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German Pages [296] Year 2023
»R EFUGIUM EINER POLITIKFREIEN SPHÄRE«? MUSIK UND GESELLSCHAFT IM RHEINLAND DES 19. UND 20. JAHRHUNDERTS
HELMUT RÖNZ, MARTIN SCHLEMMER, MAIKE SCHMIDT (HG.)
STADT UND GESELLSCHAFT Studien zur Rheinischen Landesgeschichte Herausgegeben vom LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte Band 9
„Refugium einer politikfreien Sphäre“? Musik und Gesellschaft im Rheinland des 19. und 20. Jahrhunderts Eine Publikation anlässlich des 200-jährigen Bestehens des Düsseldorfer Musikvereins e. V.
Herausgegeben von Helmut Rönz, Martin Schlemmer, Maike Schmidt in Verbindung mit Keywan Klaus Münster und Alexander Olenik
Böhlau Verlag Wien Köln
Gedruckt mit Unterstützung des Landschaftsverbands Rheinland.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2023 Böhlau, Lindenstraße 14, D-50674 Köln, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Beethovens Flügel mit Widmung aus der Werkstatt von Broadwood & Sons in London, Foto: unbekannt, undatiert (Beethoven-Haus Bonn, NE 81, Band VI, Nr. 1134 a) Herausgeber: Helmut Rönz, Martin Schlemmer, Maike Schmidt Redaktion: Benjamin Burtz, Marvin Dettenbach, Lavinia Fahnster, Richard Irmler, Keywan Klaus Münster, Alexander Olenik, Anna Maria Ramm, Andrea Rönz, Louise Seven Register: Richard Irmler Korrektorat: Constanze Lehmann, Berlin Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51904-9
Inhalt
Grußwort I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Grußwort II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
Akteure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Übrigens gefall ich mir prächtig hier. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Felix Mendelssohn in seinen Düsseldorfer Jahren 1833–1835 Peter Sühring Der Pianist Karlrobert Kreiten (1916–1943) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Ein Musikerleben im Nationalsozialismus Simone Bornemann Adenauers Musikdiplomaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Kulturpolitische Strategien der Berliner Philharmoniker 1948–1955 Michael Custodis Keine Mittelalterlichen Instrumente? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Kraftwerk als Urknall des Elektropop Karsten Lehl
Räume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Die E-Musik und der Rhein im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Julia Vreden Die Reichsmusiktage in Düsseldorf 1938 und 1939 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Nina Sträter Musik als politischer Faktor im südlichen Rheinland nach dem Zweiten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Andreas Linsenmann Musik und Migration im Ruhrgebiet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Rolf Wörsdörfer
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Inhalt
Kulturträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Krefelder Musiktheater von den Anfängen bis 1921 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Die Gründung eines rheinischen Dreispartenhauses im Spannungsfeld von Kultur, Wirtschaft und Politik Britta Marzi Das musikalische Vereinswesen in Düsseldorf und seine politische Bedeutung . 171 Nina Sträter Die WDR-Archive als Spiegel der Musikförderung durch den Rundfunk . . . . . . 189 Jutta Lambrecht
Impulse und Interventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Vom schwierigen Zugang zum Schönen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Andreas Altenhoff 210 Jahre Musik-Institut Koblenz und fünf Beispiele außermusikalischer Einflüsse auf dessen Wirken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Andreas Pecht 250 Jahre Beethovenstadt Bonn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Verpasste Gelegenheiten und künftige Chancen Stephan Eisel Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Helmut Rönz, Martin Schlemmer, Maike Schmidt Abkürzungen und Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Grußwort I
Liebe Leserinnen und Leser, mit dem Städtischen Musikverein zu Düsseldorf feierte eine der traditionsreichsten bürgerschaftlichen Initiativen der Region im Jahr 2018 ihren 200. Geburtstag. „MusikVereint“ – so lautete das Motto des Jubiläums. Und tatsächlich: Der Jubilar tat dies – das Vereinen – während seines Bestehens immer wieder und pflegt es auch in der Gegenwart eifrig, aus Überzeugung und mit Begeisterung. Er verbindet Jung und Alt, nicht nur im Kreise der im Chor aktiven Sängerinnen und Sänger sowie der zahlreichen fördernden Mitglieder, sondern auch darüber hinaus. Über die Stadtgrenzen Düsseldorfs hinweg engagiert sich der Musikverein unter anderem für den Schulmusikunterricht und in Form der gesanglichen Integrationsarbeit für Flüchtlinge. Selbst unter den erschwerten Bedingungen der Corona-Pandemie schaffte es der Chor, das Vereinsleben mit Engagement und Kreativität aufrechtzuerhalten. Für diese und viele weitere Aktivitäten sei dem Städtischen Musikverein zu Düsseldorf herzlich gedankt. Möge er in seiner Arbeit das Verbindende nicht aus dem Blick verlieren. Auch das Programm der am 9./10. Oktober 2018 im Düsseldorfer Stadtmuseum durchgeführten Tagung griff das Jubiläumsmotto „MusikVereint“ auf: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler kamen über fachliche, geografische und generationale Grenzen hinweg zusammen. Die Themen des Bandes spiegeln das Gesagte in eindrücklicher Weise wider: Vereint werden in einer Art Zusammenschau das 19. und 20. Jahrhundert, sogenannte „E-“ und „U-Musik“, das nördliche und das südliche Rheinland, also der rheinische Landesteil Nordrhein-Westfalens und der nördliche Teil unseres Nachbarbundeslandes Rheinland-Pfalz. Ferner führt dieser Band die Künste, namentlich Musik und Theater, mit der Wissenschaft zusammen – und auch dies geschieht interdisziplinär und grenzüberschreitend. Wenn wir den historischen Kontext berücksichtigen, existiert weder die Musik im Allgemeinen noch der Musikverein im Besonderen in einem „politikfreien Refugium“. Vielmehr bilden äußere Einflüsse und der interne Wettbewerb der Argumente und Ideen einen festen Bestandteil im musikalischen Kultur- und Vereinsleben. Lassen wir uns überraschen, welche Antworten die Beiträge dieses Bandes auf die Frage nach dem Verhältnis von Musik und Politik, von Musik und Gesellschaft im Rheinland der letzten 200 Jahre bereithalten. Wir dürfen uns auf facettenreiche Einblicke in die lebendige rheinische Musikgeschichte freuen.
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Corinna Franz
Allen, die zum Gelingen der Tagung und zur Publikation der Ergebnisse beigetragen haben, gilt mein herzlicher Dank. Dem nun vorliegenden Werk wünsche ich ein breites Lesepublikum. Dr. Corinna Franz, LVR-Dezernentin für Kultur und Landschaftliche Kulturpflege Köln, Juli 2022
Grußwort II
Im Jahr 2018 feierte der Städtische Musikverein zu Düsseldorf unter dem Motto „MusikVereint“ seinen 200. Geburtstag. Mit der Erinnerung an dieses Jubiläum ehrten neben Vereinsmitgliedern auch die interessierte Öffentlichkeit und Kulturszene einen der ältesten gemischten nichtkirchlichen Chöre Deutschlands. Insofern war und ist das Motto Zwischenfazit und Fingerzeig zugleich: Schon immer verband unser Verein Menschen unter dem gemeinsamen Dach der Musik, schon immer kamen hier verschiedene Hintergründe und Interessen zusammen. Es freut mich sehr, dass sich auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlicher Fachdisziplinen am Jubiläumsjahr beteiligten und damit den Boden für das vorliegende Buch bereiteten. Aus der am 9. und 10. Oktober 2018 im Stadtmuseum Düsseldorf durchgeführten Tagung „‚Refugium einer politikfreien Sphäre?‘ – Musik und Gesellschaft im Rheinland des 19. und 20. Jahrhunderts“ ist der gleichnamige Band entstanden. Für die Aufnahme des Buches in die Reihe „Stadt und Gesellschaft. Studien zur rheinischen Landesgeschichte“ danke ich dem Landschaftsverband Rheinland sehr herzlich. Mit dem LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte und dem Stadtmuseum Düsseldorf waren seinerzeit zwei Kooperationspartner gefunden, deren Engagement entscheidend zum Gelingen dieses ambitionierten Vorhabens beitrugen. Zu danken ist hier vor allem unserem ehemaligen Vereinsarchivar Martin Schlemmer sowie dem Team um Helmut Rönz (LVR). Die Tagung, deren Organisation in den Händen des LVR-Instituts lag, lieferte die entscheidenden inhaltlichen Grundlagen und Impulse für den vorliegenden Band. Er basiert auf den im Oktober 2018 gehaltenen Vorträgen und weiteren Beiträgen, die im Anschluss an die diskussionsfreudige Veranstaltung eingeworben wurden. Allen Menschen, die zum Gelingen der Tagung und zum Erscheinen des Buches beigetragen haben, sei hier herzlich gedankt. Mein besonderer Dank richtet sich neben den Herausgeberinnen und Herausgebern, den Beiträgerinnen und Beiträgern sowie dem Stadtmuseum für seine damalige Kooperation an das Redaktionsteam des LVR-Instituts für Landeskunde und Regionalgeschichte für die gründliche und beharrliche Realisierung des Projektes. Manfred Hill, Ehrenvorsitzender des Städtischen Musikvereins zu Düsseldorf e. V. gegr. 1818 Düsseldorf, Juli 2022
Einleitung
„MusikVereint“ – so lautete das Motto des Städtischen Musikvereins zu Düsseldorf im Jubiläumsjahr 2018. Eine diesem Buch zugrunde liegende Tagung untersuchte mit Hilfe der von Rüdiger Ritter geprägten Leitfrage des „Refugiums einer politikfreien Sphäre“, wie es sich mit der Musik und der Gesellschaft im Allgemeinen, mit der Musik und der Politik im Besonderen verhält.1 Handelt es sich bei dem mit dem Jubiläumsmotto nah verwandten Diktum „Musik verbindet“ tatsächlich lediglich um eine „Sprachhülse“, wie Feuilletonredakteur Jan Brachmann seinerzeit in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ konstatierte?2
I. Musik und Politik Die Fragen zur Interdependenz zwischen Musik und Politik sind vielfältig. Der vorliegende Tagungsband fasst die Beiträge in vier Rubriken zusammen: Akteure, Räume, Kulturträger sowie Impulse und Interventionen. Allen Beiträgen gemein ist jedoch die Frage nach der gesellschaftlichen Rolle der Musik, auch im Vergleich zu anderen Künsten im „langen 19.“ und im 20. Jahrhundert. Galt für sie das, was Heinrich Laube um das Jahr 1830 herum dem Schauspiel zuschrieb: Als „Telegraph[] unseres Volkslebens“ eile sie „der langsamen Fahrpost unserer bürgerlichen Freiwerdung voraus“?3 Ließ bzw. lässt sich dies auch auf die Musik übertragen? Rüdiger Ritter bezeichnete die Musik im Deutschland des 19. und frühen 20. Jahrhunderts als „Refugium einer politikfreien Sphäre“, während die Musik in Polen im gleichen Zeitraum „integraler Bestandteil der tagespolitischen Auseinandersetzung“4 gewesen sei. Das Kunstverständ1 Zur Tagung siehe Katzenbach, Lennart, Tagungsbericht „Refugium einer politikfreien Sphäre?“ – Musik und Gesellschaft im Rheinland des 19. und 20. Jahrhunderts, in: H-Soz-Kult, 9.4.2019, abgerufen unter: http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-126780 (abgerufen am 27.6.2022). 2 Brachmann, Jan, Luzern hören und sterben, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 179, 4.8.2018, S. 14. 3 Zitiert nach Košenina, Alexander, Was Deutsche sahen, während ihre Klassiker schrieben, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 179, 4.8.2018), S. 16. 4 Ritter, Rüdiger, Spiegelungen und blinde Flecken: Deutsch-polnische Musikbegegnungen vom 19. Jahrhundert bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, in: Fischer, Erik (Hg.), „Deutsche Musikkultur im östlichen Europa“. Konstellationen – Metamorphosen – Desiderata – Perspektiven (Berichte des interkulturellen Forschungsprojekts „Deutsche Musikkultur im östlichen Europa“, Bd. 4), Stuttgart 2012, S. 68–85, hier S. 73. Vgl. auch die Besprechung dieses Werkes von Hans-Werner Boresch, in: Rheinisch-
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Einleitung
nis der (deutschen) Romantik, wie es Rüdiger Safranski schildert, scheint Ritters Sicht zu bestätigen: „Das Romantische ist phantastisch, erfindungsreich, metaphysisch, imaginär, versucherisch, überschwenglich [sic!], abgründig. Es ist nicht konsenspflichtig, es braucht nicht gemeinschaftsdienlich, ja noch nicht einmal lebensdienlich zu sein. […] Mit alledem ist das Romantische nicht sonderlich für Politik geeignet.“5 Vier Beiträge nähern sich dem Verständnis der Romantik und der Frage nach dem Politischen in der Musik, vor allem aber auch in der Musikorganisation. Andreas Pecht schreibt über das Koblenzer Musikinstitut, Julia Vreden geht der Frage nach der Verortung des Rheins in der Musik des 19. Jahrhunderts nach – also einer durchaus politischen Frage, auch wenn Johannes Burkhard konstatierte, dass Wagners Rhein die Elbe war.6 Nina Sträter bereichert diesen Band mit einem Beitrag über die Reichsmusiktage in Düsseldorf 1938 und 1939. Britta Marzi skizziert die Geschichte des Krefelder Musiktheaters von den Anfängen bis in das Jahr 1921. Um noch einmal auf die Romantik zu sprechen zu kommen: Diente die Musik tatsächlich als „Refugium“, als „politikfreie“ oder zumindest „politikferne Oase“, in die man sich zwecks Ausübung beziehungsweise Genuss des „Wahren, Guten, Schönen“ zurückziehen konnte? War die Hausmusik in bürgerlichem Hause ein apolitischer Vorgang oder vielleicht doch eher die Markierung eines Status und damit ja durchaus politisch im Sinne Pierre Bourdieus als „Raum der Lebensstile“7? Dient Musik nicht vielmehr als „Ort“ und Quell von Politisierung oder gar Mobilisierung? Oder sollte der Kritiker der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ Recht behalten, der die „Essener Songtage“, die zwischen dem 25. und dem 29. September 1968 über das Politische in der Kunst sinnierten und die „als Gründungsmoment der deutschen Rockmusik“8 gelten, mit den Worten kommentierte: „Wann werden sie merken, dass sie nicht singen, sondern Politik machen müssen, wenn sie Politik machen wollen?“9 Ist Botho Strauß zuzustimmen, wenn er zugespitzt formuliert: „Die Kultur ist leer, weil sie politisiert wurde, die Politik ist vergiftet, weil sie kulturlos wurde“10? Wie halten wir es bezogen auf die (klassische) Musik mit Oswald Wieners Diktum: „es gibt kaum etwas lächerlicheres als den optischen und akustischen anblick eines orchesters, produkt
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westfälische Zeitschrift für Volkskunde 59 (2014), S. 273–275, hier S. 275. Ferner Roland Borchers Rezension zu: Fischer, Erik: Deutsche Musikkultur im östlichen Europa. Konstellationen – Metamorphosen – Desiderata – Perspektiven. Stuttgart 2012, in: H-Soz-Kult, 4.4.2014, abgerufen unter: www.hsozkult.de/ publicationreview/id/rezbuecher-22075 (abgerufen am 29.7.2022). Safranski, Rüdiger, Romantik. Eine deutsche Affäre, Frankfurt am Main 2009, S. 392. Vgl. Burkhardt, Johannes, Der Rhein ist die Elbe. Richard Wagners wahre Welten, Halle (Saale) 2013. Vgl. hierzu Bourdieu, Pierre, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, 23. Aufl., Frankfurt am Main 2013, S. 212 f. Krohn, Philipp, Alle Songtage ist kein Sonntag, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 223, 25.9.2018, S. 12. Zitiert nach ebd. Strauß, Botho, Allein mit allen. Gedankenbuch, hg. von Sebastian Kleinschmidt, München 2014, S. 169.
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und miniatur des staats [Kleinschreibung im Original, d. Verf.]“?11 Michael Custodis’ Beitrag über Musiker „im diplomatischen Dienst“ sowie Andreas Linsenmanns Ausführungen zur französischen Kultur- und Musikpolitik im südlichen Rheinland nach dem Zweiten Weltkrieg sind in diesem Zusammenhang zu beachten. Als Faktor staatlichen Handelns macht Jutta Lambrecht den Westdeutschen Rundfunk (WDR) und dessen Musikförderung sichtbar. Nach dem Urteil von Günther Rüther ließen sich die Kulturschaffenden noch „in den sechziger und siebziger Jahren vor den Karren der Politik spannen“12, während das Gespräch zwischen Kultur und Politik dann „in den achtziger und neunziger Jahren weitgehend zum Erliegen“13 gekommen sei. Tatsächlich lehnten große Teile der „68erBewegung“ musische Beschäftigung ab, wenn sie nicht den politischen Zielen dienstbar gemacht werden konnte. Agitprop, „Kampflieder gegen Ausbeutung und Unterdrückung“ waren genehm, ansonsten „wurde Lenin zitiert, der erklärt hatte, bei Beethovens Musik möchte man den Menschen […] zärtlich über den Kopf streichen. So sei aber die Welt nicht, einige Köpfe müsse man abschlagen.“14 Trifft es also zu, was Berthold Seliger im Klappentext seiner Streitschrift „Klassikkampf “ konstatieren zu können glaubt: „Zum Ritual erstarrt, verflacht und elitär: Die klassische Musik steckt in der Krise. War sie zu früheren Zeiten ein subversiver Einspruch gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse, dominieren heute cleane Inszenierungen und grenzenlose Kommerzialisierung“15? Eine Netzwerkanalyse kann Aufschluss darüber geben, „wie durch gemeinsame Geselligkeit und Tätigkeit in Vereinen soziale Gruppen, Klassen oder Milieus konstituiert“ werden16. In diesem Zusammenhang verfolgt Rolf Wörsdörfer die Beziehung von Musik und Migration an der Ruhr. Was aber motiviert für das Engagement in einem Verein, beispielsweise in einem Musikverein? Eine Antwort hierauf muss berücksichtigen, inwiefern staatliche Regulierung und gesellschaftliche Selbstregulierung in einem „bürgerlichen“ Verein korrelierten: „Vereine waren als nichtstaatliche Akteure in hohem Maße selbstregulierend tätig, schufen Normen und setzten diese durch. Vor allem im kommunalen Bereich hatten einige Vereine darüber hinaus einen teils informell artikulierten Einfluss auf politische Entscheidungsprozesse“17. Nina Sträter zeichnet nach, wie sich hier das Düsseldorfer Chorwesen verhielt. Ferner ist danach zu fragen, welchen Herausforderungen eine Kommune bei der Etablierung eines kulturellen Alleinstellungsmerkmals begegnet. Stefan 11 Wiener, Oswald, die verbesserung von mitteleuropa, roman (Österreichs Eigensinn. Eine Bibliothek), 2. Aufl., Salzburg/Wien 2014, S. XVI. 12 Rüther, Günther, Die Unmächtigen. Schriftsteller und Intellektuelle seit 1945 (Schriftenreihe, Bd. 1712), Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2016, S. 284. 13 Ebd., S. 282. 14 Safranski, Romantik, S. 391. 15 Seliger, Berthold, Klassikkampf. Ernste Musik, Bildung und Kultur für alle, Berlin 2017. 16 Heise, Robert/Watermann, Daniel, Vereinsforschung in der Erweiterung. Historische und sozialwissenschaftliche Perspektiven, in: Geschichte und Gesellschaft 43 (2017) 1, S. 5–31, hier S. 26. 17 Ebd., S. 30.
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Eisel skizziert am Beispiel der Beethovenstadt Bonn den Umgang der Kommune mit dem Erbe ihres „größten Sohns“.
II. Musikschaffende und Politik Mit Einnahme der Perspektive der Künstlerinnen und Künstler erweitert sich die Fragestellung: Wie verhält sich die Gesellschaft gegenüber Künstlern wie dem New Yorker Komponisten Elliott Sharp, der sich 2018 zu einem Vergleich der Situation der Palästinenser im Gazastreifen mit derjenigen der Juden im Warschauer Getto verstieg, dem Literaten Uwe Tellkamp, dessen Verlag sich nach kritischen Äußerungen des Autors zu Angela Merkels Flüchtlingspolitik von diesem distanzierte, dem Maler Axel Krause, von dem sich seine Leipziger Galerie aus politischen Gründen trennte, und zuletzt dem Chef der Münchener Philharmoniker, Valery Gergiev, der im Kontext des russischen Krieges gegen die Ukraine im Frühjahr 2022 aufgrund seiner Nähe zum russischen Präsidenten Wladimir Putin entlassen wurde? Der „Spiegel“ kommentierte die Abgrenzung gegenüber politisch „missliebigen“ Künstlern Ende August 2018 wie folgt: „Moralisch, politisch sind all diese Entscheidungen nachvollziehbar. Aber sie führen in ihrer Summe dazu, dass, wenn es um die großen Fragen geht, momentan nicht das Werk eines Künstlers entscheidet – sondern, wo er steht. Künstler wären gut beraten, nicht in einen Rahmen zu passen. Kunst ist meist dann Kunst, wenn sie aus dem Rahmen fällt“18. In dieselbe Kerbe schlug Jan Brachmann in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 25. August 2018: „Ist es nicht […] so, dass die Kunst ihre Relevanz gerade daraus gewinnt, dass sie mit all dem zu tun hat, was unser Leben ausmacht: mit unseren Träumen, unseren Hoffnungen, unserem Hass und unserem Zorn?“ Mit Bezug auf problematische Werke respektive Komponisten wie Wagner, Debussy und Mussorgski kommt Brachmann zum Schluss: „Diese ganze Kunst zu verbieten wäre töricht. Man würde bald kein Ende mehr finden. Eine Alternative zum Aushalten ihrer Unbequemlichkeiten wäre, sie konsequent zu musealisieren und damit ihre religiösen, nationalistischen, rassistischen oder moralischen Ansprüche zu neutralisieren. Dann könnte man sie nach rein ästhetischen Gesichtspunkten beurteilen und genießen“.19 Gelassenheit ist schwer zu erreichen: So musste sich der auf klassische Musik fokussierte öffentlich-rechtliche israelische Sender „Kan“ nach zahlreichen Hörer-Protesten 18 Hammelehle, Sebastian, Der Sache einen Rahmen verpassen, in: Der Spiegel, Nr. 35, 25.8.2018, S. 123. 19 Brachmann, Jan, Der Nationalismus in der Musik, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 197, 25.8.2018, S. 1. Brachmann endet mit einem humorvollen kontrafaktischen Beispiel für eine gelungene Musealisierungspolitik: „Freiluftkonzert an der Berliner Siegessäule am 2. September [„Sedanstag“] […]. Gespielt wird das ‚Triumphlied auf den Sieg der deutschen Waffen bei Sedan‘ op. 55 von Johannes Brahms. Christian Thielemann dirigiert das Orchestre de Paris […]. Auf der Tribüne stehen Angela Merkel und Emmanuel Macron Hand in Hand. Zum Schluss sprüht ein Mirage-Geschwader der französischen Luftwaffe den Satz ‚Musik verbindet‘ in den Himmel. Dann wäre die Kunst vom Schmutz der Politik gereinigt und würde niemanden mehr ärgern“.
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für die Ausstrahlung von Teilen der Wagner’schen „Götterdämmerung“ entschuldigen. Dagegen hielt der Vorsitzende der israelischen Wagner-Gesellschaft, der Sohn eines Holocaust-Überlebenden, Jonathan Livny, in einer Stellungnahme fest: „Wir geben ja nicht seine [Richard Wagners] Ansichten wieder, sondern die wunderbare Musik, die er komponiert hat. Wer sie nicht hören will, kann ja das Radio ausschalten.“20 Unlängst hat sich Sibylle Lützner am Beispiel des Komponisten Julius Weismann mit der nationalsozialistischen Interpretation von Musik und Musikern im Nationalsozialismus befasst.21 Im vorliegenden Tagungsband betrachtet Peter Sühring die „Düsseldorfer Jahre“ von Felix Mendelssohn. Simone Bornemann analysiert das Schicksal des dem Nationalsozialismus zum Opfer gefallenen Musikers Karlrobert Kreiten. Und mit dem Elektropop der Gruppe „Kraftwerk“ setzt sich der Beitrag von Karsten Lehl auseinander.
III. Musik und gesellschaftliche Partizipation Darüber hinaus steht der Grad an Exklusivität bzw. der inklusive Charakter der musikalischen Angebote zur Diskussion. Dienen „Kultur und Musik“ tatsächlich, wie Seliger schreibt, „als melting pot, als ‚gemeinsames In-der-Welt-sein‘“22? Er selbst meldet gewisse Zweifel an: „Musik – eine universale Weltsprache? Davon kann […] keine Rede sein. Westliche Musiker, Kulturfunktionäre und Politiker, die versuchen, eine derartige Weltsprache zu konstruieren, üben sich in kultureller Hegemonie, sie versuchen, mit ihrer Auffassung die Welt zu dominieren. Und wenn Klassikfans […] diese Floskeln aufnehmen, geht es ihnen hauptsächlich darum, auf dem Altar des abendländischen kulturellen Hegemonietempels zu opfern“23. Tatsächlich kann die Aneignung bestimmter Musik, bestimmter Genres, als Distinktionsgewinn betrachtet werden, wie es Bourdieu in seiner Abhandlung über „Die feinen Unterschiede“ herausgearbeitet hat.24 Der französische Soziologe Didier Eribon schildert in seiner Autobiographie „Rückkehr nach Reims“ die segregierende Funktion der Musik im Schulunterricht: „Der Musikunterricht stellte dabei den subtilsten, aber auch brutalsten Test darauf dar, ob man das beherrschte, was als die ‚Kultur‘ bezeichnet wird, ob sie einem vertraut und verständlich oder fremd und unzugänglich war. Der Lehrer […] spielte uns irgendwelche Ausschnitte vor. Während die Bürgerkinder schwärmerische Mienen aufsetzten, machten wir Arbeiterkinder hinter vorgehaltener Hand alberne Witze […]. All das trägt insgeheim dazu bei, dass jenen, 20 Föderl-Schmid, Alexandra, Wink des Schicksals. Ein öffentlich-rechtlicher Sender in Israel spielt Wagner, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 203, 4.9.2018, S. 13. 21 Lützner, Sibylle, „Wir sind ganz traumbefangen/wir sind aus andrem Land“. Der Komponist Julius Weismann im Spannungsfeld nationalsozialistischer Kulturpolitik und Ästhetik, in: Duisburger Forschungen 62 (2018), S. 211–240. 22 Seliger, Klassikkampf, S. 133. 23 Ebd., S. 249. 24 Vgl. Bourdieu, Unterschiede, S. 358–361.
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denen es ohnehin schon schwerfällt, den sozialen Anforderungen des Schulbetriebs in allen seinen Aspekten zu genügen, das Gefühl gegeben wird, sie gehörten nicht dazu“25. Insofern trifft die Feststellung Seligers vielleicht zu: „Die Teilhabe an Bildung und Kultur ist keine Selbstverständlichkeit, sie musste in den letzten zwei Jahrhunderten unter ungeheuren Anstrengungen erkämpft werden“26. Dies dürfte in besonderer Weise für migrantische Communities gelten, welchen sich der Beitrag von Rolf Wörsdörfer widmet. Der Musiker und Autor Maurice Summen scheint der Musik, namentlich der PopMusik, wenig auf dem Feld der Politik zuzutrauen. Pop habe, so äußerte er sich im „Kursbuch“, „unsere Welt mit seinen Protagonisten ein Stück weit toleranter und attraktiver gemacht. Solange man nur nicht auf die Idee kommt, diese glitzernde Oberfläche, die regelmäßig einen erfrischenden Relaunch erfährt, kritisch zu hinterfragen. Denn Pop, der kein Gegenteil mehr kennt, kein Geschlecht hat und offenbar in der Lage ist, alles und jede(n) in sich aufzunehmen, lässt auf seinen Kreuzzügen des Glücks natürlich unfassbar viele Menschen auf der Strecke. Oder lässt sie erst gar nicht teilhaben“27. Summen sieht auch die Konzerthäuser und Theater auf der Suche nach Teilhabe am Pop.28 Er kommt zu dem Schluss: „Alles, was unbequem ist, wird niemals populär werden, es wird niemals leicht konsumierbar sein“29. Müssen wir die Musik also als ungeeignetes Vehikel betrachten, um gesellschaftlich zu wirken, geschweige denn etwas zu bewirken? Dem hält Ralf-Peter Fuchs aus landeshistorischer Perspektive entgegen:30 „Erst im 20. Jahrhundert wurde Musik […] immer mehr zu einem Phänomen, von dem sich breitere Bevölkerungskreise beeinflussen ließen“31. Unter anderem mit diesem Aspekt befasst sich der Beitrag von Andreas Altenhoff. Ohne die Autorinnen und Autoren wäre der vorliegende Sammelband nicht möglich gewesen. Ihre Geduld bei dem durch die Corona-Pandemie ausgebremsten Projekt war uns eine große Hilfe. Ein besonderes Dankeschön möchten die Herausgeber Keywan Klaus Münster und Alexander Olenik für die umfangreiche Redaktionsleitung bei Text und Bild aussprechen. Für die Unterstützung bei der redaktionellen Arbeit inklusive Personen- und Ortsregister zeichnen Benjamin Burtz, Marvin Dettenbach, Lavinia Fahnster, Richard Irmler, Anna Maria Ramm, Andrea Rönz und Louise Seven verantwortlich. Kirsti Doepner und der Böhlau-Verlag kooperierten in gewohnt angenehmer Weise bei der Drucklegung. Allen Beteiligten sei an dieser Stelle herzlich gedankt. 25 Eribon, Didier, Rückkehr nach Reims, 14. Aufl., Berlin 2017, S. 160. 26 Seliger, Klassikkampf, S. 274. 27 Summen, Maurice, Pop Life. Über den Kulturimperialismus des Bequemen, in: Kursbuch 191 (September 2017): Bullshit.Sprech, S. 9–21, hier S. 11. 28 Vgl. ebd., S. 17 f. 29 Ebd., S. 20. 30 Fuchs, Ralf-Peter, „Sie wünschen – wir spielen für Sie.“ Überlegungen zur Geschichte der Musik und Musikrezeption in den Regionen, in: Engelbrecht, Jörg/Frank, Simone/Fuchs, Ralf-Peter/Krumm, Christian (Hgg.), Rhein-Maas. Geschichte, Sprache und Kultur, Bd. 7: Vom Minnesang zur Popkultur, Hamburg 2017, S. 7–12, hier S. 9. 31 Ebd., S. 8.
Einleitung
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Aus der Rezeption und Diskussion der Ergebnisse der Tagung und des Tagungsbands dürften sich – so die Hoffnung der Herausgeber – weitere, neue Fragen ergeben, die es zu verfolgen gilt. Bleiben wir also in Verbindung! Musik verbindet nämlich. Gewidmet ist dieser Band Christa Molitor-Naunheim, Musiklehrerin am Bischöflichen Cusanus-Gymnasium Koblenz. Ihren Unterricht empfanden die Herausgeber stets als persönlichkeitsfördernd und im besten Sinne humanistisch.
Akteure
Übrigens gefall ich mir prächtig hier.1
Felix Mendelssohn in seinen Düsseldorfer Jahren 1833–1835 Peter Sühring
I. Nach Düsseldorf! Für Felix Mendelssohn2 waren die knapp zwei Jahre, die er in Düsseldorf vom September 1833 bis Juli 1835 lebte und arbeitete, eine Periode und ein Ort des Übergangs. Die Zeit zwischen seiner früheren Tätigkeit in Berlin und der späteren in Leipzig war in seiner Laufbahn ein bedeutender und weitgehend glücklich verlaufender Lebensabschnitt. Außerdem beendete sie seine Wanderjahre. Nachdem ihm im Januar 1833 in Berlin die Leitung der Singakademie von der wählenden Mitgliederversammlung verwehrt worden war und er sich enttäuscht wie deprimiert von der preußischen Residenzstadt abwenden wollte, zog es ihn zunächst wieder ins Ausland. Besonders drängte es ihn nach England, um dort Anfang Mai mit seinem Freund Ignaz Moscheles (1794–1870) zu musizieren und seine noch in Berlin zu Ende komponierte Sinfonie in A‑Dur, seine dritte, die „Italienische“, uraufzuführen. 1
Der Beitrag basiert auf der Monografie des Autors: Sühring, Peter, Felix Mendelssohn. Der (un)vollendete Tonkünstler (Jüdische Miniaturen, Bd. 227), Leipzig 2018. Siehe auch die Sammelbände Ballstaedt, Andreas/Kalisch, Volker/Kortländer, Bernd (Hgg.), Bürgerlichkeit und Öffentlichkeit. Mendelssohns Wirken in Düsseldorf (Kontext Musik, Bd. 2), Schliengen 2012; Kortländer, Bernd (Hg.), „Übrigens gefall ich mir prächtig hier“. Felix Mendelssohn Bartholdy in Düsseldorf. Ausstellung des Heinrich-Heine- Instituts Düsseldorf, 1. Oktober 2009–10. Januar 2010 (Veröffentlichungen des Heinrich-Heine-Instituts), 2. Aufl., Düsseldorf 2011; Weber-Bockholdt, Petra (Hg.), Mendelssohn und das Rheinland. Bericht über das Internationale Symposium Koblenz 29.–31.10.2009 (Studien zur Musik, Bd. 18), München 2011; und Wehner, Ralf (Hg.), Felix Mendelssohn Bartholdy. Thematisch-systematisches Verzeichnis der musikalischen Werke (MWV). Studien-Ausgabe (Leipziger Ausgabe der Werke von Felix Mendelssohn Bartholdy, Serie XIII, Bd. 1A), Wiesbaden 2008. Für das einleitende Zitat siehe Anm. 9. 2 Felix Mendelssohn (1809–1847) war ein geborener Mendelssohn in der direkten väterlichen Linie von Moses (1729–1786) auf dessen Sohn Abraham bis hin zu ihm und seinen Geschwistern als Kinder des Ehepaars Abraham (1776–1835) und Lea (1777–1842) Mendelssohn. Erst nach der assimilationsbedingten Taufe der Eltern im Jahr 1822 – Felix war 13 Jahre alt –, in deren Rahmen dem Namen Mendelssohn ohne Bindestrich der Beiname Bartholdy zum Zeichen des Getauftseins zugefügt wurde, begann auch Felix Mendelssohn, im Gegensatz zu seinen weiblichen Geschwistern Fanny (1805–1847) und Rebecka (1811–1858), den Doppelnamen zu tragen; der erste so unterschriebene Brief stammt vom Dezember 1823 an Carl Friedrich Zelter (1758–1832). Da der Assimilationswunsch der Juden von den Deutschen mehrheitlich verweigert wurde und aus heutiger Sicht wegen der brutalen Auslöschung jüdischen Lebens in Deutschland als historisch gescheitert zu betrachten ist, hält der Verfasser dieses Beitrags es für angebracht, den Beinamen Bartholdy als Zeichen einer umstrittenen Episode in der weit verzweigten Familie Mendelssohn nicht zu verwenden und Mendelssohn bei seinem Geburtsnamen zu nennen.
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Abb. 1 Felix Mendelssohn Bartholdy, Lithographie von Friedrich Jentzen nach einem Gemälde von Theodor Hildebrandt, Leipzig, 1837
Düsseldorf war für den in oder an Berlin gescheiterten jungen, aber schon sehr erfahrenen Komponisten und Musikpraktiker Mendelssohn nach seinen ersten englischen Erfahrungen das richtige Pflaster zum richtigen Zeitpunkt. Auch diese Stadt war mit dem Wiener Kongress Teil der rheinischen Provinzen und damit preußisch geworden, aber der Code Napoléon, unter dem die Düsseldorfer auch nach der „Franzosenzeit“ lebten, und der Verlust eines eigenen fürstlichen Hofes hatten das lokale Bürgertum besonders für Kunst und Wissenschaft empfänglich gemacht und es dazu aktiviert, öffentliche Bildungsinstitutionen einzurichten, die vielen liberalen Künstlern und Wissenschaftlern ein reiches Betätigungsfeld boten. Im März 1833 hatte Mendelssohn in Berlin eine Einladung aus Düsseldorf erreicht, dort Ende Mai die Leitung des Niederrheinischen Musikfestes zu übernehmen, welche er dankbar annahm. Dann wurde er, von London kommend, während der Proben zum Musikfest von dem Angebot überrascht, ab 1. Oktober den vakanten Posten des Städtischen Musikdirektors in Düsseldorf zu übernehmen. Mendelssohn unterzeichnete den Vertrag noch vor dem Beginn des Festes und trat nach einer weiteren England-Reise sein erstes öffentliches Amt pünktlich an. Er war verpflichtet, die Chor- und Orchesterkonzerte des Städtischen Musikvereins („Verein zur Beförderung der Tonkunst“, wie er sich etwas gespreizt nannte) und die katholische Kirchenmusik an den beiden Hauptkirchen St. Maximilian und St. Lambertus zu leiten. Außerdem hatte er versprochen, die
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Opernaufführungen im Städtischen Theater einzustudieren und zu dirigieren. Inzwischen ist man gut über die Arbeitssituation von Mendelssohn während seiner Düsseldorfer Jahre informiert, weil einige der lange weder ausgewerteten noch publizierten Arbeitsnotizen Mendelssohns aus der Düsseldorfer Zeit, die heute in Oxford liegen, transkribiert und annotiert worden sind. Alle die in Düsseldorf zu übernehmenden Aufgaben und Ämter interessierten Mendelssohn recht wohl, er versprach sich aber von seinem dortigen Aufenthalt auch, bei gesicherten finanziellen Verhältnissen und einem vierteljährlichen Urlaub recht ruhig und für mich componiren zu können.3 Trotz der intensiven Erfüllung eines vollen Programms für die und in der Öffentlichkeit sollte ihm das in Düsseldorf auch fast gelingen, wenn auch nicht im angestrebten Umfang. Sein Oratorium „Paulus“ konnte er während seiner Düsseldorfer Jahre nicht ganz fertigstellen, doch es gehört weitgehend zu den Resultaten dieser Jahre. Es wurde dann auch, obwohl ursprünglich für eine Aufführung im Frankfurter Cäcilienverein des katholischen Kirchenmusikers Johann Nepomuk Schelble (1789–1837) vorgesehen, zur Eröffnung des Niederrheinischen Musikfestes im Jahr 1836 in Düsseldorf von ihm selbst uraufgeführt. Es gehören zu seinen Düsseldorfer Kompositionen weiterhin die bis heute kaum beachtete Konzertouvertüre „Das Märchen von der schönen Melusine“, mehrere der schönsten „Lieder ohne Worte“ (aus dem 2. Heft op. 30), einige Schauspielmusiken zu Stücken von Karl Immermann (1796‑1840) und mehrere Bearbeitungen eigener und fremder Werke. Sein freiwilliges Engagement für die Kirchenmusik und das Theater überwucherten schließlich seine geheimen kompositorischen Pläne, zu denen auch eine Oper nach William Shakespeares (1564– 1616) „Der Sturm“ gehörte, für die das Düsseldorfer Stadttheater tatsächlich der rechte Ort gewesen wäre.
Abb. 2 Porträt von Karl Leberecht Immermann, Stahlstich von Franz Xaver Stöber nach einer Zeichnung von Karl Friedrich Lessing, undatiert
3 Brief Mendelssohns aus Koblenz an seinen Freund Julius Schubring in Dessau vom 6.9.1833, in: Wald, Uta (Hg.), Felix Mendelssohn Bartholdy. Sämtliche Briefe, Bd. 3: August 1832 bis Juli 1834, Kassel 2010, Nr. 785, S. 263.
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II. Mendelssohns Konzertprogramme in Düsseldorf Schon die von ihm geleiteten Konzerte während des Niederrheinischen Musikfestes im Mai 1833 zeigten den Düsseldorfern und den rheinischen Gästen, wohin die musikalische Reise gehen würde. Seine erste musikalische Tat war die deutsche Erstaufführung des Oratoriums „Israel in Ägypten“ von Georg Friedrich Händel (1685–1759). So wie es heißt, Mendelssohn habe mit seiner Berliner Wiederaufführung der Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach (1685–1750) im Jahr 1829 eine Bach-Renaissance in Deutschland ausgelöst (wobei Bach nach seinem Tod nie wirklich vergessen war), ist es mindestens so berechtigt festzustellen, er habe von Düsseldorf aus eine Händel-Renaissance in Deutschland bewirkt. Mendelssohn hat seine England-Reisen stets dazu benutzt, um in Oxford oder im British Museum die originalen Handschriften Händels zu studieren. Mendelssohn präsentierte wie schon Bachs Matthäuspassion Händels Oratorium in einer modernen, gekürzten Bearbeitung und stellte ihm seine frisch komponierte TrompetenOuvertüre voran. Am 22. Oktober 1833 offerierte er davon anlässlich des Besuchs des preußischen Kronprinzen in der Rheinprovinz sogar eine dramatisierte, halbszenische Fassung mit den damals beliebten, sogenannten „Lebenden Bildern“, Gesten und Kulissen nach Entwürfen der Düsseldorfer Maler Eduard Bendemann (1811–1889) und Julius Hübner (1806–1882). Das zweite Konzert während des Musikfestes im Mai eröffnete Mendelssohn mit Beethovens Pastoral-Sinfonie, die damals, sechs Jahre nach Beethovens Tod, noch nicht unbedingt zum Standardrepertoire von Sinfoniekonzerten gehörte. Überblickt man die Programminhalte der weltlichen und kirchlichen Konzerte sowie der Opernaufführungen Mendelssohns in Düsseldorf während der folgenden zwei Saisons, so ergibt sich ein historisch lehrreiches Bild. Auffällig ist, dass Mendelssohn mehr noch in der sakralen als in der profanen Musik vergleichsweise wenige eigene Werke spielen ließ, vor allem nicht die frisch komponierten, denen er wie üblich erst noch eine längere Phase der Überarbeitung angedeihen lassen wollte. Vor allem mit seinen abendlichen Kirchenmusiken gestaltete er überwiegend historische Kirchenkonzerte. Betrachten wir zunächst exemplarisch einige der Konzerte zwischen dem 22. November 1833 und dem 2. Juli 1835, die Mendelssohn im Bekkerschen Saal, im Kasinosaal oder im Saal der Lesegesellschaft dirigierte. Das erste von Mendelssohn geleitete Städtische Konzert des Düsseldorfer Musikvereins am 22. November 1833 brachte Beethovens Ouvertüre zu Johann Wolfgang von Goethes (1749–1832) Trauerspiel „Egmont“, Mendelssohns in Berlin uraufgeführtes Klavierkonzert op. 25 mit ihm als Solisten und „Das Alexanderfest“ von Händel zu Gehör. Die Ouvertüre zu „Egmont“ war nur ein Vorspiel zu der im Januar 1834 stattfindenden Aufführung des gesamten Trauerspiels im Stadttheater mit der Musik von Beethoven, so wie es sich der Komponist ursprünglich gedacht hatte und wie auch Mendelssohn selbst seine eigenen zahlreichen Schauspielmusiken stets aufgeführt wissen wollte. Die Konzertgestaltung der damaligen Zeit, an deren näherer Ausformung und Maßstäbe setzender Umformung Mendelssohn beteiligt war, unterschied sich deutlich von heutigen Gewohnheiten. Orchesterauftritte wurden mit Kammermusik durchsetzt, immer
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wieder gab es solistische und chorische Gesangsnummern, zum Teil mit ganzen Auszügen aus Opern. So darf es nicht verwundern, dass – wie in einem Konzert am 10. Dezember 1833 im Kasinosaal, veranstaltet von Militärmusikern – nach einer Sinfonie von Wolfgang Amadeus Mozart (1756–1791) und einem Violinkonzert von Johann Heinrich Lübeck (1799–1865) eine Sopranarie erklang, gefolgt von einem Potpourri für Klarinette aus der Oper „Die Stumme von Portici“ von Daniel-François-Esprit Auber (1782–1871), darauf eine Leonoren-Ouvertüre von Beethoven nebst einer seiner Violinsonaten, gefolgt von einem Duett aus Louis Spohrs (1784–1859) Oper „Jessonda“ und zum Schluss Variationen für Violine von dem Virtuosen Charles Auguste de Bériot (1802–1870). Das zweite Konzert Mendelssohns mit dem Orchester des Musikvereins im Januar 1834 brachte gleich wieder eine Beethoven-Sinfonie (die fünfte in c‑Moll), dann Auszüge aus Joseph Haydns (1732–1809) Oratorium „Die Jahreszeiten“ sowie aus Carl Maria von Webers (1786–1826) Oper „Oberon“, um mit Mendelssohns Ouvertüre zu „Ein Sommernachtstraum“ zu schließen. Das deutet abermals darauf hin, dass Konzertouvertüren eine selbstständige, in sich abgeschlossene konzertante Kunstgattung waren, auf dem Weg zur „Sinfonischen Dichtung“. Die Ausschnitte aus Haydns „Jahreszeiten“ waren wieder nur das Vorspiel zu einer im Februar folgenden kompletten Aufführung des Oratoriums, allerdings ohne Orchester, sondern mit Begleitung durch zwei Klaviere. Das dritte Konzert im Mai 1834 brachte nach Mozarts Ouvertüre zu „Die Zauberflöte“ das Klavierkonzert in fis-Moll von Norbert Burgmüller (1810–1836), eines von Mendelssohn stark geförderten jungen Düsseldorfer Komponisten, der leider früh verstarb, Auszüge aus Spohrs „Jessonda“ und Händels „Israel in Ägypten“ sowie eine freie Fantasie für Klavier von Mendelssohn. Dieses „Fantasieren“, vor Publikum und improvisiert, liebte Mendelssohn ganz besonders, und es verband ihn auch später noch mit Düsseldorf und einem denkwürdigen Konzert im Mai 1842, als er wieder einmal, von Leipzig kommend und auf dem Weg nach London, während eines Niederrheinischen Musikfestes in Düsseldorf auftrat. Der angesagte Violinvirtuose Heinrich Wilhelm Ernst (1812–1865) wollte weder zu den Proben noch zur Aufführung erscheinen, und so musste Mendelssohn spontan auf die Darbietung von Beethovens Klavierkonzert Nr. 5 in Es-Dur überwechseln und ging nach zweien seiner „Lieder ohne Worte“, weil sie anfingen, ihn müde zu machen, dazu über, frei zu fantasieren. Seiner Schwester Rebecka berichtete er darüber begeistert und ironisch zugleich: […] und spielte wohl eine halbe Stunde so gut wie ich es noch niemals öffentlich und nicht immer einmal unter uns gethan habe. Die Leute machten aber auch ein Gebrüll, wie ichs mein Lebtag nicht gehört habe, und überschrieen den Tusch, daß man ihn nicht hören konnte, und ich hatte selbst viel Freude daran. Siehst du wohl, Beckchen, es ist alles sehr eitel. Nun muß ich aber der Wahrheit zu Ehren sagen, daß ich einige Tage später in Bonn lange nicht so gut phantasirte, und wieder einen Tag darauf in Cöln viel schlechter als in Bonn. Also ward ich auch wieder bescheiden.4 4 Brief Mendelssohns aus Ostende an Rebecka Lejeune Dirichlet in Berlin vom 29.5.1842, in: Tomkovič, Susanne (Hg.), Felix Mendelssohn Bartholdy. Sämtliche Briefe, Bd. 8: März 1841 bis August 1842, Kassel 2013, Nr. 3529, S. 403.
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In der Saison 1834/1835 wurde ein Teil der Konzerte des Städtischen Musikvereins auf Mendelssohns Wunsch in Abonnementskonzerte umgewandelt, deren erstes am 23. Oktober 1834 stattfand. Wieder eröffnete Mendelssohn es mit einer Beethoven-Sinfonie, dieses Mal der vierten in B-Dur, und führte es weiter mit einem Duett aus Spohrs „Jessonda“ sowie der Violoncello-Sonate in A-Dur op. 69 von Beethoven, um im zweiten Konzertteil den ersten Teil von Händels Oratorium „Samson“ aufzuführen. Mendelssohn hatte einen Aufenthalt in London genutzt, um im British Museum die Originalhandschrift Händels einzusehen und daraus Konsequenzen für aufführungspraktische Fragen zu ziehen, zum Beispiel für die Begleitung der Chorsätze mit einer Orgel. Das zweite Abonnementskonzert brachte Burgmüllers erste Sinfonie, eine Arie aus Webers „Oberon“, eine Elegie für Violoncello und Orchester von Bernhard Romberg (1767‑1841), drei Tenorlieder mit Klavierbegleitung von Friedrich Curschmann (1805–1841), Mendelssohn und Beethoven, Mendelssohns Rondo brillant für Klavier und Orchester Es-Dur op. 29 (von ihm in Düsseldorf komponiert und mit ihm am Klavier als Solisten) und abschließend ein Duett von Saverio Mercadante (1795–1870). Im dritten Abonnementskonzert konnte das Düsseldorfer Publikum außer der dritten Sinfonie von Beethoven („Eroica“), drei Liedern aus Webers Gesängen „Leyer und Schwert“ und einem Notturno für obligate Oboe von Johann Nepomuk Hummel (1778– 1837) im zweiten Teil noch den gesamten ersten Teil aus Händels Oratorium „Judas Maccabäus“ genießen. Das vierte Abonnementskonzert war mit der Gesamtaufführung von Haydns Oratorium „Die Jahreszeiten“, diesmal mit vollem Orchester, ausgefüllt. Das fünfte Abonnementskonzert im Februar 1835 brachte außer der großen g-Moll-Sinfonie von Mozart und Spohrs achtem Violinkonzert („in Form einer Gesangsszene“) noch eine Bassarie mit obligat begleitendem Bassetthorn aus Mozarts Oper „La clemenza di Tito“, Webers Konzertstück für Klavier und Orchester f-Moll, Stücke aus Luigi Cherubinis (1760–1842) Oper „Ali Baba“ und abschließend das gemischte Streicher-BläserSeptett op. 20 von Beethoven. „Der Messias“ von Händel war Gegenstand des sechsten und letzten von Mendelssohn dirigierten Abonnementskonzerts im März 1835. Sein letztes Konzert mit dem Düsseldorfer Verein für Tonkunst gab Mendelssohn am 2. Juli 1835, wieder mit einer Beethoven-Sinfonie zu Beginn (diesmal der siebenten in A-Dur), dann kam Beethovens aus zwei Gedichten von Goethe zusammengebundene Kantate „Meeresstille und glückliche Fahrt“, Mendelssohns bereits 1832 komponiertes Capriccio brillant für Klavier und Orchester (wieder mit dem Komponisten am Klavier) und das „Dettinger Tedeum“ von Händel als zweiter Teil des Konzerts. Hinzu kommen Konzerte, die, wie damals üblich, einzelne Virtuosen veranstalteten und bei denen Mendelssohn nur engagiert war, um ein Potpourri verschiedener Solostücke zu begleiten, als Dirigent mit Orchester oder als Pianist. Einige wenige Konzerte konnte Mendelssohn an andere Dirigenten abtreten, so das zehnte Vereinskonzert außerhalb des Abonnements, das sein Berliner, von ihm nach Düsseldorf geholter und ihm hier assistierender Freund und späterer Nachfolger in Düsseldorf und Leipzig, Julius Rietz (1812–1877), dirigierte und das eine weitere Beethoven-Sinfonie, die achte in F-Dur, ent-
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hielt. Außerdem ist Mendelssohns Beteiligung an etlichen Hausmusiken in Düsseldorfer Bürgerhäusern überliefert, in denen stets die Kammermusik Beethovens dominierte.
III. Düsseldorfer Kirchenmusik unter Mendelssohn Hinsichtlich der Ausgestaltung der Düsseldorfer katholischen Kirchenmusik, weniger des liturgischen als des konzertanten Teils, ist zu beachten, dass Mendelssohn noch vor seinem ersten weltlichen Konzert gleich Anfang Oktober 1833 eine Reise in lokale Kirchenarchive des Rheinlands unternahm, zunächst nach Elberfeld (heute Stadt Wuppertal), Bonn und Köln. Weitere Forschungsreisen führten ihn bis nach Koblenz, wo er auch Verwandte hatte. Er betätigte sich als unermüdlicher Sucher nach Originalquellen vergangener Musik und sorgte damit in Düsseldorf in den frühen 1830er Jahren für Wiederaufführungen älterer kirchenmusikalischer Werke von Händel, Antonio Lotti (1667–1740), Giovanni Battista Pergolesi (1710–1736), Leonardo Leo (1694–1744), Orlando di Lasso (1532–1594) und Giovanni Pierluigi da Palestrina (1525–1594). Die Programme der von ihm veranstalteten und geleiteten abendlichen Kirchenmusiken in St. Maximilian und St. Lambertus legen davon beredt Zeugnis ab. Was die religiöse Stellung Mendelssohns und seine kirchenmusikalischen Aktivitäten im Allgemeinen betrifft, so sei angemerkt, dass er entgegen einer weit verbreiteten Ansicht kein „konvertierter Jude“ war, sondern aus einem zunächst areligiösen, säkularen jüdischen Haus kam, in dem die Rituale des mosaischen Glaubens nicht mehr gepflegt wurden. Er wurde noch vor seinen Eltern 1816 im Alter von sieben Jahren christlich getauft, was seine erste Begegnung mit Religion überhaupt bedeutete. Um die Unbefangenheit zu verstehen, mit der Mendelssohn als evangelischer Christ sich der katholischen Kirchenmusik in Düsseldorf widmete, ist zu berücksichtigen, dass er im reformierten Bekenntnis getauft worden und in den entsprechenden Konfirmationsunterricht gegangen war. Das reformierte Bekenntnis zeichnete sich vor der Kirchenunion dadurch aus, dass in ihm das Alte Testament eine bevorzugte Stellung einnahm und als Glaubensinhalte lediglich die Worte Jesu galten. Diese Ausrichtung erlaubte es Mendelssohn, ohne Rücksicht auf weite Teile des Neuen Testaments und daraus entwickelte kirchliche Dogmen für die Liturgien aller christlichen Konfessionen komponieren und arbeiten zu können. Das tat er auch sein Leben lang ‑ während seiner Düsseldorfer Zeit vornehmlich für die katholische Liturgie und deren Kirchenkalender. Gleichzeitig musste Mendelssohn von Düsseldorf aus zeitweilig den katholischen Cäcilienverein in Frankfurt am Main leiten, um seinen Freund Schelble, der ebenfalls Überragendes für die Wiederaufführung der großoratorischen Werke von Bach geleistet hatte, nun aber schwer erkrankt war, zu vertreten. Unter den Sängerinnen des Frankfurter Vereins fand er auch seine spätere Ehefrau Cécile Jeanrenaud (1817–1853). Gleich am 13. Oktober 1833 führte Mendelssohn neben einem eigens komponierten Prozessionsmarsch für das Patronatsfest von St. Maximilian eine Haydn-Messe auf und brachte in seiner ersten abendlichen Kirchenmusik die Motette „Popule meus“ von
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di Lasso zu Gehör. Seine erste Karfreitagsmusik im Jahr 1834 füllte er mit „Die sieben Worte“ von Pierluigi da Palestrina, um dann seine erste Kirchenmusik zu Ostern in St. Lambertus mit der C-Dur-Messe von Cherubini zu bestreiten, Anfang Mai wiederholt in St. Maximilian anlässlich des Besuchs des Kölner Erzbischofs und abermals in St. Lambertus zum Apollinarisfest, dem Fest des Stadtpatrons. Ebenfalls in St. Lambertus gab er im April eine abendliche Kirchenmusik mit der c-Moll-Messe op. 18 von Moritz Hauptmann (1792–1868), dem späteren Leipziger Thomaskantor (Wiederholung zu Ostern 1835). Zu Christi Himmelfahrt 1834 brachte Mendelssohn in beiden Hauptkirchen die von ihm aufgefundenen Kompositionen von Lotti (ein „Crucifixus“ und einen Psalm) sowie seine eigene Choralbearbeitung „Mitten wir im Leben sind“ von 1830 zur Aufführung. Zum Fronleichnamsfest 1834 wurde in St. Maximilian die C-Dur-Messe von Beethoven mit Mozarts „Ave verum“ aufgeführt; beides wurde dort ein Jahr später wiederholt. Am Fest Peter und Paul (29. Juni) erklangen dort auch zwei Bach-Kantaten. Händels „Dettinger Tedeum“ war zu Mariä Himmelfahrt (15. August) in beiden Hauptkirchen zu hören, ebenso Mozarts Requiem am 20. August. Zum Patronatsfest von St. Maximilian erklang Haydns B-Dur-Messe mit Mozarts „Ave verum“. Als Kirchenmusik zu Allerseelen (2. November) wurde in St. Lambertus Cherubinis Requiem aufgeführt. Die nächste Kirchenmusik wurde erst wieder zum Karfreitag 1835 veranstaltet, wo drei Responsorien von Pierluigi da Palestrina und Lottis „Crucifixus“ erklangen. Mendelssohn hatte sich im Jahr 1834 auf die Gestaltung der Düsseldorfer Kirchenmusik konzentriert, um den Querelen am Stadttheater um die Frage der Finanzierung der aufwendigen Inszenierungen Immermanns aus dem Weg zu gehen. Er diente der Stadt- und Kirchenverwaltung auch als Orgelsachverständiger, der Vorschläge zur Reparatur und Umgestaltung der Orgeln in den beiden Hauptkirchen machen konnte.
IV. O pernaufführungen und Schauspielmusiken am Düsseldorfer Stadttheater – Zusammenarbeit mit Karl Immermann Bereits im Dezember 1833 leitete Mendelssohn seine erste Opernaufführung mit „Don Giovanni“ von Mozart, die eine Wiederholung erfuhr. Hierbei kam es zu seiner ersten intensiven, später immer schwieriger werdenden Zusammenarbeit mit dem Theaterintendanten Karl Immermann, den Mendelssohn völlig zu Recht wegen seines „komischen Heldenepos“ „Tulifäntchen“ (1829) für einen der bedeutendsten Dichter im damaligen Deutschland hielt und mit dem er schon früher von Berlin aus in Verbindung gestanden hatte. Immermann hatte den Ehrgeiz, für Deutschland sogenannte Musteraufführungen zu inszenieren, die dann als Vorbilder im ganzen Land gelten sollten. Die mit solchen Mustervorstellungen verbundenen ästhetischen Normen und vereinheitlichenden Kriterien sollten zwar der Qualitätssteigerung und -sicherung dienen, führten aber doch auch zu Verengungen und zur Aufrichtung von aufführungspraktischen Dogmen. Das konnte nicht im Sinne Mendelssohns sein und führte über kurz oder lang zu Unstimmig-
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keiten mit dem Intendanten und zu Konflikten mit der Stadtverwaltung. War mit „Don Giovanni“ noch ein negativer adeliger Held ausgesucht worden, der zur Verdammnis bestimmt war, so verkörperte die zweite von Mendelssohn im März 1834 (mit Wiederholung) geleitete Oper, Luigi Cherubinis „Der Wasserträger“, einen positiven Helden aus dem vierten Stand, der mit seiner Menschlichkeit und Hilfsbereitschaft die höheren Stände, Adel und Bürgertum, in den Schatten stellt und beschämt. Wenn man so will, war sie die erste „proletarische“ Oper, allerdings ganz ohne revolutionäre Ambitionen. Im November 1834, wenige Tage nachdem er auch die Neueröffnung des Theater- und Opernhauses mit von Webers „Jubelouvertüre“ und der Ouvertüre „Die Weihe des Hauses“ von Beethoven geleitet hatte, dirigierte Mendelssohn einen Opernabend mit Heinrich Marschners (1795–1861) „Der Templer und die Jüdin“ mit zwei Wiederholungen, die er sich mit Julius Rietz aufteilte, und vier Tage später Carl Maria von Webers „Oberon“, mit einer Wiederholung. Für die Marschner-Oper hatte sich Mendelssohn in direkten Verhandlungen mit dem Komponisten eingesetzt, mit dem Dirigat des Weber’schen „Oberon“ erfüllte sich Mendelssohn einen Wunsch seiner Jünglingsjahre, denn er hatte die deutsche Erstaufführung dieser letzten Oper von Weber 1828 in Berlin mit Enthusiasmus verfolgt. Ein anderes Kapitel in Verbindung mit dem Stadttheater waren Mendelssohns Beiträge zu dort aufgeführten Theaterstücken in Form von Schauspielmusiken, besonders für Stücke von Immermann. Es waren musikalische Einlagestücke für einzelne Szenen, in denen entweder von der Handlung her ohnehin Musik verlangt war, Lieder oder Chöre gesungen werden sollten oder zur Steigerung der Stimmung Musik eingesetzt werden sollte. Die ausführlichste Schauspielmusik hatte Mendelssohn bereits vor seinem Düsseldorfer Amtsantritt in Berlin für Immermanns Stück „Der standhafte Prinz“ komponiert: Chöre, eine Schlachtmusik und zwei gravitätische Märsche; sie wurde am 9. April 1833 in Düsseldorf aufgeführt. Es folgte im April 1834 die Musik zu Immermanns „Andreas Hofer“ mit den Arrangements eines Tirolerlieds und der Marseillaise mit Trommeln auf offener Bühne. Für die festliche Wiedereröffnung des Düsseldorfer Stadttheaters im Oktober 1834 steuerte Mendelssohn noch eine Adaption von Mozarts Komtur-Musik aus dessen „Don Giovanni“ bei für die Statuen-Szene in Immermanns Stück „Kurfürst Johann Wilhelm im Theater“ und komponierte eine musikalische Untermalung für das Lebende Bild „Der Parnass“, das Immermann nach einer italienischen Vorlage entworfen hatte. Weitere verloren gegangene Musiken zu Lebenden Bildern hatte Mendelssohn im Dezember 1834 beigesteuert; zuletzt komponierte er für die Düsseldorfer Bühne noch ein Bojaren-Lied für Männerchor und Blasinstrumente für Immermanns Stück „Alexis“, dessen Aufführung im April 1835 stattfand. Mendelssohns Erfahrungen im inneren Betrieb eines Theater- und Opernhauses und seine Debatten mit Immermann haben viel zu seinem Verständnis der Gegebenheiten und Erfordernisse von wirkungsvoller Bühnenmusik beigetragen. Umso bedauerlicher ist es, dass er diese wertvollen und eindringlichen Erfahrungen nicht bei der Produktion einer eigenen großen Oper umsetzen konnte. Wie in Düsseldorf, wo er längere Zeit mit Immermann an dem Projekt einer Oper zu Shakespeares „Der Sturm“ laborierte, ohne mit
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der Komposition zu beginnen,5 ermangelte es Mendelssohn zeitlebens eines geeigneten, ihn wirklich zufriedenstellenden Librettos. Dass er sich aber in seinem letzten Lebensjahr entschloss, an einem Libretto Emanuel Geibels über den Lorelei-Mythos zu arbeiteten und einige Szenen des 1. Aktes fragmentarisch hinterließ, zeigt bei der Auswahl des Stoffes seine Verbundenheit mit dem Sagenkreis des Rheinlandes. Beim schließlichen Zerwürfnis mit Immermann ging es im Dreieck zwischen Mendelssohn, Immermann und der Stadtverwaltung um die Frage der Theaterintendanz, die Mendelssohn auf keinen Fall übernehmen wollte. Mendelssohns Einblicke in die Machinationen eines Opernbetriebs waren wohl eher abschreckend und ließen ihn hilflos taktierend zurück.
V. M endelssohns in Düsseldorf komponierte Werke: „Paulus“, „Das Märchen von der schönen Melusine“, „Lieder ohne Worte“6 Zwei der wichtigsten Kompositionen aus der Düsseldorfer Zeit Mendelssohns sollen hier zunächst als in sich geschlossene Werke näher betrachtet werden: das Oratorium „Paulus“ und die Konzertouvertüre „Das Märchen von der schönen Melusine“. Die Düsseldorfer Entstehung des ursprünglich für Schelbles Frankfurter Cäcilienverein komponierten, dann später – 1836, während eines Musikfestes – doch in Düsseldorf unter Leitung des Komponisten uraufgeführten Oratoriums „Paulus“ ist gut in die Kulturformen der von Mendelssohn ungemein geförderten Niederrheinischen Musikfeste einzubetten. Oratorien waren ein gewünschter Bestandteil solcher Musikfeste, denn sie eröffneten einer großen Zahl beteiligter Musiker – Sängern wie Instrumentalisten – die Gelegenheit zu musikalisch-literarischer Betätigung. Darüber hinaus konnten sie dem Wunsch nach einem religiösen Bekenntnis und einer Entfaltung dramatischer Bezüge zu biblischen oder mythologischen Stoffen, in denen man das menschliche Schicksal gespiegelt sah, Rechnung tragen. Dieses erste große Oratorium Mendelssohns sollte später das erste Stück einer von ihm angestrebten theologisch-musikalischen Trilogie werden. In der oratorischen Produktion Mendelssohns ging die Vertonung des neutestamentlichen Stoffes über den siegreichen Apostel Paulus dem „Elias“ als alttestamentlichem Bekenntniswerk zum Propheten Eliah voran, dem ein weiteres geplantes Oratorium folgen sollte, das als gesamtbiblische Synthese gedacht war und „Erde, Hölle und Himmel“ (oder auch „Christus“) heißen sollte. Mendelssohn konnte aber davon in den letzten Monaten seines Lebens nur einzelne Szenen um die Geburt und das Martyrium des Jesus von Nazareth fertigstellen. Lediglich „Paulus“ geht in der sakralmusikalischen Produktion Mendelssohns christlichen, aber außerliturgischen Inhalts über den Rahmen der Evangelien hinaus und 5
Siehe hierzu neuerdings Hennemann, Monika, Als Operndirektor in Düsseldorf (1832–1835). Mendelssohn und Immermann, in: Dies. (Hg.), Felix Mendelssohns Opernprojekte im kulturellen Kontext der deutschen Opern- und Literaturgeschichte 1820–1850, Hannover 2020, S. 132–157. 6 Vgl. hierzu auch die Jahre 1833–35 im ersten chronologisch angelegte Auswahl-Werkverzeichnis in Sühring, Mendelssohn, S. 93.
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schließt sich einem historischen Christentum und dem Begründer seiner Kirche an. Die neue christliche Religion musste sich nach Jesu Tod erst im Kampf gegen die gesetzestreuen Juden und gegen heidnische antike Religionen des Mittelmeerraumes durchsetzen, insbesondere gegen die Vormachtstellung der hellenistischen Religion. Diese zu unterwerfen und auszulöschen, sah Paulus aus gutem theologischen und kirchenpolitischen Machtinstinkt heraus als die vordringlichste Aufgabe an, wenn die Verheißungen eines kommenden Gottesreiches Anhänger im vorderen Orient und in Europa finden sollten. Allenfalls in der auch musikalisch vollzogenen Verherrlichung dieser religionshistorischen Tendenz könnte man einen gewaltigen Schritt über Mendelssohns reformiertes Bekenntnis hinaus sehen und fragen, was ihn zu dieser gewaltsamen und übertriebenen Bekenntnismusik veranlasst hat. Dafür ist der Briefwechsel mit seinem Dessauer Theologen-Freund Julius Schubring (1806–1889) der geeignete Schlüssel. Musikalisch verbleibt Mendelssohns Paulus-Oratorium innerhalb der von Händel gegebenen formalen Einheit von Rezitativen, Arien und Chören, deren Abfolge dramatisch aufgeladen ist. Die Rezitative sind hier allerdings noch allein einem Lektoren zugeordnet, der die Handlung mehr erzählt als unterbricht. Ein handlungsintensives, der Oper angenähertes Oratorium, das keinen Erzähler mehr braucht, hat Mendelssohn erst mit seinem „Elias“ geschaffen. Dass Mendelssohn auch nach der Uraufführung weiter an einer Endfassung des „Paulus“ arbeitete, geht aus dem neu aufgefundenen Düsseldorfer Stimmenmaterial hervor, das zeigt, wie sehr sich die gedruckte Erstfassung noch einmal von der ursprünglichen, in Düsseldorf aufgeführten Version unterschied. Seine im November 1833 fertiggestellte Konzertouvertüre „Das Märchen von der schönen Melusine“ geht auf ein Theaterbuch für eine romantische Oper von Conradin Kreutzer (1780–1849) zurück, die Mendelssohn noch in Berlin erlebte. Aber sie ist nicht als Vorspiel zu einer Theateraufführung gedacht, sondern als selbstständiges Konzertstück, in dem die ganze Geschichte musikalisch nacherzählt wird – wie ursprünglich auch in der Ouvertüre zu Shakespeares „Ein Sommernachtstraum“ –, noch bevor Mendelssohn viel später eine ganze Schauspielmusik zu diesem Stück komponierte. Die Uraufführung der Düsseldorfer Frühfassung der Melusinen-Ouvertüre ließ Mendelssohn zunächst seinen Freund Moscheles im April 1834 in London dirigieren. Er hat sie der Überlieferung nach den Düsseldorfern damals vorenthalten, weil die Londoner Kritiker, seine Schwester Fanny und nicht zuletzt er selbst einiges an ihr auszusetzen hatten. Er wollte sie korrigieren, bevor er es wagte, sie in Deutschland aufzuführen, was erst in einem seiner ersten Leipziger Konzerte geschah. Vielleicht hatte er auch den Düsseldorfer Musikern zunächst nicht zugetraut, dieses Werk angemessen aufzuführen, denn gleich die ersten Erfahrungen mit den ungleich präziser und flexibler spielenden Leipziger GewandhausMusikern animierten Mendelssohn, seine in Düsseldorf geplante Überarbeitung der Melusinen-Ouvertüre im Herbst 1835 in Leipzig schnell vorzunehmen. Die Konzertouvertüre „Das Märchen von der schönen Melusine“ zeigt auch Mendelssohns Zweifel an der Fähigkeit der Musik, etwas zu schildern und das Geschilderte dem Hörer eindeutig zu vermitteln, sowie seine daran anschließende Überlegung, ob man
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sich nicht lieber einmummen und verkriechen [soll], in alle mögliche Instrumentalmusik ohne Titel – wie er an seine Schwester Fanny schrieb.7 Die bis heute arg vernachlässigte Düsseldorfer Komposition der Melusinen-Ouvertüre zeigt zwar eine narrative Potenz der Musik, leidet in ihrer Rezeption aber auch an Robert Schumanns (1810–1856) bis heute wirksamem Irrtum, ein bestimmtes liebliches Thema im ersten Teil der Ouvertüre würde die Stimme Melusines repräsentieren. Hingegen ist im musikalischen Geschehen in dieser Ouvertüre nicht nur abstrakt und allgemein der Kontrast zwischen der ritterlichen Sphäre und jener der Nixen dargestellt, sondern in ihrem formalen, harmonischen und motivischen Verlauf präsentiert sie einen genauen Abklang der Handlung dieses personenbezogenen Märchens. Es kann erst der im zweiten Teil erstmals aufkommende Gesang der Oboe das Liebeslied der betörten und betörenden Nixe sein, während der bisher Melusine zugeschriebene sehnende Gesang der Geigen im ersten Teil das Liebeswerben des aus der Horde vereinzelten edlen Ritters verkörpern muss. Nachdem gegen Ende der 1820er Jahre mit vereinten Kräften von Mendelssohn und seinem Berliner Freund Wilhelm Taubert (1811–1891) die neue Gattung des Instrumentalliedes für Klavier erfunden und verbreitet worden war, hielt Mendelssohn sein Leben lang an diesem Typus des pianistischen Charakterstücks fest. Er veröffentlichte in größeren Abständen Sammlungen mit jeweils sechs solcher Stücke unter dem von ihm geprägten Titel „Lieder ohne Worte“. Erfunden hatte diese Gattung eigentlich Taubert, der als Erster eine Sammlung „Minnelieder an die Geliebte für das Klavier“ veröffentlicht hatte. Davon war Mendelssohn so begeistert, dass er Taubert, der zwischen 1845 und 1869 als Berliner Generalmusikdirektor wirken sollte, zu dieser Erfindung gratulierte und sie zusammen mit seinen eigenen „Liedern“, „romances sans paroles“, „songs for piano alone“, die er für einige deutsche, französische und englische Damen notiert und ihnen gewidmet hatte, zu einer neuen Gattung der Musikgeschichte erklärte.8 Alle sechs von Mendelssohn in seine zweite Sammlung op. 30 aufgenommenen „Lieder ohne Worte“ stammen aus der Düsseldorfer Zeit, darunter das berühmte zweite „Venezianische Gondellied“ in fis-Moll vom März 1835. Einige seiner in Düsseldorf komponierten Klavierlieder hat er auch noch in spätere Sammlungen (opp. 38, 53 und 67) aufgenommen. Ihr Charakter ist sehr unterschiedlich, er reicht von ruhig fließend und elegisch bis aufgeregt und feurig, oder – wie es in den italienischen Tempo- und Charakterbezeichnungen heißt – von „Tranquillo“ über „Andante espressivo“ bis zu „Agitato e con fuoco“ und „Presto e molto vivace“. Mendelssohns intensive Beziehungen nach England, speziell zu Londoner Musikern, führten zu einer Reihe von Kompositionen, die er zwar in Düsseldorf schuf, aber zum Teil nur in London aufführen oder zunächst dort uraufführen ließ. Dazu zählen das Rondo 7 Brief Mendelssohns aus Düsseldorf an Fanny Hensel in Berlin vom 7.4.1834, in: Wald, Briefe, Bd. 3, Nr. 896, S. 388. 8 Siehe den Brief aus Luzern an Wilhelm Taubert in Berlin vom 27.8.1831, in: Morgenstern, Anja (Hg.), Felix Mendelssohn Bartholdy. Sämtliche Briefe, Bd. 2: Briefe Juli 1830 – Juli 1832, Kassel 2009, Nr. 453, S. 365, wo Mendelssohn davon spricht, wie wohltuend es ist, einen Musiker mehr in der Welt zu wissen, der dasselbe vorhat und ersehnt und dieselbe Straße geht.
