelt wird. Zunächst in Bergs Wohnung, wo er sich mit Sundt, einem Freund seines Vaters unterhält, der ihm von den Schrecken des deutsch-dänischen Krieges um Schleswig berichtet und mit den Worten schließt: »[...] daß diese ganze Menagerie, diese Geschäftigkeit - Sundt zeigte auf die Stadt draußen - ja nur einem Wundfieber gleicht ... Das ist nichts anderes als das Wundfieber von Düppel.« (632) Sundt fungiert, wie Adolf und Lange, als Sprachrohr des Erzählers. Im Vergleich von Stadt und Menagerie wird zusammengefaßt, was im Verlauf des Romans metaphorisch immer wieder
4.3. Herman Bangs Stuck (1887)
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anklingt. Kopenhagen gleicht einer Arena, in der dressierte Tiere zu sehen sind: die Menagerie als finales Analogon des Theaters. Mit Sundts Vergleich wird die Tiermetaphorik obsolet; am Ende des Romans treten wirkliche Tiere auf. Berg beobachtet durch ein Fenster, schaubühnengleich, das Treiben auf der Straße. D o r t taucht ein »schwarzer Leierkastenmann« auf, dessen Affen z u m Kußwalzer tanzen, eine Passage, die nicht nur das Rezeptionsverhalten der Kopenhagener Bürger, sondern das Romangeschehen insgesamt resümiert. Statt der Menschen, zu metaphorischen Tieren stilisiert, tanzen nun leibhaftige Tiere. Bergs Gespräch m i t Sundt folgt ein letzter Ortswechsel, der den Roman beschließt. Auch Frau Heltz u n d eine Freundin blicken durch ein Fenster auf die Straße: Ein munteres, singendes Gewimmel unter dem Fenster. Reihe auf Reihe summte in allen möglichen Tonarten dasselbe Lied, während die Gesichter im Schein der Laternen strahlten und lachten. »So soll es sich erweisen, / lustig ist dieser Krieg. / Laßt uns den Frohsinn preisen [. . .]«. Hauptmann Petersen vom Blatt steckte den Kopf aus der Droschkentür [...] er kam von einem Verein, bei dem er einen populären patriotischen Vortrag über »unsere tausendjährigen Walstätten in Schleswig« gehalten hatte. (635) Ein letztes Mal setzt sich das Operettentreiben in die Stadt fort. I m Schein der Lampen singt m a n fröhlich u n d ausgelassen Lieder aus dem aktuellen Stück. N a c h Baumeister Martens und Konferenzrat H e i n wird nun eine dritte Person m i t d e m Theater u n d seinen Besuchern in Verbindung gebracht: H a u p t m a n n Petersen, ein Nationalist, der am Ende des Romans zu einer wichtigen Figur avanciert. Erst im zweiten Teil eingeführt, wird er »als ein Mann der Begeisterung« bezeichnet, der in Kopenhagen i m m e r größeren Zuspruch fur seine Politik erhält. In Bergs Redaktion lobt er ausdrücklich die dänische Presse ob ihrer nationalen Gesinnung u n d präsentiert sich auch ansonsten als einer, der Emotionen zu erwecken versteht: »Er hatte im Frederiksberger Waffenbrüderverein darüber gesprochen, wie wichtig es sei, die nationalen Gedenktage als Feste zu begehen. D a herrschte H o c h s t i m m u n g sagte er [...].« (598) Die Begeisterung für Theater, Feuerwerk u n d ähnliche Veranstaltungen wird ausdrücklich m i t der Begeisterung für die nationale Sache gleichgesetzt. Ein Redakteur k o m m e n t i e r t dieses Phänomen gleichsam prophetisch: » [ . . . ] es sind die billigen Vergnügungen, die das Volk haben will.« (598) Hier der H a u p t m a n n u n d das Volk, das sich ftir seine nationalistische Politik begeistert -
Lieder aus der Operette Der fröhliche Krieg singend - , dort
Sundt, der Berg von den realen Schrecken des Krieges berichtet: eine Analogie beschließt den Roman. Was bisher im Bereich des Privaten gezeigt worden ist — Operettenliebe bleibt folgenlos, während reale Liebe fatale Konsequenzen haben kann — wird nun ins Politische ausgeweitet. Die Botschaft des allzeit mahnenden Erzählers lautet jetzt: Operettenkrieg und wahrer Krieg haben
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4. Textanalyse)
nichts gemein. Man hat aus dem Fall »Victoria-Theater« keine Lehren gezogen. Die Ereignisse wiederholen sich beständig, also schließt der Roman, wie er angefangen hat: mit einer kollektiven Begeisterung, die allerdings den Bereich des Privaten beziehungsweise Ökonomischen transzendiert. Stuck endet wie Nana mit einer Öffnung des Romangeschehens ins Politische. Beide Romane vermitteln den Krieg als Phänomen kollektiver Euphorie, die zunächst am Beispiel des Theaters gezeigt wird und diesen Rahmen nach und nach sprengt. Beide sind eigentliche Theaterromane und beide berichten von Aufstieg und Verfall: der eine vom Theater als Spekulationsobjekt, der andere vom Werdegang der Hauptdarstellerin. In beiden Romanen werden Bühne und Publikum - als exemplarischer Vertreter der hauptstädtischen Bourgeoisie - in eine komplexe Wechselbeziehung gesetzt, bei der die künstlerische Qualität des Bühnenspiels nur zweitrangig ist und ästhetische Fragestellungen weitgehend ausgeklammert werden. Erzählt wird vielmehr, wie sich die aufgeführten Operetten gleichsam verselbständigen - hier als tanzendes und lachendes Kollektiv, dort als Körper der Hauptdarstellerin - , um sich via Walzermusik über die Stadt zu verbreiten und deren soziales Geflecht zu durchdringen. In beiden Romanen wird dieser Vorgang mit einer — ironisch zitierten und mannigfaltig gebrochenen — mythologischen Bilderschicht unterlegt, die in ihrer Gesamtheit den Gesetzen des biblischen Mechanismus von Prophezeihung und Einlösung folgt. Bei dieser komplexen epischen Verknüpfung von Theater, Gesellschaft und Mythologie setzt Bang allerdings andere Akzente als Zola. Während dessen Hauptfigur im Laufe des Romans den theatralischen Rahmen abstreift und als verselbständigtet Körper eine ganze Stadt infiziert, steht in Stuck die Doppelnatur des Theaters — als Gebäude und als Ort des szenischen Spiels - im Mittelpunkt. Zunächst werden einerseits Bühnenspiel und soziales Verhalten, andererseits Theater- und Stadtarchitektur miteinander in Beziehung gebracht. Im Laufe des Romans durchdringen sich beide Bereiche dann auch wechselseitig: Architektur als Analogon gesellschaftlichen Verhaltens.87 Auf diese Weise wird der titelgebende Stuck von der Architektur auf eben jene Personen übertragen, denen sie Lebensraum bietet. Nicht nur die Stadt, lautet die Botschaft des Romans, auch ihr soziales Geflecht besteht aus optisch aufgeputzten und im Sinne des Theaters kostümierten Oberflächen, hinter denen sich eine marode Substanz verbirgt.
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Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, daß Gebäude immer wieder als lebende Organismen dargestellt werden (»in dem stillen Haus, wo nur das Wasser in den Rohren leise seufzte« [600], bzw. »als müßte sie in den Mauern selber die geheimen Poren finden, durch die das Gold in diesem Haus hinwegrieselte« [545]), während ihre Bewohner wie Maschinen erscheinen: »Eine Maschine ist man, sagte er, eine Maschine« ( 4 1 2 ) bzw. »Adolf wurde immer nervöser angesichts dieser lebendigen Automaten« (557).
4.3. Herman Bangs Stuck (1887)
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Gesellschaftliches Verhalten, das der Architektur Kopenhagens gleicht, manifestiert sich in Stuck vor allem als sprachliches Phänomen. Die Kommunikation der Romanfiguren ist zentrales Anliegen des Romans. Sie unterliegt demselben Mechanismus wie die Architektur des Victoria-Theaters, sie erfüllt ihre eigentlichen Funktionen nicht, weil sie substanzlos ist. So wie die fehlerhaften Baumaterialien das Theatergebäude nicht hinreichend stützen können, sind die Romanfiguren unfähig, fundiertes sprachliches Material zu verwenden, um angemessen und wirksam zu kommunizieren. Dies beginnt bei den geschäftlichen Besprechungen der Theaterbetreiber, bei denen gelogen und verheimlicht wird und reicht bis in die Privatsphäre der Romanfiguren und ihre Hilflosigkeit, Emotionen sprachlich auszudrücken. Ihr Kommunikationsverhalten entspricht der Doppelnatur des Theaters: Die Äußerungen der Romanfiguren erweisen sich einerseits wie das Theatergebäude als Fassade und sie reduzieren sich andererseits wie die Operette auf einen bloßen Geräuschteppisch aus Singen, Lachen und Lärmen. Dieses kommunikative Unvermögen der Romanfiguren wird in Stuck als Ergebnis eines Prozesses vermittelt, der sich an die biblische Vorstellung vom verlorenen Paradies anlehnt. Die Episode über Bergs Kindheit auf dem Land macht deutlich, daß es andere, funktionstüchtige Formen der Verständigung gibt, über die das »junge Kopenhagen« nicht mehr verfugt. Bangs Roman kann also auch als kulturkritischer Zustandsbericht gelesen werden: Im amüsierwilligen Kopenhagen des ausgehenden 19. Jahrhunderts ist die Endstufe eines lang andauernden, im Roman aber auf einen knappen Rückblick reduzierten Prozeß des Sprachverlustes erreicht. Die Menschen haben ihr distinktives Merkmal - Vernunft, die sich sprachlich äußert — verloren und sind in einen kommunikativen Urzustand zurückgefallen: ihre sprachlichen Äußerungen haben nur noch Lautcharakter, kommuniziert wird über Mimik und Gestik. Eigentliches Mitteilungsorgan ist ihr Körper, dessen Botschaften eindeutig und nicht manipulierbar sind. Die Romanfiguren gleichen folglich Tieren und werden als solche dargestellt. Anders als bei Zola ist das Animalische in Bangs Roman allerdings weniger biologistisch als sprachphilosophisch motiviert. Am eindringlichsten zeigt dies eine Passage am Ende des Romans. Der Vater des toten Erhard, von Wut und Verzweiflung ergriffen, wirft Berg und seinen Freunden vor, aus Kopenhagen eine »Gauklerstadt«, »Sodom und Babel nannte er sie« (606), gemacht zu haben. In Bangs epischem Kopenhagen - gleichsam ein modernes Babylon - gibt es dennoch, wenn auch nur wenige Instanzen, die über eine klare, intelligible Sprache verfügen. Da ist einmal Erhards Vater: Bezeichnenderweise gelingt es dieser Figur erst im Wahnsinn des Schmerzes, in einer ansonsten nie gezeigten Luzidität, die Dinge beim Namen zu nennen. Bang aktualisiert mit dieser Figur ein literarisch oft vereinnahmtes Phänomen: den Geisteskranken, der in Momenten psychischer Verwirrung Wahrheiten ausspricht, die den übrigen Personen verborgen bleiben.
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4- Textanalysen
Zwei weitere Instanzen verfugen über eine klare und somit mächtige Sprache. Zunächst die Ökonomie, verkörpert in der Person des Konferenzrates. Immer wieder wird von Heins präziser und knapper Ausdrucksweise berichtet, die mit dem Geplapper der übrigen Romanfiguren kontrastiert. Seine Sprache ist die Sprache der Zahlen, der Finanzen, die im Gegensatz zur Kommunikation der Kopenhagener Bürger von geradezu demiurgischer Macht ist. Sie entscheidet in der Tat über Leben und Tod. Versiegen die Kredite, bedeutet dies das Ende des Theaters und den Ruin all derer, die von ihm abhängen. Der Konferenzrat selbst erscheint immer wieder als Person, die mit quasi-göttlichen Eigenschaften ausgestattet ist. Er gebietet über ein Heer von Kassierern, »die Geldscheine murmelnd hinzählten, als würde in dem großen Saal eine ewige Messe zelebriert« (506); wenn er bei der Beleuchtungsprobe eine Rede auf den technischen Fortschritt hält, »weinten [die Besucherinnen; d.Verf.], als wären sie beim Gottesdienst« (480). Die eigentliche Religion des »jungen Kopenhagen« ist das Geld, dessen Macht alles unterworfen wird. Der Vorsitzende der Bank entscheidet über Aufstieg und Fall nicht nur des Theaters, sondern auch zahlreicher anderer Projekte in einer Stadt, deren Bewohner sich diesem Mechanismus willig unterwerfen. Der Goldregen als göttliche Erscheinungsform verliert in diesem Kontext seine mythologische Konnotation und wird zum Bild für die Verfuhrungskraft des Geldes. Dieser Prozeß wird von einer Instanz vermittelt, die ebenfalls über eine klare, intelligible Sprache verfügt: Bangs Erzähler, der im Roman zwei verschiedene Funktionen ausübt. Er agiert einerseits wie ein biblischer Prophet. Er benutzt Bilder und Mythen der christlichen Religion, die innerhalb des Romangeschehens nichts mehr zu bewegen vermag und von der Ökonomie abgelöst worden ist, um seine Geschichte von Aufstieg und Fall des VictoriaTheaters zu erzählen. Zu diesem Zweck wird, formal konsequenter als bei Zola, der biblische Mechanismus von Prophezeihung und Einlösung übernommen. Die beiden Teile des Romans entsprechen in ihrer Relation auch formal dem Alten und Neuen Testament der Bibel. Wo in Nana Bilder nur aufgerufen und verzerrt werden, erscheinen bei Bang zahlreiche biblische Zitate im Originalwortlaut. Der Erzähler selbst präsentiert sich als prophetischer Mahner, 88 der die Leser unabläßig auf das verhängnisvolle Treiben seiner Figuren hinweist. 88
Mehrere Romanfiguren unterstützen ihn hierbei unwissentlich, vor allem Lange, Bergs Freund, der ihn zu den Theaterauffiihrungen begleitet: »Allerhand, was wir für Fassaden bauen, sagte Berg, der bei der unruhigen Beleuchtung auf den vielköpfigen Fußgängerstrom hinaussah. Wir tünchen unsere Grüfte, bemerkte Lange.« (374) Als prophetisches Sprachrohr des Erzählers verweist er auf die Sprachproblematik (»Ich wäre schon froh, wenn ich nur eine einzige kleine Empfindung herausbrächte — denn das ist, der Teufel hol mich, die Kunst; dies eine kleine Wort zu finden ...« [416]), und die Bedeutung der Lichtverhältnisse (»und man weiß, wie das Licht einfallen muß ...« [575]), spricht also orakelhaft das ästhetische Programm des Romans aus. Selbst auf Zola kommt er zu sprechen: »Ein Satanskerl [...] Der weiß worauf es ankommt, fuhr er fort, die Sinne anzusprechen, das ist es. [...] Man riecht ihn gera-
43- Herman Bangs Stuck (1887)
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Bangs Erzähler agiert andererseits aber auch wie der Beleuchter im Theater. Das Widerspiel von Erhellen und Verdunkeln wird dem epischen Regisseur dienstbar gemacht, um über den Kontrast von Hell und Dunkel, Licht und Schatten die Geschichte einer Bühne auszubreiten. Anders gesagt: Wovon erzählt wird, wirkt sich auch in Bangs Roman auf diese Tätigkeit selbst aus. Der Entwurf der epischen Welt erweist sich demnach als Meta-Analogon: sowohl zur christlichen Schöpfungsmythologie als auch zur ästhetischen Produktion des Theaters. Verbindendes Element in dieser Konstellation ist das Licht. Das biblische fiat lux fließt in die Komposition des Romans ebenso ein wie das technische Ein- und Ausschalten der Bühnenbeleuchtung. Bang geht also einen Schritt weiter als Zola. Während jener die Scheinwerfertechnik der Bühnenbeleuchtung nutzt, um die Ereignisse im und außerhalb des Theaters erzählerisch zu verknüpfen, konzipiert Bang seinen Roman insgesamt über die Opposition von Hell und Dunkel. Einem Lichtschalter ähnlich, strukturieren diese beiden Bereiche den Gesamttext. Die Romanfiguren reagieren auf die wechselnden Lichtverhältnisse wie, um bei Bangs Tiermetaphorik zu bleiben, Pawlowsche Hunde. Ist es hell, wird geplappert, getanzt und gelacht, ist es dunkel, verstummen sie, furchten sich und weinen. Verhalten und Sprachgebaren der Romanfiguren werden maßgeblich von den Beleuchtungsverhältnissen gesteuert. Innerhalb des Bereiches Licht bildet sich dabei ein zweites, im Roman auch mythologisch aufgeladenes Oppositionspaar heraus, das auf dem Gegensatz von natürlicher und künstlicher Beleuchtung beruht: Hier Sonnenlicht, mit Bergs Kindheit assoziiert, dort elektrisches Licht, Teil des »jungen Kopenhagen«. Wie Zolas Roman zeugt auch Stuck vom Siegeszug des Gas- und schließlich des elektrischen Lichts in den Metropolen Europas, wo sich ein Nachtleben, eine Vergnügungs- und Flanierkultur entwickelt, wie sie vorher so nicht existiert hat. Herman Bang, der um 1870 nach Kopenhagen kommt und Zeuge dieses Wandels wird, geht in seinem Großstadtroman diesen neuen Affinitäten von Beleuchtung und Sozialverhalten nach. 89 Dabei greift er nicht nur technische Entwicklungen auf, auch aktuelle politische und kulturelle Ereignisse fließen in seinen Roman ein: etwa der Krieg um Schleswig oder die panskandinavische Idee. Diese Aktualität gilt auch für die im Roman aufgeführten Stücke. Sowohl die Operetten als auch Dumas' Schauspiel existieren tatsächlich. Alle drei sind zwischen 1880 und 1881 entstanden, wenige Jahre vor der Publikation von Stuck. Bühnenspiel und Autoren waren den Zeitgenossen des Romanciers also gut bekannt: nicht nur wegen ihrer Aktualität, sondern auch wegen
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dezu sagte er und schnüffelte ein bißchen.« (395). Der Bezug zu Zola wird also auch im Roman selbst, parodistisch überzeichnet, hergestellt. Zwischen 1870 und 1900 entwickelt sich die dänische Hauptstadt zu einer modernen europäischen Metropole, die elektrische Straßenbeleuchtung erlebt ihre Premiere 1892 auf Kongens Nytorv.
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4. Textanalysen
ihrer Popularität in der zweiten Hälfte des 19· Jahrhunderts. Auf diese Weise werden, ähnlich wie in Madame Bovary, Bezüge zur Lebenswirklichkeit der Leser hergestellt. Bang verknüpft Religion, Sprache, Polititk, Wirtschaft, technischen Fortschritt aber auch private Bindungen zu einem epischen Gesamtbild der Gesellschaft und illustriert ihr komplexes Zusammenspiel an der Geschichte einer Bühne. Stuck steht daher in einer Reihe mit Werken weitaus bekannterer europäischer Schriftsteller. W i e Madame Bovary und Nana zeigt auch Bangs Roman, auf welche Weise erzähltes Theater in der zweiten Hälfte des 19· Jahrhunderts mit aktuellen sozialen und ästhetischen Fragen verknüpft wird und was es für den Roman als Gegenstand der Erzählung leisten kann.
4.4. Oscar Wildes The Picture of Dorian Gray (1890) Im vierten Kapitel des Romans 9 0 berichtet Dorian Gray seinem Freund Lord Henry vom Besuch eines Londoner Vorstadttheaters: You filled me with a wild desire to know everything about life. For days after I met you, something seemed to throb in my veins . . . . Well, one evening about seven o'clock, I determined to go out in search of some adventure. I felt that this grey, monstrous London of ours, with its myriads of people, its sordid sinners, and its splendid sins, as you once phrased it must have something in store for me [...]. I remembered what you had said to me [...] about the search for beauty being the real secret of life. I don't know what I expected, but I went out and wandered eastward, soon losing my way [...]. About half-past eight I passed by an absurd little theatre, with great flaring gas-jets and gaudy play-bills. (83/84)
Anders als in den bisher analysierten Romanen wird dieser Theaterbesuch nicht von einem wie auch immer gearteten Erzähler, sondern von der Hauptfigur selbst in erlebter Rede vermittelt. Die Ereignisse präsentieren sich den Lesern gefiltert: durch Dorians subjektive Wahrnehmung, die, wie er erklärt, maßgeblich von den in Basil Hallwards Atelier vorgetragenen Reden seines Gesprächspartners gesteuert wird. Lord Henrys Äußerungen, an anderer Stelle als »exquisite poison« (84) bezeichnet, veranlassen Dorian zu seinem Rundgang durch das abendliche London. Dabei nimmt er das Leben ringsum verzerrt wahr — eben als berauschter, ja vergifteter Mensch. Dorian sieht die Stadt so, wie Lord Henry von ihr gesprochen hat, als dunklen, monströsen Ort, der eine Vielzahl an unbekannten Abenteuern birgt. Gleichwohl verfolgt er ein bestimmtes Ziel, 90
Isobel Murray (Hg): The Oxford Authors. Oscar Wilde, Oxford University Press, Oxford/New York 1 9 8 9 , S. 4 7 - 2 1 4 . Zur Entstehungsgeschichte des Romans und seinen verschiedenen Fassungen vgl. Oscar Wilde: The Picture of Dorian Gray (Urfassung 1890). Kritische Neuausgabe mit einer Einfuhrung von Wilfried Edener, Erlanger Beiträge zur Sprach- und Kunstwissenschaft 18, Nürnberg 1964. Die Jahresangabe 1 8 9 0 bezieht sich auf die erste Publikation; der Textanalyse liegt die Buchfassung von 1 8 9 1 zugrunde. Im folgenden wird der Titel des Romans mit Dorian Gray abgekürzt.
4.4. Oscar Wildes The Picture of Dorian Gray (1890)
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»the search for beauty« (84). Dies sind die Rahmenbedingungen des Theaterbesuchs: ein junger Mann, angestachelt durch die Reden seines Freundes, auf der Suche nach Schönheit. Im Dunkel der » g r i m y streets« und »black, grassless squares« (84), einer Gegend, die noch über wenig Straßenbeleuchtung verfugt, wird er vom Gaslicht eines Theaters angezogen. Diese Spielstätte hat nichts mit den prunkvollen Opernhäusern gemein, die Dorians Freunde besuchen. Es ist ein kleines, häßliches Theater, das seiner Umgebung gleicht. Über die Architektur ergibt sich so ein erster Bezug von Stadtviertel und Bühne. Dem äußeren Erscheinungsbild des Theaters entspricht sein Innenraum samt Personal. Der Direktor, »a hideous J e w « (84) komplimentiert Dorian hinein: »I looked out from behind the curtain, and surveyed the house. It was a tawdry affair, all Cupids and cornucopias, like a third-rate wedding cake.« (85) Mit der Beschreibung des Saales antizipiert Dorian das weitere Romangeschehen. Er begegnet hier, in einem mit Liebesgöttern und Füllhörnern verzierten Raum, tatsächlich seiner vermeintlich großen Liebe, deren Ende er bereits an dieser Stelle unwissentlich vorwegnimmt. Der Vergleich mit einer mißratenen Hochzeitstorte trifft nicht nur auf die Ausstattung des Theaterraumes sondern auch auf Dorians Verlobung mit der Schauspielerin Sibyl Vane zu. Denn dies ist der eigentliche Anlaß, vom Theaterabend zu berichten. Dorian hat sich in die Hauptdarstellerin des Stücks verliebt: »I see you are laughing. It is horrid of you! I am not laughing, Dorian; at least I am not laughing at you. But you should not say the greatest romance of your life. You should say the first romance of your life. You [ . . . ] will always be in love with love.« (84) In seiner Unterhaltung mit Dorian übt Lord Henry eine spezifische Funktion aus. Er übernimmt nicht nur den Part des Gegenüber, der zuhört und Fragen stellt, sondern relativiert beständig die Aussagen der Hauptfigur. Dabei lassen sich zwei Argumentationsschritte unterscheiden. Zunächst stellt Lord Henry Dorians Anspruch nach absoluter Gültigkeit in Frage, indem et das Attribut »greatest« in »first« überführt. In einem zweiten Schritt verfährt er geradezu gegenteilig. Er wandelt Dorians spezifische Zuneigung zur Bühnenakteurin in eine allgemeine Affinität zur Liebe um, versetzt sie also vom Konkreten ins Abstrakte. Auf diese Weise argumentiert er weiter: mittels Allgemeinplätzen, sprichworthaften Weisheiten und Aussagen, die immer eine ganze Gruppe von Menschen oder Ideen umfassen. Lord Henry gleicht einem Behälter, der scheinbar unbegrenzt mit Lebensweisheiten und Sentenzen angefüllt ist. In seinen Monologen über Liebe und Leidenschaft ist immer von »passion« als solcher die Rede, aber auch von »we« — einer ganzen gesellschaftlichen Gruppe - und niemals von Individuen. Lord Henry beeinflußt Dorian so in doppelter Weise. Einerseits steuert er die Wahrnehmung seines Freundes vor dem Theaterbesuch, andererseits wirkt er auf das Erlebte ein, indem er es nachträglich im Gespräch modifiziert.
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4. Textanalysen
Dorian berichtet seinem Gegenüber schließlich von der eigentlichen Theateraufführung. Dem Zustand der Bühne und des Stadtteils entsprechen die Zuschauer. Sie geben sich ausgelassen und zwanglos, ihre Kleidung dient nicht der Repräsentation, sondern ist in der Hitze des Theaterraumes nur hinderlich - die Westen und Überröcke werden also abgelegt. Im Theater herrscht ein lautes, zwangloses Durcheinander, das den Charakter einer Jahrmarktsaufführung trägt. Wie das Publikum präsentieren sich auch Orchester und Schauspieler. Allein das aufgeführte Stück — Romeo and Juliet von Shakespeare — und die Hauptdarstellerin heben sich ab: They [Mercutio und Romeo; d.Verf.] were both as grotesque as the scenery, and that looked as if it had come out of a country booth. But Juliet ! Harry, imagine a girl, hardly seventeen years of age, with a little flower-like face, a small Greek head, [ . . . ] , eyes that were violet wells of passion, lips that were like the petals of rose. And her voice [ . . . ] had the wild passion of violins. You know how a voice can stir one. Your voice and the voice of Sibyl Vane are two things that I shall never forget.[...] She is everything to me in life. Night after night I go to see her play. One evening she is Rosalind, and the next evening she is Imogen. (85)
Mit dem Personal auf der Bühne verhält es sich offenbar wie mit dem Publikum im Zuschauerraum. So wie sich Sibyl von den schäbigen Akteuren unterscheidet, hat Dorian mit den übrigen Zuschauern nichts gemein. Beide heben sich durch Aussehen und Verhalten von ihrer Umgebung ab. Diese Analogien stellen eine Verbindung von Schauspielerin und Zuschauer her: Dorian hat gefunden, wonach er gesucht hat. Seine Rhetorik läßt erkennen, wie sehr er von Lord Henry beeinflußt ist. Über Sibyls eigentliche Schauspielkunst wird nur wenig ausgesagt. Vielmehr beschreibt Dorian sie wie eine lebende Statue — das Attribut »Greek head« unterstreicht dies —, die seiner bis dahin unbestimmt gebliebenen Sehnsucht nach Schönheit eine sichtbare und im weiteren Verlauf des Romans auch greifbare Gestalt gibt. Dabei macht er sich die sprachlichen Verfahren Lord Henrys zu eigen. Dorian redet von Sibyl in Bildern, die sich aus der traditionellen Liebesrhetorik speisen und den Bereich des Konkreten transzendieren. Metaphorisch verwandelt er ihre Augen in Quellen der Leidenschaft und ihre Stimme in Musik. Er entkörperlicht die Schauspielerin, weil er sie verzerrt und vor allem reduziert wahrnimmt. Sibyl fungiert als variabler Parameter, der jeden Abend mit einer neuen Rolle besetzt werden kann, aber selbst identitätslos bleibt. Wenn Dorian resümierend erkärt »she is Rosalind«, verfährt er wie Lord Henry. Er verwandelt eine reale in eine fiktive Person: Sibyl existiert fur Dorian nur abends, wenn sie im Licht der Scheinwerfer ihre Rolle spielt. Wie sehr Dorian Lord Henrys Denk- und vor allem Ausdrucksweise übernommen hat, verrät auch seine Äußerung: »I have seen her in every age and in every costume. Ordinary women never appeal to one's imagination. [ . . . ] One knows their minds as easily as one knows their bonnets.« (86). Dorian redet wie
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Lord Henry: sprichworthaft und verallgemeinernd, stets das Pronomen »one« gebrauchend. Im weiteren Verlauf des Gesprächs kristallisiert sich immer deutlicher heraus, daß Dorian Sibyl nicht als Wesen aus Fleisch und Blut verehrt. Er bezeichnet sie zunächst als »divine« (88), dann spricht er von »that little ivory body« (88). Sibyl wird aus dieser Perspektive nicht nur zu einer Interpretin von Rollen, sondern auch zu einem elfenbeinernen Figürchen, das wie ein Spielzeug wirkt. Sie ist fur Dorian »l'amoureuse de tous les romans« 9 1 auf der Bühne: »She is all the great heroines of the world in one. She is more than an individual.« (88). Sibyl wird selbst in eine dramatische Figur, ja in einen Archetypus verwandelt. Auf Lord Henrys Frage: »When is she Sibyl Vane?« antwortet Dorian: »Never« (88). Weder ihre reale Person noch ihre körperlichen Reize sind von Bedeutung. Dorian versucht folglich nicht, die Schauspielerin persönlich kennenzulernen. Ihm genügt es zunächst, Sibyl im Bereich des Spiels zu bewundern, sie - ihrem wie er meint göttlichen Charakter entsprechend - aus der Distanz zu verehren. Obwohl sich Dorian anfangs weigert, die Schauspielerin in ihrer Garderobe aufzusuchen, gelingt es dem Direktor, ihn hinter die Bühne zu fuhren, wo er die Gelegenheit erhält, Sibyl zu ihrem Spiel zu gratulieren. Ein persönlicher Kontakt 92 zwischen Zuschauer und Bühnenakteurin wird somit hergestellt und die im Theater übliche Distanz aufgehoben. Diese Begegnung nimmt sich in Dorians Bericht wie eine Vermählungsszene aus. Nachdem er zu Beginn die Ausstattung des Theaters als drittklassige Hochzeitstorte bezeichnet hat, läßt er nun den Direktor wie einen Geistlichen agieren: »The old Jew stood grinning at the doorway of the dusty greenroom making elaborate speeches about us both, while we stood looking at each other like children.« (87/88) Hinter der Bühne wird, parodistisch verzerrt, eine Hochzeit vollzogen, die auf der Bühne stattfinden könnte, weil die beiden Hauptfiguren sie zuvorderst als Spiel auffassen. »To make Romeo jealous« ist Dorians Devise, und von Sibyl sagt er: »She regarded me merely as a person in a play. She knows nothing of life.« (88) Auch Sibyl nimmt Dorian nur verzerrt und eingeschränkt wahr. Sie interessiert sich weder für seinen Namen noch fur seine Identität. Sie nennt ihn »Prince Charming« (88), versieht ihn also mit einem fiktiven, dem Bereich des Spiels entnommenen Namen. Ihr Verehrer verfährt ebenso: »The Jew wanted to tell me her story, but I said it did not interest me.« (89) Soziale Identitäten werden auf beiden Seiten ausgeklammert.
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Flaubert, Madame Bovary, S. 533. Bemerkenswert ist auch, wie sich diese Kontaktaufnahme anbahnt. Sie funktioniert nach dem bereits in Illusions perdues verzeichneten Schema. Ein Blick überwindet zunächst die Distanz von Zuschauerraum und Bühne: »I had thrown her some flowers, and she had looked at me; at least I fancied that she had.« (66) Ihm folgt das Überschreiten der Grenzen von Bühne und Zuschauerraum und schließlich der eigentliche Körperkontakt.