Übrigens gefall ich mir prächtig hier.
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brillant in Es-Dur für Klavier und Orchester op. 29, das er von November 1833 bis Januar 1834 schrieb und von seinem Freund Moscheles, dem das Werk auch gewidmet war, in London uraufführen ließ. Es zählt zu einer Reihe von ein- bis zweisätzigen Konzertstücken für diese Besetzung, die Mendelssohn zwischen seinen großen Klavierkonzerten komponierte, um das virtuose Genre der Zeit auch musikalisch auf hohem Niveau zu halten. Einem Auftrag der Londoner Philharmonic Society folgte Mendelssohn mit der Komposition einer Konzertarie „Infelice! Ah, Ritorno“ nach einem Text von Pietro Metastasio (1698–1782), der einst die italienische Opera seria mit Libretti versorgt hatte. In dieser in Düsseldorf geschriebenen ersten Fassung stellte er der Sopranstimme, die bei der Londoner Uraufführung im Mai 1834 mit der berühmten Maria Malibran-Garcia (1808–1836) besetzt war, noch eine obligate Solovioline an die Seite, deren Part der nicht weniger berühmte Geiger (und Malibráns Lebensgefährte) Charles-Auguste de Bériot (1802–1870) übernahm. Mit dieser vereinzelten Arie stellte Mendelssohn nochmals seine Neigung zu opernhafter Bühnenmusik unter Beweis. In einer späteren Bearbeitung dieser Konzertarie für eine Leipziger Sängerin ließ er die Sologeige wieder fort.
VI. Malen und Reiten in Düsseldorf – Abgang aus Düsseldorf Mendelssohn hat in seiner Düsseldorfer Zeit viel gearbeitet, aber er war auch ein lebensfroher Mensch, der anderen Glück spenden konnte und wollte. Auch war er für andere Künste, für Literatur und bildende Kunst zu begeistern und versuchte, seine Musik mit ihnen zu verknüpfen. Vor allem seine bereits in Berlin erworbenen Kenntnisse in praktischer Malerei konnte er hier anwenden. Er war befreundet mit Bendemann sowie dem Direktor der Düsseldorfer Kunstakademie und Haupt der Düsseldorfer Malerschule, Wilhelm von Schadow (1788–1862) – er wohnte auch bei ihm –, mit denen er einen intensiven Gedankenaustausch über Techniken und Sujets der bildenden Kunst pflegte. Zur Erholung kaufte sich Mendelssohn ein Pferd und unternahm so manchen Ritt in die Umgebung. Schon Ende September 1833, noch bevor er sich recht constituirt hatte und trotz allerlei Geschäftsgängen, die er zu absolvieren hatte, meinte Mendelssohn: Übrigens gefall ich mir prächtig hier9. Dabei dürfte es dann lange Zeit geblieben sein. Obwohl Mendelssohn anfänglich stark mit mangelnder Qualität und Disziplin der Düsseldorfer Musiker zu kämpfen hatte, er die Statuten ändern und bei den Proben schreien und schimpfen musste und dabei sogar einmal die Partitur von Beethovens Egmont-Ouvertüre zerschlug, erkannten jene bald die Vorteile von Mendelssohns Strenge. Zwar hatte sich Mendelssohn mit seinem herrischen Auftreten zunächst auch bei den Musikern äußerst unbeliebt gemacht, bald aber erfreuten sie sich an dem erzielten verbesserten Klang, den auch das Publikum zu schätzen wusste. Dennoch wurde Mendelssohn nach zwei Saisons der Anstrengungen und 9 Brief Mendelssohns aus Düsseldorf an Eduard Devrient (1801–1877) in Berlin vom 30.9.1833, in: Wald, Briefe, Bd. 3, Nr. 797, S. 276.
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anhaltenden Querelen am Stadttheater müde, zweifelte wohl auch an der Möglichkeit, das Niveau in Düsseldorf jemals auf die von ihm angestrebte Höhe heben zu können, sodass er dem Angebot aus Leipzig, dort die Leitung des renommierten Gewandhauses zu übernehmen, nicht widerstehen konnte. Er blieb der Stadt Düsseldorf freundschaftlich verbunden und dirigierte auch in den nächsten Jahren dort immer wieder gerne. Seine Hochzeitsreise mit seiner in Frankfurt während der Proben im Cäcilia-Gesangverein kennen und lieben gelernten Braut Cécile Jeanrenaud unternahm er im Frühling und Frühsommer 1837 von Mainz aus rheinaufwärts an den Oberrhein, eine weitere Reise für die beiden Eheleute schloss sich unmittelbar danach an und führte sie von Frankfurt aus bis an den Niederrhein, wo sich Felix zu einer weiteren Englandreise in Düsseldorf einschiffte. Beide Reisen sind in einem von Cécile und Felix Mendelssohn geführten gemeinsamen Tagebuch dokumentiert.10 Mendelssohn war ein der Lebenslust nicht abgeneigter, aber auch hart und kontinuierlich arbeitender Künstler, der für die verschiedenen Aspekte seiner musikalischen Begabung als Pianist, Dirigent, Komponist und Organisator hier prägende Erfahrungen für seinen weiteren Lebensweg machte, hier für die großen Leipziger Aufgaben, die Leitung des Gewandhauses und die Gründung des Konservatoriums heranreifte – das dürfte die Quintessenz der Düsseldorfer Jahre sein.
VII. Ein Denkmal für Mendelssohn Nicht nur die Leipziger und Berliner hatten und haben also Grund, sich des in ihrer Stadt wirkenden Musikers zu erinnern und dies im Rahmen der Denkmalkultur zu dokumentieren. Die Düsseldorfer ehrten Mendelssohns Tätigkeit für das Musikleben ihrer Stadt, die über die Zeit seiner Anwesenheit und seines Todes hinaus Auswirkungen hatte, indem sie ihm nach langer Vorbereitung und dem Eintreiben von Spenden im Jahr 1901 ein Denkmal errichteten, zusammen mit dem für Immermann direkt vor dem Stadttheater. Die nationalsozialistische Kulturpolitik verbot in ihrer antisemitischen Ausrichtung nicht nur die Aufführung von Mendelssohns Werken, sondern legte auch Hand an das Denkmal, ließ es im August 1936 abreißen und das demontierte Denkmal 1940 als Metallspende für den Krieg einschmelzen. Erst im Anschluss an Mendelssohns 200. Geburtstag im Jahr 2009 bildete sich in Düsseldorf eine Initiative für die Wiedererrichtung des Denkmals durch private Spenden. Es entstand ein erfolgreich arbeitender Förderverein zur Wiederaufstellung des Mendelssohn-Denkmals, der vom Düsseldorfer Musikverein unterstützt wurde. Ein Bronzeabguss des Originals von 1901 steht seit 2012 am Rande des Hofgartens, der Saal in der Düsseldorfer Tonhalle heißt seitdem Mendelssohn-Saal.
10 Siehe Jones, Peter Ward (Hg.), Felix und Cécile Mendelssohn Bartholdy. Das Tagebuch der Hochzeitsreise nebst Briefen an ihre Familien, Zürich 1997.
Der Pianist Karlrobert Kreiten (1916–1943) Ein Musikerleben im Nationalsozialismus Simone Bornemann
Am 7. September 2018 jährte sich zum 75. Mal der Todestag des Pianisten Karlrobert Kreiten, der als eines der größten Klaviertalente seiner Generation galt. Bislang blieben Darstellungen über ihn meist auf sein außergewöhnliches Talent, seine kurze, glanzvolle Karriere und sein tragisches Schicksal beschränkt. Außerdem erfolgte häufig der Verweis darauf, dass er im Grunde ein unpolitischer Mensch gewesen sei. Es darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass Karlrobert Kreiten als Mensch und Musiker im nationalsozialistischen Deutschland lebte und agierte. Durch sein Arrangement mit den damit einhergehenden „Verpflichtungen“ wurde er zunächst als Mitglied der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ akzeptiert. Im Folgenden soll seine Lebensgeschichte vor dem Hintergrund des nationalsozialistischen Verständnisses des Konzeptes der „Volksgemeinschaft“ exemplarisch reflektiert werden.
I. Biographie
Abb. 3 Karlrobert Kreiten, Porträtfoto, 1941
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Karlrobert Kreiten kam am 26. Juni 1916 als Sohn des Konzertpianisten, Komponisten und Musikpädagogen Theo Kreiten (1887–1960) und seiner Frau, der Sängerin Emmy Kreiten (1894–1985), geborene Liebergesell, in Bonn zur Welt.1 Nachdem sein Vater eine Stelle als Dozent am Buths-Neitzel-Konservatorium in Düsseldorf angenommen hatte, verlegte die Familie ihren Wohnsitz 1917 nach Düsseldorf, wo Karlrobert Kreiten und seine Schwester Rosemarie (1918–1975) ihre Kindheit und Jugend verbrachten.
Abb. 4 Karlrobert Kreiten mit Schwester in Düsseldorf, 1935
Schon früh zeigte sich seine große Begabung und im Alter von etwa sieben Jahren erhielt Karlrobert Kreiten seinen ersten Klavierunterricht. Mit elf absolvierte er seinen ersten öffentlichen Auftritt anlässlich eines Jugendkonzertes im Düsseldorfer Planetarium, das auch im Rundfunk übertragen wurde.2 Danach hatte er hin und wieder die Gelegenheit, bei Konzerten seiner Eltern kleine Kostproben seines Könnens zu geben und wirkte bei Schülerkonzerten des Städtischen Reform-Realgymnasiums an der Rethelstraße mit.3 Hier absolvierte er auch seine schu1 Die folgenden biographischen Angaben basieren, soweit nicht anders gekennzeichnet, auf der von Theo Kreiten verfassten Biographie: Kreiten, Theo, Wen die Götter lieben … Erinnerungen an Karlrobert Kreiten, Düsseldorf 1947. 2 Theo Kreiten berichtet zwar, dass sein Sohn diesen Auftritt mit zehn Jahren bestritt, aber einem Artikel vom 5.2.1928 zufolge erfolgte dieser erst ein Jahr später. Stadtmuseum Düsseldorf (SMD), U 103, s.p. 3 Berichte hierüber befinden sich im Nachlass von Emmy Kreiten im Düsseldorfer Stadtmuseum. Siehe SMD, U 103, s.p.
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lische Ausbildung. Über eines dieser Konzerte berichteten die Düsseldorfer Nachrichten am 19. November 1929: Den stärksten Beifall holte sich der kleine frische Quartaner Karl robert Kreiten, dessen brillantes, technisch überraschend sichere Klavierspiel einen seltsamen Reiz ausübte. Wenn auch die Klavierballade von Brahms mehr gekonnt als erlebt zur Darstellung kam, so zeugte doch die Gestaltung der schwierigen Arabesken von Debussy von erstaunlich weit fortgeschrittener Technik.4 1930 nahm Karlrobert Kreiten das Klavierstudium in der Klasse des Pianisten Peter Dahm (1877–1947) an der Staatlichen Hochschule für Musik in Köln auf.5 Bereits drei Jahre später konnte er die ersten Erfolge für sich verzeichnen. Im Juni 1933 wurde er beim „II. Internationalen Wettbewerb für Gesang und Klavier“ mit einer Silbernen Ehrenplakette und einem Diplom ausgezeichnet.6 Zudem erspielte er sich im Oktober desselben Jahres in Berlin ein Teilstipendium der „Mendelssohn-Bartholdy-Stiftung“.7 1934 führte ihn die weitere Ausbildung nach Wien, wo er seine Studien bei Hedwig Kanner-Rosenthal (1882–1959) – der Ehefrau des Klaviervirtuosen Moriz Rosenthal (1862–1946) – fortsetzte. Diese Studien fanden jedoch ein vorzeitiges Ende. Auch in Österreich zeichnete sich der wachsende Einfluss der Nationalsozialisten immer deutlicher ab. Aufgrund der Gefahr, die sich hieraus wegen ihrer jüdischen Konfession ergab, emigrierten die Rosenthals 1936 in die Vereinigten Staaten. Karlrobert Kreiten zog daraufhin nach Berlin und vertiefte seine pianistischen Fertigkeiten bei Claudio Arrau (1903–1991), bis sich auch dieser 1940 dazu entschloss, das nationalsozialistische Deutschland zu verlassen. Zu diesem Zeitpunkt war Karlrobert Kreiten dem deutschen Publikum als ernstzunehmender Nachwuchspianist bereits bekannt. Am 4. Dezember 1936 hatte er sich erstmals mit einem Solo-Rezital im Kölner Gürzenich präsentiert,8 worüber der „Westdeutsche Beobachter“ berichtete: Der erst 19jährige Pianist Karlrobert Kreiten zeigte in seinem ersten größeren Klavierabend […] eine Vollendung technischer Mittel und eine gesunde Art musikalischen Gestaltungsvermögens, die zu den schönsten Hoffnungen berechtigen. Seine künstlerische Arbeit besitzt die Selbstverständlichkeit technischer Beherrschung, gleichgültig, ob es sich um eine peinlich genaue Anschlagsart, um das glitzernde Filigran Chopinscher Passagen oder um die stahlhart gehämmerten Oktaven und Akkorde der ‚Appassionata‘ von Beethoven handelt. Das erstaunlich überlegene Spiel mit all diesen Mitteln, verbunden mit einem sicheren Gedächtnis, erhält seine eigentliche Erhöhung in der musikalischen Durchdringung der Werke. Trotz aller Jugendlichkeit, die mit draufgängerischem Schwung sich der Musik hingibt, weiß Kreiten den großen Bogen in der Appassionata sogar über die drei Sätze hinaus zu einer organischen Gesamtschau zu spannen, weiß die Leidenschaft des ersten Satzes ebenso überzeugend zu gestalten, wie den 4 5 6 7
Kritik mit handschriftlich hinzugefügter Quellenangabe, SMD, U 103, s.p. Studien- und Werdegang, SMD, G 1607. Abschlussbericht des Wettbewerbs, Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, Archiv, Zl. 4567/2/09. Schreiben von Fritz Stein an den Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung Berlin vom 17. März 1934, Universität der Künste Berlin, Universitätsarchiv, 1/421, Bl. 80. 8 Programmvorschau des Kölner Gürzenichs, SMD, G 1653.
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zweiten Satz mit innerer Wärme zu beseelen. Dabei klärt eine ausgezeichnete Phrasierung den Aufbau des Werkes, das Kreiten vornehmlich mit rhythmisch ausgeprägter Präzision spielte. Der Mut, für den ersten Abend gleich den Gürzenich zu nehmen war berechtigt und wurde nicht enttäuscht. Der sehr gut gefüllte Saal gab Beifall über Beifall.9 Nach seinem Umzug nach Berlin präsentierte sich Karlrobert Kreiten 1938 im Berliner Beethovensaal mit gleich drei unterschiedlichen Soloprogrammen.10 Dies kann dahingehend gedeutet werden, dass er die Reichshauptstadt als Sprungbrett für seine Karriere nutzen wollte. Diese Entscheidung erwies sich als wegweisend für seine Karriere: Danach absolvierte er immer häufiger Konzerte in ganz Deutschland und vereinzelt auch im Ausland.
Abb. 5 Karlrobert Kreiten in seiner Berliner Wohnung, Hohenstaufenstraße 36, undatiert
Neben seinen Klavierabenden wurde er ab 1941 auch immer häufiger von Orchestern als Solist engagiert. Bereits 1937 hatte sich Albert Backhaus – Betreiber einer Berliner Konzertdirektion – darum bemüht, ihn an die Berliner Philharmoniker zu vermitteln.11 Im März 1939 war es zum ersten Mal so weit und Karlrobert Kreiten spielte in Begleitung
9 Westdeutscher Beobachter, Nr. 579, 8.12.1936. 10 Konzertzettel, SMD, G 1638 (Konzert am 29.1.1938), G 1636 (Konzert am 21.4.1938) und G 1633 (Konzert am 13.11.1938). 11 Schreiben von Albert Backhaus an Karlrobert Kreiten vom 9.7.1937, SMD, U 107.
Der Pianist Karlrobert Kreiten (1916–1943)
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der Berliner Philharmoniker Mozarts A-Dur-Konzert, KV 488.12 Als Interpret des dritten Klavierkonzertes von Beethoven war er im Juni 1941 erneut bei ihnen zu Gast.13 Im Jahr 1943 sollte seine Karriere dem Ende entgegengehen. Eindrucksvoll ist, dass der erst 26-jährige Karlrobert Kreiten im Januar 1943 innerhalb von nur zwei Wochen fünf Auftritte in Köln, Chemnitz, Bonn und Heidelberg absolvierte, bei denen er Klavierkonzerte von Mozart, Pfitzner und Schäfer interpretierte.14 Seinen ersten Klavierabend in jenem Jahr bestritt er am 23. März.15 Hierüber berichtete er seiner Freundin Annelie Stützel (1924–2016) eine Woche später in einem Brief: Dein Vater wird Dir von meinem Erfolg schon erzählt haben. Ich mußte Zugabe auf Zugabe geben. Der Beifall wollte erst enden, als das Licht im Saal gelöscht wurde.16 Der „Völkische Beobachter“ resümierte im Anschluss an einen Bericht über ein Konzert von Walter Gieseking (1895–1956) anerkennend: Auch Karlrobert Kreiten ist heute zu einer Sicherheit der künstlerischen Aussage vorgedrungen, die seine Klavierkonzerte zu einem nachhaltigen Erlebnis stempelt. Bei Mozart und Beethoven zumal bot er eine Leistung, die über die verblüffende Technik hinaus zum Wesen der Werke hinführte.17 Dieser Klavierabend in Berlin war Karlrobert Kreitens letzter öffentlicher Auftritt. Um sich hierauf in Ruhe vorbereiten zu können, hatte er aufgrund eines Wohnungswechsels innerhalb Berlins vorübergehend bei Ellen Ott-Moneke – einer früheren Kommilitonin seiner Mutter – gewohnt. Ihr gegenüber hatte er sich in privaten Gesprächen kritisch über das nationalsozialistische Regime und seine Meinung hinsichtlich der Kriegslage geäußert. Sie erstattete daraufhin Anzeige gegen ihn. Am 3. Mai 1943 wollte Karlrobert Kreiten in der Aula der Alten Universität in Heidelberg einen weiteren Klavierabend geben.18 Dieser musste jedoch abgesagt werden, da Karlrobert Kreiten am Morgen von der Gestapo in seinem Hotel verhaftet worden war. Etwa zwei Wochen später erfolgte seine Überführung nach Berlin, wo er in der GestapoZentrale in der Prinz-Albrecht-Straße 8 zunächst als Schutzhäftling festgehalten wurde. Nach der Übergabe seines Falls an die Justiz folgten ab dem 7. Juli 1943 zwei weitere Monate Untersuchungshaft im Zellengefängnis an der Lehrter Straße in Berlin-Moabit.19 Währenddessen wurde der Familie Kreiten von verschiedenen Seiten zwar immer wieder versichert, dass aufgrund der günstigen Gestapo-Berichte nichts Schlimmeres zu befürchten und die zu erwartende Haftstrafe vermutlich durch die vorangegangene Inhaftierung bereits abgegolten sei, allerdings nahm der Fall schließlich eine plötzliche Wende. 12 Konzertzettel, SMD, G 1643. 13 Konzertzettel, SMD, G 1660. 14 Konzertzettel für diese Konzerte, SMD, G 1682 (Köln), G 1680 (Chemnitz), G 1683 (Bonn) und G 1681 (Heidelberg). 15 Konzertzettel, SMD, G 1684. 16 Brief von Karlrobert Kreiten an Annelie Stützel vom 30.3.1943. Original im Besitz der Autorin. 17 Hermann Killer in Völkischer Beobachter, Nr. 92, 2.4.1943. 18 Konzertzettel, SMD, G 1606. 19 Aufnahmebogen Haftanstalt „Zellengefängnis“, Lehrter Straße, Bundesarchiv (BArch), R 3017/4240, s.p.
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Am 2. September 1943 wurde dem Untersuchungsgefängnis die von Ernst Lautz (1887–1979) verfasste Anklageschrift zugestellt. Ihr war die Ladung zur Hauptverhandlung beigefügt.20 Diese war bereits für den nächsten Tag um 14 Uhr vor dem Volksgerichtshof angesetzt und Karlrobert Kreiten wurde hierin unter dem Vorsitz von Roland Freisler (1893–1945) zum Tode verurteilt.
Abb. 6 Todesurteil gegen Karlrobert Kreiten, September 1943
Nur vier Tage später erfolgte morgens die Verlegung in die Strafvollzugsanstalt BerlinPlötzensee, wo er noch am selben Abend durch Erhängen hingerichtet wurde.
20 Ladung zur Hauptverhandlung, BArch, R 3017/4240, s.p.
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II. Eine unpolitische Persönlichkeit? Nach Karlrobert Kreitens Tod teilte Wilhelm Furtwängler (1886–1954) der Familie in einem Kondolenzbrief mit: Im Sommer, als ich zuerst von seiner Verhaftung hörte, habe ich mich sofort mit einem höheren Offizier des Sicherheitsdienstes in Beziehung gesetzt und getan, was mir irgend zu tun möglich war, um auf seine Qualitäten als Künstler und seine, soweit mir bekannt, unpolitische Persönlichkeit hinzuweisen.21 Letztlich waren es jedoch politische Äußerungen, die Karlrobert Kreiten zum Verhängnis wurden. So soll er Adolf Hitler (1889–1945) unter anderem als einen Wahnsinnigen bezeichnet haben, von dem nun das Geschick von Deutschland ab[hänge]. Außerdem habe er erklärt, der Führer sei brutal […], habe keine Ahnung von der Kriegsführung, von der Musik und mische sich nur in alles hinein; alles wolle der Führer besser wissen, aber er verstünde von nichts etwas.22 Derartige Äußerungen über den „Führer“ wurden aus nationalsozialistischer Sicht, gerade in der sich ab Ende 1942 deutlich abzeichnenden Endphase des Krieges, als „Majestätsbeleidigung“ gewertet.23 Weiterhin wurde ihm zum Verhängnis, dass seine kritischen Äußerungen denunziert wurden und dass bekannt gewordene Kritik nach der sich nach Stalingrad auch für die Bevölkerung wahrnehmbaren Kriegsniederlage mit äußerster Vehemenz verfolgt wurde. Seit Ende 1942 wurden immer mehr Fälle, in denen die Staatsanwaltschaft ursprünglich die Strafverfolgung nach dem „Heimtückegesetz“ angeordnet hatte, vom Volksgerichtshof nach Paragraf 5 der „Kriegssonderstrafrechtsverordnung“ als „Wehrkraftzersetzung“ abgeurteilt, worauf das sichere Todesurteil stand.24 So ging der Volksgerichtshof auch in Karlrobert Kreitens Fall vor.25 In der Urteilsbegründung wurde abschließend festgehalten: Ein solcher Mann hat sich für immer ehrlos gemacht. Er ist in unserem jetzigen Ringen – trotz aller beruflichen Leistungen als Künstler – eine Gefahr für unseren Sieg. Er muß zum Tode verurteilt werden. Denn unser Volk will stark und einig und ungestört unserem Siege entgegenmarschieren.26 Den Nationalsozialisten wurde zunehmend bewusst, dass ihre „Volksgemeinschaft“ zu zerbrechen drohte. Die Bekämpfung der „inneren Feinde“ sollte das verhindern.
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Zit. n. Kreiten, Götter, S. 49. Anklageschrift, BArch, R 3017/97, p. 306. Vgl. Janka, Franz, Die braune Gesellschaft – ein Volk wird formatiert, Stuttgart 1997, S. 352. Vgl. Dörner, Bernward, „Heimtücke“. Das Gesetz als Waffe. Kontrolle, Abschreckung und Verfolgung in Deutschland 1933–1945, Paderborn, 1998, hier S. 142–144 und S. 218. 25 Vgl. Anklageschrift, BArch, R 3017/97, p. 303; sowie das Urteil bzw. die Urteilsbegründung in BArch, R 3016/634, p. 3. 26 Ebd., p. 4.
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III. Das Konzept „Volksgemeinschaft“ seit Ausklang des 19. Jahrhunderts Der Begriff „Volksgemeinschaft“ ist seit seiner Verwendung während der NS-Zeit mit einer negativen Konnotation behaftet. Das dahinterstehende Konzept war jedoch keine Erfindung der Nationalsozialisten. Bereits 1887 hatte der Soziologe Ferdinand Tönnies (1855–1936) in seiner Abhandlung „Gemeinschaft und Gesellschaft“ unterschieden: Gemeinschaft ist das dauernde und echte Zusammenleben, Gesellschaft nur ein vorübergehendes und scheinbares. Und dem ist gemäß, daß Gemeinschaft selber als ein lebendiger Organismus, Gesellschaft als ein mechanisches Aggregat und Artefact verstanden werden soll.27 Nach Thomas Etzemüller formulierte Tönnies damit „eines der wirkmächtigsten Deutungsmuster der Moderne“, sodass „fortan […] zahllose Autoren die industrielle Moderne als eine Epoche [beschrieben], die die organischen, integrierten, harmonischen Gemeinschaften der Vormoderne zersetzt und in die atomisierte, mechanistische Gesellschaft verwandelt habe, die in ihre Einzelteile zu verfallen drohe“28, was wiederum zur Folge hatte, dass es „[d]as große Projekt zahlreicher „Sozialingenieure“ war […] „Gesellschaft“ wieder in „Gemeinschaft“ zu transformieren.“29 Franz Janka resümierte, „[j]e mehr man dem Begriff der Gemeinschaft in den ersten dreißig Jahren des 20. Jahrhunderts nachspürt, desto deutlicher erkennt man, daß die Idee und Erwartung einer Gemeinschaft zu dieser Zeit eine herausragende Rolle gespielt haben“, so dass man „[ü]berspitzt formuliert […] sagen [könnte], daß es ab der Jahrhundertwende, besonders aber nach 1918, nur noch ein beherrschendes geisteswissenschaftliches Thema gab: die Gemeinschaft.“30 Während der Weimarer Republik strebten nahezu alle Parteien die Verwirklichung einer Volksgemeinschaft als Gesellschaftsform für die Zukunft an.31 So auch die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP), die ihre Volksgemeinschaft als Gesinnungsgemeinschaft, Blutsgemeinschaft, politische Gemeinschaft und Leistungsgemeinschaft betrachtete. Dieses nationalsozialistische Verständnis von Volksgemeinschaft beeinflusste auch Karlrobert Kreitens Lebensgeschichte und sein Wirken als Pianist.
27 Tönnies, Ferdinand, Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und Socialismus als empirischer Culturformen, Leipzig 1887, S. 5. 28 Etzemüller, Thomas, Total, aber nicht totalitär. Die schwedische „Volksgemeinschaft“, in: Bajohr, Frank/ Wildt, Michael (Hgg.), Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 2009, S. 41–59, S. 42. Zur Rolle des aus dem Nationalsozialismus herrührenden Ideals der „Volksgemeinschaft“ im modernen Rechtsextremismus vgl. Dubslaff, Valérie, Die „deutsche Frau“ und ihre Rechte, in: Ariadne. Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte 75 (2019), S. 109–125, hier S. 120–122. 29 Etzemüller, Total, S. 42. 30 Janka, Gesellschaft, S. 151. 31 Vgl. ebd.
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3.1 Gesinnungsgemeinschaft Gut eine Woche nach seinem Tod konnte man den Tageszeitungen reichsweit entnehmen: Am 7. September 1943 ist der 27 Jahre alte Pianist Karlrobert Kreiten aus Düsseldorf hingerichtet worden, den der Volksgerichtshof wegen Feindbegünstigung und Wehrkraftzersetzung zum Tode verurteilt hat. Kreiten hat durch übelste Hetzereien, Verleumdung und Übertreibungen eine Volksgenossin in ihrer treuen und zuversichtlichen Haltung zu beeinflussen versucht und dabei eine Gesinnung an den Tag gelegt, die ihn aus der deutschen Volksgemeinschaft ausschließt.32 Karlrobert Kreiten hatte mit seinen regimekritischen und den Kriegsausgang betreffenden Äußerungen gegen das nationalsozialistische Gesinnungsprinzip verstoßen. Die Meldung über seinen Ausschluss aus der deutschen Volksgemeinschaft impliziert jedoch gleichzeitig, dass er zuvor als in diese integriert angesehen worden war. 3.2 Blutsgemeinschaft 2016 war dem Programmheft zu einem Gedenkkonzert anlässlich Kreitens 100. Geburtstag zu entnehmen, dass es zu den makabren Ironien der Geschichte [gehört], dass Kreiten dieser ‚Volksgemeinschaft‘ […] gar nicht angehörte, da er durch seinen Vater niederländischer Staatsbürger war.33 Theo Kreiten war trotz der deutschen Herkunft seiner Eltern tatsächlich niederländischer Staatsangehöriger.34 Dies beruhte jedoch lediglich auf der Tatsache, dass er im niederländischen Valkenburg nahe der deutschen Grenze zur Welt gekommen war, wo in seinem Geburtsjahr 1887 noch das „ius soli“ galt. Demnach wurde ihm die Staatsangehörigkeit des Landes der Geburt zugesprochen. Im Deutschen Reich hingegen erwarb ein Kind, wenn es ehelich geboren worden war, nach dem „ius sanguinis“ die Staatsangehörigkeit des Vaters. Somit war auch der in Bonn geborene Karlrobert Kreiten offiziell niederländischer Staatsangehöriger. Allerdings war das für seine Inklusion in die nationalsozialistische Volksgemeinschaft unerheblich.35 Ausschlaggebend war hierfür vielmehr das „Blut“, das den „Nationalsozialisten als bestimmendes Kriterium der Zugehörigkeit zum Volk [diente].“36 Nach 32 Unter anderem dem Kölner Stadt-Anzeiger, dem Westdeutschen Beobachter und dem Neuen Wiener Tagblatt, jeweils vom 15.9.1943. 33 Lück, Hartmut, Karlrobert Kreiten in memoriam, in: Programmheft zum Gedenkkonzert „Das ungespielte Konzert“ – Zum 100. Geburtstag des von der NS-Diktatur ermordeten Pianisten Karlrobert Kreiten“ am 26.6.2016 in der Aula der Alten Universität/Heidelberg, o. S. 34 Aus einer Ahnentafel, die Gilbert von Studnitz, ein in Benicia/Kalifornien lebender Neffe von Karlrobert Kreiten, angefertigt und freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat, geht hervor, dass Theo Kreitens Eltern, Joseph Kreiten und seine Frau Elisabeth, aus dem niederrheinischen Oedt stammten. 35 Zum Begriff „Inklusion“ siehe Nolzen, Armin, Inklusion und Exklusion im „Dritten Reich“. Das Beispiel der NSDAP, in: Bajohr, Frank/Wildt, Michael (Hgg.), Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus (Die Zeit des Nationalsozialismus), Frankfurt am Main 2009. S. 60–77. 36 Vgl. Janka, Gesellschaft, S. 206.
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Einführung der Nürnberger Rassegesetze im September 1935 wurde der Ariernachweis, der belegen musste, dass die Vorfahren über mindestens zwei Generationen „deutschen oder artverwandten Blutes“ waren, für alle Bürger zur Pflicht. Diese rassisch-biologischen Vorgaben, welche die Nationalsozialisten hinsichtlich der Zugehörigkeit zu ihrer „Blutsgemeinschaft“ machten, waren in der Genealogie der Familie Kreiten offensichtlich gegeben, denn auch Karlrobert Kreiten erfüllte diese zunächst grundlegende Pflicht für die Zugehörigkeit zur nationalsozialistischen Volksgemeinschaft.37 3.3 Politische Gemeinschaft Der „Ariernachweis“ war auch die Bedingung dafür, dass Karlrobert Kreiten als Pianist im Konzertbetrieb mitwirken und somit seinen Beruf ausüben durfte. Hierfür musste er einer weiteren Pflicht genügen: Er musste der Reichsmusikkammer beitreten. Mit diesem Schritt wurde er zum Mitglied der politischen Gemeinschaft der Nationalsozialisten. Die Reichsmusikkammer, die Joseph Goebbels’ (1897–1945) Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda unterstand, steuerte nach ihrer Eröffnung am 15. November 1933 das deutsche Musikleben. Über diese zentrale politische Instanz wurde unter anderem bestimmt, welche Musik aufgeführt oder eben auch nicht aufgeführt werden durfte. Im November 1933 hatte sich Karlrobert Kreiten bei einem Hochschulkonzert unter der Leitung von Hermann Abendroth (1883–1956) im Großen Saal des Kölner Gürzenich, das Zum Besten der nationalsozialistischen Volkswohlfahrt veranstaltet worden war, mit dem ersten Klavierkonzert von Franz Liszt erstmals dem Kölner Publikum vorgestellt. Bereits nach diesem Auftritt hatte der „Westdeutsche Beobachter“ den Wunsch geäußert, daß er unsre klassischen Konzerte in den nächsten Abenden bevorzugt.38 Von der Aufführung der Werke Liszts hielt Karlrobert Kreiten das allerdings nie ab, und es gab kaum ein Konzert, in dem er nicht mindestens eines davon spielte. Dennoch tauchten Werke der von den Nationalsozialisten bevorzugten deutschen Komponisten wie Mozart, Beethoven oder Brahms im Laufe seiner Karriere immer häufiger in seinen Programmen auf.39 Der Bremer Musikjournalist Hartmut Lück hält bezüglich Kreitens Programmgestaltung ergänzend fest, dass dieser „sich gezielt auch für die zeitgenössische Musik“ einsetzte, was „damals keineswegs alltäglich war“, und er „wiederholt öffentlich das dritte Prokofiew-Konzert und die drei Sätze aus Petruschka von Strawinsky, eine seiner Glanznummern“, spielte.40 37 Dies geht aus einer der Autorin vorliegenden Kopie der Karteikarte der Reichskulturkammer hervor, auf der die Frage nach der arischen Herkunft positiv beantwortet ist. 38 Westdeutscher Beobachter, Nr. 303, 27.11.1933. 39 Das geht aus der Einsicht von im Düsseldorfer Stadtmuseum vorliegenden Konzertprogrammen und -kritiken hervor. Einen Konzertkalender wird die Autorin im Zuge ihrer Dissertation vorlegen. 40 Lück, Hartmut, Ein Exempel wird statuiert – der Fall Karlrobert Kreiten in: Heister, Hanns-Werner/Klein, Hans-Günter (Hgg.), Musik und Musikpolitik im faschistischen Deutschland, Frankfurt am Main 1984, S. 243–252, hier S. 245.
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Nach der Kriegserklärung – unter anderem Frankreichs – gegenüber Deutschland am 3. September 1939 erließ Peter Raabe (1872–1945), Präsident der Reichsmusikkammer, am 18. September das Verbot der Aufführung von Musik aller feindlichen Nationen, die noch dem Urheberrecht unterlag.41 Allerdings veranlassten ihn verschiedene Anfragen erst am 15. Februar 1940 dazu, in den „Amtlichen Mitteilungen der Reichsmusikkammer“, darauf hinzuweisen, daß der in Rußland geborene und in Frankreich lebende Igor Strawinsky französischer Staatsangehöriger ist und daher für die Dauer des Krieges Aufführungen seiner Werke in Deutschland unzulässig sind.42 Nur fünf Tage zuvor, am 10. Februar 1940, hatte sich Karlrobert Kreiten bei einem Klavierabend im Kleinen Saal des Hamburger Conventgarten noch mit dessen Petruschka-Suite präsentiert.43 Es war das letzte Mal, dass er dieses Werk öffentlich vorführte. Knapp ein Jahr später, am 6. Februar 1941, fand im Großen Saal des Gildenhauses in Neuwied ein Sinfoniekonzert des Städtischen Orchesters Bonn zur Erinnerung an den 100. Geburtstag P. I. Tschaikowskys statt, bei dem Karlrobert Kreiten als Solist bei der Aufführung von dessen erstem Klavierkonzert mitwirkte.44 Wenige Monate darauf ließ die Reichsmusikkammer nach Beginn des Russlandfeldzuges am 22. Juni 1941 über die „Amtlichen Mitteilungen“ verlauten: Wie das Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda mitteilt, sollen die Werke russischer Komponisten bis auf weiteres ausnahmslos nicht aufgeführt werden.45 Karlrobert Kreiten hielt sich hinsichtlich seiner Programmgestaltung an diese Vorgaben.46 3.4 Leistungsgemeinschaft Durch seine Einbindung in die politische Volksgemeinschaft über die Reichsmusikkammer und die damit zugelassene Tätigkeit als Pianist wurde Karlrobert Kreiten schließlich zum Teil der nationalsozialistischen Leistungsgemeinschaft. Nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938 unternahm der Stollwerck’sche Männerchor Köln im Juni 1939 eine Tournee in das nun als „Ostmark“ bezeichnete Gebiet. Karlrobert Kreiten begleitete ihn auf dieser Reise und spielte bei den Konzerten zwischen den Gesangsbeiträgen des Chores solistische Einlagen am Klavier. Bei einem in diesem Rahmen von der Deutschen Arbeitsfront Gau Wien sowie der NSGemeinschaft „Kraft durch Freude“ (KdF) durchgeführten Konzert am 10. Juni 1939 im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins47 entstand eine Fotografie, die Karlrobert Kreiten
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Vgl. Amtliche Mitteilungen der Reichsmusikkammer. Jg. 6, Nr. 19, 1.10.1939, S. 57. Amtliche Mitteilungen der Reichsmusikkammer. Jg. 7, Nr. 2, 15.2.1940, S. 8. Konzertzettel, SMD, G 1676. Vortragsfolge, SMD, G 1614. Amtliche Mitteilungen der Reichsmusikkammer. Jg. 8, Nr. 7, 15.7.1941, S. 22. Vgl. Anm. 38. Konzertzettel, SMD, G 1640.
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auf der mit einem überdimensionalen Hakenkreuzbanner geschmückten Bühne zeigt.48 Bezugnehmend auf Karlrobert Kreitens Konzerttätigkeit betont Hartmut Lück zwar, dass dieser seine Karriere verfolgte, „ohne sich durch Mitwirkung bei repräsentativen Nazi- Veranstaltungen zu kompromittieren“49 – aller dings präsentierte sich Karlrobert Kreiten im Laufe seiner kurzen Karriere zahlreiche Male bei Konzerten, die von der KdF organisiert wurden.50 Bei diesen Konzerten inszenierte sich die Volksgemeinschaft, und wie im Alltag war die Fahne mit dem Hakenkreuz, das „ab 1933 […] das Sinnbild für die nationalsozialistische Volksgemeinschaft [war]“51, auch bei diesen Veranstaltungen allgegenwärtig. Die KdF spielte eine wichtige Rolle innerhalb der nationalsozialistischen Leistungsgemeinschaft. Am 27. November 1933 nach dem Vorbild der faschistisch-italienischen Abb. 7 Karlrobert Kreiten beim Konzert im Freizeitgemeinschaft Opera Nazionale Dopo- Wiener Musikverein, 10.6.1939 lavoro gegründet, war sie „von Beginn an auf die Organisation und Vergemeinschaftung sämtlicher privater Aktivitäten gerichtet.“52 Hierdurch sollte, insbesondere in den ersten Jahren der nationalsozialistischen Diktatur, das Gemeinschaftsgefühl der „Volksgenossen“ gestärkt und stabilisiert werden.53 Während sich die Organisation anfangs vorrangig als Massentourismusunternehmen verstand, konzentrierte sie sich nach Beginn des Zweiten Weltkriegs vermehrt auf die Organisation kultureller Veranstaltungen. Dabei verfolgte sie die Absicht, die Deutschen sowohl in der Heimat als auch an der Front vom Kriegsalltag abzulenken, ihnen dadurch Kraft zum weiteren Durchhalten zu verleihen und damit ihre Leistungsfähigkeit aufrechtzuerhalten. Anlässlich eines in der Berliner Staatsoper am Königsplatz begangenen Festakts zum 9. Jahrestag der Gründung der KdF hielt Robert Ley (1890–1945) – Reichsorganisationsleiter der NSDAP – in einer Ansprache fest, dass es gegenwärtig nichts anderes [gebe], als die Kraft der Nation zu erhalten und zu steigern, den Menschen zu begeistern 48 49 50 51 52 53
Der Autorin als Schenkung einer Zeitzeugin im Original vorliegend. Lück, Exempel, S. 248. Vgl. Anm. 38. Vgl. Janka, Gesellschaft, S. 395. Ebd., S. 378. Vgl. ebd., S. 380 f.
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und ihm die seelischen, moralischen und körperlichen Kräfte zum Durchhalten zu geben. Hierfür dankte er namens des Führers, der Partei und der ganzen Nation allen […], die an der vielgestaltigen KdF.-Arbeit mitgewirkt haben, insbesondere den vielen Künstlerinnen und Künstlern, die den deutschen Menschen in den Betrieben und den Soldaten an allen Fronten Freude und Erholung brachten.54 Auch im Kaisersaal der Düsseldorfer Tonhalle fand anlässlich der 9. Wiederkehr des Gründungstages der NS.-Gemeinschaft Kraft durch Freude am 27. November 1942 ein Festkonzert statt. Hierbei begleitete das verstärkte Orchester eines Fliegerhorstes unter Leitung eines Obermusikmeisters May neben anderen Werken das dritte Klavierkonzert von Beethoven.55 Den Solopart am Flügel hatte Karlrobert Kreiten übernommen, und am 29. November konnte man in den „Düsseldorfer Nachrichten“ lesen: Karlrobert Kreiten, der noch junge Düsseldorfer Pianist mit schon großer Praxis, gewann die Herzen der Zuhörer, indem er den Glanz und die jugendfeurige Leidenschaftlichkeit des dreisätzigen Klavierkonzerts c-moll von Beethoven auskosten ließ. Temperament und Technik gehen in seiner Begabung einen Bund ein, der nicht alltäglich ist.56 Dies war sein letzter Konzertauftritt in der Stadt, in der er aufgewachsen war.
IV. „Künstler – Beispiel und Vorbild“ Nach seinem Tod geriet Karlrobert Kreiten auch in seiner Heimatstadt weitgehend in Vergessenheit. 44 Jahre später tauchte sein Name im Zusammenhang mit der Affäre um Werner Höfer (1913–1997), den Moderator der beliebten und seit fast vier Jahrzehnten wöchentlich ausgestrahlten Politsendung „Internationaler Frühschoppen“ unvermittelt in den Schlagzeilen auf.57 Der Journalist Harald Wieser hatte sich damals genauer mit Höfers journalistischer Tätigkeit während der Zeit des Nationalsozialismus auseinandergesetzt und die Ergebnisse seiner Recherchen in der Reportage „Tod eines Pianisten“ zusammengefasst, die am 14. Dezember 1987 im Magazin „Der Spiegel“ veröffentlicht worden war.58 Unter Werner Höfers Namen war am 20. September 1943 im Berliner „12-Uhr-Blatt“ der Artikel „Künstler – Beispiel und Vorbild“ erschienen, der mit folgendem Absatz abschloss: Kürzlich ist einem Kreis Berliner Künstler in kameradschaftlichem Tone ins Gewissen geredet worden, sich durch einwandfreie Haltung und vorbildliche Handlungen der Förderung würdig zu erweisen, die das neue Deutschland – auch in den Stunden seiner härtesten Prüfung – den künstlerisch Schaffenden hat angedeihen lassen. Wie unnachsichtig 54 55 56 57
Düsseldorfer Nachrichten, Nr. 609, 28.11.1942. „Darbietungs-Folge“ dieses Konzertes, SMD, G 1690. Peter Seifert über das KdF-Festkonzert in: Düsseldorfer Nachrichten, Nr. 610, 29.11.1942. Eine ausführliche Dokumentation zu dieser Affäre findet sich in Lambart, Friedrich (Hg.), Tod eines Pianisten – Karlrobert Kreiten und der Fall Werner Höfer, Berlin 1988. 58 Wieser, Harald, Tod eines Pianisten, in: Der Spiegel, Nr. 51, 14.12.1987, S. 156–170.
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jedoch mit einem Künstler verfahren wird, der statt Glauben Zweifel, statt Zuversicht Verleumdung und statt Haltung Verzweiflung stiftet, ging aus einer Meldung der letzten Tage hervor, die von der strengen Bestrafung eines ehrvergessenen Künstlers berichtete. Es dürfte heute niemand mehr Verständnis dafür haben, wenn einem Künstler, der fehlte, eher verziehen würde als dem letzten gestrauchelten Volksgenossen. Das Volk fordert vielmehr, daß gerade der Künstler mit seiner verfeinerten Sensibilität und seiner weithin wirkenden Autorität so ehrlich und tapfer seine Pflicht tut, wie jeder seiner unbekannten Kameraden aus anderen Gebieten der Arbeit. Denn gerade Prominenz verpflichtet! 59 Diese auch als „Hinrichtungshymne“ bezeichnete Passage,60 die deutlich auf Karlrobert Kreitens Exekution anspielt, wurde bislang häufig als Beleg dafür herangezogen, dass diese aus propagandistischen Gründen erfolgte61 und dass Kreitens kritische Äußerungen ihn „zum Zeitpunkt der offenbar werdenden Niederlage des Faschismus […] zum ‚Fall‘ werden ließ[en], an dem ein Exempel zur Abschreckung für andere Kulturschaffende statuiert werden sollte.“62 Karlrobert Kreiten starb in der ersten Nacht der als „Blutnächte von Plötzensee“ in die Geschichte eingegangenen Massenexekution, in der allein 186 Todesurteile vollstreckt wurden.63 Unmittelbar darauf war in sechs Fällen eingeräumt worden, dass vollstreckt wurde, obwohl ein Vollstreckungsauftrag nicht vorlag, was schlichtweg als Versehen bezeichnet wurde.64 Auch zu Karlrobert Kreitens Hinrichtung gab es eine Untersuchung, zu der offensichtlich das Justizministerium unmittelbar danach – möglicherweise sogar seitens der Reichskanzlei – veranlasst worden war.65 Die Tatsache, dass eine Untersuchung eingeleitet wurde, muss durchaus als ungewöhnlicher Vorgang angesehen werden. Demnach ist davon auszugehen, dass auch Karlrobert Kreiten das Opfer einer „versehentlichen“ Hinrichtung wurde. Die Frage, ob zumindest seine Verhaftung und Verurteilung exemplarischen Charakter haben sollte, ist derzeit Untersuchungsgegenstand einer in Vorbereitung befindlichen Dissertation der Autorin und kann an dieser Stelle noch nicht beantwortet werden.66 Werner Höfers Artikel zeigt allerdings auf, welche Stellung den Künstlern innerhalb der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft zugewiesen wurde, welche Pflichten sich daraus ergaben und was von ihnen erwartet wurde. 59 Eine Abschrift des kompletten Artikels von Werner Höfer im Berliner 12-Uhr-Blatt vom 20. September 1943 findet sich in Lambart, Kreiten, S. 140–142. 60 Vgl. Lück, Exempel, S. 247 und Wieser, Tod, S. 161. 61 Vgl. Kreiten, Götter, S. 47. 62 Lück, Exempel, S. 248. 63 Über die Geschehnisse in jener Nacht siehe Gostomski, Victor von/Loch, Walter, Der Tod von Plötzensee. Erinnerungen, Ereignisse, Dokumente, Frankfurt am Main 1993. 64 Faksimile-Abdruck des Originaldokuments in Gedenkstätte Deutscher Widerstand (Hg.), Gedenkstätte Plötzensee, Berlin 1995, S. 62. 65 Vgl. Gostomski/Loch, Tod, S. 94. 66 Arbeitstitel: „Der Pianist Karlrobert Kreiten (1916–1943). Studien zu Biographie, Rezeption und Interpretation“. Die Dissertation entsteht im Rahmen eines Promotionsstudiums an der Hochschule für Musik und Tanz Köln unter der Betreuung von Prof. Dr. Arnold Jacobshagen.
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Die NSDAP propagierte zwar stets die Gleichheit aller „Volksgenossen“ unter ihrer Herrschaft. Frank Bajohr wies jedoch 2009 darauf hin, dass „die gedachte Ordnung der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft eine ausdrückliche ‚Ordnung der Ungleichheit‘ war und soziale Gleichheit keineswegs zu den Zielen des Nationalsozialismus gehörte“.67 Zu dieser Feststellung gelangte Franz Janka bereits 1997 und beschrieb die nationalsozialistische Volksgemeinschaft als „eine hierarchische Pyramide“, gewissermaßen eine Gemeinschaft der „ungleichen Gleichen“.68 Demnach existierte die von den Nationalsozialisten propagierte Gleichheit lediglich auf der untersten Ebene dieser Pyramide, der man durch die Erbringung des Ariernachweises, der die rassisch-biologische Abstammung belegte, „gewissermaßen ‚automatisch‘ durch Geburt“ angehörte69. Die nächsthöhere Ebene entsprach der politischen Ebene. Dieser gehörte man durch die Mitgliedschaft in der NSDAP oder einem der ihr angeschlossenen Verbände und Berufskammern an. Auf dieser von Franz Janka als „Mittelschicht“ bezeichneten Ebene verstanden die Nationalsozialisten Gleichheit als Chancengleichheit in Bezug auf die Ausgangsmöglichkeiten und je nachdem, wie diese genutzt wurden, differenzierte sich die politische und soziale Positionierung innerhalb der Volksgemeinschaft schließlich in der Leistung.70 Das bedeutete, dass ein „Volksgenosse“, je mehr Leistung er durch seinen Einsatz für die Volksgemeinschaft erbrachte, umso weiter innerhalb dieser politischen und sozialen Hierarchie aufsteigen und dadurch die höchststehende Ebene der Führungspersönlichkeiten erklimmen konnte. Unantastbar war einzig Adolf Hitler, der als Führer und Verkörperung des Volkswillens über seiner Volksgemeinschaft schwebte.71 Anlässlich des Vortrages bei einer Versammlung der „Kameradschaft der deutschen Künstler“ Anfang September 1943 in Berlin stellte deren Präsident Benno von Arent (1898–1956) heraus: Wie ein strahlendes Gestirn […] erschien gerade für den künstlerisch tätigen Menschen das neue Deutsche Reich, dessen Führer sich der Kunst so vollständig annahm, daß nicht nur die soziale, sondern auch die staatspolitische und persönliche Stellung des Künstlers gehoben und in die richtigen Gleise gelenkt wurde. Dadurch wurde der Künstler zum politischen Menschen, der das große Geschenk erhielt, seine Führungsaufgabe in den Dienst des ganzen Volkes zu stellen.72 Diese Aussage, auf die der knapp drei Wochen später publizierte Artikel „Künstler – Beispiel und Vorbild“ eindeutig Bezug nahm, verortet den Künstler somit auf der Ebene der Führungspersönlichkeiten. Da „für die neue soziale Rangfolge […] die national-
67 Bajohr, Frank, Dynamik und Disparität, Die nationalsozialistische Rüstungsmobilisierung und die „Volksgemeinschaft“, in: Bajohr/Wildt (Hgg.), Volksgemeinschaft, S. 78–93, hier S. 89. 68 Janka, Gesellschaft, S. 212. 69 Vgl. ebd., S. 211. 70 Vgl. ebd., S. 210–212. 71 Zum „Führer-Mythos“ vgl. ebd., S. 358–360. 72 Völkischer Beobachter, Nr. 247, 4.9.1943.
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sozialistische Gesinnung [als Maßstab diente]“73, waren aufgrund ihres Bekanntheitsgrades und ihres Wirkens in der Öffentlichkeit insbesondere die Führungspersönlichkeiten zu besonderer Gesinnungstreue verpflichtet. Allein wegen seines von einer „treuen Volksgenossin“ denunzierten Verstoßes gegen diese auch von ihm erwartete Gesinnungstreue wurde der Pianist Karlrobert Kreiten durch seine Verhaftung und Verurteilung zunächst aus der deutschen Volksgemeinschaft ausgeschlossen, schließlich durch seine Hinrichtung unwiederbringlich aus dieser entfernt. Seine musikalischen Leistungen spielten bei seiner Beurteilung keine Rolle mehr. Diese waren es jedoch, für die er in den vorangegangenen zehn Jahren bewundert worden war und mit denen er das Konzertpublikum für sich gewonnen hatte.
V. Epilog Claudio Arrau schilderte seine Erinnerung an seinen ehemaligen Schüler 1983 in einem Brief an Hartmut Lück: Karlrobert Kreiten war eines der größten Klaviertalente, die mir persönlich je begegnet sind. Er bildete die verlorene Generation, die fähig gewesen wäre, in der Reihe nach Kempff und Gieseking zu folgen […]. Er arbeitete mit mir etwa drei Jahre lang und studierte alles – Bach, Mozart, Beethoven und die romantischen Komponisten, für die er eine besondere Begabung besaß […], und zu der Zeit, als ich Berlin verließ (1940), hatte seine Karriere schon erfolgreich begonnen.74 Es war eine Karriere, für die Karlrobert Kreiten Kompromisse auf politischer Ebene eingegangen war. Nur drei Jahre später nahm sie wegen eines von nationalsozialistischer Seite gewerteten Fehltrittes ein abruptes Ende. Die Betrachtung von Karlrobert Kreitens Lebensgeschichte zeigt vor deren geschichtlichem Hintergrund beispielhaft auf, wie man sich durch Anpassung an die politischen Vorgaben innerhalb der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft behauptete. Kreitens Schicksal macht aber ebenso deutlich, wie schnell man in dieser zu Fall kommen konnte.
73 Vgl. Janka, Gesellschaft, S. 210. 74 Zit. n. Lück, Exempel, S. 243.
Adenauers Musikdiplomaten
Kulturpolitische Strategien der Berliner Philharmoniker 1948–1955 Michael Custodis
Während aktuell Spekulationen über eine Zergliederung der Europäischen Union Konjunktur haben, rückt die Gründungsphase der Europäischen Idee wieder stärker ins Bewusstsein und erscheint heute, mit Blick auf die in der unmittelbaren Nachkriegszeit zu überwindenden Hindernisse, beinahe wie ein politisches Wunder. Konrad Adenauer (1876–1967) hatte bekanntlich entscheidenden Anteil an dieser Entwicklung, und in der historischen Forschung wie auch in der öffentlichen Wahrnehmung wird sein Einsatz vor allem als ein Projekt zur Versöhnung Europas gewürdigt. Nach den Schrecken des von Hitler-Deutschland initiierten Zweiten Weltkriegs richtete sich der Blick nach vorn, während die Sorge vor einem dritten, nun mit Nuklearwaffen ausgefochtenen Weltkrieg mit der Koreakrise,1 dem Arbeiteraufstand in Ost-Berlin 1953 und dem sich rasant verschärfenden Ost-West-Konflikt wuchs. Zwei zentrale Anliegen des ersten AdenauerKabinetts gingen dabei Hand in Hand: eine europäische Gemeinschaft der kollektiven Friedenssicherung zu installieren und die außenpolitische Sichtbarkeit der Bundesrepublik zur Bestätigung ihres deutschen Alleinvertretungsanspruchs zu erhöhen. Als besonderer Vorteil erwies sich, dass Konrad Adenauer bis 1955 nicht nur als Bundeskanzler, sondern auch als Außenminister amtierte. An diesem Punkt kommt die Musik als repräsentativer Teil des deutschen Kulturlebens ins Spiel: Gelingen konnte die Versöhnung der Völker nur, wenn sie sich auch im Alltag der ehemaligen Kriegsgegner verankern ließ.2 Diplomatisch elegant und nachhaltig konnte man mit Musik an Stellen, die offizieller Repräsentationspolitik noch verschlossen waren, die Bundesrepublik als das friedliche Kulturland der Denker, Dichter und Künstler in Erinnerung bringen, das bis 1933 in aller Welt respektiert und bewundert worden war. Anders als in der Politik, wo die Namen mächtiger Beamter und Funktionäre nur Insidern ein Begriff waren, ließen sich im Feld der Musik Nachwirkungen der NS-Zeit allerdings kaum verheimlichen. Denn die intensive Propagandaarbeit von Joseph Goebbels, seines Berliner Konkurrenten Hermann Göring sowie u. a. die „Kraft durch Freude“-Programme von Robert Ley (1890–1945) hatten sich der Prominenz deutscher 1 Foerster, Sascha, Die Angst vor dem Koreakrieg. Konrad Adenauer und die westdeutsche Bevölkerung 1950, Marburg 2013, S. 81. 2 Defrance, Corine, „Es kann gar nicht genug Kulturaustausch geben“: Adenauer und die deutsch-französischen Kulturbeziehungen 1949–1963, in: Schwabe, Klaus (Hg.), Konrad Adenauer und Frankreich 1949–1963. Stand und Perspektiven der Forschung zu den deutsch-französischen Beziehungen in Politik, Wirtschaft und Kultur (Rhöndorfer Gespräche, Bd. 21), Bonn 2005, S. 137–162.
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Künstler ausgiebig bedient, was sowohl der jungen Adenauer-Republik als auch der internationalen Öffentlichkeit natürlich bekannt war.3 In Deutschland standen allerdings keine prominenten und begabten klassischen Musiker mit unbelasteten Biographien zur Verfügung. Dieses Wissen um politische Verfehlungen wurde daher nicht geleugnet, sondern bei Bedarf offensiv mit dem Argument aufgefangen, dass der politische Makel ihres Künstlertums nur eine menschliche Schwäche gewesen sei, die von ihren künstlerischen Verdiensten aufgewogen werde.4 Dieses für Außenstehende vielleicht widersprüchliche Werturteil war innerhalb der internationalen Musikdiskurse altbekannt: Wie mit Studien zur Entnazifizierungspraxis gezeigt werden konnte,5 wurde das im 19. Jahrhundert entstandene Postulat einer Vorherrschaft der deutschen Musik und ihrer Repräsentanten auch nach 1945 international anerkannt.6 Die romantische Maxime einer ästhetisch autonomen Kunst wurde somit durch die Praxis legitimiert. Das Feld der Musik selbst galt – aller propagandistischen Vereinnahmung zum Trotz – nicht zwingend als politisch kompromittiert. Mit älteren Musikern, deren Weltkarrieren schon in den 1920er Jahren begonnen hatten, ließ sich nach dem Zusammenbruch der NS-Diktatur nun eine Wiederanknüpfung an die Weimarer Zeit demonstrieren. Dies entsprach der Strategie von Adenauers erstem Nachkriegskabinett, Traditionen und Symbole der Weimarer Republik, einschließlich Fahne und Hymne, fortzuführen. Hierfür entwarf das Adenauer-Kabinett eine Doppelstrategie nach außen und innen: Großzügig subventionierte man Auslandstourneen von Künstlern und Orchestern und ermöglichte den Wiederaufbau und Erhalt von Festspielen im eigenen Land – allen voran in Bonn und Bayreuth, auch wenn Konrad Adenauer und Theodor Heuss (1884–1963) als höchste Repräsentanten der jungen Bundesrepublik diese Orte konsequent mieden. Wie deckungsgleich Adenauers Außen- und Kulturpolitik mit den Eigeninteressen von Spitzenvertretern der deutschen klassischen Musik bisweilen sein konnte, lässt sich in seltener Deutlichkeit am Beispiel des Berliner Philharmonischen Orchesters beschreiben. Denn die Präsenz aller vier Siegermächte verlieh Berlin – als dem vormaligen Zentrum deutscher Allmachtsfantasien – erstens den symbolischen Status einer Frontstadt im Kalten Krieg, was auf alle ihre Kulturinstitutionen ausstrahlte. Zweitens bestätigten Publikum 3 Kanzog, Klaus, Offene Wunden. Wilhelm Furtwängler und Thomas Mann (Thomas-Mann-Schriftenreihe/Fundstücke, Bd. 6), Würzburg 2014; sowie Custodis, Michael, Kunst als politisches Vakuum, in: Herzfeld, Gregor/Riethmüller, Albrecht (Hgg.), Furtwänglers Sendung. Essays zum Ethos eines Kapellmeisters, Stuttgart 2020, S. 27–38; und Custodis, Michael, Glauben an den deutschen Geist. Im Briefwechsel mit Bertele Braunfeld, Ludwig Curtius und Hans Schnoor, in: ebd., S. 107–124. 4 Redaktionelle Kolumne, Mehr Respekt, in: Melos 15 (1948), S. 18. 5 Custodis, Michael/Geiger, Friedrich, Netzwerke der Entnazifizierung. Kontinuitäten im deutschen Musikleben am Beispiel von Werner Egk, Hilde und Heinrich Strobel (Münsteraner Schriften zur zeitgenössischen Musik, Bd. 1), Münster 2013. 6 Siehe zur Übersicht Riethmüller, Albrecht, Der Deutschen Glauben an musikalische Überlegenheit, in: Lost in Music. Essays zur Perspektivierung von Urteil und Erfahrung, Stuttgart 2015, S. 72–87; sowie Applegate, Celia/Potter, Pamela, Music and German National Identity, Chicago 2002.
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und Presse im In- und Ausland Wilhelm Furtwängler (1886–1956) und den Berliner Philharmonikern regelmäßig den Nimbus, unvergleichliche künstlerische Maßstäbe zu setzen. Mit Material aus dem Archiv der Berliner Philharmoniker sowie dem Bundesarchiv in Koblenz soll dies im Folgenden am Beispiel der ersten Auslandstournee 1948 nach Großbritannien sowie der ersten Reise nach Nordamerika 1955 geschildert werden.
Abb. 8 Wilhelm Furtwängler vor der Überfahrt Calais–Dover, April 1953
I. Gentlemen’s Agreement – Im Zeichen der Versöhnung mit Großbritannien 1948 Seit seiner Gründung 1882 begab sich das Berliner Philharmonische Orchester auf Reisen, um seinen Ruf und seine Einnahmen zu steigern. Zusätzlich zu anderen Tourneen gastierte man beispielsweise von 1885 bis 1911 jährlich im holländischen Seebad Scheveningen.7 Nach der Gründung des Deutschen Reiches hatte die Hohenzollern-Monarchie wie selbstverständlich auch die Musik in den Dienst der Nationalstaatsbildung gestellt, was für das Berliner Orchester in den folgenden Jahrzehnten von wachsender Bedeutung werden sollte. Denn nachdem Furtwängler 1922 im Alter von 32 Jahren dessen Leitung von Arthur Nickisch (1855–1922) übernommen hatte, musste er mehrfach einen Bankrott abwenden. Auch für ihn bildeten erfolgreiche Tourneen einen Schwerpunkt seiner Orchesterarbeit, womit er seine Überzeugung von der Vorherrschaft der deutschen Musik demonstrieren und zugleich den freundschaftlichen Austausch mit dem Ausland pflegen konnte. Inmitten der Weltwirtschaftskrise bargen große Unternehmungen wie eine Orchesterreise unwägbarere finanzielle Risiken, so dass staatliche Bürgschaften und Zuschüsse von immer größerer Bedeutung waren. Dies zeigte sich insbesondere nach der Machtüber7
Möller, Tobias, Global Players. Die Berliner Philharmoniker auf Reisen, in: Stiftung Berliner Philharmoniker (Hg.), Variationen mit Orchester. 125 Jahre Berliner Philharmoniker, Bd. 1: Orchestergeschichte, Leipzig 2007, S. 126.
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nahme der Nationalsozialisten. Als im Herbst 1933 ein weiterer Bankrott unausweichlich schien, ließen sich Furtwängler und die Berliner Philharmoniker auf eine Übernahme des Orchesters durch Propagandaminister Joseph Goebbels (1897–1945) ein. Furtwängler übernahm das Amt des Vizepräsidenten der Reichsmusikkammer, für die Goebbels als Präsidenten Richard Strauss (1864–1949) gewonnen hatte, und fortan alimentierte der Minister sein „Reichsorchester“ großzügig, um es zugleich in seine ideologischen Strategiepläne einzufügen.8 Die internationale musikwissenschaftliche Forschung hat die Bandbreite des daraus resultierenden Einsatzes für Propagandaveranstaltungen und Konzerte in NS-okkupierten Ländern quellenintensiv dokumentiert und insbesondere herausgearbeitet, wie dabei die bisherige Planungsautonomie des Orchesters von der Ministerialbürokratie übernommen wurde.9 Während die Orchestermusiker sich Auftritten bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin, der Weltausstellung 1937 in Paris und bei den 1938 in Düsseldorf erstmalig veranstalteten Reichsmusiktagen nicht verweigern konnten, nahm sich nur Furtwängler gelegentlich diese Freiheit, da er nach dem Skandal des „Fall Hindemith“ nicht mehr als Chefdirigent in Berlin amtierte. Dann sprangen Hans Knappertsbusch (1888–1965) und der junge Herbert von Karajan (1908–1989) ein. Wenn daher die Berliner Philharmoniker direkt nach dem Krieg nicht nur separate Konzerte für die Westalliierten in Berlin gaben,10 sondern mit Interimsdirigent Sergiu Celibidache (1912–1996) bald auch in deren Heimatländern gastierten,11 konnte sich das Publikum beispielsweise in Paris 1949 mit Sicherheit noch gut an das Gastspiel vier Jahre zuvor erinnern, als Frankreich von der Wehrmacht besetzt war. Noch während seines Spruchkammerverfahrens, in das die britischen Militärvertreter als eine der vier Siegermächte maßgeblich eingebunden waren, hatte Furtwängler im März 1948 mit dem London Philharmonic Orchestra England bereist und anschließend in Buenos Aires und Italien gastiert.12 Eine weitere vertrauensbildende Maßnahme war die Beteiligung der Philharmoniker an den Englischen Musiktagen in Berlin mit einem Konzert am 1. Juni 1947, als unter dem Dirigat von Hans Schmidt-Isserstedt (1900–1973) 8 Aster, Misha, „Das Reichsorchester“. Die Berliner Philharmoniker und der Nationalsozialismus, München 2007, S. 279. 9 Ebd. S. 281; und Bordin, Oliver, „Der Taktstock als Waffe“. Zum Kriegseinsatz deutscher Dirigenten, in: Custodis, Michael/Riethmüller, Albrecht (Hgg.), Die Reichsmusikkammer. Kunst im Bann der NaziDiktatur, Köln/Weimar/Wien 2015, S. 189–220; sowie Custodis, Michael, Traditionsbewusst im Zeitenwandel. Georg Schumanns Spätphase als Direktor der Sing-Akademie und kommissarischer Präsident der Preußischen Akademie der Künste, in: Fischer, Axel/Kornemann, Matthias (Hgg.), Dichten, Singen, Komponieren. Die Zeltersche Liedertafel als kulturgeschichtliches Phänomen (1809–1945), Hannover 2016, S. 217–248, insbesondere S. 232–239. 10 Muck, Peter, Einhundert Jahre Berliner Philharmonisches Orchester. Darstellung in Dokumenten, Bd. 3, Tutzing 1982, S. 315–320, 323–326. 11 Ebd., S. 331–349; und Custodis, Michael, Bürokratie versus Ideologie? Nachkriegsperspektiven zur Reichsmusikkammer am Beispiel von Fritz Stein, in: Custodis/Riethmüller, Die Reichsmusikkammer, S. 221–238. 12 Lang, Klaus, Celibidache und Furtwängler. Der große philharmonische Konflikt in der Berliner Nachkriegszeit (Celibidachiana. Dokumente und Zeugnisse, Bd. 2), Augsburg 2010, S. 135.
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in der Städtischen Oper Henry Purcells „Schauspielmusik zu Abdelazar“, Michael Tippetts „Symphonie 1945“, Alan Rawsthornes „Klavierkonzert“ mit James Gibb als Solisten und Benjamin Brittens „Variationen über ein Thema von Frank Bridge“ op. 10 gegeben wurden. Als das Orchester die Reise durch England und Schottland begann, war seine Heimatstadt durch die sowjetische Blockade eigentlich hermetisch abgeschottet. Nachdem man die Stadt dennoch per Flugzeug gen England hatte verlassen können,13 wurden zunächst vom 3. bis zum 7. November 1948 Konzerte in London, Liverpool, Birmingham und Oxford unter Furtwängler absolviert, bevor planmäßig Celibidache vom 8. bis 22. November die Auftritte in Leicester, Huddersfield, Manchester, Newcastle, Edinburgh, Glasgow, Nottingham, London, Cardiff und Bristol übernahm.14 Erwartungsgemäß dominierte im Programm deutsches Repertoire von Bach, Beethoven, Mozart, Schubert, Richard Strauss und Wagner, mit gelegentlichen Ergänzungen von Berlioz, Debussy, Elgar, Ravel, Shostakovich, Sibelius, Strawinsky und Tschaikowsky.15 In Ost-Berlin reagierte man allergisch auf das logistische Gelingen und die journalistische Beachtung dieser Reise. Mit spitzer Feder bemerkte das „Neue Deutschland“ am 2. November 1948, wie selbstverständlich das West-Berliner Spitzenensemble die Lorbeeren für sich beanspruchte, während man die Beteiligung Ost-Berliner Musiker verschwieg: Die Berliner Philharmoniker, denen vor kurzem von der Amerikanischen Militärregierung verboten wurde, im Berliner Rundfunk, im Ostsektor von Berlin und in der sowjetischen Besatzungszone aufzutreten, sind am Donnerstag zu Gastkonzerten nach London abgereist. Die Leitung des Orchesters bat die Intendanz des Berliner Rundfunks und die Intendanz der im Ostsektor Berlins gelegenen Deutschen Staatsoper zur Verstärkung des Orchesters für diese Reise einige namhafte Musiker des Berliner Rundfunk-SinfonieOrchesters und der Staatskapelle freizugeben. Da die Leiter beider Institute der Meinung waren, daß die Philharmoniker die deutsche und die Berliner Orchesterkunst im Ausland in bestmöglicher Weise vertreten sollten, gaben sie diesem Ersuchen statt.16 Neben anekdotischen Meldungen, die berühmten deutschen Musiker würden nicht über ausreichend Konzertbekleidung verfügen,17 und stürmischen Konzertkritiken nahm die englische Presse vereinzelt auch von der politischen Wirkung dieser Reise Notiz und konzentrierte sich vor allem auf Furtwänglers ambivalentes Paktieren mit Goebbels 13 Diverse Zeitungsartikel finden sich hierzu im Archiv des Berliner Philharmonischen Orchesters, Mappe Reise 1948/1949.3.11.–22.11.1948 England (Furtwängler, Celibidache). II. Englische Presse; beispielsweise Berlin Orchestra Here: Our Rations Are „Wonderful“, in: Leicester Man vom 9.11.1948. An dieser Stelle sei Katja Vobiller (Archiv des Berliner Philharmonischen Orchesters) und Ina Rupprecht (Institut für Musikwissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster) sehr herzlich für ihre Unterstützung dieser Recherchen gedankt. 14 Muck, Einhundert, S. 331. 15 Archiv des Berliner Philharmonischen Orchesters, Ordner „Reisepläne 1882–1977“. 16 Artikel im Neuen Deutschland vom 2. November 1948 Zur London-Reise der Berliner Philharmoniker, in: Archiv des Berliner Philharmonischen Orchesters, Mappe Reise 1948/1949.3.11.–22.11.1948 England (Furtwängler, Celibidache), I. Deutsche Presse. Mappe Planungen, Ankündigungen, im Vorfeld der Konzerte. 17 Ebd., Mappe Reise 1948/1949.3.11.–22.11.1948 England (Furtwängler, Celibidache). II. Englische Presse.