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Was Dorian in seinem Bericht zunächst nur andeutet, vollzieht sich dann am Ende des Kapitels. Lord Henry erhält die Nachricht von dessen Verlobung mit der Schauspielerin. Das vormalige Verhältnis von Zuschauer und Bühnenakteurin hat sich also entscheidend gewandelt. Die beiden sind nun Braut und Bräutigam. Ihre Relation unterliegt nicht mehr den ästhetisch determinierten Spielregeln des Theaters, sondern den Gesetzen gesellschaftlicher Realität. Unter diesen neuen Vorzeichen wird von einem zweiten Theaterbesuch im siebten Kapitel des Romans erzählt. Dorian schlägt Lord Henry am Ende ihres Gesprächs vor, ihn zusammen mit dem Maler Basil Hallward ins Theater zu begleiten. Dort will er Sibyls Spiel einer Prüfung durch seine Freunde unterziehen: Hallward amused himself with watching the faces in the pit. The heat was terribly oppressive, and the huge sunlight flamed like a monstrous dahlia with petals of yellow fire. The youths in the gallery had taken off their coats and waistcoats and hung them over the side. They talked to each other across the theatre, and shared their oranges with the tawdry girls who sat beside them. [...] »What a place to find one's divinity in!« said Lord Henry. (108)
Dorian ist in dieser Episode nicht mehr allein im Theater. Dies gilt sowohl für den erzählten Sachverhalt — Basil und Lord Henry begleiten ihn —, als auch für die Erzählperspektive. Dorians zweiter Theaterbesuch wird nicht von ihm selbst, sondern vom Erzähler vermittelt. Dies verstärkt den Eindruck, daß die zweite Bühnenepisode der Uberprüfung des Berichteten dient. Die Aufführung von Romeo and. Juliet wird hier in Anwesenheit von kritischen Beobachtern ein zweites Mal erzählt. Gleich zu Beginn der Episode finden sich Metaphern aus Dorians Bericht. Das von der Hauptfigur gezeichnete Bild der Schauspielerin - ihr »flower-Iike face« und ihre »lips [...] like the petals of a rose« (85) — wird nun auf die Theaterbeleuchtung übertragen. Die Deckenlampe wirkt wie »a monstrous dahlia with petals of yellow fire«; bedrohlich und unheilverkündend verweist sie auf den weiteren Verlauf der Ereignisse. Dieser Veränderung in der Metaphorik entspricht der Wechsel der epischen Perspektive. Der Erzählschwerpunkt liegt nicht mehr auf Dorians Sicht der Dinge, sondern auf der kritischen Überprüfung — und metaphorisch: dem Durchleuchten — dieses Blickwinkels. Zunächst wird allerdings eine Gesamtschau des Zuschauerraums und der lärmenden Menge gegeben. Sodann folgt ein Schwenk auf die Hauptfiguren, die sich über die Schauspielerin unterhalten. Wie in Nana wird auch in diesem Roman bereits vor der Aufführung des Bühnenspiels über die Hauptdarstellerin und ihre Qualitäten geredet. Wo Bordenave von Nanas Körper schwärmt, preist Dorian die schauspielerischen Qualitäten Sibyls, die gerade nicht animalische Instinkte herausfordern, sondern ganz im Gegenteil allein das ästhetische Empfinden des Publikums ansprechen: »She spiritualises them.« (108) Wie Nana wird Sibyl vor der eigentlichen Auffuhrung zu einer Göttin stilisiert — Lord
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Henry bezeichnet sie ausdrücklich als solche aber zu einer Göttin des ästhetischen Spiels.93 Die Art der Gespräche zwischen den Theaterbesuchern ist in diesem Roman also von ganz eigener Qualität. Hier wird nicht über Geschäfte, Börsenkurse oder gesellschaftliche Intrigen geredet, sondern ausschließlich über lebensphilosophische und kunsttheoretische Fragen, die das Verhältnis von Dorian und Sybil, aber auch das Verhältnis von Schauspieler und Publikum im allgemeinen umkreisen. Anders gesagt: Die Hauptfiguren dieses Romans gehen der Kunst wegen ins Theater. Schließlich tritt Sibyl auf und vermag in der Tat zu beeindrucken: Sibyl Vane stepped on the stage. Yes, she was certainly lovely to look at — one of the loveliest creatures, Lord Henry thought, that he had ever seen. [ . . . ] Basil Hallward leaped to his feet and began to applaud. Motionless, and as one in a dream, sat Dorian Gray, gazing at her. Lord Henry peered through his glasses, murmuring, »Charming! charming!« [...]. Through the crowd of ungainly, shabbily dressed actors, Sibyl Vane moved like a creature from a finer world. Her body swayed, while she danced, as a plant sways in the water. The curves of her throat were the curves of a white lily. Her hands seemed to be made of cool ivory. (109)
Der Erzähler stellt zunächst noch einmal das Zuschauertrio und seine verschiedenen psychischen Dispositionen pointiert vor: Basil, der Dorians Begeisterung teilt; Dorian selbst, der das Stück immer noch berauscht durch den Filter seines Schönheitsideals aufnimmt und Lord Henry, der das Stück distanziert, nämlich durch ein Opernglas beobachtet. Diese Sichtweise ist symptomatisch: nicht nur fur Lord Henrys Rezeption des Bühnenspiels, sondern für seine Apperzeption überhaupt. Dorians skeptischer Freund schneidet aus seiner Umgebung Personen und Dinge heraus, vergrößert sie wie unter einem Mikroskop, um sie dann zu sezieren.94 Er ist in der Zuschauergruppe so kritischer Gegenpol zu Dorian und dessen euphorischer, undistanzierter Sicht der Dinge. Der Erzähler, gewissermaßen vierter Betrachter des Schauspiels, scheint Lord Henrys Position zu teilen. Wenn von Sibyls erstem Auftritt berichtet wird, verschwimmen beide Perspektiven auf das Stück. Dem Aussagesatz des Erzählers folgt das affirmative »Yes, she was certainly lovely to look at«, dessen Sprecher nicht eindeutig
93
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Auch in diesem Roman wird also Heiligenverehrung betrieben. Der Zuschauer betet eine Schauspielerin an (»to worship«), die auf ihn wie eine antike Statue, wie eine Göttin der Schönheit und Liebe wirkt. Die (vermeintlichen) Götter und Heiligen, so könnte man die Parallelen zu anderen Romanen weiterfuhren, erblicken das Licht der Welt oder zumindest das Angesicht der Zuschauer zumeist an einem einfachen, schäbigen Ort: Sibyl im Vorstadttheater, Nana auf der Boulevard-Bühne. Dieses Schema funktioniert offensichtlich nach dem biblischen Muster von der Geburt Jesu in einem Stall. Lord Henry wird alles zum Studienobjekt: seine Mitmenschen, Basil, Dorian, ja er selbst: »He had been always enthralled by the methods of natural science, but the ordinary subject-matter of that science had seemed to him trivial and of no import. And so he had begun by vivisecting himself, as he had ended by vivisecting others. Human life — that appeared to him the one thing worth investigating.« (69/70)
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identifiziert werden kann. Unmittelbar danach äußert sich Lord Henry in erlebter Rede. A u f diese Weise entsteht der Eindruck, daß der Erzähler Lord Henrys Urteil heranzieht, um seine Meinung vom strengsten Kritiker des Trios bestätigen zu lassen. Allerdings bedient er sich auch Dorians Metaphorik, macht sich also dessen Perspektive genauso wie die Lord Henrys zu eigen. Er n i m m t Dorians Bild der Pflanze auf, um mit dieser Metapher die fur Sibyl verhängnisvolle Enwicklung des Geschehens anzudeuten. Der Vergleich ihres Körpers mit einer im Wasser treibenden Pflanze erinnert an das Schicksal Ophelias, einer weiteren tragischen Frauenfigur aus Shakespeares Dramen, der die Liebe wie J u l i a und Sibyl selbst zum Verhängnis wird. Wildes Erzähler verfährt also wie seine Hauptfigur in ihrem ersten Bericht. Er identifiziert die Schauspielerin mit dem fiktiven Dramenpersonal. W i e Dorian vergleicht er ihre Hände mit kühlem, leblosem Elfenbein, ein Bild, das zwar der traditionellen Liebesrhetorik entlehnt ist, hier aber zu einem spezifischen Zweck eingesetzt wird und m i t neuer Bedeutung aufgeladen ist. Die Schauspielerin wird auf diese Weise ihrer Persönlichkeit, ihrer Individualität beraubt. Lord Henrys Verfahren sind im Roman offenbar allgegenwärtig. Auch der Erzähler scheint, wie Dorian Gray, von ihnen kontaminiert zu sein. So wie an dieser Stelle Sibyls Körper vermittelt wird — leblos und statuenhaft —, verhält sie sich im Rampenlicht. Ihre Wirkung auf die Zuschauer ist reziprok zu der Nanas. Während diese zunächst wenig Begeisterung zu erwecken vermag und fur unfreiwillige K o m i k sorgt, ist das Publikum von Sibyl Vanes Erscheinung angetan, verliert aber im Lauf der Auffuhrung das Interesse an ihrem Spiel, das sich als »complete failure« ( 1 1 0 ) herausstellt. M i t dem Einsetzen der Dramenhandlung offenbaren sich die Unzulänglichkeiten von Sibyls Schauspielkunst, die gerade nicht - wie im Falle Nanas - das Publikum verzaubern, sondern in ein Fiasko münden. Knapp und ohne Dorians Pathos wird von Sibyls Unvermögen berichtet, die Rolle der J u l i a adäquat zu interpretieren. In sachlichem, analytischem Ton stellt der Erzähler diesen Umstand als Faktum dar: »Yet she was curiously listless. [ . . . ] T h e voice was exquisite, but from the point of view of tone it was absolutely false. It was wrong in colour. It took away all the life from the verse. It made the passion unreal.« ( 1 0 9 ) Diese Art der Berichterstattung
wird
Dorians überschwenglicher Darstellung des Bühnenspiels entgegengesetzt. Der Erzähler seziert in der Art Lord Henrys Sibyls Spiel und seine Wirkung auf die Zuschauer. Ohne, wie Basil Hallward, ein Wort des Bedauerns oder des Mitgefühls für Dorian zu äußern, notiert er gleichsam teilnahmslos die mimischen Unzulänglichkeiten der Schauspielerin. Sein Fazit: »She seemed to be absolutely incompetent.« ( 1 0 9 ) entspricht in Ton und Stil exakt dem Resümee Lord Henrys: »She is quite beautiful, Dorian, he said, but she can't act. Let us go.« ( 1 1 0 ) . Der ablehnenden Haltung der Hauptfiguren entsprechen die Reaktionen
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des übrigen Publikums. 95 Ein gefälliger Körper reicht in diesem Roman also nicht mehr aus. Gelingt es anderen Bühnenakteurinnen allein mit ihrem Äußeren die Zuschauer zu begeistern, macht das Publikum in diesem Roman seinem Ärger über schlechte schauspielerische Leistungen mit Pfiffen Luft und quittiert die Darbietung mit dem Verlassen des Theaters. Hier wird nicht von der Verfuhrung des Publikums erzählt, hier stellt sich die Rezeption des Bühnenspiels als ein Prozeß der Entzauberung dar. Das Bild der Puppe entspricht Sibyls Spiel: »[...] what does it matter if she plays Juliet like a wooden doll?« ( I l l ) bemerkt Lord Henry, bevor er mit Basil das Theater verläßt. Im zweiten Teil der Bühnenepisode verlagert sich das Geschehen hinter die Kulissen. 96 In der Intimität des Künstlerzimmers erhält Dorian von Sibyl eine Erklärung für die Qualen, die er aus der Distanz des Zuschauerraums erleiden mußte. Im Gegensatz zur knappen Darstellung der Theaterauffiihrung wird dem Dialog hinter der Bühne viel Platz eingeräumt. Dabei zieht sich der Erzähler mehr und mehr zurück und kommentiert das Gespräch seiner beiden Hauptfiguren nur noch spärlich. Er läßt sie also hinter den Kulissen wie auf einer Bühne agieren. Die Erzählsituation wird auf diese Weise Dorians Bericht von seinem ersten Theaterbesuch angeglichen. Es entspannt sich ein Dialog, bei dem die Beteiligten die Rollen tauschen. Nun ist Sibyl in einem euphorischen Zustand, den sie zu erkären versucht, sie übernimmt also Dorians ehemaligen Part. Dorian selbst schlüpft in die Position Lord Henrys, wird zum Zuhörer und Fragesteller: Dorian, Dorian, she cried, before I knew you, acting was the one reality of my life. It was only in the theatre that I lived. I thought that it was all true. I was Rosalind one night, and Portia the other. The joy of Beatrice was my joy, and the sorrows of Cordelia were mine also. I believed in everything. [...] I knew nothing but shadows, and I thought them real. You came — oh, my beautiful love! — and you freed my soul from prison. You taught me what reality really is. Tonight, for the first time in my life, I saw through the hollowness [. . .]. (112)
Dorian hat auf Sibyl eine ähnliche Wirkung wie Lord Henry auf ihn selbst. Der Zuschauer beeinflußt die Wahrnehmung der Schauspielerin, er verändert ihre Sicht auf die Welt. Infolge ihrer Begegnung erlischt Sibyls Identifikation mit der dramatischen Rolle. Anders gesagt: Dorians Formel »she is Rosalind« wird von Sibyl durch die Aussage »I was Rosalind« entkräftet; was für den Zuschauer immer noch Gültigkeit hat, was also im Präsens steht, wird von der Schauspielerin in die Vergangenheit verbannt. Ihre Euphorie gründet sich auf eben jene Realität, der Dorian zu entkommen sucht. Sibyls Frage »What have I to do with the puppets of a play?« (112) ist bereits beantwortet. Dorian hat sie von Anfang an als gesichtslose Puppe, nämlich als Interpretin von Rollen 95 96
»When the second act was over there came a storm of hisses [...].« (110) »As soon as it was over, Dorian Gray rushed behind the scenes into the greenroom. The girl was standing there with a look of triumph on her face.« ( I l l )
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wahrgenommen.97 Wie Nana ist auch Sibyl eine Fleischwerdung, eine Inkarnation des Wortes, wenngleich von anderer Qualität. Sie vermag dem literarischen Wort eine Gestalt zu geben und nur in dieser Funktion wird sie von ihrem Bewunderer wahrgenommen. Die Vorgänge hinter der Bühne nehmen aber nicht nur das eingangs erzählte Gespräch zwischen Dorian und Lord Henry wieder auf, 98 sondern auch das eben auf der Bühne vorgeführte. Die Balkonszene aus Shakespeares Romeo and Juliet findet gewissermaßen noch einmal statt: als Dialog zwischen den Romanfiguren im »green-room«. Sibyls hölzern deklamierten Versen folgt hier ein leidenschaftlicher Monolog, der analog zu Shakespeares Drama, aber mit dem auf der Bühne fehlenden Pathos vorgetragen wird: »Dorian, Dorian« hebt Sibyl im Hinterzimmer an, voller »infinite joy« (111), während sie auf der Bühne lustlos »O Romeo; Romeo« ruft. 99 Beide Male wird ein verhängnisvoller Bund geschlossen. Die Szene, von der zu Beginn des Kapitels berichtet wird 100 - Romeo, als Pilger verkleidet, küßt Julia findet sich im Romangeschehen wieder. Dorian hat Sibyl am letzten Abend geküßt und sich mit ihr verlobt. Im Theaterstück wie im Roman ist von den fatalen Folgen dieses Kusses die Rede. Romeo and Juliet handelt wie die Episode Dorian Gray/Sibyl Vane von einem Eheversprechen, das nicht eingelöst wird, von einer mißlungenen Vermählung also. Das im Roman wiedergegebene Shakespeare-Zitat101 verweist auf das Schicksal der Romanfiguren. Wie Julia kann sich auch Sibyl des nächtlich geschlossenen Bundes nicht freuen und ruft im »green-room« aus: »It came so suddenly across me, my love for you. I think I should never have known if you had not kissed me - if we had not kissed each other.« (113) Auch die Blumenmetaphorik erhält erst im Kontext der Shakespearschen Verse ihre folgenschwere Bedeutung. Die Knospe der Liebe entfaltet sich im Laufe des Romans gerade nicht zu einer blühenden Sommer97 98
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»[•••] you realised the dreams of great poets« ( 1 1 2 ) Nachdem Dorian im Verlauf des Gesprächs Lord Henrys Position eingenommen hat, übernimmt er am Ende der Theaterepisode auch dessen Attitüden. W i e Lord Henry zu Beginn des Romans, in Basils Atelier, sitzt nun Dorian auf dem Sofa und trägt Sentenzen vor. Das Attribut »third-rate« hat er auf die Schauspielerin übertragen und sich ganz Lord Henrys Urteil über diese Berufsgruppe — ein schönes Gesicht genügt — zu eigen gemacht: »He flung himself down on the sofa, and turned away his face. You have killed my love, he muttered. [...] Without your art you are nothing. [...] W h a t are you now? A third-rate actress with a pretty face.« (112/13) Alle Shakespeare-Zitate stammen — sofern sie nicht direkt im Roman auftauchen — aus: William Shakespeare. Romeo and Juliet/Romeo und Julia, englisch-deutsche Studienausgabe von Ulrike Fritz, Tübingen 1 9 9 9 , hier S. 163. Es handelt sich um Akt I, Szene 5: »The scene was the hall of Capulet's house, and Romeo in his pilgrim's dress had entered with Mercutio and his other friends.« (109) Einige Verse aus Shakespeares Stück finden sich im Roman als Zitat. »Although 1 joy in thee, /1 have no joy of this contract tonight: / It is too rash, too unadvised, too sudden; / Too like the ligthtning, which doth cease to be / Ere one can say »It lightens.« Sweet, good-night! / This bud of love, by summer's ripening breath, / May prove a beauteous flower when next we meet.« ( 1 1 0 )
4.4. Oscar Wildes The Picture of Dorian Gray (1890)
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blume, sondern zu jenen leblosen Wasserblumen, mit denen Sibyl in der zweiten Theaterepisode verglichen wird. Die Folgen des Theaterbesuchs sind für beide Seiten verhängnisvoll. Schauspielerin und Zuschauer machen sich jeweils ein verzerrtes Bild von ihrem Gegenüber, das sie als Inkarnation einer Idee begreifen. Diese fatale wechselseitige Anziehung, die hier analog zum szenischen Geschehen entwickelt wird, bestätigt, was für Theaterauffvihrungen im Roman insgesamt zu gelten scheint: Körperkontakte — vor allem erotischer Natur - zwischen Zuschauer und Bühnenakteur münden oft genug in Katastrophen. In diesem Roman zeigen sich deren Spuren auf den Straßen Londons, wo Dorians Theatererlebnis endet. Ohne der verzweifelten Schauspielerin weitere Beachtung zu schenken, verläßt er das Künstlerzimmer, um erneut durch die Stadt zu irren. Er ist also wieder, zumindest räumlich, an seinem Ausgangspunkt angelangt: As the dawn was just breaking he found himself close to Covent Garden. The darkness lifted, and, flushed with faint fires, the sky hollowed itself into a perfect pearl. [...] The air was heavy with the perfume of the flowers, and their beauty seemed to bring him an anodyne for his pain. [...] A white-smocked carter offered him some cherries. He thanked him [...] and began to eat them listlessly. They had been plucked at midnight, and the coldness of the moon had been entered them. (114)
Auch in diesem Roman scheint sich das Geschehen durch Analogien von der Bühne in die Stadt zu verlagern. So wie Dorian aus den dunklen Straßen Londons in das beleuchtete Theater kommt und dort im Scheinwerferlicht sein Schönheitsideal in Gestalt der Schauspielerin zu erkennen glaubt, ergeht es ihm nun in Covent Garden. Aus den nächtlich durchwanderten dunklen Straßen betritt er bei Sonnenaufgang den lichtdurchfluteten Platz, wo er die Auslagen der Obst- und Blumenhändler erblickt. Die Kirschen, rot wie Sibyls Lippen, wirken wie Leichen. Auf diese Weise entsteht der Eindruck, daß die Katastrophe im Künstlerzimmer ihre Spuren auch auf den Straßen Londons hinterlassen hat; daß die Vorgänge im Theater Folgen haben, die sich in die Welt außerhalb der Bühne fortsetzen. Was sich nächtens im Kunstlicht der Scheinwerfer zugetragen hat, verschwindet auch am Tag im natürlichen Licht der Sonne nicht. Diese Spuren reichen bis in Dorians Haus. Mit »petals of flame« wird das Licht der Türlampen verglichen - so wird aber auch die Theaterbeleuchtung beschrieben. Das Glas, in dem sich Dorian spiegelt, ist wie der Zuschauerraum mit »ivory Cupids« verziert — den Liebesgöttern haftet nun Sibyls Attribut an, sie wirken hölzern und leblos. Im Innern des Hauses erblickt Dorian schließlich das Gemälde: He tourned round, and, walking to the window, drew up the blind. The bright dawn flooded the room, and swept the fantastic shadows into dusky corners, where they lay shuddering. But the strange expression that he had noticed in the face of the portrait seemed to linger there, to be more intensified even. (115)
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4. Textanalysen
Das Geheimnis offenbart sich Dorian nach den Gesetzen des Theaters. Ein Vorhang g i b t den Lichtstrahl der Sonne frei, welcher das veränderte Portrait beleuchtet, also bühnengleich ins Licht rückt. Eine der Schlüsselstellen des Romans — Dorian bemerkt erstmals die Veränderung an seinem Portrait — folgt also nicht nur unmittelbar auf den Theaterbesuch der H a u p t f i g u r und ist m i t diesem kausal verknüpft, sie wird überdies analog zur Beleuchtungspraxis der Bühne erzählt. Auch für diesen Roman darf also vermutet werden, daß erzähltes Theater eine maßgebliche Funktion im Gesamttext e i n n i m m t . Dorians Theatererlebnis findet sich im ersten Drittel des Romans, in jenem Teil also, in d e m die H a u p t f i g u r e n eingeführt u n d ihre Beziehungen untereinander entwickelt werden. I m Eingangskapitel lernen die Leser den Maler Basil Hallward und dessen Freund Lord Henry kennen. Im zweiten Kapitel wird die Grundkonstellation des Romangefuges angelegt. Dorian Gray taucht im Atelier des Malers auf, wo er die Aufmerksamkeit der beiden Freunde auf sich zieht. Dient Dorian dem Maler als Inspirationsquelle, als bildnerische Muse, ist Lord Henry auf andere Weise von ihm eingenommen. Er vermag den Einfluß seiner Äußerungen an ihm zu ergründen: » [ . . . ] to influence a person is to give h i m one's own soul« (61) bemerkt Lord Henry u n d macht sich im weiteren Verlauf des Romans daran, dieses Vorhaben auszufuhren. Seine Reden zeigen schnell W i r k u n g , wenn Dorian ausruft: »Words! Mere Words! H o w terrible they were! H o w clear, and vivid, and cruel! O n e could not escape from them.« (62) 1 0 2 Anders als in Stuck hat es die H a u p t f i g u r hier m i t einer mächtigen, wirkungsvollen Sprache zu tun. Eine gefährliche Sprache überdies, der sie sich nicht zu entziehen vermag, eine Sprache, die sie ü b e r n i m m t , u m die Realität in ein ästhetisches Korsett zu schnüren. Von Lord Henry und Basil b e k o m m t Dorian jene Impulse, die sein weiteres Schicksal bestimmen: die Offenbarung seiner Schönheit durch Basils Portrait und das Wissen von deren Vergänglichkeit durch Lord Henrys Reden. W o r t u n d Bild, dies sind die Quellen, aus denen Wildes H a u p t f i g u r ihre H a n d l u n g s energie schöpft. N a c h d e m in Basils Atelier zudem der verhängnisvolle Wunsch ausgesprochen ist, »If it were I who was to be always young, and the picture that was to grow old« (67), ist Dorians ästhetische Initiation über die beiden Medien W o r t u n d B i l d 1 0 3 vollzogen. N u n macht er sich daran, aus dieser neuen Wahrnehmungsperspektive London zu erkunden. Erste und wichtigste Station auf diesem W e g ist die Bühne, wo W o r t und Bild zugleich auf Dorian einwir-
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Auch hier darf eine Anspielung auf Shakespeare vermutet werden. Wenn Hamlet von Polonius gefragt wird, was er denn da lese (2. Akt, 2. Szene), antwortet er: »Words, words, words«. Oscar Wilde kehrt also Shakespeares Szene um. Der theaterbesuchenden Romanfigur werden die Sentenzen einer lesenden Bühnenfigur in den Mund gelegt. »Your portrait of him has quickened his appreciation of the personal appearance of other people.« (88)
4.4. Oscar Wildes The Picture of Dorian Gray (1890)
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ken. Im Theater als Ort, an dem sowohl sprachliche als auch optische Darbietungen rezipiert werden, setzt sich nicht nur die von Basil und Lord Henry begonnene Initiation fort, sie hat auch erste Folgen: Am Ende der Episode erhält Lord Henry die Nachricht von Dorians Verlobung mit der Schauspielerin. Im Theater — wenn er Sibyl hinter den Kulissen küßt - überschreitet Dorian zum ersten Mal die Grenzen von distanziert ästhetischem und körperlich direktem Zugang zu seiner Umwelt. Im Atelier sieht und hört er nur, auch im Zuschauerraum sieht und hört er nur, ist also bloß passiver Rezipient von Eindrücken. Erst im Theater, im »green-room« greift Dorian aktiv in das Geschehen ein. Die Nachricht von der Verlobung schlägt eine Brücke zum nachfolgenden fünften Kapitel, in dem Dorian und seine Freunde erstmals aus dem Romangeschehen ausgeklammert werden. Hier ist von der Familie Vane die Rede, welche die Neuigkeiten ebenfalls vernommen hat. Diese Episode ist spiegelbildlich zur ersten Theaterepisode aufgebaut. Die Schauspielerin berichtet ihrer Familie von den jüngsten Ereignissen, ihre Mutter übernimmt dabei die Position Lord Henrys. Auch sie versucht zunächst, die Euphorie der Berichterstatterin zu dämpfen, indem sie ihr Abhängigkeitsverhältnis zum Direktor der Bühne betont. Sibyl wird offenbar nicht nur von Dorian, sondern auch von ihrer Mutter verzerrt wahrgenommen: zuvorderst als vertraglich gebundene Einkommensquelle. Sibyls Freude wird als »joy of a caged bird« (93) beschrieben. Dieses Bild erhält im Kontext der vorausgehenden Kapitel eine doppelte Bedeutung. Sibyl ist einerseits im Käfig ökonomischer Notwendigkeiten, andererseits im Elfenbeinturm von Dorians Schönheitsempfinden gefangen. Die Vane-Episode funktioniert als Relais zwischen den Theaterepisoden. Dorians nichts als ästhetischer Wahrnehmung wird in diesem Kapitel die soziale Realität, das Leben im Tageslicht, jenseits der Bühne, das Dorian nicht kennt und auch nicht kennen will, spiegelbildlich gegenübergestellt. Die Leser sehen hier, was die Hauptfigur des Romans beständig zu verdrängen sucht. Sybils Mutter, eine abgehalfterte Schauspielerin, plagen Geldnöte; Sibyl hat keinen Vater und ist überdies dem Direktor der Bühne ausgeliefert; ihr Bruder sieht sich gezwungen nach Australien auszuwandern, um der wirtschaftlichen Not in London zu entkommen. Diese soziale Realität hat nichts mit dem Salonleben der Hauptfiguren zu tun. Daß sich beide Bereiche gegenseitig ausschließen, zeigt das Ende des Kapitels. Bei einem Spaziergang mit ihrem Bruder begegnet Sibyl Dorian im Park. In einer Kutsche sitzend, »with two ladies«, bemerkt ihr Verehrer sie im Vorüberfahren aber nicht einmal. Diese mißglückte Begegnung verweist bereits im fünften Kapitel auf die sich anbahnende Katastrophe. Anders als in den bisher vorgestellten Romanen kommt es außerhalb der Bühne, außerhalb des nach eigenen, ästhetischen Gesetzen funktionierenden Bereichs des Spiels, zu keinem Kontakt zwischen Zuschauer und Bühnenakteurin. Die soziale Realität trennt die Romanfiguren in Vertreter von Ober- und Unter-
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4. Textanalysen
Schicht. 104 Diese Differenz zeigt sich vor allem an den Beleuchtungsverhältnissen. Dorian verehrt Sibyl nur als Kunstwesen, wenn sie abends im Licht der Bühnenscheinwerfer auftritt. Die reale Sibyl, die im Tageslicht ein ganz anderes Leben fuhrt, interessiert ihn nicht. Die Beleuchtung, in der Dorian die Schauspielerin wahrnimmt - Bühnenlicht oder Tageslicht - , spaltet sie auf: in einen bewunderten und einen nicht beachteten Teil. Die soziale Abgrenzung der Romanfiguren wird durch die Anlage der Kapitel verstärkt, welche die beiden Welten auch strukturell auseinanderhält. Sibyl und Dorian sind durch die Schauplätze, auf denen sie sich außerhalb des Theaters bewegen, strikt getrennt. Dem Kapitel über die Familie Vane folgt ein weiteres Kapitel, in dem von Dorian und seinen Freunden berichtet wird. Sie haben sich, ihrer gesellschaftlichen Position entsprechend, in einem Restaurant verabredet. Auch hier sind Verlobung und bevorstehende Hochzeit alleiniges Gesprächsthema. Sie werden allerdings unter ganz anderen Gesichtspunkten erörtert. 105 Nachdem die verschiedenen Erwartungen an die Verbindung von Schauspielerin und Zuschauer so pointiert gegeneinander abgegrenzt werden, prallen sie im folgenden Kapitel, dem analysierten siebten, aufeinander. Was ästhetisch funktioniert - hier ein außergewöhnlich schöner Zuschauer, dort eine ebenso anmutige Schauspielerin, die sich beide von ihrer Umgebung abheben - , scheitert sozial. Wenn die im Theater notwendigen Grenzen von Spiel und Wirklichkeit, architektonisch gekennzeichnet durch Bühne und Zuschauerraum, überschritten werden, kommt es zur Kollision zweier inhärenter Bereiche: von Kunst und gesellschaftlicher Realität. Die Folgen dieser Kollision, die im Theater stattfindet, machen sich außerhalb des Theaters an Dorians Portrait bemerkbar. Mit dem Vorfall im »greenroom« und Sibyls Tod, mit dem Uberschreiten der Grenzen zwischen Zuschauer und Bühnenakteurin, hat sich das Verhältnis von Kunst und Realität verändert, geradezu umgekehrt. Während Dorians Taten folgenlos bleiben, altert sein Portrait. Realität unterliegt nun den Regeln des Spiels, während Kunst, versinnbildlicht in einem Gemälde, den Gesetzen der Wirklichkeit folgt. Dorians Taten wirken im weiteren Verlauf des Romans wie die gemimten Handlungen eines Schauspielers. Sie haben für ihn keine unmittelbaren Konsequenzen. Anders gesagt: Dorian betritt das Theater als Zuschauer, er verläßt es 104
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Sibyls Bruder kann dabei als Gegenpart zu seiner Schwester und ihrer verklärten Wahrnehmung Dorians aufgefaßt werden. Er sieht ihr Verhältnis allein unter sozialen Gesichtspunkten und droht deswegen: »if ever he does you any wrong, I shall kill him.« (101) »Lips that Shakespeare taught to speak have whispered their secret in my ear. I have had the arms of Rosalind around me, and kissed Juliet on the mouth.« (105). Auch von ihrem ersten Kuß spricht et: »She trembled all over, and shook like a white narcissus.« (104) Auch hier erweckt Dorian den Eindruck, als hätte er es mit einer schönen Blume und nicht mit einem menschlichen Wesen zu tun.
4.4. Oscar Wildes The Picture of Dorian Gray (1890)
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als schauspielernder Akteur. Seine weiteren Handlungen begeht er unter der Maske der Jugend, »The mask of youth« (196). Daß dies nur vorübergehend glückt, offenbart das von ihm verborgene und abgedeckte Portrait. Wenn Dorian immer wieder den Stoff lüftet, um das Bild zu betrachten, erblickt er gleichsam aus seiner Bühnenwelt die Realität, die sich - wie im Theater der Zuschauerraum - hinter einem Vorhang befindet. 106 Die Umkehrung des Verhältnisses von Spiel und Realität wird erst mit Dorians Tod aufgehoben: The curiously-carved mirror that Lord Henry had given to him, so many years ago now, was standing on the table, and the white-limbed Cupids laughed round it as of old. He took it up [...] and with wild tear-dimmed eyes looked into its polished shield. [...] Then he loathed his own beauty, and flinging the mirror on the floor crushed it into silver splinters beneath his heel. (211)
Den Dekor-Liebesgöttern begegnet Dorian zum ersten Mal im Zuschauerraum des Theaters; mit ihnen ist Lord Henrys Geschenk, ein Spiegel, geschmückt. Der Spiegel als erzählter Gegenstand verweist auch bei Oscar Wilde auf das Erzählen selbst. Mit Dorians Theaterbesuch wird das Verhältnis von Spiel und Realität wie in einem Zerrspiegel umgekehrt. Am Ende des Romans zerschmettert Dorian diesen Spiegel, der die Attribute des Theaters - »Cupids« - trägt. Anschließend zerstört er das Gemälde und somit sich selbst. Spiel und Realität haben sich aus ihrem Spiegelzustand gelöst und folgen wieder ihren eigenen Gesetzen: Dorian muß folglich die Konsequenzen seines Tuns tragen. Die beiden Theaterepisoden nehmen demzufolge eine maßgebliche Funktion innerhalb des Gesamtgefüges ein. Am Anfang des Romans, in den Kapiteln eins bis sieben, wird entworfen, was im weiteren Verlauf zu Dorians Untergang fuhrt: seine verzerrte Wahrnehmung der Realität. Im Zentrum dieses Eingangsteils, der fur das Romanganze von entscheidender Bedeutung ist, befinden sich die beiden Theaterepisoden. Hier vollzieht sich nicht nur der zentrale Wandel in Dorians Wahrnehmung, hier wird er auch vom passiven Zuschauer und Zuhörer zum aktiven Mitspieler. 107 Dieser Umschwung erinnert an Flauberts Opernbesucherin Emma Bovary. Ahnlich wie ihre Katastrophe beginnt die Dorians mit dem Entschluß, die aufgesogenen Ideen - hier die Reden Lord Hen-
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Beispielsweise wenn Dorian Basil das Bild zeigt: »and he [Dorian; d.Verf.] tore the curtain from its rod, and flung it on the ground. An exclamation of horror broke from the painter's lips as he saw in the dim light the hideous face on the canvas grinning at him.« (189) Die Bedeutung der Theaterepisode geht also über einen bloß inneren Konflikt weit hinaus: »Die Sibyl-Vane-Episode dramatisiert Dorians neue Lebensprinzipien, die er im II. Kapitel von seinem Mentor Lord Henry übernommen hat, zum ersten inneren Konflikt in seiner Entwicklung. Ästhetisches Empfinden für die Schauspielkunst Sibyls und sittliche Verantwortung für seine Verlobte treten in Widerspruch.« Norbert Kohl: Oscar Wilde. Das literarische Werk zwischen Provokation und Anpassung, Heidelberg 1980, S. 246.
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4. Textanalysen
rys und die Bücher in seiner B i b l i o t h e k , 1 0 8 dort die Liebesromane im Mädchenpensionat - , in der Romanwirklichkeit zu realisieren. In beiden Fällen g i b t das Theatererlebnis hierzu den entscheidenden Impuls. Auch Dorians Ruin vollzieht sich zunächst durch das Medium des Stellvertreters: Dorians Portrait altert statt seiner. W i e E m m a Bovary genügt aber auch Wildes Hauptfigur die Stellvertreterlösung letztlich nicht mehr. Der Roman endet hier wie dort mit dem Tod der Hauptfigur. Allerdings unterscheidet die beiden Theaterbesucher die Art und Weise ihres Ruins erheblich. Während E m m a Bovary immer wieder vergeblich hofft, die W e l t der Fiktion in der Realität vorzufinden und beständig enttäuscht wird, verfugt Dorian über die magische Fähigkeit, sich in der Realität nach Belieben bewegen zu können, ohne die Folgen seines Tuns tragen zu müssen. Diese Konstellation bedingt auch den Erzählschwerpunkt im jeweiligen Roman. Während Flaubert, episch ausfuhrlich, von den kleinen und großen alltäglichen Enttäuschungen im Leben seiner Hauptfigur berichtet, einem Leben, das sich als konträr zum pathetischen Liebesrausch der Opernfiguren erweist, läßt Wilde seine Hauptfigur die Welt als Theaterstück wahrnehmen und - sein Kunstgriff ermöglicht dies - auch dementsprechend handeln. Maßgeblich für Dorians Denk- und Verhaltensweise ist Lord Henrys Einfluß. Zunächst wirkt er auf Dorians Selbst- und Kunstverständnis durch seine Reden ein: Kontamination durch Worte. Wenn Dorian dann versucht, die Einflüsterungen
seines Freundes in die Realität umzusetzen, ihnen also Gestalt
verleihen will, setzt er das W o h l anderer aufs Spiel. Dieses Changieren zwischen Abstraktem und Konkretem vollzieht sich analog zur Bühnenkunst. Ein Stück zu inszenieren, heißt ja gerade, den Werken der Theaterautoren Gestalt zu verleihen, sie sinnlich erfahrbar zu machen. U m Dorian von den fatalen Konsequenzen seiner Taten abzuwenden, wird Lord Henry abermals tätig. Er stilisiert die vorgefallenen Ereignisse zu ästhetischen Phänomenen, unternimmt also den Versuch, sie wieder in Worte und Ideen zurückzuverwandeln, ihnen ihre reale Gestalt zu nehmen. Im achten Kapitel, das unmittelbar auf das Zerwürfnis von Dorian und Sibyl im Theater folgt — die Schauspielerin hat unterdes Selbstmord begangen —, rechtfertigt Lord Henry auf diese Weise Dorians Vorgehen:
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Eine besondere Rolle spielt dabei »the yellow book that Lord Henry had sent him« (146). Dieses Buch, als »novel without a plot, with only one caracter, being, indeed, simply a psychological study of a certain young parisian« bezeichnet, übt einen starken Einfluß auf seinen Leser aus: »It was a poisonous book« (147). Im elften Kapitel des Romans werden die Folgen dieser Lektüre ausgebreitet: »For years, Dorian Gray could not free himself from the influence of this book. [...] And, indeed, the whole book seemed to him to contain the story of his own life, written before he had lived it.« (149) Am Ende der Passage resümiert der Erzähler: »Dorian Gray had been poisoned by a book.« (169) Zum Hintergrund dieses Buches - J. Κ. Huysmans A rebours wird von der früheren Forschung mit dem »yellow book« in Verbindung gebracht - vgl. Wolfgang Maier: Oscar Wilde: The Picture of Dorian Gray. Eine kritische Analyse der anglistischen Forschung von 1962 bis 1982, Frankfurt a.M. 1984, S. 102ff.