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und Göring. Nachdem beispielsweise der mit „Great German“ überschriebene Artikel im „News Chronicle“ vom 11. November 1948 zunächst wesentliche biographische und künstlerische Stationen des Dirigenten zusammengefasst hatte, nahmen die Jahre nach 1933 unter der Zwischenüberschrift „Composing Failure“ breiten Raum ein.18 Einerseits stellten sie entsprechend des erwähnten traditionellen Musters, Kunst und Politik als zwei getrennte Welten zu verstehen, den exzeptionellen musikalischen Leistungen eine gravierende politische Unbedarftheit des Dirigenten gegenüber. Denn dass Furtwängler nach dem Zerwürfnis mit Goebbels Deutschland nicht wie viele andere Musiker verlassen hatte, sondern seine Verbindung zum NS-Staat konsolidierte und auch weiterhin mit dem von Hermann Göring im Juni 1933 verliehenen Ehrentitel eines Staatsrats angesprochen wurde, schien kommentarbedürftig. Andererseits hob man Furtwänglers Bemühungen hervor, jüdischen und anderen verfolgten Musikern zu helfen. Als Argument diente seine Erwiderung auf Toscaninis öffentliche Kritik von 1937, weiterhin in Bayreuth zu dirigieren, ein Künstler solle über allen politischen Dingen stehen. Diese Haltung projizierte man nun in die Gegenwart: Denn Furtwänglers Widerlegung der im Entnazifizierungsverfahren erhobenen Kollaborationsvorwürfe sei vom Werben der amerikanischen und russischen Militärbehörden bestätigt worden, in ihren jeweiligen Ländern Chefdirigentenposten zu übernehmen. Mit einem Zitat überließ der oben erwähnte Artikel daher Furtwängler selbst das Schlusswort: He told News Review: ‚I have now no permanent place of work. I belong to Europe.’ Der Londoner „New Statesman“ widmete am 13. November 1948 dem Kontrast zwischen der Publikumsbegeisterung und der zurückhaltenden Presseberichterstattung einen Artikel und konnte dank Insiderauskünften aus Furtwänglers Entnazifizierungsverfahren sogar mit exklusiven Details aufwarten. Auch dieser Text stellte sich klar auf die Seite des Dirigenten und verteidigte ihn gegen den Vorwurf, ein überzeugter und aktiver Nationalsozialist gewesen zu sein: Those who attended Dr. Furtwängler’s crowded concerts may have noticed the contrast between the enthusiasm of his audiences and the coldness of the press. Part of the explanation may be the impression prevalent in Fleet Street that Furtwängler was a Nazi. Nothing could be more unjust. H. N. Brailsford sends me a note of the facts proved before the De-nazification Tribunal which acquitted him. Never a party member, the charge against him was that in 1933, when few realised what Nazi rule would mean, he accepted the Vice-presidency of the Chamber of Music. The title of Staatsrat was then conferred on him. After some experience of the régime, Furtwängler in 1934 wrote a formal letter of protest and resigned his title, his Vice-presidency, his official post as Director of the State Opera, and his conductorship of the Berlin Philharmonic. He was then treated as an outlaw and deprived of his passport, lest he should go abroad. Goebbels now began purging the orchestra and interfering with its repertoire. Fearing its ruin, the orchestra besought Furtwängler to return. So he met Goebbels and consented to come back on conditions; he should rank 18 Ebd., Artikel im News Chronicle über Furtwängler vom 11.11.1948.
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as a private musician only, should never be called on to conduct at official functions, would not ‚Heil Hitler‘ at his concerts, nor would the personell of the orchestra be further interfered with. Up to the end he used his influence to get Jewish musicians out of the camps and out of the country, though Himmler twice threatened, in letters produced in court, to treat any further efforts on their behalf as treason. Many Jews testified before the Tribunal that he saved their lives. Only five per cent of his Berlin orchestra were Nazi party members. In other German and Austrian orchestras the percentage ranged from 70 to 100. Such was his influence and his record.19 Joseph Goebbels’ ehemaliges „Reichsorchester“ und Hermann Görings ehemaligen Staatsrat auf jene Insel einzuladen, deren Süden die deutsche Luftwaffe noch drei Jahre zuvor mit Bomben und Raketen überzogen hatte, war eine bewusste Versöhnungsgeste der gastgebenden Organisation Christian Action, die sich der Völkerverständigung im Zeichen christlicher Nächstenliebe verschrieben hatte. In einer Ansprache an die Künstler des Abends und die anwesenden Honoratioren beschrieb der stellvertretende Vorsitzende des gastgebenden Vereins M. W. G. Riley anlässlich des Konzertes am 5. November 1948 in Birmingham die Absichten und Hoffnungen, die sich mit dieser Konzertreise verbanden – einer „Liebesmission“ nach den bitteren Jahren, die die „Heuschrecken verzehrt haben“: Dr. Furtwängler und Dr. Celibidache und alle Mitglieder des Orchesters, widmen ihre Dienste während der ganzen Tour der Sache des internationalen Werkes der Christlichen Action, unser Werk, Freundschaft und Verstehen in Europa und in der ganzen christlichen Welt zu fördern. Wir glauben, dass es eine wesentliche Rolle spielen wird, zu helfen, ein geeinigtes Europa auf zu bauen auf christlichen Grundlagen, um eine Festung zu werden für Weltfrieden.20 Die Rede schloss mit der Bitte um eine Schweigeminute für das Gelingen der gemein samen Friedensinitiative. Gerne ergriffen die Philharmoniker die versöhnend ausgestreckte Hand und bedankten sich mit einer Gasteinladung an den Dirigenten Basil Cameron (1884–1975), bereits wenige Wochen später in Berlin ein Konzert zu leiten.21 Darüber hinaus nutzten sie die Chancen dieser Gelegenheit, bei einer internationalen musikalischen Friedensmission mitwirken zu dürfen, für ihre eigene Schreibstrategie, wenn in Programmheften unvermeidlich die Geschichte des Orchesters zu resümieren war. Entweder relativierte man dort das NS-Kapitel oder überging es einfach. Als man beispielsweise im August 1949 einer Einladung zum Edinburgh-Festival folgte, vermied ein Programmheftmanuskript interessanterweise keine politischen Metaphern, sondern wählte unter der Überschrift „Neuer Aufstieg“ den Vergleich des Orchesterkollektivs mit einer Republik: 19 Ebd. 20 Ansprache von M. W. G. Riley, Stellvertretender Vorsitzender der Christlichen Action anlässlich des Konzertes des Berliner Philharmonischen Orchesters in der Stadthalle, Birmingham, 5. November 1948, in: Archiv des Berliner Philharmonischen Orchesters, Mappe Konzertreise England 3.–22.XI.1948, Heft 5. 21 Zeitungsnotiz im News Chronicle vom 6. November 1948, in: ebd., Mappe Reise 1948/1949.3.11.– 22.11.1948 England (Furtwängler, Celibidache). II. Englische Presse.
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Das Berliner Philharmonische Orchester ist, wie in früheren Jahren, wieder eine kleine Republik. Die Musiker sind es, die sich ihren Dirigenten wählen. Für die gesunde ‚Innenpolitik‘ dieses kleinen Staatswesens gilt die Regel: Jeder gibt sein Bestes für die Gesamtheit, jeder ordnet sich dem Wohle des Ganzen unter. Nur durch solches Zusammenwirken ist in Zeiten der Not ‚viel Harmonie‘ möglich, im musikalischen wie im menschlichen Sinne. Aber auch ‚Außenpolitik‘ betrieben die Philharmoniker, denn jedermann versteht die universelle Sprache der Musik, mit der dieses Orchester nicht nur den Deutschen, sondern auch zu Tausenden von Alliierten spricht. Und so glauben die Musiker einen bescheidenen Teil dazu beizutragen, daß eines Tages die Völker dieser Erde sich wahrhaft verstehen lernen. Der Name ‚Berliner Philharmonisches Orchester‘ aber bedeutet in diesem Sinne gleichzeitig Tradition und Verpflichtung über den engeren Kreis Berlins hinaus; Verpflichtung gegenüber den höchsten Werten der Musik, Verpflichtung gegenüber der ganzen Welt.22
II. Neue Besetzung, neue Töne? Die Nordamerikareise 1955 Aus den jährlichen Konzertreisen des Berliner Philharmonischen Orchesters ragt eine ab 1953 angebahnte Tournee heraus, die zum ersten Mal über den Atlantik in die USA und nach Kanada führte. Mit einem gern zitierten Schreiben hatte Konrad Adenauer mit Briefkopf als Bundeskanzler und Außenminister am 13. Juli 1953 Furtwängler persönlich die Schirmherrschaft für diese Reise angetragen.23 Angesichts der angespannten weltpolitischen Lage und des Freiheitskampfes in Berlin (gemeint war der Aufstand vom 17. Juni 1953, bei dem exakt einen Monat zuvor 34 Demonstranten und Zuschauer von der Roten Armee getötet worden waren) sei es ihm ein besonderes Anliegen, den berühmten Dirigenten mit seinem Orchester als Botschafter deutscher Kultur in Amerika24 zu gewinnen. Die bislang noch nicht hinterfragten Beweggründe Adenauers, aus Staatsräson diesen Brief an Furtwängler geschrieben zu haben, sowie die administrativen Vor- und Nachbereitungen dieses Vorgangs sind zum Verständnis der kulturpolitischen Regierungshaltung durchaus aufschlussreich.25 Denn hinter den staatspolitischen Kulissen war die persönliche Abneigung des Bundeskanzlers gegen den kapriziösen Dirigenten so tief, wie aus Schriftverkehr von Hans Globke und der Korrespondenz von Adenauer hervorgeht, dass ein Jahr später kein Vertreter der Bundesregierung 1954 an Furtwäng22 Archiv des Berliner Philharmonischen Orchesters, Mappe Edinburgh August 1949. 23 Haffner, Herbert, Furtwängler, Berlin 2003, S. 421 f. 24 Zitiert nach dem Faksimile bei Muck, Einhundert, S. 256 f. Siehe ergänzend das Briefregister Wilhelm Furtwänglers in seinem Nachlass in der Staatsbibliothek zu Berlin. Darin u. a. Staatsbibliothek zu Berlin, Musikabteilung, 55 Nachl 13 A/1,38: Kasten 1, Mappe 1.1.8, Brief von Konrad Adenauer an Wilhelm Furtwängler, 21.4.1952; ebd., A/1,37, Brief von Wilhelm Furtwängler an Konrad Adenauer, o. D.; ebd., A/1,39: Kasten 1, Brief von Konrad Adenauer an Wilhelm Furtwängler, 13.7.1953. 25 Fundstellen im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes u. a. PA AA, B 11 (Abt. 3) – Länderabteilung III, Sig. 453–01 (Tod Wilhelm Furtwänglers; USA-Tournee der Berliner Philharmoniker); PA AA, B 130 (V S-Reg) – V S – Registraturen, Sig. 3–80–453–04 (Gastspielreisen der Berliner Philharmoniker).
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lers Begräbnisfeier teilnahm, sehr zum Missfallen von Teilen der Öffentlichkeit und zahlreichen Parlamentskollegen.26
Abb. 9 Konzert der Kameradschaft der Berliner Philharmoniker in den USA/Kanada, undatiert
Misstöne hatte es im Vorfeld der Tournee auf beiden Seiten des Atlantiks vorab zur Genüge gegeben. In einem Brief an den österreichischen Bundesminister Ernst Kolb (1912–1978) berichtete Furtwängler am 16. September 1953 von Plänen der Wiener Philharmoniker, zeitgleich zu ihren Berliner Kollegen die USA bereisen zu wollen.27 Diese Pläne scheiterten aber am Leiter der amerikanischen Musikergewerkschaft, James C. Petrillo (1892–1984),28 der die Anzahl ausländischer Konzertreisen in den 26 Anfrage des Abgeordneten Reinhold F. Bender vom 6.12.1954 beim Bundeskanzleramt sowie ein Antwortschreiben von Hans Globke vom 6.1.1955 an den Abgeordneten Herbert Schneider auf dessen Schreiben vom 17.12.1954, in: Bundesarchiv Koblenz (BArch), B 136/4746. 27 Abschrift eines Briefes von Wilhelm Furtwängler an Bundesminister Kolb in Wien, datiert Berlin 16.9.1953, in: Archiv des Berliner Philharmonischen Orchesters, Mappe „USA 1955 Beilagen“. 28 Vgl. für biographische Details u. a. Gorman, Robert A., The Recording Musician and Union Power: A Case Study of the American Federation of Musicians, in: SMU Law Review 37 (1983), S. 697–787, insbesondere S. 699–705; sowie einen Nachruf in der New York Times vom 25. Oktober 1984. Bei zahlreichen Artikeln in amerikanischen Zeitschriften (Esquire Magazine, Time Magazine, Reader’s Digest und Life Magazine) deuten bereits wenig schmeichelhafte Titel wie „The Mussolini of Music“, „Dictator of Music“ oder „Little Caesar of Symphony and Swing“ an, wie umstritten die Rolle von Petrillo als jahrzehntelanger Musikgewerkschaftsfunktionär war.
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USA begrenzte, um die Konkurrenz für einheimische Künstler zu regulieren.29 Aber auch Furtwängler selbst hatte sich zwei Jahre zuvor in einem Schreiben an die Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes skeptisch über eine Amerikatournee geäußert. Im Nachgang eines Gesprächs mit dem Ministerialbeamten Dr. Frahme30 bestand er bereits 1951 darauf, dass unbedingt eine Einladung aus den USA ergehen solle und jegliche Signale unterbleiben müssten, die eine solche Tournée nicht als ein Angebot von deutscher Seite erscheinen lassen und uns etwa einen Refus eintragen. Dazu wäre vor allem wichtig, einmal festzustellen, in welcher Form eigentlich der Hochkommissar Mr. McCloy diese ganze Planung besprochen oder gar bestätigt hat. Denn dank diverser Einladungen, die ihn seit zwei Jahren erreichten, sei er sehr gut über eine im gesamten Kunstleben Amerikas wachsende Ausländerfeindlichkeit im Bilde, die sich durchaus nicht alleine gegen Deutsche richtete. Immerhin dürfen wir zusätzliche Schwierigkeiten nicht auf die leichte Achsel nehmen, auch wenn sich die politische Gesamtsituation im letzten Jahr für Deutschland international gebessert haben mag. Hiervon abgesehen sind alle Steuern, die auf derartigen Veranstaltungen liegen, unerhört erhöht worden. Mit der schwerwiegendste Punkt aber ist die unerbittliche Kontrolle, die in den Vereinigten Staaten rein finanziell die Musikergewerkschaft ausübt. Sie verlangt von jedem ausländischen Gastorchester, das in Amerika Konzerte gibt, pro Konzert eine Ablösesumme, die dem Wert des quasi einem amerikanischen Orchester ‚entgangenen‘ Konzertes entspricht. Das sind von vornherein schwerste finanzielle Vorbelastungen, die Ihnen sicherlich deutlich machen werden, mit welcher Vorsicht ein solches Objekt gestartet werden muss; dabei ist die Frage der Presse, die die zweite entscheidende Rolle spielt und gerade im Musikleben aus erklärlichen Gründen immer noch voller Ressentiment ist, noch nicht einmal in Erwähnung gezogen. Nach wie vor halte ich die Sache selbst für gut und wünschenswert, bin aber aus allen den oben klar gelegten Gründen der Meinung, dass der Zeitpunkt verfrüht ist.31 Dass die Tournee schließlich doch zustande kam und zu einem ungeheuren Publikumserfolg werden konnte, verdankten die Berliner Philharmoniker nicht zuletzt dem unermüdlichen Einsatz von André Mertens (1904–1963). Dieser war nicht nur als Vizepräsident bei Columbia Artists Management verantwortlich für die reibungslose Vorbereitung und Durchführung der Tournee.32 Er selbst war mit 29 Jahren dem NS-
29 Archiv des Berliner Philharmonischen Orchesters, Mappe USA 1955 Beilagen, Brief von Wilhelm Furtwängler an den Österreichischen Bundesminister Kolb, 16.09.1953. 30 Es handelte sich bei Dr. Frahme unter der Voraussetzung eines kleinen Tippfehlers vermutlich um Karl Heinrich Frahne, Leiter des Referats „Bildende Kunst, Musik, Theater, Lichtspielwesen, sportliche Veranstaltungen“ im Auswärtigen Amt. 31 Brief von Furtwängler an Herrn Dr. Frahme, Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes in Bonn, 10.5.1951, in: Archiv des Berliner Philharmonischen Orchesters, Mappe „USA 1955 Beilagen“. 32 Englische Übersetzung der Rede, die Andre Mertens (Vizepräsident von Columbia Artists Management) am 31.3.1955 im Großen Ballsaal des Park-Sheraton Hotels auf Deutsch hielt, im vierseitigen Manuskript in: Archiv des Berliner Philharmonischen Orchesters, Mappe „USA 1955 Beilagen“.
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Terror aus Berlin in die Vereinigten Staaten entkommen, und es war ihm eine besondere Herzensangelegenheit,33 das berühmte Orchester seiner Heimatstadt dem amerikanischen Publikum auch live näherzubringen, das man dort bislang nur von Schallplatten kannte. Der Erfolg des Orchesters war auch bei dieser Tournee überwältigend, und vom 27. Februar bis zum 1. April 1955 absolvierte man eine Route von Washington, Philadelphia, New York, Pittsburgh, Cleveland, Cincinnati, Lexington, Bloomington, Milwaukee, Chicago, Ann Arbor, Columbus und Detroit über Toronto, Rochester, Montreal, Syracuse, Boston, Hartford und Baltimore zurück nach Washington, um mit einem Auftritt in Newark sowie zwei Konzerten in New York am 30. März und 1. April die Reise durch den Nordosten des amerikanischen Kontinents abzuschließen. Es waren mehrere Programme einstudiert worden, die zwischen den verschiedenen Auftritten wechselten. Auch wenn die Programmgestaltung und die Proteste vorhersehbar schienen, mit denen vor einzelnen Konzertsälen an die NS-Vergangenheit einzelner Orchestermitglieder erinnert wurde,34 unterschieden sie sich doch in einem entscheidenden Punkt: Denn obgleich sich diese kritischen Fragen gegen den Dirigenten richteten, meinten sie dieses Mal nicht Wilhelm Furtwängler, der wenige Monate vor Beginn der Tournee am 30. November 1954 überraschend verstorben war. Vielmehr stand Herbert von Karajan, der kurzfristig eingesprungen war und zunächst seine Verpflichtung Abb. 10 Ankunft Herbert v. Karajans und der Berliner Philharmoniker nach der ersten USA-Reise auf dem Flughafen Tempelhof, Foto: Rudolf Kessler, 3.4.1955 33 Einem Nachruf im Westport Town Curier vom 14.7.1963 ist zu entnehmen, dass Mertens 1904 in Elberfeld geboren wurde und seine Ausbildung in Berlin am Collège Royal Français sowie am Städtischen Konservatorium (dem berühmten Stern’schen Konservatorium) erhielt. Im Alter von 19 Jahren trat er der bekannten Konzertagentur seines Vaters Otto sowie seines Onkels Hans Gregor Mertens bei. Im Jahr 1929 ernannte ihn das zuständige Ministerium zum Direktor der Opernabteilung. Nach Hitlers Machtübernahme geriet er unmittelbar in Konflikt mit dem neuen Regime, so dass er seinen Arbeitsschwerpunkt nach Wien verlegte, wo er die europaweite Vertretung der Agentur Columbia Concerts übernahm. Auf der Flucht vor den Nationalsozialisten lebte er ab 1938 in Paris und wechselte zwei Jahre später in den Hauptsitz der Agentur in New York. Nach Komplikationen infolge eines Sturzes in Hamburg verstarb er am 9.7.1963 im schweizerischen Baden und wurde in Berlin begraben. 34 Presseausschnitt vom 21.2.1955 über die Proteste gegen von Karajan und Gerhart von Westermann, in: Archiv des Berliner Philharmonischen Orchesters, Mappe „USA 1955 Beilagen“.
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als Nachfolger Furtwänglers in Berlin durchgesetzt hatte, im Zentrum des Protestes, am lautesten vor dem Abschlusskonzert in der New Yorker Carnegie Hall am 1. April 1955.35
Abb. 11 „Anti-Nazi-Demo“ vor der New Yorker Carnegie-Hall während der ersten USA-Reise, 1955
Diese öffentliche Ablehnung hatte entscheidende Konsequenzen für die Selbstdarstellung des Orchesters. Denn im Unterschied zu Furtwängler, dessen Verhalten immer ambivalent blieb, hatte Karajan sich zur Beförderung seiner Karriere unbestreitbar in den Dienst des NS-Staates gestellt, Propagandakonzerte im In- und Ausland geleitet, sich als Protegé Hermann Görings an der Berliner Staatsoper zum jungen Gegenspieler Furtwänglers aufbauen lassen und als Parteimitglied auch formell dem Regime mit Überzeugung seine Treue bekundet.36
35 Möller, Players, S. 131. 36 Rathkolb, Oliver, „Geschichte(n) einer Karte“. Anmerkungen zur Wechselbeziehung zwischen Nationalsozialismus und Künstlern am Beispiel von Herbert von Karajans NSDAP-Mitgliedschaft, in: Edelmayer, Friedrich u. a. (Hgg.), Über die österreichische Geschichte hinaus. Festschrift für Gernot Heiss zum 70. Geburtstag, Münster 2012, S. 191–214.
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Entsprechend der üblichen Reaktion auf politische Skandale, bereits bekannte Tatsachen nicht zu leugnen, sondern diese unter Verweis auf Hintergrundwissen umzudeuten, konterte der ebenfalls belastete Intendant der Philharmoniker, Gerhart von Westermann (1894–1963), bei einer Pressekonferenz mit Unterstützung wohlwollender deutscher Presseartikel die Vorwürfe mit Halbwahrheiten.37 Zum einen bemühte man das beliebte Argument einer angeordneten Parteimitgliedschaft, der man sich nicht habe entziehen können, was von der Karajan-Forschung bereits zu dessen Lebzeiten widerlegt wurde.38 Zum anderen verwies man auf die 1942 geschlossene zweite Ehe Karajans mit der „Halbjüdin“ Anita Marion Gütermann,39 um damit seine innere Distanz zum Regime anzudeuten, so dass er anschließend seine Parteimitgliedschaft gekündigt habe und bei den braunen Machthabern in Ungnade gefallen sei. Die Forschung hat bis heute keinerlei Archivspuren dieser angeblichen Kündigung auffinden können, Karajan selbst hat seine Behauptung nie mit Dokumenten untermauert. Stattdessen sind seither mehrere Studien entstanden mit weiteren Belegen für dessen politisches Taktieren bis in die letzten Kriegstage hinein, was im Jahr der USA-Tournee allerdings nicht bekannt sein konnte. Entsprechend verlegten sich auch die unvermeidlichen Programmhefttexte 1955 auf möglichst unverfängliche und knappe Schilderungen von Karajans Karriere: The war delayed the spread of his fame but in the last eight years his series of concerts in Vienna, his appearances at the leading European festivals – Salzburg, Bayreuth, Edinburgh, Lucerne, Aix-en-Provence – and his brilliant work as conductor and producer at La Scala, Milan, as well as his magnificent recordings have hallmarked him as one of the leading artistic personalities of our time.40 Die entscheidende Exkulpation, die es dem Dirigenten ermöglichte, alle gegen ihn erhobenen Vorwürfe ins Leere laufen zu lassen, lieferte aber der Alltag des kommerziellen Musikbetriebs. Im selben Prospekt des so heftig kritisierten Konzerts in der Carnegie Hall findet sich, wenige Seiten hinter dem Programm des Abends, eine Werbeanzeige des 1945 vom Plattenkonzern EMI gegründeten Philharmonia Orchestra of London für dessen erste amerikanische Tournee im Oktober und November 1955, ebenfalls mit Herbert von Karajan, ebenfalls mit zwei Terminen in der Carnegie Hall, und gleichfalls betreut von Columbia Artists Management. Mit der Japan-Reise der Berliner Philharmoniker 1957 und den immer lukrativeren Tonträgereinspielungen baute Karajan sich anschließend dank seiner charismatischen Erscheinung, seiner unbestrittenen künstlerischen Brillanz und seines einmaligen Geschäftssinns eine treue weltweite Anhängerschaft auf, die 37 Sammlung von Presseartikeln, beispielsweise vom 21.2.1955 sowie vom 27.2.1955, in: Archiv Berliner Philharmoniker, Mappe „USA 1955 Beilagen“. 38 Diverse Publikationen förderten bislang zahlreiche systembefürwortende und auch explizit antisemitische Äußerungen des Dirigenten zu Tage. Dazu: Prieberg, Fred K., Handbuch Deutsche Musiker 1933–1945, Kiel 2004, S. 3545–3577; Rathkolb, Geschichte(n); sowie Riehle, Klaus, Herbert von Karajan. Neueste Forschungsergebnisse zu seiner NS-Vergangenheit und der Fall Ute Heuser, Wien 2017. 39 Gemäß der NS-Rassenideologie war sie tatsächlich eine sogenannte Vierteljüdin. 40 Archiv des Berliner Philharmonischen Orchesters, Mappe Reiseprogramme 1954/55 1. USA-Reise, Programmheft zum Konzert am 21.3.1955 in Montreal.
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ihn zum jahrzehntelang unangefochtenen Medienstar der klassischen Musik im internationalen Jetset aufsteigen ließ. Ein einziges Tabu konnten die Berliner Philharmoniker allerdings erst auflösen, nachdem ihr Pultstar Karajan im April 1989 mit ihnen gebrochen hatte und ihre Heimatstadt wenige Monate später wieder im Zentrum einer historischen Zeitenwende stand. Es fiel Daniel Barenboim zu, sie im Jahr der Deutschen Wiedervereinigung 1990 nach Israel zu begleiten, um dort spektakulär mit Zubin Mehta und dem Israel Philharmonic Orchestra zu gastieren und ein neues musikdiplomatisches Kapitel in der Geschichte der Berliner Philharmoniker aufzuschlagen. Aber da waren die Adenauer-Republik und der Kalte Krieg längst Geschichte.
Keine Mittelalterlichen Instrumente? Kraftwerk als Urknall des Elektropop Karsten Lehl
I. Einleitung Die Gruppe Kraftwerk gilt in der internationalen Wahrnehmung als Erfinder und Symbol elektronischer Popmusik „made in Germany“ und von hier ausgehend der ganzen Welt. Bands wie – um nur wenige Beispiele zu nennen – „Depeche Mode“, „Orchestral Manoeuvres in the Dark“ (kurz OMD), „Human League“ oder „Ultravox“ stützen sich auf Kraftwerk ebenso wie ganze Stilistiken. Techno wäre ohne Kraftwerk vermutlich ebenso wenig in seiner heutigen Form entstanden wie in den USA der Hip-Hop. Dank Kraftwerk wurde das Rheinland Teil des globalen Szene-Gedächtnisses und Düsseldorf, die Heimatstadt der Band, zur „Electri-City“. Es liegt daher nahe, Kraftwerk als popkulturelles Phänomen zu interpretieren und nach dort üblichen Maßstäben eine Biographie zu verfassen. Dies scheitert jedoch rasch an der Realität. Denn der offensichtliche Mangel an Aussagen der Band selbst über ihre Musik und Motivationen steht schon zu Beginn einer Recherche in deutlichem Widerspruch zum Verhalten der meisten anderen Rock- und Popstars, für die Selbsterklärung, wenn nicht gar Selbstentblößung wesentlicher Teil der Eigenwerbung und Mythenbildung ist. Gespräche mit Musikern der Düsseldorfer Szene, die seit den 1960er Jahren aktiv am Musikleben der Stadt beteiligt waren, zeigen bald den nächsten Bruch auf: Obwohl mancher flüchtige Kontakt zu Kraftwerk besteht, ist doch die Gruppe in der Jazz-, Rock- und Popszene der Stadt erstaunlich wenig präsent. Eine Düsseldorfer Rock-/Pop-Geschichte könnte aus Düsseldorfer Innensicht auf die Gruppe eigentlich vollständig verzichten, aus der Außensicht jedoch verlöre eine solche Geschichte dadurch einen Großteil ihrer Sinnhaftigkeit, käme ihr doch die wesentliche international breit rezipierte Referenzgruppe, die einem solchen Werk überhaupt Wertigkeit verleihen könnte, abhanden. (Damit soll ausdrücklich nicht die Leistung der Düsseldorfer Musikschaffenden infrage gestellt werden, die sich jedoch in überregionalem Zusammenhang anderer Strömungen klarer einordnen ließe als in einer Lokalgeschichte.) Auch das Klischee der in tiefer brüderlicher Kameradschaft oder zumindest Hassliebe verbundenen Rock-Helden, die Höhepunkte und Konflikte öffentlich leben und dabei von ihrer künstlerischen Impulsivität zu manchen Irrungen verleitet werden, greift bei Kraftwerk nicht. Die Gruppe wird von Ralf Hütter (geb. 1946) zunächst gemeinsam mit Florian Schneider (1947–2020), dann ab 2009 allein als professionelles Unternehmen geführt, dessen geschäftliche Erwägungen und Diskussionen
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soweit möglich vor der Öffentlichkeit (und oft genug sogar vor den musikalischen Partnern) verborgen gehalten werden. Alle diese nach popmusikalischen Kriterien irritierenden Aspekte erscheinen wesentlich verständlicher, sobald sie analog zur bildenden Kunst – etwa Klanginstallationen oder im Fall von Konzerten Happenings – betrachtet werden. Kraftwerk verzichtet darauf, Teil einer kommunikativ-spontanen Musikszene zu sein und präsentiert Musik als Kunstwerk, das bestenfalls allein aus sich selbst heraus für die Rezipierenden seinen Sinn entwickelt und als (vor allem in der Form des Tonträgers) fertiges „Ding“ entsprechend vermarktet werden kann und soll. Dieses Ineinanderlaufen von Konzepten, die verschiedenen Kategorien und Formen von Kunst zuzuordnen sind, kann vieles erklären, führt aber in der Praxis immer wieder zu Fehleinschätzungen und Unzufriedenheit bei Musikpublikum oder Musikjournalisten, die Maßstäbe anlegen, die – vermutlich – für die Gruppe selbst keine Gültigkeit besitzen. Dass der Weg hin zu einem eigenständigen Ausdruck nicht plötzlich vollzogen werden kann, ist ein in Literatur oder bildender Kunst hinreichend anerkanntes Phänomen. Im Fall von Kraftwerk führt es jedoch dazu, dass die ersten vier Tonträger von Hütter und Schneider heute in der offiziellen Selbstdarstellung der Gruppe nicht mehr vorkommen und auch seit Jahrzehnten nicht mehr auf legalen Tonträgern verbreitet werden, was von zahlreichen Fans immer wieder lebhaft bedauert wird. Gleichwohl ist dies aus künstlerischer Sicht ebenso naheliegend wie die Verleugnung unreifer Werke durch bildende Künstler – hier wäre als Beispiel etwa Gerhard Richter (geb. 1932) anzuführen, der seine frühen Werke überwiegend vernichtete. Der folgende Text befindet sich daher in einem nicht unproblematischen Dilemma, will er doch durch das Aufzeigen von Entwicklungslinien und nicht immer offensichtlichen Querverbindungen zu anderen Musikern, Gruppen und Strömungen das Phänomen Kraftwerk ein Stück weit begreifbarer machen. Hierzu ist es ab einem schnell erreichten Punkt unvermeidlich, durch Darstellung biographischer Details und Hinweise auf annullierte Werke den Willen der Kunstschaffenden selbst zu ignorieren. Auch diese Notwendigkeit ist ein Indiz der besonderen Stellung von „Kraftwerk“.1
1 Die (auch biographisch) aussagekräftige Literatur zu Kraftwerk ist erstaunlich überschaubar. Als wesentliche Quellen dienen die folgenden Bücher, die an dieser Stelle einmal gesammelt genannt werden sollen: Bartos, Karl, Der Klang der Maschine. Autobiografie, Köln 2017; Buckley, David, Kraftwerk. Die unautorisierte Biographie. In Zusammenarbeit mit Nigel Forrest, Berlin 2013; Esch, Rüdiger, ELECTRI_ CITY. Elektronische Musik aus Düsseldorf 1970–1986, Berlin 2014; Flür, Wolfgang, Ich war ein Roboter. Meine Zeit als Drummer bei Kraftwerk, Köln 2004; Schütte, Uwe (Hg.), Mensch Maschinen Musik. Das Gesamtkunstwerk Kraftwerk, Düsseldorf 2018.
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II. Das Ringen um Identität – die schwierigen 1960er Jahre Es dürfte kaum übertrieben sein, Deutschland in der populären Musikkultur bis zum Ende der 1960er Jahre als Entwicklungsland zu bezeichnen. Die international beachtete deutsche Jazz-Szene der 1930er Jahre war durch die Nationalsozialisten immer weiter verdrängt worden. Auch die teils witzigen, teils bissigen Schlagertexte der 1920er Jahre wurden immer mehr durch betont harmlose, wenn nicht gar propagandistische Reime zu gesitteter Tanz- oder Salonmusikbegleitung abgelöst. Die vielbeschworene „Entnazifizierung“ hatte sowohl in der Musik als auch in weiten Teilen der Bevölkerung nur halbherzig (wenn überhaupt) stattgefunden,2 und so war in eigentlich ungebrochener Fortführung der deutsche „Schlager“ zum annähernd nichtssagenden Hintergrund konsumbefriedigter Kleinbürgerlichkeit geworden. Ein Gegenmodell bot die Rock ’n’ Rollund Beat-Musik der 1960er Jahre. Erlernen ließ sich diese Art des Musizierens bei deutschen Musiklehrern im Allgemeinen nicht, durch den hauptsächlich von britischen Soldaten besuchten „Liverpool Club“ oder die Fahrt ins benachbarte Holland war in Düsseldorf aber zumindest etwas Input vorhanden. Durch diese gesellschaftlichen Faktoren bedingt, erwies sich die Düsseldorfer Szene als sozial erstaunlich durchlässig, wenn auch Spannungen innerhalb der Bands aufgrund unterschiedlicher Biographien teils umso heftiger hervortraten. Dennoch ist es erstaunlich, wie viele Musiker, die später die deutsche Rock- und Popmusik prägten, hier immer wieder in unterschiedlichen Konstellationen aufeinandertrafen. Coverbands, die Ende der 1960er Jahre die Düsseldorfer Szene prägten, waren die „Beathovens“ mit Schlagzeuger Wolfgang Flür (geb. 1947), „About Five“ (später umbenannt in „Harakiri Whoom!“) mit dem charismatischen Sänger Marius Müller-Westernhagen (geb. 1948) und Gitarrist Bodo Staiger (1949–2019) sowie „The No“, bei denen Schlagzeuger Klaus Dinger (1946– 2008) mitwirkte. Müller-Westernhagen erinnerte sich später selbstironisch: „Wir konnten alle noch gar nicht richtig spielen. Was wir gemacht haben, würde ich als eine Art unfreiwilligen Punk bezeichnen. Ein Riesenkrach. Aber es war mit Stones-Attitüde.“3 Dieser eher naiv-begeisterten Selfmade-Szene stand eine andere gegenüber, die vor allem der 2 Aus der Fülle der Namen, die im Unterhaltungsmusik-Bereich als Beispiele ungebrochener Popularität hier genannt werden könnten, seien nur einige herausgegriffen: Hans Carste (1909–1971), Tanzorchesterleiter, Filmkomponist und 1958–1967 Vorsitzender des Aufsichtsrats der Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte (GEMA); im gleichen Amt war seit 1972 der Filmmusikkomponist Franz Grothe (1908–1982) tätig; Edmund Nick (1891–1974) fungierte seit 1965 als stellvertretender Präsident des Deutschen Komponistenverbandes; in dessen Vorstand war von 1963 bis 1971 auch Norbert Schultze (1911–2002) Mitglied, dessen Schlager „Lili Marleen“ und „Bomben auf Engelland“ über Deutschland hinaus bekannt bzw. berüchtigt waren; auch Interpreten und Interpretinnen wie Zarah Leander (1907–1981), Willy Schneider (1905–1989) oder Barnabás von Géczy (1897–1971) konnten bald nach Kriegsende ihre Tätigkeit wieder aufnehmen – die Liste ließe sich nach Belieben fortsetzen. 3 Schröder, Christian, Interview mit Marius Müller-Westernhagen. „Du wirst ein Produkt? Zerstör es!“, in: Der Tagesspiegel, 19.10.2009, abgerufen unter: https://www.tagesspiegel.de/kultur/pop/mueller-westernhagen-du-wirst-ein-produkt-zerstoer-es/1618060.html (abgerufen 6.6.2021).
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bildenden Kunst entsprungen war und ihre Inspiration durch Joseph Beuys (1921–1986) bezog. Auch hier lag das hobbymusikalische Niveau niedrig, wurde jedoch theoretischkonzeptuell untermauert. Denn wenn nach Beuys jeder Mensch ein Künstler sein konnte, musste er doch auch ein Musiker sein können. So entstand aus dem Kreis von Beuys’ Studierenden die Konzept-Band „Piss off “, die mit ihren „Klangskulpturen“ allerdings beim Publikum eine ihrem Namen entsprechende Wirkung erzielte. Noch über 40 Jahre später urteilte der Schriftsteller Bernd Cailloux (geb. 1945): „Die konnten ja überhaupt nichts […] die reine Katastrophe.“4 Trotz dieses nachhaltigen Unverständnisses entstammen dem Beuys-Umfeld nicht nur der Bassist und Cellist Eberhard Kranemann (geb. 1945), sondern auch Hans-Joachim Roedelius (geb. 1934) und Conrad Schnitzler (1937–2011), die mit den Gruppen „Kluster“ und „Tangerine Dream“ von Berlin ausgehend nachhaltigen Einfluss nahmen. Bereits in dieser Szene spielten elektronische Instrumente und Verfremdungseffekte eine nicht unwesentliche Rolle. Einerseits hatten diese durch die Elektronischen Studios des WDR, der Hochschule Köln und später des Düsseldorfer Robert-SchumannKonservatoriums ein akademisches Flair, andererseits waren sie instrumentales Neuland, das den Künstler vor den Zwängen jahrhundertealter Traditionen von Repertoire und Spieltechniken bewahrte. Rock- und Kunstszene hatten zunächst wenig Berührungspunkte, wenn man von einzelnen Brennpunkten wie dem Club „Creamcheese“ auf der Hunsrückenstraße absieht, wo die Kunstelite ebenso verkehrte wie das Musikproletariat, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Wolfgang Flür etwa hatte nicht viel für BeuysHappenings übrig: „Wir sind immer zum Tanzen und Mädchengucken hin.“5 Florian Schneider, der damals noch den väterlichen Doppelnamen Schneider-Esleben trug, war in beiden Szenen als Zuhörer, jedoch nicht als Mitwirkender eine bekannte Figur. Sein Vater war der berühmte Architekt Paul Schneider-Esleben (1915–2005), dessen Schöpfungen wie etwa das Mannesmann-Hochhaus und die Rochuskirche in Düsseldorf, der Köln-Bonner Flughafen oder die Arbeitersiedlung der Hein Lehmann AG in Monheim-Baumberg das rheinische Städtebild nachhaltig mitgestalteten. Zumindest finanziell betrachtet zählte der junge Schneider damit zur Elite, die sich um ihr Auskommen keine Sorgen machen musste. Zugleich jedoch eröffneten seine esoterischen musikalischen Interessen wenig Möglichkeiten, Anschluss an den zeitgenössischen Musikgeschmack zu finden: Neben Grundkenntnissen auf der Violine war Florian Schneider vor allem ein begabter Flötist, der am Robert-Schumann-Konservatorium klassisch ausgebildet wurde und sich daneben sehr für die französische „Musique concrète“ von Pierre Henry (1927–2017) und Pierre Schaeffer (1910–1995) interessierte, die Alltagsgeräusche in die Musik übernahm und das Verhältnis von Interpret und Komponist hinterfragte. So experimentierte er zunehmend mit der elektronischen Modulation seiner Flöten; finanzielle Probleme bei der Anschaffung diverser Instrumente und Geräte gab es für ihn ja nicht. Diese Offenheit dem Experiment gegenüber führte schließlich zur 4 Zit. n. Esch, Electri_City, S. 18. 5 Zit. n. ebd., S. 24.
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Bekanntschaft mit Eberhard Kranemann, mit dem der ansonsten sehr zurückhaltende Schneider im Jahr 1967 gelegentlich zu improvisieren begann. Kranemann war es auch, der dem Flötisten die Teilnahme am Jazz-Workshop der Akademie der Kulturellen Bildung in Remscheid 1968 empfahl, um seine musikalischen Möglichkeiten zu erweitern. Hier lernte er Ralf Hütter kennen, einen Pianisten, der als Sohn eines reichen Textilhändlers aus Krefeld einen vergleichbaren sozialen Hintergrund hatte und ebenfalls an Musik jenseits der Konventionen interessiert war. Beide verstanden sich auf Anhieb, wie Ralf Hütter rückblickend beschrieb: „Wir sprachen dieselbe Sprache. Wir waren Einzelgänger, Eigenbrötler. Herr Kling und Herr Klang.“6 Obwohl Hütter in Aachen studierte, wurden die musikalischen Experimente mit Kranemann in Düsseldorf fortgesetzt. Auch bei den zahlreicher werdenden Jam-Sessions in Düsseldorfer Jugendclubs wurden Hütter und Schneider nun regelmäßig gesehen. Mit steigender musikalischer Kompetenz war die Szene in wenigen Monaten deutlich aufgeblüht und wurde durch Erweiterung des Repertoires und der Klangsprache zunehmend durchlässiger: Die „Beathovens“ waren Geschichte, stattdessen spielten die seit 1965 aktiven „Spirits of Sound“ nun mit (unter anderen) Wolfgang Flür, Gitarrist Michael Rother (geb. 1950) und zeitweilig Wolfgang Riechmann (1947–1978) als Keyboarder und Sänger bereits eigene, „psychedelischere“ Kompositionen als die Beatbands zuvor. 1969 entstand die Düsseldorfer „Supergruppe“ „The Smash“ mit Klaus Dinger und dem persischstämmigen Gitarristen und Komponisten Houschäng Nejadepour (gest. 2016), einer geradezu mythischen Figur der Düsseldorfer Szene und mit seiner außergewöhnlichen Gitarrentechnik das lokale Gegenstück zu Jimi Hendrix (1942–1970). Die zwanglosen Zusammentreffen an verschiedenen Orten und das freie Spiel führten schließlich zur Gründung neuer Bands, die jedoch nahezu ausschließlich an britischen und US-amerikanischen Vorbildern orientiert waren. Dieser Szene entstammend, jedoch wesentlich abstrakter und deutlich in der Nähe der Konzept-Bands aus dem Umfeld der Kunstakademie war die Gruppe, mit der Hütter und Schneider schließlich erste öffentliche Schritte in Richtung einer eigenen musikalischen Identität unternahmen. Die bereits damals im Hintergrund stehenden Gedanken erläuterte das spätere Gruppenmitglied Karl Bartos (geb. 1952): „Wir mussten unsere eigene Identität finden. Wir hatten also diesen berühmten Filmkünstler, den Regisseur Rainer Werner Fassbinder, der den Film der Bundesrepublik machte, [und] Joseph Beuys machte die Kunst. Und wir hatten das Gefühl, wir sollten eine Stellungnahme abgeben, wie diese Bundesrepublik, dieses Deutschland, klingen würde.“7 Der Name der Gruppe, „Organisation zur Verwirklichung gemeinsamer Musikkonzepte“, zeigte in seiner deutschen Sperrigkeit den Willen zur Abgrenzung. Musikalisch jedoch ist die Gruppe, der neben Schneider und Hütter auch Bassist „Butch“ Hauf, Perkussionist Basil Hammoudi und Schlagzeuger Alfred Mönicks angehörten, abgesehen von einem hohen Grad musikali6 Zit. n. Buckley, Kraftwerk, S. 50. 7 Original in Englisch in Film „Pop i Fokus: Kraftwerk“ von Malik Bendjelloul (2001), 03:57.
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scher Abstraktion noch fest in der Musik der Zeit verwurzelt. Eine Langspielplatte der Gruppe wurde 1969 in den Rhenus-Studios in Godorf (Stadt Köln) aufgenommen. Hier arbeiteten Hütter und Schneider erstmals mit dem Produzenten Conrad „Conny“ Plank (1940–1987), dessen Studioarbeit für eine ganze Generation deutscher Musiker prägend werden sollte. Rückblickend lassen sich in den freien, teils atonalen oder rein rhythmischen Improvisationen der Gruppe einzelne strukturelle und melodische Elemente späterer Kraftwerk-Titel erkennen, doch aus zeitgenössischer Sicht konnte nichts auf dieser Platte auf die spätere Kraftwerk-Ästhetik hindeuten. Die produzierende Plattenfirma RCA hatte offenbar Bedenken, ob das deutsche Publikum für diese Art von Musik ein offenes Ohr haben würde, und veröffentlichte die LP im August 1969 ausschließlich in Großbritannien. Laut Alfred Mönicks hatte die Gruppe mittlerweile ihren Namen in Kraftwerk geändert, wurde aber von der Firma gedrängt, einen internationaler klingenden Namen zu wählen, so dass das Album schließlich unter dem verkürzten Gruppennamen „Organisation“ erschien. Bezeichnenderweise findet sich jedoch auf der Rückseite der Plattenhülle in einer Ecke bereits der orange-weiße Leitkegel, der für die kommenden Jahre symbolisch für Kraftwerk werden sollte. Die Verkäufe des Albums waren schlecht, da die Gruppe in England völlig unbekannt war. An einem weiteren Album hatte die RCA ebenfalls kein Interesse, und so war auch die „Organisation“ rasch Geschichte. Hütter und Schneider trennten sich nach einem auch vom Fernsehen dokumentierten Auftritt beim Essener Pop- und Bluesfestival am 25. April 1970 von ihren Mitmusikern und begannen mit der Konzeption des ersten Kraftwerk-Albums.
III. Ein neuer Stil bildet sich Bereits im Juli 1970 begannen mit Conny Plank die Aufnahmen zur ersten KraftwerkLP. Insofern verwundert es nicht, dass einige Reminiszenzen an die Vorläufergruppe auf dem Album zu finden sind. Die eröffnende Komposition „Ruckzuck“ war bereits im Repertoire von „Organisation“ vorhanden, und auch die Fotos von Hütter und Schneider auf der Innenseite des Klappcovers waren bei einem Auftritt dieser Gruppe entstanden. Der Kraftwerk-Sound war jedoch wesentlich sparsamer als der von „Organisation“; die einzelnen Teile, aus denen die Stücke sich zusammensetzten, waren zwar immer noch recht frei in große Formen improvisatorisch eingebettet, doch lässt sich zunehmend eine blockhafte Bewegung einzelner Abläufe mit- und gegeneinander beobachten, die stellenweise an die kompositorischen Theorien des italienischen Futurismus erinnert und bei „Organisation“ noch nicht zu finden ist. Ob dies eine bewusste Entscheidung war oder aufgrund der künstlerischen Interessen von Hütter und Schneider während des Improvisierens unbewusst entstand, ist allerdings schwierig zu beurteilen. Der Klang ist sehr viel nüchterner und elektronischer als bei „Organisation“, jedoch setzt die Band dem eine gehörige Prise hintergründigen Humor entgegen, der damals nicht gerade eine Selbstverständlichkeit in der progressiven deutschen Kunst war. So erhielt ein Stück, das
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klanglich in wesentlichen Teilen von Schneiders elektronisch verfremdeter Geige dominiert wird, den Titel „Stratovarius“. Eine lange Komposition, die das Album abschließt, scheint von Jimi Hendrix und seiner vieldiskutierten Version der US-amerikanischen Nationalhymne beim Woodstock-Festival inspiriert, wo die Gitarren-Legende in die verzerrte Melodie stilisierte Klänge von Granaten, Kampffliegern und Maschinengewehren einbaute und so ihrer Ablehnung des Vietnam-Kriegs Ausdruck verlieh. Kraftwerk hingegen erinnerten mit synthetischen Sirenen, StuKa-Heulen und Explosionen an den Zweiten Weltkrieg und wählten den sarkastischen Titel „Vom Himmel hoch“. Hütter verwendete zu dieser Zeit neben Orgeln von Hammond und Farfisa auch das in Schweden hergestellte „Tubon“, eine einstimmige handgehaltene Oszillator-Orgel, die er vor allem für die ungewöhnlichen abstrakten Geräuscheffekte der Platte einsetzte. Trotz aller Autonomie der Kraftwerk-Köpfe wurde für den Rhythmus noch ein Schlagzeuger benötigt. Zunächst spielte daher Andreas Hohmann8, der jedoch als Jazzgeschulter Musiker mit den minimalistischen Ansätzen der Gruppe offenbar nicht warm wurde. Mitten in den Aufnahmen verließ er die Gruppe und gründete wenig später gemeinsam mit Basil Hammoudi von „Organisation“ die in Fachkreisen geschätzte Band „Ibliss“. Für die noch ausstehenden Kraftwerk-Aufnahmen wurde kurzfristiger Ersatz in Klaus Dinger gefunden, der zu diesem Zeitpunkt allmählich den für ihn typischen energiegeladenen Minimalismus entwickelte, der später als „Motorik-Beat“ bekannt wurde und in seinen charakteristischen Mustern auch international von David Bowie (1947–2016) und Bands wie „Devo“ oder „Stereolab“ aufgegriffen wurde. Nicht zuletzt durch die exzellente Vernetzung Planks in der Medienlandschaft verbreitete sich der Ruf der neuen experimentellen Band, noch bevor das Album im Dezember 1970 in die Läden kam. So wurde bereits am 15. November 1970 durch den WDR einer der ersten Auftritte der Gruppe im „Karussell der Jugend“ auf der Soester Kirmes gefilmt, wenn auch bis 2014 nur in Teilen ausgestrahlt. Deutlich ist bei diesem Auftritt des Trios die Irritation des Publikums zu sehen, das von den Klängen offenbar völlig überrumpelt wurde. Scheinbar zufällige Textprojektionen wie „Unterstützt die Wirtschaft – öfter mal Weihnachten“ taten ein Übriges; dass auch hier ein hintersinniger Bezug zu „Vom Himmel hoch“ geschaffen wurde, ging spurlos an den Zuhörern vorüber, zumal die Gruppe auf der Bühne auch keinerlei Hilfestellung durch Moderationen anbot. Ohnehin war dieser Auftritt untypisch für Kraftwerk, denn während Rockgruppen normalerweise in Clubs, Jugendheimen und Mehrzweckhallen erste Sporen verdienten, spielte Kraftwerk in Kunstgalerien und Universitäten. Zum Zeitpunkt der Aufzeichnung befand Kraftwerk sich bereits in einer schwierigen Situation, denn Ralf Hütters Vater drängte seinen Sohn, das in Aachen begonnene Architekturstudium endlich ernsthaft zu betreiben. Doch anstatt die Gruppe aufzulösen, ging man den ungewöhnlichen Weg, soweit erforderlich in der kommenden Zeit getrennt zu arbeiten. So spielte anlässlich des Beethoven-Jahrs in Aachen am 19. Dezember 1970 8 Daten unbekannt; in manchen Quellen mit dem Schlagzeuger Thomas Lohmann verwechselt.
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eine Kraftwerk-Formation im Alten Kurhaus, die im von Mauricio Kagel (1931–2008) eingerichteten „Musiksalon“ ihren Kommentar zu Beethoven abgab. Hier wurde aus der zunehmend verzerrten und geschichteten Schallplattenaufnahme eines BeethovenWerks allmählich eine Improvisation auf der Basis von Beethovens Themen entwickelt, die jedoch zumindest in der Presse keinen ungeteilten Beifall fand: „Um ein fast andert halbstündiges Konzert zu füllen, reichten die Ideen und ihre Realisation nicht aus. Zu wenig Möglichkeiten steckten in dem Instrument Orgel, um damit ein musikalisches Thema wirklich umfassend auszuschöpfen.“9 Hier spielten lediglich Ralf Hütter und ein weiterer Musiker, der jedoch auf dem schlecht gedruckten Pressefoto nicht sicher zu identifizieren ist – wahrscheinlich handelt es sich um Klaus Dinger. Umgekehrt versuchte im Großraum Düsseldorf auch Florian Schneider, weiterhin mit Kraftwerk aktiv zu sein. Ab Dezember 1970 bildete er zunächst ein Trio mit Eberhard Kranemann und dem Schlagzeuger Charly Weiss (1939–2009), doch empfand wohl auch er wie Hütter in Aachen den Mangel eines zweiten Melodieinstruments, den Kranemann mit gelegentlichem Griff zum Cello oder zur Hawaii-Gitarre offenbar nicht kompensieren konnte. So wurde Anfang 1971 kurzzeitig Houschäng Nejadepour Mitglied der Gruppe. Es war absehbar, dass dessen impulsive und virtuose Kreativität bald zu Konflikten mit dem stillen Perfektionisten Florian Schneider führen musste, und in der Tat verließ er die Gruppe nach wenigen Wochen wieder. Auch der Posten des Schlagzeugers wurde mehrfach neu besetzt – zumindest wird auf einem Leverkusener Konzertplakat vom 15. Februar 1971 der Jazz-Drummer Peter A. Schmidt genannt, während auf dem darüberstehenden Foto Charly Weiss zu sehen ist. Bereits zwei Tage später spielte in Krefeld wieder Klaus Dinger mit Schneider, Nejadepour und Kranemann. Eine halbwegs stabile Besetzung ließ sich aus den unterschiedlichen Charakteren dieser Musiker nicht formen, und so suchten Hütter und Schneider nach weiteren, Kraftwerk-tauglichen „Musikarbeitern“, wie Ralf Hütter später (nicht immer zur Freude seiner Mitmusiker) zu sagen liebte. So wurde im Januar 1970 Michael Rother, der nach seiner Zeit mit den „Spirits of Sound“ gerade Zivildienst leistete, in den Studioraum auf der Mintropstraße gebeten, wo er zunächst probehalber mit Ralf Hütter und Charly Weiss spielte, wie er sich später erinnerte: „Florian und Klaus saßen nur auf dem Sofa und hörten zu. Ein paar Wochen darauf rief Florian mich an und fragte, ob ich in die Band einsteigen wollte.“10 Auch Rother war mittlerweile interessiert an einer Musik, die offensichtliche Rock- und Blues-Einflüsse so klein wie möglich hielt, weshalb zu Ralf Hütter direkt ein musikalischer Draht entstand und er als erstes der zahlreichen temporären Kraftwerk-Mitglieder die von Hütter gelassene Leerstelle tatsächlich besetzen konnte. Florian Schneider wiederum hatte wie Rother das Düsseldorfer Rethel-Gymnasium besucht, wenn auch einige Jahrgänge darüber, so dass man sich zumindest vom Sehen kannte. Rothers ausgeglichene Art konnte auch die zunehmenden Konflikte zwischen Dinger und Schneider in einem gewissen 9 Strenzke, Petra, Experimente in Beethovens Salon, in: Aachener Nachrichten, 21.12.1970. 10 Zit. n. Buckley, Kraftwerk, S. 64.
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Maße dämpfen. In den kommenden Monaten wurde die Triobesetzung Dinger/Rother/ Schneider synonym mit der Gruppe, obwohl bei Auftritten gelegentlich nach wie vor andere Musiker mit auf der Bühne standen. Die Kraftwerk-Platte war in der Zwischenzeit auf Platz 30 der deutschen Charts geklettert, und „Ruckzuck“ erwies sich als populärer Radiotitel. Infolgedessen wurden mehrere Fernsehaufzeichnungen angefertigt, bei denen Schneider sich auf die seinem Perfektionismus am ehesten entsprechende Triobesetzung beschränkte. Diese Mitschnitte sind nicht zuletzt deshalb von Interesse, weil hier gespielte Titel vermutlich Teil des zweiten Kraftwerk-Albums hätten werden sollen, das aber schließlich nicht beendet wurde. Die Aufnahmen im Sommer 1971, die diesmal zwar nach wie vor mit Conny Plank, aber nun im Star Studio Hamburg stattfanden, ließen die Differenzen deutlich hervortreten, wie sich Michael Rother erinnert: „Die Atmosphäre war zu kühl, da wir die Aufregung, die wir live spürten und auch vermitteln konnten, im Studio, in dieser sterilen Atmosphäre, einfach nicht wiederholen konnten. Außerdem gab es Spannungen zwischen Klaus und Florian, das war teilweise apokalyptisch.“11 So fiel die Gruppe nach einem letzten Konzert am 31. Juli 1971 in Langelsheim auseinander und die zahlreichen Kraftwerk-Musiker gingen getrennte Wege. Rother und Dinger gründeten als Duo die Gruppe „NEU!“, die mit ihrem spontanen und energetischen Minimalismus, der von Rother mit verschiedenen flächigen Gitarrenschichten um ein entgegengesetztes Element angereichert wurde, zur international einflussreichsten Gruppe nach Kraftwerk wurde. Houschäng Nejadepour blieb mit „Eiliff “ und „Guru Guru“ präsent, während Kranemann und Peter A. Schmidt erst 1977 mit „Fritz Müller“ wieder ein breiteres Publikum fanden. Noch länger blieb Charly Weiss eine Untergrundgröße, bis er durch die langjährige Zusammenarbeit mit Helge Schneider (geb. 1955) spät noch eine größere Fanbasis erlangte. Kraftwerk hätte auch hier wieder ein frühes Ende finden können, doch kehrte Ralf Hütter in den Sommersemesterferien nach Düsseldorf zurück. Die erneute intensive Zusammenarbeit von Hütter und Schneider setzte verschüttete kreative Energien frei, die zusätzlich durch einen unverhofften Popularitätsschub unterstützt wurden: Das Politmagazin „Kennzeichen D“, das am 4. September 1971 erstmals im Zweiten Deutschen Fernsehen (ZDF) ausgestrahlt wurde, wählte „Ruckzuck“ von der Kraftwerk-LP zur Titelmelodie. Die kommerziellen Aussichten eines neuen Tonträgers waren also noch rosiger als zuvor. Im Herbst 1971 waren die beiden Musiker mit Plank wieder in Hamburg, wo in weniger als einer Woche das Album mit dem sachlichen Titel „Kraftwerk 2“ aufgenommen und gemischt wurde. Weitere Musiker waren bei diesem Projekt nicht zugegen und so zeigten sich die beiden Kraftwerk-Köpfe als Multi-Instrumentalisten: Florian Schneider ist auch als Gitarrist zu hören, Ralf Hütter spielte bei Bedarf E-Bass, eine zur Produktion neu angeschaffte Rhythmusmaschine sowie eine (offenbar mit halber Geschwindigkeit wiedergegebene) Mundharmonika. Die musikalischen Strukturen sind dem ersten Album vergleichbar, wenn auch einer11 Zit. n. Esch, Electri_City, S. 59.
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seits loser in der Form, andererseits mit längeren harmonischen Passagen als beim Vorgänger. Insgesamt bleibt eher der Eindruck eines Suchens nach neuen Mitteln als einer abgeschlossenen Produktion, was auch der knappen Studiozeit geschuldet sein mag. In Erinnerung blieb hauptsächlich der Opener „Klingklang“, der dem bandeigenen Studio seinen Namen geben sollte. Trotz des verhaltenen Erfolges, den das Album bei seinem Erscheinen im Januar 1972 haben sollte, blieb Kraftwerk im öffentlichen Gedächtnis. Das Musikmagazin „Sounds“ kürte Kraftwerk zur Band des Jahres 1971, „Ruckzuck“ zum Song des Jahres und platzierte Florian Schneider auf Platz 2 der Liste von Musikern des Jahres. Die Zahl der nachweisbaren Konzerte in den kommenden Monaten war dennoch eher gering, da Auftritte ohne weitere Musiker nicht möglich waren. Hütter und Schneider engagierten zunächst aus ihrem Bekanntenkreis als Bassisten Plato Kostic Rivera (Lebensdaten unbekannt), den Hütter beim gemeinsamen Studium in Aachen kennengelernt hatte; als Gitarrist war Emil Schult (geb. 1946) verpflichtet worden, der an der Düsseldorfer Kunstakademie bei Joseph Beuys und später als Meisterschüler bei Gerhard Richter studierte. Etwa zu dieser Zeit entstand auch eine Wohngemeinschaft in der Berger Allee am Rand der Düsseldorfer Altstadt, die in den kommenden Monaten sozialer Bezugspunkt des Bandumfelds wurde, während der Studioraum auf der Worringer Straße der musikalischen Arbeit vorbehalten blieb. Zwischen Mai und Juni 1973 entstand das nächste Album, das mit dem simplen Titel „Ralf & Florian“ die Bandhierarchie zementierte. Musiker, die bei den Konzerten der vergangenen Monate mitspielten, sind hier nicht zu hören – Hütter und Schneider spielen alle Instrumente selbst. Dabei waren eine elektrische Rhythmusmaschine neu ins Klangspektrum der Band aufgenommen worden, ein Vocoder und (vielleicht angeregt durch das Vorbild Eberhard Kranemanns?) eine Hawaii-Gitarre. Elektronisch dominierte Tracks und überwiegend akustisch eingespielte Nummern stehen sich auf der Platte sauber abgegrenzt gegenüber, und die oft freitonale, mit Zufällen spielende Improvisation ist weitgehend von einer betont einfachen Melodik und Harmonik abgelöst worden, die eher an deutsche Folklore oder die meditative Reduktion eines Erik Satie (1866–1925) erinnert als an die Musik aus dem anglophonen Raum, die zu dieser Zeit die Hitparaden dominierte. Es war nicht mehr überhörbar, dass Kraftwerk sich in eine Richtung entwickelte, die weit von den Anfängen der Gruppe entfernt war und tatsächlich neue Wege gehen würde. Hütter und Schneider begannen im Sommer 1973 die Suche nach einem Schlagzeuger, der die Band bei Live-Auftritten unterstützen sollte. Die Wahl fiel auf Wolfgang Flür von den „Spirits of Sound“, dessen gerades und eher minimalistisches Spiel beiden geeignet schien. Doch dieser hatte zunächst keine Lust, überhaupt mitzuwirken. Er hatte es Hütter und Schneider übelgenommen, dass durch die Abwerbung Michael Rothers die „Spirits of Sound“ letztlich auseinandergefallen waren. Zum Zeitpunkt der Offerte 1973 hatte er sein Schlagzeug an Klaus Dinger verkauft und überlegte, ob er sich eher auf die Arbeit in einem medizinischen Labor oder in einem Architekturbüro konzentrieren sollte. Nach einigen Tagen ließ er sich aber doch mit Geld und guten Worten überreden,
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wenigstens zu einer Probe ins Studio zu kommen: „Bei Ralf und Florian im Studio stand nur so ein Anfängerschlagzeug rum, eigentlich ein echtes Kinderschlagzeug, auf dem ich spielen sollte. Das ging gar nicht.“12 Wolfgang Flür entwickelte aus dieser Not heraus die Idee eines elektronischen Schlagzeugs, das darüber hinaus auch besser zu den immer synthetischeren Klängen der Gruppe passen würde. Auf der Basis eines Rhythmusmoduls, das aus einer alten elektronischen Orgel stammte, bauten Flür und Schneider im Keller der Berger Allee ein elektronisches Schlagzeug, dessen Kontakte mithilfe von Metallstäben (sprich Stricknadeln) geschlossen wurden. Nun besaß die Band ein zwar eher primitives, aber weltweit einmaliges Instrument, und das Trio harmonierte durch die gemeinsamen Experimente auch menschlich besser. Erste Testkonzerte verliefen ernüchternd: „Im Boutique [in Mönchengladbach] war es ganz schlimm, da sind wir ausgebuht worden. Das war den Leuten zu fremd. Damals musste ein Schlagzeuger körperlich arbeiten, da musste der Schweiß spritzen, sonst war das nichts.“13 Beim ersten Promotion-Auftritt für „Ralf & Florian“ am 10. Oktober 1973 im ZDF waren es dann aber nicht deren Synthesizer, sondern Wolfgangs „Bügelbrett“, das die Aufmerksamkeit der anwesenden Techniker auf sich zog. Auch diese Erfahrung bewog den Schlagzeuger, sich trotz weiteren Zögerns doch endgültig der Gruppe anzuschließen.
IV. Die Mensch-Maschine erobert die Welt Obwohl „Ralf & Florian“ mit seinem neuen Sound nicht in den Hitparaden auftauchte und manche Fans verschreckte, war die Gruppe überzeugt davon, auf dem richtigen Weg zu sein, und verbrachte einen Großteil des Jahres 1974 mit den Aufnahmen zu „Autobahn“. Wenngleich Synthesizer und andere elektronische Klänge die LP dominierten, ist „Autobahn“ dennoch nicht frei von „herkömmlichen“ Instrumenten. Mit dem Gitarristen und Violinisten Klaus Röder (geb. 1948) war 1974 sogar ein weiteres Mitglied gewonnen worden, das zwar seine Instrumente elektronisch modifizierte, aber dennoch nicht rein elektronisch musizierte. Doch zum ersten Mal wurde über ein ganzes Album hinweg eine Ästhetik, die sich zuvor schon angedeutet hatte, konsequent umgesetzt: Eine zwar harmonisch gebundene, aber emotional zurückgenommene Mischung aus „handgemachter“ und elektronischer Musik, bei der die Letztere im Zweifelsfalle in einem Maße dominierte, dass spontane Elemente für diejenigen, die nicht in den kreativen Prozess eingebunden waren, über weite Strecken kaum noch erkennbar waren. Emil Schult war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr aktives Mitglied auf der Bühne, da er selbst seine Fähigkeiten auf der Gitarre nicht allzu hoch einschätzte, blieb aber als Ideengeber und Grafiker im Hintergrund weiterhin präsent. So gestaltete er die Hülle des Albums, die in ihrer nur scheinbar simplen Darstellung perfekt zur künstlerischen Vision der Gruppe passte: Auf einem fast 12 Zit. n. ebd., S. 87. 13 Zit. n. ebd., S. 89.
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völlig leeren Stück Autobahn sind lediglich der alte Mercedes von Florian Schneider und der graue VW-Käfer von Ralf Hütter zu sehen. Fast übermäßig begrünte Berge und Tannen neben einer strahlend auf- oder untergehenden Sonne stehen als ironisch-kitschige Natursymbole neben Hochspannungsleitungen, einer Autobahnbrücke und einem Flugzeug als Symbolen der Technik. Der Blick auf die Szene fällt grotesk überhöht aus einem Sportwagen, dessen auf das Armaturenbrett montierter Rückspiegel ihn als ausländisches, wahrscheinlich britisches oder US-amerikanisches Fabrikat ausweist – eine Analogie zur Herablassung, mit der deutsche Musik international bis dahin betrachtet wurde (bei späteren Neuauflagen wurde das Armaturenbrett wegretuschiert). Im Rückspiegel klein, auf der Rückseite des Covers größer abgebildet sind vier Kraftwerk-Mitglieder als collagierte Mitfahrer auf der Rückbank; ursprünglich zeigte das Bild Emil Schult, der sich als viertes Mitglied aber kurzfristig zumindest auf der Rückseite noch gegen Wolfgang Flür austauschte: Der hatte sich schließlich doch noch als festes Mitglied der Gruppe angeschlossen. Die selbstbewusste Ironie, die sich schon in der Plattenhülle andeutet, findet sich ebenso in der Musik: Der Titelsong „Autobahn“ dauert epische 22 Minuten (und bei Live-Konzerten konnte es auch doppelt so lang sein) und entspricht damit durchaus „Progressive Rock“Konventionen, der Inhalt des Werkes jedoch keineswegs: Vielmehr schildert die Komposition eine Autobahnfahrt von Düsseldorf nach Hamburg, wobei einzelne musikalische Abschnitte Charakteristika der sich verändernden Landschaft abbilden, unterbrochen von teils real aufgenommenen, teils am Computer erzeugten Fahrtgeräuschen. Erstmals wird hier auch von Ralf Hütter sein später für die Gruppe charakteristisches, distanziertkühles „Sprechsingen“ (eines Textes von Emil Schult) eingesetzt. Kraftwerk emanzipierten sich mit diesem Album endgültig von einer Popmusik-Szene, die sie zwar kannten und teilweise sogar hoch schätzten, aber für ihre künstlerische Vision nicht mehr adäquat befanden. Am deutlichsten wird dies in der Abschluss-Nummer „Morgenspaziergang“, in der die damals allmählich aufkommende „New Age“-Ästhetik in ihr Gegenteil verkehrt wird: Eine betont harmonische, spannungsarme Melodie wird mit Naturgeräuschen kombiniert – bei Kraftwerk jedoch wird Wasserrauschen und Vogelzwitschern komplett elektronisch erzeugt, während die Instrumente in Blockflöten und Klavier bestehen (und diese darüber hinaus noch leicht verstimmt). Conny Plank hatte auch dieses Album noch betreut, wurde jedoch von Hütter und Schneider ausbezahlt, nachdem Gespräche über eine Single-Auskopplung auch im Ausland begonnen hatten. Diese Maßnahme mag menschlich zu hinterfragen sein – geschäftlich sicherte sie bereits kurzfristig die dauernde Unabhängigkeit der Gruppe, denn das Album „Autobahn“ wurde zum internationalen Erfolg, und eine auf etwa drei Minuten gekürzte Single-Auskopplung erreichte die Top-50-Charts in mindestens zehn Ländern. Nachdem die Gruppe bislang nur in Deutschland und Frankreich aufgetreten war, wurden nun für 1975 ausgedehnte Tourneen durch die USA und Großbritannien geplant. Klaus Röder hatte sich jedoch gerade ein eigenes elektronisches Studio in Solingen eingerichtet und passte ohnedies zunehmend weniger zum elektronischen Image der Band. Nachdem auch Michael Rother ein Angebot der Gruppe dankend abgelehnt hatte, wandten
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sich Hütter und Schneider an einen Professor des Düsseldorfer Konservatoriums, der den Studenten Karl Bartos empfahl. Bartos war nicht nur ein exzellenter Schlagwerker, sondern hatte zu Beginn der 1970er Jahre Banderfahrung bei „Sirius“ mit Müller-Westernhagen gesammelt. Bei Kraftwerk versuchte er sich zunächst an der Integration seines damaligen Lieblingsinstruments, des Vibraphons, wurde aber auch bald als Ergänzung zu Wolfgang Flürs Rhythmusarbeit wichtig, wie dieser betont: „Er war schließlich ausgebildeter Konzerttrommler und konnte Figuren spielen, zu denen ich selbst nicht fähig war.“14 In den kommenden Jahren erwies sich das nun gebildete Quartett als die lange gesuchte, stabile Besetzung, in der die sehr unterschiedlichen Charaktere der einzelnen Musiker gemeinsam musikalisches Neuland betreten konnten. Die grundlegende Hierarchie in der Band wurde jedoch nicht angetastet und zeigte sich auch in den sozialen Strukturen: Ralf Hütter war nach wie vor Mieter der großräumigen Wohnung auf der Berger Allee, doch er und Florian Schneider wohnten dort nicht – seit 1976 bis 1983 teilten sich die dortigen Räume Emil Schult, Wolfgang Flür, Karl Bartos und zunächst noch Plato Kostic Rivera, bevor dieser nach Abschluss seines Studiums nach Griechenland zurückkehrte. Bartos und Flür verstanden sich schnell als gemeinsames Korrektiv der „Leitungsebene“ und so wurde die gemeinsame Arbeit in den kommenden Jahren außerordentlich fruchtbar. Auf dem Album „Radioaktivität“ von 1975 wurden erstmals ausschließlich elek tronische Instrumente eingesetzt, die Kraftwerk in den kommenden Jahren teils selbst entwickelte, teils von externen Technikern als Dienstleistung für die Band bauen ließ. Nicht zuletzt die Bedienung der komplexen Technik, die nötig war, um die KraftwerkSongs live zu spielen, zwang die Musiker immer mehr in fast völlige Bewegungslosigkeit. Doch aus dieser Not ließ sich eine Tugend machen, und die Gruppe stilisierte sich zunehmend als roboterhafte Maschinenmenschen, die scheinbar ungerührt und mit ruckhaften Bewegungen auf der Bühne Klänge erzeugten, deren zugrunde liegende Technik dem Publikum unverständlich blieb. Was Flür in die ironischen Worte kleidete: „Wir wussten, wir waren die Söhne von Wernher von Braun und Werner von Siemens“15, wurde bald nicht unproblematischer Teil des Band-Images, denn vor allem die englischsprachige Presse nutzte gerne den Verweis auf Stereotypen wie die Gefühlskälte, Effektivität und technische Effizienz, um auf der Basis nach wie vor präsenter Deutschenfeindlichkeit die von ihr nach popmusikalischen Kriterien als mangelhaft empfundene Musik wie die Gruppe an sich abzuwerten. Doch selbst der „Spiegel“ tappte noch 1981 in dieselbe Falle, sprach über die Musiker abfällig als „Knöpfchendreher“ und kritisierte ihre Musik als „Roboter-Tinnef […] schlichte Melodien zum raschen Verzehr in Fahrstuhl und Disco, bierernst-einfältige akustische Illustrationen ihrer Computerwelt.“16 Die Gruppe selbst begegnete solchen Vorwürfen mit gelassener Ironie, insbesondere, 14 Zit. n. ebd., S. 120. 15 Zit. n. ebd., S. 118. 16 o. A., Blubber von der Datenbank, in: Der Spiegel, Nr. 24, 8.6.1981, S. 194–195, hier S. 195.
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da viele der entsprechenden Vorwürfe letztlich nur die Ahnungslosigkeit der Kritiker untermauerten. So „typisch deutsch“ gerade die optische (von Emil Schult beigesteuerte) Komponente der Band beurteilt wurde, so sehr war sie für den Kenner der Avantgarde der 1920er Jahre verpflichtet, die eben gerade um internationalen Zusammenschluss bemüht war. Transnationalität und Interkulturalität sind zentrale Themen im Kraftwerk-Œuvre. So erschienen immer wieder Songs in verschiedenen Sprachen (neben Deutsch etwa Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch und Japanisch). Einfach waren die scheinbar simplen Texte der Band dabei nie, schwankten sie doch stets zwischen Erfüllung und Katastrophe. So war etwa „Radio-Aktivität“ ebenso Ausdruck technologischen Fortschritts wie der Umweltgefährdung und auf anderer Ebene eine Hymne an die internationale Kommunikation über die Radiowellen. Auch die zunehmende Vereinsamung in der immer weiter technologisierten Welt lässt sich in „Computerliebe“ hinter dem scheinbaren Hedonismus eines Online-Flirts spüren. In den Themen ihrer Lieder, der multimedialen Präsentation und der verwendeten Technik war Kraftwerk mindestens ein Jahrzehnt lang allen anderen Zeitgenossen so weit voraus, dass ihre Werke bis heute modern wirken. Die Radikalität des Kraftwerk’schen Anspruchs wird treffend in einer Pressemeldung ersichtlich, die Hütter 1981 ersten Kopien des Albums „Computerwelt“ beilegte: „Wir meinen, daß die Musik des zwanzigsten Jahrhunderts, die Musik der achtziger Jahre auch auf den Instrumenten der achtziger Jahre gespielt werden muss. Die kann nicht zur Gitarre nachgesungen werden. Die Gitarre ist ein Instrument aus dem Mittelalter.“
V. C oda, Zwischenspiel oder Transformation in epischer Länge? Kraftwerk seit den 1980er Jahren Bevor das nächste Kraftwerk-Album nach „Computerwelt“ erschien, sollten fünf Jahre ins Land gehen. Die dafür (durchwegs rein spekulativ) verantwortlich gemachten Gründe sind vielfältig: Zunehmende Vereinnahmung der Gruppe aus unterschiedlichen Richtungen mag eine Rolle gespielt haben, die Lust an der Kreativität zu dämpfen. Noch Jahre später ist Karl Bartos’ Unlust spürbar, wenn er etwa über Afrika Bambaata (geb. 1957) und dessen gemeinsam mit „Soul Sonic Force“ veröffentlichten Song „Planet Rock“ von 1982 spricht: „Die haben meinen Beat geklaut – elende Säcke! Also, dieser Typ, Afrika Bambaata, der hat die Melodie von ‚Trans Europa Express‘ mit dem Beat von ‚Computerwelt‘ und ‚Nummern‘ und ein paar Rap-Vocals kombiniert. Und dann hat er behauptet: Das ist der Beginn des Hip-Hop.“17 Ein weiterer, öfter genannter Faktor ist die 1981 in der Band aufkeimende Begeisterung für das Leistungs-Radfahren. Florian Schneider hatte als Erster ein semiprofessionelles Rennrad gekauft, Bartos, Hütter und Emil Schult besaßen kurz darauf ähnliche Modelle. 17 Original in Englisch in Film „Pop i Fokus: Kraftwerk“ von Malik Bendjelloul (2001), 20:06.
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Wolfgang Flür war davon wenig begeistert: „Mittlerweile stapelten sich Rennradschläuche und Ersatzteile in unserem „Kling Klang Studio“, und alles drehte sich nur noch ums Radfahren. Das war schrecklich.“18 Im Sommer 1983 erschien die Single „Tour de France“, die Teil eines neuen Albums „Techno Pop“ werden sollte. Wenig später erlitt Ralf Hütter bei einem schweren Fahrradunfall einen Schädelbruch und verbrachte längere Zeit im Krankenhaus. Bis die Arbeit an dem Album schließlich wiederaufgenommen wurde, vergingen fast zwei Jahre. Als die Platte schließlich 1986 als „Electric Café“ in die Läden kam, reagierten (wieder einmal) viele Fans der Gruppe befremdet. Kraftwerk hatte erkannt, dass im Gegensatz zum herkömmlichen Synthesizer der Heimcomputer andere Möglichkeiten des Arbeitens bot. Waren bislang im Studio nachträglich optimierte Improvisationen von real gespielten Tönen, Akkorden und Klängen das Material von Kraftwerk-Songs gewesen, so experimentierten sie nun nach dem Copy-/Paste-System mit der Kombination fertiger Klangblöcke. Dies brachte die Gruppe einerseits wieder in die Nähe der bereits von Anfang an präsenten futuristischen Ästhetik, andererseits wirkte es langfristig befruchtend auf die Techno- und House-Musik, ohne freilich als Neuerung direkt anerkannt zu werden. Vielleicht war hier ein Endpunkt der bisherigen Band-Geschichte erreicht: Mensch und Maschine konnten nicht mehr Schritt halten – eine völlige Beherrschung der einsetzbaren Technik vor Beginn der kreativen Arbeit durch einzelne Musiker war aufgrund des Tempos der Neuerungen nicht mehr zu leisten. Kreative Experimente mögen unter dem steigenden Zeitdruck immer schneller erscheinender Novitäten zu kurz gekommen sein. Jedenfalls verließ Wolfgang Flür im Jahr 1986 die Gruppe; Karl Bartos ging im August 1990. Seit 1981 waren Kraftwerk nicht mehr auf einer Bühne zu erleben gewesen; 1990 gab es wenige Konzerte zum 20-jährigen Jubiläum der Gruppe, doch 1991 folgte eine erstaunliche Zunahme der Live-Events. Schon für die Konzerte 1990 war der Schlagzeuger, Toningenieur und Programmierer Fritz Hilpert (geb. 1956) zu Kraftwerk gestoßen – heute neben Hütter das langjährigste Bandmitglied. Für Bartos kam Fernando Abrantes (geb. 1960), der Hilpert vom Studium an der Robert Schumann Hochschule in Düsseldorf kannte. In dieser Besetzung wurde 1991 das Album „The Mix“ aufgenommen, das Neuinterpretationen wichtiger Titel aus der Bandgeschichte seit „Autobahn“ enthielt und mit dessen Präsentation nun doch noch eine Art europaweiter Jubiläumstournee zustande kam. Aufgrund künstlerischer Differenzen verließ Abrantes jedoch bereits 1991 die Gruppe wieder; für ihn kam Henning Schmitz (geb. 1953), ebenfalls Absolvent der Düsseldorfer Hochschule und bereits seit 1978 als Toningenieur im „Kling Klang Studio“ tätig. Im Jahr 2003 veröffentlichte diese Besetzung das bislang letzte Kraftwerk-Album mit neuer Musik „Tour de France“ anlässlich des 100-jährigen Jubiläums dieses Sportereignisses – offenbar hielt die Faszination für das Radfahren an. Trotz (wie üblich) zurückhaltender Kritiken bescherte das Album der Band ihre einzige Nummer 1 in den deutschen LP-Charts. 18 Zit. n. Esch, Electri_City, S. 358.
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Nach dem Live-Album „Minimum-Maximum“, das Höhepunkte der Welttournee 2004 versammelte, erschienen erst 2009 mit „Der Katalog“ wieder neue Tonträger. Das Projekt präsentierte sämtliche zwischen 1974 und 2003 erschienenen Alben von Kraftwerk in neuem digitalen Remastering und zeigt so den Rückblick der Band auf ihr Schaffen aus der Autorenperspektive. Zudem vermittelte die geballte Veröffentlichung großen Teilen des Pop-Publikums erstmals eine klare Vorstellung vom tatsächlichen Einfluss der Gruppe auf die Geschichte der populären Musik. Ein prägender kreativer Kopf der Band war jedoch zum Zeitpunkt der insgesamt fünf Jahre vorbereiteten Veröffentlichung nicht mehr dabei: Florian Schneider hatte bereits im Jahr 2008 bei Konzerten nicht mehr mitgewirkt und gab 2009 seinen Abschied aus der von ihm mitbegründeten Gruppe bekannt. An dieser Stelle über Gründe zu spekulieren wäre unseriös – nach wie vor umgibt eine Mauer des Schweigens die Firma Kraftwerk. Die Verpflichtung von Stefan Pfaffe (geb. 1979) markierte eine endgültige Neuorientierung der Gruppe, denn mit ihm wurde erstmals ein Video-Techniker Teil der Gruppe. Das optische Element hatte in den Live-Events von Kraftwerk schon immer eine große Rolle gespielt; nun wurde es quasi offiziell in der Gruppenzusammensetzung aufgewertet. Die Präsentation der eigenen Musik vor Publikum ist in den vergangenen Jahren der eigentliche Schwerpunkt der Gruppe geworden. Auch hier setzen Kraftwerk neue Maßstäbe. Seit 2011 präsentiert die Band Konzerte mit dreidimensionalen Filmeinspielungen und ausgefeiltem GrafikKonzept nicht nur in den üblichen Konzerthallen, sondern auch in Opernhäusern und führenden Museen der modernen Kunst weltweit, wobei teilweise an einzelnen Abenden komplette Alben des „Katalog“ gespielt werden – endlich scheint sich der Kreis zu den akademischen Anfängen der Gruppe wieder zu schließen. Auch Pfaffes Nachfolger Falk Grieffenhagen (geb. 1969) ist seit 2013 nach wie vor für die Steuerung optischer Elemente als wesentlicher Teil der Bühnenshow zuständig. Dabei sind philosophischer Hintergrund und der trockene Humor der Gruppe nach wie vor unverändert. Dies mag eine Momentaufnahme aus einem Kraftwerk-Konzert am 20. Juli 2018 in Stuttgart demonstrieren: Der Astronaut Alexander Gerst (geb. 1976) wird zum Song „Spacelab“ live aus der Internationalen Raumstation (ISS) zu einem Konzert der Band auf dem Schlossplatz zugeschaltet. Nicht nur sendet er einige Grußworte und steuert über ein Tablet einige Töne bei, die Science-Fiction-Freunde als filmmusikalisches Element aus „Unheimliche Begegnung der dritten Art“ von Steven Spielberg (geb. 1946) identifizieren können – er trägt zusätzlich ein T-Shirt mit dem Gesicht des Zeichentrick-Weltraumhelden „Captain Future“. Dahinter liegt allerdings noch eine weitere Ebene, denn diese fünf Töne lassen sich in der Plansprache „Solresol“ direkt in „H–E–L–L–O“ übersetzen, entsprechen also ebenfalls einer Begrüßung. Die verwendete Tonsprache wurde ab 1817 von dem französischen Musiklehrer Jean François Sudre (1787–1862) entwickelt und steht in ihrer Idee, eine Weltsprache auf musikalischer Grundlage zu sein, in unbedingtem Einklang mit der transnationalen Ausrichtung der Gruppe Kraftwerk seit ihrer Gründung.
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Serge Gräfe, derzeit Front-of-House-Ingenieur der Gruppe und seit 2005 für Kraftwerk tätig, berichtete 2019 in einem Interview über die fortschreitende Entwicklung des Wellenfeldsynthese-basierten Soundkonzepts, das die dreidimensionale Optik entsprechend akustisch ergänzt.19 Die Konzertausfälle der Jahre 2020 und 2021 beeinträchtigen jedoch die Umsetzung. Denn mögen auch Musikfans das Ausbleiben neuen Materials beklagen, so liegen doch wahrscheinlich wieder einmal falsche Erwartungshaltungen zugrunde: Vielleicht steht ein optisch-klangliches Gesamtkunstwerk aktuell im Zentrum des Kraftwerk-Schaffens, in dem die – nach wie vor in wesentlichen Teilen im Konzert immer neu spontan variierte – Musik nur einer von mehreren Teilen, aber nicht mehr der allein entscheidende Teil ist.
19 Vgl. Crack Magazine, Behind the scenes of Kraftwerk 3D, 1.8.2019, abgerufen unter: https://youtu.be/ Ew0NE27qs-U (abgerufen am 15.1.2021).
Räume
Die E-Musik und der Rhein im 19. Jahrhundert Julia Vreden
I. Vater Rhein Um neun Uhr fuhren wir von Wiesbaden ab; ich drückte die Augen zu, um den ersten Anblick des alten, majestätischen Vater Rhein mit ganzer, voller, nüchterner Seele genießen zu können – Und wie ich sie aufschlug, lag er vor mir, ruhig, still, ernst und stolz wie ein alter deutscher Gott […]1, schrieb der Student Robert Schumann (1810–1856) am 25. Mai 1829 aus Heidelberg an seine Mutter – wahrlich eine poetische Beschreibung des Stroms, die von großer Faszination und Gemütsbewegung zeugt, jedoch bereits von Zeitgenossen wie Clemens Brentano (1778–1842) und Achim von Arnim (1781–1831) in ihren Reiseberichten verwendet wurde. Der Begriff vom „Vater Rhein“, wie der Fluss häufig tituliert wird, ist der Ausgangspunkt für eine große, facettenreiche Bewegung, die sich vom Ende des 18. Jahrhunderts über das gesamte 19. Jahrhundert erstreckt: die Rheinromantik. Die Anfänge liegen jedoch nicht erst bei Rheinreisenden wie Brentano oder von Arnim, sondern schon früher bei den obligatorischen Bildungsreisen bessergestellter Engländer, die im späten 18. Jahrhundert begannen, von England aus am Rhein entlang nach Italien zu reisen. Die sogenannte Grand Tour durch die rheinischen Gefilde wirkte auf die englischen Reisenden so beeindruckend, dass ab 1790 auch erste Abbildungen von rheinromantischen Motiven wie der Ruine von Burg Stahleck, der Wernerkapelle in Bacharach oder dem Rheinfall bei Schaffhausen angefertigt wurden, wobei die Inspiration häufig durch Werke niederländischer Künstler des 17. und 18. Jahrhunderts erfolgte. Eine musikalische Komponente erhält der Rheinfall in der Beschreibung von Wilhelm Heinse (1746–1803) in einem Brief aus dem Jahr 1780: O Gott, welche Musik, welches Donnerbrausen, welch ein Sturm durch all mein Wesen!2 Die bekanntesten Vertreter der ersten Rheintouristen waren der Maler William Turner (1775–1851), der zwischen 1817 und 1844 ganze elf Male den Rhein bereist haben soll, sowie der Dichter Lord George Gordon Byron (1788–1824), der das Gedicht „The castled crag of Drachenfels“ (1816) verfasste und mit seiner Verserzählung „Childe Harold’s Pilgrimage“ (1812–1818) bekannt wurde. Angetrieben durch solche Erzählungen und nicht zuletzt durch die Erfindung der 1 An Dieselbe [Mutter Christiane Schumann geb. Schnabel], 24./25. Mai 1829, in: Schumann, Clara (Hg.), Jugendbriefe von Robert Schumann, 4. Aufl., Leipzig 1910, S. 45–61, hier S. 51–52. 2 Heinse, Wilhelm, Am Rheinfall von Schaffhausen, in: Schneider, Helmut J. (Hg.), Der Rhein. Seine poetische Geschichte in Texten und Bildern, Frankfurt am Main 1983, S. 29–32, hier S. 30.
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Dampfschifffahrt, folgten bald auch deutsche Reisende, wodurch es zum ersten „Massentourismus“ am Rhein kam. Der Begriff des Touristen wurde auch tatsächlich in dieser Zeit geprägt. Der Rhein wurde hier zu einer Art von „Konsumware“, da er sich als künstlerisches, wie auch immer dargestelltes Motiv bestens vermarkten ließ.3
Abb. 12 Rheinfall bei Schaffhausen, Ölgemälde von William Turner, um 1806
In dieser Zeit verschob sich auch das „frankozentrische Europa- und Weltbild der Spätaufklärung“ allmählich hin zu einem „rhenozentrische[n]“.4 Das geschah zuerst im künstlerischen Bereich, vor allem inspiriert durch die sogenannte Burgenromantik, später dann auch in der politischen Thematik. Die Romantisierung des Flusses und seiner Umgebung erfolgte durch die verschiedenen Kunstformen hindurch – von der Dichtkunst über die Malerei bis hin zur Musik. Karl Simrock (1802–1867) bezeichnete den Rhein einmal als einen Weg durch ‚deutsche‘ Geschichte und eine Reise in die germanische Sagenund Mythenwelt5 – eine treffende Formulierung, denn gerade die „Rheinmusik“ entwirft durch die Verknüpfung von Politik, Natur und Poesie ein komplexes Panorama der Zeit. Entscheidend für das Genre der E- (ernste) oder Kunstmusik ist in erster Linie der Komponist, vor allem dann, wenn es sich um ein rein instrumentales Werk handelt. 3
Cepl-Kaufmann, Gertrude/Johanning, Antje, Mythos Rhein. Zur Kulturgeschichte eines Stromes, Darmstadt 2003, S. 99–119. Vgl. zu diesem Aspekt auch den Beitrag von Andreas Altenhoff in diesem Band. 4 Ebd., S. 62. 5 Simrok, Karl, Der Rhein (Das malerische und romantische Deutschland, Bd. 9), München o. J., S. 111.
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Somit liegt in diesem Beitrag das Hauptaugenmerk auf den musikalischen Aspekten, die anhand dreier Werke exemplarisch erläutert werden. Diese Werke greifen ganz unterschiedliche Teilstücke auf, aus denen sich die musikalische Rheinromantik zusammensetzt und welche die Beziehung zwischen der E-Musik und dem Rhein immer wieder ein wenig anders definieren. Es ist die Rede von Robert Schumanns Es-Dur-Sinfonie, auch bekannt als „Rheinische Sinfonie“, Joseph Joachim Raffs (1822–1882)6 Sinfonie Nr. 1 „An das Vaterland“ in D-Dur sowie der Ouvertüre des „Rheingolds“ aus Richard Wagners (1813–1883) Opernzyklus „Der Ring des Nibelungen“. Als eine der bekanntesten Kompositionen zum Rhein und mit Schumann als einem der berühmtesten Komponisten des Rheinlandes wird der „Rheinischen Sinfonie“ hier eine besondere Stellung eingeräumt. Da sie zudem chronologisch als Erstes entstanden ist, bildet sie den Anfang dieser kleinen musikgeschichtlichen Reise.
II. Eine „Rheinische Sinfonie“ Die Kunst ist eine Harmonie, die parallel zur Natur verläuft7, so äußerte sich Paul Cézanne (1839–1906) einmal in einem Brief über die Kunst. Diese Beschreibung passt treffend auf die Es-Dur-Sinfonie von Robert Schumann, die er – inspiriert durch die rheinische Landschaft – zwischen dem 7. November und dem 9. Dezember 1850 komponierte. Dass diese sogenannte „Rheinische Sinfonie“ noch heute mit der Rheinlandschaft assoziiert wird, besagt nicht nur der Titel, sondern zeigt auch das Beispiel von zwei Regionalsendungen des Westdeutschen Rundfunks: „Zwischen Rhein und Weser“ und „Hier und heute“, die beide ein Motiv aus Schumanns Es-Dur-Sinfonie als Erkennungsmusik verwenden.8 Was macht also die Es-Dur-Sinfonie zu einer „Rheinischen“ Sinfonie und welche Funktion hat darin der Fluss? Denn obwohl das Werk durch äußere Einflüsse geprägt wurde, handelt es sich nicht um eine Programmsinfonie, wie beispielsweise Bedřich Smetanas (1824–1884) 1874 entstandene „Moldau“. Es ähnelt eher der Sinfonie Nr. 6, der „Pastorale“ von Ludwig van Beethoven (1770–1827) aus den Jahren 1806/1807, die ebenfalls auf außermusikalische, ländliche Motive anspielt. Folglich ist es keine direkte, bildliche Vertonung des Rheins, wie man denken könnte. Als Robert Schumann im September 1850 als gefeierter Dirigent und Komponist mit seiner Familie von Dresden nach Düsseldorf zog, um dort als Nachfolger von Ferdinand Hiller (1811–1885) Leiter des Allgemeinen Musikvereins und Gesang-Vereins zu werden, 6 Zum Wirken Raffs vgl. zuletzt Kannenberg, Simon, Joachim Raff und das Wiesbadener Musikleben, in: Nassauische Annalen 130 (2019), S. 239–254. 7 P. Cézanne an Joachim Gasquet, 26.9.1897, in: Rewald, John (Hg.), Paul Cézanne. Briefe. Die neue, ergänzte und verbesserte Ausgabe der gesammelten Briefe von und an Paul Cézanne, Zürich 1962, Dok. CLI, S. 243. 8 Vgl. Jers, Norbert, Über das „Rheinische“ in Robert Schumanns Werken, in: Kross, Siegfried (Hg.), Musikalische Rheinromantik. Bericht über die Jahrestagung 1985, Kassel 1989, S. 84–92.
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wird die Stadt am Rhein ihn direkt begeistert haben, denn am 13. September 1850 schrieb er aus Düsseldorf an Georg Dietrich Otten (1806–1890): Ich wüßte kaum eine Stadt, der hiesigen zu vergleichen – von einem so frischen künstlerischen Geist fühlt man sich hier angeweht […].9 Natur und Kultur seines neuen Wirkungsorts dürften entsprechend auf den Komponisten gewirkt haben, wobei für die dritte Sinfonie eine Reise nach Köln die Inspiration gewesen sein soll, wie Wilhelm Joseph von Wasielewski (1822–1896), ein befreundeter Konzertmeister und sein späterer Biograph schrieb: Die Symphonie in EsDur, der Entstehung nach die vierte, könnte man im eigentlichen Sinne des Wortes ‚die Rheinische‘ nennen, denn Schumann erhielt seinen Äußerungen zufolge den ersten Anstoß zu derselben durch den Anblick des Kölner Domes.10 Es lässt sich allerdings heute nicht mehr feststellen, ob der Beiname „Rheinische“ tatsächlich auf Robert Schumann selbst zurückgeht oder erst später durch Leute wie Wasielewski geprägt wurde. Doch auch der Rhein selbst hatte für Schumann eine besondere Bedeutung, die durch eine gewisse Ambivalenz geprägt war. Im Rheinland erlebte der Komponist seine schönsten wie seine dunkelsten Stunden. Schon in jungen Jahren brachte er eine große Begeisterung für den Fluss auf, wählte jedoch den Rhein in seinen letzten Lebensjahren auch als Ort für seinen Suizidversuch.11 Man könnte also schon fast von einer Art Schicksalshaftigkeit des Rheins sprechen, vor allem wenn man eine kleine romantische Szene hinzu nimmt, die der junge Student Schumann in Heidelberg in sein Tagebuch schrieb: Ich ließ mir einen Schoppen Rüdesheimer geben, der alte Schiffer mit seinem Mädchen führte mich zum Nachen, der Rhein war windstille und der Mondäther ganz rein und klar. Rüdesheim spiegelte sich in den Wellen, die der Mond zauberisch verklärte. Drüben lag von fern die Rochuscapelle – mein Herz war ganz erfüllt. Der Spitz lag zu seinen Füßen und wedelte, ich rief das Echo: Anker – Anker, Anker klang es wider. Ach, wie gern hätte ich deinen Namen genannt, aber kein Echo trägt meinen Ruf in dein Herz und Alles ist still und stumm, denn du bist fern und vielleicht auch meinem Herzen – Ich ließ landen – der Mond glänzte fort – aber ich schlummerte und mir träumte, ich wäre im Rhein ertrunken.12 Die starken Stimmungsschwankungen spiegeln sich mitunter bereits in seiner EsDur-Sinfonie wider, wenngleich das Werk über einen heiteren Grundcharakter verfügt. Lässt man die biographischen Elemente des Komponisten einmal außer Acht, spielen vor allem zwei musikalische Aspekte eine wichtige Rolle in der „Rheinischen Sinfonie“, die sowohl einen Fortschritt in der musikgeschichtlichen Entwicklung darstellen als auch ein ganz zeittypisches Merkmal aufweisen. Dieses Merkmal ist der eindeutig volkstümliche Charakter des Stückes, der die Sinfonie zu einem „Übergangsprodukt“ 9 Munte, Frank, Robert und Clara Schumann in Hamburg, in: Wirth, Helmuth (Hg.), Brahms Studien (Studien der Johannes-Brahms-Gesellschaft Hamburg, Bd. 2) Hamburg 1977, S. 7–46, hier S. 35. 10 Wasielewski, Wilhelm Joseph von, Robert Schumann. Eine Biographie, 4. Aufl., Leipzig 1906, S. 455–456. 11 Jers, „Rheinische“, S. 84. 12 Demmler, Martin, Robert Schumann und die musikalische Romantik. Eine Biografie, Mannheim 2010, S. 181.
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der sinfonischen Musik macht, welches sich somit in die neuen musikgesellschaftlichen Strukturen einfügt. Dass diese Volkstümlichkeit nicht nur eine Interpretation späterer Generationen ist, zeigt sich daran, dass der Komponist sich selbst, laut Wasielewski, so zu seinem Werk äußerte: es mußten volkstümliche Elemente vor-walten, und ich glaube es ist mir gelungen.13 Und seine Frau Clara Schumann (1819–1896) – selber eine versierte Komponistin – notierte nach der Uraufführung der „Rheinischen“, die am 6. Februar 1851 in Düsseldorf stattfand14 und von dort erfolgreich in die Welt hinausgetragen wurde, auch für den musikalischen Laien sei die Symphonie, vorzüglich der zweite und dritte Satz sehr leicht zugänglich.15 Diese Aussage wird von der zweiten Aufführung der Sinfonie am 13. März 1851 untermauert, bei welcher das begeisterte Publikum eine komplette Wiederholung des Stückes verlangte. Wichtig für die Interpretation ist, dass die Volkstümlichkeit nicht allein die Form, sondern vielmehr den Betrachtungsgegenstand darstellt – ein wichtiger Hinweis auf eine mögliche Intention, nämlich weder Politik noch Mythos, sondern eine schlichte Natürlichkeit in Musik umzusetzen, die in der rheinischen Landschaft und den dort lebenden Menschen widergespiegelt wurde. Schumann selbst beschrieb sich selbst in einem Brief an seine Mutter vom 22. August 1830 als jemanden, der […] so innig an Dichtkunst, Natur und Musik hänge […]16, so dass diese Natürlichkeit auch in seinen Werken Ausdruck fand. Der Komponist befand sich zudem in einem Konflikt zwischen einerseits der althergebrachten Gattungstradition und andererseits seinem eigenen Anspruch, und auch dem Anspruch der Rezipienten, eine differenzierte Originalität zu wahren. Das war schon eine Aufgabe der frühen Romantik gewesen, die sich besonders in der Verschmelzung verschiedener Künste ausdrückte. Schumann suchte also nach einem Weg, seine Sinfonie neu auszurichten, was ihm mit der „Rheinischen“ auch gelang. Geht man von der ursprünglichen Gattungstradition aus, muss man von einem bestimmten Komponisten ausgehen, und zwar von Beethovens Sinfonien, die immer wieder als ein Inbegriff dieser Gattung bezeichnet werden. Beethoven soll hier also als Ausgangspunkt stehen und zugleich den letzten Vertreter dieser Gattung Sinfonie in ihrer klassischen Form darstellen. Wolf-Dieter Seiffert begründet Schumanns Streben nach etwas Neuem so: „Das Credo […] Schumanns lautet also: An Beethovens IX. kann man als Künstler nicht anknüpfen, sie eignet sich in ihrer grenzüberschreitenden Einmaligkeit keinesfalls als Vorbild.“17 Schumann veränderte die Struktur seiner Sinfonie aus fünf Sätzen, 13 Wasielewski, Schumann, S. 456. 14 Vgl. Demmler, Martin, Schumanns Sinfonien. Ein musikalischer Werkführer, München 2004, S. 66. 15 Litzmann, Berthold (Hg.), Clara Schumann. Ein Künstlerleben. Nach Tagebüchern und Briefen, Bd. 2: Ehejahre 1840–1856, Leipzig 1907, S. 259. 16 Schumann am 22. August 1830 aus Heidelberg an seine Mutter, in: Reich, Willi (Hg.), Robert Schumann. Im eigenen Wort, Zürich 1967, S. 78–82, hier S. 79. 17 Seiffert, Wolf-Dieter, Die „griechisch-schlanke“ Symphonie? – Die Wirkung Symphonik Beethovens auf die Romantik, in: Ulm, Renate (Hg.), Die 9 Symphonien Beethovens. Entstehung, Deutung, Wirkung, Kassel 1994, S. 143–148, hier S. 144.
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die mit unterschiedlichen Angaben überschrieben sind und jeweils prägnante thematische Motive aufweisen. Anders als Beethoven, der stets nach dem klassischen Sinfonie-Modell, der Sonatenhauptsatzform arbeitete, nutzte Schumann diese nur noch als eine Art Rahmen für seine Es-Dur-Sinfonie und legte größeren Wert auf eine harmonische Entwicklung innerhalb des Stückes als auf eine ausgeprägt thematisch-motivische. Dazu soll er gesagt haben: Es ist mit der Musik wie mit dem Schachspiel. Die Königin (Melodie) hat die höchste Gewalt, aber den Ausschlag gibt immer der König (Harmonie).18 Schon der Anfang der Sinfonie zeigt, welchen Komplexionsgrad Schumanns Musik erreicht. Bei Betrachtung der einzelnen Sätze fallen verschiedene Dinge auf. Der erste Satz, welcher üblicherweise die bekanntesten Melodien einer Sinfonie enthält, führt schon direkt in die sogenannte Volkstümlichkeit ein, die hier durch das beschwingte Hauptthema im tänzerischen Dreivierteltakt hervorsticht. Das mag sinnbildlich wohl für die Heiterkeit der vielgerühmten rheinischen Lebensart stehen. Es gibt im ganzen Stück keine Repetition der Exposition (Takte 1–184), wie es in der klassischen Sonatenhauptsatzform üblich wäre, aber zumindest das Hauptthema (Takte 1–56) tritt erneut auf. Das passt zu der Beschreibung einer kreisenden Musik, welche „nach einer vollständigen Umwälzung in den Takten 307 ff. der Coda des Finales sich in der harmonischen Doppelperspektive des ‚Quartsextakkords‘ Takt 319 ff. fängt und in einem spannenden Nachklang der kreisenden Bewegung Takt 323 die Grundstellung der Tonika erreicht.“19 Diesem zyklischen Charakter der Musik ebenso zuträglich ist die Quarte als zentrales Intervall, welches sich durch die gesamte Sinfonie hindurchzieht. Im Scherzo des zweiten Satzes wird deutlich, dass – obwohl keine Programmmusik – Schumann dennoch nicht immer umhinkam, dem Fluss eine fast lautmalerische Position innerhalb der Sinfonie zu verleihen. Das tritt vor allem durch die gleichmäßigen, wellenförmigen Aufwärts- und Abwärtsbewegungen in der Melodie hervor, welche hauptsächlich von Viola und Violoncello, aber auch von den Fagotti getragen wird. An dieser Stelle scheinen tatsächlich die rheinischen Wogen mit in die Musik eingearbeitet zu sein. Besonders interessant, auch in Bezug auf die biographische Verbindung zum Komponisten, wird es im vierten Satz, da dieser zumindest ansatzweise als programmatisch bezeichnet werden kann. Das liegt besonders an dem homophonen, choral artigen Aufbau, der eine geradezu sakrale Atmosphäre ausstrahlt. Diese könnte zum einen die Erhabenheit des Kölner Doms verdeutlichen, durch dessen Anblick Schumann die Inspiration für seine Es-Dur-Sinfonie bekommen haben soll, zum anderen auch das gemächliche Voranschreiten einer Prozession beschreiben.
18 Kreisig, Martin (Hg.), Gesammelte Schriften über Musik und Musiker von Robert Schumann, Bd. 1, Leipzig 1914, S. 20. 19 Kapp, Reinhard, Studien zum Spätwerk Robert Schumanns, Tutzing 1984, S. 143.
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Abb. 13 Das Kölner Rheinufer mit dem unvollendeten Dom von Nordosten, Ölgemälde von Clarkson Stanfield, um 1826
Die Instrumentierung, welche die gesetzte Melodie zunächst in Posaune und Horn hält, unterstützt diese Wirkung zusätzlich. Der protestantisch erzogene Schumann muss vom rheinischen Katholizismus fasziniert gewesen sein, da dieser ihn offensichtlich auch musikalisch interessierte und ein Stück weit sogar inspirierte. In der Coda wird das choralartige Motiv des vorangegangenen Satzes in einer modifizierten Form aufgegriffen, so dass das fulminante Finale der „Rheinischen“ abermals die von Schumann so gewollte Volkstümlichkeit widerspiegelt. Besonders in der lebhaft-tänzerischen Melodie kommt dies zum Ausdruck. Somit steht die „Rheinische Sinfonie“ in gewisser Weise für den Übergang – ein Phänomen, das sich bei Schumanns Musik des Öfteren beobachten lässt –, und das sogar in zweifacher Hinsicht: einmal für den Übergang vom Volkstümlichen zur Kunstmusik, dann aber auch für den Übergang von der klassischen Sinfoniestruktur zu einer offeneren Form.
III. An das Vaterland Die zweite Sinfonie, die hier untersucht wird, ist ein deutlich unbekannteres Werk als die „Rheinische“, verfügt jedoch über eine weitere Facette der „Rheinmusik“, welche gerade in Bezug auf das 19. Jahrhundert nicht unbeachtet bleiben darf – die aufkommenden nationalen und patriotischen Töne, die nicht nur in der politischen, sondern auch in
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der musikalischen Landschaft anklangen. Exemplarisch dafür steht die Sinfonie Nr. 1 in D-Dur von Joseph Joachim Raff, die den Titel „Eine Preis-Symphonie. An das Vaterland“ trägt, was dem Stück eine politische Komponente verleiht. Nachdem der Schweizer Komponist und Musikpädagoge 1856 zu seiner Verlobten nach Wiesbaden gezogen war, begann er 1859 mit der Komposition dieser Sinfonie, mit der er im Jahr 1863 das Orchester-Preisausschreiben der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien gewann.20 Ähnlich wie Robert Schumann vor ihm, war Raff bemüht, musikalische Formung und Volkstümlichkeit miteinander zu verbinden. Laut Georg Constantin Czartorysky (1828–1912), dem Direktor der Gesellschaft der Wiener Musikfreunde, schaffte Raff den volkstümlichen Bezug vor allem im zweiten Satz durch den Einsatz kräftigen Hörnerschall[s]21 sowie im dritten Satz durch die intendierte Heimkehr an den häuslichen Herd. Das politische Programm, das sich hinter dem Titel vermuten lässt, war jedoch dem ursprünglichen Werk nicht beigefügt. Als Raff die Sinfonie 1861 fertigstellte, verfügte die Musik zwar über einen Bezug zur aktuellen politischen Lage, aber nicht über ein festgeschriebenes Programm. Das entstand erst nach Raffs Teilnahme an dem erwähnten Ausschreiben der Musikfreunde in Wien, wo sein Stück als hoch programmatisch empfunden wurde. Aufgrund dessen druckte man in diversen Tageszeitungen und in der später veröffentlichten Partitur ein dazu passendes schriftliches Programm, zu dem auch die Komponistentochter Helene Raff (1865–1942) in der Biographie über ihren Vater Bezüge herstellte. Den wichtigsten Anhaltspunkt stellte dabei ein eindeutig politischer Aspekt dar, der allerdings erst im vierten Satz zutage tritt: Relativ zu Beginn dieses Teils arbeitet der Komponist die komplette Melodie des Ernst-Moritz-Arndt- Liedes „Des Deutschen Vaterland“ in der Vertonung von Gustav Reichardt (1797–1884) in sein Werk mit ein. Reichardt hatte den patriotischen Text des Bonner Professors Arndt (1769–1860) im Jahr 1825 vertont, wodurch die bereits 1813 entstandene Schrift enorm an Bekanntheit und Popularität gewann. Um die Tragweite der musikalischen Verarbeitung eines solchen Liedes zu begreifen, soll die Thematik hier kurz mit der ersten Strophe angerissen werden: Was ist des Deutschen Vaterland? Ist’s Preussenland? Ist’s Schwabenland? Ist’s, wo am Rhein die Rebe blüht? Ist’s, wo am Belt die Möwe zieht? O nein, nein, nein! Sein Vaterland muß größer sein, sein Vaterland muß größer sein.22
20 Vgl. Wiegandt, Matthias, Raff, Joseph Joachim, in: Neue Deutsche Biographie 21 (2003), S. 108–109, abgerufen unter: http://www.deutsche-biographie.de/gnd118597779.html#ndbcontent (abgerufen am 17.8.2021). 21 Schuberth, Julius (Hg.), „An das Vaterland“. Eine Preis-Symphonie in fünf Abteilungen für das große Orchester von Joachim Raff, Leipzig 1864, S. 3, abgerufen unter: http://imslp.org/wiki/Symphony_No.1,_ Op.96_(Raff,_Joachim) (abgerufen am 18.8.2021). 22 Arndt, Ernst Moritz, Des Deutschen Vaterland, in: Conrady, Karl Otto (Hg.), Das große Deutsche Gedichtbuch, Frankfurt am Main 1987, S. 392.
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An späterer Stelle taucht die Liedmelodie erneut, in Verflechtung mit anderen musikalischen Motiven der Sinfonie auf, so dass sie durchaus eine symbolische Bedeutung und eine Art roten Faden in der Komposition entwickelt. Der vierte Satz, in g-Moll, verkörpert die Zerrissenheit in einem Deutschland, das noch kein einiges Deutschland ist. Die Melodie des Arndt-Liedes entwickelt sich gleich zu Beginn des Satzes und wird im weiteren Verlauf zusammen mit den Anfangsmotiven zu einer neuen Struktur verknüpft und letztlich weiter geformt. Anders als in der Es-Dur-Sinfonie Schumanns, spielt der Rhein mit seiner Landschaft keine bildhafte Rolle, sondern der Fluss rückt in seiner nationalen Symbolhaftigkeit in den Vordergrund. Da Raff nicht selbst im Rheinland lebte, gibt es hier keinen biographischen Anknüpfungspunkt. Er war kein Nationalist in einem negativ konnotierten Sinne, verband aber, wie wohl die meisten seiner Zeitgenossen, sein Gefühl und seine Vorstellung eines Vaterlandes mit dem Wunsch nach einem geeinten Deutschland. Deshalb macht gerade die Verknüpfung mit „Des Deutschen Vaterland“ die D-Dur-Sinfonie zu einem Stimmungsspiegel der Zeit und der Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in welchem kunstmusikalische Formen mit Elementen aus Volkstum und Patriotismus gemeinsam in Szene gesetzt wurden. Genau das zeigt das furiose Finale im letzten Satz, worin das Ernst-Moritz-Arndt-Lied zunächst für sich allein steht, dann mit anderen Motiven des Stückes vereint gleich einem Triumphgesang von den Blechblasinstrumenten in einem Fortissimo herausgeschmettert wird.
IV. Das „Rheingold“ Der Klang triumphaler Musik leitet zum letzten Beispiel über, dem „Rheingold“, das hier exemplarisch für den vierteiligen Opernzyklus „Der Ring des Nibelungen“ behandelt wird. Das musikalische Augenmerk liegt dabei vor allem auf dem Vorspiel des „Rheingolds“, da der Rhein hier nicht nur als Handlungsort, sondern auch als wichtigstes, prägendes atmosphärisches Motiv eingeführt wird. Richard Wagner, der seinen „Ring des Nibelungen“ zwischen 1848 und 1874 komponierte, war neben seinem künstlerischen Schaffen als Komponist und Autor – das Libretto zu seiner Oper sowie eine Prosa-Vorstudie zum Nibelungen-Mythos verfasste er selbst – auch ein politisch höchst aktiver Mensch. So war er als „Flugblattverteiler, Kundschafter und Verbindungsmann“23 am Dresdner Maiaufstand vom 3. bis zum 9. Mai 1849 beteiligt, bei dem der Versuch unternommen wurde, König Friedrich August II. von Sachsen (Regentschaft 1836–1854) zu stürzen und eine sächsische Republik einzurichten. Infolgedessen musste Wagner in die Schweiz flüchten und arbeitete lange Zeit im Züricher Exil. Im Jahr 1843 hatte der Komponist sich mit dem Schriftsteller und Sozialisten August Röckel (1814–1876) angefreundet und verfasste auch selbst einige Schriften, die den Bezug zwischen Kunst und Politik 23 Gregor-Dellin, Martin, Richard Wagner. Die Revolution als Oper, München 1973, S. 32
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aufzeigten, wie zum Beispiel „Die Kunst und die Revolution“, veröffentlicht Ende Juli 184924 in seinen Züricher Kunstschriften.25 Der Kritiker Eduard Hanslick (1825–1904) schrieb im August 1848: Wagner war ganz Politik; er erwartete von dem Sieg der Revolution eine vollständige Wiedergeburt der Gesellschaft, der Religion, ein neues Theater, eine neue Musik.26 Diese Aussage beschreibt treffend die Basis, auf der Richard Wagner arbeitete. Für ihn spielte die Verschmelzung der verschiedenen Künste, besonders von Musik und Literatur, eine entscheidende Rolle und die Oper stellte in seiner Vorstellung die vollkommene Form dieser Verschmelzung dar. Martin Gregor-Dellin drückt es so aus: „Erst die Kenntnis des Wortsymbols entschlüsselt die Musik, und erst die Musik lässt den Text motivisch etwas ‚bedeuten‘“27 – auch das war eine der typisch romantischen Ideen, wie bereits angesprochen. Dieses Konzept lässt sich genau von Wagners Herangehensweise auf den „Ring des Nibelungen“ übertragen, denn dieser, so Willy Haas, enthalte „[…] alles: das Mythische, das Politische, das Revolutionäre, das große Pathos“.28 Wagners Intention war es dabei, die mythische Handlung auf den Verstand und die Musik seiner Oper auf das Gefühl der Rezipienten wirken zu lassen. Gerade der mythologische und der politische Aspekt spielen in dem Zyklus eine wichtige Rolle, da sie auf das Engste miteinander verwoben sind. Die Musik Wagners zum „Rheingold“ basierte auf einem Prosakonzept, das er 1848 als Vorlage für das spätere Opernlibretto verfasste. Das wiederum setzte sich aus verschiedenen Teilen der mittelalterlichen Nibelungensage zusammen, welche so „zum alles krönenden Mythos, zur Textquelle [wurde], die das gesamte Spektrum nationalistischer und chauvinistischer Gefühle bediente“.29 Die mythologische Oper an sich war im 19. Jahrhundert keine Seltenheit, sondern ein beliebter thematischer Gegenstand, die politische Komponente jedoch eine Eigenheit – wenngleich kein Alleinstellungsmerkmal – der wagnerianischen Oper. Für das richtige Verständnis dieses Stoffes muss man wissen, dass das Nibelungenlied 1807 das erste Mal aus dem Mittelhochdeutschen übersetzt worden war und seit diesem Zeitpunkt zunehmend an Bekanntheit gewann. Richard Wagner hatte diese Übersetzung und die Übersetzungen der ursprünglich nordischen Sagen in der Bibliothek seines Onkels Adolf Wagner (1774–1835) gelesen und war dadurch mit der Symbolhaftigkeit dieses germanisierten Mythos vertraut. Er suchte nach neuen Ideen für eine neue Generation der deutschen Oper und fand sie in der germanischen Sagenwelt, in welcher der Rhein eine bedeutende Rolle spielt. Dem Fluss kam zur Entstehungszeit des Opernkonzepts des Ringes eine besondere politisch-patriotische Rolle zu. Das ermög24 25 26 27 28
Vgl. Gregor-Dellin, Wagner, S. 34 Mertens, Volker, Wagner. Der Ring des Nibelungen (Opernführer kompakt), Kassel 2013, S. 17. Zit. n. ebd., S. 151. Gregor-Dellin, Wagner, S. 105. Haas, Willy, Richard Wagner und das neue Bayreuth, in: Wagner, Wieland (Hg.), Richard Wagner und das neue Bayreuth, München 1962, S. 15–26, hier S. 21. 29 Cepl-Kaufmann/Johanning, Mythos, S. 231.
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Abb. 14 „Das Rheingold“, Bühnenbildentwurf mit Alberich und den Rheintöchtern von Josef Hoffmann, 1876
lichte Wagner die Verknüpfung der Sagenwelt des 13. Jahrhunderts mit der Situation des 19. Jahrhunderts. Die Bedeutung des Rheins als Hort des Schatzes wird in der Strophe 1134 des Nibelungenliedes deutlich: Ê daz der künic rîche
wære widerkomen,
di wîle hete Hagene
den schatz vil genomen.
er schutten dâ ze Lôche
allen in den Rîn.
er wând, er sold in niezen.
des enkunde niht gesîn.30
Dieser Schatz, das Rheingold, welches zu einem Ring verarbeitet grenzenlose Macht verspricht, wird von den drei Rheintöchtern Woglinde, Wellgunde und Floßhilde bewacht, bevor der Zwerg Alberich es stiehlt. Auch in Gestalt dieser drei Töchter ist ein weiterer 30 Schulze, Ursula (Hg.), Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach der Handschrift B, Stuttgart 2011, S. 330. Übersetzung: Ehe der mächtige König zurückgekommen war, hatte Hagen den gesamten Schatz an sich genommen. Er versenkte alles bei Lochheim in den Rhein. Er hoffte, davon später Nutzen zu haben. Das konnte aber nicht sein.
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Bezug zur deutsch-patriotischen Sagenwelt verborgen, denn darin lassen sich die „Wasserfrauen“ verschiedener Dichter vom Beginn des 19. Jahrhunderts finden.31 Richard Wagner vermischt also bedenkenlos Elemente aus dem Mittelalter und Ideen aus seinem eigenen Jahrhundert, von Clemens Brentano und Heinrich Heine (1797–1856), um daraus seine eigene „pathetisch-patriotische Welt“32 zu kreieren. Er „verwendete den Mythos, komponierte jedoch seine Bestandteile zu einer stimmigeren Welt um“, wie Gregor-Dellin es ausdrückt.33 Der Nibelungenstoff diente Wagner als wichtige Grundlage für ein neues Prinzip, wonach er versuchte, einen Urmythos wiederherzustellen, der sich in unterschiedlichen Bildern in allen Völkern finden lasse, denn das Unvergleichliche am Mythos ist, dass er jederzeit wahr, und sein Inhalt bei dichtester Gedrängtheit, für alle Zeiten unerschöpflich ist.34 Diese Vorstellung von einer Art Urstruktur des Menschen beschrieb der Komponist bereits 1848 in seinem Aufsatz „Die Wibelungen. Weltgeschichte aus der Sage“. So heißt es darin: Alle historischen Ereignisse gelten hier als Resultat jener ‚mythischen Identität‘.35 Nach dieser Idee gestaltete er sein eigenes mythisches Großwerk, indem er den ersten Teil des Nibelungenliedes herausgriff, dessen gesamten Handlungsrahmen verwarf und stattdessen mithilfe von Texten aus der „Edda“, einer skandinavischen Götterund Heldensage aus dem 13. Jahrhundert, ein neues Gesamtbild erschuf. Nicht zuletzt bot sich ihm dadurch die Möglichkeit, seine eigenen gesellschaftskritischen Ansichten sowie die aktuelle politische Lage in sein Drama miteinzuflechten. Dass Wagner zunächst beabsichtigte, sein Festspielhaus am Rhein bauen zu lassen, bevor er sich 1876 für Bayreuth entschied, zeigt, dass er einen Standort am Rheinufer als Unterstützung für sein großes, von Mythen durchwirktes Werk erachtete. Dass dieses große Werk es schließlich gewissermaßen doch noch an den Rhein geschafft hat, beweist die Einrichtung der Nibelungenhalle 1913 am Fuße des Drachenfelses bei Königswinter am Rhein. Betrachtet man das Vorspiel zum „Rheingold“, wird fast all das ersichtlich, was bisher zu Wagners Ideen und Vorstellungswelt geschrieben wurde. Nicht umsonst wird Richard Wagner als „der Magier des Klanges im 19. Jahrhundert“36 bezeichnet. Die Oper beginnt im Naturzustand – bezeichnend für den Anfang der Welt in biologischer, aber auch mythologischer Hinsicht. Die ganze Welt scheint auf dem Kontra-Es zu ruhen, fünf Takte lang. Dann kommt die leere Quinte hinzu und erst in Takt 16 entsteht der volle 31 32 33 34
Vgl. Mertens, Wagner, S. 34. Haas, Wagner, S. 21. Gregor-Dellin, Wagner, S. 101. Wagner, Richard, III (Staat und Individuum: Der Oidipus-Mythos), in: Borchmeyer, Dieter (Hg.), Richard Wagner. Dichtungen und Schriften, Bd. 7: Oper und Drama, Frankfurt am Main 1983, S. 177–190, hier S. 188. 35 Wagner, Richard, Religion und Kunst (1880), in: Borchmeyer, Dieter (Hg.), Richard Wagner. Dichtungen und Schriften, Bd. 10: Bayreuth. Späte weltanschauliche Schriften, Frankfurt am Main 1983, S. 117–163, hier S. 119. 36 Nestler, Gerhard, Geschichte der Musik. Die großen Zeiträume der Musik von den Anfängen bis zur elektronischen Komposition, München 1979, S. 511.
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Harmoniedreiklang in Es-Dur. Diese Tonart wird hier als Tonart der Natur, der Natürlichkeit gewählt, die genau diesen Urzustand darstellt. Immer mehr wird der Klangraum während der gut vier Minuten des Vorspiels geöffnet, wird von neu hinzukommenden Instrumenten in Klang und Klangfarbe erweitert. Allmählich bildet sich eine musikalische Figur heraus, die den Zuhörer geradezu unausweichlich hören lässt, wie der Rheinstrom fließt und sich seinen Weg durch die Landschaft bahnt. Diese Figur bildet sich aus Dreiklangsbrechungen der Hörner hin zu einer Melodie, welche Volker Mertens das „Natur- (oder Rhein-) Motiv“37 nennt. Die Ursprünglichkeit und Natürlichkeit des Rheins als Hort des Schatzes betonte Wagner auch selbst in einem Brief an August Röckel im Jahr 1854, also mitten in der Schaffensphase des „Rheingolds“: Des näheren verdichtet sich die unheilstiftende Macht, das eigentliche Gift der Liebe in dem der Natur entwendeten und gemißbrauchten Golde, dem Nibelungenring: Nicht eher ist der auf ihm haftende Fluch gelöst, als bis es der Natur wiedergegeben, das Gold in den Rhein zurückversenkt ist.38 Der Rhein bildet den räumlichen Rahmen einer Handlung, in welcher der Schatz zu Beginn vom Ufer des Flusses gestohlen und am Ende durch die Rheintöchter zurück in die Tiefen des Wassers gelangt. Auf diese Weise erhält der Rhein noch eine weitere Funktion als die eines schlichten Handlungsortes – er wird zu einem Ort, der schützt und bewahrt. Auch wenn die Tonart sich nach As-Dur hin moduliert, bleibt doch das Es als Orgelpunkt erhalten und auf diese Weise der Rhein als motivisch-musikalische und mythologisch-atmosphärische Basis stets „im Blick“. Aus programmmusikalischen Gesichtspunkten heraus ist die Handlung nicht nur am Rhein angesiedelt, sondern schafft darüber hinaus durch die Art der Komposition eine Atmosphäre, die das Publikum auch emotional mit in die Geschichte einbezieht. Gertrude Cepl-Kaufmann bezeichnet dieses Phänomen als eine der Stimmung der Zeit angepasste „nationalistisch stimulierte […] Illusion“39. Auch wenn der Fluss und seine Umgebung also im ganzen Opernzyklus häufig den Handlungsort an sich darstellen, geht seine symbolische Bedeutung als „Vater Rhein“ im historischen Kontext doch viel tiefer. Zugleich nimmt er in Wagners Werk auch bildlich die Rolle des Vaters der Rheintöchter ein, so dass eine regelrechte Personifizierung des Rheins vorgenommen wird. Gleichsam scheinen sich die Wogen des Flusses durch den Anfangsgesang der drei Rheintöchter zu weben, wie etwa das lautmalerisch geprägte Motiv der Woglinde zu Beginn der ersten Szene zeigt. Das große Pathos, der triumphale Charakter von Wagners Werk, spiegelt sich ebenfalls in den ersten Takten wider, sowohl im eigentlichen Vorspiel, welches dynamisch stetig, einem strömenden Fluss gleich, anschwillt, als auch im überschwänglichen Triumphgesang der drei Rheinmädchen, als diese den zu hütenden Schatz grüßen. Dabei wirkt vor allem der feierliche Aufstieg bis zum dreigestrichenen C auf den Zuhörer. 37 Nestler, Geschichte, S. 63. 38 Zit. n. ebd., S. 518. 39 Cepl-Kaufmann/Johanning, Mythos, S. 232.
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Abschließend ist zu bemerken, dass der Rhein in Richard Wagners Opernzyklus „Der Ring des Nibelungen“ vielleicht die vielseitigste Darstellung im Vergleich zu den beiden anderen untersuchten Stücken erfährt. Das liegt zum einen am wesentlich größeren Umfang, zum anderen aber an den verschiedenen Gesichtern, die der Komponist selbst mit dem Rhein verband – die Kombination aus einer uralten Natürlichkeit und gleichzeitigem Nationalgefühl, das die damalige politische Aktualität widerspiegelt. Gregor-Dellin bezeichnet den „Ring des Nibelungen“ als ein regelrechtes „Mysterientheater“40 – eine Aussage, die eine Beschreibung Robert Schumanns zu Wagners Musik bekräftigt. Schumann schrieb am 8. Mai 1853 an den Wiener Musikschriftsteller Carl Debrois van Bruyck (1828–1902): Und ist es nicht das klare Sonnenlicht, das der Genius ausstrahlt, so ist es doch oft ein geheimnisvoller Zauber, der sich unserer Sinne bemächtigt.41 Besser lässt es sich wohl nicht ausdrücken.
V. Der Blick auf den Rhein Der Blick auf den Rhein als Fluss und allgegenwärtiger Begleiter im Alltag vieler Menschen, wie er die E-Musik prägte, veränderte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts. Als Erstes ist festzuhalten, dass der Rhein in all der Zeit nie nur der Rhein in seiner natürlichen Form war, weder in der Kunst noch in der Literatur oder Musik. Es schwangen immer auch andere Tendenzen mit, politischer wie mythologischer Natur. Eine weitere entscheidende Erkenntnis ist, dass sich die beiden Aspekte Politik und Mythologie nicht getrennt voneinander beurteilen lassen, sondern das 19. Jahrhundert mit seinen zahlreichen unterschiedlichen Facetten auch stets in einem politisierten Kontext zu sehen ist. Ob es dabei um simple, patriotische Lieder oder um hochkomplexe musikalische Werke der Kunstmusik geht, ist Nebensache, denn der Grundtenor ist fast überall – wenn auch oft nur unterschwellig – gleich. Eine Ausnahme wurde hier thematisiert: die „Rheinische Sinfonie“ von Robert Schumann. Darin kehrt die Rolle des Rheins zurück in eine ursprüngliche, natürliche Form, welche zugleich als künstlerische Inspiration für den Komponisten diente. Im Zusammenhang mit anderen Stücken wird dennoch auch Schumanns patriotische Ader deutlich, so dass ihm diese Seite nicht gänzlich abzusprechen ist. Damit wäre die Frage nach der Darstellung des Rheins in der E-Musik im Verlauf des 19. Jahrhunderts zumindest in groben Zügen beantwortet: Tatsächlich war es zumeist eine patriotisch motivierte Darstellung, was jedoch nicht immer auf den ersten Blick zu erkennen ist. Trotzdem spielen auch die Naturgewalt wie die natürliche Schönheit des Flusses eine wichtige Rolle, wie Wagners „Rheingold“ zeigt. Besonders in dieser Hinsicht ist die Rheinmusik des 19. Jahrhunderts dann vor allem eines: typisch romantisch. 40 Gregor-Dellin, Wagner, S. 98. 41 An Carl Debois van Bruyck, in: Reich (Hg.), Schumann, S. 325 f., hier S. 325.
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„Romantik in der Musik: das ist die freie, schweifende Linie, der Rausch der Farben, die entgleitende Ordnung der Form, die bunte Fülle der Gesichte,“42 wie Hans Mersmann treffend formuliert. Um das nachzuvollziehen, höre man nur einmal kurz in „Des Deutschen Vaterland“ hinein, um den Rausch zu vernehmen, lausche man den ersten Takten von Wagners „Rheingold“-Vorspiel, um die Farben zu entdecken, stürze man sich in die Klänge von Schumanns Es-Dur-Sinfonie, um eben jene entgleitende Ordnung der Form in vollendeter Weise zu vernehmen. Letztlich legte jeder Komponist eine subjektive Interpretation des Rheins vor – als Thema, als Motiv, als mythologische Basis, als politisches Symbol oder als Inspiration einer ursprünglichen Natürlichkeit, die bis heute nachwirkt.
42 Mersmann, Hans, Musikgeschichte in der abendländischen Kultur, Kassel 1973, S. 230.
Die Reichsmusiktage in Düsseldorf 1938 und 1939 Nina Sträter
I. Ablauf der Reichsmusiktage Mit den Reichsmusiktagen 1938 und 1939 fanden in Düsseldorf zwei groß angelegte Veranstaltungen statt, deren Ziel es war, mit vielfältigen musikalischen Programmen auf dem Gebiet der Kulturpolitik nationalsozialistische Propaganda voranzutreiben. Jeweils im Zeitraum von einer Woche (22.–29. Mai 1938 und 14.–21. Mai 1939) wurden Sinfonien, Opern, Chorwerke und Kammermusik aufgeführt, Werkkonzerte gegeben und Volksmusikabende veranstaltet. Parallel dazu musizierten Militärmusikkorps und andere Ensembles bei Freiluftkonzerten und die Bevölkerung konnte sich an offenen Singveranstaltungen beteiligen. Begleitet wurden die Reichsmusiktage von einem aufwendigen Rahmenprogramm mit Kundgebungen, Tagungen, Reden, einer Ausstellung und einer Preisverleihung. Verantwortlich für die Organisation und die Programmgestaltung war Heinz Drewes (1903– 1980), Leiter der Musikabteilung des Propagandaministeriums; bei der Umsetzung der Veranstaltung wurde er von der NS-Gemeinschaft „Kraft durch Freude“ unterstützt.1 Die Schirmherrschaft übernahm Reichspropagandaminister Joseph Goebbels (1897–1945) persönlich. Mit den Reichsmusiktagen verfolgte er gezielt den Plan, Düsseldorf zu einem der zentralen Stützpunkte seiner Musikpolitik zu machen, was die Stadt hinsichtlich ihrer kulturellen Bedeutung mit München auf eine Stufe stellte.2 Die erste Veranstaltung im Mai 1938 wurde sehr kurzfristig in der Öffentlichkeit angekündigt. Noch im Februar findet sich unter dem Stichwort „Deutsche Musikfeste im Jahre 1938“ in der „Zeitschrift für Musik“ kein Wort über die Reichsmusiktage.3 Erst vier Wochen vor Beginn gab das Propagandaministerium Einzelheiten bekannt und forderte dann umso nachdrücklicher die Zeitungen durch Presseanweisungen zu einer ausführlichen Vorberichterstattung auf.4 Goebbels’ Pläne fanden großen Anklang bei 1 Vgl. Thelen-Frölich, Andrea Therese, Die Institution Konzert zwischen 1918 und 1945 am Beispiel der Stadt Düsseldorf. Der Konzertsaal als Politikum, Kassel 2000, S. 405. 2 Vgl. Schwerter, Werner, Heerschau und Selektion, in: Dümling, Albrecht (Hg.), Das verdächtige Saxophon. „Entartete Musik“ im NS-Staat – Dokumentation und Kommentar, 5. Aufl., Regensburg 2015, S. 135–154, hier S. 136. 3 Vgl. Deutsche Musikfeste im Jahre 1938, in: Zeitschrift für Musik. Monatsschrift für eine geistige Erneuerung der deutschen Musik 105 (1938) 2, S. 185–186, hier S. 185. 4 Vgl. Bohrmann, Hans/Toepser-Ziegert, Gabriele/Peter, Karen (Bearb.), NS-Presseanweisungen der Vorkriegszeit. Edition und Dokumentation, Bd. 6: 1938, Teilbd. 2: Die Anweisungen Mai bis August, München 1999.
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der Stadtverwaltung, die bereits seit 1933 darum bemüht war, Düsseldorf zur Kunststadt des Westens5 zu stilisieren und so seine Rolle im Deutschen Reich aufzuwerten. Die Verantwortlichen unterstützten also die Aktivitäten des Propagandaministeriums nach Kräften, indem sie fast alle städtischen und privaten Orchester, Chöre und sonstigen musikalischen Gruppen mobilisierten und prominente Solisten als Gastkünstler engagierten. In beiden Jahren hielten Helmut Otto (1892–1974), kommissarischer Oberbürgermeister von Düsseldorf (8. September 1937–11. Dezember 1939), und NSDAP-Gauleiter Friedrich Karl Florian (1894–1975) bei den Eröffnungsveranstaltungen emphatische Reden. Für die musikalische Leitung war der Düsseldorfer Generalmusikdirektor und Städtische Musikbeauftragte Hugo Balzer (1894–1985) verantwortlich, der als überzeugter Nationalsozialist6 das Projekt ebenfalls wirkungsvoll unterstützte. Ursprünglich war es der Plan des Propagandaministers gewesen, die Reichsmusiktage zu einer festen Institution zu machen und diese jedes Jahr in der neuen „Musikhauptstadt des Reiches“7 stattfinden zu lassen, doch schon nach zwei Jahren wurde die Reihe nicht mehr fortgesetzt, wofür als Begründung die Kriegswirren angegeben wurden. Es ist auffällig, dass Joseph Goebbels die Reichsmusiktage von Anfang an mit großem Aufwand protegierte, während Adolf Hitler (1889–1945) trotz des hohen Stellenwertes der Veranstaltung, der in der Öffentlichkeit kommuniziert wurde, nie daran teilnahm und auch nicht weiter präsent war als durch Zitate und Fotos in den Programmheften. Dazu dürfte beigetragen haben, dass die Musik Richard Wagners (1813–1883), die Hitler in hohem Maße schätzte und förderte, bei den Konzerten in Düsseldorf keine nennenswerte Rolle spielte. Die Eröffnung der Reichsmusiktage am 22. Mai 1938 fiel zwar auf Wagners 125. Geburtstag, und so erklang bei der Eröffnungsfeier auch der erste Satz seiner C-Dur-Sinfonie, doch war dies laut Oberbürgermeister Otto nicht mehr als ein schöner Zufall8. Auch das Gesamtkonzept der Reichsmusiktage war ein anderes als das der von Hitler protegierten Bayreuther Festspiele: Während bei diesen das Werk eines einzigen Komponisten, eben Richard Wagners, einem elitären Publikum an einem einzigen Veranstaltungsort dargeboten wurde, verfolgte Goebbels andere Ziele, die der Vizepräsident der Reichsmusikkammer Paul Graener (1872–1944) in seiner Eröffnungsrede wie folgt formulierte: Es gehe bei den Reichsmusiktagen anders als bei anderen Musikfesten nicht darum, einen großen Meister unserer Tonkunst zu feiern oder etwa einen Ausschnitt aus dem zeitgenössischen Schaffen zu zeigen […], sondern es soll hier erstmalig das deutsche Musikleben in seiner ganzen Mannigfaltigkeit gezeigt werden. Als ein Fest wahrer musikalischer Volksgemeinschaft will es alle Kreise erfassen, die Schaffenden wie die Reproduzierenden, 5 Verwaltungsbericht der Stadt Düsseldorf für den Zeitraum vom 1.4.1933 bis zum 31.3.1936, Düsseldorf 1937, S. 60, 203. 6 Vgl. Prieberg, Fred K., Handbuch Deutsche Musiker 1933–1945, Kiel 2005, S. 229–233. 7 Schwerter, Heerschau, S. 149. 8 Rede Oberbürgermeister Dr. Dr. Otto bei der Eröffnungsfeier am 22. Mai 1938, abgedruckt in: Reichsmusiktage 1938 in Düsseldorf. Unter der Schirmherrschaft des Reichsministers Dr. Goebbels (Beilage der Düsseldorfer Nachrichten, Nr. 141, 23.5.1938), s.p.
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die Fachmusiker, die Laienspieler und Freunde der Musik, die Theoretiker und die Wissenschaftler wie die verantwortlichen Verwaltungsorgane der Musikpflege in Stadt und Land.9 Auf diesen Anspruch waren die Programme beider Jahre zugeschnitten.
II. Das Repertoire Der von Graener beschriebene umfassende Anspruch der Reichsmusiktage führte dazu, dass zum einen Kunstmusik und zum anderen volksmusikalische Gesangsstücke auf dem Programm standen, die es auch Laiensängern und musikalisch nicht vorgebildeten Bürgern ermöglichen sollten, sich an einigen Aufführungen zu beteiligen. Dessen ungeachtet lag der Schwerpunkt auf Werken der sogenannten „Hochkultur“, die überwiegend von professionellen Musikern aufgeführt wurden. Die Komponisten dieser Werke lassen sich im Prinzip drei Epochen zuordnen, wie es in einem Artikel in der Zeitschrift für Musik10 für das Jahr 1938 ausführlich beschrieben wird; diese Aufteilung gilt grundsätzlich auch für die Veranstaltung von 1939. Zur ersten Gruppe gehörten Kompositionen aus dem bewährten Erbe der Vergangenheit11, beispielsweise von Georg Friedrich Händel (1685–1759), Joseph Haydn (1732– 1809), Carl Maria von Weber (1786–1826), Ludwig van Beethoven (1770–1827), Franz Liszt (1811–1886) und Richard Wagner (1813–1883), die in Sinfoniekonzerten und bei einigen der Werkkonzerte aufgeführt wurden. Diese Gruppe umfasste Komponisten vom Barock bis zur Spätromantik und lässt sich trotz der zeitlichen Bandbreite unter dem Schlagwort „Klassiker“ zusammenfassen. Hiermit sind Stücke gemeint, die durch ihre Aufführungs- und Überlieferungsgeschichte mit dem Anspruch belegt worden sind, bestimmte bildungsbürgerliche Werte zu repräsentieren; im „Dritten Reich“ waren davon Werke jüdischer oder aus anderen Gründen nicht systemkonformer Komponisten ausgenommen. Unter diesen „Klassikern“ kam einem Werk eine besondere Bedeutung zu, die im Programmheft von 1938 folgendermaßen beschrieben wird: Traditionsgebundenen Festcharakter erhalten sie [die Reichsmusiktage] durch die alljährige Aufführung desjenigen monumentalen klassischen Werkes deutscher Musik, das im Bewußtsein der ganzen Welt als höchstes Wahrzeichen der Tonkunst lebendig ist: der Neunten Symphonie Beethovens.12 Bei den Aufführungen in beiden Jahren wurde das Werk vom Berliner Philharmonischen Orchester gespielt und stand unter der Leitung von nicht minder prominenten Gastdirigenten: Am 28. Mai 1938 war dies Hermann Abendroth (1883–1956), Kapellmeister des Leipziger Gewandhauses, und am 21. Mai 1939 Hans Knappertsbusch (1888–1965), der 9 Rede Paul Graener bei der Eröffnungsfeier am 22. Mai 1938, abgedruckt in ebd. 10 Vgl. Büttner, Horst, Reichsmusiktage in Düsseldorf. Vom 22. bis 29.5.1938, in: Zeitschrift für Musik. Monatsschrift für eine geistige Erneuerung der deutschen Musik 105 (1938) 7, S. 736–743, hier S. 738. 11 Vgl. ebd. 12 Reichsmusiktage Düsseldorf 22. bis 29.5.1938, Programmheft S. 5.
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zu dieser Zeit durch die Leitung der Salzburger Festspiele Bekanntheit erlangt hatte. Schon 1938 war beschlossen worden, Beethovens 9. Sinfonie jedes Jahr als Höhepunkt der Reichsmusiktage aufzuführen, und zwar als lebendes Zeugnis der ewigen Schönheit der deutschen Tonkunst und als Ausdruck des unbesieglichen Freudegefühls der deutschen Lebenskraft.13 Mit Beethovens 9. Sinfonie war gezielt ein symbolisch in hohem Maße aufgeladenes Werk ausgewählt worden, das nicht nur einer der bedeutendsten „Klassiker“ auf deutschen Spielplänen und unentbehrlicher Bestandteil des bildungsbürgerlichen Repertoires war. Darüber hinaus besaß die Sinfonie eine im Bewusstsein des Publikums präsente politische Dimension. Denn „daß Beethoven das Werk König Friedrich Wilhelm III. von Preußen widmet[e], […] festigt[e] die anfängliche Verankerung des Werks in den symbolischen Zusammenhängen, die das Werden der deutschen Nation präg[t]en.“14 So erhielt „die Neunte“ rasch den Nimbus, ein Symbol deutscher Identität zu sein. Diese Belegung und nicht zuletzt die starke Bühnenwirkung des 4. Satzes mit den Worten von Friedrich Schillers (1759–1805) „Ode an die Freude“ sowie das leicht sangbare Hauptthema führten zur Vereinnahmung des Werkes durch Vertreter ganz verschiedener politischer Gruppierungen im 19. und 20. Jahrhundert. Demokraten, Kaisertreue, Kommunisten, Anhänger der Paneuropa-Bewegung und eben auch die Nationalsozialisten benutzten „die Neunte“ gleichermaßen für ihre Zwecke: So erklang die „Ode an die Freude“ unter anderem bei der Eröffnung der Olympischen Spiele 1936 und die ganze Sinfonie auf Anregung von Goebbels bei zwei Geburtstagsfeiern Hitlers.15 Die zweite Gruppe der aufgeführten Werke stammte von zeitgenössischen, aber bereits anerkannten Komponisten wie Emil Nikolaus von Reznicek (1860–1945), Max von Schillings (1868–1833), Paul Graener, Hans Pfitzner (1869–1949) und Richard Strauss (1864– 1949). Insbesondere die drei Letztgenannten spielten für die Reichsmusiktage 1938 eine wichtige Rolle, da sie als eine Art Bindeglied zwischen den „Klassikern“ und der jüngeren Generation angesehen wurden: Sie sind die rechtmäßigen Erben des überlieferten deutschen Musikgutes und die ersten Repräsentanten der zeitgenössischen Musik.16 Alle drei Komponisten standen der nationalsozialistischen Ideologie keineswegs ablehnend gegenüber: Richard Strauss war von 1933 bis 1935 Präsident der Reichsmusikkammer gewesen, Paul Graener bekleidete von 1933 bis 1941 das Amt des Vizepräsidenten der Reichsmusikkammer sowie des Leiters der Fachschaft Komponisten und Pfitzner machte in seinen Schriften sowie durch öffentliche Äußerungen aus seiner Sympathie für den Antisemitismus, seiner Verehrung für Adolf Hitler und seiner Verachtung für die Musik der Moderne kein Geheimnis. Diese Haltung erleichterte es, die Werke der drei Komponisten für die kulturpolitische Propaganda in idealer Weise einzusetzen. So wurden denn auch zu den musikalischen Höhepunkten der Reichsmusiktage die Aufführung von Strauss’ „Festlichem Präludium“ 13 Bauer, Erwin, Ausklang der Düsseldorfer Musiktage, in: Völkischer Beobachter, Nr. 151, 31.5.1938, S. 5. 14 Buch, Esteban, Beethovens Neunte, in: François, Etienne/Schulze, Hagen (Hgg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 3, München 2001, S. 665–680, hier S. 667. 15 Vgl. ebd., S. 675–676. 16 Fanget an! Reichsmusiktage 1938 in Düsseldorf, in: Rheinische Landeszeitung, Nr. 139, 22.5.1938, s.p.
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op. 61 für Orchester und Orgel (28. Mai 1938), Pfitzners Kantate „Von deutscher Seele“ (26. Mai 1938) sowie Graeners Sinfonische Variationen für großes Orchester op. 106 über das Lied „Prinz Eugen, der edle Ritter“ (21. Mai 1939) gezählt.
Abb. 15 Richard Strauss dirigiert bei den Düsseldorfer Reichsmusiktagen, 28.5.1938
Abb. 16 Richard Strauss und Joseph Goebbels bei den Düsseldorfer Reichsmusiktagen, 29.5.1938
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Der Repertoireschwerpunkt wurde durch das eigentliche Ziel der Reichsmusiktage bestimmt, welches darin bestand, möglichst viele zeitgenössische Kompositionen aufund uraufzuführen. Den Hintergrund dieser Zielsetzung formulierte die „Rheinische Landeszeitung“ wie folgt: Hier gilt es in großem Stile zu zeigen: wo stehen wir in der deutschen Musik, und wie sind dem immer noch stagnierenden deutschen Konzertwesen neue Impulse und erfolgversprechender Auftrieb zu geben?17 Entsprechend den Wünschen des Propagandaministers wurden bei den Reichsmusiktagen viele zum damaligen Zeitpunkt aktive Komponisten gespielt wie beispielsweise Kurt Thomas (1904–1973), Ottmar Gerster (1897–1969), Hans Chemin-Petit (1902–1981), Philipp Jarnach (1892–1982), Hermann Unger (1886–1958), Otto Besch (1885–1966), Johannes Rietz (1905–1976), Hans Joachim Sobanski (1906–1959), Paul Juon (1892–1940), Max Trapp (1887–1971), Otto Wartisch (1893–1969) und Ludwig Maurick (1898–1970). Die meisten dieser Namen waren damals nur wenig bekannt und sind heute praktisch in Vergessenheit geraten. Eine Ausnahme hiervon bilden lediglich Werner Egk (1901–1983) und Boris Blacher (1903–1975), deren Werke sich auch heute noch gelegentlich auf den Spielplänen finden. Von Egk wurden die Kantate für Bass und Kammerorchester „Natur – Liebe – Tod“ (29. Mai 1938) und die Oper „Peer Gynt“ (19. Mai 1939) aufgeführt, die beide große Erfolge erzielten. Blachers „Geigenmusik mit Orchester“ in drei Sätzen hingegen wurde bei der Aufführung 1939 von der Presse als zu experimentell abgelehnt und vom Publikum ausgepfiffen.18 Um wie vom Propagandaministerium gewünscht auch die Musik des Volkes aufzuführen und die Bürger der Stadt einzubinden, fanden eine Reihe von Konzerten mit Düsseldorfer Männerchören statt, außerdem eine Volksmusikveranstaltung (15. Mai 1939), ein Volksmusikabend (15. Mai 1939) und Formate wie „Gesellige Musik der NSGemeinschaft Kraft durch Freude, Sing- und Musikgemeinschaften musizieren zum Feierabend in der Tonhalle“ (27. Mai 1938). Bei Konzerten wie dem „Offenen Singen“ im Rahmen eines Werkkonzertes mit einer Kantate von Heinrich Spitta (1902–1972) (28. Mai 1938) und einer Kundgebung der Hitler-Jugend (17. Mai 1939), bei welcher das Lied „Erde schafft das Neue“ von Spitta gesungen wurde, war laut Programmheft die Beteiligung von interessierten Laien ausdrücklich erwünscht. Und bei einer Kundgebung und einigen anderen Veranstaltungen waren sogar im Programmheft Noten und Texte von Liedern abgedruckt, so dass sich alle Anwesenden ohne Anmeldung oder Vorbereitung an der Aufführung beteiligen konnten. Gelegenheiten für die gesamte Bevölkerung, während der Reichsmusiktage spontan und kostenlos in den Genuss von Musik zu kommen, boten die zahlreichen Platzkonzerte, bei denen meist Musikkorps des Militärs spielten. Die Werkkonzerte fanden bei den Schieß-Defries-Werken, Rheinmetall-Borsig, der Provinzial-Feuerversicherung und der Rheinischen Bahngesellschaft statt. Sie boten entweder Programme mit „Klassikern“ der Konzertliteratur an und verfolgten damit den bildungsbürgerlichen Anspruch, 17 Ebd. 18 Vgl. Schwerter, Heerschau, S. 138.