4.4. Oscar Wildes The Picture of Dorian Gray (1890)
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Sometimes, however, a tragedy that possesses artistic elements of beauty crosses our lives. If these elements of beauty are real, the whole thing simply appeals to our sense of dramatic effect. Suddenly we find that we ate no longer the actors, but the spectators of the play. Or rather we are both. [...] There is something to me quite beautiful about her death. [...] But you must think of that lonely death in the tawdry dressingroom simply as a strange, lurid fragment from some Jacobean tragedy [...] The girl never really lived, and so she has never really died. (123 — 125)
Indem Lord Henry Sibyls Tod als ästhetisches Phänomen deklariert und somit in ein literarisches und genauer: szenisches Ereignis verwandelt, zerstreut er Dorians Bedenken. Überdies sieht Dorian die Leiche nie. Sibyls Tod wird ihm nur ästhetisiert, als von Lord Henry ausgeschmückte und aufbereitete Geschichte zugetragen. Im Mittelpunkt der Rhetorik Lord Henrys steht das Theater als Metapher des Lebens. Das Leben als Schauspiel, als Komödie oder Tragödie, deren Szenerie die Großstadt London bildet: In dieser gänzlich säkularisierten Form des Topos vom theatrum mundi wird die Kunstform Theater immer wieder als Legitimation fur Handlungen herangezogen, deren destruktive Folgen ästhetisiert und somit auch in moralischer Hinsicht entwertet werden. Diese Argumentation Lord Henrys übernimmt Dorian im Lauf des Romans. So bezeichnet er Sibyls Tod im Gespräch mit Basil Hallward als »one of the great tragedies of the age« (129). Auf eben diese Weise verfährt aber auch Wildes Erzähler. 109 Er vergegenwärtigt den Lesern die fiktive Welt so wie Dorian Gray sie wahrnimmt: als Schauspiel. Lord Henry ist innerhalb der Romanhandlung sowohl fataler Ratgeber der Hauptfigur als auch poetisches Sprachrohr des Erzählers. Vom erzählstrategischen Programm wird auf doppelte Weise im Roman selbst berichtet: durch Lord Henrys rhetorische Kunststückchen, die Welt als Bühne aufzufassen und durch Dorians Portrait, das es der Hauptfigur ermöglicht, diese Auffassung in die Tat umzusetzen. Auch diese beiden Elemente sind der Bühne entnommen: Monolog und Requisit. Das Theater durchdringt weitreichend Form und Handlung der Erzählung: Wildes Roman kommt selber fast wie ein Bühnenstück daher. Wenn sein Erzähler sich immer wieder zurückzieht, um den Hauptfiguren Platz für lange, unkommentierte Dialoge oder Monologe einzuräumen, läßt er sie wie Bühnenakteure wirken. Dem entspricht auch die Anlage der Charaktere. Lord Henry wird etwa in der Fachliteratur immer wieder in die Nähe von Mephistopheles gerückt. 110 Auch das Theaterpersonal wirkt wie 109
Wenn Dorian dem Maler das veränderte Portrait zeigt und ihn anschließend ermordet, heißt es beispielsweise: »The young man [Dorian; d.Verf.] was leaning against the mantelshelf, watching him with that strange expression that one sees on the faces of those who are absorbed in a play when some great artist is acting. There was neither real sorrow in it nor joy. There was simply the passion of the spectator [...].«
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Vgl. etwa Kohl, S. 264. Die Sibyl-Vane-Episode wird überdies mit der GretchenTragödie in Verbindung gebracht. Elemente des Theaterstücks Faust in die Roman-
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Textanalysen
eine Ansammlung von Figuren aus dem Werk jenes Autors, dessen Stück auf der Bühne gespielt wird. Der jüdische Direktor erinnert an Shakespeares Merchant of Venice, das Theaterpublikum verhält sich wie die Zuschauer in einer elisabethanischen Spielstätte: »It must just have been like the palmy days of the British Drama« (85) bemerkt Lord Henry im Theater. Gleiches gilt fur den epischen Raum. Häufig betreten die Romanfiguren Schauplätze, die wie Bühnenszenerien wirken, in denen sie ihre Monologe und Dialoge rezitieren. Die Interieurs, in denen sie sich bewegen, etwa das lichtdurchflutete Atelier Basil Hallwards, sind immer hell erleuchtet, wie die Bühne, auf der sich Sibyl Vane präsentiert. Was sich darin ereignet, erscheint als theaterhaftes Spiel. Vor allem das elfte Kapitel, wo von Dorians zahlreichen (dekadenten) Betätigungen berichtet wird, verstärkt diesen Eindruck. Anstatt die Vielzahl der Ereignisse an verschiedenen Schauplätzen ausführlich — nach den Regeln der Erzählkunst — zu entfalten, werden sie gerafft und auf einen einzigen Raum beschränkt vorgestellt. In Dorians Zimmer sind revueartig die wichtigsten Objekte seiner Leidenschaft - Bücher, Edelsteine, Kostüme, Teppiche, Parfüms - wie Theaterrequisiten aufgereiht. Ein Zeitraum von mehreren Jahren ist in diesem Kapitel extrem kontraktiert, während andere, nur kurz andauernde Abschnitte aus Dorians Leben in langen Dialogen erzählt werden. Der Dominanz bühnenartiger Schauplätze entspricht Dorians Wahrnehmung, welche vorzugsweise Inszenierungen erfaßt, das heißt Dinge oder Personen, die sich ihm in ausgeleuchteten Innenräumen darbieten. Der gesellschaftliche Außenraum, die dunklen Seiten Londons, die von Dorian beständig ausgeklammert werden, sind als ebensolche aufzufassen. Sie werden auch vom Erzähler vorzugsweise abgedunkelt dargestellt: nächtens und nur schwach beleuchtet. Ein solcher Schauplatz findet sich im sechzehnten Kapitel des Romans. Dorian besucht eine Opiumhöhle im Hafenviertel: At the end of the hall hung a tattered green curtain that swayed and shook in the gusty wind [...]. He dragged it aside, and entered a long, low room which looked as if it had once been a third-rate dancing-salon. Shrill flaring gas-jets, dulled and distorted in the fly-blown mirrors that faced them, were rangend round the walls. (186)
handlung einzuflechten, wird in der Erzählkunst immer wieder praktiziert, etwa in Hermann Brochs Pasenow oder die Romantik (1888) aus der Trilogie Die Schlafwandler. Nachdem die Hauptfigur des Romans, Joachim Pasenow, Faust in der Oper gesehen hat, beginnt sie, Parallelen von der Opernhandlung zu ihrem unmittelbaren Lebensumfeld zu ziehen. Interessant sind sowohl die Parallelen zwischen der Romanhandlung und Faust als auch die zwischen Brochs Geschichte und Wildes Roman. Über seinen Freund Bertrand - einen Einflüsteret vom Schlage Lord Henrys und explizit mit Mephisto verglichen - lernt Pasenow das Mädchen Ruzena kennen, die er schließlich verläßt: wie Faust Gretchen, wie Dorian Sibyl. Auch Ruzena wird eine Stelle beim Theater vermittelt, allerdings ohne jede künstlerische Ambition. Ruzena spielt, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Darin ähnelt sie Sibyl Vane, die von ihrer Mutter an den Theaterdirektor vermittelt wird.
4-4. Oscar Wildes The Picture of Dorian Gray
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Diese Beschreibung des Raums reflektiert zugleich die Konstruktion des Kapitels. W i e in einem Zerrspiegel wird Dorians erster Theaterbesuch noch einmal erzählt. Die Opiumhöhle gleicht dem schäbigen Vorstadttheater. Hier ist allerdings nicht die Romanfigur Zeuge eines Schauspiels, sondern die Leser. Ein Vorhang wird zurückgeschlagen und gibt den Blick auf das von Gaslichtern erhellte Innere frei, wo sich Dorian und die anderen Figuren wie Bühnenakteure bewegen. Daß Dorian nun Darsteller ist, und die Leser im Pakt mit dem Erzähler Zuschauer, zeigt auch die Metaphorik in dieser Episode. Dorians Bildersprache wird vom Erzähler übernommen. So wie jener in seinem ersten Bericht vom Theater als drittklassiger Hochzeitstorte spricht, qualifiziert dieser das Etablissement als drittklassiges Tanzlokal. Auch hier tritt eine Frau auf: nicht Sibyl Vane, sondern eine Prostituierte mit »painted lips« (188), deren Farbe an Sibyls »lips like petals of roses« erinnert. Sie nennt Dorian überdies, mit ironischem Unterton, »Prince Charm i n g « . Vor der Bar wartet Sibyls Bruder auf Dorian, um den Tod der Schwester zu rächen. Im Laufe der Auseinandersetzung tritt Dorian unvermittelt in das Licht einer Laterne: » D i m and wavering as was the windblown light, yet it served to show him [James Vane; d.Verf.] the hideous error, as it seemed, into which he had fallen, for the face of the man he had sought to kill had all the bloom of boyhood [ . . . ] « (190). Die Maske der Jugend, die Dorian wie ein Schauspieler im Schein des Lichts präsentiert, rettet ihm das Leben. Wildes Roman ist also wie die bisher vorgestellten Romane fundamental vom Theater durchdrungen. Allerdings hat es hier einen anderen Stellenwert: Es kehrt als Kunstform auf die erzählte Bühne zurück. Das aufgeführte Stück ist daher von anderer Qualität 1 1 1 als bei Balzac, Zola und Bang. Man spielt weder zweitklassige Operetten noch fiktive Boulevard-Stücke. Vielmehr wird ein in der außerliterarischen Wirklichkeit überaus bekanntes und als Meisterwerk längst schon kanonisiertes Schauspiel aufgeführt - allerdings in einem schäbigen Vorstadttheater mit plump agierenden Schauspielern. Dieser Kontrast strukturiert den gesamten Roman und funktioniert ähnlich wie ein dramatisches Verfahren, das gerade im Werk jenes Autors, von dem erzählt wird, in zahlreichen Varianten vorkommt: das Spiel im Spiel. Wildes Romanfabel verläuft einerseits analog zum aufgeführten Stück, andererseits werden gerade da111
Dies gilt auch für den Direktor des Theaters. Lord Henry findet Gefallen an dem Mann, der sich Shakespeare zuliebe bereits mehrmals finanziell ruiniert hat. Er läßt es sich nicht nehmen, ihm die Hand zu schütteln, »assuring him that he was proud to meet a man who had discovered a real genius and gone bankrupt over a poet.« (108) Der Unterschied zu den bisher vorgestellten Theaterdirektoren - Bordenave in Nana und der Leiter des Panorama-Dramatique in Illusions perdues - ist offensichtlich. Zwar verbindet alle die Sorge um das finanzielle Überleben der Spielstätte, welche sie zu den unterschiedlichsten Aktivitäten veranlaßt, in Dorian Gray aber ist erstmals von der Kunst als eigentlicher Funktion des Theaters die Rede. Ungeachtet der finanziellen Nachteile besteht der jüdische Direktor darauf, Stücke von Shakespeare aufzuführen.
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4. Textanalysen
durch auch die Unterschiede zu Shakespeares Romeo and Juliet
herausgestellt.
Dies erweist sich vor allem an Sibyl Vane, die gleichsam aufgespalten ist. Das romantische Doppelgängermotiv wird hier buchstäblich im Licht der Bühne aktualisiert. Zunächst inhaltlich im Sinne der szenischen Kunstform Komödie, deren Grundprinzip unter anderem darin besteht, ihre Figuren mit Doppelrollen auszustatten, sodaß diese nie gleichzeitig auftreten können, namentlich bei Shakespeare oder bei Oscar Wilde selbst, etwa in Bunbury. Was dort zu erheiternden Verwechslungen und Verwicklungen fuhrt, endet im Roman tragisch: Dorian begegnet Sibyl nur als Mimin, als Kunstwesen und nie in ihrem tatsächlichen sozialen Umfeld. Auch dieses Ausklammern von Identitäten — wenngleich aus anderem Grund — findet sich nicht nur in Komödien Shakespeares, sondern eben in Romeo and Juliet.
So wie Sibyl Dorian als »My love«
oder »Prince charming« anredet, fordert Romeo J u l i a im berühmten zweiten Akt auf: »Call me but love, and I'll be new baptized«. 1 1 2 Sibyls Doppelung gemahnt allerdings nicht nur an besagte Theaterstücke, sondern auch an die künstlerisch-technischen Maßnahmen von Theater: Sie spaltet sich in eine von Bühnenscheinwerfern beleuchtete Akteurin und eine Tochter aus mittellosem Hause auf, deren Leben gerade nicht im Lichterglanz erstrahlt. Gerade die Aufführung von Shakespeares weltberühmtem Drama in einem schäbigen Vorstadttheater verdeutlicht also, wie Wilde die Liebesgeschichte von Romeo und J u l i a auf und jenseits der Bühne episch umfunktioniert. An der konfliktreichen Verbindung von aristokratischem Zuschauer und mittelloser Schauspielerin wird veranschaulicht, daß das Vorhaben, Realität in ästhetische Phänomene zu verwandeln, letztlich erfolglos bleibt. Die soziale Wirklichkeit, die Dorian buchstäblich auszublenden versucht, holt ihn immer wieder ein: etwa in Gestalt von Sibyls Bruder, der zurückkehrt, um den Tod der Schwester zu rächen. Darin besteht die Bedeutung der so unterschiedlich bewerteten und als melodramatisch denunzierten James-Vane-Episode: 1 1 3 Die Wirklichkeit läßt sich nicht ausblenden, so wie im Theater Kulissen und Akteure. Sie folgt anderen Gesetzen als das szenische Spiel. Was verdrängt werden soll, kehrt nachts wieder: in Gestalt des Bruders, in Gestalt von Alpträumen, in Gestalt des Portraits. Ahnlich wie in Stuck ist auch in diesem Roman die Dunkelheit der Zufluchtsort für all jene Seiten der Realität, die vom bühnenhaften, illuminierten Treiben der Romanfiguren - freilich nur vordergründig - verdrängt werden. In diesem Zusammenhang ist auch die Aussage zu sehen, Wilde klammere die soziale Realität in seinem Roman weitgehend aus. 1 1 4 Zwar hätte die Anlage 112 113 114
Shakespeare: Romeo and Juliet (II, 2), S. 165. Vgl. hierzu Kohl, S. 33. Vgl. Manfred Pfister: Oscat Wilde. The Picture of Dorian Gray, U T B , München 1986, S. 119: »In einer Zeit, in der auch englische Autoren, zum Teil unter dem Einfluß des kontinentaleuropäischen Naturalismus, sich verstärkt sozialen Problemen
4.4. Oscar Wildes The Picture of Dorian Gray (1890)
121
der Theaterpassage Wilde zahlreiche Ansatzpunkte zu einer explizit sozialkritischen Darstellung geboten: die Figur des jüdischen Direktors etwa, der unter allen Umständen versucht, seine Hauptdarstellerin mit dem reichen Zuschauer bekannt zu machen; dann Sibyls Familie: die Mutter, ebenfalls eine wenn auch heruntergekommene Komödiantin, die Sibyl mit dem wohlhabenden Dorian verheiraten möchte; Sibyls Bruder, der mittellos nach Australien auswandern muß; Dorians Streifzüge durch die dunklen Viertel Londons, in denen er auf das Vorstadttheater stößt; und schließlich die Anlage der Theaterepisode insgesamt: Eine verarmte Schauspielerin, die vom Direktor der Bühne sklavenähnlich gehalten und von einem Dandy in den Tod getrieben wird. All dies hätten und haben Romanciers wie Dickens, Balzac oder Zola zu einer ausfuhrlichen Darstellung des sozialen Konfliktpotentials genutzt. Nicht so Wilde. Bei ihm lösen sich die Schauplätze in Apperzeptionsskizzen auf, wird die soziale Problematik, die der Stoff birgt, nicht vordergründig zur Handlungsfuhrung herangezogen. Wilde geht dieses Sujet anders an. Er bindet es in die zentrale Thematik des Romans - Funktionsweisen ästhetischer Wahrnehmung - ein, um auf diese Weise das problematische Widerspiel von Fiktion und Realität, Kunst und Leben episch auszuloten. Dazu bedient er sich allerdings szenischer Mittel. Der gesamte Roman kommt nicht nur wie ein Bühnenstück daher - metaphorisch 115 und poetisch-technisch —, ihm liegt auch das drameneigene Spiel im Spiel zugrunde. Indem Wilde seine Hauptfigur auf magische Weise wie in einer Bühnenwelt agieren läßt, verdoppelt er im Sinne des Theaters das Verhältnis von Zuschauer und Akteur. Dorian Gray agiert innerhalb der epischen Fiktion, vor den Augen der Leser, wie Shakespeares Bühnenfiguren, die er beobachtet: Seine Taten sind folgenlos. Die Leser haben es also mit einer dramatisierten und genauer: in Szene gesetzten Romanwelt zu tun, deren Fiktionscharakter am Beispiel und mit den Mitteln des Theaters offengelegt wird. Anders gesagt: So wie Sibyl innerhalb der erzählten Geschichte den Versen Shakespeares ein Sprachrohr verschafft - Dorian weist auf diese Qualität ausdrücklich hin —, verschafft Wildes Roman dem drameneigenen und von Shakespeare bevorzugten Spiel im Spiel gleichsam ein episches Sprachrohr, so wie dies im Vorwort angekündigt wird: »It is the spectator, and not life, that art really mirrors.« (48)
115
zuwandten und diese mit neuer Direktheit und Differenziertheit in ihren Werken thematisierten [...] entzieht sich Wilde in seinem Roman weitgehend diesem neu und verschärft gestellten Auftrag an die Literatur, die gesellschaftliche Wirklichkeit — und hier vor allem die soziale Lage der Unterschichten und Unterprivilegierten — kritisch und reformerisch widerzuspiegeln.« Zwar ist Manfred Pfister (S. 70) zuzustimmen, wenn er Metaphern aus der Welt der Kunst als ein Charakteristikum des Romans überhaupt ansieht, um die Vermischung von Kunst und Leben darzustellen: »Wiederholt wird die dargestellte Welt in der Erzählerrede durch Metaphern oder Vergleiche aus dem Bereich der Kunst charakterisiert.« Allerdings erhält die Theatermetapher, wie gezeigt, eine Leitfunktion mit spezifischen Aufgaben, die sie von anderen Bildern unterscheidet.
122
4. Textanalysen
4.5. Thomas Manns Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull (Fragm. 1922) Forsche ich nun in meiner Seele nach weiteren Jugendeindrücken, so habe ich des Tages zu gedenken, da ich die Meinen zum erstenmal nach Wiesbaden ins Theater begleiten durfte. Übrigens muß ich hier einschalten, daß ich mich bei der Schilderung meiner Jugend nicht ängstlich an die Jahresfolge halte [...] mein erster Theaterbesuch fällt in ein früheres Jahr, nähmlich in mein vierzehntes [...]. 1 1 6
Mit diesen Bemerkungen beginnt das fünfte Kapitel von Thomas Manns unvollendetem Roman, das in seiner ganzen Länge Felix Knills erstem Theaterbesuch gewidmet ist. In den Eingangszeilen des Kapitels wird den Lesern zunächst der modus dicendi der angekündigten Ereignisse erläutert. Die Titelfigur tritt als Ich-Erzähler in Erscheinung. Sie berichtet selbst und ohne von übergeordneter Instanz vorgeführt zu werden, von ihrem Theatererlebnis. Die Leser haben es folglich mit einer konsequenten Perspektivierung des Geschehens durch das Bewußtsein der Hauptfigur zu tun. Neben dem epischen Blickwinkel wird der Stellenwert des Theaterbesuchs für Knills Lebensweg angesprochen. Es handelt sich um eine Jugenderinnerung innerhalb der als Autobiographie verstandenen Geschichte. Dabei wird auf ein bereits vergangenes Theatererlebnis zurückgeblickt, von dem Krull erst Jahrzehnte später berichtet. Sein Theaterbesuch ist nicht mehr unmittelbar präsent, sondern muß aus erheblicher zeitlicher Ferne herbeigeholt werden. Die Vorgänge auf der Bühne werden somit zweifach gebrochen: durch das Bewußtsein des Berichterstatters und durch die vergangene Zeit, die sich zwischen ihn und die Erinnerung an seinen ersten Theaterbesuch schiebt: Das Erlebnis eines Jugendlichen wird von einem Erwachsenen rekonstruiert. Zunächst erläutert Krull, was ihm dieses Erlebnis bedeutet. Er empfindet es gleichermaßen als rituellen Akt der Initiation wie als wissenschaftliche Studie. Ausdrücklich will er seines Theaterbesuches »gedenken« und ruft ihn als einen bedeutenden Tag seines Lebens in Erinnerung. Er ist aber auch Gegenstand psychologischer Neugier. Krull macht sich daran, »seine Seele« zu erforschen. Diese beiden Grundzüge - quasi-religiöse Stimmung und analytischer Wissensdurst - bestimmen sein weiteres Rezeptionsverhalten. Nachdem die Rahmenbedingungen dergestalt skizziert sind, wird vom eigentlichen Theaterbesuch erzählt. Krull wohnt der Vorstellung in Begleitung seiner Familie bei, mit der er zuvor in einem Cafe Punsch getrunken hat. 116
Thomas Mann: Gesammelte Werke in zwölf Bänden, S. Fischer, Frankfurt a.M. I960, Band VII, S. 286. Die Entstehungszeit des Romans wird mit Januar 1910 bis 1913 und Januar 1951 bis April 1954 angegeben; die Jahreszahl in der Überschrift bezieht sich auf den Erstdruck Buch der Kindheit 1922 (Vgl. Thomas Mann: Selbstkommentare, Fischer, Frankfurt a.M. 1989). Der Titel des Romans wird im folgenden mit Felix Krull abgekürzt, die Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf oben genannte Ausgabe.
4.5. Thomas Manns Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull (Fragm. 1922)
123
Er betritt das Theater also berauscht, was seine Wahrnehmungsfähigkeit aber keineswegs einschränkt. Krull bezeichnet sich ganz im Gegenteil als einer, dessen »Empfänglichkeit für Eindrücke sogar besonders lebhaft zu nennen war.« (286) In einer ersten Skizze von Ortlichkeiten und Publikum, die immer wieder mit Kommentaren Krulls zu seinem damaligen Geisteszustand durchdrungen ist, wird deutlich, daß hier eine lern- und wißbegierige Person zugegen ist, auf die bereits der Theaterraum stimulierend wirkt: Die Frauen, die sich in den Balkons den Busen fächelten; die Herren, die sich plaudernd über sie neigten; die summende Versammlung im Parkett, zu der wir gehörten; [...] die üppigen Malereien an der Saaldecke und auf dem Vorhang, die eine Menge entblößter Genien, ja ganze Kaskaden von rosigen Verkürzungen zeigten. (286)
Krull befindet sich also im Parkett, wo er sowohl die Bühne als auch die Zuschauerlogen beobachten kann. Um den Theatersaal zu beschreiben, verwendet er hier erstmals das Bild der summenden, einem Insektenschwarm gleichenden Menge, das er im Laufe seines Berichts immer wieder aufnimmt. Auch die Verbindung von Theater und Erotik, die für seine weiteren Überlegungen eine so zentrale Rolle spielt, zeigt sich bereits an der Architektur des Schauplatzes, an der Schar »entblößter Genien«, die das Gebäude schmücken. Ein zweites Bild entstammt der Religion. Der Topos vom Theater als Tempel der Kunst erscheint hier abgewandelt als »Kirche des Vergnügens« (287). Dies ist zunächst ganz wörtlich zu verstehen. Krull spricht von einer »Stätte, wo erbauungsbedürftige Menschen, im Schatten versammelt gegenüber einer Sphäre der Klarheit und der Vollendung, mit offenem Munde zu den Idealen ihres Herzens emporblickten.« (287) Er gliedert den Raum also metaphysisch, indem er architektonische und ästhetische Eigenheiten der Bühne mit symbolischer Bedeutung auflädt. Der im Theater übliche, beleuchtungstechnisch hergestellte Hell-Dunkel-Kontrast von Zuschauerraum und Bühne wird auf das Verhältnis von Publikum und Bühnenakteuren übertragen. Auf der einen Seite, im Dunkeln, die Zuschauer, ausdrücklich als »Menschen« bezeichnet, auf der anderen Seite, im Schein der Bühnenbeleuchtung, gleichsam übermenschliche, gestaltgewordene Ideale. Krull entwirft dieses Bild, um es anschließend zu demontieren. Was er zunächst in betont feierlicher Rede mit philosophisch-religiösem Vokabular vorträgt, wird bereits im folgenden Satz zurückgenommen. Krull zeigt, was es mit der »Sphäre der Klarheit« wirklich auf sich hat: »Man spielte ein Stück von bescheidenem Genre, ein Werk der leichtgeschürzten Muse, wie man wohl sagt, eine Operette, deren Namen ich zu meinem Leidwesen vergessen habe.« (287) Titel und Verfasser des aufgeführten Stücks werden nicht genannt. Krull erwähnt lediglich das Genre, eine Operette, die — dies legt der Text nahe — eher als Typus denn als real existierendes Stück aufgefaßt werden kann. 117 117
Zwar vermeint Albert Ettinger, Die lustige Witwe von Lehar in der aufgeführten Ope-
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4. Textanalysen
Die Wirkung des Stücks basiert auch in diesem Roman hauptsächlich auf der körperlich-sinnlichen Ausstrahlung des Hauptdarstellers. Ein überaus beliebter »Sänger namens Müller-Rose« steht im Mittelpunkt der szenischen Ereignisse, die sich in amourösen Eskapaden und Auftritten in der feinen Gesellschaft erschöpfen. Krull beginnt seinen Bericht mit einer ausführlichen Schilderung von Müller-Roses Äußerem und den »verschiedenen Toiletten« (289), in denen sich dieser auf der Bühne präsentiert: Besonders der Zylinder, der ihm auf leichtlebige Art schief in der Stirn saß, war in der Tat das Traum- und Musterbild seiner Art, ohne Stäubchen noch Rauheit, mit idealischen Glanzlichtern versehen, durchaus wie gemalt, — und dem entsprach das Gesicht dieses höheren Wesens, ein Gesicht, das wie aus dem feinsten Wachs gebildet schien. [...] ein kurzes, gerades Naschen sowie einen überaus klar gezeichneten und korallenroten Mund, über dessen Oberlippe sich ein [...] wie mit dem Pinsel gezogenes Schnurrbärtchen wölbte. (288)
Krull setzt die parodistische Verzerrung seiner eingangs vorgenommenen Gliederung des Raumes fort. Das Gegenüber von Ideal und unvollkommener realer Gestalt wird nun auf banale Gegenstände des Alltags, vor allem Kleidung, übertragen. Auf der Bühne ist keineswegs — wie dies Krulls Vorbemerkungen erwarten lassen — eine Person zu sehen, die über idealtypische Charakterzüge verfugt. Vielmehr tritt eine Figur mit idealtypischen Attributen ihrer gesellschaftlichen Position auf. Zylinder, Frack, Frisur und Schmuck dienen ihr als gesellschaftliche Visitenkarten. Kostümierung, eigentlich der szenischen Illusion dienlich, funktioniert hier auch als Statussymbol. Müller-Rose, dessen Gesicht bezeichnenderweise wächsern wirkt, wird wie Sibyl Vane wahrgenommen: als Puppe. Der Sänger erscheint allerdings nicht als Träger einer dramatischen Rolle, sondern trägt buchstäblich eine Vielzahl an Kostümen. Bald erscheint er in »schneeweißem Sportanzug«, bald in »Unterhosen aus himmelblauer Seide« (289). Krulls Demontage der »Sphäre der Klarheit« erreicht hier einen End- und Höhepunkt. Das Attribut »Himmel« hat seine metaphysische Konnotation vollständig verloren und wird nur noch als Farbadjektiv gebraucht, um die Unterwäsche des Bühnenakteurs zu beschreiben. Krull benutzt dabei auffallend oft Begriffe aus der Malerei. Er erweckt nicht nur den Eindruck, mit den Mitteln der Sprache ein Bildnis des Operettenstars anzufertigen, sondern im Theater ein Gemälde zu rezipieren. Sein Augenmerk richtet sich beinahe ausschließlich auf jene Elemente des Bühnenspiels, die sich auch als Requisiten in der (Atelier-)Malerei finden: Dekor und Kostüme. Er interessiert sich weder für die Musik noch für die Handlung der Operette und rette zu erkennen, eine exakte Identifikation des Stücks ist aber aufgrund fehlender Belege nicht möglich. Vgl. hierzu Albert Ettinger: Der Epiker als Theatraliker. Thomas Manns Beziehungen zum Theater in seinem Leben und Werk, Frankfurt a.M. 1988, S. 319, insbesondere Fußnote 103.
4.5. Thomas Manns Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull (Fragm. 1922)
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hat überdies ihren Namen vergessen. Nur beiläufig wird erwähnt, welche Situationen der Bühnenakteur zu meistern hat. Krull begeistert sich hauptsächlich fur die äußere Erscheinung Müller-Roses und im besonderen fur dessen Kleider. Er geht mit der Operette also unangemessen um. Er gebraucht Kategorien, welche die Fülle der optischen und vor allem akustischen Reize auf die bloß textile Ausstattung des Hauptdarstellers beschränken. Seine Wahrnehmung des Bühnenspiels ist wie die vieler anderer vorgestellter Theaterbesucher selektiv. Knills Vorliebe für Kostüme entspringt seiner Kindheit. So berichtet er im vierten, der Theaterepisode unmittelbar vorausgehenden Kapitel von seinem Paten Schimmelpreester, der ihn in verschiedenen Kostümen malt. Krull stellt auf diese Weise zunächst implizit einen Bezug von seiner eigenen Person zum Bühnenakteur her. Wie dieser in der Operette hat er bei Schimmelpreester als Kleiderpuppe posiert. Im Verlauf der Episode werden weitere Übereinstimmungen angedeutet. Krull qualifiziert Müller-Roses Aussehen - vor allem sein Gesicht — als androgyne Schönheit. Auf eben diese Weise beschreibt er auch sich selbst, im zweiten Kapitel des Romans: »ich aber besaß seidenweiches Haar, wie man es nur selten beim männlichen Geschlechte findet [...].« (273) Die Bezüge von Zuschauer und Sänger werden aber auch explizit hergestellt, wenn Krull etwa zur Person Müller-Roses anmerkt: »Es ist anzunehmen, daß er jetzt alt und abgenutzt ist, gleich mir selbst.« (287) Daneben findet sich eine Reihe ähnlicher Bemerkungen, die über die ganze Episode verstreut sind und wie Regieanweisungen für die Leser wirken. 118 Krull scheint auf diese Weise den Gang der Erzählung zu steuern. Wo Zolas Erzähler den Lesern Schritt für Schritt den Bühnenauftritt Nanas und die damit einhergehende Wirkung auf das Publikum ausbreitet, wo Dorian Gray euphorisch und berauscht von der Schönheit einer Schauspielerin berichtet, denkt Thomas Manns Figur retrospektiv immer wieder über ihr eigenes Tun nach. Felix Krull gibt den Lesern Orientierungshilfen zum Verständnis seiner Geschichte. Er verweist auf Vergangenes und Künftiges, erklärt, deutet und schafft so eine psychische Distanz zu den Vorgängen auf der Bühne. Offenbar ist er sich darüber bewußt, was er im Theater beobachtet: »[...] berufene Personen, bunt gekleidet und von Musik umwoben, [die] ihre vorgeschriebenen Schritte und Tänze, Gespräche, Gesänge und Handlungen vollführten.« (287) Im Zentrum von Krulls Überlegungen steht das Verhältnis von Bühnenakteur und Zuschauer. Da ist einerseits von »blenden« und »vorzutäuschen« die Rede, andererseits aber von »Zauber« und von Dingen, die »sozusagen nicht von dieser Welt« (288) sind. Krull räsonniert also über zwei wesentliche Aspekte der Rezeption: einerseits das Wissen vom Illusionsgehalt der Auffuh118
»[··•] werde etwas weiter unten erklären, wieviel Sinn dieses Wort hier umschließt.« (287)
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4. Textanalysen
rung, das Vorspielen einer »erlogenefn] Geschichte« 1 1 9 wie Stifters Hauptfigur in Der Nachsommer erklärt; andererseits die Wirkung dieser gemimten Vorgänge, die eben mehr ist als nur eine Summe von Lügen. Auf dieses Phänomen hat es Krull abgesehen. Müller-Roses Auftritt löst einen Reflexionsprozeß über das komplexe Widerspiel von Zuschauer und Bühnenakteur aus, der in die Schlußfolgerung mündet: »Ja, dies war es: Müller-Rose verbreitete Lebensfreude [ . . . ] . « (289) Knills vorläufigem Fazit folgt ein Perspektivenwechsel. Um die Ergebnisse seiner Reflexionen an anderen zu überprüfen, beobachtet er das übrige Publikum: [ . . . ] und so unaussprechlich ich ergötzt war, besaß ich doch Gegenwärtigkeit und Neugier genug, umherzuschauen, mich nach den Wirkungen umzutun, welche die Darbietungen der Bühne auf die Genossen meines Vergnügens ausübten, und die Mienen der Umsitzenden mit Hilfe meiner eigenen Empfindungen zu deuten. (289)
Felix Krulls Beobachtungen haben eine ganz eigene Qualität. Sie sind nicht nur ergänzendes Beiwerk, sondern eigentlicher Gegenstand der Rezeption. Das Publikum wird ihm zum Studienobjekt. Krull genügt es nicht, die Mienen der Zuschauer lediglich zu beobachten. Er will sie »deuten«, möchte wissen, wie die »blöde Selbstvergessenheit« auf ihre Gesichter kommt. Deswegen versucht er, sich in die Psyche des Publikums einzuspielen: »Wenn wir in unseren Unterhosen dort oben stünden, mochten sie denken — wie würden wir bestehen?« (290) In diesem Roman zeichnet sich also eine signifikante Veränderung der Rezeptionshaltung ab. Die Hauptfigur zieht nicht Parallelen zu ihrem eigenen Leben, sondern versucht herauszufinden, welche Bezüge das übrige Publikum zum Bühnenspiel herstellt. Krull überprüft quasi-wissenschaftlich seine Selbstbeobachtung an jenem Kollektiv, in dessen Mitte er sich befindet. Seine Fähigkeit zur Inlusion richtet sich weniger auf das Bühnengeschehen als vielmehr auf die Vorgänge im Zuschauerraum. In diesem fortgeschrittenen Stadium seiner Reflexionen greift Krull das Bild der summenden Menge auf und setzt es jetzt explizit in Bezug zur Tierwelt: »Ja, diese ganze beschattete Versammlung glich einem ungeheuren Schwarme von nächtlichen Insekten, der sich stumm, blind und selig in eine strahlende Flamme stürzt.« (290) Was in Nana erzählt und zum eigentlichen Sujet des Romans wird, das reflektiert Thomas Manns Hauptfigur und faßt es in der Insektenmetapher zusammen. Wo Zola einen diagnostizierenden Erzähler einsetzt, wird hier das Theater der Romanfigur selbst zum Labor, wo die Reaktionen der Menge auf die dargebotenen Reize untersucht werden können. Wie Insekten unter einem Mikroskop wird das Zuschauerkollektiv von Krull seziert.
119
Adalbert Stifter: Werke und Briefe, Historisch-kritische Gesamtausgabe, Stuttgart/ Berlin/Köln 1997, Band 4/1, S. 194.
4-5. Thomas Manns Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull (Fragm. 1922)
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Mit diesen Reflexionen endet Krulls Bericht von der Operettenaufführung. Allerdings hat er noch Wesentliches hinzuzufügen. Während die übrigen Zuschauer den Raum verlassen, »den Helden des Abends nachzuahmen suchten« (291), schlägt der Vater vor, den ihm bekannten Sänger in seiner Garderobe zu besuchen. Der Junge erhält so die Möglichkeit, seine Studien über MüllerRoses Wirkung zu vertiefen und hinter die Kulissen des Theaters zu blicken. Auch Krull wird den Sänger im weiteren Verlauf des Romans nachahmen, aber auf ganz andere, professionelle Weise. Um die Kunst des einnehmenden Auftretens zu erlernen, ist der Besuch der Garderoben vonnöten. Wenn Krull von seinem Gang in die Umkleideräume berichtet, bedient er sich zunächst beleuchtungsspezifischer Analogien zum Theater. Der Hell-Dunkel Kontrast von Bühne und Zuschauerraum ist auch hinter den Kulissen wirksam. Die Verbindungskorridore und Garderoben erscheinen auf diese Weise als Gegenwelt, die folgenden Ereignisse als verzerrte Kopie der Operettenauffiihrung. Krull und sein Vater betreten die »schon finstere Loge des Theaterdirektors, von wo wir durch eine schmale Eisentür hinter die Kulissen gelangten. Das Halbdunkel des Schauplatzes war spukhaft belebt von räumenden Arbeitern.« (291) Im Gegensatz zum erwartungsfroh gestimmten Publikum im Zuschauerraum und den singenden Akteuren auf der Bühne sind die Künstler und Helfer hinter den Kulissen »übellaunig«. Als die beiden an Müller-Roses Garderobe klopfen, werden sie mit einem »unwirschen Anruf[s]« (291) empfangen. Ein kurzer Dialog - durch die geschlossene Türe - spinnt sich zwischen Krulls Vater und dem Sänger an, in dessen Verlauf Begriffe fallen - etwa »altes Sumpfhuhn« (291) —, die nichts mit Müller-Roses eleganter Erscheinung auf der Bühne gemein haben. Während Müller-Rose zunächst nur zu hören ist, materialisiert sich in der Garderobe, was seine Äußerungen akustisch vorwegnehmen: [...] ein Anblick von unvergeßlicher Widerlichkeit bot sich dem Knaben dar. An einem schmutzigen Tisch und vor einem staubigen und beklecksten Spiegel saß Müller-Rose, nichts weiter am Leibe als eine Unterhose aus grauem Trikot. Ein Mann in Hemdärmeln bearbeitete des Sängers Rücken, der in Schweiß gebadet schien. (292)
In der erleuchteten Garderobe tritt der Sänger abermals auf: als Privatperson. Wie auf der Bühne korrespondieren Räumlichkeiten und Gestalt des Bühnenakteurs. In einer schmutzigen Garderobe sitzt Müller-Rose abgeschminkt und in Unterwäsche. Auch in dieser Passage verweist der Spiegel als Grundausstattung der Künstlergarderobe auf ihre Funktion innerhalb der Theaterepisode. Wie in einem Zerrspiegel erblickt Krull hinter den Kulissen die reale Kehrseite der gemimten Bühnenwelt. Diese Rückseite — bezeichnenderweise ist MüllerRoses Rücken zu sehen — erweist sich als das Gegenteil dessen, was auf der Bühne vorgeführt wird. Die vor den Kulissen scheinbar ausgeschalteten Zeichen körperlicher Anstrengung, als Teil eines Idealbildes, zeigen sich in der
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4. Textanalysen
Garderobe in ihrer ganzen abstoßenden Intensität. Der Rücken des Bühnenakteurs ist nicht nur schweißgebadet, sondern auch m i t roten Pickeln übersät. Was sich im Doppelnamen Müller-Rose andeutet, t r i t t n u n zutage. Der mondänen Erscheinung der Bühnenfigur wird die rohe Körperlichkeit des Sängers in der Garderobe gegenübergestellt. Dieser Kontrast konzentriert sich in seinem janusköpfigen Gesicht: W ä h r e n d die eine Hälfte noch geschminkt ist, wird die andere schon in ihrer wahren Gestalt sichtbar. Dergestalt erblickt Krull, was hinter den Illusionsmechanismen des Theaters steckt. So wie die Kulissen von öligen Schrauben zusammengehalten werden, steckt hinter der Maske des Lebemannes die aufgequollene Gestalt des Bühnenakteurs. Auch hier findet also eine Demaskierung statt. H i n t e r der Bühne zeigt sich der entstellte Körper des Operettenstars. Dieser Doppelcharakter Müller-Roses - hier Bühnenfigur, dort Privatperson - wird von Krull über Oppositionspaare vermittelt, die einem G r u n d p r i n z i p unterliegen: d e m Gegensatz von Sein und Schein, von W i r k u n g nach außen und wahrer Gestalt. In Thomas Manns Roman präsentiert sich der Bühnenakteur wie in Stuck das Theater und die ganze Stadt: als glänzende Fassade, die eine marode Substanz kaschiert. Krull beschließt seinen Bericht m i t der A n m e r k u n g : »Dennoch stand ich und schaute — u n d habe weiter nichts Tatsächliches über unseren Besuch in Müller-Roses Garderobe beizubringen.« (293) Tatsächliches nicht, aber Beobachtungen, K o m m e n t a r e und Reflexionen, die im letzten Teil der Episode erläutert werden: »Belehrung und Aufklärung über mich u n d die Welt« (293) verdankt Krull seinem Theaterbesuch. Diese Erkenntnis resultiert aus seinen Studien über die Wechselwirkung von Bühnenakteur u n d P u b l i k u m : [...] dies verschmierte und aussätzige Individuum ist der Herzensdieb, zu dem soeben die graue Menge sehnsüchtig emporträumte! Dieser unappetitliche Erdenwurm ist die wahre Gestalt des seligen Falters, in welchem eben noch tausend betrogene Augen die Verwirklichung ihres heimlichen Traumes von Schönheit [...] zu erblicken glaubten! [...] Die erwachsenen und im üblichen Maße lebenskundigen Leute aber, die sich so willig, ja gierig von ihm betören ließen, mußten sie nicht wissen, daß sie betrogen wurden? Oder achteten sie in stillschweigendem Einverständnis den Betrug nicht für Betrug? Letzteres wäre möglich; [...] (294) Von diesen Überlegungen geht Krull aus, u m die W i r k u n g des Sängers zu ergründen. Er versucht, das vor u n d hinter der Bühne Gesehene in einen Z u sammenhang zu setzen, sein Theatererlebnis, »das Erlebnis meiner Sinne« (293), reflexiv zu verarbeiten. Allerdings denkt Krull über die Mechanismen des Theaters keineswegs aus Interesse am szenischen Spiel nach. Auch in diesem R o m a n steht nicht die K u n s t im Vordergrund - es sei denn die K u n s t des Vor-Spielens, der Täuschung, der Mimikry. Von der Interpretation bekannter Werke des dramatischen Genres ist nie die Rede. Vielmehr wird der Versuch u n t e r n o m m e n , Ursache u n d W i r k u n g eines einnehmenden Auftretens zu ergründen, weil dieser Vorgang im Theater unter geeigneten R a h m e n b e d i n g u n -
4.5. Thomas Manns Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Knill (Fragm. 1922)
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gen studiert werden kann. Krulls Wortwahl zeigt, daß seine Überlegungen in diese Richtung weisen. Immer wieder kommt er auf den Begriff des Betrugs zu sprechen, der ihm wichtigster Terminus bei seinen Reflexionen über das Theater ist. Seine Variationen — »blenden«, »vortäuschen«, »Herzensdieb« — unterstreichen, daß Krulls Interesse am Theater nicht ästhetischen Motiven entspringt. Er erhält dort vielmehr die Möglichkeit, seine immer schon latent vorhandene Vorliebe zur Kostümierung und zum Rollenspiel erstmals bewußt zu überdenken. Das Theater als Ort, an dem man nach bestimmten Regeln spielt und kostümiert, wird Krull zum Modellfall. Hier können allgemeine Kommunikationsprinzipien psychologischer und sozialer Natur untersucht werden. Krulls frühes Theatererlebnis verweist also bereits auf seine spätere Karriere als Hochstapler. Zunächst weitet er seine Reflexionen schrittweise aus, indem er den Bereich des Theaters transzendiert. Er überträgt die Maßnahmen der Bühne auf die Welt der Insekten, wo analoge Lichtverhältnisse herrschen. Müller-Rose wird mit einem Glühwürmchen verglichen, das Publikum mit einem Schwärm von »armen Motten und Mücken, der sich still und toll in die lockende Flamme stürzt.« (294) Von der Tierwelt überträgt Krull diese Vorstellung in einem letzten Schritt auf den Menschen. Er vermeint das Gesehene im sozialen Verhalten wiederzuerkennen. 120 Krulls Schlußfolgerungen haben so den Dunstkreis der Bühne verlassen. Wenn er glaubt, den Mechanismus des Theaters als anthropologische Konstante in der Lebenswirklichkeit vorzufinden, überträgt auch er die Regeln des Spiels auf die Realität, obgleich anders als die bisher vorgestellten Theaterbesucher. Felix Krull läßt sich von der Wirkung des Bühnenspiels nicht überwältigen. Ihm geht es zuvorderst um Erkenntnis, die nüchtern und aus der Distanz heraus gewonnen wird. 121 Dies ist ein Novum in der Geschichte des Sujets. Das Bühnenspiel löst bei der Hauptfigur eine genau elaborierte Reflexion aus, die um die zentralen Fragen von Illusionserzeugung und -Wirkung kreist. Krull verhält sich als IchErzähler ganz anders als etwa Dorian Gray nach seinem ersten Theaterbesuch. Dessen aufgewühlter Geisteszustand prägt auch die Form seines Berichts. Er läßt aus, verwechselt und reagiert verständnislos auf die Gegenfragen Lord Henrys. Ganz anders Felix Krull: Die Person des Gegenübers, die kritische Fragen stellt und versucht, das Geschehene zu relativieren, ist genauso wie der Erzähler, der in Nana oder Stuck diese Funktion ausübt, verschwunden. Sie wird nicht mehr gebraucht, weil sie in das Bewußtsein der Hauptfigur eingegangen 120
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»Hier herrscht augenscheinlich ein allgemeines von Gott selbst der Menschennatur eingepflanztes Bedürfnis, dem die Fähigkeiten des Müller-Rose entgegenzukommen geschaffen sind.« (294) »Frage dich nach den geheimen Ursprüngen des Gefalligkeitszaubers, der vorhin seinen [Müller Roses; d.Verf ] Körper bis in die Fingerspitzen durchdrang und beherrschte!« (295)
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4. Textanalysen
ist. Krull benötigt keinen Widerpart vom Format Lord Henrys, er stellt sich selbst die Fragen zum Geschehen und beantwortet sie auch selbst. Er seziert die Vorgänge im Theater wie Lord Henry seine Mitmenschen. Krull ist teilnehmende und beobachtende Instanz in Person. Seine Überlegungen sind in drei Teile gegliedert: die Ereignisse vor den Kulissen, im Zuschauerraum; die Vorgänge hinter den Kulissen, wo Krull sieht, was sich unter der Oberfläche der Kostümierung verbirgt; und die Reflexion des Gesehenen, seine Einordnung und Bewertung. Knills Bericht ist also der rhetorischen Dreiteilung These, Antithese und Synthese unterworfen, welche die Distanz zu den Vorgängen auf der Bühne verstärkt. Eine Romanfigur, die das aufgeführte Stück dergestalt zergliedert, erliegt ihm nicht; eine Romanfigur, die ihren ersten, idealisierten Eindruck beständig korrigiert und ironisch zurücknimmt, läßt sich nicht vom Operettengeschehen überwältigen. Krull deckt gewissermaßen einen Schwindel auf: Das Theater ist mitnichten ein Tempel der Kunst, sondern Ort der »leichtgeschürzten Muse«, dessen charmanter Repräsentant sich in der Garderobe als entstellte Person entpuppt. Thomas Manns Figur ist also skeptisch gegenüber dem, was sie auf der Bühne sieht. Angesichts der ruinösen Folgen des Bühnenspiels für Lucien de Rubempre, Emma Bovary, Dorian Gray, Georges Hugon und den Grafen Muffat ist dies ein bemerkenswerter, deutlich abweichender Befund. In der Theaterepisode dieses Romans ist kein Platz mehr fur das erotisch geprägte Verhältnis von Hauptfigur und Bühnenakteur. Zwar macht auch Felix Krull die Bekanntschaft des Sängers. Aber dieses Uberschreiten der üblichen Distanz von Zuschauer und Bühnenakteur bewirkt das Gegenteil dessen, was in den bisher analysierten Romanen zu verzeichnen war. Krull verfällt dem Sänger gerade nicht - ein Umstand, der durch die Gleichgeschlechtlichkeit von Hauptfigur und Bühnenakteur gefördert wird —, sondern äußert zunächst Abscheu und Ekel, der dann in Bewunderung umschlägt: nicht fur die Privatperson MüllerRose, sondern für dessen Verwandlungskünste. Das Verhältnis von übrigem Publikum und Sänger wird hingegen durchaus erotisch aufgefaßt. Krull kommt zu dem Schluß, daß es sich dabei um eine komplexe Form emotionaler Symbiose handelt, 122 die offensichtlich manipuliert werden kann und maßgeblich an die Beleuchtungsverhältnisse gekoppelt ist. Die Aufteilung des Theaters in einen dunklen Zuschauerraum und eine beleuchtete Bühne wird, wie gesagt, zu einer metaphysischen Opposition von Unvollkommenem und Idealem stilisiert, in deren Spannungsfeld jenes Phänomen entsteht, das Krull als »Gefälligkeitszauber« definiert. Dies ist die Lektion, die er im Theater gelernt hat: Was auf das ästhetische Empfinden anderer
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»[· ··] und wenn er [der Schauspieler; d.Verf.] ihr [der Menge; d.Verf.] Lebensfreude spendet, sie ihn dafür mit Beifall sättigt, ist es nicht ein wechselseitiges Sich-GenügeTun, eine hochzeitliche Begegnung seiner und ihrer Begierden?« (295)
4.5. Thomas Manns Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull (Fragm.
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einwirken soll, bedarf eines Rahmens, einer Plattform, auf der es ausgestellt und vorgeführt werden kann; nur so nimmt es der Rezipient wahr. Diese im Theater gewonnene Erkenntnis nutzt Krull, um sich im weiteren Verlauf des Romans ebenfalls in einem geeigneten Rahmen zu präsentieren; um aktiv die Eroberung anderer zu betreiben und letztlich selbst zum »Herzensdieb« zu werden. Auch Knills Theaterbesuch kann als Schlüsselerlebnis aufgefaßt werden. Dies legt nicht nur die Episode insgesamt nahe, dies betont er auch selbst; mehrere Male in seinem Bericht und zu Beginn des folgenden sechsten Kapitels: »Eine tiefe Ergriffenheit war stets die Frucht dieser inneren Forschungen [ . . . ] , so stark, daß noch heute, meiner großen Müdigkeit ungeachtet, die bloße Erinnerung daran den Schlag meines Herzens zu schnellerem Takte befeuert.« (295) Knills Theaterbesuch findet sich im ersten Buch des Romans. Dieser besteht, wie die Theaterepisode, aus drei Teilen. Im ersten Buch werden Kindheit und Jugend in Wiesbaden geschildert, im zweiten die Lehrjahre als Liftboy und Kellner in Paris. Im dritten Buch berichtet Krull von seinem Rollentausch mit dem Marquis de Venosta und seiner Reise nach Lissabon, die er unter dessen Namen unternimmt. Bemerkenswert sind die Parallelen in der Struktur von — freilich unvollendet gebliebenem — Roman und Operettenepisode. Auch die verschiedenen Teile des Gesamttextes können analog zum Theaterbesuch als rhetorisches Dreigespann verstanden werden. Im ersten Buch lernt Krull die Fassade des mondänen Lebens bei seiner Familie in Wiesbaden kennen. Im zweiten Teil muß er die Kehrseite dieses Lebens betrachten, gleichsam roh und ungeschminkt wie Müller-Rose in seiner Garderobe: Der Vater stirbt, die Firma macht Bankrott, Krull begibt sich nach Paris. Der dritte Teil des Romans erbringt schließlich die Synthese des Gesehenen und Erlebten. Krull wird zum Akteur. Er wendet das Gelernte und Reflektierte an und übt nun selbst die im Theater bewunderte Faszination auf seine Umwelt aus. In der Operettenepisode scheint demnach die Gesamtstruktur auch dieses Romans bereits mikroskopisch angelegt zu sein. Verstärkt wird dieser Eindruck dadurch, daß das Theater wie in Madame Bovary Teil einer Trias von Ereignissen mit spielhaftem Charakter ist. Bühne, Zirkus und Stierkampf bilden die drei zentralen Elemente eines den Gesamttext überspannenden Netzes von öffentlichen Vorführungen, bei denen im weitesten Sinn gespielt oder gemimt wird. Sie kennzeichnen die wichtigsten räumlichen Stationen in Knills Leben — Wiesbaden, Paris, Lissabon - und sind zugleich die wichtigsten Etappen auf seinem Weg zum hochstapelnden Komödianten. In allen drei Städten wohnt er der Aufführung eines jeweils anders gearteten Spiels bei. In der Abfolge dieser Veranstaltungen läßt sich eine Entwicklung ausmachen, die analog zu seinem persönlichem Werdegang verläuft. Bereits als Knabe ahmt Krull nach: etwa, unter dem Beifall der Menge, »das Gebaren des ersten Violinisten« (280) bei einem Kurkonzert. Er hegt eine
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4. Textanalysen
Vorliebe fur Verkleidungen, was ihm den Spitznamen »Kostümkopf« (284) einträgt und ist seit seiner frühen Kindheit an den Umgang mit Schauspielern gewöhnt, die bei seinem Vater verkehren; seine Schwester zieht es gar zur Bühne, wo sie als Operettenstar Karriere machen will. Im Theater selbst erhält der junge Krull für seine spätere Karriere als rollenspielender Hochstapler den entscheidenden Impuls. Die bis dahin instinktiv ausgeübte Lust an der Verwandlung wird, nachdem die Mechanismen der Illusionserzeugung erkannt sind, zweckgerichtet eingesetzt: um sich vor der Schule zu drücken, um dem Militärdienst zu entgehen und schließlich, um die Gäste des Pariser Hotels, in dem er als Angestellter arbeitet, für sich zu gewinnen. Krull schafft nun selbst Fiktionen, weil er ihre Wirkung und Funktionsweise durchschaut hat. 123 Vor seinem demiurgischen Meisterstück — der Annahme einer neuen Identität - erhält er noch einmal die Gelegenheit, das Wechselverhältnis von Artist und Publikum zu studieren: im Zirkus. Wie vom Theaterbesuch wird auch davon am Anfang eines Buches, des dritten, erzählt: Das berühmte Unternehmen hatte das weite Rund seines Zeltes nahe dem Theatre Sarah Bernhardt und der Seine, am Square St.Jaques aufgeschlagen. Welch ein Angriff auf die Sinne, die Nerven, die Wollust in der Tat, ein [...] Programm phantastischer, an die Grenze des Menschenmöglichen gehender, aber mit leichtem Lächeln und unter Kußhänden vollbrachter Leistungen, deren Grundmodell der Salto mortale ist; denn mit dem Tode, dem Genickbruch, spielen sie alle. (455)
Knills Zirkusbesuch wird analog zu seinem Theatererlebnis vermittelt. Bezeichnenderweise gastiert der »Cirkus Stoudebecker« neben einem Theater und wird wie das Bühnenspiel als sinnliches Erlebnis präsentiert. Sowohl auf der Bühne als auch in der Manege hat man es vor allem auf optische Reize abgesehen. Wie in der Operette werden auch im Zirkus körperliche Kraftakte scheinbar mühelos vorgenommen. Lächeln und Kußhände sind hier wie dort Wesensmerkmale der Darbietung. Die Vorstellung in und über der Manege unterscheidet sich jedoch in einem wesentlichen Punkt vom Spiel auf der Bühne. Im Zirkus wird keine auf Illusionierung abzielende Fiktion geboten. Hier werden die Grenzen des Spiels überschritten. Im Vordergrund steht die rein physische Leistung der Artisten, die, wenn sie versagen, mit körperlichen Schäden, schlimmstenfalls dem Tode rechnen müssen. Anders gesagt: die Konsequenzen ihres Tuns sind weiterreichend als im Theater. Daß es Krull um eben diese Differenz geht, erweist sich an seiner Begeisterung für jene Nummern, die tödlich enden können: Raubtierdressur und vor allem Hochseilartistik. 123
»Ich hatte die Natur verbessert, einen Traum verwirklicht — und wer je aus dem Nichts, aus der bloßen inneren Kenntnis und Anschauung der Dinge, kurz: aus der Phantasie [...] eine zwingende, wirksame Wirklichkeit zu erschaffen vermochte, der kennt die wundersame und träumerische Zufriedenheit, mit der ich damals von meiner Schöpfung ausruhte.« (302)
4·.5. Thomas Manns Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Knill (Fragm. 1922)
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Krull vermittelt seinen Zirkusbesuch als Entzauberung der ästhetischen, von ihm auch metaphysisch gedeuteten Anschauungsform des Theaters. Unter der Kuppel des Zeltes werden weder Handlung noch Musik 124 gebraucht, hier stellt man »Nacktheiten« (456) zur Schau. Das Verhältnis von Artist und Publikum ist ein anderes als im Theater: »Jeder Geschmack ist versorgt [...] durch wilden Menschenreiz, der sich der sehnenden Grausamkeit der Menge hinwirft.« (456) Im Zirkus, suggeriert Knills Bericht, entfällt die ästhetische Veredelung durch Musik und Fiktion, wie sie im Theater wirksam ist. Hier wird das Publikum nicht in Scheinwelten entfuhrt, hier werden seine animalischen Instinkte geweckt. Hier treten nicht »Ideale des Herzens« auf, hier werden Körper vorgeführt. Zwar geschieht dies auch im Theater; im Zirkus aber erblickt Krull die Präsentation der Leiber in ihrer reinsten Form. Wenn er auf die Ferngläser in der Menge hinweist und die Zuschauer mit denen »beim Rennen in Longchamp« (456) vergleicht, klingt an, wovon Zola in Nana erzählt. Auch bei Thomas Mann verliert das Bühnenspiel im Laufe des Romans an Bedeutung, weil sein Rahmen für die Inszenierung der Körper nicht mehr gebraucht wird. Hier dient den übrigen Romanfiguren allerdings nicht die Bühnenakteurin, sondern der Zuschauer als optischer Reizgegenstand. Daß Krull eher Akteur denn Zuschauer ist, erweist sich auch im Zirkus. Wie im Theater den Sänger bewundert er hier den »Stern des Cirkus«, die Hochseilartistin Andromache, und stellt Bezüge zu sich selbst her. Andromache ist ebenfalls von androgyner Schönheit, 125 ein Wesensmerkmal, das sie mit dem Operettensänger und Krull selbst verbindet. Zu Andromache müssen die Zuschauer genauso aufblicken wie zu Müller-Rose, allerdings nicht metaphorisch, zu einem »Ideal des Herzens« wie im Theater, sondern realiter: das Geschehen spielt sich unter der Zirkuskuppel ab. Die Analogien, die Krull in seinen Bekenntnissen fortwährend konstruiert, zielen auch in dieser Episode auf eine Demontage des Theaters ab. Von Andromache heißt es: »Sie [...] trug einen [...] Silberpanzer, dem an den Schultern, zur Bestätigung ihres Titels als >Tochter der Lüfte< ein paar kleine Flügel aus weißem Gefieder angesetzt waren. Als ob ihr die beim Fliegen hätten helfen können!« (458) Andromaches Kostümierung ist nur noch Makulatur, ein formales Überbleibsel, das an die Bühne erinnert. Es wird bei der Vorführung der Körper nicht mehr gebraucht. Knills Bewunderung gilt nun denen, die den Bereich des Spiels transzendieren, so wie 124
125
Musik dient hier lediglich der Spannungserzeugung. Die Artisten agieren unter dem »[...] Geschmetter einer Musik, deren Ordinärheit zwar mit dem rein körperlichen Charakter dieser Vorführungen, aber nicht mit ihrer Hochgetriebenheit übereinstimmt.« (455) »Ihre Brust war geringfügig, ihr Becken schmal, die Muskulatur ihrer Arme, wie sich versteht, stärker ausgebildet als sonst bei Frauen, und ihre greifenden Hände zwar nicht von männlicher Größe, aber doch auch nicht klein genug, um die Frage ganz auszuschalten ob sie, in Gottes Namen, denn vielleicht heimlich ein Jüngling sei.« (459)
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4. Textanalysen
er selbst kurz davor ist, diesen zu verlassen und als Betrüger, allein mit der Macht seines Körpers, in die Realität einzugreifen. Das Treiben der Artisten entspricht Knills persönlicher Lage, die sich seit seinem Theaterbesuch entscheidend verändert hat. Im Zirkus ist Krull zunächst wie die übrigen Zuschauer von der Vorstellung eingenommen und teilt deren Bewunderung für die Hochseilartistin. Dieses Urteil ändert sich jedoch am Ende der Aufführung, wenn er abermals, wie schon im Theater, über das Verhältnis von Künstler und Publikum sinniert: Die Menge rings um mich her gor in Lust und Belustigung - ich aber, gewissermaßen, Schloß mich aus von ihrem Gären und Gieren, kühl, wie einer, der sich vom >Bauder Glückliches kontrastiert phonetisch mit dem dunklen, gutturale Laute kombinierenden Familiennamen. Auch in diesem Roman wird, ebenso wie in Dorian Gray, das romantische Motiv des Doppelgängers im Zeichen des Theaters neu aktualisiert. So wie sich Wildes Figuren aufspalten: Dorian Gray in Mensch und Bildnis, Sibyl Vane in eine Interpretin Shakespearscher Dramen und ein Mädchen aus einfachen Verhältnissen, ist Thomas Manns Hauptfigur Künstler und Hochstapler. Felix Krull betätigt sich als charmanter Erzähler und unterläuft eben diese Tätigkeit. Er stellt nicht nur die »Ideale des Herzens« auf der Bühne in Frage, wenn er von deren Kehrseite in der Garderobe berichtet, sondern auch das Erzählen selbst. Wenn Krull als Epiker den Bühnenakteur imitiert, verweist er auf den Kunst-Charakter des Romans, auf das inhärent Artifizielle seiner Prosa, und gibt den Lesern so zu verstehen, daß auch eine epische Garderobe existiert, wo geschminkt und aufgeputzt wird; wo aber auch am Ende der Vorstellung ein erschöpfter und schwitzender Akteur verharrt.
4.6. Marcel Prousts A la recherche du temps perdu ( 1 9 1 8 / 2 0 ) Wie bei Felix Knills Bekenntnissen handelt es sich auch bei Prousts Romanzyklus 1 3 8 um das literarische Projekt eines Ich-Erzählers, der auf Kindheit, Jugend und weiteren Lebensweg zurückblickt. Allerdings haben es die Leser hier mit einem monumentalen Vorhaben zu tun, dessen einzelne Teile sich puzzleartig zu einem Gesamtbild fügen. Vom ersten Theaterbesuch 139 des Erzählers wird zu Beginn des zweiten Bandes, in A I'ombre des jeunes filles en fleur, berichtet: 138
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Marcel Proust: A la recherche du temps perdu, Bibliotheque de la Pleiade, Paris 1954. Die Angabe der Jahreszahlen bezieht sich auf die Romane, in denen die untersuchten Theaterepisoden erzählt werden: 1918 auf die erste Publikation von Α l'ombre des jeunes filles en fleur in der Reihe Editions de la Nouvelle Revue fran(aise, 1920 auf die Publikation des ersten Teils von Le cote de Guermantes (1920/21) in derselben Reihe. Der Titel des Gesamtwerkes wird im folgenden mit Recherche abgekürzt, die in Klammern angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf oben genannte Ausgabe. Neben zahlreichen Passagen, in denen von Bühnenkunst nur mittelbar — nämlich metaphorisch — die Rede ist, wird innerhalb der Recherche von zwei eigentlichen Theaterbesuchen erzählt. Ihnen gilt zunächst das Hauptaugenmerk der Analyse: Theater als erzählter Gegenstand. In einem zweiten Schritt wird dann die Relation von unmittelbar und mittelbar erzähltem Theater näher untersucht: dahingehend, daß Rückkopplungen auf ihre Funktion für den Erzählprozeß innerhalb des Gesamtwerks überprüft werden. Ich setze also ganz andere Akzente als John G. Linn in seiner Studie: The Theater in the Fiction of Marcel Proust, Ohio State University Press 1966. Linn untersucht alle Spielarten des Theaters im Roman - Vergleiche, Metaphern, zitierte Dramentexte und Theater als erzählter Gegenstand, aber auch außerliterarische Phänomene wie Prousts Verhältnis zur Bühne —, ohne diese exakt zu scheiden bzw. ihre unterschiedlichen Funktionen — einzeln und im Zusammenspiel — präzise herauszuarbeiten.
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4- Textanalysm
Le premier diner que M. de Norpois fit ä la maison, une annee oü je jouais encore aux Champs-Elysees, est reste dans ma memoire, parce que l'apres-midi de ce meme jour fut celui oü j'allai enfin entendre la Berma, en »matinee«, dans Phedre [...]. (438)
Mit diesen einleitenden Bemerkungen spielt Proust auf die Vorgeschichte des Theaterbesuchs an. Bereits im ersten Band des Zyklus, Du cote de chez Swann (1913), wird von dem Wunsch des Jungen erzählt, einmal ins Theater zu gehen: »Toutes mes conversations avec mes camarades portaient sur ces acteurs dont l'art, bien qu'il me fut encore inconnu, etait la premiere forme, entre toutes Celles qu'il revet, sous laquelle se laissait pressentir par moi, l'Art.« (74) Die Kunstform Theater nimmt eine zentrale Position in den Gesprächen der Jugendlichen ein. Für Prousts Hauptfigur hat sie gar paradigmatische Funktion: »l'art« als pars-pro-toto für »l'Art«. Im Mittelpunkt des Interesses stehen die exponierten Vertreter dieser Kunstform, die Schauspieler und namentlich »la Berma«. Zu ihr und ihrer Kunst hat der Junge nur mittelbar Zugang. Die Qualitäten der Bühnenakteurin werden ihm über mehrere Bezugspersonen vermittelt, von denen er im Laufe des Romanzyklus immer wieder Impulse fur seine künstlerische Ausbildung erhält. Da ist zum einen der ehemalige Nachbar aus Combray, Swann, dessen Bewunderung für die Berma in der Theaterepisode aufgerufen wird. Zum anderen der Schriftsteller Bergotte, Verfasser einer im Roman immer wieder erwähnten Abhandlung über Phedre. Aus diesen Quellen speist sich die Vorstellungskraft des Jungen. Sie lassen den Wunsch entstehen, die Berma einmal leibhaftig im Theater zu sehen. Nun, zu Beginn des zweiten Bandes, wird von der Realisierung dieses Wunsches berichtet. Prousts Erzähler geht mit hohen Erwartungen ins Theater, »dans l'espoir d'une decouverte precieuse« (440). Er interessiert sich allerdings ausschließlich für die Hauptdarstellerin. Das aufgeführte Stück, Phedre von Jean Racine, 140 hat nur den Stellenwert einer Zusatzinformation. Im weiteren Verlauf des Berichts präzisieren sich die Erwartungen an das Spiel der Berma: La Berma dans Andromaque, dans les Caprices de Marianne, dans Phedre, c'etait de ces choses fameuses que mon imagination avait tant desirees. J'aurais le meme ravissement que le jour oü une gondole m'emmenerait au pied du Titien des Frari ou des Carpaccio de San Giorgio dei Schiavoni, si jamais j'entendais reciter par la Berma les vers: On dit qu'un prompt depart vom eloigne de nous, Seigneur,etc. Je les connaissais par la simple reproduction en noir et blanc qu'en donnent les editions imprimees; mais mon coeur battait quand je pensais, comme ä la realisation d'un voyage, que je les verrais enfin baigner effectivement dans l'atmosphere et dans l'ensoleillement de la voix doree. (440/41)
140
Erzählt wird vom zweiten Akt, Szene 5, aus dem auch die zitierten Verse stammen. Vgl. hierzu die Hinweise in Marcel Proust: A L'ombre des jeunes filles en fleur, hg. von Jean Milly, Garnier-Flammarion, Paris 1987, S. 340.
4.6. Marcel Promts A la recherche du temps perdu
(1918/20)
143
Ausdrücklich wird der Theaterbesuch in die Nähe anderer, ebenfalls seit langem ersehnter Kunsterlebnisse gerückt. Prousts Erzähler ist also, verglichen mit den bisher vorgestellten Romanfiguren, ein Theaterbesucher ganz besonderer Art. Er erwartet vom Bühnenspiel Antworten auf kunsttheoretische Fragen. Aus diesem Grund ist er bestens auf die bevorstehende Auffuhrung vorbereitet 1 4 1 und versucht, kraft seines Einbildungsvermögens die Wirkung des Bühnenspiels zu antizipieren. Er hat genaue Vorstellungen davon, wie das Spiel der Berma zu verstehen ist, »juger de son art, de sa diction« (441), nur deswegen wählt er ein bekanntes Stück aus dem Kanon der französischen Klassik aus. Denn als solches, als Schau-Spiel, wird das Theater begriffen. Prousts Erzähler ist sich des Fiktionscharakters von Racines Stück durchaus bewußt und gedenkt es auch so, nämlich ästhetisch, zu rezipieren. Zwar wird auch in diesem Roman die Hauptdarstellerin wie eine Heilige verehrt: aus der Perspektive des jugendlichen Theaterbesuchers nimmt sich die illuminierte Bühne wie ein Altar aus; 1 4 2 allerdings steht im Zentrum der Überlegungen Ästhetisches, nämlich eine dramaturgische Frage, die jeder Theaterauffiihrung zugrunde liegt: Wie wird der Text, die schriftlich fixierte Form des Dramas, auf der Bühne in lebendiges szenisches Spiel umgeformt? Als provisorische Antwort wird zunächst das Talent der Berma genannt. Prousts Erzähler vergleicht ihre Stimme mit Sonnenstrahlen, welche die Verse Racines illuminieren. Auf diese Weise werden erstmals Bühnenakteurin und Theaterbeleuchtung verknüpft. So wie die Schauspielerin von den Scheinwerfern angestrahlt wird, verleiht sie selbst gleichsam magischen Glanz: dem leblosen Dramentext. Diese theaterspezifischen Fragen werden durch den Vergleich mit der ebenfalls erhofften Reise nach Venedig in einen größeren Kontext eingebettet. Das Verhältnis von gelesenem Dramentext und Inszenierung auf der Bühne steht beispielhaft für ein ästhetisches Problem allgemeiner Art, das den Rahmen des Theaters transzendiert: das Verhältnis von »imagination« und »realisation«. Ihr problematisches Widerspiel wird an der Rezeption zweier unterschiedlicher Medien demonstriert: Buch und Bühne. Erzählt wird der für den Jungen zunächst enttäuschende Weg vom Leser zum Zuschauer. Den Dramentext kennt er auswendig, eine Inszenierung hat er noch nie gesehen. Zwischen der »imagination« und der »realisation« befindet sich allerdings eine Vielzahl an Zwischenstufen. Daher wird vom lange ersehnten Auftritt der Schauspielerin nicht
141
» [ . . . ] les oeuvres anciennes que je savais par coeur, m'apparaissaient comme de vastes espaces reserves et tout prets oü je pourrais apprecier en pleine liberte les inventions dont la Berma les couvrirait, comme ä fresque, des perpetuelles trouvailles de son inspiration.« (441)
142
* [ · · ·] l a divine Beaute que devait me reveler le jeu de la Berma, nuit et jour, sur un autel perpetuellement allume, tronait au fond de mon esprit [ . . . ] . « (443)
144
4.
Textanalysen
sofort berichtet. Zunächst breitet Prousts Erzähler auf mehreren Seiten die Vorgeschichte seines Bühnenerlebnisses aus, das zwar seit langem versprochen und somit imaginiert ist, dessen Verwirklichung aber immer wieder in Frage gestellt wird: » [ . . . ] je luttais du matin au soir contre les obstacles que ma famille m'opposait.« (443) 1 4 3 Die Entscheidung, trotz elterlicher und ärztlicher Bedenken ins Theater zu gehen, wird schließlich durch ein Ereignis hervorgerufen, welches das eigentliche Bühnenspiel vorwegnimmt: » [ . . . ] j'avais vu, tout humide encore, l'affiche detaillee de Phedre [ . . . ] eile donnait ä l'un des buts entre lesquels oscillait mon indecision une forme plus concrete [ . . . ] presque imminente, dejä en voie de realisation.« (444) Was von der Vorstellung insgesamt erwartet wird, ereignet sich — stellvertretend - bereits zuvor. Das Bühnenspiel nimmt erstmals eine faßbare Gestalt an, wenn auch nur als Programmhinweis. Die Angaben von Datum und Uhrzeit werden zu einer ersten physischen Ausformung des Imaginierten. 1 4 4 Die Schnittstelle zwischen »imagination« und »realisation« ist also passiert, der Weg zum erhofften Kunstgenuß frei. Das Resume des Theaterbesuchs lautet allerdings: »Helas! cette premiere matinee fut une grande deception.« (445) Dieses vorweggenommene Urteil wird im folgenden zweiten Teil der Episode erläutert. Dem Bericht von der »imagination« folgt nun die Schilderung der »realisation«. Die Bewußtseinszustände vom Morgen der Aufführung retrospektiv zergliedernd, analysiert Prousts Erzähler Schritt für Schritt seine Eindrücke und Empfindungen. Der Auftritt der Berma ist enttäuschend, seine Wirkung auf den jugendlichen Zuschauer eine andere als der erwartete Kunstgenuß. Zunächst vermag der Junge nicht zu erkennen, welche der auftretenden Schauspielerinnen die Berma ist. Der vor allem in griechischen Dramen immer wieder angewandte Kunstgriff der Anagnorisis 145 wird hier auf das Verhältnis von Publikum und BühnenDem erhofften Theaterbesuch werden Bedenken gegenübergestellt: seitens des Vaters, der von der dramatischen Kunst nicht allzuviel hält, seitens des Arztes, der sich genauso wie die Mutter um die zerbrechliche Konstitution des Jungen besorgt zeigt: »[.. J mon pere, jusque-lä si hostile ä ce que j'allasse perdre mon temps et risquer prendre du mal pour ce qu'il appelait, au grand scandale de ma grand'mere, des inutilites [...].« (439) Immer wieder wird im Lauf der Passage das erhoffte intellektuelle Fest — das Spiel der Berma —, durch physische Einflüsse bedroht. Im Theater selbst stellen die lärmenden Zuschauer eine Gefahr dar: »Et je regardais d'un air suppliant ces brutes trepignantes qui allaient briser dans leur fureur l'impression fragile et precieuse que j etais venu chercher.« (448) 144 ]sj ana w ird also auch die Berma bereits vor ihrem Auftritt als imaginäre Gestalt rezipiert. Den Gerüchten über Nanas Erscheinung und Herkunft entspricht das Bild, das sich Prousts Erzähler von der Darstellerin der Phädra macht. Er kennt ihr Spiel nur vom Hörensagen, aus Berichten Swanns oder Bergottes, die - wie Bordenave die körperlichen Vorzüge Nanas - die schauspielerischen Qualitäten der Berma hervorheben. Was sich Prousts Erzähler erhofft, »[...] la Deesse devoilee ä cette meme place oü se dressait sa forme invisible« (443), und was bei Zola tatsächlich geschieht, nimmt in Α l'ombre des jeunes ftlles hingegen einen anderen Verlauf. 1 4 5 »J'avais dü me tromper en prenant celle-Iä pour la Berma, car la seconde lui ressemblait davantage encore [. · ].« (448) In Rhoda Fleming (1912) von George Meredith wird im zwölften Kapitel des Romans, At the theatre, Ähnliches praktiziert. Die dra143
4.6. Marcel Prousts A la recherche du temps perdu
(1918/20)
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akteurin übertragen, wird also fur den Roman fruchtbar gemacht und dabei parodistisch überzeichnet: Der Zuschauer hat zunächst Mühe, die imaginierte Berma auf der realen Bühne wiederzuerkennen. Schließlich erscheint sein Idol: »Mais tout d'un coup, dans l'ecartement du rideau rouge du sanctuaire, comme dans un cadre, une femme parut [...]« (448). Prousts Erzähler bedient sich hier eines Verfahrens, das er immer wieder aufgreift. Er entzaubert durch metaphorische Transformationen jene idealisierten Vorstellungen, die er selbst aufgebaut hat. Zunächst vergleicht er den Heiligenschrein der Bühne mit einem Gemälde, profanisiert also sein ursprüngliches Bild; dann spricht er vom Auftritt einer Frau, und nicht mehr von dem einer Göttin. Die Folgen dieser doppelten Entzauberung manifestieren sich sogleich: »Mais en meme temps tout mon plaisir avait cesse.« (449) »La realisation« zerstört das Bilderarsenal der »imagination«. Rückblickend wird versucht, dieses Phänomen zu erklären. Ein erster Ansatz lautet: Das vermeintlich göttliche Genie der Berma ist nicht zu erkennen, weil die Zeit für eine intensive Studie angesichts der Bewegungen auf der Bühne fehlt: Dans une scene oü la Berma reste immobile un instant, le bras leve ä la hauteur du visage, baignee grace ä un artifice declairage dans une lumiere verdätre, devant le decor qui represente la mer, la salle eclata en applaudissements mais dejä l'actrice avait change de place et le tableau que j'aurais voulu etudier n'existait plus. (449)
Diese Szene des Stücks nimmt eine Schlüsselposition im Roman ein. Hier werden die zentralen Elemente ästhetischer Erfahrung — Küstenlandschaft, Bildende Kunst und Theater — in Bezug zueinander gesetzt. Ihr gemeinsamer Fluchtpunkt ist die Bewegung der in grünes Licht getauchten Schauspielerin. Die Pose der Berma antizipiert jene beiden Elemente ästhetischer Erfahrung, die im zweiten Teil des Bandes eine zentrale Rolle spielen und deren Rezeption ebenfalls maßgeblich von den Lichtverhältnissen beeinflußt wird. Der Vergleich der Bühne mit einem Gemälde nimmt die Begegnung mit Elstir, dem Maler, vorweg, die maritimen Bühnenkulissen die Kontemplation von Küstenlandschaft und offenem Meer. Im Seebad Balbec wird Natur als Schauspiel erlebt: realiter und als Motiv der Gemälde Elstirs. Mit dem Auftritt der Berma klingen diese ästhetischen Erfahrungen, von denen im weiteren Verlauf des Romans berichtet wird, erstmals an. Der Theaterbesuch funktioniert offenbar als paradigmatisches Erlebnis künstlerischer Aneignung der Umwelt, die mit einer Enttäuschung beginnt. Wenn im Theater vergeblich versucht wird, einen dyna-
meneigene Anagnorisis wird hier ebenfalls auf den Roman übertragen. Im Publikum treffen sich - zufällig - die beiden lange getrennten Schwestern Dahlia und Rhoda wieder. Diese Begegnung wird wie eine Theaterszene gestaltet. Den Namen ihrer Schwester in einem Moment der Überraschung laut ausrufend vermeint Rhoda Dahlia wiederzuerkennen.