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den Arbeitern Musikstücke der Hochkultur zu vermitteln. Andere Konzertformate banden die Werkschöre der beteiligten Firmen mit ein und sahen die Beteiligung des Publikums vor. Entsprechend der großen Bandbreite des Repertoires waren auch die Aufführungsorte über die ganze Stadt verteilt: Neben der Oper und der Tonhalle, also dem städtischen Konzertsaal, wurden weitere Räume genutzt wie beispielsweise das Ständehaus, der Ibach-Saal, die Aula der Kunstakademie und Schloss Benrath, außerdem die Industriehallen der mitwirkenden Firmen und zahlreiche öffentliche Plätze.
Abb. 17 Konzert in einer Werkhalle der Firma Schieß-Defries, Düsseldorfer Reichsmusiktage, 23.5.1938
Der Ablauf der beiden Reichsmusiktage war relativ ähnlich, einige Tendenzen verstärkten sich jedoch im zweiten Jahr: So wurde 1939 zusätzliches Gewicht auf die Aufführung von Chorwerken und Volksmusik, Freiluftkonzerte und „Offenes Singen“ gelegt, um die Bevölkerung noch mehr einzubinden und Volksnähe zu demonstrieren. Auch trat der Schwerpunkt, der 1938 bereits auf aktuelle Kompositionen gelegt worden war, noch deutlicher hervor. Diese Fokussierung erwies sich jedoch rückblickend als problematisch, denn die Reaktionen des Publikums auf die zahlreichen zeitgenössischen Konzerte und Uraufführungen waren nicht gerade positiv. Nicht nur wurden bereits 1938 einzelne Werke (wie etwa Boris Blachers „Geigenmusik mit Orchester“) mit Pfiffen quittiert,19 sondern auch die wohlwollendste Presse konnte kaum verhehlen, dass es vor allem die bekannten Werke waren, zu denen das Publikum strömte. Nachdem 1939 eine Woche die lebenden Kompo19 Vgl. Schwerter, Werner, Heerschau und Selektion, hier S. 138.
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nisten zu einer verständnisbereiten Kunstgemeinde gesprochen hatten und Paul Graener entsprechend lediglich von den anwesenden Künstlern mit starkem Beifall gefeiert worden war, stand am Ende der Reichsmusiktage Beethovens 9. Sinfonie in der überfüllten Tonhalle.20
III. Das Rahmenprogramm Neben musikalischen Darbietungen gehörte in beiden Jahren ein umfangreiches Rahmenprogramm zu den Reichsmusiktagen. Einen Höhepunkt stellte am 28. Mai 1938, dem vorletzten Tag der Veranstaltung, die kulturpolitische Kundgebung am Nachmittag dar, die durch Gauleiter Friedrich Karl Florian eröffnet wurde und bei der Reichspropagandaminister Goebbels eine Rede hielt. Anschließend dirigierte Richard Strauss sein „Festliches Präludium“ und abends wurde in der Tonhalle das Festkonzert mit Beethovens 9. Sinfonie gegeben. Im Folgejahr fand am letzten Tag der Reichsmusiktage, dem 21. Mai 1939, ein ähnliches Programm statt; dieses Mal erklangen Paul Graeners sinfonische Variationen für großes Orchester mit dem Titel „Prinz Eugen, der edle Ritter“ unter Leitung von Hugo Balzer.
Abb. 18 Kulturpolitische Kundgebung während der Düsseldorfer Reichsmusiktage, am Rednerpult Friedrich Karl Florian, im Publikum: (erste Reihe u. a. v. l. n. r.) Karl Walter, Hermann Brouwers, Paul Graener, Heinz Drewes, Joseph Goebbels, Helmut Otto (zweite Reihe u. a. v. l. n. r.) Heinz Tiessen, Hans Severus Ziegler, 28.5.1938 20 Höhepunkt und Ausklang der Reichsmusiktage 1939, in: Innsbrucker Nachrichten, Nr. 118, 24.5.1939, S. 9.
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Im Jahr 1939 wurde zusätzlich ein nationaler Musikpreis mit einem Preisgeld in Höhe von 10.000 Reichsmark für die besten deutschen Nachwuchsmusiker auf den Gebieten Geige und Klavier gestiftet. Die Gewinner waren der Violinist Siegfried Borries (1912– 1980) und die Pianistin Rosl Schmidt (1911–1978).21 Beide Kundgebungen wurden durch die prominenten Mitwirkenden aufgewertet, und Goebbels’ Rede ebenso wie die Preisverleihung schufen zusätzlich Anlässe für Berichterstattung in der Presse, so dass die kulturpolitische Bedeutung der Reichsmusiktage in der Öffentlichkeit deutlich kommuniziert werden konnte. Im Jahr 1938 fand an drei Tagen (26.–28. Mai) die „Musikwissenschaftliche Tagung der Deutschen Gesellschaft für Musikwissenschaft“ statt,22 auf der Prominente des Faches, aber auch Nachwuchsforscher vertreten waren. In insgesamt 25 Vorträgen wurde zu verschiedenen Themenschwerpunkten der nationalsozialistischen Musikwissenschaft gesprochen und debattiert.23 Zu den deutschlandweit besonders renommierten Vortragenden gehörten Josef Müller-Blattau (1895–1976), Professor für Musikwissenschaft in Freiburg, Ludwig Schiedermair (1876–1957), ebenfalls Professor für Musikwissenschaft und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Musik, Friedrich Blume (1893–1975), Mitglied des staatlichen Instituts für deutsche Musikforschung, sowie Heinrich Besseler (1900–1969), Professor an der Universität Heidelberg. In den Vorträgen wurden unter anderem Leben und Werk einzelner Komponisten, beispielsweise Franz Liszts, Johannes Brahms’ (1833–1897), Wolfgang Amadeus Mozarts (1756– 1791) sowie Georg Friedrich Händels, und ihre Bedeutung für das Konzertwesen des „Dritten Reiches“ beschrieben. Andere Themen waren die Verbindung von Musik und Politik, die Geschichte und Bedeutung der deutschen Volksmusik sowie die gemäß der nationalsozialistischen Ideologie negativen Auswirkungen von Zwölftonmusik und Jazz auf die deutsche Kultur. „Musik und Rasse“ war der Titel eines eigenen Vortragsblocks mit sieben Beiträgen, in denen Aspekte einer rassentheoretisch fundierten Musikwissenschaft thematisiert wurden. Im Prinzip stand jedoch die gesamte Veranstaltung unter diesem Vorzeichen. In beiden Jahren der Reichsmusiktage veranstaltete das Amt für Konzertwesen der Reichsmusikkammer zusammen mit der Fachschaft Komponisten und der Fachschaft Musikerzieher eine eigene Tagung zum Thema „Singen und Sprechen“, die weniger wissenschaftlich, sondern eher praxisorientiert ausgerichtet war. Auch hier traten mit Professor Müller-Blattau und Professor Hermann Abendroth, der auch am 28. Mai 1938 als Dirigent von Beethovens 9. Sinfonie an den Reichsmusiktagen mitgewirkt hatte, prominente Vertreter ihres Faches in Erscheinung. 21 Vgl. Laux, Karl, Spiegel des deutschen Musiklebens: Die Reichsmusiktage 1939, in: Neues Musikblatt 18 (1939), S. 4. 22 Das Programm der Tagung ist abgedruckt bei Phleps, Thomas, Ein stiller, verbissener und zäher Kampf um Stetigkeit. Musikwissenschaft in NS-Deutschland und ihre vergangenheitspolitische Bewältigung, in: Hust, Christoph/von Foerster, Isolde/Mahling, Christoph-Hellmut (Hgg.), Musikforschung – Nationalsozialismus – Faschismus. Referate der Tagung Schloss Engers (8.–11.3.2000), S. 471–488, hier S. 487. 23 Vgl. hierzu Potter, Pamela M., Wissenschaftler im Zwiespalt, in: Dümling (Hg.), Saxophon, S. 155–161.
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Ein weiterer bedeutsamer Punkt des Rahmenprogramms war die Ausstellung „Entartete Musik“, die vom 24. Mai bis zum 14. Juni 1938 im Museum Kunstpalast/Ehrenhof in Düsseldorf gezeigt wurde. Mit ihrem Titel und dem zugrunde liegenden Konzept knüpfte sie offenkundig an die Ausstellung „Entartete Kunst“ an, bei der 1937 in München von den Nationalsozialisten verfemte Werke der bildenden Kunst zu sehen gewesen waren. Verantwortlich für die Düsseldorfer Ausstellung war Staatsrat Hans Severus Ziegler (1893–1978), seit 1935 Generalintendant des Weimarer Nationaltheaters und ein begeisterter Anhänger Adolf Hitlers. In den Ausstellungsräumen wurden Komponisten wie Alban Berg (1885–1935), Arnold Schönberg (1874–1951), Kurt Weill (1900–1950), Paul Hindemith (1895–1963), Franz Schreker (1878–1934), Ernst Krenek (1900–1991) und Igor Strawinsky (1882–1971) mit Schriften, Karikaturen und Notenblättern als abschreckende Beispiele „entarteter“ Musik präsentiert. Teilweise hatten Besucher auch die Möglichkeit, in Kabinen Ausschnitte aus Kompositionen anzuhören. Auf dem Plakat, das die Ausstellung bewarb, waren die zentralen Elemente, welche die Nationalsozialisten für die ‚Entartung‘ verantwortlich machten, grafisch dargestellt: Die Figur eines schwarzen Jazz-Saxophonisten mit in rassistischer Intention klischeehaft überzeichneter Physiognomie und einem Davidstern im Knopfloch war angelehnt an die Figur des Musikers Jonny aus der Oper „Jonny spielt auf “ von Ernst Krenek.24 In Zieglers Text „Entartete Musik. Eine Abrechnung“ war zu lesen, dass der Jazz ebenso wie die Atonalität als Ergebnis der Zerstörung der Tonalität Entartung und Kunstbolschewismus bedeutet.25 An anderen Stellen wurde seine Rhetorik noch aggressiver: Was in der Ausstellung ‚Entartete Musik‘ zusammengetragen ist, stellt das Abbild eines wahren Hexensabbath und des frivolen, geistig-künstlerischen Kulturbolschewismus dar und ein Abbild des Triumphes von Untermenschentum, arroganter jüdischer Frechheit und völliger geistiger Vertrottelung, wobei ich aber gleichzeitig nicht umhin kann, wenigstens andeutungsweise auch
Abb. 19 Hans Severus Ziegler eröffnet die Ausstellung „Entartete Musik“, 24.5.1938 24 Vgl. Thelen-Frölich, Institution, S. 412. 25 Ziegler, Hans Severus, Entartete Musik. Eine Abrechnung [Faksimile], in: Dümling (Hg.), Saxophon, S. 175.
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die Nachwirkungen aufzuzeigen, die im heutigen Musikleben noch immer zu finden, wenn auch allmählich zu verschwinden im Begriffe sind.26 Was in der Öffentlichkeit damals nicht kommuniziert wurde, war die Tatsache, dass die Ausstellung gar nicht vom Propagandaministerium als Teil der Reichsmusiktage eingeplant gewesen war, sondern dass Ziegler das Projekt praktisch im Alleingang konzipiert und verwirklicht hatte. Unterstützt wurde er von seinem Chefdramaturgen für Oper und Schauspiel Otto C. A. zur Nedden (1902–1994) sowie den ebenfalls in Weimar tätigen Generalmusikdirektoren Paul Sixt (1908–1964) und Ernst Nobbe (1894–1938).27 In den Monaten vor den Reichsmusiktagen kam es hinter den Kulissen zu Intrigen und heftigen Kompetenzstreitigkeiten zwischen Ziegler, Goebbels, Alfred Rosenberg (1893–1946) und anderen Personen,28 was die Eröffnung der Ausstellung jedoch nicht verhinderte. Zieglers mangelnde Kooperationsbereitschaft und das energische Festhalten an dem Projekt rührten nicht zuletzt daher, dass der Staatsrat jede Gelegenheit ergriff, sich selbst zu profilieren und seine Position in der deutschen Kulturlandschaft zu festigen, da er aufgrund seiner in Parteikreisen bekannten Homosexualität Repressalien fürchtete. Auch wenn die Ausstellung scheinbar gut in das Programm der Reichsmusiktage passte, erwies sie sich, wie von Goebbels befürchtet, langfristig als schädlich, wofür es verschiedene Gründe gab: Unter Propagandaaspekten war es 1938 keineswegs sinnvoll, als „entartet“ eingestufte Komponisten oder ausführende Musiker, die sich nicht systemkonform verhielten, in der Öffentlichkeit anzuprangern, da ihnen eine Mitgliedschaft in der Reichsmusikkammer ohnehin verwehrt war. Dies bedeutete, dass unerwünschte Werke seit Langem von den Konzertprogrammen so gut wie verschwunden waren29 und eine derartige Ausstellung damit eigentlich überflüssig war. Zu den handwerklichen Fehlern, die Ziegler bei der Konzeption der Ausstellung unterlaufen waren, gehörte, dass er auch Komponisten wie Alban Berg und Paul Hindemith anprangerte, die von Generalmusikdirektor Balzer noch einige Jahre zuvor in Düsseldorf mit Erfolg dirigiert worden waren.30 Auch die Darstellung von Igor Strawinsky und des Frankfurter Hochschuldirektors Hermann Reutter (1900–1985) als „entartete“ Komponisten rief Irritationen hervor: Zwar war Strawinsky umstritten, aber bisher regelmäßig auf deutschen Konzertprogrammen zu finden gewesen. Und Reutter, der Mitglied der NSDAP war, galt als anerkannter Komponist und wurde von einigen Parteifunktionären geschätzt. Als bekannt wurde, dass er in der Ausstellung als „entarteter“ Komponist gebrandmarkt wurde, reiste Frankfurts Oberbürgermeister Friedrich Krebs (1894–1961, Oberbürgermeister März 1933–März 1945), der zugleich Abteilungsleiter der Reichsmusikkammer war, erbost nach Düsseldorf und ergriff in einer Rede im Rahmen der
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Ebd., S. 171. Prieberg, Fred K., Gründe und Hintergründe einer Ausstellung, in: Dümling (Hg.), Saxophon, S. 188. Vgl. ebd., S. 185–193. Vgl. ebd., S. 187. Vgl. Schwerter, Heerschau, S. 139.
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Ausstellung Partei für Reutter.31 Ein weiteres Problem bestand darin, dass nicht wenige Besucher die Hörstationen in den Ausstellungsräumen mit offensichtlichem Vergnügen besuchten, statt die dargebotene Musik als abschreckendes Beispiel wahrzunehmen. Am meisten frequentiert wurde der Raum, in dem Aufnahmen von Kurt Weills „Dreigroschenoper“ zu hören waren.32 Die Ausstellung wurde sogar zum Anlass für einen Eklat innerhalb der Reichsmusikkammer: Deren Präsident Peter Raabe (1872–1945) war derartig empört über Zieglers Vorgehen und die in seinen Augen missglückte Konzeption, dass er bei Goebbels mehrfach schriftlich protestierte. Als er erfuhr, dass die Ausstellung trotz allem stattfinden sollte und er obendrein ohne sein Wissen als Redner bei der Eröffnungsfeier der Reichsmusiktage angekündigt worden war, legte er sein Amt nieder.33 Da Goebbels das Rücktrittsgesuch ablehnte, blieb Raabe zwar im Amt, doch die Weigerung des höchsten Repräsentanten der Reichsmusikkammer, wegen Zieglers Ausstellung bei der Feier zu sprechen, war eine klare Positionierung. Angesichts dieser Ärgernisse überrascht es nicht, dass Goebbels mehrere Presseanweisungen herausgab, die verhindern sollten, dass die Ausstellung zu sehr in den Fokus der Öffentlichkeit geriet und Aufmerksamkeit von den Reichsmusiktagen abzog. So verfügte er: Berichte über die Ausstellung ‚Entartete Musik‘, die in Düsseldorf während der Reichsmusikwoche [sic!] stattfindet, sollen nicht in besonderer Aufmachung und Größe erscheinen. Die Ausstellung soll nicht anders besprochen werden als alle anderen Veranstaltungen der Reichsmusiktage. […] Auch nach den Reichsmusiktagen sollen keine Sonderberichte über ‚Entartete Musik‘ erscheinen.34
IV. Der Veranstaltungsort Düsseldorf Zu Recht stellt sich die Frage, warum das Propagandaministerium ausgerechnet Düsseldorf zum Veranstaltungsort der Reichsmusiktage bestimmte, wo doch größere und kulturell bedeutendere Städte wie Berlin oder München ebenfalls infrage gekommen wären. Berichte in den Programmheften und in der Presse führten verschiedene Gründe für diese Entscheidung an: Abgesehen davon, dass Düsseldorf die Hauptstadt von Goebbels Heimatgau war, was womöglich eine gewisse Bevorzugung durch die persönliche Verbundenheit mit sich brachte, gab es dort die tief im „Volk verwurzelte Tradition“35 31 Vgl. Prieberg, Gründe, S. 191–192. 32 Vgl. Dümling, Albrecht, „… weil Fehlurteile kaum zu vermeiden sind“. Reaktionen auf die Ausstellung 1938–1939, in: Dümling (Hg.), Saxophon, S. 203. 33 Vgl. Prieberg, Gründe, S. 195–198. 34 Ebd., S. 191. 35 Zahn, Sabine, Die Niederrheinischen Musikfeste im 20. Jahrhundert, in: Kross, Siegfried (Hg.), Organisationsformen der Musik im Rheinland. Bericht über die Jahrestagung 1984 (Beiträge zur Rheinischen Musikgeschichte, Bd. 136), Kassel 1987, S. 17–26, hier S. 20–21.
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der Niederrheinischen Musikfeste, die 1818 erstmals und seitdem mit Unterbrechungen immer wieder in Düsseldorf stattgefunden hatten. Diese Feste hatten als von idealistischen Bürgern getragenes Familien- und Volksfest begonnen und rasch über das Rheinland hinaus Berühmtheit erlangt. In ihrem Mittelpunkt standen Chorkonzerte, an denen im Laufe der Zeit zahlreiche berühmte Solisten und Dirigenten mitwirkten und die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu wahren Massenveranstaltungen mit an die tausend Mitwirkenden ausweiteten. Diese Niederrheinischen Musikfeste im Jahr 1938 als Referenz für die bedeutsame musikalische Tradition in Düsseldorf anzuführen, darf jedoch als fragwürdig angesehen werden, da sie 1931 wegen nachlassenden Interesses und finanzieller Schwierigkeiten eingestellt worden waren.
Abb. 20 Eröffnungsfeier der Reichsmusiktage im Kaisersaal der Tonhalle, v. l. n. r.: Heinz Drewes, Karl Hanke, Helmut Otto, Hermann Brouwers, Karl Walter, 22.5.1938
Bei der Eröffnung der Reichsmusiktage 1938 verwies Oberbürgermeister Otto darauf, dass Düsseldorf 1861 als eine der ersten deutschen Städte ein städtisches Orchester eingerichtet hatte und dass von 1850 bis 1854 der berühmte Komponist Robert Schumann (1810–1856) dort gewirkt hatte.36 Im Programmheft der Reichsmusiktage wurden zusätzlich der Kurfürst Johann Wilhelm von Pfalz-Neuburg (Jan Wellem) (1658–1716) mit seiner höfischen Musiktradition als Referenz angeführt, die Leistungen des städtischen Bürgertums auf dem Gebiet der Musik im 19. Jahrhundert und der in Düssel36 Vgl. Anm. 8.
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dorf geborene Komponist Norbert Burgmüller (1810–1836).37 Bei dem Bemühen, eine bedeutende musikalische Traditionslinie in Düsseldorf aufzuzeigen, waren also Rückgriffe weit in die Vergangenheit notwendig. Des Weiteren betonte die Stadtverwaltung, dass sie Erfahrung mit repräsentativen Großveranstaltungen vorzuweisen habe wie beispielsweise der Düsseldorfer Gewerbe- und Kunstausstellung 1880, der Gesolei-Ausstellung (Gesundheitspflege, Soziale Fürsorge und Leibesübungen) 1926 und der Reichsausstellung „Schaffendes Volk“ 1937. Düsseldorf selbst sah seine Aufwertung als kulturpolitischer Standort durch die Reichsmusiktage zugleich als eine Art Wiedergutmachung für erlittenes Unrecht und den Verlust seiner Bedeutung, die es als ehemalige Residenzstadt bis ins 18. Jahrhundert hinein besessen hatte. Nun endlich wurde der Stadt wieder eine kulturelle Vormachtstellung im deutschen Westen geschickt, die ihr seit der Abwanderung wichtiger Schätze der bildenden Kunst nach München im Laufe des vorigen Jahrhunderts verloren gegangen war.38 Der hier erwähnte Abtransport der kurfürstlichen Gemäldesammlung, die heute in der Alten Pinakothek in München zu sehen ist, fand im Jahr 1806 statt.
V. Der Musikbegriff der Nationalsozialisten Die Konzerte, Vorträge und das weitere Rahmenprogramm der Reichsmusiktage, aber auch Schriften von systemtreuen Theoretikern der NS-Zeit39 offenbarten ein entscheidendes Defizit der nationalsozialistischen Ideologie: Zwar wussten die Machthaber genau, dass Musik ein unentbehrlicher Faktor in ihrer Propagandamaschinerie war, doch in den vergangenen fünf Jahren war es nicht gelungen, einen Konsens darüber zu erzielen, welche Kompositionen denn nun eigentlich als „arisch“ und welche als „entartet“ zu gelten hatten. Was fehlte, war eine „positiv bestimmte, in sich schlüssige Ideologie über das, was man als eine neue und typische ‚nationalsozialistische Musik‘“40 verstanden wissen wollte. Goebbels zentrales Anliegen bei den Reichsmusiktagen bestand darin, zum einen theoretisch und zum anderen in der öffentlichen Wahrnehmung durch die Aufführung von zeitgenössischen Werken zur Etablierung eines „arischen“ Konzertrepertoires beizutragen und dadurch endlich verbindliche Maßstäbe für eine nationalsozialistische Musik zu setzen. Seine Rede, die er im Rahmen der Kundgebung 1938 hielt und in der er seine Planung zu einer neuen Musikästhetik ausführlich darstellte, schätzte Goebbels 37 Vgl. Schiedermair, Ludwig, Düsseldorf und die rheinische Musik der Vergangenheit, in: Reichsmusiktage Düsseldorf 22. bis 29.5.1938, Programmheft, S. 6–8. 38 Litterscheid, Richard: Die Reichsmusiktage 1938 in Düsseldorf, in: Die Musik. Amtliches Organ der NSKulturgemeinde, Jg. 31, Nr. 9, Juni 1939, S. 622 f., hier S. 622. 39 Vgl. beispielsweise Unsere Meinung. Was ist deutsche Musikgeschichte?, in: Die Musik. Amtliches Organ der NS-Kulturgemeinde, Jg. 28, Nr. 7, April 1936, S. 523 f. 40 Thelen-Frölich, Institution, S. 183.
Die Reichsmusiktage in Düsseldorf 1938 und 1939
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selbst als so bedeutsam ein, dass er aus ihr Zehn Grundsätze deutschen Musikschaffens ableitete, die in den „Amtlichen Mitteilungen der Reichsmusikkammer“ vom 1. Juni 1938 abgedruckt wurden.41 Dadurch bekamen die in Goebbels’ Rede vorgetragenen Thesen verbindlichen Charakter für alle deutschen Musikschaffenden.
Abb. 21 Rede von Joseph Goebbels bei den Düsseldorfer Reichsmusiktagen, 21.5.1938
In den einleitenden Worten zu seinen zehn Thesen bezeichnete Goebbels die Reichsmusiktage als die erste Heerschau über die Musikkultur unserer Zeit42, womit er die politisch-kriegerische Dimension von Musik als Propagandainstrument klar benannte. Seine Zielsetzung wiederholte er auch in seiner Rede zu den Reichsmusiktagen 1939: ‚Ohne Deutschland, ohne seine großen Meister, die mit hinreißenden Symphonien und großartigen Opern den musikalischen Spielplan aller Völker und aller Nationen heute noch beherrschen, wäre eine Weltmusik überhaupt nicht denkbar.‘ Fußend auf dieser alten, ehrwürdigen musikalischen Tradition, so führte Dr. Goebbels weiter aus, gälte es, auch in der 41 Amtliche Mitteilungen der Reichsmusikkammer, 1938, abgedruckt in: Schwerter, Heerschau, S. 150. Die Rede selbst findet sich in folgendem Zeitungsartikel: Düsseldorfer Nachrichten, Nr. 149, 29.5.1938, abgedruckt in ebd., S. 146. 42 Amtliche Mitteilungen Reichsmusikkammer, 1938, abgedruckt in: Schwerter, Heerschau, S. 150.
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Gegenwart an diesem Musikreichtum weiter zu arbeiten und unsere zeitgenössische musikalische Kunstschöpfung planvoll weiter zu entwickeln.43 Dass diese Entwicklung einer „arischen“ Musikkultur nicht gelang und auch gar nicht gelingen konnte, lag in der Natur der Sache: Schließlich ging es den Nationalsozialisten nur vordergründig um die Musik als Kunstform; das Ziel bestand in Wirklichkeit darin, bestimmte Komponistennamen und Werke für politische Propaganda zu instrumentalisieren. Und diese Auswahl konnte immer nur in Einzelfällen anhand von Schlagworten wie ‚jüdisch‘, ‚atonal‘, ‚jazzartig‘ etc. und aufgrund persönlicher Vorlieben einzelner Politiker getroffen werden. Eine komplexe und umfassende Ästhetik ließ sich daraus jedoch nicht ableiten. Ein anschauliches Beispiel hierfür lieferte das Stück „Geigenmusik in drei Sätzen“ von Boris Blacher, das 1938 bei den Reichsmusiktagen aufgeführt wurde und damit als zeitgenössisches Werk von Rang im Konzertbetrieb präsentiert werden sollte. Das Publikum jedoch pfiff die „Geigenmusik“ aus und in der Presse fanden sich Formulierungen wie „Katzengejammer nachahmend“ und „Zeichen der Entartung tragende Musik“.44 Hinzu kam, dass Blacher nach den nationalsozialistischen Kriterien noch nicht einmal „arischer“ Abstammung war.
VI. Rezeption Es überrascht nicht, dass es in Düsseldorf als höchst bedauerlich wahrgenommen wurde, dass die so aufwendig begonnenen Reichsmusiktage nach zwei Jahren keine Fortsetzung erfuhren. Noch 1939 hatte Gauleiter Florian sein im Jahr zuvor gemachtes Versprechen wiederholt, dass der Bau eines neuen Konzertsaales, der den Namen „Schlageterhalle“ bekommen sollte, und eines neuen Opernhauses unmittelbar bevorstünden.45 Von beiden Bauprojekten war nach 1939 jedoch nicht mehr die Rede. Dennoch wurde noch in den Haushaltsplänen bis 1943 mit unverhohlenem Stolz betont, Düsseldorf sei die „Stadt der Reichsmusiktage“. Auch bestand offensichtlich die Hoffnung, dass diese nach dem Krieg fortgeführt werden würden, denn in den Haushaltsplänen bis 1944 blieb in der entsprechenden Rubrik die Kennziffer für die Reichsmusiktage erhalten. Dass die offizielle Begründung, der Zweite Weltkrieg habe die Fortsetzung nach 1939 verhindert, nicht plausibel war, zeigt sich daran, dass zahlreiche Musikfeste und Festspiele in anderen Städten 1940 – wenn auch teilweise mit Einschränkungen – fortgesetzt wurden.46
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Dr. Goebbels sprach auf der Reichsmusiktagung [!], in: Völkischer Beobachter, Nr. 142, 22.5.1939, S. 5. Thelen-Frölich, Institution, S. 411. Schwerter, Heerschau, S. 149. Vgl. Steinecke, Wolfgang, Musikfeste im Kriegssommer, in: Deutsche Musikkultur. Zweimonatshefte für Musikleben und Musikforschung 5 (1940), S. 33–35.
Die Reichsmusiktage in Düsseldorf 1938 und 1939
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Abb. 22 Hans Knappertsbusch dirigiert das Schlusskonzert der Düsseldorfer Reichsmusiktage, 21.5.1939
Auch unter dem Aspekt kulturpolitischer Propaganda müssen die Reichsmusiktage rückblickend eher als Misserfolg gewertet werden. Trotz der Presseanweisungen aus dem Propagandaministerium verlief die Berichterstattung anfangs nicht gerade emphatisch und erst allmählich wurden Schlagworte wie „Olympiade deutscher Musik“, „Heerschau deutscher Tonkunst“, „Fest wahrer musikalischer Volksgemeinschaft“ und „Neuer Ansatz für die deutsche Musik“ publiziert.47 Insgesamt jedoch blieb die propagandistische Wirkung der Reichsmusiktage vergleichsweise gering.48 Hierzu trug sicherlich mit bei, dass in der NS-Zeit Kunst und Kultur überall großzügig gefördert wurden und in einem durchschnittlichen Sommer circa 70 Musik- und Theaterfeste in Deutschland stattfanden.49 Trotz des großen Aufwands und der prominenten Förderung durch Goebbels und andere bekannte Personen aus Politik und Musikwelt waren die Reichsmusiktage also nur eine Veranstaltungsreihe unter vielen. Dass es nicht gelang, in zwei Jahren das neue Veranstaltungsformat zu etablieren, lag wohl nicht zuletzt am Konzept der Reichsmusiktage: Die in der Presse positiv herausgestellte Vielfalt der Programme führte in der Praxis eher dazu, dass keine Zielgruppe wirklich angesprochen wurde. Außerdem stand der Anspruch, Volkstümliches und für 47 Schwerter, Heerschau, S. 136. 48 Vgl. Thelen-Frölich, Institution, S. 415. 49 Vgl. Schwerter, Heerschau, S. 144.
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die Bevölkerung Populäres zu bieten, im Widerspruch zu den zahlreichen Aufführungen von zeitgenössischen Werken, denen es erheblich an Qualität mangelte.50 Gerade für diesen Repertoireschwerpunkt erwies sich obendrein der Standort Düsseldorf als denkbar ungeeignet, denn das dortige Publikum stand zu Recht in dem Ruf, traditionell und konservativ zu sein: „Das Experiment war unerwünscht, das Neue wurde eher beiläufig zurückhaltend registriert.“51 Diesen Umstand thematisierte auch Generalmusikdirektor Balzer, der bei seinem Amtsantritt 1933 angekündigt hatte, in Düsseldorf primär die bekannten Werke der Klassik und Romantik aufführen zu wollen, da dies ohnehin den Hörgewohnheiten der hiesigen Zuschauer entspreche. Und bei einer Unterredung 1937 im Konzertbeirat bemängelte er, dass es aufgrund der überwiegend konservativen Haltung des Düsseldorfer Publikums schwierig sei, zeitgenössische Komponisten auf den Spielplänen unterzubringen.52 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Goebbels’ hochgesteckte Ziele, Maßstäbe einer „arischen“ Musikästhetik zu schaffen und die Etablierung eines nationalsozialistischen Repertoires anzustoßen, nicht verwirklicht werden konnten. Hierzu trug zum einen bei, dass sich nur wenige qualitativ hochwertige zeitgenössische Kompositionen finden ließen, zum anderen, dass das Düsseldorfer Publikum diesen Experimenten wenig Aufgeschlossenheit entgegenbrachte. Und auch die Tatsache, dass sich Staatsrat Ziegler in seiner schlecht konzipierten Ausstellung darauf beschränkte, alles „Nicht-Arische“ anzuprangern, zeigte eher die Widersprüchlichkeit der nationalsozialistischen Ideologie auf, als dass dies einen konstruktiven Gegenentwurf geliefert hätte. Die beiden Veranstaltungswochen offenbarten stattdessen, dass die von Goebbels angestrebte Musikpolitik aufgrund von Kompetenzstreitigkeiten, handwerklichen Fehlern in der Umsetzung und unrealistischen Zielen zum Scheitern verurteilt war. So gesehen waren die Reichsmusiktage in der Tat ein – wie es das „Neue Musikblatt“ 1939 stolz formulierte – Spiegel des deutschen Musiklebens53 in der NS-Zeit.
50 Vgl. ebd, S. 149. 51 Ebd., S. 139, 144. 52 Vgl. StA Düsseldorf, IV 3496, Bl. 19, Protokoll des Konzertbeirates vom 26.10.1937, zit. n. Guddorf, Christoph, Konzert und Oper in Düsseldorf unter der Kulturpolitik der Nationalsozialisten, Magisterarbeit Osnabrück 2006, S. 71. 53 Laux, Spiegel, S. 4.
Musik als politischer Faktor im südlichen Rheinland nach dem Zweiten Weltkrieg1 Andreas Linsenmann
Im Frühjahr 1946 entspann sich zwischen Dienststellen der Verwaltung der französischen Besatzungszone, deren eine Hälfte sich über Teile Badens und Württembergs erstreckte, während die andere Hälfte das heutige Rheinland-Pfalz und – mit besonderer Rechtsstellung – das spätere Saarland abdeckte, ein Schriftwechsel. Verhandelt wurde in diesem Schriftwechsel die Frage, ob einzelne Musikstücke zur Aufführung bei bestimmten öffentlichen Anlässen geeignet seien. Konkret ging es einerseits um die Eröffnung einer geschichtspolitisch bedeutsamen Ausstellung „France – Pays de Bade“, die 1946 der häufig mit der griffigen Metapher einer „Erbfeindschaft“ charakterisierten deutsch-französischen Konfliktgeschichte eine gedeihliche badisch-französische Verflechtungsgeschichte entgegenstellte. Und andererseits ging es um die kultur- und bildungspolitisch wichtige Eröffnung der Universität Mainz im Mai 1946. In einem regelrechten Gutachten wurde in diesem Schriftwechsel insbesondere Ernest Reyers (1823–1909) nach Worten von Joseph Pierre Méry (1797–1866) komponierte „Hymne du Rhin“ auf politisch relevante Implikationen abgeklopft. Der Gutachter charakterisiert die 1865 aus Anlass eines Musikfestes in Baden-Baden entstandene Kantate für Sopran und Chor wenig enthusiastisch als Gelegenheitswerk. Es zeichne sich durch zeittypisch leichte Melodien und beschränkte Ausdrucksmittel aus, befand er mit milder Herablassung. Künstlerisch sei, so schlussfolgerte er, die Mühe, es zu exhumieren, nicht gerechtfertigt. Gleichwohl sei die „Hymne du Rhin“ von historischem Interesse und habe symbolischen Wert. Denn sie illustriere die etwas konventionelle Vorstellung, die man sich in Frankreich von Deutschland vor der Reichseinigung gemacht habe, das vermeintlich friedfertig und ganz dem Kult der Künste zugeneigt gewesen sei, ehe es zugunsten Preußens auf seine Freiheiten verzichtet habe: Eine pittoreske, machtpolitisch ungefährliche Kulturnation gewissermaßen, die sich allerdings vor den Karren preußischer und
1 Der vorliegende Beitrag knüpft an Forschungserträge an, die mit unterschiedlichen Akzentsetzungen bereits in mehreren Kontexten publiziert wurden, insbesondere in: Linsenmann, Andreas, Musik als politischer Faktor. Konzepte, Intentionen und Praxis französischer Umerziehungs- und Kulturpolitik in Deutschland 1945–1949/50 (edition lendemains, Bd. 19), Tübingen 2010. Ich danke den Herausgebern für die Möglichkeit, hier eine um einige Quellenbezüge erweiterte und aktualisierte Erörterung vorstellen zu können.
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später großdeutscher Macht- und Hegemoniebestrebungen habe spannen lassen. Der Gutachter empfahl das Werk für beide Anlässe.2 Der hier skizzierte Vorgang ist bezeichnend. Er lässt erahnen, in welcher Weise sich die französische Besatzungsmacht mit Musik als kultureller Praxis sowie vor allem als potenzieller Identitätsressource beschäftigte und welche Perzeptionen und Geschichtsbilder dabei zum Tragen kamen. Deutlich wird: Musik war für die französische Besatzungsmacht keinesfalls ein Refugium einer politikfreien Sphäre – ganz im Gegenteil. Diese Grundintention wird auch anhand eines im Januar 1946 formulierten Dokuments deutlich: Verfasst hat es der Leiter der in Baden-Baden ansässigen Direction de L’Education Publique (DEP), Raymond Schmittlein (1904–1974), als Jahresplan für seine Behörde – eine Behörde, in deren Händen das gesamte öffentliche Bildungswesen in der französischen Besatzungszone von den Schulen und Universitäten bis zu den Volkshochschulen und Forschungseinrichtungen lag.3 Schmittlein, ein Germanist mit Elsässer Wurzeln, dessen Großmutter väterlicherseits eine gebürtige Mainzerin war, nahm in der französischen Besatzungszone eine kulturpolitische Schlüsselstellung ein und wurde zeitgenössisch häufig als Kulturgeneral apostrophiert. Eine von drei Seiten seines Papiers war den Beaux Arts, den „Schönen Künsten“, gewidmet. Darin heißt es: Eine wichtige Aufgabe fällt in dieser Sektion […] der Rééducation zu, vor allem im Bereich der Literatur und der Musik. […] Es geht darum, den Deutschen jene ihrer Meisterwerke ins Bewusstsein zu rücken, die vom Ideal des Friedens, der Freiheit und des Weltburgertums [sic!, deutsch i. Orig.] inspiriert sind.4 Ziel sei eine Umerziehung des deutschen Volkes, die sich durch eine kontinuierliche Aktion auf die Massen, aber insbesondere auf die Jugend vollziehen werde. Im Jahr 1946, so Schmittlein weiter, werde man die Grundlagen dafür legen, nicht nur die nazistischen Wurzeln im geistigen deutschen Leben zu eliminieren, sondern auch der rheinischen Jugend ein neues Ideal zu stiften, ein Ideal, das eng an dessen Territorium gebunden sein und diese rheinische Jugend wieder verbinden müsse mit den westlichen und demokratischen Traditionen der alten Länder an der östlichen Peripherie Frankreichs.5 Im vorliegenden Beitrag soll dargelegt werden, wie dieser Anspruch zu verstehen ist und was aus ihm resultierte. Zudem soll deutlich gemacht werden, dass die Musik-
2 Thimonnier empfahl das Werk daher sowohl für das Konzert zur Ausstellung „France – Pays de Bade“ wie zur Eröffnung der Mainzer Universität am 22.5.1946. Vgl. Archives de l’Occupation Française en Allemagne et en Autriche (AOFAA), AC 509/1, No. 2125/BSM/NG/, Note sur „L’Hymne du Rhin“ de Reyer et Mery, Baden-Baden, 6.5.1946, S. 1 f. Die in den AOFAA zusammengefassten Bestände wurden lange in Colmar verwahrt, mittlerweile sind sie Teil der Archives Diplomatiques in La Courneuve. 3 AOFAA, AC 67/1, No. 1303/DGAA/EDU, Plan de travail pour 1946, signé Schmittlein, 10.1.1946, S. 3. 4 Übersetzung, auch nachfolgend, durch den Verfasser. 5 Plan de travail pour 1946 (wie Anm. 3), S. 3.
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politik als Teil einer Kulturpolitik zu verstehen ist, die darauf abzielte, nicht nur, aber in besonderer Weise mit Musik auf politisch relevante Deutungsmuster und Werthaltungen der Deutschen Einfluss zu nehmen. Dazu sollen zunächst Intentionen und Rahmenfaktoren der französischen Musikpolitik umrissen sowie zentrale Akteure und Ziele in den Blick genommen werden, ehe es in einem dritten Schritt gilt, die praktische Relevanz der Konzepte zu diskutieren. Sodann soll die Umsetzung betrachtet werden, um in einem fünften Schritt Resonanz und Reichweite zu erörtern sowie abschließend einige Einordnungen und Bewertungen vorzuschlagen und ein kurzes Fazit zu ziehen.
I. Intentionen und Rahmenfaktoren Für ihre Kulturpropaganda nach 1945 setzten die Franzosen trotz vergleichsweise knapper Ressourcen beträchtliche Mittel ein. Die Breite ihres Engagements erschien bereits Zeitgenossen bemerkenswert. So würdigte etwa der Forschungsdirektor im amerikanischen Council of Foreign Relations, Percy Bidwell, 1948 in der Zeitschrift Foreign Affairs ausführlich den Nachdruck, den die Franzosen auf kulturelle Belange legten.6 Zugrunde lag diesem Engagement ein zweifaches Anliegen: Einerseits ging es in Anverwandlung des amerikanischen Ansatzes einer „reeducation“, einer Umerziehung der Deutschen, darum, die Wurzeln der nationalsozialistischen Ideologie zu beseitigen. Andererseits war das Ziel der französischen Besatzungsmacht, im östlichen Nachbarland Strukturen für eine langfristige geistige Neuorientierung zu schaffen.7 Die Franzosen begriffen, wie Jérôme Vaillant treffend formuliert hat, die Denazifizierung vor allem als kulturelles Problem8. Sie setzten bei der zeitgenössisch häufig mit dem Begriff der „Entpreußung“9 charakterisierten Beseitigung der ideellen, mentalen und habituellen Ursachen des Nationalsozialismus daher in besonderer Weise in diesem Bereich an.10
6 Bidwell, Percy W., „Reeducation“ in Germany. Emphasis on Culture in the French Zone, in: Foreign Affairs 27 (1948), S. 78–85. 7 Zu den Grundüberlegungen vgl. insbesondere Schmittleins Denkschrift „La rééducation du peuple allemand“ vom 27.1.1948 (No. 19711/DGAA/EDU), abgedruckt in: Vaillant, Jérôme (Hg.): La dénacification par les vainquers. La politique culturelle des occupants en Allemagne 1945–1949, Lille 1981, S. 139–155. 8 Ebd., S. 7 f. 9 Hüser, Dieter, Frankreichs „doppelte Deutschlandpolitik“. Dynamik aus der Defensive – Planen, Entscheiden, Umsetzen in gesellschaftlichen und wirtschaftlichen, innen- und außenpolitischen Krisenzeiten 1944–1950, Berlin 1996, S. 422 f. 10 Ruge-Schatz, Angelika, Grundprobleme der Kulturpolitik in der französischen Besatzungszone, in: Scharf, Claus/Schröder, Hans-Jürgen (Hgg.), Die Deutschlandpolitik Frankreichs und die französische Zone 1945–1949, Wiesbaden 1983, S. 91–110, hier S. 91.
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Abb. 23 Ansprache Raymond Schmittleins anlässlich der Dreijahresfeier der Universität Mainz, 1949
Das taten sie unter anderem durch Bildungseinrichtungen – etwa durch die bereits angesprochene Wiedergründung der alten Mainzer Universität 1946, die an der Wende zum 19. Jahrhundert unter napoleonischer Herrschaft erloschen war, durch das 1947 ins Leben gerufene Dolmetscherinstitut in Germersheim sowie die im selben Jahr gegründete Verwaltungshochschule Speyer. Aber Ansatzpunkte für die „reeducation“-Politik wurden im gesamten kulturellen Feld ausgemacht: Unter anderem mit einer Vielzahl von Theatergastspielen11, Kinoprogrammen12 und viel beachteten Ausstellungen moderner Kunst13 sowie nicht zuletzt mit Zensur und Angeboten im Bereich der Musik versuchten die Franzosen, auf politisch-kulturelle Werthaltungen der deutschen Bevölkerung in ihrer Besatzungszone und darüber hinaus Einfluss zu nehmen. 11 Thaisy, Laurence, La place du Cinéma et du Théâtre dans la politique culturelle de la France en Allemagne occupée (1945–1949), Diss. Lille, 2002; Dies.: Les tournées théâtrales françaises en ZFO (1945–1949), in: Allemagne d’aujourd’hui 151 (Janvier–Mars 2000), S. 162–177. 12 Thaisy, Laurence, La politique cinématographique de la France occupée 1945–1949, Villeneuve-d’Ascq 2006. 13 Schieder, Martin, Expansion/Integration. Die Kunstausstellungen der französischen Besatzung im Nachkriegsdeutschland, München u. a. 2003 sowie Ders., Im Blick des Anderen. Die deutsch-französischen Kunstbeziehungen, Berlin 2005, insbesondere S. 19–74. Zur französischen Ausstellungspolitik vgl. ferner Séguéla, Valérie, Les Exposition d’art moderne en Zone d’Occupation Française en Allemagne (1945– 1950), in: Monnier, Gérard/Vovelle, José (Hgg.), Un art sans frontières. L’internationalisation des arts en Europe 1900–1950, Paris 1994, S. 175–181.
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II. Zentrale Akteure und Ziele Zentrales Ziel dieser Kulturpolitik war letztlich die Sicherheit Frankreichs vor erneuter deutscher Aggression. Die Kulturpropaganda war darauf ausgerichtet, kulturelle Frontstellungen aufzubrechen und als Teil einer Abwehr gegen Nationalismus14 zu wirken. Den Auftrag, diese allgemeine Zielsetzung für den Musikbereich zu operationalisieren, erteilte DEP-Leiter Schmittlein einem Mitarbeiter namens René Marie Hilaire Thimonnier (1900–1989). Dieser stand bis 1950 an der Spitze eines eigenen Stabs für die Bereiche Theater und Musik: des Bureau des Spectacles et de la Musique (BSM), das bis zu 26 Mitarbeiter umfasste und seinen Sitz zunächst in Baden-Baden sowie später in Mainz hatte. Thimonnier war ein brillanter, vielseitiger Kopf, der Diplome in Philosophie, Abb. 24 Tafel mit den historischen Daten am Literatur und Musik erlangt hatte und als Brückenkopf der Behelfsbrücke am Kaisertor in mit Deutschland bestens vertraut gelten Mainz, Foto: Hans Roden, 1945 darf. Er war ab 1923 als Lehrer in den unter französischer Ägide besetzten Rheinlanden tätig gewesen. Anschließend hatte er bis 1935 im unter französischer Verwaltung stehenden Saargebiet gearbeitet. Ein Licht auf das intellektuelle Format dieser Mittlerfigur, die Militärgouverneur Pierre Koenig15 (1898–1970) 1949 rückschauend als die Seele der künstlerischen Expansion Frankreichs in Deutschland auf dem Gebiet des Theaters und der Musik bezeichnete und dessen Aufnahme in die Ehrenlegion er bewirkte,16 werfen zudem zwei weitere Aspekte: Zum einen veröffentlichte Thimonnier eine Reihe von Arbeiten zur Systematik der französischen Orthografie. Das brachte ihm zahlreiche Ehrungen ein, unter anderem
14 AOFAA, AC 2.2a, FL/HM, Note au sujet de l’action culturelle française en Allemagne, 22.10.1948, S. 8. 15 Pierre Marie Joseph François Koenig war Berufssoldat, 1944 Delegierter des französischen Nationalen Befreiungskomitees beim Oberkommando der alliierten Streitkräfte, 1945–1949 Militärgouverneur in Deutschland und Oberbefehlshaber der französischen Besatzungstruppen, 1954 und 1955 Verteidigungsminister. Vgl. Koenig, Pierre, in: Benz, Wolfgang (Hg.), Deutschland unter alliierter Besatzung 1945– 1949/55. Ein Handbuch, Berlin 1999, S. 481. 16 AOFAA, AAA 4402 personnel, Renseignements demandés par la Grande Chancellerie à l’appui de toute proposition pour la Légion d’Honneur faite par le Ministre des Affaires Etrangères, 14.1.1949, S. 2.
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seitens der Académie française17, und in den 1970er Jahren war er mit seiner Methode Thimonnier ein Hoffnungsträger für eine Reform der französischen Rechtschreibung. Zum anderen tat sich Thimonnier als Komponist hervor. Zumindest zwei seiner Werke sind im Druck erschienen: Im Jahr 1949 publizierten die Editions F. X. Le Roux in Straßburg eine „Messe brève“ in G-Dur für gemischten Chor und Orgelbegleitung, und bereits 1948 gab der Mainzer Musikverlag B. Schott’s Söhne eine dreisätzige „Sonatine d’Été“ für Klavier und Violine Thimonniers heraus.18 In einem von Schmittlein in Auftrag gegebenen Grundsatzpapier analysierte Thimonnier bereits im Juli 1945 psychologische Grundlagen, Ziele und Mittel einer französischen Musikpropaganda, die der Umerziehung der Deutschen dienen sollte.19 Die Ausgangsprämisse lautete dabei, dass Musik für die Deutschen eine herausragende Bedeutung habe. Thimonnier rekurriert unter anderem auf Kunstreligion und Geniekult des 19. Jahrhunderts und untermauert die These mit Alltagsbeobachtungen sowie dem Argumentationsfeld der Ideengeschichte und der Philosophie. Der Musiker sei in der deutschen Rezeption der wirkliche Gelehrte und der wirkliche Poet, argumentiert Thimonnier. Polemisch spitzt er diese Anschauung zu: Verglichen mit Bach, Mozart oder Beethoven ist Goethe, bei all seinem Genie, nur ein heidnischer Blinder.20 Problematisch werde der deutsche Musikenthusiasmus dadurch, dass der idealtypisch verkürzte Deutsche seine eigene Musik als jeder anderen überlegen betrachte. Damit gelangt er an den Kern seiner Argumentation: Wie könnte er da nicht überzeugt sein, einer auserwählten Rasse anzugehören?21 Thimonniers These lautet: Die Überzeugung der Deutschen, ein überlegenes Volk zu sein, gründe sich zu großem Teil auf der Gewissheit, das einzig wirklich musikalische Volk zu sein.22 Das Selbstbild musikalischer Überlegenheit – zeitgenössisch ist immer von der Weltgeltung der deutschen Musik die Rede – hat für den Kulturoffizier das Denkmuster einer allgemeinen Überlegenheit vorgeformt, es war Bedingung wie Fundament dieser Ideologie. Das Feld der Musik dränge sich, so Thimonnier, für die Zwecke der rééducation folglich geradezu auf. Denn: Wenn man die Deutschen dazu bringe, einzusehen, dass die Musik kein Monopol Deutschlands sei, würde, so die Überlegung, dadurch mit logischer Konsequenz eine der grundlegenden Säulen der rassischen und pangermanistischen Philosophie in sich zusammen stürzen.23 Hiervon ausgehend entwickelte Thimonnier ein akri17 Die Académie française zeichnete ihn 1971 für die Gesamtheit seines Werkes mit dem Prix BroquetteGonin aus. 1973 erhielt er darüber hinaus den Ordre National de Mérite. Bereits 1951 war er im Range eines Chevalier in die Légion d’Honneur aufgenommen worden. 18 Archiv B. Schott’s Söhne, Nr. 37220, vom 18.2.1948, Edition Schott Nr. 1334. 19 AOFAA, AC 528/5, Centre d’Organisation du Gouvernement Militaire en Allemagne, Division Propagande-Information, Section Théâtre, Sous-Section musicale, Projet d’organisation et de propagande, Principes d’une propagande musicale française en Allemagne occupée, René Thimonnier, Paris 3.7.1945. 20 Ebd., S. 2. Unterstreichungen, auch nachfolgend, wie im Original. 21 Ebd., S. 2. 22 Ebd., S. 7. 23 Ebd., S. 8.
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bisch ausgearbeitetes Konzept, das sich als Methodik einer musikalischen Umerziehung verstehen lässt und das auf nichts weniger abzielte, als die ästhetischen Konzeptionen eines ganzen Volkes zu verändern.24 Sollte dabei zunächst in einer ersten Phase an für die Deutschen Bekanntes angeknüpft werden, etwa mit Werken von Hector Berlioz, Georges Bizet, Charles Gounod und Arthur Honegger, so sollten in einer zweiten Phase Zuschreibungsmuster aufgebrochen werden. Der deutsche Musikhörer sollte an Werken, die er schätzt, das spezifisch Französische erkennen, an Berlioz etwa eine Klarheit des Stils, und somit in dieser zweiten Phase – man könnte von einer Art Lernziel im Umerziehungskonzept sprechen – die Fixierung auf das eigene Repertoire allmählich abbauen. Die dritte Phase war die entscheidende. Hier sollte aufklärerisch die Inanspruchnahme musikalischer Meisterwerke als Beleg für nationale Überlegenheit aus den Angeln gehoben werden. Man müsse zeigen, dass das Werk großer Musiker aus Frankreich oder Deutschland nicht das spezifische Genie einer Rasse widerspiegle, sondern dass diesem Werk eine sehr viel allgemeinere Tragweite und eine zutiefst humane Bedeutung innewohne.25 Hierbei stellte für Thimonnier selbst die von der nationalsozialistischen Kulturpolitik und namentlich Adolf Hitler (1889–1945) favorisierte Musik Richard Wagners (1813– 1883) kein grundsätzliches Problem dar. Er trennte bei der Bewertung des in Frankreich bereits seit Wagners Lebzeiten leidenschaftlich umstrittenen Werks scharf die musikalische von der philosophisch-politischen Sphäre. Wagners Gedankenwelt charakterisiert er als obskur und barbarisch. In seiner Musik jedoch sei Wagner wahrhaft Weltbürger.26 Ziel der vierten Phase wäre sodann die grundsätzliche Erweiterung des kulturellen Horizonts ohne Blickverengungen und Überlegenheitsdünkel. Wäre dies auf musikalischem Terrain erreicht, wäre dies für Thimonnier gleichbedeutend mit einer weitreichenden Veränderung deutscher Mentalität im Sinne der intendierten Abkehr von einem aggressiven Nationalismus.27
III. Relevanz der Programmatik Es drängt sich freilich die Frage auf, welche Aussagequalität und welche praktische Relevanz diesen Überlegungen zuzumessen ist. Hierzu einige Anhaltspunkte: Erstens ist in den Quellen festzustellen, dass die Formulierungen Thimonniers eine hohe Verbindlichkeit hatten. Raymond Schmittlein und die Spitzen der Besatzungsadministration beriefen sich auf diese 24 Ebd., S. 5. 25 AOFAA, AC 528/5. 26 Ebd.; hierzu vertiefend: Linsenmann, Andreas, „Ganz ohne Wagner geht die Chose nicht …“. Zum Umgang mit dem Zeichencharakter von Kunst in der reeducation, in: Frings, Andreas/Linsenmann, Andreas/ Weber, Sascha (Hgg.), Vergangenheiten auf der Spur. Indexikalische Semiotik in den historischen Kulturwissenschaften (Mainzer Historische Kulturwissenschaften, Bd. 10), Bielefeld 2012, S. 261–275. 27 AOFAA, AC 2.2a, FL/HM, Note au sujet de l’action culturelle française en Allemagne, 22.10.1948, S. 8.
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Analysen und diese Argumentationskette. Dies konkretisierte sich zweitens dahingehend, dass sich Instruktionen an die Landesgouverneure zur allgemeinen Wiederzulassung kultureller Veranstaltungen im Dezember 1945 weitgehend auf Thimonniers Ausführungen stützten.28 Drittens wies – wie eingangs zitiert – Raymond Schmittlein in seinem Arbeitsplan für die DEP für das Jahr 1946 im Bereich der Schönen Künste der Musik zusammen mit der Literatur den ersten Platz in der Umerziehungspolitik zu, was einer Forderung Thimonniers entspricht. Man könnte daher sagen, dass seine Denkschrift einen ExposéCharakter hatte und als Handlungsanleitung genommen wurde. Und drittens verdient eine vertragsähnliche Regelung zwischen der DEP und der Direction d’Information (DI) vom Januar 1946 Beachtung. In diesem Schriftstück bestätigten die Direktoren beider Behörden einen Vertrag über das Orchester des in Vorbereitung befindlichen Baden-Badener Südwestfunks (SWF). Die Direktoren verpflichteten dabei den SWF im Hinblick auf das musikalische Programm auf eine gemeinsame Politik, deren Prinzipien vom Leiter des Bureau des Spectacles et de la Musique definiert und vom Leiter der Section Radio bestätigt worden seien.29 Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass dem Thimonnier-Konzept einer Umerziehung mit musikalischen Mitteln eine hohe Relevanz zuzumessen ist. Dafür sprechen auch die Umsetzung und die Repertoirepolitik. Zum einen diente die Musikpropaganda selbstredend dazu, deutschen Konzertbesuchern Meisterwerke der französischen Schule nahezubringen. Zum anderen jedoch nahm die deutsch-österreichische Musiktradition breiten Raum ein. Sieht man sich etwa die Planung für Tourneen von Oktober 1946 bis Juli 1947 an, so finden sich – bei aller Unzulänglichkeit nationaler Kategorisierungen – unter 29 Komponistennamen zwölf, die der deutsch-österreichischen Tradition zugeordnet werden können.30 Man kann daher von einer Doppelstrategie in den BSM-Programmen sprechen: Sowohl die französische als auch die deutsch-österreichische Literatur bildeten die tragenden Säulen der Konzertreihen.31 28 Archives Nationales (AN) F 21 5130, 3A, Instructions provisoires concernant la reprise des activités artistiques autorisées par l’administrateur général adjoint pour le gouvernement militaire de la zone française d’occupation à partir du 15 Octobre, 2.12.1945. 29 AOFAA, AC 490/7, No. 1398/DGAA/DEP bzw. No. 1404/DGAA/EDU, Convention, Baden-Baden, 28.1.1946. Namentlich bezog man sich auf principes d’organisation et de propagande, was darauf schließen lässt, dass man insbesondere die Principes (wie Anm. 19) zugrunde legte. 30 Johann Sebastian Bach, Ludwig van Beethoven, Johannes Brahms, Georges Bizet, Jean-Baptiste Bréval, Frédéric Chopin, Emmanuel Chabrier, Claude Debussy, Jean Delannoy, Vincent d’Indy, Gabriel Fauré, Jean Françaix, César Franck, Christoph Willibald Gluck, Josef Haydn, Georg Friedrich Händel, Jean Hubeau, Jacques Ibert, Franz Liszt, Wolfgang Amadeus Mozart, Darius Milhaud, Françis Poulenc, Maurice Ravel, Albert Roussel, Robert Schumann, Igor Strawinsky, René Thimonnier, Antonio Vivaldi und Henryk Wieniawsky. Siehe AOFAA, AC 486/7a, Calendrier des Spectacles. Période du 1er Janvier au 15 Juillet; AOFAA, AC 486/7a, Calendrier des Spectacles. Période du 1er Octobre au 31 Décembre 1946 ; AOFAA, AC 486/7a, Prévisions pour l’année 1946–1947, Programmes musicaux. Die Dokumente beinhalten nur vereinzelt Angaben über konkrete Werke. 31 Das vermerkte anerkennend auch der Leiter der Abteilung Kunst im Staatssekretariat Kultus, Erziehung und Kunst von Württemberg-Hohenzollern in einem zusammenfassenden „Bericht über das Kultur- und Kunstleben in Südwürttemberg und Hohenzollern“, erstellt auf der Basis von Berichten aus den Städten und Kreisen. Dort heißt es im Abschnitt zur Musik: Eine grössere Anzahl hervorragender französischer
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Das hatte vor allem zwei Gründe. Erstens sah man bereits in den französischen Interpreten einen Propagandafaktor. Die Presseresonanz bietet Anhaltspunkte dafür, dass dieses Kalkül nicht ins Leere lief.32 Zweitens und vor allem jedoch entsprach es dem Konzept: Um den Gewohnheiten des deutschen Publikums entgegenzukommen, sollte in der Propaganda der deutschen Musik zunächst der wesentliche Platz überlassen werden, schreibt Thimonnier in seiner Denkschrift. Überdies deckte sich die Einbindung des deutsch-österreichischen Repertoires mit den eingangs zitierten Vorgaben Schmittleins. Das neue Ideal für die rheinische Jugend und die deutschen Konzertbesucher insgesamt sollte sich auf Meisterwerke stützen, die man von einem Ideal des Friedens, der Freiheit und des Weltbürgertums getragen sah. Diese Inhalte an Musik präzise festzumachen, ist oft nicht stichhaltig möglich. Man behalf sich mit einer zeitlichen Eingrenzung: Als positive Referenz galt vor allem die Zeitspanne von der französischen Revolution bis zum Jahr 1848, wobei implizit die vorausgehende Klassik als des Nationalen eher unverdächtig und insofern ebenfalls als akzeptabel galt.
IV. Umsetzung der musikpolitischen Pläne Wie die Quellen zeigen, wurde die Programmatik zur Blaupause für massive Propagandaanstrengungen. Diese konkretisierte sich vor allem in Tourneen, welche sowohl in größeren als auch in kleineren Städten der französischen Besatzungszone und darüber hinaus gastierten. Bis 1950 organisierte das BSM insgesamt etwa 2.500 Konzerte, an denen 33 verschiedene französische Orchester, Chöre, Kammermusikensembles, Jazz-Formationen sowie 42 Instrumental- und Vokalsolisten mitwirkten. Mit diesem teils als geradezu inflationär charakterisierten,33 ungemein breiten Angebot erreichte man insgesamt etwa zwei Millionen Konzert- und Theaterbesucher. Diese Bereiche lassen sich in den Quellen leider nicht klar trennen. Greifbar ist jedoch, dass in den Konzerten der Anteil der Deutschen weit höher war als bei französischsprachigen Theatervorstellungen.34 Künstler habe in Südwürttemberg konzertiert und in ihren Programmen stünden die deutschen Klassiker und Romantiker an erster Stelle, vor allem Bach und Beethoven. Daneben würden moderne Komponisten wie Hindemith, der sehr lange nicht gespielt werden konnte und Ausländer wie Ravel, Debussy, Strawinski u. a. in steigendem Maße berücksichtigt. Vgl. Staatsarchiv Sigmaringen, Wü 80-T1, Bericht vom 25.10.1946, gez. Rosengarten, S. 6. 32 So schrieb beispielsweise ein Rezensent der Stuttgarter Nachrichten anlässlich eines Gastspiels des Loewenguth-Quartetts im Mai 1950 im Ludwigsburger Schloss, bei dem späte Beethoven-Quartette erklangen: Gestehen wir es ehrlich ein: ein Streichquartett von solcher Vollendung haben wir heute in Deutschland kaum. Beethoven, von französischen Künstlern interpretiert, sei zum Höhepunkt eines der schönsten Kammermusikabende seit langem geworden. Siehe AOFAA, AC 534/5, Stuttgarter Nachrichten, 3.6.1950, Ein Meisterquartett, Das Loewenguth-Quartett in Ludwigsburg. 33 AOFAA, AC 62/3, Reorganisation des Services des Spectacles, Baden-Baden, 1.3.1949, S. 5. 34 AOFAA, AC 67/1, 10443/CCSG/EDU, Documentation générale concernant l’œuvre accomplie en Z.F.O. de 1945 à 1949 par la Division Education Publique, Baden-Baden, 24.6.1949.
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Bis 1947 nahmen Varietés im Tournee-Programm, das im selben Jahr auch auf große Städte der britischen und amerikanischen Zone ausgedehnt wurde, einen nicht geringen Anteil ein – vor allem Revuen, die unter Titeln wie „Cocktail du Rythme“ oder „Un peu de Paris“ leichte Unterhaltung boten. Dergleichen war beim Publikum beliebt und finanziell erfolgreich, in der Kulturbehörde allerdings umstritten. Man meinte, triviale Zerstreuung dieser Art sei dem Ansehen der Besatzungsmacht und dem französischen Prestige insgesamt abträglich.35 Es passte nicht zur erwünschten Wahrnehmung bei den deutschen Zielgruppen, denen unzweifelhafte hochkulturelle Augenhöhe signalisiert werden sollte. Nach anderthalb Jahren wurde dieser Teil des Tournee-Angebots daher auch beendet. Obwohl es zwischen Varietés und Musik stets eine strikte Trennlinie gab, kann man einige Gastspiele aus dieser Sparte der Musikrubrik zurechnen, so Tourneen mehrerer französischer Jazz-Orchester, die, wie auch Auftritte von Chanson-Stars wie Yves Montand (1921–1991) und Édith Piaf (1915–1963), auf geradezu enthusiastische Resonanz stießen. Das Publikum dränge sich förmlich zu Veranstaltungen dieser Art und bezahle, egal was man verlange, hieß es etwa in einem Bericht zu einer Tournee von Édith Piaf und der „Compagnons de la Chanson“ im Oktober 1945.36 Aber auch für klassische Musik konnte sich das Publikum begeistern. Ein besonders sprechendes Beispiel dafür, dass die französische Musikpropaganda durchaus auf Offenheit für neue geistig-ästhetische Impulse stieß und das von Thimonnier formulierte Ziel einer musikalischen Horizonterweiterung nicht gänzlichem Wunschdenken entsprang, gibt ein Bericht des Kreisdelegierten von St. Wendel.37 Dort war am 29. Januar 1946 das „Calvet-Quartett“ aufgetreten und der Kreisdelegierte berichtete hochgestimmt, dieses Ereignis habe überall in der Bevölkerung wirkliche Begeisterung hervorgerufen. Nicht nur die Ausführung sei als unvergleichlich befunden worden. Gerade die Wahl der Stücke sei außerordentlich glücklich gewesen. Die Saarländer kennen natürlich Mozart und Beethoven sehr gut, schreibt er. Wenn sie auf ein Quartett von Ravel auch zunächst zurückhaltend reagiert hätten, wie bei jedem neuen Stück, so habe das Werk sie doch schließlich erobert, und sie hätten es für eine sehr schöne Sache befunden. Viele Leute würden nun auf ihn einreden, das „Calvet-Quartett“ müsse baldmöglichst wieder in St. Wendel gastieren. Man dürste förmlich nach solcher Musik, fasst der Berichterstatter zusammen. Eine solche Resonanz war jedoch nicht die Regel, und die Reichweite der klassischen Darbietungen blieb insgesamt beschränkt. Das Rückgrat der französischen Musikpropaganda bildeten kleinere Formationen. Zwar gab es einzelne Operetten- und Opernaufführungen, etwa von Claude Debussy (1862–1918) „Pelléas et Mélisande“, und auch große Ensembles wie das Orchester des 35 AOFAA, AC 62, 1, Compte-rendu de le séance relative à l’organisation financière du Bureau du Spectacles, 1.8.1946, S. 2. 36 AOFAA, AC 62/1, No. 841/DGAA/EDU, Baden-Baden, 20.11.1945, S. 2. 37 AOFAA, AC 509/1, No. 1198/M, Gouvernement Militaire de la Sarre, Cercle de St. Wendel, Le Capitaine Simonot, Délégué du Cercle à Monsieur le Colonel, Gouverneur de la Sarre, Beaux-Arts, St. Wendel, 1.2.1946.
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Pariser Conservatoire („Cadets du Conservatoire“), die „Musique de la Garde Républicaine“ oder das „Orchestre de la Radiodiffusion“ unternahmen Tourneen in Deutschland. Auch gastierten Chöre wie der Chor des französischen Rundfunks, der „Chorale de la Cathédrale de Strasbourg“ und die „Petits Chanteurs à la Croix de Bois“, die oft unter „Pariser Sängerknaben“ firmierten. Das Gros der Konzerte bestritten indes Solisten und Kammermusikensembles. Gerade bei den kleinen Besetzungen bot man jedoch oft Formationen von internationalem Renommee auf, wie das „Pierre-Jamet-Quintett“, das „Pasquier-Quintett“ oder das „LoewenguthQuartett“. Aber auch bei den Virtuosen konnte man viele zur ersten Garde rechnen, darunter Pianisten wie Monique Haas, Monique de la Bruchollerie, Jacques Février oder Jean Doyen, Cellisten wie Paul Tortelier, Pierre Fournier und Andre Navarra, Violinisten wie Henri Merckel und Jacques Thibaud, aber auch die Sopranistin Ninon Vallin, die Harfenistin France Vernillat oder den Flötisten Jean-Pierre Rampal. Und unter den Dirigenten, die unter Vermittlung des BSM mit dem Baden-Badener „Südwestfunk-Orchester“ arbeiteten, finden sich Namen wie Hans Schmid, Günther Wand, Heinrich Holreiser, Paul Sacher, Werner Egk, Hans Rosbaud, Bertil Wezelsberger, Henri Tomasi, Ernest Bour sowie Bela von Czilery.38 Vor diesem Hintergrund darf als bemerkenswert gelten, dass der 1998 mit dem Süddeutschen Rundfunk (SDR) zum Südwest-Rundfunk (SWR) fusionierte, 1946 als Einrichtung der französischen Besatzungsmacht gegründete SWF in der Pflege französischer Musik seither eine bedeutende Rolle einnimmt. Grundlegend war dabei der Leiter der Musikredaktion Heinrich Strobel (1898–1970), der als Mittlerfigur die Rezeption französischer Musik im Westdeutschland der Nachkriegsjahrzehnte nachhaltig vorantrieb.39 Unter anderem förderte er Pierre Boulez und gewann mit Ernest Bour einen Franzosen für die Leitung des SWF-Sinfonieorchesters, dessen Nachfolge-Orchester immer wieder von französischen Dirigenten geführt wurden, zuletzt 1999 bis 2011 von Sylvain Cambreling sowie von 2011 bis 2016 von François-Xavier Roth. Ergänzt wurde die werbende, als positive Propaganda apostrophierte Seite der Musikpolitik indes auch durch eine repressive Komponente, eine negative Propaganda. Diese beruhte darauf, dass Musikverlage, die Musikausbildung und Konzerte grundsätzlich der Kontrolle und Zensur durch die Besatzungsmacht unterlagen. Im Juli 1946 stellte man zufrieden fest, das BSM kontrolliere praktisch alle deutschen künstlerischen Darbietungen.40 Leitlinie war dabei das Verbot von Musik, die als durch den national38 Ministère des Affaires Etrangères (MAE), Archives diplomatiques, RC 82, No. 9677/CC/INF/SPECT/RT/ GM, Rapport mensuel pour la période du 20 septembre au 20 octobre 1948, 27.10.1948, S. 1; AOFAA, AC, 521/4, No. 7317/DGAA/EDU/BA/BSM/NG, Activité du Bureau des Spectacles de 1945 à 1948, Baden- Baden, 13.1.1948, S. 5 f. 39 Friedrich, Sabine, Rundfunk und Besatzungsmacht. Organisation, Programm und Hörer des Südwestfunks 1945 bis 1949 (Südwestfunk-Schriftenreihe: Rundfunkgeschichte, Bd. 1), Baden-Baden 1991, S. 144 f. 40 AOFAA, 62/1, Objet: Transfert des recettes afférentes aux tournées artistiques, Baden-Baden 10.7.1946, S. 1; siehe ebenso AOFAA, AC 528/5, No. 3767/DGAA/EDU/BA/BSM/NG, Note sur la
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sozialistischen Geist inspiriert angesehen werden konnte. Indiziert war ferner das im engeren und weiteren Sinne als nationalsozialistisch zu bezeichnende Liedgut sowie die paraphrasierende Anspielung darauf. Zudem wurden die Nationalhymne verboten sowie Gesänge, die aus Sicht der Besatzungsmacht geeignet sein konnten, einen Geist der Revanche anzustacheln.41 Wer erwerbsmäßig musizieren wollte, musste eine Lizenz des BSM vorweisen können. Dieser Kontrollzugriff war durchaus effizient, aber offensichtlich nicht lückenlos. So machte ein Musikunternehmer, der händeringend auf die Verlängerung seiner Lizenz durch das BSM wartete, im Februar 1948 seinem Unmut Luft, indem er spottete: Sämtliche Dilettanten und Nebenberufler, die kaum ein Instrument halten können[,] spielen alle ohne Berechtigung des Gouvernement Militaire.42 Engmaschig kontrollieren konnten die Franzosen auch, was Musikverlage druckten – die zentrale Stellschraube war dabei neben der Zensur die Zuteilung der äußerst knappen Ressource Papier. Fast hätte Rheinhessen angesichts dieser Restriktionen das traditionsreiche Mainzer Musikverlagshaus B. Schott’s Söhne verloren, das immer wieder neidvoll in die amerikanische Zone auf der anderen Rheinseite blickte. Zudem unterlagen sämtliche musikausübenden Vereinigungen, vom dörflichen Musikund Gesangverein bis zum Landes-Sängerbund, der Kontrolle durch die Besatzungsmacht. Wie bei allen Vereinigungen griff, wenn sie nach Beginn der Besatzungszeit ihre Tätigkeit wiederaufnehmen wollten, ein Zwang zur Wiederzulassung durch die Militärregierung. Dies wurde in einem Verfahren geregelt, das von den zuständigen Besatzungsbehörden zumeist akribisch gehandhabt wurde und sich über Monate hinziehen konnte. Noch im März 1950 bestand beispielsweise der Délégué du Cercle in Worms auf die strikte Einhaltung des die Vereine betreffenden Genehmigungsprozederes.43 Entscheidend waren dabei der Text der Satzung sowie die politische Integrität der Mitglieder. Insbesondere von den vorgesehenen Vorstandsmitgliedern wurde erwartet, dass sie keinesfalls Mitglied der Nationalsozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands gewesen waren. Bei der Genehmigung standen aber auch die Vereinsnamen auf dem Prüfstand: Hinter einer Bezeichnung wie „Viktoria“ vermuteten die Franzosen militärische Gesinnung. Ein Verein dieses Namens etwa musste daher vorübergehend in „Harmonie“ umbenannt werden. Aus denselben Gründen war in den Nachkriegsjahren häufig das Mitführen von Fahnen bei Vereinsanlässen untersagt, wie es übrigens auch Überlegungen gab, militärisch mission, les moyens d’action et les réalisations du Bureau des Spectacles et de la Musique, Baden- Baden, 13.11.1946, S. 1. 41 AN F 21 5130, 3A, Instructions provisoires concernant la reprise des activités artistiques autorisées par l’administrateur général adjoint pour le gouvernement militaire de la zone française d’occupation à partir du 15 Octobre, 2.12.1945, S. 2. 42 AOFAA, AC 501/3, Brief Konzert-Theater-Orchester-Büro Triberg an BSM-Chef Thimonnier, Triberg, 17.2.1948. 43 StA Worms, Abt. 6/Nr15: Der Oberbürgermeister, Kulturamt, Mr. L’Administrateur Lorent, Délégué du Commissaire pour le Land Rhénanie-Palatinat dans le Cercle de Worms, Worms, 21.3.1950.