146
4.
Textanalysen
mischen Vorgang statisch zu erfassen, erweist sich die Rezeption von Phedre als Ausgangspunkt einer veritablen Suche nach der verlorenen Zeit. 146 Noch vermag der Junge Bewegung und wechselnde Beleuchtung als szenische Gestaltungsmittel nicht adäquat zu erfassen.147 Ästhetische Erfahrung und ästhetische Produktion entsprechen sich: Die ersten schriftstellerischen Versuche des Jungen, von denen im Anschluß an den Theaterbesuch erzählt wird, mißlingen genauso wie die Rezeption des Bühnenspiels, weil ihm die nötige Souverainität im Umgang mit ästhetischer Wahrnehmung (noch) fehlt. Mit dieser Enttäuschung gibt sich Prousts Erzähler allerdings nicht zufrieden, er möchte ihre Ursachen herausfinden. Der Theaterbesuch hat künstlerischen Wissensdurst ausgelöst. Die Differenz von »imagination« und »realisation« wirkt als Stimulus auf den Jungen. Im weiteren Verlauf des Romangeschehens versucht er in Gesprächen zu ergründen, welche Qualitäten der Berma ihm womöglich entgangen sind. Er eignet sich die Argumente anderer an, um so die Differenz von Vorgestelltem und Gesehenem durch Erklärungsmodelle von außen zu überbrücken: durch die Ausführungen Norpois, durch die Erläuterungen in einem Zeitungsartikel, durch den Kauf eines Fotos der Berma, das ihm das Geheimnis ihrer Aura offenbaren soll. Im Laufe des ersten Romanteils, in Paris spielend, wird allerdings deutlich, daß die Interpretationen anderer nicht wirklich genügen. Wie Felix Krull ist Prousts Erzähler ein Zweifler, ein Skeptiker. Er traut den oberflächlichen, allzu einfachen Erklärungen nicht, ohne sie überprüft zu haben. Er sucht nach einem eigenen Verständnis von Kunst, und ist, auch was sein Theatererlebnis betrifft, »a la recherche«. Bis zum Ende des ersten Teils von A I'ombre des jeunes filles en fleur findet sich jedoch keine befriedigende Interpretation des Theaterbesuchs. Die Matinee wird zudem von anderen Erlebnissen überlagert: vor allem von der Reise ins Seebad Balbec, einem weiteren wichtigen, lange herbeigesehnten Ereignis, von
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Erst als das übrige Publikum frenetischen Beifall spendet, gelingt es Prousts Erzähler, dem Bühnenspiel etwas abzugewinnen. Daß dieser Beifall einer anderen Motivation als seiner entspringt, wird rasch deutlich: »Au moins, disait ä cöte de moi une femme assez commune, eile se depense celle-lä, eile se frappe ä se faire mal, eile court, parlezmoi de £a, c'est jouer.« (451) Wenn an anderer Stelle ein Bauer ausruft »C'est bien fait tout de meme! c'est tout en or, et du beau! quel travail!« (451), klingt auch hier an, was in vielen anderen Romanen über das Medium des Theaters kritisch gezeigt wird: die auf Ausstattung und üppiges Dekor bedachten Inszenierungen der Stücke, aber auch die Haltung der Zuschauer, gerade deswegen der Aufführung beizuwohnen. Prousts Erzähler reicht dies freilich nicht aus, die Bilanz des Theaterbesuches lautet daher: »[.. .] je partageai avec ivresse le vin grossier de cet enthousiasme populaire. Je n'en sentis pas moins, le rideau tombe, un desappointement que ce plaisir que j'avais tant desire n'eut pas ete plus grand [ . . . ] . « (451)
147
Noch deutlicher wird dies an folgender Stelle ausgesprochen: »J'aurais voulu - pour pouvoir l'approfondir, pour tächer d'y decouvrir ce q u e l l e avait de beau — arreter, immobiliser longtemps devant moi chaque intonation de l'artiste [ . . . ] Mais que cette duree etait breve! [ . . . ] le tableau que j'aurais voulu etudier n'existait plus.« (449)
4.6. Marcel Promts
A la recherche du temps perdu
(1918/20)
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dem im zweiten Teil des Romans, noms de pays: le pays, erzählt wird. Allerdings bleibt der Theaterbesuch unvermindert präsent. Er nimmt offenbar die Funktion eines ästhetischen Schlüsselereignisses ein, das als Referenz fiir alle weiteren Erfahrungen dient. Die auf der Reise gesammelten Eindrücke werden stets in Bezug zur Bühne gesetzt: Vor dem Aufenthalt am Meer müssen wie vor dem Theaterbesuch die Bedenken des Arztes ausgeräumt werden. 148 Während der Fahrt erscheint das Fenster des Eisenbahnwaggons wie eine Bühne, auf der verschiedene Landschaften, Theaterkulissen gleich, sichtbar werden: »Le train tourna, la scene matinale fut remplacee dans le cadre de la fenetre par un village nocturne aux toits bleus de clair de lune [...].« (212) Das gemeinsam mit der Großmutter im Hotel eingenommene Frühstück steht ebenfalls im Zeichen des Theaters. Zur Kommunikation zwischen den Zimmern bedient man sich verschiedener Klopfzeichen, »trois petits coups« läuten wie im Theater eine Vorstellung ein: »Elle entrouvrait les persiennes; [ . . . ] tout cet insignifiant lever de rideau, ce negligeable intro'it du jour auquel personne n'assiste, petit morceau de vie qui n'etait qu'ä nous deux; [ . . . ] « (226/227) 149 Der Blick durchs Fenster auf die Küstenlandschaft im Kreislauf der Tageszeiten wird zu einer Hauptbeschäftigung des Jungen. Wie im Theater ist er auch im Hotel Zuschauer. Er sieht nun in natura, was er auf der Bühne als Requisit oder technisches Beiwerk erblickt. Den maritimen Theaterkulissen entspricht die See, den Bühnenscheinwerfern das Licht der Sonne. Hier wie dort verändert die Beleuchtung, »la diversite de l'eclairage« (347), das jeweilige Erscheinungsbild. Dieser Eindruck - das Meer als Schauspiel — wird verstärkt, wenn Prousts Erzähler immer wieder berichtet, daß er die Landschaft durch ein von Vorhängen eingerahmtes Fenster beobachtet, die er nach vollzogener Kontemplation wieder schließt, daß er seine private Bühne also gleichsam wieder verdunkelt. Vor dem Hintergrund der Küstenlandschaft, die wie eine riesige, von der Sonne beleuchtete Bühne daherkommt, treten auch Akteure auf: die Feriengäste, denen der Junge im Seebad begegnet. Robert de Saint-Loup, von dem er bereits gehört und sich - wie im Falle der Berma — ein Bild geformt hat, erblickt er zum ersten Mal durch die Scheiben der Hotelfenster, nachdem man die Vorhänge zurückgezogen hat: [...] dans la travee centrale qui allait de la plage ä la route, je vis, grand, mince, le cou degage [...] passer un jeune homme aux yeux penetrants et dont la peau etait
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»Pour moi j'avais dejä appris et meme bien avant d'aller entendre la Berma, que quelle que fut la chose que j'aimerais, eile ne serait jamais placee qu'au terme d'une poursuite douloureuse [...]•« (204) Metaphorisch steigert sich dieses Ritual zu einer Symphonie: »[...] doux instant matinal qui s'ouvrait comme une Symphonie par le dialogue rythme de mes trois coups auquel la cloison penetree de tendresse et de joie, devenue harmonieuese, immaterielle, chantant comme les anges [...].« (226/227)
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4. Textanalysen
aussi blonde et les cheveux aussi dores que s'ils avaient absorbes tous les rayons du soleil. [...] II semblait que la qualite si particuliere de ses cheveux, des ses yeux, de sa peau, de sa tournure, qui l'eussent distingue au milieu d'une foule comme un filon precieux d'opale azuree et lumineuse, engaine dans une matiere grossiere, devait correspondre ä une vie differente de celle des autres hommes. (279)
Von Saint-Loups Ankunft wird analog zum Auftritt der Berma erzählt. Beide Male spielen Lichteffekte, die mit den illuminierten Personen symbiotische Verbindungen eingehen, eine zentrale Rolle. Saint-Loup zieht die Sonnenstrahlen auf sich wie die Schauspielerin die Lichtkegel der Bühnenbeleuchtung. Beide werden als ästhetisches Ereignis 150 und übermenschliche Erscheinung rezipiert. Der Enttäuschung im Theater entspricht die Ernüchterung im Hotel. Saint-Loup, der bereits imaginär als vertrauter Freund existiert hat, würdigt den Jungen zunächst keines Blickes. Das Problem der Differenz, der Enttäuschungen hervorrufenden Kluft zwischen »imagination« und »realisation«, das im Theater seinen ersten großen Ausdruck findet, stellt sich hier - abgewandelt - abermals. 151 Exemplarisch für die beständige Wiederkehr von bühnenähnlichen Lichtverhältnissen in Außen- und Innenräumen sei eine zweite Passage herausgegriffen, die von einem Restaurantbesuch mit Saint-Loup — inzwischen tatsächlich ein Freund — handelt. Der gemeinsame Abend im Restaurant »Rivebelle« wird ebenso zu einem auf Lichteffekten gründenden Schauspiel (»un eclairage eblouissant«) stilisiert wie die Küstenlandschaften oder das Hotel in Balbec. In der Restaurant-Episode wird die grüne Beleuchtung aus Phedre wieder heraufbeschworen. Die Pflanzen im Garten des Lokals, welche der Junge durch die Glasfront des Gebäudes beobachtet, erscheinen ihm »comme les vegetations d'un pale et vert aquarium geant ä la lumiere surnaturelle.« (354) Auch in diesem Roman werden die Vorgänge von der Bühne schrittweise auf das Geschehen außerhalb des Theaters übertragen. Nachdem Bergotte, in einem Gespräch mit dem Jungen, die Inszenierung von Phedre als »les amours des oursins« in einem riesigen Aquarium 152 bezeichnet hat, werden diese Effekte der Bühnenbeleuchtung nun mit den Lichtverhältnissen im Restaurant verknüpft. Zugleich antizipiert der Erzähler den zweiten, in Le cote de Guermantes erzählten Theaterbesuch. In dieser Episode erscheint der gesamte Zuschauerraum als rie-
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»[. . .] prendre ainsi plaisir ä considerer mon ami comme une oeuvre d'art.« (287) Diese Variationen finden sich allenthalben; so beginnt der Aufenthalt im Seebad bereits mit einer Enttäuschung: Die Kirche von Balbec entspricht genausowenig den Vorstellungen des Jungen wie die Berma, wie Saint-Loup und wie später die »jeunes filles«. Bergotte, mit dem der Junge über die grüne Beleuchtung und über die Akzentuierung des maritimen Charakters in der Inszenierung von Phedre spricht, äußert sich kritisch: »[.. .] la petite Phedre lä-dedans fait trop branche de corail au fond d'un aquarium.« (561)
4.6. Marcel Promts A la recherche du temps perdu (1918/20)
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siges Aquarium, wo das Publikum zum Hauptakteur eines episch ausgebreiteten Gesellschaftsspektakels wird. Neben der Begegnung mit Saint-Loup wird in Α I'ombre des jeunes filles en fleur von zwei weiteren folgenschweren Bekanntschaften erzählt. Zunächst von einer Einladung ins Atelier des Malers Elstir: »Les stores etaient clos de presque tous les cotes, l'atelier etait assez frais et, sauf ä un endroit oü le grand jour apposait au mur sa decoration eclatante et passagere, obscur« (372). Elstirs Atelier wirkt wie eine abgedunkelte Bühne, auf die ein starker, aber nur punktuell illuminierender Scheinwerfer gerichtet ist, wie ein »spectacle total de la realite« (372). In diesem Raum tritt ein Mann auf, der sich Lichteffekte zum wichtigsten Prinzip seines künstlerischen Schaffens macht. Der Maler bannt all das auf Leinwand, was in Balbec wie im Theater immer nur flüchtig und in schneller Abfolge zu sehen ist. Von Elstir lernt der Junge, welch zentrale Rolle das Licht für die künstlerische Kreativität spielt: »Et l'atelier d'Elstir m'apparut comme le laboratoire d'une sorte de nouvelle creation du monde [ . . . ] . « (372) Das Atelier eines impressionistischen Malers - ein Labor der Beleuchtung - wird Prousts Figur zu einer wichtigen Erfahrung auf dem eigenen Weg zum (epischen) Beleuchter, zum Erzähler und Romancier. Elstir wirkt mit seinen Gemälden auf den Betrachter wie ein Theaterregisseur mit seiner Inszenierung auf das Publikum ein. Ausdrücklich bewundert der J u n g e an Elstirs Gemälden eben jene ästhetischen Verfahren, die auch im Theater wirksam sind: die Lichtführung und die Mittel der »illusions optiques« (376). Die Analogien zur Bühne beschränken sich allerdings nicht auf deren Darstellungsmittel. Bevorzugtes Thema des Malers sind Meeres- und Küstenlandschaften, »oü la terre est dejä marine et la population amphibie« (375). Elstir setzt bei seiner Arbeit ähnliche Akzente wie der Regisseur der Phedre-lmztmttung. Im Theater werden, wie gesagt, jene Aspekte des Stücks hervorgehoben, die mit dem Meer und dem Meeresgott Poseidon verbunden sind. Durch Elstirs Vermittlung lernt der J u n g e zudem die im Romantitel genannte Gruppe junger Mädchen kennen. Erscheint der Maler vordergründig als gestaltendes Subjekt, das mit Lichteffekten operiert, nehmen die Mädchen tendenziell die Position des beleuchteten Objekts ein. Auch diese Figurenkonstellation funktioniert analog zum Theater: Elstir beleuchtet und inszeniert als Maler wie der Regisseur von Phedre, die Mädchen bewegen sich im Licht wie die Berma. Zunächst zeigen sie sich am Strand, »comme des statues exposees au soleil sur un rivage de la Grece« (334). Die Gruppe tritt stets unter wechselnder Beleuchtung auf und wird, wie Saint-Loup im Hotel, als ästhetisches Phänomen wahrgenommen. Die Mädchen erscheinen wie ein »lumineuse comete« auf der Mole, ein Ort, der durch seine erhöhte, exponierte Lage einer Theaterbühne gleicht. Ihre Akteure, von der Sonne angestrahlt, ziehen die Blicke der Strandbesucher an. Auch der J u n g e beobachtet die Mädchen auf diese Weise, bevor er sie persönlich kennenlernt.
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4- Textanalysen
Aus der Gruppe der »jeunes filles« rückt - wie die Berma aus der Gruppe der illustren Schauspieler und Saint-Loup aus der Menge der Hotelgäste — Albertine in den Mittelpunkt der Betrachtung. Hier wie dort werden Einzelwesen abgesondert, an denen bestimmte ästhetische und im Falle Albertines auch soziale beziehungsweise emotionale Bezüge des Erzählers zu seiner Umwelt exemplarisch durchgespielt werden. Albertine erblickt der Junge erstmals durch ein Fenster im Atelier des Malers. Nach ihrer — bloß visuellen — Begegnung sinnt er über den Eindruck nach, den das Mädchen bei ihm hinterlassen hat: »tout un entretien Interieur oü je la faisais questionner, repondre, penser, agir [...].« (393) Auch Albertine existiert zunächst als imaginierte Person, die sich im Bewußtsein des Erzählers wie auf einer inneren Bühne bewegt und dort puppengleich animiert wird, oder - um den Vergleich mit der Berma wiederaufzunehmen - wie eine Schauspielerin, welche die Vorgaben des Regisseurs umsetzt. Eine erste Zwischenbilanz im Hinblick auf den gesamten Romanzyklus lautet also: In Α l'ombre des jeunes filles en fleur wird von einem Theaterbesuch erzählt, der als paradigmatischer Fall ästhetischer Wahrnehmung aufzufassen ist. Was im Theater als Kunstwerk rezipiert wird, taucht hernach realiter wieder auf: die maritimen Kulissen als Ferienort am Meer, die Bühnenakteure als Badegäste. Prousts Erzähler verknüpft diese eigentlich disparaten Ereignisse über ein Verfahren, das er im Theater beobachten konnte: das Spiel der Beleuchtung. Er überträgt die ästhetisch codierte Prozedur eines Innenraums auf andere Innenräume - etwa Restaurant oder Hotel — und dann auf Außenräume. Er ästhetisiert und poetisiert auf diese Weise die Welt, die er vermittelt und erzählt zugleich, wie es dazu kommt: infolge eines Theaterbesuchs, der seine Wahrnehmung als Bericht erstattender Zuschauer zunächst irritiert und somit sensibilisiert. Von den Folgen dieser Konfrontation ist im weiteren Verlauf des Romans die Rede. Alle Ereignisse in Balbec werden als ästhetische Phänomene theatralischer Prägung 153 vergegenwärtigt, die im Zeichen des Lichts stehen. Aus dieser Perspektive kann auch der Titel des Romans verstanden werden. So wie im Text das Theatererlebnis mit den Ereignissen in Balbec verknüpft wird, setzt der Titel die beiden Teile des Romans in Bezug zueinander. Der Erzähler ist beständig im Schatten, das heißt im Dunkeln: zunächst im Theater, dann im Zug, im Hotel, im Restaurant, in Elstirs Atelier. Stets ist er Zuschauer, der sich in real oder metaphorisch abgedunkelten Räumen befindet und einem illuminierten Schauspiel beiwohnt: der Küstenlandschaft, den Restaurantbesu-
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Dies wird nicht nur poetisch-technisch, sondern auch metaphorisch praktiziert: »Le soir tombait; il fallut revenir; je ramenais Elstir vers sa villa, quand tout d'un coup, tel Mephistopheles surgissant devant Faust, apparurent au bout de l'avenue [...] la bände zoophytique des jeunes filles.« (390)
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ehern und eben den jungen Mädchen, die im Sonnenlicht auf der Mole gleichsam auftreten. Der Titel des Romans reflektiert auf diese Weise die Grundkonstellation aller in seinem Verlauf beschriebenen Erfahrungen und Erlebnisse. Diese Konstellation aber ist eine theatralische, sie basiert auf dem Hell-Dunkel Kontrast von Zuschauerraum und Bühne. Das Theater steht deshalb am Anfang des Romans. Hier wird entworfen, was abgewandelt immer wieder vorkommt. Schatten und Licht verweisen außerdem auf eine grundlegende psychische Disposition des Jungen, die ebenfalls über den Theaterbesuch an alle anderen Ereignisse gekoppelt wird. Wenn er im Dunkel des Zuschauerraums dem Auftritt einer Schauspielerin beiwohnt, die er sich ganz anders vorgestellt hat, wird dieses Erlebnis zum Paradigma eines veritablen Ent-täuschungsprozesses. Von der realen Person der Berma ist Prousts Erzähler zunächst genauso enttäuscht wie von Saint-Loup, Albertine oder der Kirche von Balbec. Anders gesagt: Die imaginierten Schattenwesen können im Licht der Wirklichkeit nicht bestehen. Sie verlieren ihre Konturen und werden aufgrund der anders gearteten Erfahrungen mit den realen Gegebenheiten neu modelliert. Ein weiterer Theaterbesuch wird im dritten, auf A I'ombre des jeunes filles en fleur folgenden Band der Recherche, Le cote de Guermantes, erzählt. Diese Episode findet sich ebenfalls am Anfang des Romans, der die Erzählstränge des zweiten Bandes wiederaufnimmt und fortführt. Die Handlung setzt am Morgen ein, zu jener Tageszeit also, mit der A I'ombre des jeunes filles en fleur endet. Der Erzähler befindet sich wieder in Paris, in unmittelbarer Nachbarschaft der von ihm bewunderten Familie Saint-Loups, den Guermantes. Gleich zu Beginn des Romans ist von einer Einladung ins Theater die Rede. Man spielt abermals Phedre, in der Hauptrolle die Berma. Die Aufführung von Racines Drama wird also ein zweites Mal erzählt. Allerdings sind die physischen und psychischen Dispositionen 154 des Theaterbesuchers ganz andere als bei seiner ersten Matinee. Er stößt auf keine äußeren Widerstände und geht eher zufällig ins Theater. Nach seiner ersten Enttäuschung zeigt er sich ernüchtert und eher gleichgültig. Zudem gibt man eine Galavorstellung am Abend. Die gesellschaftliche Bedeutung der Veranstaltung ist also wesentlich höher zu veranschlagen als beim ersten Mal.
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» [ . . . ] cet A. J . se trouva possesseur d'un fauteuil pour une soiree de gala ä l'Opera; il l'envoya ä mon pere et, comme la Berma que je n'avais plus vue jouer depuis ma premiere deception devait jouer un acte de Phedre, ma grand'mere obtint que mon pere me donnät cette place. A vrai dire je n'attachais aucun prix ä cette possibilite d'entendre la Berma qui, quelques annees auparavant, m'avait cause tant d'agitation. Et ce ne fut pas sans melancolie que je constatai mon indifference ä ce que jadis j'avais prefere ä la sante, au repos.« (36) Der Erzähler erwähnt überdies: » [ . . . ] depuis mes visites chez Elstir, c'est sur certaines tapisseries, sur certains tableaux modernes, que j'avais reporte la foi interieure que j'avais eue jadis en ce jeu, en cet art tragique de la Berma; [ . . . ] « (36)
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4. Textanalysen
Wie in A I'ombre des jeunes filles en fleur wird auch in Le cote de Guermantes die Auffuhrung des Bühnenspiels nicht sofort erzählt. Auf mehreren Seiten schildert Prousts Erzähler in dieser Episode zunächst seine Eindrücke vom gesellschaftlichen Treiben, das er in den Wandelgängen und Logen erblickt. Beim zweiten Mal werden also eher äußere Umstände registriert als innere Bewußtseinszustände untersucht. Wo der Erzähler vor dem ersten Theaterbesuch seine idealisierten Erwartungen ausbreitet, beobachtet er nun einen Besucher, der sich in die Loge der Guermantes begibt: »[...] le couloir qu'on lui designa apres avoir prononce le mot de baignoire, et dans lequel il s'engagea, etait humide et lezarde et semblait conduire ä des grottes marines, au royaume mythologique des nymphes des eaux.« (38) Diese Passage verdeutlicht, wie der Aufenthalt in Balbec auf Prousts Erzähler eingewirkt hat. Nachdem er sich im Seebad mit Küstenlandschaften ästhetisch auseinandergesetzt hat, werden diese Erfahrungen nun genutzt, um vom Theaterraum zu berichten. In die Form des Romans fließen also die sukzessiven ästhetischen Erfahrungen, von denen erzählt wird, in eben dieser chronologischen Abfolge ein. Der Erzähler knüpft an seine letzten Eindrücke aus Balbec an. Am Ende des Bandes Α l'ornbre des jeunes filles en fleur beobachtet er durch ein Fenster die Gruppe junger Mädchen, »les Nereides« (477), deren Geschrei sich mit dem Rauschen des Meeres zu einer »musique sous-marine« (477) verbindet. Dieses Bild wird nun auf die Logenplätze des Zuschauerraums übertragen. Wie in Balbec die Mädchen, beobachtet der Erzähler im Theater die Logen der Guermantes und nimmt die Doppelbedeutung von baignoire — Theaterloge und Badewanne — zum Anlaß, ein maritimes Schauspiel episch zu entfalten, das nicht auf der Bühne, sondern analog dazu im Zuschauerraum stattfindet. Wie im Falle der Berma bei seinem ersten Theaterbesuch, ist sich der Erzähler auch beim zweiten Mal nicht sicher, ob er den Protagonisten im Zuschauerraum — »le prince de Saxe« - richtig identifiziert. Das zentrale Anliegen des Theaterregisseurs, das mythologische Element Meer auf der Bühne hervorzuheben, überträgt Prousts Erzähler auf seine eigene, epische Darbietung. Er greift auf eine entsprechende Metaphorik zurück, wenn er beispielsweise die Fluten des roten Meeres mit den Zuschauermassen vergleicht: »comme les Hebreux dans la mer Rouge entrent les flots houleux des spectateurs et des spectatrices« (39). Zum zentralen Gestaltungsmittel avanciert aber der Kontrast von Hell und Dunkel. Was der Erzähler bei seinem ersten Theaterbesuch beobachtet hat, setzt er jetzt produktiv ein, um sein eigenes Schauspiel zu gestalten: Mais, dans les autres baignoires, presque partout, les blanches deites qui habitaient ces sombres sejours s etaient refiigiees contre les parois obscures et restaient invisibles. Cependant, au fur et ä mesure que le spectacle s'avanjait, leurs formes vaguement humaines se detachaient mollement l'une apres lautre des profondeurs de la nuit [...], apres commenjaient les fauteuils d'orchestre, le sejour des mortels ä jamais separe du sombre et transparent royaume [...] des deesses des eaux. (40)
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W i e bei der ersten Auffuhrung nimmt Prousts Erzähler eine metaphysische Gliederung des Theaterraumes vor. Er projiziert nun den Schauplatz der Ereignisse von der Bühne auf die (erhöhten) Logenplätze. Dort befinden sich göttergleiche Wesen, die vom Reich der Sterblichen strikt getrennt sind und auf diese, die übrigen Zuschauer, herabschauen. Der Orchestergraben wird dabei zu einer mythologisch aufgeladenen Barriere zwischen Götter- und Menschenwelt stilisiert, 1 5 5 die auf dem Kontrast von Hell und Dunkel beruht. Im Zentrum dieses Spektakels stehen »les radieuses filles de la mer« (40); es gelten »les seules lois de l'optique« (40). Auf diese Weise wird sowohl an Elstir und seine Bilder als auch an die Gruppe junger Mädchen in Balbec erinnert. Die ästhetischen Erfahrungen aus der Zeit am Meer haben offenbar gefruchtet. Sie stehen dem Erzähler jetzt zur Verfügung, um selbst ein Gesellschafts-Spektakel vor den Augen der Leser zu entwerfen. 1 5 6 W i e eng die Verbindung von erstem Theaterbesuch, Aufenthalt in Balbec und Gesellschaftsdarstellung beim zweiten Theaterbesuch ist, offenbart ein Schwenk auf die Loge der »princesse de Guermantes«: Comme une grande deesse qui preside de loin aux jeux des divinites inferieures, la princesse etait restee volontairement un peu au fond sur un canape lateral, rouge comme un rocher de corail [ . . J A la fois plume et corolle, ainsi que certaines floraisons marines, une grande fleur blanche [...]. (41) Einerseits rückt der Erzähler die Prinzessin in die Nähe der Berma. Er überträgt die Attribute von Schauspielerin und Bühnenbild -
»deesse« und »rocher de
corail« — auf die Zuschauerin in ihrer Loge. Andererseits beschwört er aber
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Die Götterwelt der Guermantes erhält freilich einen parodistischen Anstrich, wenn das Weiterreichen von Bonbons mit den Schritten von Tänzern verglichen und somit zum Schauspiel erhoben wird: »Iis feignaient d'offrir et de refuser des bonbons, geste depouille de sa signification et regle d'avance comme le pas d'une danseuse [. . .].« (42) Hierin besteht eine der wichtigsten Veränderungen nach dem Aufenthalt am Meer, die Pierre-Louis Rey in seiner Untersuchung A 1'ombre des jeunes filles en fleur de Marcel Proust. Etude critique, Genf 1983, S. 80 nur vage andeutet: »Bref, ä ne considerer que les fruits de son intelligence, le narrateur nest pas plus avance ä la fin du premier sejour ä Balbec qu'il ne l'etait ä lepoque oü il allait entendre la Berma. Mais des progres souterrains ont rendu cette longue oisivete porteuse de promesses. [ . . . ] pret ä observer d'un oeuil plus averti ce cöte de Guermantes auquel Balbec lui a ouvert l'acces, il en fera son miel au cceur d'une ceuvre dont il n'a pour le moment qu'une confuse intuition.« Unsere Perspektive auf den Roman weicht auch wesentlich von den Ausführungen in der Pleiade-Ausgabe, Band II, S. 1 5 0 6 - 1 5 0 7 ab, wo vom Tod der Kunst die Rede ist: »A cet egard, il est remarquable que >la mort de l'art< [ . . . ] soit precisement consommee dans un lieu qui est dedie ä I'art: le theatre. Car l'erreur du heros est bien d'assimiler le spectacle qui se deroule sur la scene ä celui qu'il observe dans la salle, et de preferer ce dernier.« Pointiert lauten die vorläufigen Ergebnisse unserer Analyse: Es handelt sich vielmehr um eine Geburt der Kunst, um einen ersten Schritt zur epischen Gestaltung der vergangenen Zeit. Von einem Irrtum des Helden kann keine Rede sein. Sein Ziel ist es ja gerade, die Welt der Guermantes auszubreiten; im Theater hat er hierzu einen ersten, wichtigen Schritt unternommen.
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4.