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anmutende Bezeichnungen wie „Generalmusikdirektor“ zu verbieten. So heißt es in einem Protokoll der Arbeitsgruppe des Alliierten Kontrollrats für den Bereich Theater und Musik, die Titel „Generalintendant“ und „Generaldirektor“ verleihen ihrem Träger eine Autorität, die vom Militarismus geprägt wurde. Die Kunst sei in Deutschland seit Jahren in den Dienst politischer Ideen und des Prestiges des Staates genommen worden. Die Künstlervereinigungen und alle Berufsverbände müssten aufgefordert werden, ihr Augenmerk auf diese falsche Autorität zu legen, die diesen Titeln zugrunde liege und andere Titel vorschlagen.44 Auch wenn ein Verein schließlich das Placet der Militärregierung hatte, bedeutete dies noch lange nicht, dass die Bevölkerung musischen Neigungen wieder gesellig nachgehen konnte. Nicht nur für jedes Konzert, mitunter sogar für jede einzelne Chorprobe musste man eine Genehmigung der Militärregierung einholen, eine Restriktion, die teils noch 1949, wenige Monate vor dem seit 1948 absehbaren Auslaufen der unmittelbaren Besatzungsverantwortung, und selbst für Kirchenchöre geradezu pedantisch gehandhabt wurde.
V. Resonanz und Reichweite Damit rückt die Frage ins Blickfeld, welche Reichweite diese Musikpolitik hatte, auf welche Resonanz sie stieß und welche Wirkungen sich ausmachen lassen. Eine gewisse Aussagequalität haben diesbezüglich die Zahlen: Bei den Musikveranstaltungen lag der Anteil der Deutschen bei 92 Prozent und damit wesentlich höher als bei anderen französischen Kulturveranstaltungen.45 Dabei gab es selbst bei klassischen Angeboten teils regelrecht überlaufene Konzerte und begeisterte Reaktionen. Es gab aber auch Konzerte, zu denen nur eine Handvoll Zuhörer kam. Abhängig war dies von diversen Faktoren: von konkurrierenden Angeboten, von Werbung, aber auch von den Rahmenbedingungen. In einem bitterkalten Winter war wohl auch ein beheizter Saal ein Faktor, der den Besuch eines hoch subventionierten Konzertes attraktiv erscheinen lassen konnte. Zu den Bestimmungsfaktoren gehörte ferner das Ansehen der insgesamt zwiespältig wahrgenommenen französischen Besatzungsmacht. Involvierte Beobachter nahmen deutlich war, wie empfindlich die Besucherzahlen in Krisen- und Konfliktsituationen zurückgingen.46
44 AOFAA, AC 16.3b, Compte-Rendu de la 3ème réunion du groupe du travail „Théâtre et Musique“, 11.3.1947. 45 AOFAA, AC 67/1, 10443/CCSG/EDU, Documentation générale concernant l’œuvre accomplie en Z.F.O. de 1945 à 1949 par la Division Education Publique, Baden-Baden, 24.6.1949. 46 Linsenmann, Musik, S. 245 f.
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Im Vergleich zur triumphalistisch angelegten französischen Kulturpolitik während der Besatzung in den Rheinlanden von 1918 bis 1929/30, die in Akten symbolisch aufgeladener Ablehnung teils geradezu vernichtend boykottiert wurde,47 oder zu großdeutschen musikalischen Charme-Offensiven im besetzten Frankreich nach 1940 war die Resonanz jedoch erheblich positiver. Insgesamt gelang den Franzosen ein geschmeidiges Angebot, das deutschen Hörgewohnheiten bewusst weit entgegenkam. Zu verstehen war dies auch als Signal einer Augenhöhe auf kulturellem Terrain, die Besatzer und Besetzte politisch und im Alltag dezidiert nicht hatten. Auch lassen Indikatoren wie die Presseberichterstattung erkennen, dass sich hinsichtlich des zentralen Zieles, chauvinistisch verfestigte Deutungsmuster aufzubrechen, durchaus etwas bewegte. Insgesamt jedoch blieb die Reichweite begrenzt; dies auch aufgrund der Selbstbeschränkung, die populäre und folkloristische Elemente ausschloss; dies aber nicht zuletzt, weil die Kulturpolitik auf Dauer in einem nicht auflösbaren Spannungsverhältnis zur allgemeinen Lebenssituation zu stehen schien: Ein Überfluss an kulturellen Angeboten einerseits sowie ein eklatanter Mangel an Brot und Kartoffeln andererseits schienen vielen Zeitgenossen doch, je länger umso mehr, als befremdlicher Widerspruch.48
VI. Einordnungen und Bewertungen Wie lässt sich die französische Musikpropaganda im Nachkriegsdeutschland mit beson derer Schwerpunktsetzung im Rheinland nun einordnen und bewerten? Zweifellos war sie getragen von einem traditionellen französischen Sendungsbewusstsein. Bereits im Grundlagendokument wirft Thimonnier in die Waagschale, Frankreich müsse seiner zivilisatorischen Mission treu bleiben.49 Überdies sind auch handfeste Interessen nicht zu verkennen, etwa das Streben nach verstärkter Verbreitung des französischen Repertoires in Deutschland sowie nach musikwirtschaftlichem Nutzen. Darüber hinaus lassen sich jedoch eine Reihe von Funktionen und Intentionen erkennen. Zu nennen ist hier zuvorderst das Motiv der Prestigesteigerung, das als ein zentraler Beweggrund des französischen kulturellen Engagements überhaupt identifiziert 47 Kleiner, Stephanie, Klänge von Macht und Ohnmacht. Musikpolitik und die Produktion von Hegemonie während der Rheinlandbesatzung 1918 bis 1930, in: Zalfen, Sarah/Müller, Sven Oliver (Hgg.), Besatzungsmacht Musik. Zur Musik- und Emotionengeschichte im Zeitalter der Weltkriege (1914–1949) (Histoire, Bd. 30), Bielefeld 2012, S. 51–83. 48 Zur Problematik des Auseinanderklaffens zwischen unzureichender Versorgungslage und Alltagsnöten einerseits sowie einem üppigen kulturellen Angebot andererseits siehe auch Wolfrum, Edgar, „Zeit der schönen Not“. Kultur als Umerziehungsmaßnahme und Trostspenderin, in: Wolfrum, Edgar/Fäßler, Peter/ Grohnert, Reinhard (Hgg.), Krisenjahre und Aufbruchszeit. Alltag und Politik im französisch besetzten Baden 1945–1949 (Nationalsozialismus und Nachkriegszeit in Südwestdeutschland, Bd. 3), München 1996, S. 203–212. 49 Principes (wie Anm. 19), S. 8.
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werden kann. Kulturveranstaltungen wurden demnach als Instrument betrachtet, mit dem das kulturelle und mittelbar auch allgemeine Ansehen Frankreichs gestärkt werden konnte. Ziel war es, wie in Anlehnung an den Kultursoziologen Pierre Bourdieu formuliert wurde, „symbolisches Kapital“ zu generieren und zu mehren – einen Apparat von Zuschreibungen zu beeinflussen, der mit Begriffen wie Prestige, Renommee und Reputation umschrieben werden kann.50 Wesentlich war aber auch eine Legitimationsfunktion: Das kulturelle Engagement gehörte zu dem komplexen Apparat an expliziten und impliziten Begründungen, mit denen Frankreichs Rolle als Besatzungsmacht gerechtfertigt und gestützt wurde – sowohl gegenüber der deutschen Bevölkerung als auch gegenüber den anderen Besatzungsmächten und in innerfranzösischen Diskursen. Ferner steht außer Frage, dass Kulturveranstaltungen stets auch der Repräsentation dienen – im Sinne der Darstellung, Inszenierung und Aurasteigerung. Gerade Musik eignet sich aufgrund ihres suggestiven Potenzials sowie ihrer häufigen relativen Deutungsoffenheit hierfür besonders, und Musik wurde von der Besatzungsmacht Frankreich auch hierfür genutzt. Und nicht zuletzt kann auch von einer Einflussfunktion gesprochen werden. Kulturelle Strahlkraft wurde als ein Mittel verstanden, Einfluss in einem ganz allgemeinpolitischen Sinne zu erlangen beziehungsweise auszubauen. Durch Kultur erworbenes „symbolisches Kapital“ sollte in politisches Kapital überführt werden und gewissermaßen zur Akkumulation politischer Bonität beitragen. Erkennbar wird diese Intention etwa, wenn im Mai 1949 postuliert wird, durch die Kulturpropaganda sei in der französischen Besatzungszone eine neue französische Einflusszone entstanden.51 Die Kulturpropaganda lediglich unter diesen Gesichtspunkten erklären zu wollen, griffe allerdings zu kurz. Gewiss sind diese Punkte zu gewichten; gewiss deuten sich auch Motive an, wie ein Ringen um Anerkennung, latente Minderwertigkeitskomplexe und der Versuch, französischer Musik auf dem deutschen Musikmarkt mehr Gewicht zu verschaffen; und zweifellos lässt sich die Kulturpropaganda nicht aus dem Kontext einer Besatzungspolitik herauslösen, die von zuweilen harschem Auftreten und einer harten Entnahmepolitik geprägt war. Aber bei der Bewertung der französischen Nachkriegs-Kulturpolitik muss wesentlich auch der Umerziehungs-Impetus gesehen werden – das Bestreben, enge, selbstbezogene kulturelle Muster zu dekonstruieren sowie Angebote für eine Horizonterweiterung und eine emotionale Annäherung an Frankreich zu machen. Bei der Musik lässt sich dies klar als Ausgangspunkt und zentrales, dezidiert politisches Movens belegen.
50 Zur Bedeutung des Prestiges in der internationalen Politik siehe u. a. Gilpin, Robert, War and Change in World Politics, Cambridge 1981, S. 30 f. 51 AN F 21 5130, 3 L, Note No. 2331/CC/INF/SPECT/RT/GM, Note à l’attention de MM. les membres de la Commission interministerielle, Baden-Baden, 27.5.1949, S. 2.
Musik und Migration im Ruhrgebiet Rolf Wörsdörfer
I. Vorüberlegungen Mein Beitrag versteht sich als Anregung zu einer musikbezogenen Geschichte von Migra tion im Ruhrgebiet: Es geht mir dabei um Lieder und Musik von Migranten und nicht so sehr um Texte über Migranten. Ein polnisches Marienlied oder ein türkischer HipHop-Song interessieren mich also mehr als die Liedtexte von Reinhard Mey über die „Gastarbeiter“ am Hauptbahnhof Hamm oder von Franz-Josef Degenhardt über Tonio Schiavo, den italienischen Bauarbeiter in Herne.1 Der Text umfasst zwei Hauptteile: Im ersten, der Bergarbeitermigration seit den 1870er Jahren gewidmeten Teil (Abschnitte 2 und 3) kann ich mich auf eigene Forschungsergebnisse, auf die Fachliteratur zur ruhrpolnischen Migration und auf die Auswertung publizierter Quellen verlassen, im Teil zur Gastarbeitermigration seit 1961 (Abschnitte 4 und 5) greife ich auf sozial- und kulturwissenschaftliche Recherchen anderer Forscher zurück. Schließlich sollen im Fazit die Möglichkeiten und Grenzen des diachronen Vergleichs ausgelotet werden. Der zu befragende soziale Ort ist eingangs die Bergarbeitersiedlung des Kaiserreichs, eine Siedlung, für die das Verlangen nach Musik vielfach belegt ist. Gefragt wird nach dem spezifischen Anteil der Migranten am Musikleben der Siedlungen, nach ihren Chören, Kapellen und Musikvereinen. Im Anschluss daran wende ich mich den musikalischen Bezügen der Gastarbeitermigration zu, wobei die Wanderungsbewegungen aus der Türkei im Vordergrund stehen sollen. Unter dem chronologischen Gesichtspunkt ist der Beitrag zur Gegenwart hin relativ offen, auch wenn überwiegend Entwicklungen berührt werden, die nicht über das Jahr 2000 hinausreichen.2 1
2
Vgl. Barth, Dorothee/Stroh, Wolfgang Martin, Migration im Gedächtnis der Musik, in: IMIS-Beiträge 51 (2017), S. 153–172; Gratzer, Wolfgang/Grosch, Nils, Musik und Migration (Musik und Migration, Bd. 1), Münster/New York 2018. Für die aufmerksame Lektüre des Manuskripts danke ich Boris Belge (Basel) und Leonie Stoll (Frankfurt am Main) sehr herzlich. Kořalka, Jiří/Hoffmann, Johannes (Hg.), Tschechen im Rheinland und in Westfalen 1890–1918. Quellen aus deutschen, tschechischen und österreichischen Archiven und Zeitschriften (Studien der Forschungsstelle Ostmitteleuropa an der Universität Dortmund, Bd. 44), Wiesbaden 2012; Wörsdörfer, Rolf, Vom ‚Westfälischen Slowenen‘ zum ‚Gastarbeiter‘. Slowenische Deutschland-Migrationen im 19. und 20. Jahrhundert (Studien zur Historischen Migrationsforschung, Bd. 33), Paderborn 2017; Greve, Martin, Die Musik der imaginären Türkei. Musik und Musikleben im Kontext der Migration aus der Türkei in Deutschland, Stuttgart/Weimar 2003; Uysal, Sabri, Zum Musikleben der Türken in Nordrhein-Westfalen, Gräfelfing 2001.
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II. Alltag, Sonntag, Zahltag – die Slowenen als Beispiel Für die beiden behandelten Epochen gilt zunächst einmal die Feststellung Martin Greves, dass die Musik „Teil des Alltags“3 war. Eine wichtige Gemeinsamkeit der Migrationsschübe ist im ländlichen Hintergrund vieler Migrantinnen und Migranten zu sehen, und zwar selbst dann, wenn manche Arbeitswanderer im Herkunftsland bereits im Bergbau gearbeitet oder zeitweise in einer größeren Stadt gelebt hatten. Insbesondere die Bergarbeiter wurden vielfach als junge Leute rekrutiert; sie brachten ihre altersgemäßen Bedürfnisse mit ins Ruhrrevier. Ihre Herkunftsregionen sind schnell genannt: Es handelt sich um den slowenischsprachigen Raum, die böhmischen Länder und die preußischen Ostprovinzen. In der Erinnerungsliteratur trifft man bisweilen auf Hinweise zur Bedeutung von Musik im Leben der Siedlungen, die die Grubengesellschaften für zugezogene Bergleute errichteten: Musik war um diese Zeit Trumpf, heißt es in den Memoiren eines Bergarbeiters, in allen Straßen der Siedlung hörte man aus Wohnungen und Lauben die Wiener Harmonika. […] In allen Tanzlokalen spielte der Kumpel zum Tanz auf, mit der Besetzung: Bandonium, Wiener Harmonika, Geigen, Mandolinen und Gitarren.4 Wenn bislang vom Alltag der Migranten die Rede war, dann ist dies nicht ganz wörtlich zu nehmen, denn es gab durchaus Tage, an denen die Musik eine größere Rolle spielte. Fast in jedem Koloniehaus, schreibt ein Hamborner Lehrer, ist sonntags Musik. Der eine spielt Flöte, der andere Geige, der dritte Baß. Die jungen Österreicher blasen so gerne auf der Muschel. Die Slovenen haben wunderbare, vielstimmige Chöre. […] Hier und da ziehen johlende Männer vorbei. Ihr Singen verrät den Schnaps und das Bier.5 Der andere Tag war der Zahltag. Am lustigsten, so erinnert sich ein tschechischer Arbeitsmigrant, war es an den Tagen der Lohnzahlung. Da ging es in allen Gasthäusern und Ausschänken lebhaft zu. Es traten verschiedene Sänger, Musiker, Tiroler Jodler, Zauberkünstler, Fakire, ja sogar exotische Tänzerinnen von pazifischen Inseln mit seltener Schädelform auf […].6 Aus der Vielfalt der Darbietungen und Interpreten sollen für den Anfang die slowenischen Chöre vorgestellt werden.7 Deren Bedeutung ist in den Quellen in mehreren sprichwörtlichen Varianten überliefert. Das slowenische Lied besaß einen hohen 3 Greve, Musik, S. 96. 4 Franz, Fritz, Ich war ein Bergmannskind. Eine Zeitgeschichte aus dem Kohlenpott, Duisburg-Neumühl 1981, s.p. 5 Kautz, Heinrich, Um die Seele des Industriekindes, Donauwörth 1918, S. 182 f., hier zitiert nach Erhard Lucas, Zwei Formen von Radikalismus in der deutschen Arbeiterbewegung, Frankfurt am Main 1976, S. 96. 6 1908 März–Juli. Der tschechische Arbeitsmigrant František Tomsa beschreibt seine Erlebnisse von dem Arbeitsaufenthalt in Mühlheim an der Ruhr und in Moers. Manuskriptensammlung im Archiv des Nationalen Technischen Museums Prag, Nr. 153, April 1940, abgedruckt in Kořalka/Hoffmann, Tschechen, S. 103–111, hier S. 105. 7 Der Abschnitt über die slowenischen Chöre ist angelehnt an Wörsdörfer, ‚Westfälischen Slowenen‘, S. 213– 216.
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Wiedererkennungswert und wurde offenbar auch von Außenstehenden gern gehört. Im weltlichen Liedgut ist – in den Worten Zmaga Kumers – viel „von Treue, Treulosigkeit, Abschied und Liebesschmerzen die Rede, von der Schönheit der Geliebten […], vom Fensterln (Kiltgang) und verschiedenen Ereignissen dabei“.8 Manchmal klingt das Thema „Migration“ an. So wird der Mutter vorgeworfen, für das Unglück der Tochter verantwortlich zu sein, weil sie das Mädchen in ein fernes Land verheiratet hat. Andere Lieder handeln von der Sehnsucht nach dem fernen Geliebten. Der Chorgesang wird in der Literatur immer wieder mit den slowenischen Migranten in Verbindung gebracht. Slowenen waren laut Wilhelm Brepohl „Menschen von ländlichpathetischer Natur, musikliebend, sangesfreudig und von rührender Heimatliebe“.9 Brepohl geht so weit zu behaupten, unter Migranten hätten sich „noch Volkslieder erhalten, die in der Heimat um 1930 so gut wie vergessen“10 waren. Wird die Migranten-Gemeinschaft bisweilen zu einer Art volkskundlichem Museum stilisiert, so war die Realität doch eine ganz andere. Vieles deutet darauf hin, dass das Leben der Bergleute insgesamt zyklische Form annahm, diktiert nicht nur von der Schicht in der Grube, sondern auch vom Wechsel der Arbeits- und Feiertage, von Familienfesten und vom im Voraus herbeigesehnten Zahltag. Musik und Gesang konnten helfen, diesen Zyklus zu ordnen. Sie versprachen und lieferten Entspannung, auf Festen waren sie unverzichtbar, die Musik war ständige Begleiterin auf der Kirmes und in der Kneipe. Obwohl partiell durchaus national konnotiert, verbanden Musik und Gesang Menschen unterschiedlicher Herkunft. Einen tiefen Einschnitt bedeutete in diesem Kontext die Ende Juni 1914 mit den Schüssen von Sarajevo aufgetretene Krise, die zum Ausbruch des Großen Krieges führte. Während Bergleute aus den Ententestaaten von einem auf den anderen Tag als „feindliche Ausländer“ galten, waren die Tschechen und Slowenen „österreichische Waffenbrüder“. Wenn sie einrückten, wurden die Rekruten offiziell verabschiedet. In Hamborn marschierten die Einberufenen seit Ende Juli 1914 täglich zum Bahnhof, begleitet von Bandoniumspielern oder ganzen Musikkapellen.11 Bei Kriegsende wiederum verlangte der neue jugoslawische Staat auch nach neuen Symbolen und nach einer neuen Hymne.12 Der Slowenenkaplan Theodor Tensundern (1890–1972) zitiert aus dem Protokollbuch des Gladbecker St.-Barbara-Vereins einige 8 Kumer, Zmaga, Das geistige Bild der Slowenen in ihrem Volkslied, in: Bernik, France/Lauer, Reinhard (Hgg.), Die Grundlagen der slowenischen Kultur (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen N. F., Bd. 6), Berlin/New York 2010, S. 237–243, hier S. 238. 9 Brepohl, Wilhelm, Industrievolk im Wandel von der agraren zur industriellen Daseinsform dargestellt am Ruhrgebiet, Tübingen 1957, S. 153. 10 Brepohl, Wilhelm, Der Aufbau des Ruhrvolkes im Zuge der Ost-West-Wanderung. Beiträge zur deutschen Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts (Soziale Forschung und Praxis, Bd. 7), Recklinghausen 1948, S. 118. 11 Wörsdörfer, ‚Westfälischen Slowenen‘, S. 180. 12 Vgl. etwa das Themenheft Sapper, Manfred/Weichsel, Volker/Breuer, Margrit (Hgg.): Staatssymbolik und Geschichtskultur, Lindau 2003 (zgl. Osteuropa 53 (2003) 7).
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Passagen über die Wirkung, die das Ende der Habsburgermonarchie hinterließ: Am 20. Oktober 1918 war die Sitzung des Vereins laut Protokoll noch mit dem Absingen der österreichischen Kaiserhymne beendet worden. Knapp einen Monat später vermerkte der Protokollant, man habe anstelle der Kaiserhymne den „Engel des Herrn“ („Angelus“) gesungen. Österreich-Ungarn war zerfallen; der slowenische Raum gehörte in weiten Teilen dem neuen Staat der Slowenen, Kroaten und Serben (SHS) an, der wenig später mit Serbien zu einem gemeinsamen südslawischen Königreich verschmolz. In beiden Fällen, beim Einrücken in die Streitkräfte des österreichischen Kaisers und beim Grenz- und Systemwechsel am Ende des Krieges, kamen die Protagonisten nicht ohne Musik oder Gesang aus. Die neue Hymne war noch nicht bekannt. Also musste ein Kirchenlied die alte, nicht mehr gültige ersetzen. Musik und Gesang standen plötzlich nicht mehr für den Alltag, sondern für den Umbruch.13
III. Zwischen Selbstinszenierung und Repression Dies führt mich zu einem Kernproblem von Musik in der Diaspora, das Martin Greve wie folgt ausbuchstabiert: „Die Migration in eine kulturell vom Ausgangsort sehr verschiedene Umgebung nimmt weiten Teilen der Alltagskultur ihre Selbstverständlichkeit. Einfache Dinge des Lebens, Gewohnheiten und Gebräuche […], müssen mit einem Mal bewusst ausgewählt und gegen eine mehr oder weniger verständnislose Umgebung aktiv durchgesetzt werden.“14 Es entsteht eine Art Zwang zur bewussten Inszenierung, bei der die symbolische Repräsentation überwiegt. Das Musikleben wird von sozialen Identitäten geprägt, oft auch von Identitätskombinationen. Deren Spuren finden sich in den Namen der Musikvereine ebenso wie im Repertoire der Chöre, Kapellen und Combos. Schon 1898 war in Essen-Borbeck der erste slowenische gemischte Gesangverein des Ruhrgebiets entstanden, unter dem programmatischen Namen „Ilirija“, der auf die Einheit der Südslawen zwischen Donau und Adria anspielt. „Zvon“ (Glocke) nannte sich die in Hamborn 1925 eingerichtete Gesangsabteilung, die bei ihren Auftritten neben den slowenischen auch einige deutsche Lieder vortrug.15 Aus Homberg-Hochheide stammt die Satzung des jugoslawischen Gesangsvereins „Bruderliebe“.16 Der wahrscheinlich auf sozialdemokratische Ursprünge zurückgehende Name war auch bei österreichischen und tschechischen Vereinen beliebt. Die Namen ande13 Wörsdörfer, ‚Westfälischen Slowenen‘, S. 182 f. 14 Greve, Musik, S. 199 15 Rafael (Ljubljana) [Organ des Slowenischen St. Raphaelvereins zum Schutze katholischer Auswanderer], Jg. 1931, Heft 9; siehe Wörsdörfer, ‚Westfälischen Slowenen‘, S. 215. 16 Jugoslawischer National u. U. V. Bruderliebe Hochheide an Polizeiverwaltung Homberg, 10.7.1935, StA Duisburg, Bestand 22 Rheinhausen, Nr. 1973 Männergesangvereine 1913–1935, s.p.
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rer Vereine verweisen auf das von den Musikern bevorzugte Instrument. Die tschechischen nannten sich nach der „Lyra“ (Leier), oder sie adaptierten den Namen des böhmischen Pädagogen, Philosophen und Weltreformers Jan Amos Komensky (1592–1670), hierzulande vor allem in der lateinischen Variante als Comenius bekannt. Die Vereine der Polen wiederum hießen „Lyra“ und „Harfa“. Schließlich gab es Fälle, in denen der polnische Exilkomponist Frederik (Frédéric) Chopin (1810–1849) Namenspatron des Vereins war.17 Die meisten Leiter der slowenischen Chöre waren gesangsbegeisterte Laien, oft Bergleute. Der Chor in Gladbeck stand unter der Leitung eines professionellen Musikers. Ivan Sredenschek, von dort gebürtig, hatte das Konservatorium in München besucht und war Organist, Chorleiter und Dirigent.18
Abb. 25 „Pevski Odsek Slavec“, Gesangsgruppe des Jugoslawischen-Arbeiter-Unterstützungs-Vereins Gladbeck, undatiert
Unter den Tschechen gab es einen ausgebildeten Musiker namens Jardo Němec, dessen Fähigkeiten von der deutschen Umgebung bereitwillig anerkannt wurden. Man übertrug ihm 1931 die Leitung der 26 Mann umfassenden Werkkapelle der Zeche König Ludwig 17 Stefanski, Valentina-Maria, Zum Prozess der Emanzipation und Integration von Außenseitern. Polnische Arbeitsmigranten im Ruhrgebiet, Dortmund 1984, S. 285. 18 Wörsdörfer, ‚Westfälischen Slowenen‘, S. 215.
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in Recklinghausen-Suderwich. Gleichzeitig erteilte der rührige Dirigent Geigen- und Trompetenunterricht beim Städtischen Konservatorium.19 Von den zahlreichen polnischen Gesangsvereinen wiederum heißt es, sie seien anfänglich von deutschen Dirigenten geleitet worden, an deren Stelle später autodidaktische polnische Musiker getreten seien.20 Chorleiter und Dirigenten waren Brückenbauer der Bikulturalität; Musik und Gesang waren keineswegs immer national festgelegt und eingeengt. Von den Zahlen her betrachtet, war das Musikleben der Ruhrpolen besonders beeindruckend: Im Jahr 1905 zählte man im Revier bereits 40 Gesangvereine mit 400 Mitgliedern, von denen sich etliche im „Verband polnischer Gesangvereine in Westfalen und im Rheinland“ zusammenschlossen, der seinerseits einem in Poznań (Posen) ansässigen Dachverband angehörte.21 Die Tschechen wiederum waren für ihre Kapellen bekannt: Mit Hilfe der Zeitschriftenberichte von Auslandstschechen lassen sich für 15 Städte, Industriedörfer und Arbeitersiedlungen „selbstständige Musikkapellen“ belegen.22 In der Folge des „spatial turns“ tauchte in den Geisteswissenschaften die Überlegung auf, ob Kunst und somit auch Musik nicht einem soziopolitischen Raum entspringe oder – in unserem Falle – über die Migration in einen solchen gelange.23 Es tat sich sofort ein Spannungsfeld zwischen dem Moment der Multiethnizität und Elementen der nationalen Mobilisierung auf, wie sie von den Migrantenvereinen auch repräsentiert werden konnten. Das Ruhrgebiet als montanindustrielle Region „autoritärer Prägung“, wie sich Stefan Goch ausdrückt, war ein Ort, an dem die Obrigkeit zeitweise mit repressiven Maßnahmen gegen Musik und Gesang vorging.24 So findet die Unterdrückung von Liedern, Instrumenten und Vereinen mit hohem nationalem Symbolgehalt ihre Fortsetzung im Verlauf der Besetzung des Herkunftslandes durch die Wehrmacht, also 1938 für die Tschechoslowakei, 1939 für Polen und 1941 für Jugoslawien. Erstmals war schon um 1890 die Verbreitung des polnischen Marienliedes „Sardeczna matko“ („Herzlich geliebte Mutter Gottes“) im Ruhrgebiet von den Behörden unterbunden worden. Das ist umso mehr von Interesse, als auch die Verwaltung des Generalgouvernements 1939 gegen das Lied einschritt.25 Der Symbolwert der sloweni19 Hoffmann, Johannes, Einleitung, in: Kořalka/Hoffmann (Hgg.), Tschechen, S. 7–10, hier S. 9. 20 Peters-Schildgen, Susanne, „Schmelztiegel“ Ruhrgebiet. Die Geschichte der Zuwanderung am Beispiel Herne bis 1945, Essen 1997, S. 126. 21 Murzynowska, Krystyna, Die polnischen Erwerbsauswanderer im Ruhrgebiet während der Jahre 1880– 1914, Dortmund 1979, S. 133. 22 Kořalka, Jiří/Kořalkova, Kveta, Tschechen in Rheinland und in Westfalen, in: Kořalka/Hoffmann (Hgg.), Tschechen, S. 11–32, hier S. 31. 23 Santi, Matej, Zwischen drei Kulturen. Musik und Nationalitätsbildung in Triest (Musikkontext, Bd. 9), Wien 2015, S. 11. 24 Goch, Stefan, Eine Region im Kampf mit dem Strukturwandel. Bewältigung von Strukturwandel und Strukturpolitik im Ruhrgebiet (Schriften des Instituts für Stadtgeschichte Gelsenkirchen, Beiträge, Bd. 10), Essen 2002. 25 Kleßmann, Christoph, Polnische Bergarbeiter im Ruhrgebiet 1870–1945: Soziale Integration und nationale Subkultur einer Minderheit in der deutschen Industriegesellschaft, Göttingen 1978, S. 91.
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schen Tamburica, die als Instrument im Ruhrgebiet bis hin zur Gründung eigener Tamburica-Vereine Anklang fand, reichte immerhin so weit, dass die deutschen Besatzer in Slowenien selbst 1943 ein Verbot des Tamburica-Spielens erließen.26 Zur Selbstinszenierung als Gruppe zählte die Teilnahme katholischer Polen und Slowenen an den Fronleichnamsprozessionen im Revier. Schon im Mai 1933 berichtete eine slowenische Migranten-Zeitschrift, das Auftreten der Landsleute mit ihren Fahnen und ihrem muttersprachlichen Gesang sei verboten worden.27 Ende Juli 1933 richtete der Slowenenkaplan Theodor Tensundern ein Schreiben an Franz von Papen (1879–1969), in dem er auf die religiöse Betreuung der Slowenen in ihrer Muttersprache hinwies und nach entsprechenden Instruktionen verlangte. Dass gegen eine slowenische Seelsorge keine Bedenken bestünden, erfuhr Tensundern dann erst im Februar 1934 aus einem Rundschreiben an das Oberpräsidium der Rheinprovinz und an das Regierungspräsidium in Düsseldorf. In Hamborn liefen noch 1938 am Ende der Fronleichnamsprozession die polnische Musikkapelle, der Block der polnischen Katholiken gefolgt von dem der Slowenen.28 Von den Leitern der Chöre und Gesangvereine litten gleichwohl etliche unter besonderen Nachstellungen durch die Nationalsozialisten. Im Falle der Slowenen kam es um 1933 zu Hausdurchsuchungen und Festnahmen; die Polen ihrerseits verzeichneten bis September 1933 für die Provinzen Rheinland und Westfalen etwa 40 Fälle von „Verhaftungen, Versammlungsverboten, Durchsuchungen, Arbeitsentlassungen usf.“29. Das polnische Vereinswesen, dessen Aktivisten bei Kriegsbeginn oft inhaftiert und in die Konzentrationslager eingeliefert wurden, war von der Verfolgung durch das NS-Regime am stärksten betroffen. So wurden im Ruhrgebiet 249 Mitglieder des Polenbundes in Polizeigewahrsam genommen; im Raum Herne und Wanne-Eickel wird namentlich Johann Orpel genannt, Gründer und langjähriger Leiter eines polnischen Gesangvereins und zugleich Vorsitzender des Ortsvereins der polnischen Gewerkschaft Związek Zawodowy Polsky (ZZP).30 Insgesamt ist die musikalische Betätigung der Bergarbeitermigration trotz des vielgestaltigen Gesamtbilds noch wenig differenziert, was mit den begrenzten materiellen Möglichkeiten der Migranten-Gemeinschaften zusammenhängt. Einmal abgesehen von der grundsätzlichen Unterscheidung zwischen weltlicher Musik und Kirchenmusik lassen sich weder eine Koexistenz oder Konkurrenz unterschiedlicher Genres noch ein zeitbedingter Wandel der migrantischen Musikszene feststellen. 26 Wörsdörfer, ‚Westfälischen Slowenen‘, S. 215. 27 Matviejczyk, Witold, Zwischen kirchlicher Integration und gesellschaftlicher Isolation. Polnische Katholiken im Ruhrgebiet von 1871 bis 1914, in: Dahlmann, Dittmar/Kotowski, Albert S./Karpus, Zbigniew (Hgg.), Schimanski, Kuzorra und andere. Polnische Einwanderer im Ruhrgebiet zwischen der Reichsgründung und dem Zweiten Weltkrieg (Wir in Nordrhein-Westfalen. Unsere gesammelten Werke, Bd. 2), Essen 2005, S. 11–46, hier S. 14; Wörsdörfer, ‚Westfälischen Slowenen‘, S. 196. 28 Rückblick auf die Fronleichnamsprozession in der Pfarre St. Johann am Dreifaltigkeitssonntag, den 12. Juni 1938, in: PfA St. Johann, Duisburg-Hamborn. 29 Kleßmann, Bergarbeiter, S. 178. 30 Peters-Schildgen, „Schmelztiegel“, S. 291 f.; Blazek, Matthias, Polacy w Westfalii – Polen in Westfalen. Polnische Migration ins Ruhrgebiet zur Zeit des Deutschen Kaiserreichs, Stuttgart 2021, S. 144.
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Abb. 26 Auftritt der „Druga generacija“ („Zweite Generation“) in St. Elisabeth in Berlin, undatiert
IV. V om „Gastarbeiter“-Lied zur Großveranstaltung: Die Migranten aus der Türkei Vieles änderte sich im Verlauf des zweiten großen Migrationsschubs, der das Ruhrgebiet seit Anfang der 1960er Jahre erreichte. Das Anwerbeabkommen mit der Türkei von 1961 gab der Schwerindustrie und dem Bergbau die Möglichkeit, ein neues Arbeitskräftereservoir zu erschließen. Zwischen 1960 und 1995 reisten etwa 3,3 Millionen Menschen aus der Türkei in die Bundesrepublik ein, von denen allerdings zwei Drittel wieder zurückkehrten.31 Zu den Gemeinsamkeiten in der sozialen Lage dieser Arbeitsmigranten zählte, dass die meisten anfänglich noch in Arbeiterwohnheimen und Barackenlagern lebten. Der Musikkonsum war erschwert, weil nur wenige Arbeiter über eigene Radios, Tonbandgeräte oder Kassettenrecorder verfügten.32 Am Anfang der musikalischen Betätigung migrierter Türkinnen und Türken standen die gurbetçi-Lieder, eine Anzahl von Liedern über Heimweh und Auswanderung. Meist aus Ostanatolien stammende Sänger – es waren noch fast ausschließlich Männer – setzten sich mit Gesichtspunkten des Lebens in Deutschland auseinander. Die Umstände 31 Greve, Musik, S. 34. 32 Ebd., S. 37.
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der Anwerbung oder das Heimweh in der Fremde zählten zu den wiederkehrenden Themen; beliebt waren aber auch Beschreibungen der Deutschen und ihrer Gewohnheiten. Ein Lied, das in den 1970er und 1980er Jahren in Deutschland von beinahe jedem türkischen Chor gesungen wurde, hieß „Deutschland, bittere Heimat“.33 Im Verlauf der 1970er Jahre gewann die arabesk genannte Popmusik mit ihren Streichern und Schlagzeugen an Einfluss. Das arabesk war eine „Mischung aus anatolischer Volksmusik, westlichem und urbanem türkischem Schlager sowie Arrangements libanesischer Unterhaltungsmusik“, es entstand im Gefolge binnentürkischer Migrationsbewegungen. Texte und Filmstoffe handelten von den „Schmerzen unglücklicher Liebe, von Heimweh, von der Kälte der Großstädte, von Schicksalsergebenheit und Verzweiflung.“34 Wir sind also nicht gar so weit entfernt von den Themen der slowenischen Chöre im Kaiserreich. Allerdings erlaubten neue Medien der türkischen Musik eine ganz andere Verbreitung; ein in die Millionen gehendes Publikum entstand. Das Aufkommen preiswerter Kassettenrecorder machte die kommerziell produzierte arabesk-Musik zum weitaus populärsten Musikstil, und dies quer durch die Generationen und sozialen Schichten. Für das Jahr 2000 berechnet Greve eine Zahl von 5–6 Millionen nach Deutschland importierter Kassetten mit türkischer Musik, die auf privaten Türkeireisen individuell eingekauften Kassetten nicht mitgerechnet.35 Eng verknüpft war all dies mit dem Heimat-Diskurs: Auf Konzertplakaten dominierte das Wort gurbet für „Fremde“ mit seinen verschiedenen Abwandlungen. Das arabesk war die in Noten und Klänge transponierte Türkei-Nostalgie: Einem als „monoton und sinnlos“36 empfundenen Alltag in Deutschland stellte man eine imaginierte Zukunft in der Heimat gegenüber, die durch den Kauf oder Bau von Wohnungen und Häusern am Herkunftsort vorbereitet werden sollte.37 Die arabesk-Musik förderte die Abschirmung türkischer Migranten-Communities gegenüber der Gesellschaft des Ruhrgebiets. Alles war auf die Türkei bezogen: Angefangen beim Kauf der Instrumente, die nicht aus Deutschland, ja nicht einmal von einem dort ansässigen türkischen Zwischenhändler stammen durften. Auf musikalischer Ebene fand eine Auseinandersetzung mit der Bundesrepublik kaum noch statt. Sieht man von einzelnen politischen Liedern der 1980er Jahre ab, dann tauchte die Kritik an den dortigen Lebensverhältnissen als Thema erst wieder in den Rap-Songs nach 1990 auf.38 33 Merkt, Irmgard/Uysal, Sabri, Deutschland, ein saurer Apfel. Von den Liedern türkischer Migranten, in: Heister, Hanns-Werner (Hg.), Musik/Revolution. Festschrift für Georg Knepler zum 90. Geburtstag, Bd. 3, Hamburg 1997, S. 231–247. 34 Greve, Musik, S. 47 f. 35 Greve, Musik, S. 82. 36 Ebd., S. 46. 37 Uysal, Musikleben, S. 12; nennt die Texte „oberflächlich und banal“, der Gesang werde „mit eher weinerlicher Stimme vorgetragen.“ 38 Greve, Musik, S. 49.
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Die Frühzeit der Gastarbeitermigration ist zugleich die Zeit, in der „private Liveaufführungen“, heimische Sender und die Programme der ARD für die ausländischen Arbeitnehmer noch am ehesten die musikalischen Bedürfnisse zu befriedigen wussten. Radiosendungen sollten helfen, die Bindung an die heimische Kultur aufrechtzuerhalten und damit die Rückkehrwilligkeit und -fähigkeit der Migranten zu stärken. Einzelne Rundfunkredakteure sahen sich zudem in der Lage, die eigenen Programme zu politisieren und damit auch explizit politische Musikrichtungen zu privilegieren.39 Unter jugoslawischen Arbeitern und zunehmend auch unter dem deutschen Publikum feierten sogenannte Ensembles ihre größten Erfolge, darunter die Avsenik-Brüder aus dem slowenischen Begunje, die als „Oberkrainer“ sogar an die Einbindung ihrer Herkunftsregion in den österreichischen Kulturkreis erinnerten.40
Abb. 27 Auftritt der Avsenik-Brüder in München, 18.5.1974
Die Auftritte der Ensembles wurden in der Hochphase der Gastarbeitermigration vom jugoslawischen Staat oder einzelnen Teilrepubliken finanziert. Als Transmissionsriemen fungierte vielfach der „Sozialistische Bund der Werktätigen“, eine Vorfeldorganisation der Kommunisten, der neben der Partei auch die Gewerkschaften, Frauen und Jugendverbände angehörten. Dieser Sozialistische Bund übernahm Patenschaften für die Vereine in Westeuorpa, zunächst für die sogenannten Clubs der Jugoslawen, später auch für die Neugründungen slowenischer oder kroatischer Vereine.41 39 Sala, Roberto, Fremde Worte. Medien für ‚Gastarbeiter‘ in der Bundesrepublik Deutschland im Spannungsfeld von Außen- und Sozialpolitik (Studien zur Historischen Migrationsforschung, Bd. 22), Paderborn 2011, S. 274. 40 Marti, Urs, 50 Jahre Avsenik-Musik, Begunje 2003. 41 Wörsdörfer, ‚Westfälischen Slowenen‘, S. 386–388.
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145 Abb. 28 Beratungsstelle für türkische Gastarbeiter in der Schule Lange Kamp, Duisburg-Beeck, 5.12.1972
Eine neue Entwicklungsstufe war bei den Migranten aus der Türkei erreicht, als es mit dem Anwerbestopp 1973 zu einer Intensivierung des Familiennachzugs kam. Im Ruhrrevier gingen zuvor getrennt lebende Kernfamilien auf die Suche nach adäquaten Formen der Geselligkeit und Unterhaltung. Eine von Martin Greve erarbeitete Tabelle zeigt, wie sehr der musikalische Wandel auch die Folge von Veränderungen im sozialen Gefüge der Migranten-Communities war. Die Schichtung der musikalischen Stilrichtungen hing also auch von unterschiedlichen Migrationserfahrungen ab: Dies gilt für türkische Arbeitsmigranten ebenso wie für politische Flüchtlinge im Gefolge des Militärputsches, für Mitglieder und Sympathisanten verschiedener linker Gruppierungen, für Kurden und Aleviten.42 In den 1970er Jahren verließen junge Familien die Wohnheime und bezogen Privatwohnungen in den Arbeitervierteln. Ein Teil der türkischen und kurdischen Migranten zog in dieselben Siedlungen, in denen 50–60 Jahre zuvor polnische, tschechische oder slowenische Arbeiter gelebt hatten. Manche Arbeiter machten sich selbstständig, hinzu kamen kleine Geschäftsleute aus der Türkei, so dass ein rasch expandierendes türkisches Geschäftsleben entstand. Parallel dazu wuchs das Interesse an musikalischen und folklorischen Darbietungen: Eine 1975 in Bochum erschienene Dokumentation des türkischen Kulturlebens in der Bundesrepublik führt sieben Volkstanzgruppen und zwölf politische Sänger oder Gruppen an, darunter waren einige Saz-Spieler und kurdische Gruppen, zudem diverse prominente Liedermacher und Interpretinnen wie Cem Karaca (1945–2004), Zülfü Livaneli (geb. 1946) und Melike Demirağ (geb. 1956).43
42 Greve, Musik, S. 23. 43 Museum Bochum (Hg.), Dokumentation „Gastarbeiterkultur“ Nr. 1: Musik/Tanz/Theater, Bochum 1975.
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Unterdessen bildete sich ein türkischer Freizeitmarkt mit sogenannten Gazinos und Tavernas heraus. In den Gazinos wurde zumeist spät in der Nacht und überwiegend vor männlichem Publikum eine zutiefst heterogene Mischung türkischer Kunst-, Unterhaltungs- und Volksmusik dargeboten. Die Tavernas wiederum waren türkische Musikrestaurants, die ihre Ensembles oft nur für die erste Zeit nach der Neueröffnung engagierten. Später wurden sie durch kostengünstigere Sänger ersetzt, die sich selbst mit Keyboards oder E-Gitarre begleiteten, die Stimme mit viel Hall unterlegt. Gazinos und Tavernas hatten vor allem mit zwei Widrigkeiten zu kämpfen: Im Sommer, wenn sich die meisten Türken auf die Heimreise machten, und während des islamischen Fastenmonats Ramadan waren sie kaum besucht; das gesamte türkische Musikleben kam weitgehend zum Erliegen.44 Große Konzerte, die in Festhallen oder anderen Gebäuden mit ausgedehnten Sälen stattfanden, kennzeichneten eine neue Situation. Die Veranstaltungen wurden in der Regel von Istanbul aus organisiert. Die Interpreten, zumeist Stars aus der Unterhaltungs-, Volks- und Kunstmusik, wurden eingeflogen, während die Begleitbands improvisiert aus den Hochzeits- oder Gazinoensembles zusammengestellt wurden. Für die Auftritte gab es eine zentrale Tourneeleitung, mit der örtliche Interessenten in Verbindung treten konnten. Anders als bei den Jugoslawen, die bei der Vorbereitung großer Konzerte mit deutschen Institutionen zusammenarbeiteten, blieben die Großereignisse im türkischen Falle ganz in der Hand des Istanbuler Konzertmanagements, das vielfach als „mafios, geldgierig und gefährlich“ beschrieben wurde.45 Doch in den 1990er Jahren nahm das Interesse an den Großveranstaltungen schon wieder ab. Menschen aus der Türkei wurden inzwischen über das Kabel- oder Satellitenfernsehen regelmäßig mit heimatlicher Musik versorgt. Außerdem spaltete sich das Musikinteresse erstmals entlang der Generationen. Hatte es bis dahin kaum Unterschiede bei den musikalischen Vorlieben jugendlicher und erwachsener Türken gegeben, so trat mit der sogenannten pop-müzik eine neue musikalische Jugendkultur auf. In den deutschen Großstädten entstanden Diskotheken, die sich von der Aufmachung und Werbung her deutlich gegenüber den traditionellen Gazinos und Tavernas abgrenzten.46
44 Greve, Musik, S. 121–130. 45 Greve, Musik, S. 133. 46 Ebd., S. 138–148.
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V. O rganisationsformen des musikalischen Lebens im Ruhrrevier: Schwerpunkt Duisburg Wie eingangs bereits erwähnt, gibt es eine interessante Parallele zwischen der Migration aus der Habsburgermonarchie im Kaiserreich und der Zuwanderung aus der Türkei seit etwa 1961. Sie betrifft den städtischen Raum von Duisburg, wo die türkische Bevölkerung hochgradig konzentriert im Norden der Stadt lebt, insbesondere in den früheren Stadtteilen der 1929 eingemeindeten Industriestadt Hamborn auf dem rechten sowie in einigen Quartieren auf dem linken Rheinufer. Hier wohnte Ende der 1990er Jahre bereits knapp die Hälfte aller türkischen Einwohner der Stadt. Diese Konzentration ging mit einer „signifikante[n] ethnische[n] Segregation einher“47, wie es 1993 im Sozialbericht der Stadt hieß. Der Duisburger Norden war einer jener industriellen Schwerpunkte der alten Bundesrepublik, an denen türkische Arbeiter frei nach dem bekannten Buch von Günther Wallraf „ganz unten“ begannen. So weit sie nicht in die Türkei zurückkehrten, waren sie später in hohem Maße mit den Folgen des wirtschaftlichen Strukturwandels konfrontiert. Dieser vernichtete im Jahrzehnt zwischen 1988 und 1998 allein in Duisburg 90.000 Arbeitsplätze.48 Vermittelt über nach Deutschland emigrierte türkische Musiker, die der politischen Linken nahestanden, kam es vor allem nach dem Militärputsch von 1980 zu einer regen deutsch-türkischen Integration von Teilen des Musiklebens. Einer der wichtigsten Schauplätze war das Internationale Zentrum in Duisburg, wo sich mit den Gruppen „Tamam“ und „Ensemble Oriental“ auch erste deutsch-türkische Formationen zusammenfanden. Eine Duisburger Neugründung war die gemischte Gruppe „AFIR“ – die Abkürzung steht für „Anatolische Folklore im Ruhrpott“.49 Türkische Musik tritt trotzdem vor allem als „kommerzialisierte Alltagskultur“ auf, vielfach mit Querbezügen zu einem außerordentlich differenziert entwickelten Vereinswesen. Die Vereine sind Träger von Konstruktionsverfahren und Repräsentationen kultureller Identität; bei allen regionalen und politischen Unterschieden ähneln sie sich im Aufbau und in der Arbeitsweise. Manche Vereine bieten Volkstanz-Kurse und Unterrichtsstunden im beliebtesten türkischen Instrument an, der saz. In größeren Abständen veranstalten sie konzertartige Vereinsabende. An die Situation bei den Ruhrpolen erinnert das Bestreben, Vereine der Arbeitsmigranten in Dachverbänden zu organisieren, die Anschluss an das Vereinswesen des Herkunftslands suchen.50 Sozialprojekte wie das „Internationale Jugend- und Kulturzentrum Kiebitz“ sind ebenfalls um Musik bemüht. Um das Jahr 2000 fanden in Duisburg monatlich rund 30 türkische Hochzeiten statt, von denen etliche in einem der etwa zehn Hochzeitssalons gefeiert 47 Altena, Heinz/Kantel, Heinz-Dieter, Sozialbericht der Stadt Duisburg, Bd. 2: Zwischenbericht, Duisburg 1993, S. 48; zit. n. Greve, Musik, S. 175. 48 Greve, Musik, S. 175 f. 49 Greve, Musik, S. 69 f. 50 Ebd., S. 100.
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wurden. Daneben spielt man in Tavernas, Gazinos, Musikrestaurants und auf kommerziellen Musikveranstaltungen auf. Allein in Duisburg bestanden zeitweise zwischen zehn und 15 Gazinos, ehe in den 1990er Jahren der Niedergang dieser Einrichtungen einsetzte. Das Ruhrgebiet insgesamt war ein Zentrum der türkischen und kurdischen Kassettenproduktion. Tonstudios bestanden in Dinslaken, Wesel, Duisburg-Marxloh, Mülheim und Dortmund. Ein gut sortierter Musikhandel etablierte sich in Duisburg-Homberg, auf dem linken Rheinufer. Traditionelle türkische Kunstmusik wurde in einigen wenigen Restaurants und auf einem Mitte der 1990er Jahre regelmäßig zwischen Duisburg und Essen verkehrenden Fahrgastschiff dargeboten. Der Unterhaltung und Zerstreuung dienende Schiffstouren mit Musik oder Gastronomie gab es schon zur Zeit der Bergarbeitermigration, wo sie allerdings an besondere Anlässe geknüpft waren und keine regelmäßige Einrichtung wurden. Belegt ist ein Tagesausflug tschechischer Arbeitervereine, die mit einem Dampfschiff unter ständiger Musikbegleitung von Moers nach Düsseldorf reisten, wo sie im Volkshaus einkehrten. Polnische Arbeiterfamilien aus Herne unternahmen ähnliche Ausflüge mit bis zu 400 Teilnehmern auf dem Rhein-Herne-Kanal.51
Abb. 29 Straßenszene am JugendstilKiosk auf dem Hamborner Altmarkt, Foto: Rolf Wörsdörfer, 2018
51 1911 Juni 4, Moers, Sonntagsausflug von Mitgliedern der tschechischen Vereine aus Moers nach Düsseldorf, in: Cesky Vystěhovalec, Prag, Jg. 7, Nr. 17, 24.6.1911, S. 6, abgedruckt in Kořalka/Hoffmann (Hgg.), Tschechen, S. 230 f.; Peters-Schildgen, Susanne, Das Polnische Vereinswesen in der Kaiserzeit und in der Weimarer Republik. Ein Vergleich, in: Dahlmann/Kotowski/Karpus (Hgg.), Schimanski, S. 51–72, hier S. 70.
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VI. Fazit und Vergleich Repräsentiert werden können beide Abschnitte der Migration durch den JugendstilKiosk am Hamborner Altmarkt, der zur Zeit der massenhaften Bergarbeitermigration in einem von Polen, Tschechen und Slowenen geprägten Stadtteil entstand und der seit einiger Zeit mit einem Döner-Imbiss auf den starken türkischen Bevölkerungsanteil im heutigen Duisburger Norden verweist. Zu den Hauptunterschieden zwischen der Musik der Bergarbeiter bis zum Zweiten Weltkrieg und derjenigen der „Gastarbeiter“ zählen die Wege der Verbreitung und der Grad an Kommerzialisierung von Musik. Wo die Kapellen, Chöre und Combos ihre Zuhörerschaft im Wesentlichen unter Bergleuten fanden, richtete sich die Musik der Gastarbeiter-Ära schon bald an ein tendenziell eher anonymes Großstadtpublikum. Zwar waren die türkischen Hochzeitsfeiern der eigentliche Kern halb-öffentlicher musikalischer Betätigung. Parallel dazu entwickelte sich ein schnelllebiger Sektor aus Musiketablissements aller Art, Gazinos, Tavernas, Musik- und Kassettenläden. Die Funktion des Vereinswesens erinnert bei den Migranten aus der Türkei in vielerlei Hinsicht noch an ähnliche Zusammenhänge in der Zeit des Kaiserreichs. Aber die Beziehung zwischen Musikern, Chormitgliedern und Publikum war in einer Zeit ohne Tonträger deutlich enger. Das musikalische Engagement der Bergleute verblieb im Rahmen einer halb-ländlichen Face-to-Face-Gesellschaft, die nur zu besonderen Anlässen, etwa den Gesangsfesten, über den Rahmen einer Siedlung oder Pfarrei hinauswies. Deutsche Gäste und Zuhörer waren entweder Ehrenmitglieder des jeweiligen Vereins oder sie stammten aus der unmittelbaren Nachbarschaft in der Siedlung. Den Musizierenden mangelte es in der Regel an Professionalität; es fehlte auch die Rückbindung der Musiker an eine wie auch immer ausgeprägte Musikszene im Herkunftsland. Das gilt womöglich noch für Auftritte vor vereinzelten Hochzeitsgesellschaften der frühen Gastarbeiterzeit. Der Bruch tritt mit dem Anwerbestopp und dem einsetzenden Nachzug von Partnern und Kindern ein, dem ein Trend zur Privatwohnung und zur Familiengründung folgte.52 Mit dem Beginn der Kassettenproduktion, dem Kabel- und Satellitenfernsehen konnte erstmals ein breiteres Publikum erreicht werden. Parallel dazu und zum Teil abhängig davon änderte sich der Musikgeschmack. Zeitweise diente der Musik- und Filmkonsum eher der Abschottung von der Gesellschaft insgesamt, als dass er zur Auseinandersetzung mit ihr beigetragen hätte. Türkische Musik- und Folkloregruppen haben ihr Hauptpublikum unter den Migranten selbst, finden aber über Kulturzentren, Volkshochschulen und andere städtische Einrichtungen zu deutschsprachigen Zuhörern und Zuschauern. Auch weist eine nicht mehr aus der Jugendmusikkultur wegzudenkende Stilrichtung wie der Hip-Hop viele Protagonisten mit türkischem Hintergrund auf. 52 Vgl. den exemplarischen Fall der slowenischen ‚Gastarbeiter‘ in einer bayerischen Industriestadt in Wörsdörfer, ‚Westfälischen Slowenen‘, S. 375–379.
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Rolf Wörsdörfer
Gesang und Musik der Migranten sind also zunächst vor allem an Landsleute und Nachbarn in der Bergarbeitersiedlung gerichtet, sie fördern aber auch das gesellige Beisammensein mit Angehörigen anderer nationaler und sozialer Gruppen. In Zeiten verstärkter Politisierung von Migranten kam es schließlich zum multinationalen Austausch in den verschiedenen Kulturzentren. Letztlich war gerade die Musik aus der Türkei auf dem besten Wege, über die Migranten-Community hinaus ein interessiertes Publikum zu finden. Entwicklungen, die außerhalb unseres zeitlichen Rahmens liegen, verstellen diesen Weg, indem sie Hindernisse anhäufen. Eine musikbezogene Migrationsgeschichte muss auch daran arbeiten, solche Hürden wieder abzuräumen. Einen Beitrag sui generis leistet womöglich schon ein bekannter deutscher Rockmusiker, Herbert Grönemeyer (geb. 1956) aus Bochum, der in seinem jüngsten Album erstmals mit einem türkischen Hip-Hop-Sänger auftritt und damit seine Verbundenheit zur größten Migrantengruppe nicht nur im Ruhrgebiet demonstriert.
Kulturträger
Krefelder Musiktheater von den Anfängen bis 1921
Die Gründung eines rheinischen Dreispartenhauses im Spannungsfeld von Kultur, Wirtschaft und Politik Britta Marzi
I. Einleitung: Eine „Theaterehe“ mit langer Vorgeschichte Als am 19. April 1950 die Städte Krefeld und Mönchengladbach den „Ehevertrag“ für einen gemeinsamen Theaterbetrieb unterzeichneten, ahnte wohl niemand der Beteiligten, dass diese „Ehe“ einmal die am längsten währende Theaterverbindung Deutschlands sein würde – doch sie ist es bis heute. Zunächst auf zwei Jahre zur Probe vereinbart und von den Bühnenschaffenden skeptisch als „Sparmodell“ betrachtet,1 sicherte die Vereinigung der beiden Bühnen das, was in Jahrzehnten mit leeren kommunalen Kassen nicht mehr selbstverständlich war: am Niederrhein die drei Bühnensparten Musiktheater, Schauspiel und Tanz aufrechtzuerhalten. Aus den einstigen „Vereinigten Städtischen Bühnen Krefeld und Mönchengladbach“ ist 2011 die gemeinnützige GmbH „Theater Krefeld und Mönchengladbach“ geworden.2 Und das Publikum aus den beiden Großstädten, aber auch den umliegenden Gemeinden besucht weiterhin Opern und Operetten, Sprechtheaterstücke und Ballett. Doch wo liegen die Ursprünge des Dreispartenhauses für zwei Städte? Das beleuchtet dieser Beitrag für die Krefelder Seite mit Schwerpunkt auf dem Musiktheater. Er geht in eine Zeit zurück, in welcher der Theaterbetrieb noch nicht kommunal, sondern privatwirtschaftlich organisiert war. Schlüsselmoment der Krefelder Theatergeschichte war die Gründung einer Theater-Aktiengesellschaft im Jahr 1884, welche die Bühne zunächst trug. Erst 1921 wurde das Krefelder Theater vollständig zu einem städtischen Betrieb.3
1 Bernau, Friederike, Haben die was miteinander? 50 Jahre Theaterehe Krefeld – Mönchengladbach, in: Die Heimat 71 (2000), S. 13. 2 Vgl. Elles, Christoph, Gesellschaftsvertrag. Theater-GmbH am Niederrhein, in: Westdeutsche Zeitung, 23.12.2010, abgerufen unter: https://www.wz.de/kultur/gesellschaftsvertrag-theater-gmbh-am-niederrhein_aid-31201217 (abgerufen am 12.8.2021). 3 Der Beitrag beruht auf meiner Dissertation, die 2017 unter dem Titel „Theater im Westen – die Krefelder Bühne in Stadt, Region und Reich (1884–1944). Rahmen, Akteure, Programm und Räume des Theaters in der Provinz“ als Band 27 in der Reihe „Studien zur Geschichte und Kultur Nordwesteuropas“ des Waxmann-Verlags erschienen ist.
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Britta Marzi
II. Krefelder (Musik-)Theater vor 1884 In der niederrheinischen Textilstadt Krefeld entfaltete sich das Theaterleben spät, erst Ende des 18. Jahrhunderts.4 Zuvor waren Schaustellbetriebe mit unterhaltenden Darbietungen wie tanzenden Hunden und balancierenden Artisten durch die Stadt gezogen. Um 1770 kamen die ersten Wanderbühnen nach Krefeld. Im Jahr 1776 trat die Doblersche Schauspieltruppe, eine Art Familienunternehmen, in der Stadt am Niederrhein auf. Sie zeigte überwiegend Schauspiel, aber auch Operetten und Ballett. Die Waesersche Wandertruppe, die 1779 in Krefeld Halt machte, präsentierte dem Publikum neben Sprechtheater heitere Opern und Operetten. In den 1790er Jahren zeigte die Truppe von Marianne Böhm (geb. ca. 1750, gest. nach 1808) verschiedene Mozart-Opern, und das Krefelder Publikum war begeistert.5 Das erste Krefelder Theatergebäude errichtete der Baumeister Michael Leydel (1749– 1782) in den 1770er Jahren auf der Lutherischen Kirchstraße. Krefeld war damit eine der wenigen Städte im Rheinland, die vor 1800 ein ständiges Theater besaßen. Ab 1794 spielten die Künstlerinnen und Künstler im Hippschen Haus gegenüber dem Rathaus. In diesen Jahren nutzten Wandertruppen während ihrer Gastspiele in Düsseldorf die spielfreien Zeiten, um in Krefeld aufzutreten, und zeigten Schauspiele und Operetten.6 Das war bequem, erwies sich aber im 19. Jahrhundert für die Entwicklung einer eigenständigen Krefelder Bühne „als verhängnisvoll“.7 Ohnehin war Krefeld in dieser Zeit nicht für seine Bühne, sondern vor allem als Musikstadt bekannt. Zahlreiche Vereine, Orchester und Privathaushalte pflegten die Musik. Ab der Mitte des Jahrhunderts entwickelte sich die Kapelle des Direktors August Viereck zunächst zur „Crefelder Capelle“, bis sie im Ersten Weltkrieg zum Städtischen Orchester wurde. Die „Crefelder Capelle“ war das einzige Berufsorchester am Niederrhein und spielte bis in die Niederlande hinein.8 Im Jahr 1825 baute der Weinhändler Michael Rump (gest. 1852) an der späteren Rheinstraße, die damals noch Uerdinger Landstraße hieß, auf eigene Kosten ein Theater, zunächst eher eine „Bretterbude“, wohl mit Zeltdach. 4
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Ursula Broicher führt dies in ihrer Darstellung über Krefelder Kultur und Geistesleben zwischen 1600 und 1900 darauf zurück, dass die mennonitische Bevölkerung den Künsten distanziert gegenüberstand. Im katholischen Uerdingen (das 1929 mit Krefeld vereinigt wurde) lassen sich hingegen Spuren geistlichen Volkstheaters bis ins 17. Jahrhundert zurückverfolgen. Vgl. Broicher, Ursula, Kultur und Geistesleben, in: Feinendegen, Reinhard/Vogt, Hans (Hgg.), Kirchen-, Kultur-, Baugeschichte (1600–1900) (Krefeld – Die Geschichte der Stadt, Bd. 4), Krefeld 2003, S. 435–532, hier S. 461. Vgl. Broicher, Kultur, S. 461–465, 487 f. Beispielsweise 1788 die Dietrichsche Schauspielgesellschaft, ebd., S. 466. Vgl. zu diesem Absatz ebd., S. 465–466, 488. Vgl. Broicher, Kultur, S. 489 f.; Zart, Theo, Die Geschichte des Krefelder Orchesters, des Konzert- und Chorwesens sowie der Musikschulen von 1870–1945, in: Klusen, Ernst/Stoffels, Hermann/Zart, Theo (Hgg.), Das Musikleben der Stadt Krefeld 1780–1945, Bd. 2 (Beiträge zur rheinischen Musikgeschichte, Bd. 124), Köln 1980, S. 5–18, 15.
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Abb. 30 Rheinstraße mit Stadttheater, Postkarte, 28.7.1910
Dass Privatleute, meist Gastwirte, in den Provinzstädten die Theater bauten und unterhielten, war für diese Zeit typisch. Michael Rump bot Theatervorstellungen, Konzerte und Tanzveranstaltungen. Weiterhin kamen die Künstlerinnen und Künstler aus der Nachbarstadt. Der Düsseldorfer Theaterunternehmer Joseph Derossi (1768–1841) brachte ab Juni 1825 Werke von Mozart (1756–1791) und Carl Maria von Weber (1786–1826) auf die Krefelder Bühne. Nach der Umwandlung in einen Steinbau 1828 stellte Rump das Gebäude in den 1830er Jahren dem nunmehrigen Düsseldorfer Theaterleiter Karl Leberecht Immermann (1796–1840) für Inszenierungen seiner sogenannten Musterbühne zur Verfügung. Darunter waren auch Opern. 1837 präsentierte Rump wiederum ein neues Theatergebäude, das nun rund 800 Personen fasste und winterfest war. Der Theaterbetrieb fand jedoch unregelmäßig statt, der Gastronom bestritt ihn weiterhin mit Gastspielen aus Düsseldorf – 1839 zeigte Joseph Derossi wieder ein Repertoire aus Schauspiel und Oper – und engagierte daneben Unterhaltungskünstler. Angesichts der beschwerlichen Anreise mit Pferdefuhrwerken und Rheinfähre hatte die Düsseldorfer Truppe in Krefeld nur wenig Probenzeit zur Verfügung, so dass sich Derossis Stellvertreter 1841 beim Publikum für eine katastrophale „Fidelio“-Aufführung entschuldigte.9 Die theaterbegeisterten Krefelderinnen und Krefelder lebten ihr Interesse derweil auch bei Laienaufführungen in Vereinen und Liebhabertheatern aus. Erste Initiativen zur Gründung von Theatervereinen bildeten sich. Trotzdem stabilisierte sich das Krefelder 9 Vgl. Broicher, Kultur, S. 509–517.
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Bühnenleben nicht: Theaterdirektoren kamen und gingen, mal brachten sie Schauspiel und Musiktheater auf die Bühne, mal verzichteten sie auf die Oper. Das Gebäude wechselte nach Michael Rumps Tod im Jahre 1852 mehrfach den Besitzer.10 Nach dem Ringtheaterbrand in Wien mit 380 Toten schlossen die städtischen Behörden Rumps Krefelder Theaterbau am 15. Dezember 1881 wegen mangelhafter Brandschutzeinrichtungen.11 Erst 1886 gelang die Wiedereröffnung. Das Theater bestand in seinen Grundformen bis zu seiner kriegsbedingten Zerstörung im Juni 1943.
III. Die Gründung der Aktiengesellschaft „Crefelder Stadt-Theater“ (1884) Im 19. Jahrhundert war es nichts Ungewöhnliches, eine Aktiengesellschaft zu gründen, um ein kulturelles Projekt zu verwirklichen. Die Krefelderinnen und Krefelder hatten damit schon Erfahrung, hatten sie doch beispielsweise auch den Bau der Stadthalle mithilfe einer Aktiengesellschaft finanziert.12 Eine Gruppe wohlhabender Bürger ergriff 1884 die Initiative, das brachliegende Krefelder Theaterleben in Form einer Aktiengesellschaft auf solide Füße zu stellen. Die Gründer wie auch die Anteilseigner stammten aus der Unternehmerschaft, einige gehörten freien Berufen an.13 Unter ihnen finden sich Angehörige bekannter Krefelder Honoratiorenfamilien wie Seyffardt, Oetker und Deuß. Großbürgerliche Familien bestimmten das gesellschaftliche und politische Leben der Stadt bis 1914, unter ihnen waren viele Seidenfabrikanten und Großkaufleute.14 Bei der Gründung der Stadttheater-AG verteilten sich 800 Anteilsscheine mit einem Gesamtvolumen von 240.000 Mark auf 225 Personen, von denen nur 16 weiblich waren, und diese Aktionärinnen waren sämtlich verwitwet. Auch einige Unternehmen hielten Anteilsscheine.15 Von den 18 Krefelderinnen und Krefeldern mit den höchsten Einkommen befanden sich elf auf der Aktionärsliste des Stadttheaters.16 10 Vgl. Keussen, Norbert, Eine Familienplauderei über die Anfänge des Stadttheaters in Krefeld u. a. von einem 85-jährigen, in: Die Heimat 4 (1925), S. 209; Schild, Ingeborg, Theater, in: Trier, Eduard/Weyres, Willy (Hgg.), Architektur II. Profane Bauten und Städtebau (Kunst des 19. Jahrhunderts im Rheinland, Bd. 2), Düsseldorf 1980, S. 173; Buck, Elmar/Vogelsang, Bernd, Theater seit dem 18. Jahrhundert (Geschichtlicher Atlas der Rheinlande. Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, Bd. 12), Köln 1989, S. 203; Broicher, Kultur, S. 509–514. 11 Vgl. Stratmann, Wilhelm, Theaterdiskussion in Krefeld – alles schon mal dagewesen?, in: Die Heimat 65 (1994), S. 105. 12 Vgl. Marzi, Theater, S. 74, Anm. 141. 13 Stratmann, Theaterdiskussion, S. 106: Die Mitgliederliste der Theater-Aktiengesellschaft „liest sich wie das ‚Who is Who‘ der damaligen Krefelder Wirtschaft“. 14 Vgl. Münnix, Norbert, Die politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Stadt Krefeld vom Ende der Kaiserzeit bis in die Weimarer Republik (1890–1929), Diss. Köln 1977, S. 28 f., 32. 15 Vgl. die Liste in LAV NRW R, Gerichte Rep. 48 Nr. 77, Bl. 21–32. 16 Vgl. Ulrich, Jochem, Wirtschaft und Gesellschaft in Alt-Krefeld, in: Feinendegen, Reinhard/Vogt, Hans (Hgg.), Von der Franzosenzeit bis zum Ende des Ersten Weltkrieges (1794–1918) (Krefeld – Die Geschichte der Stadt, Bd. 3), Krefeld 2006, S. 341–479, hier S. 419, Tab. 6 (Bezieher der 18 höchsten Einkommen in Krefeld 1889).
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Abb. 31 Entwurf der „Actie des Crefelder Stadt-Theaters“, 1893
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Die treibenden Kräfte der Stadttheater-AG waren Liberale, zahlreiche Gründer und Aktionäre waren politisch aktiv, als Stadtverordnete, Beigeordnete oder als Mandatsträger im Provinziallandtag, Landtag und Reichstag.17 Konfessionell betrachtet dominierte das Krefeld des 19. Jahrhunderts eine reformiert-mennonitische Oberschicht, dazu gehörten unter anderem die Familien von Beckerath, de Greiff, Scheibler und Molenaar, die sich in der Stadttheater-AG engagierten.18 Mit diesem Sozialprofil, das durch wirtschaftliche Potenz, bürgerliches Selbstbewusstsein und politische Aktivität gekennzeichnet war, hängen die Motive der Förderer, die Geschicke des Krefelder Theaterwesens in die Hand zu nehmen, eng zusammen. Die Gründung der Theater-Aktiengesellschaft fiel in eine Zeit des intensiven Engagements Krefelder Bürgerinnen und Bürger für die Kultur. Sie hatten wie erwähnt 1875 den Bau der Stadthalle initiiert, gründeten in den 1880er Jahren einen Museumsverein und erbauten im folgenden Jahrzehnt das Kunstmuseum.19 Angesichts dieser Aufbruchsstimmung verwundert es nicht, dass sie sich nicht mehr mit der blamablen Situation ihres Theaters zufriedengaben. Denn trotz der Schließung des Hauses an der Rheinstraße bestand in Krefeld lebhaftes Interesse an Bühnendarbietungen, wie die Aktivitäten verschiedener Interims- und Sommertheater im Jahr 1884 belegen.20 Am 14. Oktober 1884 listete der Initiatorenkreis der Aktiengesellschaft in einem langen Zeitungsartikel die Beweggründe für die Gründung der Stadtheater-AG auf.21 Dieser stellte Krefeld als aufblühende Stadt mit weltmännischen Bewohnern dar. So sei es erstaunlich, dass dieses hochaufstrebende, von beinahe 100.000 Einwohnern bevölkerte Crefeld eines würdigen Theaters entbehrt. Krefeld als wachsende Industriestadt benötige sowohl aus Prestigegründen als auch zur Stadtentwicklung ein Theater. Der Artikel führte ökonomische Gründe an und verwies auf die Vorteile für den Fremdenverkehr, er argumentierte erzieherisch und stellte das Theater, sich auf Friedrich Schiller berufend, als Schule des Volkes und der Jugend dar. Außerdem sei der anzustrebende Theaterneubau ein architektonisches Aushängeschild, denn aktuell verfüge die Stadt über fast gar keine monumentalen Gebäude.
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Die meisten Aktien, 50 an der Zahl, erwarb Marianne Rhodius, die Universalerbin des Seidenfabrikanten Cornelius de Greiff, ansonsten kauften die Aktionäre und Aktionärinnen oft nur eine einzige Aktie à 300 Mark. Vgl. Croon, Helmuth, Krefelder Bürgertum im Wandel des 19. Jahrhunderts, in: Die Heimat 29 (1958), S. 17, 20; Münnix, Entwicklung, S. 34, 78–81. Vgl. Münnix, Entwicklung, S. 29, 31. Zur Stadthalle vgl. Stratmann, Wilhelm, Politik und Verwaltung in Alt-Krefeld, in: Feinendegen/Vogt (Hgg.), Franzosenzeit, S. 81–299, S. 200 f. Im Sommer 1884 gastierte die Deutsche Oper aus Amsterdam unter Leitung von Josef Juhász in Krefeld und bot, unterstützt durch die Krefelder Kapelle, 17 Opern in mindestens 25 Aufführungen. Sie spielte im Nebeckschen Saal am Ostwall. Zur gleichen Zeit konnten Theaterinteressierte in der Ölmühle das Sommertheater unter dem Prinzipal Bernhard Meißner besuchen, der Schau- und Lustspiele präsentierte, aber auch die Operette pflegte. Vgl. Bach, Roman, Wilhelm Kienzl. 1884 Opernkapellmeister in Krefeld. Die Erstaufführung der „Carmen“. Ein Beitrag zur Krefelder Theatergeschichte, in: Die Heimat 33 (1962), S. 103–105, Ders., 1884 – ein bemerkenswertes Theaterjahr. Sommertheater und Opern-Saison. Ein Beitrag zur Krefelder Theatergeschichte, in: Die Heimat 35 (1964), S. 135–138. Zur Theaterfrage, in: Crefelder Zeitung, 14.10.1884, überliefert in StA Krefeld, 4/1027, Bl. 3.
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Das bürgerliche Selbstverständnis der Verfasser spiegelte sich wider in der Aussage Crefeld verdankt alles, was es ist, sich selbst. Ganz in diesem Sinne übernahmen die Bürger und Bürgerinnen für ihr Theater selbst Verantwortung. Krefeld hatte, anders als das benachbarte Düsseldorf, keine Tradition als Residenzstadt, es gab kein Hoftheater. Theater in Krefeld war immer aus privatwirtschaftlicher Initiative heraus entstanden und so gesehen stets ein bürgerliches Projekt gewesen. Im 19. Jahrhundert war der Theaterbetrieb abseits der höfischen Bühnen ohnehin privatrechtlich organisiert. Es herrschte das sogenannte Pachttheatersystem:22 Die Theaterbesitzerinnen oder -besitzer – wie in Krefeld auch andernorts häufig eine Aktiengesellschaft – verpachteten das Gebäude und – ausgesprochen selten so wie in Krefeld – auch die Ausstattung23 an einen Theaterdirektor,24 der die Bühne auf eigenes finanzielles Risiko betrieb. Seinen Spielplan musste er deshalb in erster Linie am Geschmack des Publikums ausrichten. Leichte Kost und Musikalisches waren Trumpf. Doch das Musiktheater war wegen des hohen Personalbedarfs kostenintensiv, denn nicht nur Solistinnen und Solisten waren nötig, sondern auch Chor und Orchester. Eine Oper zu produzieren, war wesentlich aufwendiger, als ein Schauspiel einzustudieren, für das im 19. Jahrhundert meist nur flüchtige Proben angesetzt wurden, weil die Künstlerinnen und Künstler über feste Rollenrepertoires verfügten und sich ansonsten auf die Soufflage verließen. Die Krefelder Aktiengesellschaft erwarb das ehemals Rumpsche Theatergebäude, richtete es wieder her und verpachtete es an den Theaterdirektor Carl Heuser (geb. 1850). Am 2. Oktober 1886 wurde das Krefelder Theater mit Carl Maria von Webers Oper „Der Freischütz“ wiedereröffnet.25 Die Vorstellung war ausverkauft, das Publikum war begeistert.26
IV. M usiktheater in Krefeld unter den Direktoren Carl Heuser, Anton Otto und Reinhold Pester (1886–1921) Carl Heuser blieb nur für eine Spielzeit in Krefeld. Der Pachtvertrag verpflichtete ihn, sowohl Schauspiele als auch Opern aufzuführen. Doch die Oper erwies sich aus Sicht der Aktiengesellschaft schon bald als Schmerzenskind. Eine Jubiläumsschrift stellte 1896 fest, dass ein Stadttheater mit den Existenzmitteln des hiesigen nicht im Stande ist, neben 22 Zu den näheren Rahmenbedingungen, Stichwort Gewerbefreiheit, vgl. Marzi, Theater, S. 44–46. 23 Dass die Aktiengesellschaft dem Pächter den Fundus zur Verfügung stellte, war eine Besonderheit. 1913 hielten es so neben Krefeld nur acht andere Theaterträgerinnen, während die übrigen 404 deutschen Bühnenleiter selbst die Ausstattung anschaffen mussten, vgl. ebd., S. 44. 24 Theaterdirektorinnen sind aus dieser Zeit nicht bekannt, erst im 20. Jahrhundert machten sich Louise Dumont in Düsseldorf und Erna Schiefenbusch in Düren einen Namen. Die Wanderbühnen hatten sehr wohl auch Frauen geleitet – Marianne Böhm kam wie oben erwähnt 1794 nach Krefeld; das prominenteste Beispiel ist Caroline Neuber (1697–1760). 25 Vgl. Cortan, Dr., Das neue Stadttheater in Crefeld, in: Deutsche Bühnengenossenschaft 15 (1886), S. 563. 26 Vgl. Bach, Roman, Interimstheater bis zur Eröffnung des neugestalteten Stadttheaters 1885–1887. Beiträge zur Krefelder Theatergeschichte, in: Die Heimat 36 (1965), S. 20.
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einem genügend guten Schauspiel-Personal noch eine gute Oper zu unterhalten. Schon kurz nach Spielzeitbeginn 1886 verzichtete der Aufsichtsrat der Aktiengesellschaft auf die Aufführung der ‚grossen‘ Oper. Noch im Dezember 1886 beantragte die AG bei der Stadtverordnetenversammlung eine Subvention der Bühne mit der Begründung, das Theater in künstlerischer Beziehung auf der Höhe zu halten – und hatte damit Erfolg.27 Zu Beginn des folgenden Jahres gewann die Aktiengesellschaft den Schauspiel-Oberregisseur des Düsseldorfer Stadttheaters Anton Otto (1852–1930) als neuen Theaterleiter. Auch ihn verpflichtete sie, ein Repertoire aus Schau- und Lustspiel und Posse sowie Spieloper und Operette zu zeigen.28 Ottos Talent Abb. 32 Anton Otto, Porträtfoto, um 1900 lag in der Interpretation von SprechtheaterStücken, sowohl als Regisseur als auch als Schauspieler. Er blieb fast zwei Jahrzehnte in Krefeld und wurde reichsweit bekannt für seine sorgfältigen Klassiker-Inszenierungen. Gleichwohl inszenierte Anton Otto in seinen ersten Krefelder Jahren auch selbst Musiktheater oder bot am selben Abend Operette und Schauspiel.29 In der ersten Spielzeit brachte er mit sieben Solistinnen und acht Solisten sowie den 27 Chor-Mitgliedern und den 28 Mitgliedern der nunmehrigen „Städtischen Kapelle“ 18 Opern- und sechs Operetten-Einstudierungen aus dem damaligen Standardrepertoire auf die Bühne.30 Doch wie schon unter Heuser diskutierte die Öffentlichkeit, ob ein Theater von der Größe des Krefelder Hauses überhaupt imstande sei, die Oper als eigene Sparte zu tragen. Anton Otto behalf sich mit dem Engagement von besser qualifizierten Gastdarstellerinnen und Gastdarstellern für einzelne Opernvorstellungen. Letztlich wurde die Frage jedoch verneint, da Otto mit seinem Budget dauerhaft kein vollwertiges Gesangspersonal verpflichten konnte und das musikliebende Krefelder Publikum die Opernbühnen der Nachbarstädte vorzog. Im Jahr 1890 wurde die Krefelder Opernsparte abgeschafft,
27 Vgl. StA Krefeld, 40/15/215, Bericht über das Bestehen und die Entwicklung des Crefelder Stadttheaters, S. 4. 28 Vgl. ebd. 29 Vgl. etwa Deutsche-Bühnengenossenschaft 16 (1887), S. 664, und Deutsche Bühnengenossenschaft 17 (1888), Spiel-Verzeichnisse, S. 26. 30 Vgl. Stoffels, Hermann, Das Musiktheater in Krefeld von 1870–1945, in: Klusen/Stoffels/Zart (Hgg.), Musikleben, S. 113–232, hier S. 130. Personalstärke entnommen aus Ernst Gettke’s Bühnen-Almanach (Almanach der Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger), Leipzig 1888, S. 179.
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als einzige musikalische Darbietungen kamen Operetten auf die Bühne, die Mitglieder des Schauspielensembles einstudierten.31 Damit der Wegfall der Opernsparte nicht ganz so bitter für das Publikum war, lud Otto auswärtige Truppen zu Musiktheateraufführungen ein. So zeigten die Ensembles aus Düsseldorf, Essen und Aachen in Krefeld unter anderem Giuseppe Verdis (1813– 1901) „Troubadour“ (1897/98), Richard Wagners (1813–1883) „Der fliegende Holländer“ (1899/1900) und in der folgenden Saison „Lohengrin“. In einigen Spielzeiten gelang es, eine komplette „Monatsoper“ in Krefeld abzuhalten, wie es sie in der Seidenstadt schon ab 1877 gegeben hatte: Einen Monat lang konnte das Publikum täglich Vorstellungen aus einer Auswahl von Operninszenierungen auswärtiger Bühnen besuchen.32 Ab der Saison 1900/01 organisierte der frühere Krefelder Harfenist Reinhold Pester-Prosky (1870–1928) die Monatsopern, bis er mit der Spielzeit 1906/07 die Leitung des Theaters vollständig übernahm.33 Er verankerte die Oper wieder dauerhaft als Sparte im Krefelder Theaterbetrieb, was sich positiv auf die Besuchszahlen auswirkte.34 Die Aktiengesellschaft verpflichtete Reinhold Pester, pro Spielzeit rund 60-mal Opern und Operetten aufzuführen.35 In der Spielzeit 1906/07 lag Pester mit 138 Aufführungen von 28 Opern- und sechs Operetteninszenierungen weit über dem Soll, ähnlich hohe Zahlen erreichte er auch zehn Jahre später noch. Schon nach der ersten Spielzeit mit Oper zeigte sich, dass die Einnahmen die Ausgaben nicht deckten. Hatte der von der Opernsparte befreite Anton Otto in der Spielzeit 1905/06 noch einen kleinen Gewinn machen können, verschlechterte sich die Bilanz nach der Wiedereinführung der Oper in der Saison 1906/07 um rund 15.000 Mark. Zwar stiegen mit den Musiktheateraufführungen auch die Einnahmen, doch das Gagenkonto war von rund 83.000 Mark in der Spielzeit 1905/06 auf fast 150.000 Mark in der folgenden Saison geschnellt. Die Stadtverordnetenversammlung beschloss, Pester nachträglich weitere 10.000 Mark zukommen zu lassen, er erhielt damit insgesamt 31.800 Mark Betriebszuschuss für seine erste Spielzeit.36 Weil die Stadtverordnetenversammlung mit Reinhold Pesters Leistungen auch in den folgenden Jahren zufrieden war und dem Theaterleiter einen Gewinn ermöglichen wollte – sicherlich auch, um den erfolgreichen Musiktheaterfachmann in der musikliebenden Stadt zu halten – erhöhte sie immer wieder die Subvention des Theaters. Ver-
31 Daten zum Krefelder Repertoire sowie Inszenierungs- und Aufführungszahlen wurden, sofern nicht anders angegeben, mithilfe der Spiel-Verzeichnisse der deutschen Bühnen und des Deutschen Bühnenspielplans ermittelt. 32 Vgl. Marzi, Theater, S. 267 f. 33 Vgl. Bach, Roman, Die erste Spielzeit Anton Ottos 1887/1888. Ein Beitrag zur Krefelder Theatergeschichte, in: Die Heimat 37 (1966), S. 18–21; Marzi, Theater, S. 267–273, 376. 34 Vgl. Verwaltungsbericht 1906, S. 112, StA Krefeld, III 80. 35 Vgl. die Paragrafen 1 und 10 des Pachtvertrages zwischen der Aktiengesellschaft und Pester vom 20.10.1906. Abschrift, in: StA Krefeld, 4/1030, Bl. 118, 121. 36 Vgl. StA Krefeld, 4/1040, Bl. 240.
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glichen mit den lange Zeit konstant bleibenden Zuschüssen der Ära Anton Otto stieg die Subvention unter Pester teils rasant.37 Im Jahr 1912 löste sich die Aktiengesellschaft auf, und das Theater wurde in einem mehrjährigen Prozess, den der Erste Weltkrieg verzögerte, auf die Kommune übertragen.38 Nach der Auflösung der AG blieb Pester weiterhin Pächter des Theaters.39 Reinhold Pesters 15-jährige Krefelder Direktion war geprägt von mehr als 20 Operneinstudierungen pro Saison, wobei Pester selten selbst inszenierte. Zudem verpflichtete der Theaterleiter bedeutende Gastdarstellerinnen und Gastdarsteller „als Stimulans und als Geschenk für die Zuhörer zugleich“. Markantestes Merkmal von Pesters Wirken in Krefeld war die breit angelegte Wagner-Pflege, die allerdings in dieser Zeit nicht ungewöhnlich war.40 Im Schauspiel wiederum konnte er nicht an die Erfolge Anton Ottos anknüpfen. Der Krefelder Theaterkritiker Rudolf Senger (1893–1943) war 1926 der Meinung, das Publikum sei unter Pester dem reinen Schauspiel entfremdet und der glanzvolleren Oper und Operette in die lockenden Arme getrieben worden.41 Reinhold Pesters Direktion endete 1921 mit seiner Versetzung in den Ruhestand. Die Nachfolge wurde erstmals in der Krefelder Theatergeschichte als Intendantenstelle ausgeschrieben.42
V. Alltägliches und Besonderes im Krefelder Musiktheater-Repertoire Die Aktiengesellschaft strebte seit ihrer Gründung einen Theaterneubau an, denn Michael Rumps Gebäude genügte schon in den 1880er Jahren weder dem Bedürfnis nach einem ansehnlichen Repräsentationsbau (ein Wunsch, der sich 1897 an anderer Stelle mit dem Kaiser-Wilhelm-Museum erfüllte) noch war es technisch auf der Höhe der Zeit. Allerdings scheiterten die Neubaupläne zunächst an politischer Uneinigkeit, dann aus finanziellen Gründen. Problematisch war auch der begrenzte Raum im Innern. Während das Publikum Rumps Haus für seine Intimität schätzte, sorgte seine Enge bei den Bühnenschaffenden für Kopfzerbrechen.43 Der Orchesterraum bot Platz für maximal 36 Mitglieder. In der Saison 1911/12 zeigte das Ensemble zwölfmal den „Rosenkavalier“, in der Spielzeit 1919/20 viermal. Offenbar mit künstlerischen Einbußen, denn 1923 riet der Theaterkritiker Rudolf Senger angesichts des riesigen orchestralen Apparat[es], den Strauß benötigt, von einer erneuten 37 Vgl. etwa StA Krefeld, 4/1040, Bl. 241; sowie Grafik 1 in Marzi, Theater, S. 93. 38 Zu den Details vgl. Marzi, Theater, S. 100–103. 39 Vgl. StA Krefeld, 4/1029, Bl. 122, Schreiben des Krefelder Oberbürgermeisters an den Oberbürgermeister von Elberfeld vom 7.11.1917. 40 Vgl. Stoffels, Musiktheater, S. 137, 141. 41 Senger, Rudolf, Krefelder Theatersorgen, Zeitungsausschnitt, ca. Februar 1926, Privatsammlung Marzi. 42 Vgl. StA Krefeld, 4/1035, Bl. 222; ebd., 4/1038, Bl. 138. 43 Zum Theaterbau an der Rheinstraße vgl. das Kapitel Gebäude und Ausstattung in Marzi, Theater, S. 53– 67; hier sind auch Fotografien, ein Grundriss und ein Sitzplan zu finden.
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Aufführung ab.44 Hier zeigt sich bereits, dass in den 1920er Jahren die künstlerischen Ansprüche stiegen. So war 1928 der Krefelder Intendant Ernst Martin (1891–1954) der Meinung, Richard Wagners „Ring des Nibelungen“ müsse in unserm jetzigen Theater immer Stückwerk bleiben. Und so oft große Chöre und Statistenscharen auf der kleinen Bühne erscheinen müssen, und seien sie noch so geschickt aufgestellt, schrumpft der Raum jedes Mal zusammen und der erhabenen Wirkung droht Gefahr.45 Allerdings hinderten diese Herausforderungen in den beiden Jahrzehnten zuvor Reinhold Pester nicht daran, fleißig große Opern von Wagner und eben auch den ganzen „Ring“ aufzuführen. Aus heutiger Sicht unvorstellbar, brachte er im Schnitt sechs WagnerInszenierungen pro Spielzeit auf die Bühne. Am erfolgreichsten war „Tannhäuser“ mit 69 Aufführungen in Pesters Krefelder Wirkungszeit, sehr beliebt waren „Lohengrin“ mit 49 und „Der fliegende Holländer“ mit 40 Aufführungen. In drei Spielzeiten präsentierte Pester dem Publikum sogar neun verschiedene Wagner-Werke, darunter war die Saison 1913/14 mit Wagners 100. Geburtstag. Den kompletten „Ring des Nibelungen“ ließ Reinhold Pester in sechs Spielzeiten aufführen, darunter war die Kriegssaison 1915/16. Pesters Nachfolger stemmten solche Herausforderungen nicht mehr, die Tetralogie wurde nur noch ein einziges Mal vollständig innerhalb einer Spielzeit inszeniert, und zwar 1933/34 zu Wagners 120. Geburtstag und 50. Todestag. Reinhold Pester fand in Opernregisseur Franz Eilers (1861–1929) und Kapellmeister Curt Cruciger die passenden Mitstreiter zur Realisierung von Wagners Werken. Der Erste Weltkrieg bewirkte einen leichten Rückgang bei der Zahl der Aufführungen, die Zahl der Inszenierungen nahm hingegen zu und trug zur „Stärkung patriotischer Gefühle“ bei. So gab das Theater eine Festvorstellung der „Meistersinger“ „zum Besten der Witwen und Waisen von Krefelder Kriegern“.46 Werke Wagners während des Ersten Weltkriegs aufzuführen, war mit einigen Widrigkeiten verbunden. Um eine einigermassen ernst zu nehmende Aufführung von ‚Lohengrin‘ zu erzielen, musste Curt Cruciger den Chor mit Personal aus Düsseldorf aufstocken. Im letzten Akt des „Fliegenden Holländers“ entschloss er sich, den „Holländerchor“ wegzulassen, den er sonst mit Teilen des Matrosenchors hätte verstärken müssen, so dass mir zu dem von Wagner äusserst wuchtig und derb-humoristisch gedachten Matrosenchor nur 10 Herren übrig geblieben wären.47 Nicht nur der mangelnde Raum, sondern auch die Personalfrage schränkte die Aufführungsmöglichkeiten und die künstlerische Qualität des Krefelder Musiktheaters ein. Richard Wagners „Rheingold“ zeigte das Krefelder Theater in sieben Spielzeiten in insgesamt 17 Aufführungen. Bemerkenswerterweise stand diese Oper in drei Spielzeiten 44 Sta KR, 4/1040, Bl. 132, Senger, Rudolf, Stadttheater Krefeld. Kritische Rückblicke und Ausblicke, in: Niederrheinische Volkstribüne, [Sommer 1923]. 45 Martin, Ernst, Das Krefelder Stadttheater und seine Aufgaben, in: Beyer, Walter (Bearb.), Deutschlands Städtebau. Krefeld, 2. Aufl., Berlin 1928, S. 59 f., hier S. 60. 46 Stoffels, Musiktheater, S. 138. 47 StA Krefeld, 4/1031, Bl. 92–94, Curt Cruciger an Oberbürgermeister Johannes Johansen, 14.2.1919.
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während der belgischen Besatzung Krefelds (6. Dezember 1918–31. Januar 1926) auf dem Programm, erst unter Pester und dann unter seinen Nachfolgern, den Intendanten Otto Maurenbrecher (1872–1960) und Ernst Martin (1891–1954). Die Inszenierung gerade dieses Werkes durch die Besetzten ist symbolträchtig, signalisierten die Krefelderinnen und Krefelder damit doch, dass sie sich gerade jetzt Wagner als „maßgeblichen Exponenten deutscher Nationalkultur“ und den Rhein bzw. das „Rheingold“ als „pars pro toto“ für das besetzte Rheinland nicht nehmen ließen.48 Im Gegenzug äußerte die Presse 1920 Kritik, als Reinhold Pester zum Nachteil deutscher Werke49 Opern französischer Komponisten aufführte. Für zeitgenössische Komponisten legte Curt Cruciger einen „mutigen, aber wenig nachhaltigen Einsatz“ an den Tag. So blieb die Uraufführung von Otto Neitzels (1852– 1920) Oper „Barbarina“ im Januar 1912 „ohne nennenswerte Nachwirkung“.50 Im selben Jahr wurde in der Seidenstadt die Oper „Die Glocken von Plurs“ des Krefelders Ernst Hermann Seyffardt (1859–1942) uraufgeführt. Die Kritik lobte, es gebe endlich mal ein Experiment auf unserer Bühne, das gelungen im gemäßigten Verismo-Stil sei.51 Ansonsten überwog unter den Uraufführungen am Krefelder Theater die Schauspielsparte, was angesichts der höheren Produktion neuer Werke in diesem Bereich nicht erstaunlich ist. Für 1910 führt der Deutsche Bühnenspielplan die Oper „Der Spion“ von „R. Brenner“ als Uraufführung in Krefeld auf, 1908 zeigte das Theater die Uraufführung von Hermann Jägers Operette „Los vom Manne?“ und in Pesters letzter Saison präsentierte der Theaterleiter erstmalig die Operette „Marga“ von Harry Georgi. Operetten und Singspiele waren in Krefeld sehr beliebt. Immer wieder standen Werke von Franz von Suppé (1819–1895), Johann Strauss (1825–1899), Carl Millöcker (1842– 1899) sowie von Leo Fall (1873–1925), Franz Lehár (1870–1948) und Emmerich Kálmán (1882–1953) auf dem Programm, es waren also sowohl die sogenannte Goldene als auch die Silberne Ära der Wiener Operette vertreten. Gerade solcherlei Unterhaltung geriet mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs unter Legitimationsdruck: War es noch angemessen, Theater zu spielen, sich zu vergnügen? Viele Bühnenleitungen, aber auch Kommunen waren verunsichert. Doch die Berufsverbände der Bühnenschaffenden baten eindringlich um den Weiterbetrieb der Theater, schließlich waren diejenigen, die nicht an die Front mussten, wie etwa Sängerinnen und ältere Schauspieler, auf ihr Einkommen angewiesen.52 In Krefeld beteuerte Reinhold Pester, das Theater im Oktober 1914 nicht als Stätte des Vergnügens wiedereröffnen zu wollen, vielmehr solle es ein 48 Kleiner, Stephanie, Klänge von Macht und Ohnmacht. Musikpolitik und die Produktion von Hegemonie während der Rheinlandbesatzung 1918–1930, in: Müller, Sven Oliver/Zalfen, Sarah (Hgg.), Besatzungsmacht Musik. Zur Musik und Emotionsgeschichte im Zeitalter der Weltkriege (1914–1949) (Histoire, Bd. 30), Bielefeld 2012, S. 51–84, hier S. 65. Kleiner schildert einen umgekehrten Fall, bei dem die französischen Besatzer in Wiesbaden als Machtdemonstration Wagners „Rheingold“ aufführen ließen. 49 StA Krefeld, 4/1039, Bl. 13, Westdeutsche Landeszeitung, Nr. 246, 21.10.1920. 50 Stoffels, Musiktheater, S. 140. 51 Zit. n. Diederichs, Petra: Die vergessene Krefelder Oper, in: Rheinische Post, Ausgabe Krefeld, 14.8.2010, S. 6; vgl. auch Stoffels, Musiktheater, S. 140. 52 Vgl. Marzi, Theater, S. 407 f.
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ernsten Kulturaufgaben gewidmetes Unternehmen sein, verbunden mit vaterländischen und sozialen Interessen.53 Die Stadtverordnetenversammlung stimmte der Öffnung des Theaters im September 1914 zu.54 Pester kündigte freien Eintritt für die in Krefeld untergebrachten Verwundeten an und verschaffte sich damit weitere Legitimation.55 Die Krefelder Presse interpretierte den Theaterbesuch auch als Gegengewicht zu dem Ernst der Zeit: Wenn wir in unserer Zeitlage dauernd frisch bleiben wollen, bedürfen wir einer gewissen Ausspannung durch ‚Erhebung an nationalen Werken‘ und anderen Kunstgenüssen.56 Reinhold Pester eröffnete die Spielzeit am 4. Oktober 1914 in Anwesenheit von etwa 50 Leichtverwundeten. Vor dem vaterländischen Liederspiel „Volk in Waffen“ des Romanschriftstellers Paul Oskar Höcker (1865–1944) erklang Carl Maria von Webers Jubelouvertüre, die die Würde des Abends offenbar dem Schlusspassus zu verdanken hatte, der in die Kaiserhymne ausklingt, wie die „Niederrheinische Volkszeitung“ berichtete: Mit einem Ruck erhebt sich das Publikum. Wir haben nie in unserem Leben von ähnlicher Weihestimmung ergriffen […] das vaterländische Lied gesungen.57 Für den 6. Oktober 1914 kündigte die „Krefelder Zeitung“ die deutscheste aller Opern – Webers ‚Freischütz‘ an.58 Anders als die kommerziellen Berliner Bühnen zeigte das Krefelder Theater zu Kriegsbeginn kaum aktuelle Unterhaltungsstücke, mit Ausnahme der Operette „Wie einst im Mai“ (1913 in Berlin uraufgeführt), die in der Seidenstadt 1914/15 zwölfmal auf dem Programm stand. Auch zeitgenössische Kriegsstücke, die 1914 in Berlin populär waren, setzte Reinhold Pester selten auf den Spielplan.59 Nach dem „Volk in Waffen“, das er nur dreimal in Krefeld und einmal in Mönchengladbach aufführen ließ, beließ Pester es in der Saison 1915/16 bei Walter Kollos (1878–1940) vaterländischem Volksstück „Immer feste druff!“, das reichsweit unter den Kriegsstücken alle Rekorde brach. Der Erfolg ist damit zu erklären, dass sich das Stück im Grenzbereich von Posse, Revue und Operette bewegte,60 und zeigt, dass sich der Krieg mit dem Bedürfnis, durch Unterhaltung Ablenkung von den alltäglichen Sorgen zu gewinnen, auf das Repertoire auswirkte. Vor allem das Musiktheater konnte diese Rolle im traditionell musikliebenden Krefeld erfüllen. Der Opernspielplan war repräsentativ wie zuvor, obwohl das Theater nun an bis zu drei Abenden in der Woche geschlossen hatte.61 Zwar wurde 1915 ein Aufführungsverbot für Stücke aller lebenden Autorinnen und Autoren erlassen, die einem sogenannten Feind53 StA Krefeld, 4/1030, Bl. 1, Pester an Oberbürgermeister Johansen, 24.8.1914. 54 Vgl. StA Krefeld, 4/1030, Bl. 32, Protokoll der Stadtverordnetenversammlung vom 24.9.1914. 55 Die „Krefelder Zeitung“ etwa hielt dies für eine begrüßenswerte Einrichtung, Krefelder Zeitung, AbendAusgabe, 1.10.1914. 56 Vgl. Niederrheinische Volkszeitung (im Folgenden NVZ), Mittags-Ausgabe, 5.10.1914. 57 NVZ, Mittags-Ausgabe, 5.10.1914. 58 Krefelder Zeitung, Abend-Ausgabe, 1.10.1914. 59 Zu den Berliner Bühnen vgl. Baumeister, Martin, Kriegstheater. Großstadt, Front und Massenkultur 1914–1918 (Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte N.F., Bd. 18), Essen 2005, S. 129. 60 Zu diesem Stück vgl. ebd., S. 129 f.; Slamka, Boris, Der Ernst der Stunde. Die Vereinigten Stadttheater in Frankfurt am Main 1914–1918 (Erster Weltkrieg im Fokus, Bd. 2), Berlin 2014, S. 111. 61 Vgl. Stoffels, Musiktheater, S. 141.
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staat angehörten. Davon waren auch Werke Giacomo Puccinis (1858–1924) betroffen, bis dieser beim Deutschen Bühnenverein intervenierte,62 und Puccini stand tatsächlich erst in der Saison 1919/20 wieder auf dem Krefelder Spielplan. Hingegen wurden Werke französischer Komponisten auch während des Ersten Weltkriegs gespielt, zum Beispiel „Margarethe“ von Charles Gounod (1818–1893) und „Mignon“ von Ambroise Thomas (1811–1896), Georges Bizets (1838–1875) „Carmen“ sogar den gesamten Krieg über (diese drei Komponisten waren freilich bereits verstorben). Die „Niederrheinische Volkszeitung“ wetterte 1914 gegen [f]ranzösische[n] Operettenschund und betrachtete es als hochwillkommene Gabe, wenn die Wiederverdeutschung unseres Theaters eine der Früchte wäre, die auf dem blutgetränkten Schlachtfelde reifen.63 „Deutsch“ war zwar der Großteil der Gesangspossen und Operetten wie „Dreimäderl haus“, „Schwarzwaldmädel“, „Drei alte Schachteln“ und „Der Juxbaron“, die sich in den Kriegsjahren immer wieder auf dem Krefelder Spielplan finden. Im Sinne des zitierten Kommentars waren diese „leichten“ Stücke aber sicherlich nicht. Sie boten dem Publikum Unterhaltung und die Möglichkeit zum „Rückzug aus der Aktualität“ durch ihre Ansiedlung in „verklärter Ferne, in vergangenen oder reizvoll entlegenen Welten“.64
VI. Auswirkungen historischer Ereignisse auf den Krefelder Theaterbetrieb Durch den Kriegsausbruch wurden in dem männlichen Teil der Solo- und Chorkräfte, sowie der Kapelle nicht unwesentliche Lücken gerissen.65 Wegen des Personalmangels halfen im Orchester Musiker des Konservatoriums und ein Lehrer aus. Im Verlauf des Krieges schrumpfte die Krefelder Kapelle so sehr, dass eine Kooperation mit den Resten des Gladbacher Orchesters für alle größeren Aufführungen notwendig wurde. Wegen der schlechten Verkehrsverhältnisse legten die Musiker den Weg zwischen Mönchengladbach und Krefeld häufig zu Fuß zurück. Die Verkehrseinschränkungen machten Gastspiele aufwendiger, sie fanden, nach anfänglicher Reduktion, aber dennoch den ganzen Krieg über in Mönchengladbach und Düren statt. 1916 erklärte das Düsseldorfer Regierungspräsidium das Krefelder Theater zu einer Kunststätte I. Ranges, für die Aufrechterhaltung des Bühnenbetriebes sei ein öffentliches Interesse durchaus anzuerkennen. Ziel dieser Intervention war es, einen Kriegseinsatz des Operntenors und Kanoniers Hans Baron (1880–1971) zu verhindern – andernfalls werde der Betrieb der Oper unmöglich gemacht. Dadurch würden neben dem Theater62 Vgl. Brauneck, Manfred, Die Welt als Bühne. Geschichte des europäischen Theaters, Bd. 4: Erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, Stuttgart/Weimar 2003, S. 247. 63 NVZ, Mittags-Ausgabe, 5.10.1914. Auf das Krefelder Repertoire traf dieser Vorwurf im Übrigen nicht zu, da in dieser Saison keine einzige Operette eines französischen Komponisten aufgeführt wurde, lediglich französische Opern. 64 Baumeister, Kriegstheater, S. 140; vgl. ebd., S. 141–144. 65 Verwaltungsbericht 1914, S. 136, StA Krefeld, III 80.
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personal auch die Mitglieder der Städt. Kapelle durch Entlassung brotlos werden. Schlussendlich konnte der Tenor sein Engagement in Krefeld antreten. Zugleich vermerkte die Verwaltung, dass mit Direktor Pester und Kapellmeister Curt Cruciger zwei Schlüsselpersonen des Theaters ‚k. v.‘ aber zurückgestellt seien.66 Im Personal-Verzeichnis des Krefelder Stadttheaters für die Spielzeit 1915/16 wurden die Namen von 15 der rund 50 männlichen Bühnenangestellten mit einem roten R versehen, vermutlich stand dies für „Reklamierung“.67 Welche finanziellen Auswirkungen der Kriegsdienst für die Bühnenangestellten haben konnte, schilderte 1921 der Krefelder Bassbuffo Erich Rauch: Seine Lage sei äußerst schwierig, weil er nach meiner Rückkehr aus dem Felde vollkommen mittellos fast meine gesamte […] Civilkleidung einschliesslich […] Bühnengarderobe68 neu anschaffen musste. Außerdem musste er das, was ich im Felde stimmtechnisch und musikalisch (Partieen) eingebüsst hatte[,] durch teueren Unterricht nachholen.69 Dass ein Angestellter des Krefelder Theaters durch Kriegseinwirkungen ums Leben kam, ist nur an einer Stelle aus den Quellen zu erkennen.70 Mindestens zwei Orchestermitglieder kehrten als Schwerkriegsbeschädigte zurück.71 Die Städtische Kapelle beteiligte sich nach dem Krieg an Gedächtnisfeiern für gefallene Krefelder Krieger.72 Wer in Krefeld engagiert blieb, musste Gagenkürzungen hinnehmen. Die ästhetische Qualität der Aufführungen verschlechterte sich durch den Personal- und Materialmangel. Infrage gestellt, wenn nicht ganz ausgeschlossen, war die Aufführung bestimmter Opern aus Sicht Curt Crucigers durch die Verkleinerung des Chors. Erstens, weil der Chor überwiegend aus Anfängerinnen und Anfängern bestand und so der Bedarf an Proben sehr hoch war, so dass sich der Spielplan in den landläufigsten Opern bewegen muss. Für Innovationen war also kein Spielraum. Zweitens war der Chor zu klein: Die künstlerisch einigermassen einwandfreie Aufführung von Werken […] wie ‚Fidelio‘, ‚Othello‘ usw. ist mit dieser kleinen Stimmenzahl fast unmöglich. […] Dasselbe ist der Fall, wenn es sich um Opern mit geteilten Chören handelt, wie ‚Barbier von Bagdad‘ usw. Außerdem muss66 „k. v.“ bedeutet „kriegsverwendungsfähig“; das Gegenteil ist „u. k.“ – „unabkömmlich“. Vgl. zur gesamten Angelegenheit StA Krefeld, 4/1029, Bl. 66–71. 67 Vgl. StA Krefeld, 4/1030, Bl. 82–84. Als „Reklamierung“ wurde im Ersten Weltkrieg die Freistellung von Soldaten, die eigentlich zum Kriegsdienst eingezogen waren, für zivile Arbeiten bezeichnet. Das Bezirkskommando Krefeld teilte am 15. September 1915 mit, dass die vom Stadttheater reklamierten Leute mit Ausnahme der kriegsverwendungsfähigen bis zum 31.3.16 vom Waffendienst zurückgestellt werden. Siehe StA Krefeld, 4/1028, Bl. 312, Bezirkskommando an den Herrn Oberbürgermeister, Schreiben vom 15.9.1915. 68 Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs mussten die Bühnenangestellten noch in vielen Fällen selbst für ihre Bühnengarderobe aufkommen. 69 StA Krefeld, 4/2666, Schreiben betreffend die Klage des Mitgliedes Erich Rauch gegen den städt. Theater- und Musikausschuss der Stadt Crefeld, 24.3.1921. 70 Vgl. StA Krefeld, 4/1033, Bl. 110. Der Betroffene und die Umstände sind nicht identifizierbar. 71 Ironischerweise bewahrte sie dies, als das Orchester 1932 aufgelöst wurde, vor der Entlassung, vgl. StA Krefeld, 4/2467, Bl. 2. 72 StA Krefeld, 10/142, Bl. 4 v, Beschlußbuch des Theater- und Musik-Ausschusses vom 12. Mai 1920– 20. Dez. 1922.
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ten beispielsweise in den „Meistersingern“ kleinere Rollen mit Chormitgliedern besetzt werden, so dass der Chor weiter schrumpfte.73 Cruciger plädierte für eine Aufstockung des Chores, die 1919 erfolgte. Im selben Schreiben setzte er sich auch für die Wiedereinführung des Balletts ein, unter anderem mit Verweis auf dessen Bedeutung für die Musiktheaterproduktionen: Cruciger zählte 19 namhafte Opern auf, die das Krefelder Theater während des Kriegs gezeigt und bei denen Tanzelemente gefehlt hatten, [m]ehrere zur Aufführung in Aussicht genommene Opern, wie ‚Orpheus und Eurydike‘, ‚Verkaufte Braut‘ usw. konnten wegen Mangel des Ballets nicht aufgeführt werden. Dieses Anliegen lehnte Oberbürgermeister Johannes Johansen unter Verweis auf die finanzielle Lage ab. Es sollte bis 1932 dauern, ehe das Krefelder Theater wieder ein Tanzensemble bekam.74 Nach einem Rückgang zu Anfang der ersten Kriegsspielzeit erholten sich die Besuchszahlen und übertrafen in der Saison 1916/17 das Vorkriegsniveau. Das Krefelder Theater blieb über die gesamte Kriegszeit geöffnet, was längst nicht jedem Theaterleiter im Reich durchzusetzen gelang. Auch 1917, als in verschiedenen Städten wegen Kohlenmangels die Theater schlossen, spielte die Krefelder Bühne weiter.75 Einschneidender als die Kriegsauswirkungen war für das Krefelder Theater in der Praxis das Feuer im Garderobenhaus am 1. Dezember 1917, bei dem zahlreiche Kostüme und Requisiten verbrannten.76 In die Erinnerung der Bühnenschaffenden prägte sich außerdem die als „Spanische Grippe“ bekannt gewordene Pandemie ein, derentwegen das Theater 1918 zeitweise geschlossen wurde. Mehrere Kollegen, darunter ein neu engagierter Tenor, starben.77 Vom 9. November 1918 bis zum Eintreffen der belgischen Besatzungstruppen am 6./7. Dezember 1918 regierte in Krefeld ein Arbeiter- und Soldatenrat parallel zur Zivilbzw. Militärverwaltung. Das öffentliche Leben ging in der Zeit zwischen Waffenstillstand und Besetzung verhältnismäßig reibungslos weiter, Konzerte und Theateraufführungen fanden weiterhin statt.78
73 StA Krefeld, 4/1029, Bl. 129–132, Cruciger an Oberbürgermeister Johansen, 4.2.1918. 74 Vgl. StA Krefeld, 4/1029, Bl. 132, Cruciger an Oberbürgermeister Johansen, 4.2.1918; ebd. Bl. 246, Cruciger an Oberbürgermeister Johansen, 23.2.1918; ebd., 10/141, Bl. 11, Beschlußbuch des Theater- u. MusikAusschusses. Angef. 29. Oktbr. 1917. Geschl. 13. April 1920. Band I. 75 Vgl. die Anmerkung der Krefelder Stadtverwaltung in StA Krefeld, 4/1029, Bl. 49, zu einem Schreiben des Düsseldorfer Regierungspräsidenten vom 19.2.1917; sowie Slamka, Ernst, S. 95. 76 Vgl. hierzu StA Krefeld, 4/1029, Bl. 229–240; und ebd., 4/1030, Bl. 152–315. 77 Vgl. StA Krefeld, Zeitungsausschnittsammlung 2169, Pfliegl, Maria, Mein Leben für’s Theater!, 15. Fortsetzung, Neue Rhein-Zeitung, Nr. 281, 1.12.1954. 78 Vgl. Houben, Heribert, Die Zeit der Weimarer Republik 1918–1933, in: Feinendegen, Reinhard/Vogt, Hans (Hgg.), Vom Ende des Ersten Weltkrieges bis zur Gegenwart (1918–2004) (Krefeld – Die Geschichte der Stadt, Bd. 5), Krefeld 2010, S. 15–176; hier S. 18–20, 23 f.; und Münnix, Entwicklung, S. 158–164.
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VII. Resümee: Musiktheater als „Refugium einer politikfreien Sphäre“? Das Pachttheater gilt in der Forschung als eher instabile Betriebsform, in der die schwierigen ökonomischen Rahmenbedingungen häufig zu Bankrotten der Theaterdirektoren und zu Wechseln an der Spitze des Betriebes führten. In Krefeld jedoch war die Zeit des Pachttheaterbetriebes eine Phase, die von langanhaltender Kontinuität bei der Theaterleitung geprägt war. Das lag in entscheidender Weise daran, dass die Stadt trotz der privatwirtschaftlichen Organisation des Theaterbetriebes bereit war, dem Bühnenleiter mit städtischen Subventionen unter die Arme zu greifen. Während der langjährigen Direktion Anton Ottos musste ausgerechnet das musikliebende Krefelder Publikum auf Opernaufführungen verzichten und drohte an die Bühnen der Nachbarstädte verloren zu gehen. Auch Ersatzlösungen mit Monatsopern waren auf Dauer nicht befriedigend. Aus diesen Erkenntnissen resultierte die Bereitschaft, Reinhold Pester, der sich über mehrere Jahre als Musiktheater-Veranstalter in Krefeld empfohlen hatte, nach seinem Antritt als Krefelder Theaterleiter dauerhaft finanziell zu unterstützen: Er lieferte dem Publikum, tatkräftig unterstützt durch seine Mitstreiter Eilers und Cruciger, das Opernprogramm, das es begehrte, und die Stadt bewilligte ihm dafür immer höhere Zuschüsse. So konnte sie ihn 15 Jahre lang in Krefeld halten und erhielt dafür ein Programm, das von leichten Operetten bis hin zu breiter Wagner-Pflege reichte. In kritischen Phasen zeigte sich, wie wertvoll die Vernetzung der Bühnen im dicht besiedelten Rheinland war. So versorgten Düsseldorfer, Aachener und Essener Ensembles das Krefelder Publikum im 19. Jahrhundert mit Musiktheateraufführungen, im Ersten Weltkrieg stockte Kapellmeister Curt Cruciger den Chor mit Personal aus Düsseldorf und das Orchester mit Musikern aus Mönchengladbach auf, und das Krefelder Theater zeigte seine Produktionen ab 1903 regelmäßig in Mönchengladbach und ab 1908 auch in Düren.79 Die Bühne war dabei keineswegs „Refugium einer politikfreien Sphäre“ – das zeigen das Engagement politisch aktiver Kreise für die Gründung der Theater-Aktiengesellschaft, die lokalpolitischen Debatten um einen Theaterneubau und das Repertoire, das zeitgenössischen Entwicklungen wie dem Ersten Weltkrieg und der Rheinlandbesetzung Rechnung trug – lange bevor als Abschluss einer Operettenaufführung SA-Männer in das Krefelder Theater einmarschierten.80
79 Zum weiteren Gastspielbetrieb des Krefelder Theaters im In- und Ausland vgl. Marzi, Theater, S. 343– 366; und ebd., Tabelle 10 auf S. 481–483. 80 Zum Repertoire des Krefelder Theaters in der Zeit des Nationalsozialismus vgl. ebd., S. 291–300; zum genannten Beispiel ebd., S. 293. Es handelte sich um die Operette „Anneliese von Dessau“ des jüdischen Komponisten Robert Winterberg (1884–1930). Sie war schon in der Saison zuvor in Krefeld zu sehen gewesen – allerdings nicht mit diesem martialischen Schluss.
Das musikalische Vereinswesen in Düsseldorf und seine politische Bedeutung Nina Sträter
I. Gesangsvereine in Düsseldorf 1.1 Zu Fragen der Überlieferung und Hierarchisierung Wie in den meisten Städten des Rheinlands entstand auch in Düsseldorf im Laufe des 19. Jahrhunderts eine unübersehbare Menge von Vereinen, zu denen zahlreiche mit musikalischer Prägung gehörten. Zu den ältesten Vertretern seiner Art zählt der Städtische Musikverein zu Düsseldorf e. V., der seit nunmehr zwei Jahrhunderten im kulturellen Leben der Stadt präsent ist. An dem Attribut „städtisch“, das der Verein seit 1890 offiziell im Namen führt, und seinem Vereinssitz in der Tonhalle (dem städtischen Konzertsaal) ist seine besondere Position in Düsseldorf abzulesen. Aber auch Dutzende anderer musikalischer Vereine haben die Stadtgeschichte entscheidend mitgeprägt, auch wenn viele von diesen vergleichsweise unbekannt sind. Julius Alf (1915–1983), der nach dem Zweiten Weltkrieg Städtischer Musikreferent in Düsseldorf wurde, beschreibt ab ungefähr der Mitte des 19. Jahrhunderts eine Dreierhierarchie im musikalischen Vereinsleben, an deren Spitze der Städtische Musikverein stand; den zweiten Platz nahm der Städtische Männergesangverein (gegründet 1842) ein und den dritten teilten sich die zahlreichen anderen Gesangvereine miteinander.1 Während das Quellenmaterial des Städtischen Musikvereins aufgrund seiner exponierten Rolle innerhalb der Stadtgeschichte relativ ergiebig ist, lassen sich über viele andere Gruppierungen nicht einmal rudimentäre Informationen finden, wie zum Beispiel die Daten der Gründung und ggf. der Auflösung, des Vereinssitzes, der Mitgliederstruktur und insbesondere des regelmäßig gepflegten Repertoires. Abgesehen davon, dass Unterlagen von musikalischen Vereinen oft nicht an Archive abgegeben wurden, sondern in Privatbesitz verblieben oder im ungünstigen Fall entsorgt wurden, stellen bei der Aufarbeitung der Historie oft die Namen ein Problem dar: Wörter wie „Musikverein“, „Gesangverein“ oder „Männerchor“ waren in vielen Fällen gleichzeitig Gattungsbezeichnung und Name zahlreicher Vereine. Fehlerhafte Bezeichnungen in Programmheften oder Zeitungsartikeln trugen zur Unübersichtlichkeit der Vereinsgeschichten zusätzlich bei. 1 Vgl. Alf, Julius, Geschichte und Bedeutung der Niederrheinischen Musikfeste in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, Teil 1, in: Düsseldorfer Jahrbuch. Beiträge zur Geschichte des Niederrheins 42 (1940), S. 131–245, hier S. 240.
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1.2 Vereinszwecke Nachdem im Jahr 1815 die „Rheinlande“ und damit Düsseldorf preußisch geworden waren, bestand für alle musikalischen Vereine die Pflicht, ihre Tätigkeit von der Regierung genehmigen zu lassen. Für die Formulierungen, mit denen die offiziell deklarierte Zielsetzung beschrieben wurde, liefert das in einer Sekundärquelle überlieferte Statut des Düsseldorfer Musikvereins aus dem Jahr 1822 ein frühes Beispiel. Dort ist zu lesen: Der Zweck des Musikvereins 1822 ist: a) eigene Fortbildung der Mitglieder in musikalischer Beziehung, b) Beförderung und Erhebung der Tonkunst und der Liebe zu derselben.2 Seinem Antrag auf Genehmigung fügte der Musikverein ein Schreiben bei, in dem zu lesen war: Bis jetzt fehlte es dem Vereine an der, jeder Gesellschaft erforderlichen oberpolizeÿlichen Bestätigung und Genehmigung ihrer Einrichtung. Unter Bezugnahme auf die ausgesprochenen, keineswegs politischen Zwecke des Vereins, erlauben wir uns um die Anerkennung und Bestätigung desselben ganz gehorsamst […] zu bitten […].3 Der Antrag wurde wenig später von der preußischen Regierung bewilligt. Dieses Procedere der Genehmigung galt im Prinzip für alle musikalischen Vereine während der preußischen Herrschaft. Als Zweck wurde zumeist die Ausbildung der Mitglieder genannt, manchmal auch Geselligkeit und fast immer die Förderung der Tonkunst, was bisweilen durch Formulierungen wie „Ausführung von Männerchören“, „Pflege und Verbreitung gediegener Musik“ oder „Pflege des deutschen Liedes“ präzisiert wurde. Um als Verein genehmigt zu werden, mussten bei der Polizeibehörde eine Mitgliederliste und das Statut vorgelegt werden. Der Zweck des Vereins durfte nur mit Erlaubnis der Regierung geändert werden. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts finden sich zunehmend Formulierungen in den Statuten, die insbesondere das Wirken von Männergesangvereinen als „patriotisch“ und „vaterländisch“ kennzeichnen, jedoch ohne das Wort „politisch“ zu gebrauchen. Insgesamt lässt sich festhalten, dass in ihrer Selbstdarstellung und dem Wortlaut nach sich der überwiegende Teil der musikalischen Vereine, insbesondere in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, nicht als politisch präsentierte.4 2 Fischer, Wilhelm Hubert, Städtischer Musikverein zu Düsseldorf. Festschrift zur hundertjährigen Jubelfeier des städtischen Musikvereins und zum hundertjährigen Bestehen der Niederrheinischen Musikfeste. Mit dem Programm der beiden grossen Jubiläums-Festkonzerte am Samstag, 12. und Sonntag, 13. Oktober 1918, 1818–1918, Düsseldorf 1918, S. 17–18. 3 Brief des Musikvereins an die Regierung 11.10.1822, Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland (LAV NRW R), BR 0007, Nr. 295, Bl. 21b. 4 Zur Entwicklung des Vereinswesens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vgl. Hardtwig, Wolfgang, Strukturmerkmale und Entwicklungstendenzen des Vereinswesens in Deutschland 1789–1848, in: Otto Dann (Hg.), Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland (Historische Zeitschrift, Beih. 9), München 1984, S. 11–50. Zu den Musikvereinen vgl. Klenke, Dietmar, Der Gesangsverein, in: Etienne, François/Schulze, Hagen (Hgg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 3, München 2001, S. 392–407; Heine, Claudia, „Aus reiner und wahrer Liebe zur Kunst ohne äußere Mittel“. Bürgerliche Musikvereine in deutschsprachigen Städten des frühen 19. Jahrhunderts, Zürich 2009.
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II. Düsseldorfer Männergesangvereine
Abb. 33 Männer-Gesangsverein Benrath Caecilia, um 1910
Nachdem 1842 in Düsseldorf der erste Männergesangverein gegründet worden war, nahm die Anzahl derartiger Formationen in der Stadt rasch zu, was deren allgemeine Beliebtheit in den Rheinlanden adäquat widerspiegelt.5 Ab den 1850er Jahren entstanden im Abstand weniger Jahre weitere Männerchöre sowohl auf dem damaligen Gebiet der Stadt Düsseldorf als auch in späteren Stadtteilen wie Benrath, Bilk, Hassels, Kaiserswerth und Volmerswerth,6 die erst im Laufe des 19. Jahrhunderts und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eingemeindet wurden. Das Düsseldorfer Adressbuch führt im Jahr 1891 zwölf Männerchöre auf, für das Jahr 1901 19 und im Jahr 1911 sogar 68. Bis 1938 ging die Anzahl wieder auf 33 zurück. Dass die meisten Männerchöre ihren Vereinssitz in traditionellen Bierlokalen hatten, führte dazu, dass von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an bis zum Zweiten Weltkrieg in den meisten Düsseldorfer Gaststätten mindestens an einem Abend in der 5 Vgl. Schwedt, Elke/Schwedt, Herbert, Gesang- und Musikvereine 1800–2000. Zur Geschichte und Verbreitung laienmusikalischer Vereinigungen, Köln 2002, S. 12–14. 6 Vgl. Benrath, 1856 Männerchor Benrath; Bilk: 1858/67 Männerchor Sängerbund; Hassels: 1864 Männergesangverein; Kaiserswerth 1852 Männergesangverein 1852 (erw.); Volmerswerth 1852 Männergesangverein 1852 (erw.), vgl. Schwedt/Schwedt, Gesang- und Musikvereine, S. 40–41.
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Woche Proben stattfanden. Abgesehen davon, dass die Betreiber an den Stammgästen durch den Verkauf von Bier und Essen gut verdienten, hob die Verbundenheit mit einem traditionellen Männerchor auch das Image eines Lokals und wurde nicht selten als Werbung genutzt. Aufgrund der spärlichen Quellenlage kann nicht im Detail überprüft werden, wie die typische Mitgliederstruktur eines Männergesangvereins aussah, wobei noch erschwerend hinzukommt, dass die Grenzen zu anderen Vereinsformen wie der Liedertafel und dem Kirchenchor fließend waren7 und sich Strukturen innerhalb der Männergesangvereine über die Jahrzehnte hinweg auch veränderten. Abzüglich dieser Unschärfen ist jedoch die Aussage berechtigt, dass die Mitglieder in erster Linie der bürgerlichen Mittelschicht angehörten. In Mitgliederlisten finden sich überdurchschnittlich häufig Berufsbezeichnungen wie Kaufmann, Anwalt, Lehrer, Apotheker, Ingenieur, Hotelier, Wirt, Architekt, Fotograf, Fabrikant und städtischer Beamter. 2.1 Repertoire Die Festlegung auf Werke für Männerstimmen, die auch von Laien zu bewältigen sind, schränkte das Repertoire zwar erheblich ein, reduzierte es jedoch keineswegs auf Triviales. Anspruchsvolle Kompositionen für vierstimmigen Männergesang hatten beispielsweise so berühmte Komponisten wie Felix Mendelssohn Bartholdy (1809–1847), Franz Schubert (1797–1828) und Robert Schumann (1810–1856) verfasst. Neben solchen gehobenen Chorwerken, die meist für Wettbewerbe und öffentliche Konzerte einstudiert wurden, dürfte ein großer Teil des Repertoires, das bei den wöchentlichen Treffen gesungen wurde, aus volkstümlichen Liedern bestanden haben, wobei sich Stücke wie „Lebewohl“ („Morgen muss ich fort von hier“) von Friedrich Silcher (1789–1860) und „Aus der Jugendzeit“ von Robert Radecke (1830–1911) großer Beliebtheit erfreuten. Einen anderen Repertoireschwerpunkt stellten patriotische Lieder dar, zu deren bekanntesten Vertretern „Was ist des Deutschen Vaterland“ von Gustav Reichardt (1797–1884) auf einen Text von Ernst Moritz Arndt (1769–1860) gehörte oder auch „Die Wacht am Rhein“ von Carl Wilhelm (1815–1873). Dieses Liedgut wurde insbesondere im Zuge des fortschreitenden Nationalismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Bevölkerung beliebt. 2.2 Auftrittsanlässe Neben ihrer Teilnahme an überregional ausgerichteten Sängerfesten, bei denen oft zugleich Wettkämpfte ausgetragen wurden, beteiligten sich zahlreiche Männerchöre auch an Benefiz-Konzerten, die unterschiedlichen Zielen dienten. Außer der grundlegenden Unterstützung von Bedürftigen finden sich im Rahmen der zunehmend nationalistischen 7 Vgl. Schwedt/Schwedt, Gesang- und Musikvereine, S. 12.
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Haltung im Land, insbesondere nach der Reichsgründung 1871, immer mehr Quellen, laut denen die Einnahmen beispielsweise für den deutschen Flottenbau verwendet wurden. Auch nahm die Anzahl von Konzerten zu, bei denen Männergesangvereine sich an nationalistisch geprägten Veranstaltungen beteiligten. In diesem Zusammenhang sind vor allem Kaisergeburtstage zu nennen und Gedenktage wie die Sedanfeiern, die an die gewonnene Schlacht bei Sedan über die Franzosen im Jahr 1870 erinnerten. In Düsseldorf beteiligten sich Männergesangvereine am großen Einheitsfest im Jahr 1848, bei welchem mit Umzügen, Konzerten, Reden und einer überdimensionalen Germania-Statue die Einheit Deutschlands propagiert wurde, und 1888 an einem Benefizkonzert für ein Kaiserdenkmal in Düsseldorf, das 1896 aufgestellt wurde. Ein Beispiel aus dem 20. Jahrhundert für die Beteiligung mehrerer Düsseldorfer Männergesangvereine an einer besonders groß angelegten Veranstaltung war die Jahrtausendfeier im Jahr 1925, bei welcher in diversen Städten der 1000-jährigen Zugehörigkeit des Rheinlands zum Deutschen Reich gedacht wurde.8 Neben 50.000 Besuchern war sogar Reichspräsident Paul von Hindenburg (1847–1934) zu den Feierlichkeiten in Düsseldorf gekommen, die Oberbürgermeister Robert Lehr (1883–1956) in einer Rede als ein „Bekenntnis zum Deutschen Reich“ bezeichnete.9
Abb. 34 Programmheft zum „Fest-Concert für das Kaiser-Denkmal“, 13.6.1888 8 Vgl. dazu Johanning, Antje, „Ein Reich, ein Volk, ein Geist!“ Zur Inszenierungspraxis der Jahrtausendfeiern, in: Cepl-Kaufmann, Gertrude (Hg.), Jahrtausendfeiern und Befreiungsfeiern im Rheinland. Zur politischen Festkultur 1925 und 1930 (Düsseldorfer Schriften zur neueren Landesgeschichte und zur Geschichte Nordrhein-Westfalens, Bd. 71), Essen 2009, S. 85–110. 9 Vgl. Weidenhaupt, Hugo, Kleine Geschichte der Stadt Düsseldorf, 10. überarbeitete und erweiterte Aufl., Düsseldorf 1993, S. 159.
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2.3 Der Städtische Männergesangverein Unter den Männergesangvereinen in Düsseldorf nahm der 1842 gegründete und zugleich erste in der Stadtgeschichte nachweisbare eine besondere Position ein. Im Jahr 1845 trat er beim ersten städteübergreifenden Sängerfest mit Krefelder und Elberfelder Gesangsformationen auf, und im Folgejahr beteiligte er sich am ersten deutsch-flämischen Sängerfest, bei dem mehr als 2.000 Sänger und 300 weitere Musiker mitwirkten. Der Dirigent dieser riesigen Veranstaltung im Kölner Gürzenich war Felix Mendelssohn Bartholdy, der für diesen Anlass extra seinen „Festgesang an die Künstler“ op. 68 komponiert hatte.10 Auch in späteren Zeiten orientierten sich die Männerchöre des Rheinlands mit ihrem Bemühen um künstlerischen Austausch oft in Richtung des frankophonen sowie deutsch- und flämisch-belgischen Raums.11 Die Aktivitäten des Männergesangvereins wurden von der Stadt so hochgeschätzt, dass ihm 1848 für seine Verdienste der Beiname „städtisch“ verliehen wurde und außerdem der preußische Prinz Friedrich (1794–1863) das Ehrenamt des Protektors, also des Schirmherrn, übernahm. Im Jahr 1850 organisierte der Städtische Männergesangverein sogar ein eigenes Sängerfest in Düsseldorf als Ersatz für das ausgefallene Niederrheinische Musikfest.12 Der Beiname „städtisch“ bedeutete übrigens nicht, dass sich der Verein mit seinen Aktivitäten an die Stadt gebunden sah. Stattdessen reiste er wie zahlreiche andere Männergesangvereine zu Sängerfesten und Wettbewerben. Das Ende seiner Tätigkeit ist nicht näher dokumentiert. Für das Jahr 1911 lässt sich lediglich ein Konkursverfahren nachweisen, infolgedessen der Verein aufgelöst wurde.13 2.4 Zusammenarbeit mit prominenten Musikern Abgesehen von dem Vergnügen, in der Freizeit musikalische Werke zu singen, die dem persönlichen Geschmack entsprachen, und mit Gleichgesinnten gesellig zu verkehren, gab es für die Mitglieder größerer Männergesangvereine den zusätzlichen Mehrwert, dass sie und insbesondere die Vorstände in der städtischen Gesellschaft gut vernetzt waren, was ihnen Vorteile bei beruflichen und politischen Aktivitäten verschaffte. Darüber hinaus war die Zusammenarbeit mit prominenten und einflussreichen Künstlern für die Vereinsmitglieder ein Gewinn. Neben Mendelssohn, der wie bereits erwähnt das große Sängerfest 1846 dirigiert hatte, war beispielsweise Robert Schumann bei dem
10 Vgl. Schwedt/Schwedt, Gesang- und Musikvereine, S. 13. 11 Vgl. ebd., S. 18. 12 Die Niederrheinischen Musikfeste fanden mit Unterbrechungen zwischen 1818 und 1958 turnusmäßig in den Städten Düsseldorf, Köln und Elberfeld, später in Aachen anstelle von Elberfeld, statt und zählten zu den bedeutendsten deutschen Musikfesten. 13 Vgl. Bekanntmachung Nr. 14826 vom 20.12.1911, in: Öffentlicher Anzeiger. Beilage zum Amtsblatt für den Regierungsbezirk Düsseldorf, Jg. 1911, Nr. 299, 27.12.1911, S. 2389.
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Sängerfest 1852 in Düsseldorf als Preisrichter vertreten, und seine berühmte Frau Clara Schumann (1819–1896) wirkte als Solistin mit.14 Zu den repräsentativen Direktoren und Dirigenten einiger Düsseldorfer Männergesangvereine gehörte beispielsweise Julius Tausch (1827–1895), der von 1856 bis 1861 Städtischer Musikdirektor war; anschließend dirigierte er bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1889 den Städtischen Männergesangverein. Auch sein Nachfolger Julius Buths (1851–1920, Amtszeit 1890–1908) arbeitete mit dem Düsseldorfer Lehrer-Gesangverein zusammen. 2.5 Image der Männergesangvereine Um es mit den Worten zu sagen, die der Städtische Männergesangverein selbst gebrauchte, um seine Kunstform zu beschreiben: Der vierstimmige Männergesang galt verglichen mit dem gemischten Chorgesang als das schlichtere Kind der Frau Musica15. Diese Meinung findet sich auch in der öffentlichen Wahrnehmung bestimmter Gesellschaftskreise wieder, wo sie mit einem nicht zu überhörenden Dünkel kommuniziert wurde, so beispielsweise in einem Zeitungsartikel von 1852: Wir haben nichts gegen den Männergesang an sich; aber er bleibe in seiner Sphäre.16 Und weiter war dort zu lesen: Der Männergesang sei als Gattung künstlerisch minderwertig und wenig ausbaufähig, sei eher in kleineren Städten präsent und werde von Personen aus den mittleren und unteren Ständen praktiziert. Zudem seien die veranstalteten Wettbewerbe der Bedeutung der Stücke nicht angemessen. Die von Julius Alf beschriebene Hierarchie innerhalb Düsseldorfs – oben der Städtische Musikverein, der einen gemischten Chor repräsentierte, in der Mitte der vergleichsweise renommierte Städtische Männergesangverein und unten die übrigen Gesangvereine, von denen die meisten reine Männerchöre waren, – spiegelt im Prinzip die nach außen kommunizierte Haltung des gehobenen Bürgertums wider, das seine Musik über den Männergesang stellte. Die Ausführenden dieser Kunstform selbst hingegen sprachen ihrer Musik, auch wenn sie sich der Beschränkungen und ihrer „Schlichtheit“ bewusst waren, dennoch eine versittlichende und veredelnde17 Kraft zu, wie es der Städtische Männergesangverein in der Festschrift zu seinem 50-jährigen Bestehen formulierte. Der vierstimmige Männergesang habe dazu beigetragen, die Liebe zum Kaiser und Reich zu entzünden, sich von Frankreich abzugrenzen und einen Beitrag zur Einigung des Reiches geleistet18 – eine Darstellung, die für die Selbsteinschätzung der Ausführenden des Männergesangs durchaus repräsentativ war. 14 Vgl. Fest-Buch zu der am 15., 16. und 17. Oktober 1892 stattfindenden Feier des 50jähr. Bestehens des Städtischen Männergesangvereins in Düsseldorf verbunden mit dem 21. Jahresfeste des Rheinischen Sängervereins, Düsseldorf 1892, S. 19–21. 15 Ebd., S. 4. 16 Das Gesangsfest in Düsseldorf, in: Rheinische Musik-Zeitung für Kunstfreunde und Künstler, Nr. 111 (= 3. Jg., Nr. 7), 14.8.1852, S. 881–885, hier S. 882. 17 Fest-Buch, S. 3. 18 Vgl. Fest-Buch, S. 3, 5 und 9.
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2.6 Frauengesangvereine In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden auch einige Frauenmusikvereine in Düsseldorf wie beispielsweise der Damen-Gesang-Verein unter Leitung der Konzertsängerin und Gesangspädagogin Selma Lenz.19 Aus einem erhaltenen Programmheft und einem Pressespiegel geht hervor, dass der Verein unter Leitung von Frau Lenz am 4. Juni 1888 erstmals mit einem Konzert in die Öffentlichkeit trat, bei welchem Solo- und Duett-Nummern sowie Werke für dreistimmigen Frauenchor dargeboten wurden, so zum Beispiel Josef Gabriel Rheinbergers (1839–1901) „Heimfahrt“, Georg Kramms (1856–1910) „Wenn dich der Herr behütet“, Robert Schumanns „Zigeunerleben“ oder der Spinnerinnenchor aus Richard Wagners Oper „Der fliegende Holländer“. Die abgedruckten Kritiken aus einem Zeitraum von etwa zwei Jahren lassen eine wohlwollende, aber nicht gerade überschwängliche Resonanz erkennen. Ein besonderer Einfluss der Frauengesangvereine auf das künstlerische Leben Düsseldorfs ist nicht belegbar.
III. Der Städtische Musikverein zu Düsseldorf
Abb. 35 Städtischer Musikverein zu Düsseldorf bei der Aufführung der Sinfonie Nr. 8 („Sinfonie der Tausend“) von Gustav Mahler, 11./12.12.1912
19 Vgl. Programmheft „Zweites Konzert des Damen-Gesang-Vereins“, StA Düsseldorf, 0–1–2–611.0000, Programm, Bl. 213–216.
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Der Musikverein, seit 1890 (also 42 Jahre nach dem Männergesangverein) offiziell der „Städtische Musikverein zu Düsseldorf “, entstand in etwa zeitgleich mit der Gründung der Niederrheinischen Musikfeste im Jahr 1818 und ließ sein Statut 1822 offiziell von der preußischen Regierung genehmigen. In den ersten Jahren seines Bestehens umfasste er außer einem gemischten Chor auch eine Gruppe von Instrumentalisten, die sich jedoch bald als eigener Instrumentalverein organisierten. In seiner zweihundertjährigen Geschichte hatte der Musikverein verschiedene Namen und war zwischen 1833 und 1880 einem Dachverein (dem „Verein zur Beförderung der Tonkunst“, 1845 umbenannt in „Allgemeiner Musikverein“) untergeordnet. Zwischen 1890 und 1931 fungierte der Verein als selbstständiger Konzertveranstalter. In der Zeit des Nationalsozialismus trat er als ein aktiver und bedeutsamer Faktor in Düsseldorfs Kulturleben auf. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs bestand der Musikverein fort und gewann in der Zeit zwischen den 1960er und 1990er Jahren durch zahlreiche Auslandsreisen und Schallplattenaufnahmen auch überregional an Bedeutung und Einfluss. Trotz seiner langen und wechselvollen Geschichte ist die Aussage berechtigt, dass die Mitglieder und insbesondere die Vorstände primär aus der einkommensstarken bürgerlichen Oberschicht stammten. Im 19. Jahrhundert finden sich im Verein vor allem Staatsbeamte, wohlhabende Unternehmer, Politiker, Offiziere und Künstler; von den Letzteren gehörten viele der renommierten Düsseldorfer Malerschule an. Diese elitäre Prägung, die auch in der veränderten Gesellschaftsstruktur des 20. Jahrhunderts generell erhalten blieb, zeigt sich auch daran, dass der Verein im Jahr 1890 bei der Stadt die Genehmigung einholte, den Beinamen „städtisch“ führen zu dürfen, um sich explizit von anderen musikalischen Vereinen abzusetzen. Die Identifikation des Musikvereins mit Düsseldorf ist bis heute in seinem 1984 kreierten Wappen erkennbar, dessen Ähnlichkeit mit dem Städtischen Wappen offensichtlich ist.20
Abb. 36 Logo des Städtischen Musikvereins zu Düsseldorf e. V., 1984
20 Zum Städtischen Musikverein zu Düsseldorf e. V. vgl. Sträter, Nina, Der Bürger erhebt seine Stimme. Der Städtische Musikverein zu Düsseldorf und die bürgerliche Musikkultur im 19. und 20. Jahrhundert (Schriften zur Politischen Musikgeschichte, Bd. 1), Göttingen 2018. Die Entstehung und Entwicklung des Vereins wird in den Kapiteln 5 bis 12 chronologisch aufgearbeitet. Zur Genehmigung des Beinamens „städtisch“ vgl. ebd., S. 185–186.
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3.1 Stellung in der Düsseldorfer Geschichte Seine besondere Position innerhalb der Stadt erwarb der Musikverein bereits kurz nach seiner Entstehung Anfang der 1820er Jahre. In der Zeit der französischen Herrschaft und der anschließenden Befreiungskriege hatte in Düsseldorf praktisch keine Förderung von Kunst und Kultur stattgefunden, so dass 1815, als die preußische Regierung das Gebiet der schließlich 1822 vereinigten Rheinprovinz zugesprochen bekam, dort kein geregeltes Musikleben existierte. Damals übernahm der von Düsseldorfer Bürgern gegründete Musikverein innerhalb kurzer Zeit Mitverantwortung für die Kirchenmusik, veranstaltete öffentliche Konzerte und organisierte zusammen mit anderen Städten die prestigeträchtigen Niederrheinischen Musikfeste. In den ersten Jahrzehnten seiner Existenz leistete der Musikverein auch auf personalpolitischer Ebene viel für die Stadt, was seine Position weiter festigte. So holte der Vorstand über persönliche Kontakte als seine Dirigenten Felix Mendelssohn Bartholdy, Julius Rietz (1812–1877), Ferdinand Hiller (1811–1885) und Robert Schumann zusammen mit seiner berühmten Frau Clara Schumann nach Düsseldorf; Mendelssohn und Rietz waren neben ihrer Tätigkeit als Vereinsdirigenten auch Städtische Musikdirektoren. Mit seiner Verpflichtung, einen nicht geringen Teil der Gehälter seiner Vereinsdirigenten selbst zu bezahlen, kam der zwischen 1833 und 1880 wirtschaftlich verantwortliche Dachverein bis Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend in Schwierigkeiten, so dass es mit der Stadt immer wieder Streit um finanzielle Zuschüsse und daraus resultierend um Entscheidungsrechte und Kompetenzen gab. Dieses Problem blieb bis ins 20. Jahrhundert hinein bestehen, denn auch an den Gehältern späterer Städtischer Musikdirektoren wie Julius Buths (Amtszeit 1890–1908), Karl Panzner (1866–1923, Amtszeit 1908–1923) und Hans Weisbach (1885–1961, Amtszeit 1926–1933) war der Musikverein in seiner Rolle als Konzertveranstalter beteiligt. Auch bei der Übernahme des Orchesters – heute die „Düsseldorfer Symphoniker“ – in städtische Trägerschaft im Jahr 1864 war der Musikverein gemeinsam mit dem Instrumentalverein und dem Schützenverein beteiligt: Diese gehörten zusammen mit dem Verwaltungsrat der Tonhalle, wo der Sitz des neuen Städtischen Orchesters war, zum Vorstand des Orchesters.21 Durch seine Aktivitäten hatte sich der Musikverein also früh großen Einfluss innerhalb des Düsseldorfer Kulturlebens erkämpft; dieser und der damit verbundene Anspruch, sich als einziger musikalischer Verein „städtisch“ nennen zu dürfen, werden trotz aller Schwierigkeiten bis heute verteidigt.22
21 Vgl. Auszug aus den Vereinbarungen der Stadt Düsseldorf und der städtischen Tonhallen-Verwaltung, 30.9.1864, StA Düsseldorf, 0–1–2–609.0000, S. 24a-24b. 22 Zur Rolle des Städtischen Musikvereins bzw. seiner Vorläufer-Gruppierungen in der Düsseldorfer Geschichte bis 1933 vgl. Sträter, Bürger, S. 72–217.