Textanalysen
auch die Gruppe junger Mädchen herauf, indem er die Prinzessin mit einer weißen Blume vergleicht. W i e Andree bei den Schülerinnen in Balbec ist die Prinzessin wichtigste Person der Zuschauergruppe in den Logen. 1 5 7 Bühnenspiel und Seebad — vor allem der Besuch des Restaurants »Rivebelle« - kehren auch im Bild des Aquariums wieder. Die Adligen in ihren Logen gleichen Fischen, 1 5 8 aber auch Schauspielern. Auf diese Weise wird metaphorisch eine Brücke zur Bühne geschlagen: »comme si elle-meme etait une apparition de theatre [ . . . ] la princesse cessant d'etre une nereide apparut [ . . . ] comme quelque merveilleuse tragedienne.« (44) Was bisher nur mittelbar angedeutet worden ist, wird nun unmittelbar benannt: Die Vorgänge im Publikum gleichen einem Schauspiel, die Prinzessin agiert wie auf einer Bühne. Mit diesem Vergleich wendet sich der Erzähler — als ob er sein Stichwort fur die Schilderung der eigentlichen Theateraufiuhrung erhalten hätte — von den Logen ab und der Bühne zu: »Puis le rideau se leva. J e ne pus constater sans melancolie qu'il ne me restait rien de mes dispositions d'autrefois ä l'egard de l'art dramatique et de la Berma [...].« (44) Dem kurzen, resümierenden Rückblick auf »autrefois« setzt der Erzähler das »Mais maintenant« gegenüber. Er vergleicht also die vergangenen und gegenwärtigen psychischen Dispositionen. Der schwärmerischen Haltung von einst wird nun der nüchterne Blick des Skeptikers entgegengesetzt. 1 5 9 Diese Wahrnehmungsweise fuhrt zu einem ganz anderen Ergebnis: »Et alors, δ miracle, [ . . . ] le talent de la Berma qui m'avait fui quand je cherchais si avidement ä en saisir l'essence, maintenant,
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Das Spektakel im Publikum gleicht dabei dem in einem barocken Theater. Wie vormals Fürst oder König in ihrer Loge zur Schau gestellt werden und sich auch geometrisch und architektonisch im Mittelpunkt des Theaters befinden, erscheint hier die »princesse de Guermantes«. Die Guermantes-Loge bildet den optischen Flucht- und Mittelpunkt des Theaterraumes: » [ . . . ] l'amorce inevitable de lignes invisibles en lesquelles l'oeuil ne pouvait s'empecher de les prolonger, merveilleuses, engendrees autour de la femme comme le spectre d une figure ideale projetee sur les tenebres.« (41) »un poisson qui passe [ . . . ] derriere la cloison vitree d'un aquarium« (43). *[··•] t o u t c e ' a avait quitte le monde de l'absolu et η etait plus qu'une chose pareille aux autres, dont je prenais connaissance parce que je me trouvais lä, les artistes etaient des gens de meme essence que ceux que je connaissais, tächant de dire le mieux possible les vers de Phedre [ . . . ] . « (45) Der Kontrast zwischen damals und heute wird allenthalben sichtbar. Auch bei seinem zweiten Theaterbesuch vernimmt der Erzähler das Urteil einer neben ihm sitzenden Zuschauerin. Im Gegensatz zur Matinee zeigt sich diese allerdings wenig begeistert: »Pas un applaudissement! Et comme eile est ficelee! Mais eile est trop vieille, eile ne peut plus, on renonce dans ces cas-lä« (46). Gleiches gilt fiir die Überlegungen, die der Erzähler zur Hauptdarstellerin des Stükkes anstellt. Das Idealbild im Kopf des Jungen, das in einer Apotheose der Berma gipfelt, wird beim zweiten Male durch Hinweise auf das Privatleben der Schauspielerin ersetzt, etwa durch die Erwähnung ihrer Schulden: » [ . . . ] la Berma qui avait gagne tant d'argent n'avait que des dettes. Prenant toujours des rendez-vous d'affaires ou d'amitie auxquels eile ne pouvait pas se rendre, eile avait dans toutes les rues des chasseurs qui courait la decommander [.. .].« (47)
4.6. Marcel Prousts A la recherche d u temps perdu
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apres ces annees d'oubli, [...] s'imposait avec la force de 1 evidence ä mon admiration.« (47) Die zweite Theaterepisode ist spiegelbildlich zur ersten aufgebaut. Prousts Erzähler nimmt abermals sein Urteil vorweg, um es hernach genauer zu erläutern. Er versucht nun, die Ursachen seines geänderten Rezeptionsverhaltens zu ergründen. Wie Felix Krull stellt auch Prousts Figur Fragen. Sie fallen jedoch, genauso wie die Antworten, anders aus. Zwar wählen beide die vergleichende Methode. Während in Felix Krull aber vordergründig untersucht wird, was wahrgenommen wird — >Gefälligkeitszauber< in seinen verschiedenen Formen, gewissermaßen destilliert aus dem Vergleich von Theater, Zirkus und Stierkampf —, geht es in Prousts Roman eher darum, wie ein Ereignis auf verschiedene Art und Weise wahrgenommen wird. Der Aufenthalt in Balbec ermöglicht es, die Wirkung der Berma zu ergründen. Der Zuschauer vergleicht ihr Spiel mit einem »rayon central«, welcher die Verse Racines durchdringt »imbibee de flamme« (49) - und unterstreicht die Bedeutung der Beleuchtung, »l'eclairage« (52), als zentrales Gestaltungsmittel der Bühnenkunst. Er hat mittlerweile gelernt, mit dem Phänomen Licht umzugehen und benutzt es nun selbst, um metaphorisch zu erklären: Im Spiel der Berma, in der künstlerischen Interpretation der Vorlage 160 und nicht im Dramentext selbst oder in seiner bloß deklamatorischen Reproduktion liegt der Schlüssel zum Verständnis von Bühnenkunst. Beim zweiten Theaterbesuch gelingt es aber nicht nur, das Spiel der Berma zu ergründen, sondern auch, Einsichten zu gewinnen, die den Rahmen der Bühnenkunst transzendieren: Je n'aurais plus souhaite comme autrefois de pouvoir immobiliser les attitudes de la Berma [ . . . ] J e comprenais que [ . . . ] ces tableaux successifs, c'etait le resultat fugitif, le but momentane, le mobile chef-d'oeuvre que l'art theätral se proposait et que detruirait en voulant le fixer l'attention d'un auditeur trop epris. (52)
Die Antwort auf die Frage nach dem Talent der Berma wird so zu einer Antwort auf die Frage nach der Zeit. Nur aus der Einsicht heraus, daß es gerade die flüchtigen Momente in jeweils wechselnder Beleuchtung sind, welche die Wirkung der Bühnenakteurin entfalten, daß es der ephemere Charakter des szenischen Spiels ist, den es zu rezipieren gilt, kann das Bühnenstück adäquat erfasst werden. Steht am Ende des Romanzyklus die wiedergefundene Zeit überhaupt, so wird in Le cote de Guermantes zunächst die Wirkung des Theaters erfaßt, deren wichtigstes Moment in ihrer Zeitlichkeit besteht. Dies gilt aber auch für das Erzählen selbst, das bei Proust nichts anderes ist als das künstlerische Bewältigen der Zeit. Vollendet sich am Ende des Romans also das epische 160
»Et comme le peintre dissout maison, charrette, personnages, dans quelque grand effet de lumiere qui les fait homogenes, la Berma etendait de vastes nappes de terreur, de tendresse [...].« (51)
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4. Textanalysen
Projekt, wird hier sein Programm entworfen: So wie das Spiel der Berma nicht nur den Dramentext reproduziert, ist die erzählte Welt kein mimetisches Abbild der Natur, sondern eine Interpretation, eine bestimmte Sicht- und Wahrnehmungsweise der Dinge. Am Ende der Episode verringert sich schließlich das Interesse des Zuschauers am Bühnenspiel. Wie Felix Krull, der sein Opernbillet verfallen läßt, wendet sich auch Prousts Erzähler vom Stück ab. Er hat ebenfalls gelernt, was er zu erlernen suchte, das Spiel der Berma ist unwichtig geworden. Seine Aufmerksamkeit gilt jetzt wieder dem Spektakel in den Logen und namentlich der Duchesse de Guermantes. Die eingangs durchgeführten metaphorischen Transformationen werden nun wieder rückgängig gemacht. Während vor dem Auftritt der Berma eine Entwicklung hin zur Bühne verläuft - die Theaterbesucher als solche, als Fische im Aquarium und als Schauspieler - , wird nun gegenteilig verfahren. Zunächst vergleicht der Erzähler den Auftritt der Duchesse mit einem Theaterstück, dem eben aufgeführten, 1 6 1 dann spricht er von einer »apotheose momentanee [...] dans une eclaircie lumineuse« (62), vergleicht die Adligen also abermals mit Göttern, und läßt sie am Ende wieder als Menschen erscheinen: »je vis une clarte les illuminer: la duchesse, de deesse devenue femme [...].« (62) Auch bei diesen Transformationen spielt das Licht eine entscheidende Rolle. So wie die Berma im Licht der Bühnenscheinwerfer ihre Posen ändert, wandelt sich die Metaphorik des Erzählers. Was er beim ersten Mal als Zuschauer auf der Bühne gesehen hat, durchdringt nun seine Sprache als Berichterstatter. Es bestätigt sich hier also der eingangs gewonnene Eindruck: Prousts Erzähler macht sich die Mittel der Bühne zunutze, um sein eigenes Stück, ein Gesellschaftsszenario, zu entwerfen, das er anschließend, ähnlich wie Zola und Bang, aus dem Theater nach draußen, in die Pariser Salons verlegt. Seine Bemerkung, es handle sich bei diesem Spektakel um ein »panorama ephemere, destine ä etre bientöt modifie par les morts, les scandales, les maladies [...]« (59) kündigt bereits an, was in den folgenden Bänden der Recherche erzählt wird: die Verfallserscheinungen einer Adelsfamilie. Mit den Guermantes verhält es sich wie mit der Berma. Erscheinen beide zunächst als verklärte, göttergleiche Wesen, folgt diesem ersten Eindruck ein Enttäuschungsprozeß. Was auf der Bühne am Fall der Berma durchgespielt wird, zieht sich im Falle der Guermantes in seiner ganzen epischen Länge durch den Romanzyklus. Die Entzauberung der Schauspielerin verweist pointiert und beispielhaft auf die Entzauberung der Adelsfamilie. Sie beginnt zunächst mit ihrer Glorifizierung im Theater, wo der Fall Guermantes, im Zuschauerraum, mit dem Fall Berma, auf der Bühne, verknüpft wird. 161
»Comme dans la piece que l'on etait en train de representer [...] le spectateur qui eüt leve les yeux vers le balcon eüt vu, dans deux loges, un arrangement.« (59)
4.6. Marcel Promts
A la recherche du temps perdu
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Die weiteren Stationen dieser Entzauberung, die gleichzeitig eine Annäherung ist — von der »imagination« zur »realisation« — werden im Hinblick, genauer: im Rückblick auf das Theatererlebnis erzählt. Eine Episode, die exemplarisch für eine Vielzahl von Passagen steht, findet sich im zweiten Teil des Romans. In Paris begegnet Prousts Erzähler erneut Saint-Loup, der ihn mit seiner Freundin Rachel, einer Schauspielerin, und deren Kollegen bekannt macht: Depuis que les acteurs η etaient plus exclusivement pour moi les depositaires, en leur diction et leur jeu, d'une verite artistique, ils m'interessaient en eux-memes; je m'amusais, croyant avoir devant moi les personnages d'un vieux roman comique [...]. (177) Nicht nur das Privatleben dieser Schauspieler, sondern auch das der Berma wird dem Erzähler immer wieder zugetragen. So wie das Treiben der Guermantes aus der Theaterloge nach draußen verlagert wird, verlassen auch die Bühnenakteure ihren eigentlichen Wirkungskreis. Sie werden nun als Privatpersonen wahrgenommen, die in einem anderen Spiel — »une autre piece«, wie Prousts Erzähler selbst bemerkt -
verfangen sind: dem Gesellschaftspektakel, das er
episch vergegenwärtigt. Dabei klingen immer wieder ältere Formen erzählten Theaters an: in dieser Passage Schauspielerschicksale, wie sie sich im K o m i schen Roman des 17. Jahrhunderts und vor allem in Scarrons gleichnamigem
roman comique
finden. Bei einem Rundgang durch die Kulissen wird ein weiterer
berühmter Theaterroman — ganz explizit - aufgerufen: »J'etais heureux d'etre lä, de cheminer parmi les decors, tout ce cadre [ . . . ] auquel sa peinture par Goethe dans
Wilhelm Meister
avait donne pour moi une certaine beaute.« ( 1 8 2 )
Prousts Erzähler zitiert hier ausdrücklich Werke, die als zentrale Wegmarken in der Geschichte des Sujets gelten. Er reiht sich somit in eine Tradition ein, die er zugleich unterläuft. Er selbst nutzt die Bühne in einer ganz anderen Form fur den Roman als seine bekannten Vorgänger. Das Leben der Schauspieler interessiert ihn nur noch im Rahmen seines eigenen ästhetischen Projekts,
Recherche. Auch Theaterdarstellungen, sions perdues, kommen hier nur noch als der
wie beispielsweise in
Nana
und
Illu-
Zitat vor. Wenn streiflichtartig von
Saint-Loup berichtet wird, der hinter den Kulissen auf die von ihm verehrte Schauspielerin wartet, nimmt das, wovon Zolas oder Balzacs Romane handeln, nur noch einen unbedeutenden Platz ein. Bei Proust wird nicht mehr vordergründig vom Theater erzählt, sondern über die Kunstform Theater reflektiert, um ihre Verfahren zur epischen Erinnerung heranzuziehen. Nachdem der Erzähler, infolge seines Aufenthaltes an der See, die Bedeutung von Licht und Bewegung erkannt und bei der zweiten Aufführung von
Phedre
bewußt nachvollzogen hat, wird das Theater als Gegenstand der Erzäh-
lung nicht mehr gebraucht, weil es in deren Form eingedrungen ist. Aus diesem Grund erscheint auch die Berma im weiteren Verlauf des Romanzyklus nur noch als Privatperson. Immer wieder ist von der persönlichen Malaise der
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4. Textanalysen
Schauspielerin, von ihrem Alterungsprozeß und ihrer schlechten körperlichen Verfassung die Rede. In La Fugitive wird schließlich vom Tod der Schauspielerin erzählt: J'ouvris le journal. II annon(ait la mort de la Berma. Alors je me souvins des deux fafons differentes dont j'avais ecoute Phedre, et ce fut maintenant d'une troisieme que je pensai ä la scene de la declaration. II me semblait que ce que je m'etais si souvent recite ä moi-meme et que j'avais ecoute au theatre, c'etait 1 enonce des lois que je devais experimenter dans ma vie. (458)
Die Nachricht vom Tod der Berma setzt einen erneuten Reflexionsprozeß in Gang, der an die früheren Überlegungen - vor und nach den Theaterbesuchen - anknüpft. In einem weiteren, letzten Schritt gelingt es Prousts Erzähler nun, die Gesetzmäßigkeiten, die er aus seinen Theatererlebnissen gewonnen hat, in Bezug zu seinem Leben, vor allem aber zu jenen Frauen zu setzen, die er verehrt hat oder immer noch verehrt. Die Zeitungslektüre gibt den Anstoß, das Verhältnis von Fiktion und Realität beispielhaft an Racines Drama zu erörtern, aus dem immer wieder Verse zitiert werden. Prousts Erzähler geht dabei ähnlich vor wie Thomas Manns Hochstapler. Auch in der Recherche läßt sich eine Dreiteilung der Überlegungen ausmachen: die falschen Vorstellungen des Knaben, die Aufklärung im Theater und schließlich, »troisieme fagon«, die Synthese dieser Erfahrungen. Das Gesehene wird für das eigene Leben nutzbar gemacht. In diesem Punkt differieren beide Theaterbesuche allerdings quantitativ und qualitativ. Während sich die Reflexionen der Hauptfigur bei Thomas Mann in einer einzigen Episode bündeln, erstreckt sich dieser Prozeß bei Proust über mehrere Bände des Romanwerks; während Krull die Mechanismen des Theaters vergleichsweise schnell durchschaut, erfolgt dies in der Recherche nur langsam und etappenweise. Auch wie sie ihre Reflexionen auf die Romanrealität anwenden, unterscheidet die beiden Theaterbesucher in hohem Maße voneinander. Felix Krull entscheidet sich für eine Extremlösung: Er wird selbst zum Schauspieler, indem er seiner Umwelt etwas vorgaukelt, vorspielt und schließlich - als eine Art Geniestreich — eine zweite Existenz annimmt. Genauso verfährt er gegenüber den Lesern. Er läßt keine Gelegenheit aus, seine Vorzüge zu erwähnen. Nichts von all dem findet sich bei Proust. Sein Erzähler macht sich das Gesehene distanzierter nutzbar. Zwar versucht er ebenfalls, Einsichten zu formulieren, die nicht nur fur das szenische Spiel, sondern auch für seine Lebenswirklichkeit gültig sind. Er hat es aber ausschließlich auf Fragen abgesehen, die sich mit dem ästhetischen Projekt des Rückblicks auf eben dieses Leben befassen. Er wendet die Regeln des Theaters auf die Welt außerhalb des Theaters an, um sie zu poetisieren und nicht, um sie zu verändern. Deshalb ist er nicht am >Gefälligkeitszauber< der Bühnenakteure interessiert, sondern an ihrer Interpretation einer Textvorlage. In seiner letzten Reflexion vergleicht Prousts Erzähler die Botschaft von Racines Versen — allen voran
4.6. Marcel Promts A la recherche du temps perdu
(1918/20)
159
der berühmte, in der Recherche immer wieder zitierte »On dit qu'un prompt depart vous eloigne de nous« (458) — mit seinen eigenen Kunst- und Lebenserfahrungen: Mit dem Aufbruch, »le depart«, und der Distanz zu einem bewunderten Kunstgegenstand verhält es sich offenbar wie mit der Entfernung zu einem geliebten Menschen. 162 Am Fall der von ihm verehrten Gilberte wird dieses Verhältnis exemplarisch durchgespielt. Der Bezug von Bühnenstück und Leben lautet: » [ . . . ] cette scene [aus Racines Stück; d.Verf.], sorte de prophetie des episodes amoureux de ma propre existence.« (460) Spiel und Realität werden also nicht - wie in Madame Bovary und vielen anderen Romanen — durch unmittelbare Parallelen von Bühnenspiel und Romanhandlung in Bezug zueinander gesetzt, sondern durch Verknüpfungen anderer Art: durch punktuelle Kongruenzen innerhalb des Gesamtwerks, die sich im Verlauf des Romangeschehens beständig wandeln, weil sie immer wieder durch neue Erkenntnisse, Erfahrungen und Überlegungen ergänzt werden. Wie Dorian Gray liegt auch Prousts Theaterbesucher daran, Kunst und Leben zu verbinden. Allein, er geht mit der nötigen Distanz vor und vermischt nicht das Abstrakte mit dem Konkreten, die Rolle der Schauspielerin mit ihrer Person. Dies ist eine Eigenschaft von Prousts Erzähler, die ihn von Dorian Gray, Lucien de Rubempre und dem Männerkollektiv in Nana wesentlich unterscheidet. Er hat nie die Absicht, die Berma privat kennenzulernen oder gar in ein intimes Verhältnis mit ihr zu treten. Ihm genügt ihr Spiel, um daraus Rückschlüsse auf das eigene Leben zu ziehen, das ihm als Material für sein ästhetisches Projekt dient. Der erste und wahrscheinlich wichtigste Baustein hierfür wird in und zwischen den Theaterepisoden gelegt. Wie bei Oscar Wilde markieren die beiden Theaterbesuche auch bei Proust Ausgangs- und Endpunkt einer Phase, in der die ästhetische Wahrnehmung der Hauptfigur besonders geschult wird. Lord Henrys Äußerungen sind auf Dorian Gray von ebenso großem Einfluß wie die in Balbec gesammelten Erfahrungen auf Prousts Erzähler. Die beiden Theaterepisoden rahmen eine entscheidende Periode in seinem künstlerischen Reifeprozeß ein. Er lernt hier die Darstellungsmittel von Bühnenkunst kennen, die er im weiteren Verlauf der Recherche zu den seinen macht. Das vor allem dem zweiten Band, A L'ombre des jeunes filles en fleur, zugrundeliegende »apprendre ä voir« 1 6 3 gilt in gleichem Maße für Darstellungsgegenstand und Darstellungsweise. So wie der Erzähler im Theater lernt, das Bühnenspiel zu rezipieren, lernt er als Romancier, die verschiedenen Ereignisse, die sein Leben bestimmen, zu ordnen und episch auszubreiten. Fassen wir zusammen: Prousts Erzähler nutzt sein Theatererlebnis, um die Darstellungsmittel und -techniken der Bühnenkunst für die Epik nutzbar zu 162 163
»Or l'argument de Phidre ne reunissait-il pas ces deux cas?« (458) Vgl. Rey, S. 89.
160
4. Textanalysen
machen. Im Vordergrund steht dabei die Doppelnatur von Dramentext und aufgeführtem Stück. Einerseits werden verschiedene Aspekte und Ideen des Dramenstoffs selbst aufgegriffen und - stets distanziert und reflektiert - in Bezug zur Lebenswirklichkeit der Hauptfigur gesetzt. Andererseits wird auf die Mittel der Bühnentechnik und der Dramaturgie zurückgegriffen: zuvorderst auf die Beleuchtung, welche zu einem zentralen epischen Verfahren wird. Dieser Befund bestätigt sich vor allem am Anfang und am Ende des Romanzyklus. So wie das Essen bei Norpois für den Erzähler Anlaß ist, von seinem ersten Theaterbesuch zu berichten, ruft der Geschmack der in den Tee eingetauchten Madeleine das Bild Combrays hervor, erste Station im riesigen Projekt der Recherche: J e pose la tasse et me tourne vers mon esprit. C'est ä lui de trouver la verite. Mais comment? [...] quand lui, le chercheur, est tout ensemble le pays obscur oü il doit chercher et oü tout son bagage ne lui sera de rien. Chercher? pas seulement: creer. II est en face de quelque chose qui n est pas encore et que seul il peut realiser, puis faire entrer dans sa lumiere. [...]. Et tout d'un coup le souvenir m'est apparu. [...] aussitoc la vieille maison grise sur la rue, oü etait sa chambre, vint comme un decor de theätre s'appliquer au petit pavilion [...]. (55/56)
Hier, zu Beginn des ersten Bandes Du cote de chez Swanrt, werden erstmals Theater und Erinnern in Beziehung zueinander gesetzt. Zunächst deutet Prousts Erzähler seinen Erinnerungsprozeß anhand der Opposition von Licht und Schatten. Die Dunkelheit des Gedächtnisses bedarf des »eclaircissement« (55). Daß dieses Ausleuchten dem Beleuchten der Bühne entspricht, wird auf zweifache Weise angedeutet: metaphorisch, wenn die Gebäude Combrays mit Theaterkulissen verglichen werden, und syntaktisch, wenn vom Einsetzen des Erinnerungsprozesses wie von einem Bühnenauftritt (»apparu«) berichtet wird. Romanform und Theatersujet gehen eine enge Relation ein: Erinnern - und das heißt bei Proust erzählen, »creer« - funktioniert wie die Scheinwerferführung im elektrifizierten Theater. Die wichtigsten Akteure und Gegenstände werden dem Dunkel des Raumes entrissen. Daß Erinnern und theatralisches Beleuchten analog funktionieren, zeigt sich von Anfang an. Die eigentliche Geschichte des Romanzyklus beginnt im Dunkeln. Prousts Erzähler ist in seinem Kinderzimmer Zuschauer eines Spiels, das auf Lichteffekten beruht. Eine laterna magica gaukelt ihm Geschichten aus der mittelalterlichen Ritterwelt vor. Bereits zu diesem frühen Zeitpunkt wird über jenes ästhetische Phänomen nachgedacht, das im weiteren Verlauf des Zyklus fundamentale Bedeutung erlangt: »le changement d'eclairage detruisait l'habitude que j'avais de ma chambre [...].« (19) Im Kinderzimmer werden ähnliche Mechanismen wirksam wie im Theater; mit dem Unterschied, daß die Vorführung der laterna magica ausschließlich auf Lichteffekten beruht und ohne Schauspieler auskommt. Sie projiziert Schattenwesen an die Wand, die der Junge imaginär mit Leben füllt. Das Zimmer antizipiert auf diese Weise den Zuschau-
4.6. Marcel Prousts A la recherche d u temps perdu
(1918/20)
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erraum des Theaters, seine Wände die Bühne, auf der die Berma auftreten wird. Wie in A I'ombre des jeunes filles en fleur wird auch in diesem Roman vom Innenraum auf den Außenraum verwiesen. Die Combray-Episode endet mit der Erinnerung an die ersten Sonnenstrahlen, die durchs Fenster fallen. Das Schattenspiel an der Wand wird durch das Licht des Tages ersetzt, so wie die Theaterbeleuchtung durch die Sonne über Balbec. Als finales Analogon zu all diesen Beleuchtungsprozessen funktioniert der Erinnerungsvorgang selbst. Er entreißt ein ganzes Leben der Dunkelheit des Gedächtnisses und wirbelt es hinauf, zur »surface de ma claire conscience« (56). Der Romanzyklus beginnt mit einem Beleuchtungsphänomen und er endet mit einem solchen. Die wiedergefundene Zeit — und somit die erworbene Fähigkeit, zu erzählen — wird im Band Le temps retrouve als Illuminationsvorgang interpretiert: »[...] maintenant qu'elle [das Leben des Erzählers; d. Verf.] me semblait pouvoir etre eclaircie, eile qu'on vit dans les tenebres, ramenee au vrai de ce qu'elle etait, eile qu'on fausse sans cesse, en somme realisee dans un livre!« (1032) Immer wieder bedient sich Prousts Erzähler der Termini »eclairer« und »elucider«, wenn er auf sein Buch und dessen Poetik zu sprechen kommt. Das punktuelle Beleuchten aber ist ein spezifisch theatralisches Mittel. An anderer Stelle wird bemerkt: »mon livre netant qu'une sorte de ces verres grossissants comme ceux que tendait ä un achteur l'opticien de Combray.« (1033) Auch die Vergrößerungsgläser sind fester Bestandteil der ästhetischen Kommunikation im Theater. In fast allen vorgestellten Romanen ist vom Opern- oder Theaterglas als verlängertem Wahrnehmungsorgan des Zuschauers die Rede. Wie im Fall der Beleuchtung übernimmt Proust dieses Verfahren nicht direkt, sondern abgewandelt. Er hat die Vergrößerungslinsen der (lesenden) Rezipienten bereits in seine Geschichte integriert, indem er deren Perspektive steuert und ihnen punktuell Ereignisse vorfuhrt; indem er also ausschneidend und dabei vergrößernd tätig wird. Wenn am Ende der Recherche folgendes Fazit dieses literarischen Projektes gezogen wird: decrire les hommes f . . . ] comme occupant une place si considerable, ä cöte de celle si restreinte qui leur est reservee dans l'espace, une place au contraire prolongee sans mesure [ . . . ] dans le Temps (1048),
erweist sich noch einmal in aller Deutlichkeit, wie das Theater Eingang in die Poetik des Romanzyklus findet. Was Prousts Erzähler für sein Buchprojekt fordert, gilt auch fur die Bühne. Sie ist ein eng begrenzter, knapper Raum, auf dem ein fiktives Spiel gegeben wird, das, wie im Falle Racines, weit in die Vergangenheit zurückreichen, aber auch, wie im Falle des zweiten aufgeführten, zeitgenössichen Stücks sehr nah an der Gegenwart liegen, also in verschiedenen Epochen spielen kann. Innerhalb eines Stücks ist es ebenfalls möglich, große Zeiträume zu überspringen oder extrem zu kontraktieren. Mühelos kann auf
162
4.
Textanalysen
der Bühne das Leben mehrerer Generationen in relativ kurzer Zeit szenisch dargestellt werden. Im Theater ist es möglich, zeitlich sehr disparate Vorgänge auf engem Raum zu bündeln. Genau dies ist aber auch das Anliegen von Prousts Romanzyklus. Hier werden nicht, wie in anderen Romanen, große Räume oder gar, wie im Falle Felix Knills, mehrere Länder durchmessen, hier wird eine Generation über Momentaufnahmen in ihrer zeitlichen Abfolge portraitiert. Neben der Zeitlichkeit des dramatischen Textes und seiner Inszenierung auf der Bühne wird Prousts Erzähler im Theater aber auch mit der Zeitlichkeit des Schauspielens selbst konfrontiert. Das mimische Spiel der Berma im wechselnden Licht der Scheinwerfer entspricht — konzentriert und verdichtet, wie es der Theatersituation zukommt - sowohl den wechselnden psychischen als auch sozialen (Dis-)Positionen, welche Prousts Erzähler im Lauf des Romanzyklus und somit im Verhaftetsein in der Zeit einnimmt. So wie sich auf der Bühne die Bewegungen und Posen der Schauspielerin, aber auch die Beleuchtung, die sie den Zuschauern zeigt, fortwährend verändern, wandeln sich auch die Personen und Ereignisse vor dem retrospektiven, epischen Auge des Erzählers, der den Speicher seiner Erinnerungen gleichsam ausleuchtet. Dazu müssen die Maßnahmen von Bühnenkunst verändert werden. Was sich den Zuschauern auf der Bühne gleichzeitig und unmittelbar präsentiert, erschließt sich den Lesern nur allmählich. Während die Lichtfuhrung im Theater als Synchronakt erlebt wird, überspringt das epische Beleuchten riesige Zeitintervalle, es erweist sich als langer, immer wieder retardierender Vorgang. Das Wechselverhältnis von Bühnen- und epischer Beleuchtung besteht also darin, daß ein im Theater räumlicher Vorgang in einen zeitlichen transformiert wird. Wo auf der Bühne punktuell bestimmte Akteure oder Requisiten innerhalb eines kleinen, begrenzten Raumes herausgegriffen werden, beleuchtet der Erzähler im Roman punktuell Ereignisse, die sich weit auseinanderliegend auf einer zeitlichen Achse befinden. Im letzten Band des Zyklus berichtet Prousts Erzähler von einer Einladung in den Salon der Guermantes. An diesem Abend erscheinen ihm die Gäste wie maskierte Schauspieler - so schonungslos hat die verstrichene Zeit ihre Gesichter entstellt. Ausdrücklich wird diese Begegnung als »Coup de theatre« (499) bezeichnet; an anderer Stelle heißt es: »Alors la vie nous apparalt comme la feerie oü on voit d'acte en acte le bebe devenir adolescent, homme mür et se courber vers la tombe.« (504) Dieses Bild zeigt exemplarisch, welche wechselseitigen Bezüge die verschiedenen Erscheinungsformen erzählten Theaters in der Recherche eingehen. Sowohl Metaphorik als auch poetisch-technische Verfahren, etwa das Beleuchten, werden im Roman selbst hergeleitet. Was der Erzähler auf der Bühne sieht, fließt in sein Tun ein. Proust bedient sich in der Recherche also nicht nur der Maßnahmen des Theaters, sondern erzählt von der Entstehung dieser Vereinnahmung und zeichnet
4.6. Marcel Prousts A la recherche du temps perdu (1918/20)
163
ihre etappenweise Entwicklung nach: als autoreflexive Studie ästhetischer Wahrnehmung, die an zwei Theaterbesuchen entscheidend geschult wird und den Erzähler so überhaupt in die Lage versetzt, den Romanzyklus den Lesern in der vorliegenden Weise zu präsentieren. Die Recherche als Geschichte eines Schreibprozesses 164 manifestiert sich gerade und, als Resume dieser Analyse, vor allem am Theater.
164
Vgl. hierzu Rey, S. 71: »Si, suivant Roland Barthes, la Recherche du temps perdu est l'histoire d'une ecriture, l'essentiel du roman contiendra, echelonnees entre l'affirmation de la volonte d'ecrire du Cote de chez Swann et l'illumination du Temps retrouve, les etapes de cette histoire.« Meine Analyse könnte auch zur Erweiterung anderer Interpretationsansätze beitragen, etwa der Definition von Prousts Werk als »oeuvre cathedrale«: Wie auf der Bühne wird auch in der Kathedrale Licht gezielt eingesetzt, um bestimmte Dinge zu beleuchten und somit in den Vordergrund zu rücken.
5.
Ergänzende Textbeispiele aus der europäischen Literatur des 19· und frühen 20. Jahrhunderts
Die gerade erörterten Romane sind von modellhaftem Charakter. Erzählt wird vom Theater in einer Art und Weise, die sich auf einen — freilich vorläufigen gemeinsamen Nenner bringen läßt. Die Bühne wird episch vereinnahmt oder anders gesagt: Das Romansujet durchdringt die Romanform. Dies wird im Untersuchungszeitraum auch in weiteren Werken der vorgestellten oder anderer europäischer Romanciers praktiziert, wenngleich weniger konsequent und weitreichend: bei Zola und Bang, aber auch bei Autoren wie Heinrich Mann, die im Hauptteil der Arbeit — aus unterschiedlichen Gründen - keine Beachtung gefunden haben. 1
5 . 1 . E m i l e Z o l a s La Curee
(1871)
In diesem frühen Roman aus dem Rougon-Macquart-T,y\i\\is wird, obgleich nur sehr knapp, von einem Theaterbesuch erzählt. Die beiden Hauptfiguren Renee und Maxime wohnen einer Aufführung von Racines Phedre im Pariser TheätreItalien bei. Ihr Interesse gilt hauptsächlich der Titelfigur des Stücks, die eine starke Wirkung auf die Zuschauerin ausübt: »Phedre etait du sang de Pasiphae, et eile se demandait de quel sang eile pouvait etre, eile, l'incestueuse des temps nouveaux.« 2 Auch hier sind Theater und Wirklichkeit verknüpft. Sprachstilistisch wird die Rückkopplung von Bühnen- und Romangeschehen durch die Polysemie des Personalpronomens »eile« markiert. Zunächst ist explizit von Racines Phädra die Rede. Ihr Eigenname wird dann zweimal durch das Pronomen »eile« ersetzt, das nicht mehr eindeutig der Bühnenfigur zugeordnet werden kann. 1
2
Dies gilt vor allem für die Romane Heinrich Manns, die Monika Hocker detailliert untersucht. Die folgenden Analysen beschränken sich daher auf zwei ausgewählte Romane, die unter einem neuen, in dieser Arbeit entwickelten Blickwinkel betrachtet werden. Die im folgenden vorgestellten Romane sind ebenfalls chronologisch angeordnet. Ihre literaturgeschichtliche Entwicklung wird in den Schlußfolgerungen in Zusammenhang mit den Hauptbeispielen gesetzt. Emile Zola: Les Rougon-Macquart, Band 1 La Curee, Bibliotheque de la Pleiade, Paris 1960, S. 508. Die im folgenden in Klammern angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf diese Ausgabe.
166
5. Ergänzende Textbeispiele aus der europäischen Literatur
Das dritte, nachgestellte »eile« deutet schließlich an, daß die Zuschauerin und ihr ähnlich geartetes Schicksal gemeint sind, daß sich die Lebensläufe von dramatischer Person und Hauptfigur des Romans berühren. Renee leidet mit Phedre, weil sie an ihr eigenes Schicksal erinnert wird. Sie hat sich mit ihrem Begleiter und Stiefsohn Maxime auf eine liaison fatale eingelassen. Diese Perspektive bestimmt den weiteren Verlauf der Theaterepisode. Renee rezipiert das Stück äußerst selektiv. Sie interessiert sich ausschließlich für seine Hauptfigur 3 und die damit verbundene Inzestproblematik. Der Auftritt einer anderen Person veranlaßt die Zuschauerin, ihren eigenen Gedanken nachzugehen: Mais Renee, quand le vieux parla, ne regarda plus, n'ecouta plus. [...] Elle etait dans la serre, sous les feuillages ardents, et eile revait que son mari entrait, la surprenait aux bras de son fils. [...] La toile tombait. Aurait-elle la force de s'empoisonner un jour? Comme son drame etait mesquin et honteux ä cote de l'epopee antique! (509)
Die Zuschauerin wendet den Blick vom szenischen Spiel ab, um ihn auf sich selbst zu richten. Anstatt sich in das Bühnengeschehen einzuspielen, erlebt sie buchstäblich ihr eigenes Leben noch einmal: »Elle etait dans la serre [...]«. Dieser Vorgang wird nicht als Erinnerung oder Selbstbeobachtung dargestellt, sondern als Vergegenwärtigung im Sinne des Theaters. Wie auf einer inneren Bühne verfolgt Renee ein längst vergangenes Stelldichein mit ihrem Stiefsohn Maxime. Die Zuschauerin mimt gedanklich eine Episode ihres eigenen Lebens und fügt ihr etwas hinzu, so wie der Theaterregisseur die dramatische Vorlage auf der Bühne interpretiert und dadurch erweitert. Tatsächlich wird sie erst später und unter ganz anderen, weniger abenteuerlichen Umständen von ihrem Ehemann ertappt. Das Bühnenspiel und vor allem sein dramatischer Konflikt lösen bei der Zuschauerin eine Inspektion ihres Seelenlebens aus, die selbst wie ein Bühnenauftritt daherkommt. Zumal das Fallen des Vorhangs ambivalent bleibt: Es schließen sich sowohl der reale Vorhang auf der Bühne als auch der nur metaphorische Vorhang im Kopf der Zuschauerin. Renees Theaterbesuch erinnert an den Emma Bovarys. So wie Flauberts Figur ein heimliches Treffen mit Rodolphe im Blätterwerk des Gartens Revue passieren läßt, malt sich Renee aus, »sous les feuillages« vom Ehemann ertappt zu werden. Einem tatsächlichen Innenraum — dem Theater — wird ein imaginierter Außenraum gegenübergestellt. Hier wie dort werden die vom Bühnenspiel ausgelösten Phantasien durch das Fallen des Vorhangs zunächst unterbrochen und dann durch die Kommentare des männlichen Begleiters zurechtgerückt. Allerdings retardiert Zola diese Ernüchterung. Renees Reflexionen enden erst auf dem Heimweg in der Kutsche, wo sich Maxime abfällig
3
»Elle ne voyait de la piece que cette grande femme trainant sur les planches le crime antique.« (508)
5.1. Emile Zolas La Curee (1871)
167
und ironisch über das Gesehene äußert. 4 Wie Emma Bovary während der Aufführung empfindet Renee das Stück nach der Aufführung als eine Art »fantaisie plastique bonne ä amuser les yeux.«5 Diese Einschätzung währt allerdings ebenfalls nicht lange. Die im Theater aufgeworfenen Fragen nach Schuld und inzestuösem Vergehen stellen sich im täglichen Leben erneut, verstärkt durch ihre Dramatisierung auf der Bühne. Mit Renees Schicksal verhält es sich allerdings gerade umgekehrt wie mit dem Emma Bovarys. Renee führt bereits das luxuriöse und freizügige Leben, das sich Flauberts Figur erträumt. Das Bühnenspiel löst hier eine ethische Reflexion aus. Die Zuschauerin sucht nach einem Sinn hinter ihrem ausschweifenden Leben. Deshalb wird bei Zola keine Oper, sondern eine antike Tragödie aufgeführt, 6 die eben diese Fragen nach Lebenssinn und- schuld umkreist. Renees Theaterbesuch bleibt weitgehend folgenlos, er ist eine kurze, wenngleich symbolträchtige Episode in La Curee. Von einem anderen Spiel und von anderen Aspekten der Bühnenkunst im weitesten Sinn wird hingegen im sechsten Kapitel des Romans ausführlich erzählt: von der Aufführung des Gedichts Amours du beau Narcisse et de la nymphe Echo. Die Besonderheit dieses von einer Nebenfigur verfaßten Werks liegt darin, daß es anläßlich eines Maskenballs von Laiendarstellern in verschiedenen »tableaux vivants« (537), also inszenierten Gruppenbildern, auf einer improvisierten Bühne dargeboten wird. Die vormaligen Zuschauer von Phedre handeln jetzt selbst: Renee stellt die Nymphe Echo und Maxime den Narziß dar. Sie werden zu Hauptakteuren in einem Spiel, das wesentliche Funktionen des Theaters in Zolas Romanzyklus offenbart. Gleich zu Beginn der Episode werden Analogien zwischen Publikum und Bühnenakteuren hergestellt. Erstens durch den Rahmen der Veranstaltung: Auf einem Maskenball sind die Gäste, welche in diesem Fall das Publikum bilden, wie die Bühnenakteure kostümiert. Die Kleidung der Zuschauer ist somit ihrer eigentlichen Funktion enthoben und gehorcht den ästhetischen Codes der Bühne. Zweitens durch den Kontrast von beleuchteten Figuren und solchen, die im Schatten verharren.7 Drittens durch die Gruppenbildung im Zuschauer4
5 6
7
»Tout se detraqua dans sa [Renees; d.Verf.] tete. La Ristori η etait plus qu'un gros pantin qui retroussait son peplum et montrait sa langue au public comme Blanche Muller, au troisieme acte de la Belle Helene; [...]« (510) Flaubert, Madame Bovary, S. 193. Allerdings vermag Renee aus dem Gesehenen keine Konsequenzen zu ziehen. Am Ende beantwortet sich die im Zuschauerraum gestellte Frage: »Aurait-elle la force de s'empoisonner un jour?«. Während Emma Bovary zu diesem letzten Schritt fähig ist, erwartet Renee ihren Tod nur passiv: »L'hiver suivant, lorsque Renee mourut d'une meningite [...].« (599) Vgl. zu Zolas Roman auch die Studien von A. Dezalay: La Nouvelle Phedre de Zola ou les Mesaventures d'un personnage ttagique. In: Travaux de linguistique et de litterature IX, no 2, 1971; und S. Via: Une Phedre decadente chez les naturalistes. In: R.S.H no 153, janvier/mars 1974. »[...] tandis que la masse compacte des habits noirs mettait une grande tache sombre, ä cöte de cette moire d'etoffes claires et d'epaules nues, toutes braisillantes des etincelles vives des bijoux.« (539)
168
5. Ergänzende Textbeispiele aus der europäischen Literatur
bereich, die den »tableaux vivants« auf der Bühne entspricht. Stets wird vom Publikum 8 analog zu den mythologischen Gruppierungen berichtet: von ihren Namen, ihren Posen, ihren Kleidern und nicht zuletzt von ihrer Anordnung. Die eigentliche Aufführung wird von einem Walzer eingeleitet. Erster Schauplatz des Gedichts ist die Meeresgrotte der Venus, wo Narziß auf die Liebesgöttin trifft. Das zweite Bild stellt ebenfalls eine Grotte dar, gefüllt mit Geld und Schmuck: »Apres la tentation de la chair, la tentation de l'or.« (548) Diesen Reizen widersteht Narziß ebenso wie denen der Venus. Im dritten und letzten Bild wird dann sein Ende vorgeführt: Le beau Narcisse, couche Sur le bord d'un ruisseau, qui descendait du lointain de la scene, se regardait dans le clair miroir; [...] la mort le surprenait au milieu de l'admiration ravie de son image [...] et Venus, de son doigt tendu, comme une fee d'apotheose, lui jetait le sort fatal. (552/53)
Zola entwirft hier offenbar eine Parallelkonstruktion zu Nana. Den drei Akten der Operette entsprechen die drei »tableaux vivants«; Walzermusik untermalt hier wie dort die Auffuhrung; beide Male wird antike Mythologie verspottet: Auch in La Curee präsentiert sich der Gästeschar ein Olymp aus Puder, Kostümen und Schmuck. 9 Wie der Spiegel in Nanas Künstlergarderobe kann der Fluß, in dem sich Narziß betrachtet, als Hinweis auf die Erzählstrategien Zolas verstanden werden. Und zwar in doppelter Weise: Einerseits signalisiert er Spiegelungen innerhalb eines Romans, hier die zwischen mythologischen und genuin epischen Figuren. Andererseits versinnbildlicht er die Brechungen innerhalb des Gesamtzyklus der Rougon-Macquart. Die Narziß-Episode kann auch als Verweis auf die Geschichte Nanas gelesen werden. So wie Venus hier das Schicksal einer einzigen Figur besiegelt, wird Nana alias Venus zum Verhängnis einer ganzen Gesellschaft. 10 Neben diesen inhaltlichen Aspekten werden auch poetische Verfahren (verzerrend) gespiegelt. Das Licht spielt in der Narziß-Episode eine zentrale Rolle. 11 Bei allen drei Bildern ist von den Effekten des »rayon electrique« die 8
9
10
11
»Le groupe au milieu duquel se trouvait Saccard setait forme derriere les demiers fauteuils.« (539) » [ . . ] son Olympe aurait porte de la poudre.« (538). An anderer Stelle spricht der Erzähler von »ce ruissellement de coffre-fort moderne tombe dans un coin de la mythologie grecque.« (549) Die Wirkung von Venus im letzten Bild wird mit denselben termini wie Nanas Auftritt beschrieben: »Un grand souffle d'amour, de desir contenu, etait venu des nudites de l'estrade, courait le salon [...].« (545) Und nicht nur dort: Zola eröffnet den Roman mit einem Panoramablick über die ausfahrenden Kutschen, welche von den letzten Strahlen scheinwerferähnlich beleuchtet werden. Immer wieder ist im Roman von der Faszination der illuminierten Großstadt Paris die Rede: »Renee, dans sa songerie, s'amusait ä voir, au bord de l'horizon, s'allumer un ä un les becs de gaz de la place de l'Etoile [...] il lui semblait que le Paris flamboyant des nuits d'hiver s'illuminait pour eile.« (329)
5.1. Emile Zolas La Curee
(1871)
169
Rede, welcher die Figuren beleuchtet. Das Licht steht jeweils am Anfang der Szene, hernach werden Kostüme, Posen und der Inhalt des »tableau« beschrieben. Dieser Reihenfolge entspricht der Stellenwert der elektrischen Beleuchtung. Sie wird zum verbindenden Element der drei Bilder, weil sie die Figuren bestrahlt und somit als Exponate beschaubar macht. Das Licht nimmt in La Curee eine ähnliche Funktion wie in Nana ein. Die Operette La blonde Vinns erscheint vor diesem Hintergrund lediglich als eine spezifische, nämlich bewegliche und extrem erotisch aufgeladene Variante des »tableaux vivant«. Noch stärker als in Nana wird in La Curee die Verbindung von Luxus, Erotik und Licht akzentuiert. Die Gruppe der Figuren muß nicht einmal versuchen, zu singen oder zu spielen, also wie Nana den Anschein aktiver Eigenproduktion zu erwecken. Sie ist bloß beschaubar, ausgestellt und inszeniert wie eine Schaufensterdekoration. In La Curee werden daher nicht nur Analogien zwischen Zuschauern und Bühnenakteuren hergestellt. Ihr Verhältnis kehrt sich geradezu spiegelbildlich um. Die Darsteller der »tableaux vivants« verhalten sich so wie üblicherweise das Publikum: regungslos und still, während die Zuschauer ausführlich plaudern und lachen. Die eigentliche Aktivität findet jenseits der Bühne statt, wo das Publikum die Darbietung begutachtet und kommentiert, so wie die Passanten auf den großen Boulevards die hell erleuchteten, kunstvoll dekorierten Auslagen der Geschäfte, von denen Zola - etwa in Au bonheur des Dames — beständig erzählt. Jenseits der Bühne findet auch Renees großer Auftritt statt, der dem Nanas gleicht. Die Darsteller mischen sich nach der Aufführung kostümiert unters Ballvolk: Mais lorsque Renee descendit enfin, il se fit un demi-silence. Elle avait mis un nouveau costume, d'une grace si originale et d u n e telle audace, que ces messieurs et ces dames, habitues pourtant aux excentricites de la jeune femme, eurent un premier mouvement de surprise. Elle etait en Otaitienne. [ . . . ] Et rien d'autre. Elle etait nue. [ . . . ] C'etait une sauvagesse adorable, une fille barbare et voluptueuse, ä peine cachee dans une vapeur blanche, dans un pan de brume marine, oü tout son corps se devinait. (555/56)
Auch hier vollzieht sich gleichsam eine Geburt. Wie Nana nur mit einem durchsichtigen Umhang bekleidet, wird Renee zur eigentlichen Attraktion der Veranstaltung, ihr Erscheinen auf dem Ball zu einem Triumphzug ihres Körpers, begleitet von den euphorischen Reaktionen der Männer. Wo im Theater die Rampe Publikum und Akteure trennt, gebieten hier gesellschaftliche Konventionen Distanz: »Iis s'extasiaient de loin.« (556) Was in diesem frühen Roman innerhalb einer anderen Geschichte nur angedeutet wird, erzählt Zola in Nana dann in seinem ganzen Ausmaß und mit allen Konsequenzen: Die Bühne wird zum zentralen Sujet. Das quantitative und qualitative Verhältnis det beiden Aufführungen in La Curee deutet bereits an, wie Zola dem Theater später zu Leibe rückt: daß es nicht um den Inhalt
170
5. Ergänzende Textbeispiele aus der europäischen
Literatur
der Stücke geht, sondern um die Mechanismen von Bühnenkunst, die Zola für den Roman vereinnahmt. Skizziert und vor allem akzentuiert werden diese Mechanismen am Beispiel einer Aufführung, die gar nicht im Theater stattfindet, aber mit dessen Mitteln operiert. Von eigentlicher Bühnenkunst ist nur kurz und am Rande, beim Besuch von Phedre, die Rede. Das Widerspiel der beiden Auffuhrungen in La Curee läßt sich zugespitzt folgendermaßen fassen: So wie Phedre der Zuschauerin innerhalb der Romanhandlung einen Spiegel vorhält und sie auf ihr eigenes Schicksal verweist, hält die Auffuhrung von Amours du beau Narcisse et de la nymphe Echo dem Romanzyklus selbst einen poetologischen Spiegel vor, indem sie seine Verfahren aber auch seine Sujets und deren mannigfaltige Brechungen innerhalb der einzelnen Romane aufzeigt; indem sie also im Sinne der dargestellten mythologischen Figur Narziß von einer Selbstbespiegelung der Erzählkunst berichtet.
5 . 2 . H e r m a n B a n g s Hoffnungslose
Geschlechter
(1880)
Auch in diesem frühen Werk 12 des dänischen Romanciers spielt, wie später in Stuck, das Theater eine wichtige Rolle. Zwar steht es nicht uneingeschränkt im Mittelpunkt der Ereignisse, es ist aber mit der Hauptfigur William Hög eng verbunden. Der Titel des Romans ist Programm. Exemplarisch an Williams Lebensweg wird vom Niedergang einer Familie berichtet, an dessen Anfang und Ende ein Theaterbesuch steht. Das dritte Kapitel des Romans ist einer Ballettaufführung gewidmet, welche die Familie Hög besucht. William ist noch ein Kind und betritt zum ersten Mal das Theater. Seine Mutter Stella erinnert sich während der Vorstellung an ihr eigenes erstes Bühnenerlebnis: Die ganze Komödie spiegelte sich in seinen [Williams; d.Verf.] Zügen. Stella konnte den ganzen Abend nicht die Augen von ihm lassen. Sie war mit ihrer Mutter zum erstenmal als fünfzehnjähriges Mädchen im Theater gewesen. Wie gut sie sich noch daran erinnerte! Man gab »Romeo und Julia«. Sie hatte es zwar nicht verstanden, die glühenden Worte waren an ihrem Ohr nur wie eine Art Musik vorbeigeglitten — aber wie schön war es doch gewesen! Sie hatte damals tief in ihrem Innersten etwas gefühlt wie eine Erwartung, eine Sehnsucht, ein Seufzen nach dem Leben, was kommen sollte. Der Fächer bewegte sich immer lebhafter in ihrer Hand. Sie wandte sich um und sah Hög an. Er saß müde, den Kopf auf die Hand gestützt, da; ein starker Duft von Eßbukett schlug ihr aus seinen Sachen entgegen.
12
Hermann Bang: Hoffnungslose Geschlechter (dän. Orginaltitel Haablöse Slaegter), Fischers Bibliothek zeitgenössischer Romane, Berlin 1919. Bangs besprochener Großstadtroman Stuck war ursprünglich als Fortsetzung dieses Werkes geplant. Die im folgenden in Klammern angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf diese Ausgabe.
5.2. Herman Bangs Hoffnungslose Geschlechter (1880)
171
Einen Augenblick beschattete sie ihr Gesicht mit dem Fächer, während ihr Auge auf der zusammengesunkenen Gestalt ruhte. Darauf schlug sie den Blick nieder und eine Träne rollte langsam die Wange hinab ... Ihr ganzes Leben bis heute hatte sie in diesem einen Augenblick gesehen. Und plötzlich stand es wie ein fürchterliches Rätsel vor ihr, wie sie an diesen Mann gekettet worden war, der hier in der Hitze des Theaters frierend dasaß. Es war ihr, als ob sie in eine weite Einöde blickte, über der ein schwerer Nebel hing. Und eine unsagbare, trostlose Bitterkeit schnürte ihr die Kehle zusammen. (37)
Stella Hög rezipiert das Bühnenspiel vor allem mittelbar: einerseits durch den Blick auf ihren Sohn und andererseits durch den Blick auf ihren Mann. William dient der Nachbarin im Zuschauerraum als Medium, 13 welches das Bühnenspiel übermittelt. Diese Form der indirekten Rezeption deutet an, worum es in dieser Episode nicht geht: um die eigentliche Ballettaufführung. Über das Stück und seine künstlerischen Qualitäten wird nichts gesagt. Der Blick nach außen und vorne — auf das Bühnengeschehen — wandelt sich vielmehr in einen Blick nach innen. Stella erinnert sich an ihren eigenen ersten Theaterbesuch. Das drameneigene Spiel im Spiel wird auch in diesem Roman episch vereinnahmt: als Potenzierung des Theaterbesuchs in der Erinnerung der Zuschauerin. Die erinnerte Aufführung - Romeo undJulia - wird genauso vermittelt wie die gerade miterlebte. Von ihrem Gehalt ist nicht die Rede, ausdrücklich wird betont, daß Stella als Mädchen das Stück »nicht verstanden« hat. Vielmehr funktioniert Shakespeares Sprache analog zur Musik der Ballettaufführung nur als akustisches Phänomen. Das in Versen deklamierte Drama erscheint retrospektiv als Form poetisch-musikalischer Sprache, die mit Kindheit und Schönheit verbunden ist. Hier wird also Grundsätzliches verhandelt. Die Rezeption von (Vers-)Sprache und Musik des Bühnenspiels steht als pars-pro-toto für eine — freilich rekonstruierte — Wahrnehmung der Außenwelt, die nur noch in der Erinnerung der Zuschauerin existiert. Die räumliche Distanz zur Bühne wird in eine zeitliche, psychologisch motivierte überführt: Sprache und Musik der Aufführung sind genauso körper- und schwerelos und somit genauso fern und unantastbar wie die eigene Vergangenheit. Dabei klingt ein bekannter romantischer Topos an: die Poetisierung der Kindheit, welche mit einer »Erwartung«,
13
Diese Konstruktion - der Zuschauer rezipiert das Bühnenspiel nicht direkt, sondern nur mittelbar über die Reaktionen des Begleiters — findet sich in extremer Form auch in Edith Whartons Roman The reef (1912). Whartons Hauptfiguren Darrow und Miss Viner wohnen in einem Pariser Theater einem Schauspiel bei, welches Darrow hauptsächlich implizit, über die Gesichtszüge seiner Begleiterin rezipiert: »She was an extraordinary conductor of sensation: she seemed to transmit it [das Stück; d.Verf.] physically, in emanations that set the blood dancing in his veins.« Edith Wharton: The reef, New York 1970, S. 51. Was in Romanen wie Madame Bovary oder Hoffnungslose Geschlechter unter anderem thematisiert wird — der Blick auf die Reaktionen des Nachbarn - ist bei Edith Wharton exklusives episches Verfahren.
X Ergänzende Textbeispiele aus der europäischen Literatur
172
einer unbestimmten »Sehnsucht« einhergeht. Beide werden allerdings nicht eingelöst. Erzählt wird von einer Initialzündung des Herzens, die wirkungslos verpufft. Während sich das bunte und abenteuerliche Leben romantischer Figuren den Sehnsüchten der eigenen Jugend tatsächlich annähert, bleibt Stella nur noch die Erkenntnis ihrer unüberbrückbaren Differenz. Bang ruft also einen Topos auf, um ihn hernach zu demontieren. Diese Zurücknahme basiert wesentlich auf dem Kontrast von Bühnenwelt und den Ereignissen im Zuschauerraum. Während die Schauspieler die im Stück angelegten Emotionen ausdrucksstark mimen - so wie es die (zeitgenössische) B ü h nenkunst vorsieht - , müssen die tatsächlichen Emotionen der Zuschauerin mühsam unterdrückt werden. Sie veräußern sich über Gesten, die auf ein Minimum reduziert sind. Stellas Anspannung zeigt sich optisch lediglich an der Bewegung des Fächers, ihre Melancholie bündelt sich in einer einzigen, in der Dunkelheit des Raumes kaum sichtbaren Träne. Was die Bühnenakteure sprachgewaltig
und
gestenreich
aufführen,
verläuft
im
Zuschauerbereich
stumm und regungslos. M i t Stellas mittelbarem Blick auf die Bühne, durch William, kontrastiert ihr Blick auf den Ehemann. Dem verklärten Rückblick auf ihre Kindheit folgt der Anblick ihres als unbefriedigend empfundenen Ehelebens. Hög sitzt leibhaftig neben Stella, während sie von Bühnengeschehen und Kindheit getrennt ist: vom einen, wie gesagt, durch räumliche, vom anderen durch zeitliche D i stanz. Während der Blick auf William m i t dem auf die Bühnenkunst und die eigene Kindheit verwischt, beschränkt sich der Anblick Högs auf einen im wesentlichen physikalischen Aspekt: das Temperaturgefälle zwischen Theaterraum und Körper des Zuschauers. Bang variiert offenbar eine epische Strategie Flauberts, vom Theater zu erzählen. W i e schon in Madame Bovary haben romantische (Liebes-) Ideale ihren Platz nur noch auf der Bühne, in der W e l t des Scheins. Auch Bang hebt die Kontraste von Bühnenpathos und Romanwirklichkeit hervor, personifiziert in der Figur des Ehemannes. Er wählt zu diesem Zweck ein bekanntes Stück von hohem emotionalem Gehalt - Romeo und
Julia,
Symbol der alle Hindernisse überwindenden Liebe - , das Wünsche erweckt, die in der Romanwirklichkeit immer wieder aufs neue enttäuscht werden. Die Parallelen zu Madame Bovary erweisen sich vor allem an jener Stelle des Opernbesuchs, wo E m m a ebenfalls in ihre Vergangenheit eintaucht: Emma revait au jour de son mariage; et eile se revoyait lä-bas, au milieu des bles, Sur le petit sentier, quand on marchait vers l'eglise. Pourquoi done n'avait-elle pas, comme celle-lä, resiste, supplie ? Elle etait joyeuse, au contraire, sans s'apercevoir de l'ablme oü eile se preeipitait . . . Ah! si, dans la fralcheur de sa beaute, avant les souillures du mariage et de la desillusion de l'adultere, eile avait pu placer sa vie sur quelque grand coeur solide, alors la vertu, la tendresse, les voluptes et le devoir se confondant, jamais eile ne serait descendue d une felicite si haute. 14 14
Flaubert, Madame Bovary, S. 193.
5.2. Herman Bangs Hoffnungslose Geschlechter (1880)
173
Auch in dieser Passage kehrt sich — ausgelöst durch die Hochzeitspläne der Bühnenfiguren -
der Blick der Zuschauerin um. Die Perspektive wechselt
von den Ereignissen auf der Bühne zu den Vorgängen im eigenen Kopf. Ein tatsächlicher Blick wandelt sich in einen imaginierten, eine räumliche Distanz in eine zeitliche. Markiert wird dieser Vorgang durch Analogien; sowohl durch semantische: die Vermählung; als auch durch syntaktische: Dem »lä-bas« und seiner hier vor allem zeitlich eingeschriebenen Distanz entspricht das nachgestellte »cellela«, welches räumliche Distanz suggeriert. Diese Analogien zwischen Oper und Lebensweg lassen Emmas Retrospektive wie eine private, nur von ihr beobachtete Bühnenauffiihrung erscheinen. Ihre gedankliche Rede verstärkt diesen Eindruck. Die Sprache der Bühne durchdringt die Sprache der Romanfigur. Emmas Ausruf »Ah« und die Häufung von emotional aufgeladenen Abstrakta (»la vertu, la tendresse, les voluptes . . . « ) zeigen, wie sehr die Zuschauerin die Sprache und somit die fiktive Welt der Bühne verinnerlicht hat. Damit kontrastiert, wie gesagt, die nüchtern vermerkende epische Sprache von Flauberts Erzähler. Für Hoffnungslose Geschlechter gilt wie für Madame Bwary: Beide Male unternehmen die Romanfiguren im Theater, angeregt durch die Wirkung des Bühnenspiels, eine innere Reise in die Vergangenheit, vermittelt in erlebter Rede. Sie fragen sich angesichts des Mannes an ihrer Seite nach den Gründen fur die Eheschließung. Beide überblicken in einer rückwärts gerichteten Reflexion ihr bisheriges Leben, das sich an den Idealen und Wünschen der Jugend messen lassen muß — und diese Prüfung nicht besteht. Hier wie da stehen sich verschiedene Sinneseindrücke gegenüber. Die Wirkung des Bühnenspiels basiert vor allem auf musikalischen, also körper- und schwerelosen Reizen, sogar die Worte der Bühnenakteure verschwimmen zu Tönen. Ihr wird die plumpe, kreatürliche Präsenz des Ehemannes zur Seite und somit gegenübergestellt. Hög riecht nach Essen, Charles verschüttet Limonade, Hög friert im heißen Theater, Charles empfindet die aufwühlende Musik als störend. Beide wirken müde und schwerfällig und zeigen nur wenig Interesse fiir das Stück. Die schwerelosen Töne, welche die Phantasie der Zuschauerin anregen, kontrastieren mit dem greifbaren und riechbaren Körper des Ehegatten, mit all seinen kreatürlichen Malen wie Schweiß und Essensdunst. Hier wie dort wird der fatale Schritt der Vermählung mit einer Landschaftsmetapher vergegenwärtigt. Emma vergleicht ihn mit einem Abgrund, der sich hinter den Wiesen — Sinnbild ihrer Jugend — auftut, Stella mit einer nebligen Einöde, die sie seit ihrer Eheschließung umfängt. Mit den erinnerten Landschaften romantischer Prägung kontrastiert die tatsächliche Enge des ehelichen Haushalts. Die großen Leidenschaften sind bei Bang wie bei Flaubert der Bühne vorbehalten. Dort wird eine Gegenwelt geschaffen, die sich als konträr zum pathoslosen, eintönigen Leben der weiblichen Romanfiguren erweist. Während auf der Bühne für die Dauer der Auffuhrung — eine relativ kurze Zeitspanne - ein
174
5. Ergänzende Textbeispiele aus der europäischen Literatur
Konzentrat an Emotionen sichtbar und spürbar wird, besteht die Romanwirklichkeit aus vielen kleinen, alltäglichen Begebenheiten, die sich über die ganze Länge des Textes erstrecken und immer wieder in Enttäuschungen münden. Bei Bang wird dies allerdings nicht vordergründig an Stella Hög, sondern an ihrem Sohn demonstriert. Während der Theaterbesuch Williams Mutter zum Eingeständnis ihrer Desillusion anregt, entfacht er bei dem Jungen eine große Leidenschaft für die Bühne: » W i l l i a m lebte [ . . . ] ganz auf der Bühne« (38) bemerkt Stella und küßt ihn: »In diesem Kusse gab sie ihm alle Hoffnungen ihres Lebens zum Erbe.« (38) Im Zuschauerraum wird ein non-verbaler Pakt zwischen zwei Generationen geschlossen. Stella überträgt ihre Hoffnungen durch eine symbolisch-rituelle Handlung auf ihren Sohn. Auch diese Prozedur kontrastiert mit der Liebesgeschichte auf der Bühne. Eine kleine, flüchtige Geste steht dem Pathos von Romeo und Julia entgegen. Die Zuschauerin besiegelt damit nicht eine gemeinsame Zukunft, sondern gibt mit dem Kuß ihre enttäuschten Hoffnungen weiter. In der Theaterepisode wird auf diese Weise, gleich zu Beginn des Romans, die epische Grundstruktur angelegt. Während das Bühnenspiel die Mutter dazu bewegt, Bilanz zu ziehen, hat es auf ihren Sohn eine andere Wirkung. Begeistert vom Theater, entwirft er Zukunftspläne, die sich genausowenig realisieren wie Stellas Hoffnungen. Dies ist, vereinfacht, die Geschichte, die nachfolgend erzählt wird: W i l l i a m geht letztlich an seiner früh entfachten Theaterleidenschaft zugrunde. 1 5 Der Kreis dieser fatalen Passion schließt sich auf der Bühne. Bei einer letzten Aufführung, erzählt im vierten Kapitel des letzten Buches, blickt W i l l i a m in den Zuschauerraum: William ging zum Vorhang und guckte durch die kleine Öffnung. Beim Anblick all dieser zusammengepackten Köpfe, die er erst nicht klar erkennen konnte, wurde ihm doch ganz schwül zumute. Nach und nach traten diese langsam hervor und er konnte die einzelnen Personen unterscheiden. [...] W i e in einem Buche, dessen Blätter eine unsichtbare Hand umwandte, las er in diesen verschiedenen Gesichtern die Geschichte seines Lebens. (204) 15
Im zweiten Buch hat er seinen ersten Auftritt als Schauspieler, der den Anstoß fiir seine weitere glücklose künstlerische Laufbahn gibt. Mit William Hög verhält es sich genau umgekehrt wie mit Goethes Wilhelm Meister, dessen Vornamen dem seinen gleicht. Ihm ist das Theater nicht Motor einer ästhetischen und menschlichen Entwicklung, sondern Wegmarke des Untergangs. Im Roman wird eine Bildungsund Entwicklungsgeschichte unter negativen Vorzeichen erzählt. Als kleiner Junge ist es Williams Lieblingsbeschäftigung, im Haus auf- und abzugehen: »Sowie irgend etwas Besonderes los war, ihn irgend etwas erregte, lief er, die Hände ihn den Taschen, wie ein Besessener herum. [...] Heute [am Tag des Theaterbesuchs; d.Verf.] war es ganz besonders schrecklich mit ihm. Er hatte sich rein das Leben aus dem Körper gerannt.« (34/35) Diese Eigenart des Jungen signalisiert bereits sein späteres Schicksal. Anders als Wilhelm Meister ist er zu ziellosem Umherirren, zu sinnentleerten, dekadenten Wanderjahren verdammt. Vgl. hierzu auch: Antje Wischmann: Ästheten und Decadents. Eine Figurenuntersuchung anhand ausgewählter Prosatexte der Autoren H. Bang, J . P. Jacobsen, R. M. Rilke und H. v. Hofmannsthal, Frankfurt a. M. 1 9 9 1 .
5.3· Heinrich Manns Im Schlaraffenland
(1900)
175
William agiert nicht selbst, sondern verharrt auf der Bühne in der Rolle eines passiven Beobachters. Die übliche Relation von Bühne und Zuschauerraum wird umgekehrt. Durch ein Loch im Vorhang betrachtet der Schauspieler das ihm bekannte Publikum wie in einem Guckkasten. Sogar das Scharfstellen des Opern- oder Theaterglases klingt bei diesem auf den Kopf gestellten Blick an. Nach und nach werden noch einmal die wichtigsten Romanfiguren und ihr Verhältnis zu William revueartig aufgerufen. Der Zuschauerraum präsentiert sich auf diese Weise als episches Museum, in dem sich die Romanfiguren wie Ausstellungsstücke oder im Sinne des Theaters wie Requisiten dem Blick des Betrachters darbieten. Am eindringlichsten versinnbildlicht die Buchmetapher dieses wechselseitige Durchdringen zweier Kunstformen. Die Zuschauer erscheinen als personifizierte Seiten der eben erzählten Geschichte. Über das Medium Theater wird also auf den Roman selbst verwiesen, wird seine Handlung ein zweites Mal ausgebreitet: gerafft und in konzentrierter Form, auf Personen beschränkt, so wie dies dem dramatischen Genre, später auch den Schlußszenen im Film entspricht. In diesem frühen Roman deutet sich somit bereits an, was Bang in Stuck erheblich komplexer ausführt: die Mittel der Bühne werden fur den Roman genutzt. 16
5.3. Heinrich Manns Im Schlaraffenland (1900) Dieser Roman 17 handelt von Andreas Zumsee, einem Studenten, und seinem Aufstieg in die großbürgerlichen Kreise Berlins, in deren Mittelpunkt das einflußreiche Industriellenpaar Türkheimer steht. Im achten Kapitel wird von der Aufführung des fiktiven Sozialdramas Rache erzählt, dem eben diese Gesellschaftsschicht als Publikum beiwohnt: »Die Szene war im preußischen Osten, in einem kleinen Industrieort, den ein Fabrikdirektor und seine Gattin beherrschten.« (608) Theaterstück und Romangeschehen gleichen sich inhaltlich. Das Publikum sieht sich mit seinen eigenen gesellschaftlichen Verhältnissen auf der Bühne
16
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In Hoffnungslose Geschlechter findet sich noch jene metaphysische Konnotation des Theaters, wie sie in Romanen des späten 18. und frühen 19- Jahrhunderts vorkommt. Am Ende der Episode überblickt William noch einmal den Raum: »Er sah nur diesen Raum, in dem er soviel gelitten hatte, die Menschen, die in sein Leben verwebt waren, und es kam ihm vor, als ob die Fäden seines Schicksals dicht, ganz dicht und unlöslich fest über den Saal gespannt wären, zu einem Netze, das sein Glück gefangen hatte ...« (205). Heinrich Mann: Im Schlaraffenland, Düsseldorf 1976. Die im folgenden in Klammern angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf diese Ausgabe.
176
5. Ergänzende Textbeispiele aus der europäischen Literatur
konfrontiert. 18 Im weiteren Verlauf der Aufführung wird vom erfolgreichen Freiheitskampf der unterdrückten Arbeiter berichtet, der in einer »Morgenröte der Menschengüte«, in einer »Apotheose des Proletariats« (622) gipfelt: Dies alles geschah mit so hinreißender Echtheit, daß die Zuschauer erbebten in einem ungemein reizvollen Grausen. [...] Mehrere Proletarier, im letzten Stadium der Tuberkulose, schleppten zwei unverletzte Frauen unter viehischem Brunstgebrülle hinter das nahe Gebüsch. Die Damen in den Logen erhoben sich von ihren Sitzen, um über die Sträucher wegzusehen, vollständig überzeugt, daß hinter der Szene weitergespielt werde. Die Illusion war so stark, daß einige Empfindliche sich das Taschentuch vor die Nase hielten. Aber die meisten der fleischigen Brünetten auf den Rängen [...] schlossen die Augen in der Hingebung des Genusses, und ihre leidenschaftlichen Nüstern öffneten sich weit und schwarz in den von matter, feuchter Blässe bedeckten Gesichtern. [...] Als endlich das Zeichen zum Applaus gegeben wurde, hatte die W u t ihrer aufgepeitschten Instinkte sie bereits so entkräftet, daß sie kaum noch die Hände zu erheben vermochten. An Hälsen und Nacken perlten große Tropfen, der säuerliche Duft ihrer Transpiration vermischte sich mit den schweren Wohlgerüchen. (621/22)
So wie sich die gesellschaftlichen Verhältnisse auf und außerhalb der Bühne gleichen, entsprechen sich auch Aktion und Reaktion innerhalb des Theaters. Auf die hauptsächlich physischen Anstrengungen der Bühnenakteure reagieren die Zuschauer eben so: mit Körpersignalen. Dem auf der Bühne bloß gespielten Zustand der Erregung steht allerdings die tatsächliche Erregung im Zuschauerraum gegenüber. Das Bühnenspiel funktioniert zuallererst als Stimulation der Sinne und vor allem der Instinkte des Publikums, weil die gemimten Vorgänge den Anschein von Realität erwecken. Erzählt wird von der Rezeption eines stark illusionistischen, naturalistisch aufgeführten Stücks mit sozialpolitischem Anliegen. Die Reaktionen des Publikums auf das Bühnengeschehen werden von einem Erzähler vermittelt, der sich offenbar die Perspektive der Zuschauer zu eigen macht. Da ist von »hinreißender Echheit« die Rede und von »ungemein reizvollen Grausen«. Dieser Blickwinkel ist dem Stück jedoch völlig unangemessen, wohnen die Zuschauer doch dem inszenierten Untergang einer Gesellschaftsschicht bei, der sie selbst angehören. Ein bourgeoises Publikum amüsiert sich über Ereignisse, die eigentlich das Gegenteil bewirken sollten: »Es war eine Szene, der niemand widerstand. Der Racheschrei des ausgesogenen, geschändeten Volkes ging durch das ganze Haus. Er durchschüttelte die Damen, daß ihre Brillanten klirrten. [...] Die Millionäre auf den Stehplätzen schrien da capo.« (619/10) Auch in diesem Roman kollidieren Bühnenspiel und Romangeschehen. Allerdings — und dies ist die differentia specifica dieser Variante erzählten Thea-
18
Zahlreiche weitere Parallelen sind im sozialen Gefiige von Dramenpersonal und Romanfiguren angelegt, etwa die Liebschaften zwischen Industriellen und Dienstboten und namentlich das Verhältnis von Frau Türkheimer zu dem mittellosen Studenten Zumsee, auf das zurückzukommen sein wird. Monika Hocker listet diese Parallelen in ihrer Arbeit detailliert auf.
5.3. Heinrich Manns Im Schlaraffenland (1900)
177
ters - gerade dadurch, daß es zu keiner unmittelbaren Konfrontation kommt. Die Distanz des Publikums zum Stück ist in dieser Episode nicht zu gering, sondern zu groß -
so groß, daß nicht erkannt wird, was man da eigentlich
betrachtet. D e m Schauspiel wird ein formelhafter Bewertungskatalog übergestülpt, der von »Michelangelesk« ( 6 1 1 ) bis zur Einschätzung » W i e pikant« ( 6 1 9 ) reicht, das Stück also nie angemessen zu erfassen vermag. Inlusion wird hier pervertiert: Das Publikum leidet mit den unterdrückten Arbeitern, 1 9 wo es doch eigentlich seine eigene Position in einem kritischen Spiegel erblicken sollte. Der einzige Effekt, den Rache zu bewirken vermag, ist Sensationsgier. Diese Haltung scheint der Erzähler, wie gesagt, zu teilen, indem er die formelhafte Sprache seiner Figuren übernimmt. D e m panoramahaften Blick auf das Publikum und seiner Rezeption des Bühnenspiels sind Passagen eingefügt, welche die Hauptfiguren des Romans in ihrer Loge zeigen. Dort hat sich Andreas Zumsee heimlich m i t der Industriellengattin Adelheid Türkheimer zum Stelldichein verabredet: Er nahm Frau Türkheimers mit Pelz gefutterten Umhang und spannte ihn von der Logenwand so geschickt bis über die Brüstung aus, daß in den Winkel, wo die Dame saß, kein indiskreter Blick einzudringen vermochte. [...] »Oh, Adelheid! Laß mich dich immerfort so lieben, hier sind wir endlich glücklich.« Gleich darauf schienen ihm diese Worte schlecht gewählt. In einer Theaterloge in Frau Türkheimers Armen zu ruhen, war ein Glück, das offenbar nicht von Dauer sein konnte. (617) Hier dringt nur der indiskrete Blick der Leser zum Geschehen vor. Der Erzähler läßt sie an den Liebesbemühungen der Romanfiguren teilhaben, die selbst wie ein Bühnenstück wirken. In der Sprache des Theaters stößt Zumsee seinen pathetischen Liebesschwur aus, der hernach konterkariert wird. Im Privaten wie in der Öffentlichkeit werden sprachliche Formeln aufgesagt, die mit der tatsächlichen Situation nicht übereinstimmen, werden Instinkte nur mühsam durch Worte verdeckt. Komplementär zu den kollektiven Leidenschaften
-
den gemimten Wutausbrüchen auf der Bühne und der tatsächlichen Erregung im Publikum — wird hier eine individuelle, private Form der Passion vorgeführt, die auf ähnliche Weise funktioniert. Der aufgesagten Formel steht die eigentliche Gefuhlslage entgegen. Zuhause läßt der Student das auf der Bühne Gesehene und das in der Loge Geschehene noch einmal Revue passieren: »Daß er von Frau Türkheimer Besitz ergreifen sollte, kam ihm wie eine tragische Rache vor. Er rächte sich und ein ganzes Volk an ihr und ihresgleichen.« ( 6 2 4 ) D a ß dem nicht so ist, wird im weiteren Verlauf des Romans erzählt. Während sich Gesellschaftsschicht, Ort und Situation gleichen, verlaufen Bühnen- und Romanhandlung geradezu kon-
19
Vgl. auch S. 621: »Erwacht, stürzten sie sich mit Geheul auf ihre Opfer, auf die Bourgeois, ihre Quäler, ihre Aussauger und Mörder, die endlich in ihre Gewalt gegeben waren.«
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5. Ergänzende Textbeispiele aus der europäischen Literatur
trär. Im Stück stürzt die unterdrückte Arbeiterschaft die Bourgeoisie, während diese in der Romanwirklichkeit ihre Macht behält. Was im Theater trotz Einsatz großer Menschenmassen und raffinierter Lichtregie fehlschlägt, gelingt auch dem Individuum Zumsee außerhalb des Theaters nicht. So wie das Schauspiel von der Bourgeosie vereinnahmt und in ein bloßes Stimulus der Instinkte transformiert wird, zieht die Industriellengattin den anfangs kritischen Studenten auf ihre Seite. Rothe wird im Theater wie im Leben der Romanfigur zur Makulatur. Zweierlei wird bei Heinrich Mann dadurch hinterfragt, daß Bühnen- und Romangeschehen in einem komplexen Wechselspiel von Nähe und Ferne stehen: Zunächst die auf hohe Illusionswirkung bedachten Inszenierungen naturalistischer Dramen und ihre Eigenart, physische Prozesse vorzufuhren. Diese Akzentuierung wird durch die epische Vermittlung derart überbetont, daß sie komisch wirkt: 20 »Vor verzweifelter Wut hatten viele roten Schaum vor dem Munde, und es ward auf der Bühne mehr gehustet als gesprochen« (609) heißt es da, und an anderer Stelle: »Die Wartezeit, bis weitere Ereignisse eintraten, ward von dem Röcheln der Kranken ausgefüllt.« (609) Dann die Darstellungsweise naturalistischer Romane, wie etwa die Zolas in Nana. Analog zur Uberbetonung körperlicher Aktionen auf der Bühne werden auch die Reaktionen des Publikums überakzentuiert. Diesen Eindruck verstärkt die epische Perspektive auf das Stück. Wo Zolas Erzähler distanziert und medizinisch untersuchend eine Krankengeschichte des Publikums vermittelt, zeigt sich Heinrich Manns Erzähler selbst infiziert. Er nimmt wie seine anfänglich kritische Hauptfigur Zumsee den Blickwinkel jener Gesellschaftsschicht an, die auf der Bühne gestürzt wird, innerhalb der Romanhandlung aber ihre Macht behält und das Gesehene lediglich als Stimulus benutzt. Die Theaterepisode verweist so auf die Erzählkunst. Auch die Leser werden dem Verdacht ausgesetzt, sie hätten es nur auf Sensationen abgesehen. Mit dem Scheitern des erzählten Sozialdramas wird ein mögliches Scheitern der Erzählung selbst angedeutet und namentlich jener Romane, die wie das Stück der naturalistischen Darstellungsweise verpflichtet sind. Die gesellschaftliche Nähe von Bühnenstück und Publikum, von der Im Schlaraffenland erzählt wird, gilt ja auch für den Roman und sein überwiegend bürgerliches Lesepublikum. Bei Heinrich Mann wird also episch die Frage aufgeworfen, ob naturalistische Romane bei ihren Lesern dieselbe Sensationsgier auslösen wie das erzählte Sozialdrama bei
20
Überdies ist von riesigen Volksmassen die Rede, die sich in Kirchen und Fabriken Barrikadenkämpfe liefern. In der letzten Szene wird gar ein ganzer Eisenbahnzug auf der Bühne eingesetzt, was in einem realen Theater unmöglich wäre. Die Akzentuierung körperlicher Aktionen und Reaktionen wirkt ebenso übertrieben wie die Lichtregie auf der Bühne. Ein »bengalisches Rot« flammt auf, zunächst als »Widerschein von Feuersbrünsten«, dann, wie gesagt, als »Morgenröte der Menschengüte« und »Apotheose des Proletariats« (622).
5.4· Heinrich Manns Die Jagd nach Liebe (1903)
179
den Romanfiguren; ob ihre Wirkung genauso wie die von Rache verpufft; oder grundsätzlich: ob das dargestellte ästhetische Modell so funktioniert wie die Kunstform, die davon erzählt.21
5.4. Heinrich Manns Die Jagd
nach Liebe (1903)
Auf der Jagd nach Liebe befindet sich vor allem der reiche Lebemann Claude, eine der beiden Hauptfiguren des Romans.22 Sein Wunsch nach einer engeren Verbindung mit der Schauspielerin Ute, die ausschließlich fur ihre Theaterkarriere lebt, wird immer wieder enttäuscht. Nachdem Claude von Ute endgültig zurückgewiesen worden ist, reist er am Ende des Romans nach Italien, wo er einer Aufführung von Puccinis Manon Lescaut beiwohnt: [ . . . ] der dritte Akt hatte begonnen. Des Grieux, im Mantel, stand unterm Kerkerfenster. An die Eisenstäbe drückte sich Manons weißes Gesicht. [ . . . ] Die Musik schlug in den Saal, heiß und süß. Und ganz oben, auf ihrer leidenschaftlichen Schwellung schwebten die beiden Stimmen wie zwei Engel auf einer geballten Wolke. [ . . . ] Des Grieux bedrohte den Kommandanten. Dann lag er ihm flehend zu Füßen. Endlich ward es ihm vergönnt, mitzufahren, den Einöden Amerikas entgegen und den Hütten der Verbannten — einem Elend zu, in das Manons Glieder und ihre Blicke Paradiese bauten. Ein Chor von Stimmen krönte ihr Glück. Claude saß da, gesenkten Blicks. Er hatte mit Ute dahin zu ziehen gewünscht, wie dieser, in bebende Weiten von Meer und Himmel. Sie war allein gegangen, in die Einöde ihrer Künstlichkeit. Das Segel war den Horizont hinabgestiegen, Claude saß am Strande. Der Vorhang hob sich [ . . . ] . (401)
Claude vergleicht sein eigenes Leben mit dem der Bühnenfiguren. Er rezipiert Puccinis Oper vor der Folie seiner einseitigen Leidenschaft zu Ute, die mit der gegenseitigen Zuneigung auf der Bühne kontrastiert. Die Syntax seiner erlebten Rede verdeutlicht, daß er sich von der Wikung des Stücks vereinnahmen läßt. Ihre asyndetischen Staccatoschübe entsprechen der dargebotenen Opernmusik. Claudes intensive persönliche Anteilnahme am Bühnengeschehen zeigt sich zudem an der subjektiv gefärbten Widergabe der Opernhandlung: »Endlich ward es ihm vergönnt [...]« leidet Claude im Parkett mit Des Grieux auf der Bühne.
21
22
Vgl. auch die Anmerkung von Monika Hocker, S. 104: »Die vom Naturalismus bevorzugte Darstellung des Niedrigen, Unschönen, Häßlichen, Triebhaften, wird in der epischen Schilderung von Rache durch die Darstellung exzessiver Grausamkeit und Wollust übersteigert. Hierbei zielt die Kritik nicht nur auf das Drama, sondern auch auf den Roman des Naturalismus, indem die epische Schilderung der dramatischen Handlung sich des Reportage-Stils bedient.« Eine detaillierte Interpretation der Aufführung von Rache findet sich zudem in: Ludger Claßen: Satirisches Erzählen im 20. Jahrhundert, München 1985, S. 5 9 - 6 4 . Heinrich Mann: Die Jagd nach Liebe, Düsseldorf 1976. Die im folgenden in Klammern angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf diese Ausgabe.
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5. Ergänzende Textbeispiele aus der europäischen Literatur
Auch in dieser Episode wendet der Zuschauer seinen Blick vom Bühnenspiel ab, um das Gesehene nach innen, in die eigene Vorstellungs- und Lebenswelt zu verlagern. Seine Gedanken springen, analog zur Musik der Oper, unvermittelt hin und her. Auf dieses Changieren zwischen Bühnenspiel und eigenem Leben weist auch die wechselnde Funktion der deiktischen Pronomen. »Dahin« bezieht sich auf Ute und Claude, 23 während »wie dieser« den Bezug zur Bühnenfigur kennzeichnet. Auf diese Weise werden Parallelen von Bühnenspiel und Lebenswirklichkeit konstruiert, die zeigen, warum und wie der Zuschauer im weiteren Verlauf der Aufführung seine Wünsche auf die Oper projiziert. Daß zwischen Wunsch und Wirklichkeit eine erhebliche Diskrepanz besteht, haben die Leser allerdings längst erfahren. Ute erwidert im Gegensatz zu Manon auf der Bühne die Liebe ihres Verehrers nicht. Claude mangelt es gerade an jener Entschlossenheit und an jenem Mut, welche die Opernfigur Des Grieux auszeichnen, mit der er sich vergleicht. Stets zögert und zaudert er, wenn es darum geht, zu handeln: nicht nur im Hinblick auf Ute, sondern auch in wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fragen. Am Ende der Aufführung begegnet Claude seiner ehemaligen Liebhaberin, der Schauspielerin Gilda Franchini, Konkurrentin von Ute auf und hinter der Bühne: Claude blieb im Parkett stehn, klatschte ohne zu wissen, und gelangte mit den Letzten an die Garderobe. Im Gedränge am Ausgang starrte er lange auf das weiß- und mattglänzende Oval eines Frauengesichtes, worin sich weit zwei schwarze Augen öffneten. [ . . . ] Claude dachte dabei nur an Manon. Da traf ihn ein Blick: die Franchini! [...] In Claudes Gedächtnis hatte sich ein Vorhang geteilt. Eine Nacht, seine einzige Nacht, lag im roten Glanz dahinter. Die Gebärden der Franchini, ihren Mund, dessen Röte schrie, noch ehe er sich öffnete, er erblickte sie am Ende jeder engen Gasse [...].
(403)
Das Verhältnis von Sehen und Gesehenwerden kehrt sich hier um. Während Claude das Schicksal der Bühnenfigur Manon verfolgt hat, wird er nun, nach Vorstellungsende, selbst beobachtet. Die Blicke der Franchini lösen bei Claude einen Erinnerungsprozeß aus, der analog zur Scheinwerferführung im Theater funktioniert. Wenn der Zuschauer zum Objekt der Betrachtung wird, erscheinen seine — wenngleich bloß psychischen — Aktivitäten wie das dargebotene szenische Spiel. Claudes innere Bühne - ausdrücklich ist von einem Vorhang die Rede - wird von rotem Licht illuminiert. Dieses Licht erinnert einerseits 23
Hier klingt der Topos der ästhetisch motivierten Reise nach Italien an. Nicht zufallig erinnert die Kapitelüberschrift Manon - der Nachname Lescaut fehlt - an Goethes Figur Mignon, die in Wilhelm Meisters Lehrjahre vom Aufbruch ins Land der blühenden Zitronen singt (»dahin ziehen« kann als wörtliche Anspielung verstanden werden). Bei Heinrich Mann dient der Aufbruch nach Italien - von Goethe bis in die Romantik häufig zur künstlerischen Selbstfindung unternommen - allerdings nur noch als mißglückter, trügerischer Versuch der Realitätssubstitution. Dort wird kulturgeographisch gebündelt, was Claude psychisch vermißt: Wärme und Leidenschaft.
5-4- Heinrich Manns Die Jagd nach Liebe (1903)
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an die roten Lippen der Franchini, andererseits aber auch an Manons Todesszene: » [ . . . ] aus dieser von Manons Sterben ganz rot bestrahlten W ü s t e « (402). Die Mittel des Theaters werden hier in doppelter Weise von der Erzählkunst vereinnahmt: Die Bühnentechnik mit ihrem von den Scheinwerfern erzeugten (roten) Licht wird analog zur Leitmotivtechnik in Puccinis Oper genutzt, um von jenen weiblichen Stellvertretern zu erzählen, welche die unerreichbare Ute ersetzen: die Bühnenfigur Manon und die reale Gilda Franchini. Dieses Verfahren wird gleich zu Beginn des Romans entworfen. Die Jagd nach Liebe fängt mit dem Satz an: »In Utes rotes Haar stieß ein einzelner Sonnenstrahl einen metallischen Glanz, als sei er ein Dolchstoß.« (5) Der Roman wird mit der Evokation des Sonnenlichts eröffnet, das Utes Haare beleuchtet. Metaphorisch, wenn von einem Dolchstoß die Rede ist, deutet der Erzähler bereits an dieser Stelle eine mögliche Katastrophe an. Mit Claudes Eintreten verschwindet die Sonne: » A m Fenster, von dem die Sonne sich zurückzog, brannten auf dem Plakat eines Künstlerfestes die roten Tänzerinnen.« (13) Utes rote vom Sonnenlicht beschienene Haare sind — als pars-pro-toto — für Claude unerreichbar. Sie werden nachfolgend ersetzt: von Stellvertretern, die, wie Ute selbst, der Welt der Bühne angehören. In der Eingangspassage wird Utes Haar zunächst durch die Plakate, im Laufe des Romans durch die Hauptfigur aus Puccinis Oper und durch Gilda Franchini ersetzt. Mit dem Original verknüpft sind all diese Ersatzlösungen durch Utes Haarfarbe: rot ist die Bühnenbeleuchtung, rot sind die Lippen der Schauspielerin Franchini. Sie nimmt in diesem Roman eine ähnliche Funktion wie Leon in Madame Bovary ein. Stellvertretend für die kühle, abweisende Ute läßt sich Claude auf eine Affäre mit ihr ein, flüchtet sich also wie Emma Bovary in eine Ersatzbefriedigung seiner Wünsche. Allerdings gestaltet sich diese Stellvertreterlösung bei Heinrich Mann komplexer. Claude ersetzt nicht bloß ein unerreichbares Opernideal durch ein alltagstaugliches Double. Er projiziert vielmehr seine enttäuschte Sehnsucht einerseits auf die Bühnenfiguren Manon und Des Grieux. Andererseits wird — als reale Potenzierung des fiktiven Doubles - die leidenschaftliche Bühnenfigur Manon durch eine wirkliche, ebenso leidenschaftliche Person ersetzt, eben die Franchini. Ihre »Blässe« erinnert an Manons »weißes Gesicht« (401), ihre Lippen, wie gesagt, an die Beleuchtung, in der Manon zu sehen ist. Utes Kälte und Distanz stehen also sowohl die reale Leidenschaft der Franchini als auch die gemimten Leidenschaften aus Puccinis Oper gegenüber. Beide fungieren als exemplarische Vertreter eines kulturgeographischen Raumes, der Claude nur Ersatzlösungen bieten kann. Dabei entsprechen sich Kunstform und Geographie, Oper und Herkunftsland ihres Komponisten. Räumlich entspricht die Distanz zwischen Bühne und Zuschauerraum der Distanz zwischen Italien und Claudes Heimat. Zeitlich entspricht die Opernaufführung der Reise nach Italien — beide sind nur von kurzer Dauer, können also die J a g d nach Liebe nicht endgültig beenden. Schließlich
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5· Ergänzende Textbeispiele aus der europäischen Literatur
gleichen sie sich auch qualitativ. Die Opernwelt ist sui generis fiktiv, nämlich szenische Illusion, während sich Claudes Leben in Italien, das er sich ganz anders erhofft hat, als Illusion im Sinne einer (Selbst-)Täuschung erweist: Die Franchini, mit einem Polizisten liiert und in ein Komplott verwickelt, m u ß mit Claude fliehen und stirbt, Claude selbst kehrt an einer Lungenentzündung erkrankt nach Deutschland zurück. Ute besucht ihn ein letztes Mal in seinem Sterbezimmer: »Ute machte zwei Schritte, nach vorn geworfen vom Entsetzen. Sie ging durch die Sonne; die Sonne vergoldete ihren Nacken, entzauberte [sie!] ihre Hüften, entlockte ihrem Leibe Blütenfarben [...].« (497) Am Anfang und am Ende des Romans wird Ute vom Sonnenlicht bestrahlt: bei ihrer ersten Begegnung mit Claude und bei ihrer letzten. Das Romangeschehen handelt von den Folgen dieser schicksalhaften Begegnung: von den Ersatzlösungen fur Claudes unerfüllte Liebe, die sich im Sinne des Theaters als Zweitbesetzungen erweisen. Der Opposition von tatsächlich verehrter Person und ihren Stellvertretern entspricht die epische Beleuchtung. Das artifizielle rote Licht der Operninszenierung wird von den Sonnenlichtpassagen zu Beginn und am Ende des Romans umklammert. Die Geschichte von Claudes unerfüllter Liebe zu Ute basiert auf dem Kontrast von Sonnen- und Bühnenlicht. Das Sonnenlicht durchleuchtet am Ende des Romans Claudes im Bühnenlicht entworfene Illusionen und zerstört sie, indem es die ganz anders geartete Realität beleuchtet. Dabei kehrt sich Claudes Relation zu den Bühnenfiguren geradezu um. Während er sich selbst stets mit Des Grieux vergleicht, ähnelt sein Schicksal schließlich dem Manons. Während in der Oper die Geliebte stirbt und ihr Liebhaber weiterlebt, überdauert Ute ihren Verehrer. Claude applaudiert in Italien einer Szene, die sich fur ihn am Ende der Romanhandlung in seiner Heimat wiederholt — aber ohne das Pathos und die Überhöhung des Bühnenspiels. Ahlich wie bei Flaubert wird auch hier dem idealisierten Bühnentod die brutale Köperlichkeit des Sterbens mit all ihren Begleiterscheinungen in der Romanwirklichkeit entgegengesetzt. Claude leidet an den H u stenanfällen einer Lungenerkrankung. Sein Sterbezimmer ist dunkel, die Fenster sind verhangen, während Manons Tod von den Bühnenscheinwerfern in rotes Licht gehüllt, also durch eine spezielle Farbwahl als ästhetische Inszenierung gekennzeichnet wird. An den Beleuchtungsverhältnissen zeigt sich die Diskrepanz von Theater und realer Welt vielleicht am deutlichsten: Claudes vergebliche Versuche, Ute zu ersetzen, werden im Roman als illusorische Fiktionen markiert, indem die Bühnenbeleuchtung leitmotivisch auf die epische Gestaltung eben dieser Versuche übertragen wird. Claude wird vom Theater enttäuscht, weil er von dem, was er auf der Bühne sieht, unzulässige, dem Spielbewußtsein zuwiderlaufende Rückschlüsse auf sein eigenes Leben zieht. Mit Ute verhält es sich anders. Wie Dorian Gray und Lord Henry betrachtet sie das Leben als Schauspiel: nicht metaphorisch, sondern
5.5. Dezsö Kosztolänyis Lerche (1928)
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realiter. Ihr Leben ist das Spiel auf der Bühne. Allerdings ist es Ute unmöglich, dieses Ideal zu verwirklichen. Sie muß sich letztlich wie Claude mit Ersatzlösungen zufrieden geben. Rollen werden über Beziehungen, Geld oder Prostitution erworben, die Spielpläne richten sich häufig nach Publikumswirksamkeit und Ökonomie, die Konkurrenz unter den Schauspielern ist groß. Wie Claude wird auch Ute stets enttäuscht, aber aus anderen Gründen. Sie schätzt nicht die aufgeführten Fiktionen falsch ein, sondern jenes Sozialgefiige, das sie produziert. Auch Utes Desillusion wird am Beispiel einer Theateraufführung erzählt. Im elften Kapitel des Romans muß sie in einer drittklassigen Komödie mit dem Titel Die rosaseidenen Hoschen die Hauptrolle spielen. Bei dieser Aufführung werden vor allem die gesellschaftlichen Implikationen des Theaters ausgebreitet. Grundstücksspekulanten haben die finanzielle Katastrophe vorausgesehen und profitieren davon.24 Es ist dies Utes erster und letzter Auftritt in dem von Claude eigens für sie erbauten Theater, das bereits bei seiner Eröffnung dem Ruin geweiht ist. Der konfliktreichen Relation der beiden Hauptfiguren entspricht ihr jeweils ebenso problematisches Verhältnis zur Bühne. Sowohl Claude als auch Ute werden aufgrund ihrer spezifischen Haltung zum Theater immer wieder aufs Neue desillusioniert. Heinrich Mann erzählt in seinem Roman eigentlich von den zwei Gesichtern des Theaters: am Lebensweg zweier Figuren, die genauso untrennbar verknüpft sind wie der sozioökonomische und der künstlerische Aspekt der Bühne. Am Schicksal von Claude zeigt sich die ästhetische, illusionistische, am Schicksal von Ute die gesellschaftliche Seite von Bühnenkunst.
5.5. Dezsö Kosztolänyis Lerche ( 1 9 2 8 ) Erzählt 25 wird eine Episode aus dem Leben der Familie Vajkay, deren einzige Tochter, genannt Lerche, die Eltern erstmals für einige Tage verläßt, um die Ferien — obwohl schon lange erwachsen — bei Verwandten zu verbringen. In
24
25
Wenn die Bühnenwelt in Romanen der Jahrhundertwende immer wieder als Ersatzwelt, als Zufluchtsort des Künstlers vor einer als unbefriedigend empfundenen Wirklichkeit bezeichnet wird (etwa bei Ettinger, S. 457ff., über Theaterwelt versus Bürgerwelf. »Als ästhetische Gegenwelt zum gemeinen bürgerlichen Alltagsleben verbindet sich der Theaterbereich mit Spiel, Fest und Kindheit.«), trifft dies für Heinrich Manns Roman gerade nicht zu. Utes Wunsch, in die »Einöde ihrer Künstlichkeit« zu flüchten, wird ein ums andere Mal vereitelt und mit unbefriedigenden Ersatzlösungen kompensiert. Ihr wird das Theater nicht zum erhofften Refugium des Künstlers. Die Welt der Bühne präsentiert sich vielmehr als Milieu, in dem die Kunst keine bedeutende Rolle spielt. Dezsö Kosztolanyi: Lerche, dtsch. von Klaus Schmuck, Leipzig 1976. Die im folgenden in Klammern angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf diese Ausgabe.
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5. Ergänzende Textbeispiele aus der europäischen
Literatur
dieser Zeit nehmen die alten Vajkays ihr bis dahin wegen Lerche vernachlässigtes gesellschaftliches Leben wieder auf und besuchen abends das Theater. Gespielt wird eine Operette, Die Geisha,26 deren Hauptdarstellerin Olga Orosz am Ende des Theaterkapitels ihren großen Auftritt hat: Gesang konnte man das nicht nennen, was sie da von sich gab, sie trällerte und krächzte lässig durcheinander. Und dennoch stierten Schauspieler und Zuschauer sie an. Es schien so, als wären ihr alle verfallen. Gibt es Gerechtigkeit? Blumen fielen auf diese lüsterne Erzhure nieder, die eigentlich in Pech und Schwefel umkommen müßte! Diese abscheuliche Person! Alle wußten um ihren unmoralischen Lebenswandel, ihre schmutzigen Affären, ihre Käuflichkeit [...]. Wen aber kümmerte das? Sie wird umschwärmt, ihr gehört alles, ihr, der großen Dame. Sie gilt mehr als Sanftmut und Güte, man liebt sie, die keiner Liebe wert ist, die alles Schöne und Erhabene verhöhnt. Es gibt keine Gerechtigkeit, es gibt keine Gerechtigkeit! Äkos, der das Glas auf Olga Orosz gerichtet hielt, dachte darüber nach, wie er sich wohl verhalten würde, wenn er sie einmal treffen sollte; den Kopf wegwenden, sie mit den Augen abschätzen, einfach ausspucken vor ihr? (72) Die Perspektive des Zuschauers auf das Stück ist zweifach eingeschränkt. Zunächst technisch durch das Sichtfeld des Opernglases. So wie hier ist in der gesamten Theaterepisode von jenem Hilfsmittel die Rede, das Äkos Vajkay benutzt, um sich dem Geschehen auf der Bühne optisch zu nähern. Diese Fokusierung folgt stets demselben Schema: Nachdem Kosztolänyis Erzähler kurz erläutert hat, wen oder was der Zuschauer durch sein Opernglas sieht, wird davon hernach in erlebter Rede berichtet. 27 26
27
Es handelt sich, wie im Roman angegeben, um The Geisha. Α Story of a Tea House: A Japanese Musical Play in Two Acts von Sidney Jones, Text: Harry Greenbank und Buch: Owen Hall, uraufgeführt 1896 in London. Vgl. dazu Pipers Musikenzyklopädie, Bd. 3, S. 2l4ff. »Äkos bat seine Frau um das Opernglas. Er wollte alles besser sehen können. Sofort flog die Primadonna in die kristallnen Kreise des Fernglases hinein.« (65) An anderer Stelle heißt es: »Mimose gab den Jungen nicht frei, umarmte ihn schamlos. Ja, diese Person schämte sich gar nicht! Lange ruhten die Lippen aufeinander, verschlangen wollüstig die Herrlichkeit. [ . . . ] Äkos hatte sich das Bild so nahe herangeholt, daß er zusammenfuhr. Er legte das Glas weg und blickte mißbilligend und finster seine Frau an [...].« (67) Dieses Verfahren funktioniert also auch umgekehrt: Zuerst wird von Äkos Sicht der Dinge berichtet und dann vom Fernglas gesprochen. In anderen Romanen, etwa Leo Tolstois Anna Karenina (1878), wird mit ähnlichen Mitteln gearbeitet. Bei Tolstoi avanciert der gesellschaftliche Aspekt des Theaters gar zum exklusiven Sujet. Das Bühnenspiel wird nicht einmal erwähnt, wenn die Hauptfigur Wronski das Theater betritt. Der Erzähler folgt vielmehr dem Blick Wronskis, der sich eines Opernglases bedient, um die Logen nach Anna abzusuchen. Die Zuschauer ersetzen auf diese Weise die Bühnenakteure. Annas Verhalten im Sichtkreis der Vergrößerungslinsen wird ausdrücklich als Schauspiel, als »Rolle, die sie sich auferlegt hatte« bezeichnet. Die Kommunikationssituation des Theaters kehrt sich also um. Der Blick des Zuschauers richtet sich auf seinesgleichen. Mit einem optischen Hilfsmittel, dem Opernglas erblickt Wronski ein Gesellschaftspanorama, das von sozialem Rollenspiel geprägt ist. Auf diese Weise deutet Tolstoi an, was sich als Quintessenz zahlreicher Theaterepisoden herauskristallisiert hat: daß das eigentliche Stück im Publikum aufgeführt wird. Leo Tolstoi: Anna Karenina, deutsch von Hermann Asemissen, Stuttgart 1985, S. 668.
5.5. Dezsö Kosztolanyis Lerche
(1928)
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Dann psychologisch: Äkos Fernglas dient ihm als Machtinstrument. Der Zuschauer kann die Figuren aus dem Bühnenspiel nach Belieben ausschneiden, um sie zu verkleinern oder zu vergrößern. Dies nutzt Äkos, um die Primadonna über sein Fernglas auf die optische Anklagebank zu setzen und sich selbst zum Ankläger aufzuschwingen. In einem pathetisch anmutenden, moralisch gefärbten inneren Monolog wirft er der Bühnenakteurin sittliches Fehlverhalten vor. Auf den ans Publikum gerichteten Gesang der Primadonna reagiert der Zuschauer mit einer an die Bühne adressierten Erwiderung, die sprachlich wie ein Bühnenmonolog, inhaltlich wie eine Sittenpredigt daherkommt. So wie das Sichtfeld des Opernglases begrenzt und perspektivisch verzerrt ist, erweist sich also auch die Rezeption der Hauptfigur, die sich eben dieses Instrumentes eifrig bedient. Akos Vajkay rezipiert das Bühnenspiel unangemessen, weil er es nicht mit den Regeln des Spiels bemißt. Er vermischt Rolle und Person der Sängerin, indem er ihr Verhalten auf der Bühne mit dem in der Wirklichkeit gleichsetzt. 28 Als Zuschauer projiziert er einen außerästhetischen Sittenkatalog auf das Stück und zieht auf diese Weise Parallelen vom Bühnengeschehen zu seinem eigenen Leben: Äkos Ruf nach Gerechtigkeit bezieht sich auf Lerche. Wenn er von Olga Orosz sagt, »Sie gilt mehr als Sanftmut und Güte«, vergleicht er die Sängerin mit seiner Tochter. Lerche ist sanftmütig und gütig — aber häßlich und ohne Charme, sie wird daher kaum beachtet und hat keine Verehrer. Dieser Vergleich zwischen Tochter und Bühnenakteurin basiert zunächst, ex negative, auf der rezipierten musikalischen Darbietung. Die Primadonna beherrscht die Kunst des Gesangs gerade nicht, so wie man es von ihr erwarten würde, sondern »trällerte und krächzte« wie ein Vogel. Auch Lerche entspricht in keiner Weise dem poetisierten anmutigen Singvogel, dessen Namen sie trägt. Vor dieser Folie werden die Differenzen zwischen den beiden Frauen entwickelt. Äkos bewertet die erotischen Eskapaden auf der Bühne mit den Maßstäben seiner bürgerlichen Moralvorstellungen und vor allem als Vater einer Tochter, die gerade nicht — wie die Figuren auf der Bühne - in amouröse Abenteuer verstrickt ist. 2 9 All dies erweist sich, wie gesagt, am Gebrauch des Fernglases, welches die doppelte Reduktion von Äkos Perspektive versinnbildlicht. Das optische Hilfsmittel des Zuschauers, mit dem Nähe und Ferne zum Bühnenspiel gesteuert 28
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Auch die übrigen Szenen des Bühnenspiels werden wie der Auftritt der Hauptdarstellerin rezipiert. Gleich zu Beginn heißt es, daß Zuschauerraum und Bühne zu einem »Wirrwar« (65) verschmelzen, den die Vajkays nicht »entwirren konnten« (65). Das Ineinandergreifen von Bühnen- und Lebenswelt wird noch verstärkt: durch die Schauspieler, die den Vajkays teilweise persönlich bekannt sind, und durch einen Gang hinter die Kulissen. In der Pause erblickt Äkos das Treiben der Schauspieler, der Journalisten und Direktoren jenseits der Bühne, was ihn — wieder im Zuschauerraum — zu der Bemerkung veranlaßt: »Zuchtloses Treiben, wohin man auch blickte!« (70); also vor und hinter der Bühne. Beim zweiten Akt bemerkt Akos denn auch: »Da [Auf der Bühne; d.Verf.] war ja auch die Geisha, die Papa Feher [in der Pause; d.Verf.] umarmt hatte.« (71)
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5. Ergänzende Textbeispiele aus der europäischen Literatur
werden können, gebraucht aber auch Kosztolanyis Erzähler, um von diesem Vorgang zu berichten. Immer wenn Akos die Primadonna auf der Bühne mit seinem Opernglas fixiert, wird die epische Perspektive auf just diesen Zuschauer gelenkt. Dem panoramahaften Uberblick über das gesellschaftliche Treiben im Sarszeger Theater folgt dann ein Schwenk auf das Innenleben der Hauptfigur, vermittelt in erlebter Rede. Das Spiel mit der Distanz gilt also offenbar sowohl für den Gegenstand der Erzählung als auch für ihre Verfahren. Nach Spielende bekommt Äkos Vajkay die Möglichkeit, das, was er sich im Zuschauerraum vorgenommen hat, in die Tat umzusetzen. Er wird der Primadonna im Foyer vorgestellt: Akos verneigte sich vor der Primadonna [...] Als sie ihm die Hand reichte, ergriff er sie. »Ich gratuliere«, flüsterte er, »Sie waren großartig.« »Oh, nicht doch!« wehrte die Primadonna bescheiden ab. »Aber ja doch, ja! Ich pflege keine leeren Komplimente zu machen [...]« Das etwas fleischige, angenehme Händchen ließ die Hand des Alten nicht sogleich los, erst einige Augenblicke später. (74)
Akos macht gerade das Gegenteil dessen, was er sich im Zuschauerraum ausgedacht hat. Er verbirgt seine (vorgebliche) Empörung hinter Komplimenten. Er verfugt jetzt nicht mehr über das Fernglas, mit dem er die Distanz zur Bühne durch einen optischen Trick überbrücken und die Primadonna nach Belieben in sein Blickfeld holen kann. Die Relation von Zuschauer und Bühnenakteurin hat sich geändert. Mit der räumlichen Distanz schrumpft auch die im Theater ästhetisch festgelegte zwischen Beobachter und Beobachtetem. Akos begegnet Olga im Foyer nicht nur von Angesicht zu Angesicht, sondern berührt sie sogar. Mit dem Fallen der Distanz ändert sich auch Akos Verhalten. Der bloß inneren Verärgerung im Zuschauerraum folgt nun das tatsächlich ausgesprochene Kompliment im Foyer. Dieser Vorgang weist über die Theaterepisode hinaus auf die Gesamtstruktur des Romans, die auf jenem Wechselspiel von Nähe und Ferne beruht, das exemplarisch an Akos Gebrauch des Opernglases durchgespielt wird. Mit der Beziehung des Vaters zu seiner Tochter Lerche verhält es sich - spiegelverkehrt - innerhalb der erzählten Geschichte genauso wie mit der Relation von Zuschauer und Primadonna in der Operettenepisode. Was sich in Zuschauerraum und Foyer allerdings — auch formal ganz im Sinne des Theaters — auf wenige Stunden beziehungsweise einen Augenblick beschränkt, erstreckt sich im Leben der Vajkays — in epischer Breite — über einen langen Zeitraum. Die alltägliche Nähe zu Lerche bewirkt dasselbe Verhalten wie im Foyer: Freundlichkeit und Güte. Die (räumliche) Distanz zur Tochter während der Ferien löst bei ihrem Vater wie im Zuschauerraum zunehmende Verärgerung aus: über ihre Häßlichkeit und ihre ständige Anwesenheit, die es den Eltern vermeintlich nicht gestattet, ihren eigenen Interessen nachzugehen. 30 30
Für die Psychologie der Romanfiguren bedeutet dies: Äkos überspielt seine Faszina-
5.5. Dezsö Kosztolänyis Lerche (1928)
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W i e die anfänglich bezeugte Zuneigung zu Lerche in offene Empörung umschlägt, wie sich eine räumliche Distanz in eine psychische wandelt, eben davon wird in Kosztolänyis Roman erzählt. Diese Entwicklung beginnt m i t der Verabschiedung Lerches am Bahnhof: Nie in seinem Leben hatte er etwas von Frauen verstanden, aber er fühlte, seine Tochter war häßlich. [...] In dieser fast bühnenmäßigen Beleuchtung, in der rosigen Lichtflut, die der Sonnenschirm erzeugte, wurde das erst so richtig offenbar. »Wie eine Raupe unter einem Rosenstrauch«, dachte er. (10) M i t ähnlichen Mitteln wie in der Operettenepisode, also den Mitteln des Theaters, wird die Primadonna als Gegenbild zur Tochter stilisiert. So wie Olga Orosz im Licht der Bühnenscheinwerfer ihre körperlichen Vorzüge entfaltet, zeigen sich im bühnenähnlichen Schimmern des Sonnenschirms Lerches körperliche Mängel. Äkos ist hier wie dort distanzierter Beobachter, der einen beleuchteten Frauenkörper betrachtet. Wenn er abends dem amourösen Treiben der Särszeger J u g e n d im Park beiwohnt, wird dies ebenfalls wie sein Theaterbesuch vermittelt:
»Welcher
Schmutz hier und auf der Bühne, hinter den Kulissen, überall! Olga Orosz und die hier, sie alle zusammen! [ . . . ] Es gibt keine Gerechtigkeit, nein, es gibt keine!« ( 9 4 ) A u f der Bank sitzend, als distanzierter Beobachter wandert Äkos B l i c k auf das Spektakel im Park, während sich die epische Perspektive auf ihn selbst richtet. In erlebter Rede wird von seiner Empörung berichtet, deren Form und deren Formeln der Theaterepisode entsprechen. Auch die Musik der Operette transzendiert den Wirkungskreis des Theaters und wird als Mittel eingesetzt, um den Kontrast von Bühnenakteurin und Tochter zu akzentuieren. Bei einem abendlichen Spaziergang erblickt Äkos die Wohnung der Primadonna. »Unter dem Fenster, das plötzlich im Licht erstrahlte« ( 1 1 4 ) — also wie eine Bühne — spielen drei Zigeuner ein Lied aus der Operette. Äkos versucht, das Lied mitzusummen, es gelingt ihm aber nicht. Also pfeift er eine andere Weise aus der Operette, die »so beginnt: >Häßlich, wahrhaftig garstig . . . The Picture of Dorian Gray< and > Salome Der Untertans In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch N. F.7 (1966), S. 2 0 9 - 2 2 7 . Schivelbusch, Wolfgang: Lichtblicke. Zur Geschichte der künstlichen Helligkeit im 19. Jahrhundert. München 1983. Schmeling, Manfred: Das Spiel im Spiel. Ein Beitrag zur Vergleichenden Literaturkritik. Gütersloh 1977. Schneider, Manfred: Liebe und Betrug. Die Sprachen des Verlangens. München/Wien 1992. Schöpflin, Karin: Theater im Theater. Formen und Funktionen eines dramatischen Phänomens im Wandel. Frankfurt a. M. 1993. Selbmann, Rolf: Theater im Roman. Studien zum Strukturwandel des deutschen Bildungsromans. München 1981. Stanzel, Franz (Hg.): Der englische Roman. Düsseldorf 1969. Stein, Guido: Thomas Mann. Felix Krull — Künstler und Komödiant. Paderborn 1984. Voigt, Joachim: Das Spiel im Spiel. Göttingen 1965. Walter, Michael: »Die Oper ist ein Irrenhaus«. Sozialgeschichte der Oper im 19- Jahrhundert. Stuttgart 1997. Wischmann, Antje: Ästheten und Decadents. Eine Figurenuntersuchung anhand ausgewählter Prosatexte der Autoren H. Bang, J. P. Jacobsen, R. M. Rilke und H. v. Hofmannsthal. Frankfurt a. M. 1991 • Wolf, Werner: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst. Tübingen 1993. Wuthenow, Ralph Rainer: Im Buch die Bücher oder der Held als Leser. Frankfurt a. M. 1980.
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