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3.2 Kernrepertoire des Musikvereins Bis heute haben die Chorwerke seiner beiden Dirigenten Felix Mendelssohn Bartholdy (Amtszeit 1833–1835) und Robert Schumann (Amtszeit 1850–1853) einen hohen Stellenwert innerhalb des regelmäßig aufgeführten Repertoires des Vereins; hinzu kommen noch Werke zahlreicher „Klassiker“ des 18. und 19. Jahrhunderts wie beispielsweise Johann Sebastian Bach (1685–1750), Georg Friedrich Händel (1685–1759), Joseph Haydn (1732– 1809), Wolfgang Amadeus Mozart (1756–1791) und Ludwig van Beethoven (1770–1826). Seit Anfang des 20. Jahrhunderts wurde das Kernrepertoire um Werke von Gustav Mahler (1860–1911) und Richard Strauss (1864–1949) erweitert, die damals im etablierten Konzertbetrieb als modern, wenn nicht gar provokant galten, heute jedoch ebenfalls zu „Klassikern“ geworden sind. Nach dem Ersten Weltkrieg erarbeitete sich der Musikverein bisweilen auch „Avantgarde“-Kompositionen jenseits der klassischen Formen mit tonalem Bezug, beispielsweise von Arthur Honegger (1892–1955), Olivier Messiaen (1908–1992), Krysztof Penderecki (1933–2020) und Edison Denissow (1929–1996). Dennoch ist das Image des Städtischen Musikvereins in der Öffentlichkeit primär das eines Oratorien-Chores, dessen Repertoireschwerpunkt auf traditionellen Werken des 19. Jahrhunderts liegt.23
IV. M ännergesangvereine und Musikverein – Gemeinsamkeiten und politische Positionen Zwischen den zahlreichen Männergesangvereinen und dem Städtischen Musikverein gibt es hinsichtlich ihrer Geschichte und ihrer Rolle innerhalb der Stadt Düsseldorf zahlreiche Unterschiede, doch in der Alltagspraxis kam es im Wirken aller Gruppierungen immer wieder zu Überschneidungen. So war bei den zuvor exemplarisch genannten patriotischen Feiern – dem Einheitsfest 1848, dem Benefizkonzert für das Kaiser-WilhelmDenkmal 1888 und der Jahrtausendfeier 1925 – neben den Männergesangvereinen auch der Musikverein beteiligt, wenn auch in etwas anderer Funktion. Beim Einheitsfest beispielsweise traten laut Berichterstattung in der Zeitung Männerchöre mit „patriotischen Quartetten“, die nicht im Einzelnen genannt wurden, in Erscheinung, während der Musikverein als Repräsentant der „Hochkultur“ ein entsprechendes Konzert gab: In Verbindung mit zwei reinen Instrumentalstücken, nämlich der Ouvertüre zu „Egmont“ von Beethoven und der Ouvertüre aus Webers Oper „Oberon“, sang der Chor Ausschnitte aus Mendelssohns Oratorium „Paulus“, Ferdinand Hillers „Die Zerstörung Jerusalems“, 23 Eine umfangreiche Chronik der Konzerte und aufgeführten Werke des Städtischen Musikvereins mit nahezu 5.000 Einträgen findet sich bei Städtischer Musikverein zu Düsseldorf e. V., Chronik der Konzerte und aufgeführten Chorwerke von 1818 bis heute, abgerufen unter: https://archiv.musikverein-duesseldorf. de/chronik-der-konzerte/ (abgerufen am 15.01.2022).
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Händels „Judas Maccabäus“ und das Halleluja aus dessen „Messias“.24 Bei Bedarf arbeiteten die verschiedenen musikalischen Vereine jedoch auch in Konzerten zusammen, wie es 1925 bei der Jahrtausendfeier in Düsseldorf geschah: Um die Ouvertüre „Manfred“ von Robert Schumann passend zum Anlass in einer riesigen Besetzung mit 1.000 Chorsängerinnen und -sängern aufführen zu können, wurde der Städtische Musikverein von mehreren hiesigen Gesangvereinen25 unterstützt. Auch gab es zahlreiche Gemeinsamkeiten bei der Zusammenarbeit mit berühmten Musikern, die erkennen lassen, dass diese oft keine Berührungsängste hinsichtlich des vierstimmigen Männergesangs hatten, den das elitäre Bürgertum aufgrund seiner „Schlichtheit“ wenig schätzte: Düsseldorfer Männergesangvereine arbeiteten im Laufe der Zeit ebenso wie der Musikverein mit Felix Mendelssohn Bartholdy, Robert und Clara Schumann, Julius Tausch, Julius Buths und zahlreichen anderen renommierten Dirigenten und Solisten zusammen. Bei der Diskussion um die Anstellung eines Städtischen Musikdirektors im Jahr 1855 drängten der Städtische Männergesangverein und der Musikverein sogar gemeinsam auf die Anstellung von Julius Tausch und trugen auf diese Weise mit dazu bei, dass dieser ihnen bereits bekannte Dirigent die Anstellung erhielt und keiner der zahlreichen Bewerber von außerhalb, unter denen man wahrscheinlich noch qualifiziertere Musiker hätte finden können. So kam es, dass Tausch von 1856 bis 1889 als Chordirektor des Musikvereins und teilweise zeitgleich, von 1872 bis 1889, auch als Chordirektor des Städtischen Männergesangvereins tätig war. Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen diesen bestand darin, dass beide den in Düsseldorf residierenden Prinzen Friedrich von Preußen als Protektor hatten, der Konzerte beider Vereine gern besuchte und mit den Vorständen freundlich korrespondierte. 4.1 Spannungsfeld Theorie und Praxis Der Widerspruch zwischen den theoretischen Zuschreibungen zu den verschiedenen Vereinsformen sowie Musikstilen und der Alltagspraxis fällt gerade im Zusammenhang mit dem Prinzen Friedrich ins Auge: So vertraten Männergesangvereine eigentlich den ideologischen Anspruch, das Prinzip des Geburtsadels abzulehnen und den Kontakt mit preußischen Adeligen zu meiden, da sie diese als herrschsüchtig, übertrieben vornehm, treulos und selbstsüchtig einschätzten.26 Die Ehre, von Prinz Friedrich persönlich protegiert zu werden, wollte der Städtische Männergesangverein aber offenbar doch nicht zurückweisen. 24 Vgl. Nähere Bestimmungen zum Festprogramm, in: Düsseldorfer Journal und Kreis-Blatt, Jg. 10, Nr. 212, 6.8.1848, [S. 1]. 25 Verwaltungsbericht der Stadt Düsseldorf für den Zeitraum vom 1. April 1925 bis 31. März 1928. Bearbeitet im Statistischen Amt, Düsseldorf 1928, abgerufen unter: http://digital.ub.uni-duesseldorf.de/ ihd/periodical/titleinfo/4816402 (abgerufen am 16.8.2021). 26 Vgl. Klenke, Dietmar, Der Gesangsverein, in: François, Etienne/Schulze, Hagen (Hgg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 3, München 2001, S. 392–407, hier S. 398.
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In der Zeit des Nationalsozialismus bestanden die musikästhetischen und gesellschaftlichen Unterschiede zwischen den verschiedenen Vereinen zwar weiter, doch wurden grundsätzlich alle Arten von Musikvereinen wegen ihrer Tradition geschätzt und waren für die Propaganda gleichermaßen wertvoll. Daher darf es nicht überraschen, dass viele Männergesangvereine ebenso wie der Städtische Musikverein das nationalsozialistische System jeweils im Rahmen ihrer Möglichkeiten unterstützten – die einen eben primär durch volkstümlich-nationalistischen Männergesang und die anderen durch die Darbietung von Werken, die gemäß der nationalsozialistischen Ideologie der deutschen „Hochkultur“ zuzurechnen waren.27 Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass die Unterschiede zwischen den verschiedenen Vereinsformen bei allen theoretischen Abweichungen in der alltäglichen Proben- und Konzertarbeit oft verwischten. Dazu trug maßgeblich bei, dass zwar jeder Verein sein eigenes Netzwerk innerhalb der Stadt besaß, viele Bürger aber Mitglied in mehreren Vereinen mit unterschiedlichen Zwecken und Zielsetzungen waren, so dass diese Vernetzungen nicht selten komplex und weit verzweigt waren. Überall dort, wo sich dabei die Schichten der einzelnen Vereine berührten, konnten diese durchlässig werden und theoretische Grenzen zwischen Mitgliedern, Werkformen und Kooperationspartnern aufweichen. 4.2 Was heißt „politisch“? Eine weitere Gemeinsamkeit der meisten musikalischen Vereine war die in ihren Statuten festgehaltene vorrangige Zielsetzung, zur Pflege der Musik beizutragen, die Mitglieder künstlerisch weiterzubilden und die Geselligkeit zu pflegen. Aus diesem Anspruch resultierte eine manchmal ebenfalls formulierte und manchmal auch nur implizierte unpolitische Haltung der Vereine, die jedoch mit der Wirklichkeit des Alltags nicht übereinstimmte. Die Vermeidung des Begriffes „politisch“ resultierte, wie bereits dargestellt, primär aus der Tatsache, dass ein Verein sich als „unpolitisch“ deklarieren musste, wenn er wollte, dass die preußische Regierung sein Statut und damit sein Wirken offiziell genehmigte. Der Begriff „unpolitisch“ bedeutete in diesem Zusammenhang jedoch nichts anderes, als dass der Verein bestätigte, nicht mit radikalen Studentenverbindungen, Sozialisten, Kommunisten, kurz mit Vertretern jener Gruppen zu sympathisieren, die als regierungsfeindlich betrachtet wurden. Diese Definition von „unpolitisch“ lässt es bereits fraglich erscheinen, dass Vereine wirklich politikfreie Räume waren.28
27 Siehe hierzu Sträter, Nina, Die Reichsmusiktage in Düsseldorf 1938 und 1939; im vorliegenden Band. 28 Zur Entstehung des Vereinswesens in Deutschland sowie zur politischen Dimension von Vereinen vgl. Röbke, Thomas, Der Verein als Form zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation – Historische Betrachtungen und aktuelle Schlussfolgerungen, in: Newsletter Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement 01/2012, abgerufen unter: https://www.lbe.bayern.de/imperia/md/content/stmas/lbe/pdf/vereine_2011.pdf (abgerufen am 15.01.2022), vgl. außerdem: Hardtwig, Strukturmerkmale.
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Die Definition des Begriffes „politisch“ ist ebenso komplex wie umstritten, doch dürfen gewisse Aspekte als gültig angenommen werden. So ist es berechtigt, bezogen auf das moderne Staatswesen, welches im 18. Jahrhundert die Standesgesellschaft ablöste und zur Entwicklung der modernen Verwaltungsstaaten führte, festzuhalten: „1) Politik bezeichnet aktive Teilnahme an der Gestaltung und Regelung des menschlichen Gemeinwesens. 2) Politik ist aktives Handeln, das a) auf die Beeinflussung staatlicher Macht b) den Erwerb von Führungspositionen [oder] c) die Ausübung von Regierungsverantwortung abzielt.“29 Ausgehend von diesen Merkmalen soll im Folgenden dargestellt werden, warum das Wirken von Vereinen per se eine höchst politische Angelegenheit war und es bis heute ist: Der Verein war die wichtigste Organisationsform der bürgerlichen Kultur seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, die es den Bürgern ermöglichte, sich nach ihren persönlichen Interessen frei zusammenzuschließen und jederzeit die Gruppierungen auch wieder zu verlassen bzw. aufzulösen. In dieser Form der Organisation können Vereine bis heute in vielfältiger Weise auf Gesellschaft und Politik einwirken und schaffen damit ergänzend zur Privatwirtschaft und staatlichen Leistungen eine dritte Form der Beteiligung, den „dritten Sektor“ oder auch „Non-Profit-Sektor“.
V. Politische Einflussnahme musikalischer Vereine Die politische Dimension des Vereinswesens zeigt sich zum einen in der Selbstinszenie rung eines Vereins, zum anderen in seinem Wirken nach außen sowie seinen Möglichkeiten gesellschaftlicher und politischer Einflussnahme.30 Zunächst einmal entscheiden politische Haltung und die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gesellschaftsschicht der Mehrheit der Vereinsmitglieder über die gesellschaftliche und politische Ausrichtung des Vereins. Konkret wirkt sich dies bei einem musikalischen Verein auf die Auswahl seines Repertoires, seiner Auftrittsorte und seine Gestaltung von Konzerten aus, was wiederum Außenwahrnehmung und Image in der Öffentlichkeit prägt. Weitere Aspekte, die von der gesellschaftlich-politischen Ausrichtung beeinflusst werden, sind beispielsweise der Vereinssitz (Bierlokal oder Konzerthalle) und die farbliche und symbolische Gestaltung eines Wappens bzw. in heutiger Zeit meist eines Logos, das auf Fahnen, Programmheften, Reversnadeln, Briefpapier, Werbematerialien und im Internet präsentiert wird. Auch Namen bzw. Beinamen bringen zum Ausdruck, wie sich der Verein politisch und gesellschaftlich positioniert. Unter den musikalischen Vereinen in der Düsseldorfer Geschichte seien als Beispiele genannt: Städtischer Männergesangverein, Nieder29 Schubert, Klaus/Klein, Martina: Das Politiklexikon, Bonn 2003, S. 223. 30 Zur Bedeutung von Musik für das Erleben eines Nationalgefühls sowie politischer Botschaften vgl. Mecking, Sabine, ‚Deutsche‘ Musik, eine Illusion? Phänomene der Inklusion und Exklusion, in: Dies./Wasserloos, Yvonne (Hgg.), Inklusion & Exklusion. ‚Deutsche‘ Musik in Europa und Nordamerika 1848–1945, Göttin gen 2016, S. 7–30.
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rheinischer Musikverein (Bindung an Stadt, Stadtteil oder Region), Concordia, Eintracht, Germania (Patriotismus), Frohsinn, Erholung, Sangesfreude (Geselligkeit), Cäcilia, Ev. Kirchenchor (religiöse Ausrichtung). Manchmal kennzeichnet der Name auch die Zugehörigkeit zu einem Unternehmen wie beim Betriebschor Amt für Abfallwirtschaft und Stadtreinigung 1932 oder Ernst-Poensgen-Chor, seine Besetzung, so bei dem Altstädter Doppelquartett, oder das bevorzugte Repertoire wie bei dem renommierten Bachverein. Die Ausrichtung eines Vereins trägt außerdem maßgeblich zu der Entscheidung bei, welche Personen als Gastkünstler, Ehrenmitglieder und als Protektor bzw. Schirmherr ausgewählt werden. Und selbst in der internen Semantik des Vereins kann sich seine politische Haltung niederschlagen: So wurde es in der Zeit des Nationalsozialismus bei vielen, aber nicht bei allen Vereinen Usus, das Wort „Vereinsvorstand“ durch „Führer“ zu ersetzen.31 5.1 Einfluss auf regionalpolitische Entscheidungen Die Möglichkeiten der Einflussnahme nach außen auf konkrete politische Entwicklungen sind ebenfalls vielfältig. So kann ein Verein durch das Mitwirken an Konzerten, Musikfesten und Wettbewerben die Außenwahrnehmung einer Stadt oder einer Region beeinflussen. Infolgedessen kann deren Image auf- oder abgewertet werden, was unter Umständen finanzielle Konsequenzen hat. Durch die Beteiligung an vereinseigenen Netzwerken haben seine Mitglieder nicht selten Einfluss auf Entscheidungen der städtischen Kulturarbeit, etwa auf die Vergabe von Geldern, Personalpolitik oder andere Entscheidungen. So waren es in Düsseldorf, wie bereits dargestellt, der Städtische Musikverein, der Instrumentalverein und der Schützenverein, die als Mitglieder des Verwaltungsrates für den Übergang des Orchesters in städtische Trägerschaft mit verantwortlich waren. Personalentscheidungen innerhalb von Düsseldorf beeinflusste der Musikverein beispielsweise 1833 und 1850, als sein Vorstand die renommierten Musiker Felix Mendelssohn Bartholdy sowie Robert und Clara Schumann nach Düsseldorf holte, was für die Stadt einen enormen Imagegewinn bedeutete. Als die Mitglieder des Musikvereins jedoch 1908 aus Ärger über die Personalentscheidung, den Städtischen Musikdirektor Julius Buths nicht mehr in die Planung der Niederrheinischen Musikfeste einzubinden, ihre Beteiligung verweigerten und damit das Fest in jenem Jahr platzen ließen, verursachten sie einen nicht geringen Imageschaden.32 31 Auch der Städtische Musikverein hatte 1933 den Zeichen der Zeit gemäß seinen Beirat durch einen Führer- Rat ersetzt (siehe Auszug aus dem Beschlussbuch des Städtischen Musikvereins zu Düsseldorf, e. V., Sitzung vom 21. Sept. 1933, StA Düsseldorf 0–1–20–624.0000, Bl. 110b). Dass dieser Rat nicht von Dauer war, hatte weniger weltanschauliche als verwaltungsrechtliche Gründe: Ein Führer-Rat war in der Vereinssatzung von 1931, welche die Grundlage der Kooperationsvereinbarung mit der Stadt bildete, nicht vorgesehen. Entsprechend findet sich bereits im folgenden Beschlussbuch-Auszug (ebd., Bl. 111a) wieder die alte Bezeichnung Beirat. 32 Zum Eklat um den Ausfall der Niederrheinischen Musikfeste 1908 vgl. Thoene, Walter, Julius Emil Martin Buths, in: Fellerer, Karl Gustav (Hg.), Rheinische Musiker. 1. Folge, Köln 1960, S. 52–61, hier S. 55;
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5.2 Entstehung von Konzertwesen und Musikmarkt Abgesehen von solchen konkreten Beispielen der Einflussnahme innerhalb städtischer und regionaler Geschichte hat das Wirken der zahllosen musikalischen Vereine im 19. Jahrhundert auch auf wirtschaftlicher Ebene zu entscheidenden Veränderungen beigetragen: Dadurch, dass in Vereinen organisierte Bürger begannen, Musik für zahlende Besucher öffentlich aufzuführen, stießen sie die Entwicklung des bis heute existierenden kommerzialisierten Konzertwesens an. In diesem Zuge etablierten sich Berufe wie Konzertveranstalter, Musikkritiker und Fachautoren, es entstanden Musikverlage, Fachzeitschriften, subventionierte Orchester und Konzerthäuser sowie seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert eine umfangreiche Tonträgerindustrie. Auch trugen die musikalischen Vereine langfristig zur Konstruktion von Musikgeschichte bei, indem sie an Konzerten mitwirkten, die anlässlich von Gedenktagen oder der Errichtung von Denkmälern veranstaltet wurden, welche sichtbar im öffentlichen Raum historischen Persönlichkeiten einen bestimmten Stellenwert zuwiesen. Auch Benefizkonzerte gehören in diese Kategorie, denn mit der Entscheidung darüber, welche Personen oder Projekte als benefizwürdig angesehen werden, beeinflusst ein Verein die Wahrnehmung eben dieser in der Öffentlichkeit. Durch die Auswahl der aufgeführten Stücke trug außerdem jeder Musikverein dazu bei, langfristig einen Werkkanon zu etablieren und zu festigen. Bestimmte Kompositionen wurden dadurch zu „Klassikern“ des Konzertlebens gemacht, während andere zeitweilig oder dauerhaft „in der Versenkung verschwanden“. Texte in Zeitungen, Programmheften, Lexika und anderen Büchern unterstützten diese Steuerung der Publikumsrezeption.33 5.3 „Deutsche“ Musik und Nationalismus Insbesondere seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts trugen die Musikvereine und Männergesangvereine durch die Aufführung von patriotischen Liedern dazu bei, die neu konstruierte Idee einer „deutschen Musik“ in der Bevölkerung zu verankern und damit das immer stärker werdende Nationalgefühl zu festigen. Hierzu war die Musik besonders prädestiniert, da sie wie keine andere Kunstform emotional und körperlich erfahrbar ist, bei einzelnen Menschen und in Gruppen Emotionen erzeugen und verstärken kann und vgl. außerdem Alf, Julius, Julius Buths, in: Ernst Klusen (Hg.), Studien zur Musikgeschichte des Rheinlandes, Bd. 5, o. O. [Köln] 1978, S. 38–45, hier S. 43. 33 Zur Entstehung eines Konzertwesens sowie eines Werkkanons vgl. Kalisch, Volker, Bürgerliche Musik – Text und Kontext, in: Albrecht, Clemens (Hg.), Die bürgerliche Kultur und ihre Avantgarden (Kultur, Geschichte, Theorie. Studien zur Kultursoziologie, Bd. 1), Sonderdruck Würzburg 2004, S. 37–56; Mittmann, Jörg-Peter, Musikerberuf und bürgerliches Bildungsideal, in: Koselleck, Reinhart u. a. (Hgg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Bd. 2: Bildungsgüter und Bildungswissen (Industrielle Welt, Bd. 41), Stuttgart 1990, S. 237–258; Roeck, Bernd, Lebenswelt und Kultur des Bürgertums in der Frühen Neuzeit (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 9), München 1991.
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damit politische Identität und Gemeinschaftsgefühle zu konstruieren in der Lage ist.34 Die von den Bürgern selbst aufgeführte Musik war also ein entscheidendes Medium, das die neu entstehende deutsche Nationalität sinnlich erfahrbar machte.35 Hierzu ließ sich die zumeist von Männergesangvereinen aufgeführte volksliedhafte Musik mit ihrer einfachen Melodik wirkungsvoll einsetzen,36 doch auch die „Hochkultur“ der meist gemischten Chöre aus der bürgerlichen Oberschicht leistete ihren Beitrag, indem sie regelmäßig Werke wie beispielsweise die Oratorien „Die Schöpfung“ (Uraufführung 1799) und „Die Jahreszeiten“ (Uraufführung 1801) von Joseph Haydn zur Aufführung brachte. Anders als bei früheren Oratorien, denen ein lateinischer Text zugrunde lag, waren hier die Libretti auf Deutsch geschrieben, was die Sprache künstlerisch aufwertete. Durch das häufige Aufführen dieser und anderer deutschsprachiger Chorwerke wurde ein „sprachgestützter Kulturnationalismus“37 unterstützt, der die deutsche Identität der Bürger förderte und langfristig dazu beitrug, dass Letztere sich nach außen von anderen Menschen und Gruppen sprachlich abzugrenzen begannen. Das Propagieren einer vermeintlich überlegenen deutschen Musik gegenüber anderen Nationen schlug jedoch ins Extrem um und gipfelte in Chauvinismus und Nationalismus.38 Die so geschaffenen Strukturen und Symbole innerhalb der Laienmusikkultur griffen im 20. Jahrhundert die Nationalsozialisten umgehend auf und benutzten sie erfolgreich für ihre politische Propaganda. In Vereinen organisierte gemischte Chöre und Männerchöre haben in dieser Geschichte aufgrund ihres unterschiedlichen Repertoires und Erscheinungsbildes verschiedene Rollen gespielt, aber sie alle haben zu der beschriebenen Entwicklung einen Beitrag geleistet. In diesem Zusammenhang darf nicht vergessen werden, dass die Organisationsform des Vereins von Anfang an für jedes Mitglied das Recht beinhaltete, jederzeit aus der Gruppierung austreten zu können; die Beteiligung basierte nicht auf Zwang. Dies bedeutet, dass jedes Mitglied freiwillig und eigenverantwortlich durch seinen finanziellen Beitrag und seine Beteiligung die Aktivitäten des Vereins unterstützte und diesen auch in der Öffentlichkeit repräsentierte. Daher lässt sich die Beteiligung jedes Einzelnen nicht von der gesellschaftspolitischen Dimension der Vereinsarbeit abkoppeln – ein politisches Mitsingen „einfach nur zum Spaß“ oder „um der Kunst willen“ in einem musikalischen Verein war und ist per se nicht möglich.39
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Vgl. Mecking, Musik, S. 7. Vgl. ebd., S. 15. Vgl. ebd., S. 9. Klenke, Dietmar, Deutscher Vereinschorgesang im 19. Jahrhundert zwischen Abgrenzung und transnationalem Austausch – Gesellschaftsgeschichtliche Aspekte, in: Fischer, Erik (Hg.), Chorgesang als Medium von Interkulturalität. Formen, Kanäle, Diskurse (Berichte des interkulturellen Forschungsprojekts „Deutsche Musikkultur im östlichen Europa“, Bd. 3), Stuttgart 2007, S. 361–368, hier S. 362. 38 Vgl. Mecking, Musik, S. 15–16. 39 Zur Struktur sowie zur gesellschaftlichen und politischen Bedeutung des Vereinswesens für die bürgerliche Kultur vgl. Tenbruck, Friedrich H., Bürgerliche Kultur, in: Neidhardt, Friedhelm/Lepsius, M. Rainer/
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VI. Fazit In der heutigen Zeit haben zahlreiche musikalische Vereine mit sinkenden Mitgliederzahlen, Überalterung und darüber hinaus mit dem Image zu kämpfen, altmodisch, patriarchalisch organisiert und bürokratisch zu sein.40 Die Organisationsform des Vereins generell scheint nicht mehr so recht in die aktuelle Gesellschaft zu passen. Trotz der wenig positiven öffentlichen Wahrnehmung sind über den Chorverband Düsseldorf e. V. rund 60 Chöre mit über 2.300 aktiven und fördernden Mitgliedern organisiert, deren Aktivitäten nicht ohne Auswirkung auf die Gesellschaft bleiben können – deutschlandweit zählt der Deutsche Chorverband immerhin über eine Million fördernde und singende Mitglieder in 15.000 Chören. Die wechselvolle Geschichte des musikalischen Vereinswesens in Düsseldorf dürfte exemplarisch gezeigt haben, wie riskant es ist, die Einflussmöglichkeiten der Laiengesangskultur und übergeordnet der Kunstform Musik generell auf Politik und Gesellschaft zu unterschätzen.
Weiss, Johannes (Hgg.), Kultur und Gesellschaft (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Beih. 27), Opladen 1986, S. 263–285. 40 Vgl. Röbke, Verein.
Die WDR-Archive als Spiegel der Musikförderung durch den Rundfunk Jutta Lambrecht
Bis vor kurzem hat die Musikwissenschaft keine oder nur sehr wenig Notiz von den Archiven der Rundfunkanstalten genommen. Dabei spielten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gerade die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten eine entscheidende Rolle beim Wiederaufbau des Musiklebens in Deutschland. In der „Stunde Null“ wurden in den einzelnen Besatzungszonen unter Aufsicht der Alliierten Orchester, Chöre, Bands (wieder)gegründet. Die im Nationalsozialismus verbotene Jazzmusik musste in Deutschland ebenso wieder etabliert werden wie die „Neue“ Musik. Neben dem neu gegründeten Studio für Elektronische Musik des Westdeutschen Rundfunks (WDR) waren und sind es vor allem die zahlreichen der Rundfunkanstalt angegliederten Klangkörper, Sinfonieorchester und Chöre, die mit ihrem Engagement für Neue Musik sowie mit zahllosen Kompositionsaufträgen vielen bedeutenden Komponisten ein Forum bieten. Als Beispiel seien die vom WDR mit veranstalteten „Wittener Tage für neue Kammermusik“, aber auch rundfunkeigene Konzertreihen wie „Musik der Zeit“ genannt. Damit schreibt der Rundfunk Musikgeschichte, und wir sind dank der Rundfunkarchive in der glücklichen Lage, zur Beschreibung dieser Musikkultur archivalische Quellen in ihrer ganzen Vielfalt zur Verfügung zu haben. Der Vortrag zeigt an Beispielen aus der ganzen Bandbreite der Musik, welche Schätze die Archive des WDR bergen.1 Nach dem Zweiten Weltkrieg gründeten die Besatzungsmächte in Deutschland in ihren Zonen neue Sendeanstalten als Institutionen öffentlichen Rechts. Das Rundfunkwesen in Deutschland unterscheidet sich somit z. B. von dem der USA, wo es nur private, kommerzielle Rundfunkanstalten gibt, und dem zwar staatlichen, aber zentralistisch ausgerichteten in Frankreich. Die britische Militärregierung plante hingegen für ihre Besatzungszone ein einheitliches Rundfunksystem nach dem Vorbild der BBC, das den Namen Nordwestdeutscher Rundfunk (NWDR) mit Sitz der Zentrale in Hamburg erhielt. Filialen waren das Funkhaus Berlin (ab 1953 selbstständig als Sender Freies Berlin, SFB) und der Sender Köln, der am 26. September 1945 in der Dagobertstraße 38 auf Sendung ging, dort, von 1 Bei dem Vortrag handelte es sich um einen Spaziergang durch die WDR-Archive, bei dem anhand vieler Bilder von Archivalien gezeigt wurde, in welch vielfältiger Weise der Sender besonders in den beiden ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg die Musik förderte, indem er die im Dritten Reich verbotene Musik wiederbelebte oder erstmals aufführte, und indem er andererseits durch Kompositionsaufträge und spezielle Sendungen zur neuen Musik die zeitgenössische Musik förderte. Es ist daher nahezu unmöglich, diesen Parforceritt schriftlich zu fixieren; auch kann nur ein kleiner Teil der Bilder wiedergegeben werden.
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wo aus 1934–1942 der damalige Reichssender Köln gesendet hatte und wo sich heute das Gebäude der Hochschule für Musik und Tanz befindet. Das 1942 zerbombte Gebäude war für den Sendebetrieb wieder hergerichtet worden. Bald entstanden Pläne für ein neues Funkhaus, das ab 1948 am Wallrafplatz anstelle des zerstörten Hotels Monopol errichtet und 1952 eingeweiht wurde. Gesendet wurde zunächst ein einheitliches Programm auf der Mittelwelle, mit einem Kölner Anteil von 30–40 Prozent; die Einführung der Ultrakurzwelle (UKW) im Jahr 1950 führte zu getrennten UKW-Programmen; das gemeinsame Mittelwellenprogramm blieb jedoch erhalten. Da die Bandarchive nahezu vollständig zerstört waren, man andererseits ohnehin das Musikrepertoire komplett neu zu gestalten hatte, musste das ganze Tagesprogramm komplett mit Livesendungen, später Abb. 37 NWDR-Funkhaus, Dagobertstraße 38, mit Eigenproduktionen gestemmt werden. undatiert Noch in den 1950er Jahren waren 85 Prozent der gesendeten Musiktitel Eigenproduktionen, die restlichen 15 Prozent waren Industrietonträger. Andreas Vollberg bezeichnet es als „Ironie des Rundfunk-Schicksals […], dass die Studio-Orchester der in Köln ansässigen Schallplatten-Riesen – Electrola, Ariola und Polydor – sich nahezu vollständig aus den Musikern der (N)WDR-Ensembles rekrutierten.“2 In den Nachkriegsjahren 1946 und 1947 wurden im Kölner Sender-Ensembles wiederbelebt oder neugegründet. Es entstand in Folge gerade auf dem Gebiet der Unterhaltungsmusik eine Vielzahl von Formationen, die teilweise allein, teilweise in Zusammenarbeit mit anderen Ensembles unter jeweils anderem Namen auftraten. Allein diese aufzudröseln und zuzuordnen würde ein dickes Buch füllen.3 2
Vgl. Vollberg, Andreas, Klingende Phalanx mit Decrescendo. Aufbau und Entwicklung von Instrumentalformationen der Leichten Musik nach 1945 am Beispiel des (N)WDR Köln, in: Scharlau, Ulf/WittingNöthen, Petra (Hgg.), „Wenn die Jazzband spielt …“. Von Schlager, Swing und Operette. Zur Geschichte der Leichten Musik im deutschen Rundfunk, Berlin 2006, S. 53–70. 3 Siehe hierzu ausführlich von Zahn, Robert, Reset oder Reeducation: Musikalischer Wiederbeginn, in: Katz, Klaus u. a. (Hgg.), Am Puls der Zeit. 50 Jahre WDR, Bd. 1: Die Vorläufer 1924–1955, Köln 2005, S. 230–251.
Die WDR-Archive als Spiegel der Musikförderung durch den Rundfunk
Abb. 38 Titelblatt des Operettenquerschnitts „Victoria und ihr Husar“ von Paul Abraham, circa 1948
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Die mit der Währungsreform und der Einführung der D-Mark im Jahr 1948 einhergehende Stabilisierung der Finanzlage war sicher mit ausschlaggebend für die Richtlinien zur Gestaltung eines Musikprogramms, die der Kölner Intendant Hanns Hartmann (1901–1972) am 28. April 1949 per Fernschreiben dem NWDR-Verwaltungsrat Heinrich Raskop (1904–1985) mitteilte.4 In diesem definiert Hartmann vier Stammformationen, die es ermöglichen, das Musikprogramm eines Senders bei vollem Tagesprogramm mit 180 Musikern zu bestreiten5: 1. Ein Sinfonieorchester, 2. ein Unterhaltungsorchester, 3. ein Tanz- und Unterhaltungsorchester und 4. ein Spezialorchester für gepflegte Unterhaltungsmusik. Man erkennt hier deutlich den Schwerpunkt auf der Unterhaltungsmusik. Das Sinfonieorchester wurde ab Januar 1946 schrittweise als Nachfolgeorchester für das 1926 entstandene ehemalige Orchester des Reichssenders Köln gegründet. Hartmann hatte den Berliner Dirigenten und Arrangeur Hans Bund (1898–1982) nach Köln verpflichtet. Das von ihm zusammengestellte Orchester spielte zunächst erfolgreich Unterhaltungsmusik, ehe es aufgelöst wurde, um den Grundstock für das Sinfonieorchester zu legen. Dieses hatte am 21. Februar 1947 als „Kammerorchester des NWDR Köln“ seine erste öffentliche Aufführung.6 Als Unterhaltungsorchester und damit Vorläufer des heutigen WDR Funkhausorchesters Köln gilt das 1947 gegründete „Orchester Hermann Hagestedt“ des NWDR. Hermann Hagestedt (1903–1976), ehemals Geiger im Westdeutschen Kammerorchester und später Gastdirigent im Orchester Leo Eysoldt, war bereits 1946 verpflichtet worden. Für seine 18-Mann-Formation war er allerdings als selbstständiger Unternehmer selbst verantwortlich, bevor der NWDR die Musiker am 1. September 1947 fest anstellte. Ab 1956 wurde das Ensemble vom WDR getragen. Trat das Ensemble nicht unter seinem Leiter auf, firmierte es als Kölner Rundfunkorchester. Unter diesem Namen und unter dem Dirigat des ebenfalls fest angestellten Franz Marszalek (1900–1975) spielte das Orchester in den Jahren zwischen 1949 und 1965 rund siebzig Operetten komplett ein, dazu kamen zahlreiche Querschnitte. Das Orchester trat zusammen mit der WDR Big Band Köln auch als „Großes Unterhaltungsorchester“ auf. Vorläufer der heutigen WDR Big Band Köln ist das im November 1947 gegründete „Tanz- und Unterhaltungsorchester Adalbert Luczkowski“ des NWDR, das seit 1956 vom WDR getragen wurde. Der gebürtige Berliner Luczkowski (1900–1971), Geiger und Kapellmeister, leitete sein Orchester fast zwei Jahrzehnte lang. Sein Nachfolger wurde der Leiter des Berliner RIAS-Tanzorchesters Werner Müller (1920–1998). Mit ihm wurde das Orchester in WDR-Tanzorchester umbenannt. Im Jahr 1974 wurden die Streicher ins Funkhausorchester versetzt, und kurz vor der Pensionierung Müllers im Jahr 1985 wurde das Orchester zur WDR Big Band, ab 1985 unter der Leitung von Jerry van Rooyen (1928–2009). Sie trat zusammen mit dem WDR Funkhausorchester Köln auch als 4 Fernschreiben von Hanns Hartmann an Heinrich Raskop, 28.4.1949. WDR, Unternehmensarchiv, UA 6696. 5 Ebd. 6 Es gibt unterschiedliche Angaben, was als Datum des ersten Konzerts gilt.
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Abb. 39 Titelseite des Arrangements „Space Patrol“ von Peter Thomas für das Tanzorchester Werner Müller, 1978
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„Großes Unterhaltungsorchester“ auf. Heute gilt sie als eine der besten Big Bands der Welt, die bisher schon einige Grammy Awards erhielt. Kommen wir zur letzten von Hartmann definierten Stammformation: ein Spezialorchester für gepflegte Unterhaltungsmusik. Damit sind wir wieder bei Hans Bund angelangt, der nach Anfängen in der Unterhaltungsmusik 1949 ein 14-köpfiges Ensemble namens „Orchester Hans Bund“ aus der Taufe hob, dessen Repertoire vom klassischen Konzertstück bis zum Schlager reichte, und dem eigene Sendeplätze zugeteilt wurden. Hans Bund leitete sein Orchester meist vom Flügel aus. Ab 1959 wurde das Ensemble als „Kleines Unterhaltungsorchester des WDR“ unter Georg Haentzschel (1907–1992) und Heinz Hötter (1923–2000) weitergeführt.
Abb. 40 Ein Arrangement über Georg Haentzschels Klavierstück „Am Rande“, eins der ersten für das „Orchester Hans Bund“, 1948
Neben den genannten vier Stammformationen sind zwei zu nennen, die sich in den Nachkriegsjahren besonders um die Pflege des Jazz verdient gemacht haben: das „Orchester Harald Banter“ (später „Media Band“) und das „Orchester Kurt Edelhagen“. Der Berliner Komponist Harald Banter (geb. 1930) war 1950 nach einer Ausbildung zum Tonmeister beim Berliner Rundfunk als Musikredakteur zum (N)WDR nach Köln
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gekommen. Im November 1952 gründete er das „Harald Banter Ensemble“, eine projektweise zusammenkommende kleine Big Band, aus der 1962 die „Media Band“ des WDR entstand. 1956 veranstaltete er im Kölner Gürzenich das erste Jazzkonzert (unter anderem mit Albert Mangelsdorff, Wolfgang Sauer und seinem eigenen Ensemble), nach dem die Presse ihm attestierte, den Jazz in Köln „gesellschaftsfähig“ gemacht zu haben.
Abb. 41 Das Harald Banter Ensemble, 1955
1957 wurde der Bandleader Kurt Edelhagen (1920–1982) vom WDR für das Rekrutieren einer internationalen Big Band verpflichtet. Deren Mitglieder waren allerdings nicht beim Sender angestellt, sondern direkte Angestellte Edelhagens. Edelhagens Band hatte keinerlei Verpflichtungen, Tanzmusik zu spielen, sondern konnte sich ganz auf den Jazz konzentrieren. Eigene Arrangeure kreierten einen neuen Sound, den Edelhagen-Sound, seine Stücke füllen viele Regalmeter im Notenarchivkeller. Edelhagen wurde vielfach bescheinigt, den Jazz in Deutschland salonfähig gemacht zu haben. Derzeit erleben seine Arrangements eine Renaissance; das BuJazzO (BundesJazzOrchester) unternahm zum Beispiel im Jahr 2016 unter dem Titel „Edelhagen remembered“ eine Tournee mit Titeln aus dem WDR-Notenarchiv.
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Abb. 42 „Autumn Leaves“, Arrangement für das Orchester Kurt Edelhagen, 1957
Abb. 43 Aneinandergereiht mehrere Kilometer lang: Das Aufführungsmaterial des WDR-Notenarchivs, 2007
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Abb. 44/45 Hier gibt es keine Trennung zwischen U und E: Bei den Arrangements für das „Orchester Hans Bund“ stehen „Erotik“ von Edvard Grieg und „Solitude“ von Duke Ellington einträchtig nebeneinander, beide 1949
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Circa 30.000 Spezialarrangements aus dem Bereich gehobene Unterhaltungsmusik befanden sich bei einer Erhebung im Jahr 2015 im Bestand des WDR-Notenarchivs, einem der größten Notenarchive in Europa. Sie sind Quellen für den Wiederaufbau der Unterhaltungsmusik und die Entwicklung des Jazz in Deutschland nach 1945. Der WDR verfügt als Besonderheit weiterhin über rund 200 komplette Bühnenwerke (Opern, Operetten, Singspiele); mehr als die Hälfte davon sind Unikate, für die das Material nach vorhandenen Partituren oder Klavierauszügen für WDR-Produktionen, zum Beispiel für die oben genannten Operetteneinspielungen, hergestellt wurde.
Abb. 46 Das Zugangsbuch des Notenarchivs für Bühnenwerke; in roter Schrift die Operette „Der Vetter auf Besuch“ von Georg Kremplsetzer, in einer Bearbeitung von B. A. Zimmermann, 1948
Parallel zu den Sendungen mit Eigenproduktionen versuchte man, mit Schallplattensendungen besonders das junge Publikum (zurück) zu gewinnen, das mit Begeisterung die „junge“ Musik der Besatzungssender, zum Beispiel British Forces Network (BFN) hörte. Einem, dem das über Jahrzehnte gelang, war der Brite Chris Howland (1928–2013), seit 1952 als Diskjockey beim NWDR beschäftigt, wo er zum Beispiel in der Sendung „Rhythmus der Welt“ über Trends und Neuheiten der internationalen Musikszene berichtete. Seit 1954 präsentierte er als „Schallplattenreiter“ (ein von ihm benutzter Begriff anstelle des englischen Diskjockey) beim WDR Köln in der Sendereihe „Spielereien mit Schallplatten“ englischsprachige Titel, ein Novum in der deutschen Radiolandschaft, mit der viele Hörer, besonders junge, gewonnen werden konnten. Chris Howland
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alias Mr. Pumpernickel oder Heinrich Pumpernickel mit seinem charakteristischen britischen Akzent hatte großen Erfolg mit seinen Sendungen, später zum Beispiel „Musik aus Studio B.“, und saß noch wenige Tage vor seinem Tod vor dem Mikrophon.
Abb. 47 Chris Howland präsentiert live im Studio die neuesten Schallplatten, 1957
Parallel zur Wiederbelebung der während des nationalsozialistischen Regimes verbotenen, unterdrückten oder freiwillig nicht gespielten Musik durch die eigenen Klangkörper entwickelte sich der Kölner Sender ab 1952 durch Vergabe von Kompositionsaufträgen an Komponisten, nicht nur aus Deutschland, sondern aus aller Welt, zu einem der größten Mäzene für zeitgenössische Musik. Schon vorher wurde eine Vielzahl von zeitgenössischen Werken, Kammermusik (vokal und instrumental) im Studio für den Sendebetrieb produziert. Die Zahl dieser Produktionen überstieg bei weitem die der öffentlichen Konzerte im Rahmen der Reihe „Musik der Zeit“, die übrigens heute noch besteht. Mit dem ersten Konzert dieser Reihe eröffnete kein Geringerer als Igor Strawinsky am 8. Oktober 1951 mit eigenen Werken den Sendesaal des Kölner Funkhauses. „Musik der Zeit“ sollte Werke präsentieren, „die unter den Bedingungen des Konzertbetriebes außerhalb der Rundfunkanstalten zu kurz kämen, deren musikalisch-technische und aufführungspraktische Schwierigkeiten die Möglichkeiten der städtischen und
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sonstigen Institutionen übersteigen.“7 Die rasante Entwicklung der Musik, der glückliche Umstand, dass mit Karlheinz Stockhausen (1928–2007) und Mauricio Kagel (1931– 2008) gleich zwei der „phantasievollsten und energischsten Vertreter der musikalischen Avantgarde“ in Köln lebten und das Vorhandensein eines professionellen Chors, des 1947 gegründeten Rundfunkchors, begünstigten die Akzentsetzung auf die Interpretation zeitgenössischer Musik. Damit unterschied sich das Rundfunk-Sinfonie-Orchester von nicht rundfunkeigenen Klangkörpern, die weiterhin in alter Tradition hauptsächlich das klassisch-romantische Repertoire pflegten.8 Gerade in den ersten Jahren erkennt man einen deutlichen Wandel in der Programmgestaltung: Zunächst galt es, unterdrückten oder ignorierten Meisterwerken von Alban Berg (1885–1935), Igor Strawinsky (1882– 1971), Arnold Schönberg (1874–1951) oder Anton Webern (1883–1945) den Weg ins Repertoire „normaler“ (Abo-)Konzerte zu ebnen. Mitte der 1950er Jahre rückte dann die damalige junge Generation mit Karlheinz Stockhausen, Luigi Nono (1924–1990), Bernd Alois Zimmermann (1918–1970) und Pierre Boulez (1925–2016) in den Fokus der Förderung. Seitdem haben viele Generationen von Komponistinnen und Komponisten dank der Förderung durch den WDR den Weg zu einem größeren Publikum gefunden: Tausende von Kompositionsaufträgen wurden mittlerweile uraufgeführt; Komponisten wie Hans Werner Henze (1926–2012), Wolfgang Fortner (1907–1987), Bernd Alois Zimmermann, György Ligeti (1923–2006), Krzysztof Penderecki (1933–2020), Karlheinz Stockhausen, Luciano Berio (1925–2003), Olivier Messiaen (1908–1992), Wolfgang Rihm (geb. 1952) und Helmut Lachenmann (geb. 1935), Luigi Nono, Mauricio Kagel, Jörg Widmann (geb. 1973), Olga Neuwirth (geb. 1968), Rebecca Saunders (geb. 1967), Adriana Hölszky (geb. 1953) hätten vielleicht ohne den Rundfunk nicht die Berühmtheit erlangt, die sie heute haben. Genannt seien hier die „Wittener Tage für neue Kammermusik“, ein Festival der Stadt Witten, seit 1969 in Kooperation mit dem WDR, bei dem mittlerweile bis heute rund 1.500 Werke (ur-)aufgeführt wurden, fast die Hälfte davon als Auftragskompositionen des WDR. Im Jahr 1947 wurde der Komponist und Musiktheoretiker Herbert Eimert (1897– 1972), der bereits von 1927 bis 1933 bei der Westdeutschen Rundfunk AG (WERAG) gearbeitet hatte, der erste Angestellte des (N)WDR. Er übernahm 1947 das Ressort Kulturberichterstattung. Im Jahr 1948 wurde Eimert Leiter des „Musikalischen Nachtprogramms“, einer Sendereihe, die bis 1966 weitergeführt wurde. Dank Eimerts und Werner Meyer-Epplers Initiative beschloss das Kölner Funkhaus, das Studio für Elektronische Musik zu gründen, das Eimert bis 1962 leitete. Neue Musik, Elektronisches Studio und 7 Tomek, Otto, Vorwort, in: Westdeutscher Rundfunk (Hg.), Zwanzig Jahre Musik im Westdeutschen Rundfunk. Eine Dokumentation der Hauptabteilung Musik 1948–1968, Köln o. J., S. X. 8 Vgl. Müller-Adolphi, Heiner, Zurück in die Zukunft? Das Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester an der Schwelle zu einer neuen Zeit, in: Ders. (Red.), „… aber das Neue sollten wir recht eigentlich leben!“ 50 Jahre Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester, hrsg. vom Westdeutschen Rundfunk Köln Öffentlichkeitsarbeit, Köln [1997], S. 5–15. Enthält eine Dokumentation der Sinfoniekonzerte ab Saison 1947/48 bis 1996/97 sowie eine Diskographie.
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Abb. 48 Von Karlheinz Stockhausen (Autor) und Herbert Eimert (zuständiger Redakteur) korrigiertes Sendemanuskript der Sendung vom 24.1.1952 zu Béla Bartóks Konzert für zwei Klaviere, Schlagzeug und großes Orchester
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Abb. 49 In der Folge vom 19.6.1957 kommentiert der Komponist Dieter Schnebel „Zeitmaße“, ein Werk seines Kollegen Karlheinz Stockhausen
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„Musikalisches Nachtprogramm“ standen in engstem Zusammenhang. In der beliebten Sendereihe, die im Schnitt vierzehntäglich abends zwischen 23 und 24 Uhr gesendet wurde, brachten Komponisten den Zuhörerinnen und Zuhörern eigene neue Kompositionen nahe oder analysierten Schlüsselwerke der Moderne. Die Sendung erfreute sich trotz der späten Sendezeit großer Beliebtheit bei der Zuhörerschaft. Zwar wurden die Bänder der Originalsendungen schon vor Jahrzehnten wegen Materialknappheit überspielt, doch kann der Inhalt dank der nahezu lückenlos größtenteils auf schlechtem Durchschlagpapier überlieferten Sendemanuskripte und der Laufpläne mit Angabe der Archivnummern der gesendeten Musiktitel rekonstruiert werden. Noch heute besteht eine regelmäßige Nachfrage von Musikforschern aus aller Welt nach einzelnen Folgen.9 Das „Kölner Studio“ wurde zu einem Zentrum für die musikalische Avantgarde: Karlheinz Stockhausen (der 1963 Eimerts Nachfolger als Leiter des Studios wurde), Karel Goeyvaerts (1923–1993), Henri Pousseur (1929–2009), Gottfried Michael Koenig (1926–2021), Mauricio Kagel, Herbert Brün (1918–2000), Franco Evangelisti (1926–1980), György Ligeti und andere. Auch Künstler wie Hans G. Helms (1932–2012), Wolf Vostell (1932–1998), Nam June Paik (1932–2006), Jörn Janssen und der Musiktheoretiker Heinz-Klaus Metzger (1932–2009) gehörten zum Umfeld.
Abb. 50 Herbert Eimert in „seinem“ Studio für Elektronische Musik, 1955
9 Die Sendemanuskripte (mehrere Tausend mehr oder weniger schlecht erhaltene Seiten aus dünnem Durchschlagpapier) wurden mittlerweile komplett digitalisiert und stehen für die Nutzung vor Ort zur Verfügung.
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Abb. 51 Karlheinz Stockhausen untersucht im Studio für Elektronische Musik mit dem von ihm erfundenen Rotationstisch die Verbreitung des Klangs im Raum, um 1960
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Als „Sprachrohr der internationalen musikalischen Avantgarde“ bezeichnet Otto Tomek (1928–2013) seinen Kollegen Herbert Eimert. Tomek wurde vom Musikabteilungsleiter Karl O. Koch (1911–1982) beim Musikverlag Universal Edition Wien abgeworben. Im Jahr 1957 folgte er dem Werben und war bis zu seinem Ausscheiden im Jahr 1971 wohl der deutschlandweit (wenn nicht europaweit) erste Redakteur für Neue Musik. „Nirgendwo unter den Bergen von Archivmaterialien sämtlicher Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland ist die Geburtsstunde des Redakteurs für Neue Musik dokumentiert. Man kann aber davon ausgehen, dass diese Spezies beim WDR in Köln um das Jahr 1957 entstanden sein muss.“10 In die Wirkungszeit Tomeks, der nach dem Ausscheiden Eimerts 1963 zusätzlich die redaktionelle Leitung des Studios für Elektronische Musik übernahm, fallen aufsehenerregende Produktionen, von denen hier nur beispielhaft die Uraufführungen der „Soldaten“ von Bernd Alois Zimmermann (1965) und der Lukaspassion von Krzystof Penderecki (1966) genannt werden sollen. Letztere erregte auch in politischer Hinsicht großes Interesse: Mitten im „Kalten Krieg“ erhielt ein junger Komponist aus einem kommunistischen Land vom WDR einen Kompositionsauftrag für ein geistliches Werk anlässlich der 700-JahrFeier des Paulusdomes in Münster – hier kann man keineswegs von einem Refugium einer politikfreien Zone sprechen.
Abb. 52 Der Komponist Bernd Alois Zimmermann, Porträtfoto, 1970
10 Jahn, Hans-Peter, Otto Tomek – Der Rundfunk und die Neue Musik, Hofheim 2018, S. 69. „Dem Begriff des Musik-Redakteurs geht der des Sachbearbeiters voraus.“
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Abb. 53 Krzysztof Pendereckis „Lukaspassion“, 1966
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„Die Gunst der föderativen Struktur des Rundfunks in der Bundesrepublik Deutschland hat es ermöglicht, eine so erstaunliche große Zahl von deutschen wie ausländischen Komponisten durch Aufträge zu fördern, der Produktion teils direkt, teils indirekt eine Fülle von Impulsen zu geben, ja im Ganzen geradezu ein Spektrum der Weltmusik nach 1945 auszubreiten. Wenn einmal die Musikgeschichte der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts [i. e. des 20. Jahrhunderts] zu schreiben ist, dann wird der Historiker feststellen, wie viel an weiterführenden Neuerungen, an Stilwechseln, Formbildun- Abb. 54 Otto Tomek (rechts) bespricht mit dem gen, Materialfunden und Nutzanwendun- Komponisten Luc Ferrari dessen neuestes Werk, gen ursächlich mit den Auftragskompositio- undatiert nen des Rundfunks verbunden war. Keine andere Institution öffentlicher Musikpflege wäre in der Lage gewesen, Ähnliches zu bewirken. Ohne den Rundfunk und seine Kompositionsaufträge wäre die Musik unserer Zeit vielleicht in sich nicht anders, auf jeden Fall aber enger und ärmer.“11 Diese Behauptung aus den 1970er Jahren hat auch 40 Jahre später nichts an Aktualität verloren. „Das Kölner Musikleben wäre ohne den WDR ein Musiksterben“, soll Karlheinz Stockhausen gesagt haben.12 Und nicht nur das Kölner.
11 Kulenkampff, Hans Wilhelm, Auftragskompositionen im Rundfunk 1977: VII. 12 Aus Zeitmangel im Vortrag unerwähnt, aber hier doch zumindest genannt werden sollen die Volksmusiksendungen, deren Musiktitel zunächst von WDR-eigenen Volksmusikensembles eingespielt wurden, die Wiederbelebung der Alten Musik und die Förderung von deren Interpretation in historisch informierter Weise. Stichworte sind: Collegium Aureum, Capella Coloniensis, Tage Alter Musik in Herne. Die großartigen Sendungen und Konzerte mit außereuropäischer Volksmusik; zu den iranischen, irakischen und indischen Nächten im Funkhaus und in der Philharmonie kamen die entsprechenden Landsleute busseweise aus ganz Deutschland und den angrenzenden Ländern; die Kooperation mit den Festivals der Liedermacher in Rudolstadt; Jazzfestival in Moers oder Leverkusen, und vieles mehr.
Impulse und Interventionen
Vom schwierigen Zugang zum Schönen1 Andreas Altenhoff
Im Juli 2018 veranstaltete Milica Lopičić (geb. 1979) eine Auktion für ein einziges Kunstwerk.2 Ihre Fotografie „Side Investment – Where the Beauty goes to die“ zeigt eine große gepanzerte Tür, auf der ein Siegel angebracht ist. Die Bieter*innen konnten das eigentliche Werk nicht in Augenschein nehmen, sondern nur eine Reproduktion. Das Original befindet sich unter Verschluss, just hinter der Tür, die auf dem Foto abgebildet ist, in Luxemburg, in einem sogenannten freeport. Niemand außer der Person, die die Fotografie ersteigert, wird länger einen Blick darauf werfen können. Denn das Bild bleibt verborgen hinter der Tür, die es wiedergibt, hinter den Mauern einer nüchternen Lagerhalle, zugänglich allein durch den Transitraum. Um die Freuden des Wohlstands und der Distinktion zu genießen, muss der Besitzer also sein Zuhause verlassen. Privateigentum getrennt vom Privatleben. Ein Freihafen bleibt „frei von Zuschauern, ein Anti-Theatron; er ist ein Ort des Nicht-Sehens.“3
Abb. 55 „Side Investment – art in transit – from an artwork to commodity and back“, versteigertes Fotokunstwerk von Milica Lopičić, Foto: Milica Lopičić, 2018
1 Der Verfasser bittet um Nachsicht für das folgende Fußnoten-Dickicht. Beim Versuch, Verbindungen zwischen populärer Kultur, verschiedenen Künsten und Forschungsdisziplinen herzustellen, ist es, nicht zuletzt auch wegen der erstrebten Kürze, zu einigen undisziplinierten Verkürzungen gekommen. Den Anmerkungen soll daher die Aufgabe zukommen, weitere Bezüge zu benennen, die sich zum Thema „Refugium einer politikfreien Sphäre?“ herstellen ließen. 2 Während des „Rundgangs“ an der Kunsthochschule für Medien Köln (KHM) am 18.7.2018. 3 A freeport stays „free of audience and spectators, an anti-theatron; it is a place of un-seeing.“ siehe Heidenreich, Stefan, Freeportism as Style and Ideology. Post-Internet and Speculative Realism, S. 1, abgerufen unter: www.stefanheidenreich.de/wp-content/2016/03/Heidenreich-Stefan-2016-Freeportism-I. pdf (abgerufen am 4.8.2021). Es wird vermutet, dass in den Freilagern 1,2 Millionen Gemälde verborgen sein könnten. Vgl. dazu Dittmar, Peter, Wo Kunst gebunkert wird, in: Die Zeit, Nr. 9, 21.2.2019, S. 26.
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Alle Menschen mögen gleich sein vor dem Gesetz – sie sind es nicht vor den Künsten. Der Louvre in Paris hat 38.000 Kunstwerke in seiner Ausstellung; das ist nur ein kleiner Teil der Schätze, die das Museum in seinem Depot verwahrt. Rein rechnerisch gibt es für jeden Besucher, der das Gebäude an einem gewöhnlichen Öffnungstag betritt, jeweils ein Stück zu sehen. Zwischen dreißig- und vierzigtausend Leute – das entspricht in etwa der Menge in einem Fußballstadion – ziehen während eines einzigen Tages an den Schaltern vorbei, viele von ihnen im Besitz eines vorab gelösten Online-Tickets: Der beschleunigte Einlass sorgt dafür, dass alle auf dem schnellsten Weg dorthin gelangen, wo es überfüllt ist.4 Jährlich rund neun Millionen Besucher*innen möchten sich Abb. 56 „Waiting for results from the aucder Existenz der „Mona Lisa“ vergewissern. tion“, Artwork, Foto: Milica Lopičić, 2018 Sie können allenfalls einen Blick von wenigen 5 Sekunden auf das Objekt erhaschen. „The Carters“, ein Paar bekannt auch als Beyoncé (geb. 1981) und Jay-Z (geb. 1969), hatten dagegen die Gelegenheit, sich selbst vor den Hauptattraktionen des Louvres zu inszenieren, konnten eine Tanzkompanie engagieren und ein Filmteam den Auftritt aufzeichnen lassen. Der Louvre, eingeführt als eine Marke wie das MoMA, Getty, Guggenheim oder Ludwig, demonstriert auf diese Weise, dass er alles andere ist als museal, dass er es versteht, sich ein modisches Image zuzulegen und, nebenher, auch seine Einnahmen durch außergewöhnliche Maßnahmen zu steigern.
4 Der Louvre empfiehlt, Eintrittskarten online zu kaufen und bietet eine „App“ an, mit der die Wartezeiten angezeigt werden können („Comment entrer au musée en moins de 30 minutes? En achetant votre billet en ligne: Achetez votre billet. Vous pouvez suivre la fréquentation du musée en téléchargeant l’application ‚Affluences‘“). Vgl. auch Holzer, Birgit, Umbau im Louvre. Schneller zur „Mona Lisa“, in: StN.de, abgerufen unter: https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.umbau-im-louvre-schneller-zur-mona-lisa. a64e9868-ad13-4636-972c-3dd48e255458.html (abgerufen am 12.9.2022). Zwischenhändler wie „RentA-Guide“ oder „Getyourguide“ haben in der Vermittlung von Eintrittskarten und Vor-Ort-Betreuung ein Geschäftsfeld entdeckt, siehe „Ohne Anstehen in die Sixtinische Kapelle“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 222, 24.9.2018, S. 20. 5 Online kämen die Fans länger und näher heran, zum Beispiel via Google Arts & Culture (artsandculture. google.com).
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Abb. 57 Mona Lisa betrachtet das Publikum – eine Menschenmenge vor der Mona Lisa, Foto: Max Fercondini, 2015
Abb. 58 Werbeplakat für das Album „Everything is Love“ von „The Carters“, Frankfurt am Main, Foto: Andreas Altenhoff, 5.8.2018
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Die Carters, ihrerseits, verleihen ihrer Befriedigung darüber Ausdruck, dass sie es geschafft haben: We livin’ lavish, lavish, skandieren sie im Song „Apeshit“.6 Sie sind bekannt für ihren Hang zu Luxusgegenständen wie Uhren, Juwelen, Autos. In ihrem im Louvre spielenden Song „Apeshit“ spielen sie ausdrücklich auf diese Obsessionen an. Vielleicht zum ersten Mal beanspruchen beide nach den populären Insignien des Reichtums auch die traditionellen Künste als Statussymbol. Ihr Prestige erreicht Sphären des Immateriellen, sie können sich mit den ewigen Meisterwerken der Malerei und Skulptur wie auch mit den Kennedys auf eine Stufe stellen, die sich 1963 bei einem Staatsempfang auf ähnliche Weise vor dem Gemälde in Pose brachten.7 Auch die Carters „haben es geschafft“, sind in der Lage, das künstlerische Erbe der Menschheit zu instrumentalisieren; und wie der Besitzer von Milica Lopičićs Fotografie können sie Kunst privat genießen. Wir sind daran gewöhnt, Besitz- und Urheberrechte zu respektieren, der Kunst in Sperrgebieten zu begegnen, in Palästen, Galerien, Musentempeln, gelegentlich auch Open Air, aber dann für gewöhnlich hinter Zäunen und Ticketschaltern. Natürliche Schönheit scheint demgegenüber frei zugänglich für alle. Eine Insel wie Capri kann mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreicht werden; es wird, außer für die Monumente der Kunst, kein Eintrittsgeld erhoben. Tag für Tag versuchen zehntausende Besucher*innen, ihr Recht auf Freizügigkeit zu genießen. Stattdessen erfahren sie die Grenzen der Mobilität. Einst ein Zufluchtsort für Tiberius (42 v. Chr.-37 n. Chr.), Munthe (1857–1949), Krupp (1854–1902), Lenin (1870–1924), Gorki (1868–1936), Malaparte (1898–1957) und all die anderen Millionäre, Maler, Schriftsteller und Bonvivants,8 ist auch Capri zu einem Inbegriff des sogenannten Overtourism geworden, der jene, die sich dort einfinden, von der Teilhabe am erhofften Zauber ausschließt – durch die schiere Zahl der Anderen, die sich zur gleichen Zeit am selben Ort aufhalten.9 Vergessen wir aber nicht, dass es für die 6 I can’t believe we made it (this is what we made, made) This is what we’re thankful (this is what we thank, thank) I can’t believe we made it (this a different angle) Have you ever seen the crowd goin’ apeshit? Rah! […] We livin’ lavish, lavish I get expensive fabrics I got expensive habits Abgerufen unter: genius.com/The-carters-apeshit-lyrics (abgerufen am 4.8.2021). 7 Vgl. National Archives, White House Photographs, Robert Knudsen White House Photographs, Unveiling of the Mona Lisa. President Kennedy, Madame Malraux, French Minister of Cultural Affairs Andre Malraux, Mrs. Kennedy, Vice President Johnson. Washington, D. C., National Gallery of Art, 1.8.1963; abgerufen unter: https://catalog.archives.gov/id/194219 (abgerufen am 17.1.2022). 8 Richter, Dieter, Die Insel Capri, Berlin 2018. 9 Vgl. Theile, Charlotte, „Verdammt schön“, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 225, 29.9.2018, S. 57. Charlotte Theile erinnert in einem Artikel über Influencer, die im Handumdrehen ein Refugium wie den Gasthof Aescher in einen Rummelplatz verwandeln können, daran, „dass auch die Weisheit vom Touristen, der ‚zerstört, was er sucht, indem er es findet‘ (Hans Magnus Enzensberger) schon vierzig Jahre alt ist. Der Marktplatz in Venedig oder das Kolosseum in Rom sind ganz ohne Internet zu Paradebeispielen für ‚Overtourism‘ geworden.“
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Abb. 59 Touristen in einer engen Gasse auf der Insel Capri, Foto: Andreas Altenhoff, 8.3.2018
Privilegierten noch einen kleinen Hafen abseits der ausgetretenen Pfade gibt und einen Helikopterlandeplatz. In den letzten Jahren sind die durch das Kino zum Sehnsuchtsort erhobene MayaBay oder Städte wie Barcelona, Venedig,10 Amsterdam oder Dubrovnik zu Inbegriffen11 dieses Syndroms geworden, und selbst die Tourismus-Industrie hat begonnen, darin ein Problem zu sehen.12 Inmitten der egalitär anmutenden Menge besteht die Segregation zwischen Reich und Arm, Anwohnern und Fremden fort – Parallelwelten, die nicht miteinander kommunizieren.13 Die Menschen sind auch nicht gleich vor der Schönheit. 10 Schümer, Dirk, Der Mord von Venedig, in: Welt am Sonntag, Nr. 35, 2.9.2019, S. 13–16. 11 Eine Übersicht bietet die Reportage „Sommer, Sonne, Urlaubsglück“ von Franziska Wielandt, Lisa Jandi, Matthias Ebel. Produziert von „me works“ im Auftrag des ZDF; Sendung am 21. Mai 2018. 12 Vgl. dazu die Studie „Overtourism: Status Quo, Maßnahmen, Best Practices europäischer TourismusDestinationen. ITB Berlin“, veröffentlicht am 10.3.2018. Exklusive Marktstudie von DGT und AIEST für die ITB Berlin. „Auf der weltgrößten Touristikmesse hörte man in diesem Jahr ungewohnte Appelle: Besucherattraktionen baten um weniger Besucher.“ (Allmaier, Michael, „Wir prüfen, welche Kirche …“, in: Die Zeit, Nr. 30, 19.7.2018, S. 52.) 13 D’Eramo, Marco, Die Welt im Selfie, Berlin 2018, S. 183 f. „Auch in menschlicher Hinsicht funktioniert der Tourismus als ein Instrument der Trennung zwischen Anwohnern und Besuchern einer Stadt, denn deren Beziehung zueinander ist alles andere als die von der Anthropologie behauptete zwischen ‚Gast-
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Als hätte nicht David Foster Wallace (1962–2008) schon vor über 20 Jahren Wesentliches zu den Lustpartien auf See gesagt14 und als wären nicht inzwischen einige Erkenntnisse über die Schäden für Beschäftigte und Umwelt publik geworden,15 tritt die Freie und Hansestadt die Flucht nach vorn an. Sie wirbt in Leuchtkästen an entlegenen Bushaltestellen im Rest der Republik für einen Besuch der Elbphilharmonie, vorzugsweise mit einem Kreuzfahrtschiff! Das Werbeplakat feiert den verlustfreien Durchsatz von Urlaubern in das Konzerthaus. Die Transportkette darf nicht unterbrochen werden;16 Künste und Tourismus werden im Event verknüpft.17 Es dürfte statthaft sein, zu vermuten, dass die Besucher*innen des Hauses weder vor dem Politischen fliehen noch sein Fehlen in der musikalischen Darbietung bemängeln werden. Das wirkliche Politikum liegt in einer
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gebern und Gästen‘; vielmehr ist das Verhältnis eher so, wie [Robert E.] Park es beschreibt: Die Wege kreuzen sich, berühren sich aber nicht. Auch wenn sie sich physisch im selben Raum aufhalten, bewegen Anwohner und Touristen sich offensichtlich in zwei unterschiedlichen Dimensionen, in zwei parallelen, nicht miteinander kommunizierenden Welten.“ Ebd., S. 290; mit Hinweis auf Ähnlichkeiten zwischen Touristen und Migranten und als eine Zusammenfassung seiner Studie: „Und wieder isoliert uns etwas voneinander, was uns zugleich miteinander zu kommunizieren erlaubt, trennt uns eine Verbindung. Diese trennende Verbindung ist es, die der Multikulturalismus konstatiert und unbeholfen zu managen versucht.“ Foster Wallace, David, A Supposedly Fun Thing I’ll Never Do Again, New York 1997. In deutscher Übersetzung: Schrecklich amüsant – aber in Zukunft ohne mich, übersetzt von Marcus Ingendaay, Hamburg 2002. Die Reportage-Reihe „Kritisch Reisen“ hat in den vergangenen Jahren in knapp einem Dutzend Beiträgen die sozialen und ökologischen Auswirkungen des Tourismus auf Thailand, die Kanarischen Inseln, Kroatien, die Balearen u. a. m. untersucht; abgerufen unter: www1.wdr.de/fernsehen/die-story/uebersichtkritisch-reisen-100.html (abgerufen am 25.8.2021). Hagen Rether wiederholt bis zur Befremdung die Zeile „Die Kühlkette darf nicht unterbrochen werden“, um damit die Dominanz der Warenproduktion zu skandalisieren. Siehe seinen Auftritt in der ZDF-Sendung „Neues aus der Anstalt“ vom 27.3.2012, abgerufen unter: www.youtube.com/watch?v=G9r7D_6Tx4E (abgerufen am 4.8.2021). Die aktuell (2021/22) grassierende Sorge um „unsere Lieferketten“ belegt die visionäre Kraft von Rethers Formel. Seliger, Berthold, Klassikkampf, Ernste Musik, Bildung und Kultur für alle, Berlin 2018, S. 206 f. „Die Hamburger Handelskammer verlangt in einem 2014 veröffentlichten Standortpapier, dass Hamburg bis zum Jahr 2025 ‚zur relevantesten Musikstadt Deutschlands‘ werden solle. Doch wie soll das geschehen? Durch umfassenden Musikunterricht an allen Schulen? Durch die Förderung der Aufführung von anspruchsvoller und zeitgenössischer Musik? Nein, es geht um bloße Eventkultur und Tourismus: ‚Der Besuch eines Musikevents‘* soll für mindestens 15 bis 20 Prozent der Besucher Hamburgs ‚den primären Reiseanlass darstellen‘, so die Verfasser des Papiers. Hamburg als eine Art Eventmaschine, die Touristen anlockt, ganz egal, wie und womit. Oder besser: durchaus nicht egal, wie und womit, denn es geht ja um Zahlen, um Quote, um die ökonomische Verwertbarkeit von Musik, und natürlich bedeutet dies: Unterhaltungsmusik ohne Ende, also Musicals, Schlagerparaden, nochmal Musicals, Rock-Events, weitere Musicals, und all das bis zum Abwinken.* (* = Am 2.10.2016 erreichte mich unaufgefordert eine E-Mail von ‚Zeit Musikreisen & Zeit Reisen‘ mit dem Angebot einer ‚Musikreise der Woche‘ zur ‚lang ersehnten‘ Eröffnung der Elbphilharmonie mit einem ‚hochmusikalischen‘ Programm inklusive Lang Lang – nicht das Parfüm, sondern der Pianist. Als ‚weiteren Höhepunkt‘ annoncierte man ‚einen Redaktionsbesuch bei der Zeit‘, alles inklusive ‚Premiumkarten‘, Begegnung mit dem Intendanten, Blick hinter die Kulissen von Elbphilharmonie und Zeit für nur 1590 Euro.)“
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Sphäre, die, obwohl unter demselben Dach, für sie unerreichbar bleibt. In den oberen Etagen der Immobilie mit dem Kosenamen „Elphi“ erfreuen sich keineswegs immobile Leute an einem unverbaubaren Blick in die Weite,18 weniger noch in die Tiefen des Trubels. Das spektakulärste Wohnrefugium in Deutschland19 schützt sie vor den Blicken der Öffentlichkeit. Dafür zahlen sie unbezahlbare Preise.
Abb. 60 Die Elbphilharmonie auf einer Tourismuswerbung der Stadt Hamburg an einer Bushaltestelle in Münster, Foto: Andreas Altenhoff, 29.9.2018
Hilmar Hoffmann (1925–2018), der einst durch seine Forderung „Kultur für alle“ und als Begründer des Frankfurter Museumskonzepts bekannt wurde, betrachtete es als unabdingbar, dass Kunst nicht als Kapital dienen sollte, sondern als „Ressource kreativer
18 Siehe das Angebot eines Immobilienunternehmens, abgerufen unter: wohneninderelbphilharmonie.de/ (abgerufen am 4.8.2021). 19 Ochs, Birgit, Preislich Spitzenklasse. So wohnt es sich in der Elphi, in: FAZ.NET, 11.1.2017, abgerufen unter: www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wohnen/wohnen-in-der-elbphilharmonie-luxusimmobilien-14609197. html (abgerufen am 25.8.2021). „Man kann es der PR-Agentur nicht verdenken, dass sie die Räumlichkeiten als ‚spektakulärstes Wohnrefugium in Deutschland‘ preist“, so die Redakteurin.
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Aneignung“.20 Es ist offenkundig, dass die Mauern der Museumsdepots21 und der Freihäfen, dass die mobil gemachten Massen, die die Orte der künstlerischen und landschaftlichen Schönheit vollständig verhüllen, gleichermaßen eine solche kreative Aneignung verhindern. Die Annäherung an die Kunst, auch mit den besten Absichten, verkehrt sich in einen Akt der Entfremdung. Ein Besuch im Louvre oder auf Capri sieht einer Versammlung von Arbeitern vor dem Fabriktor ähnlich; die Schlangen an Einlass- und Kontrollstellen erinnern an Fließbänder. Viele Leute scheinen mit ihren Gedanken woanders; die Meisten sind in der Tat damit beschäftigt, ihre Smartphones zu bedienen. Für gewöhnlich tragen Reisende einen unfrohen Gesichtsausdruck – außer selbstredend in dem Moment, in dem sie fotografieren, hauptsächlich sich selbst, oder mit jemandem telefonieren. Eine unterschwellige Verbindung zwischen Ökonomie und Reisen ohne zwingenden Grund gibt es schon lange. Der Aufschwung des Fernhandels und die Einführung des Kredits in der italienischen Renaissance markieren auch den Anfang einer ästhetischen Wahrnehmung der Bewegung, etwa Marco Polos (1254–1324) Reiseerzählungen, Petrarcas (1304–1374) Ersteigung des Mont Ventoux. Während des 19. Jahrhunderts geht die Industrialisierung einher mit beschleunigtem Transport (Eisenbahnen) von Menschen und Produkten. Goethe (1749–1832) bemerkt schon 1825 ein Bedürfnis nach Distinktionsgewinn durch das Reisen und die Nutzung aller möglichen Facilitäten der Communication, was jedoch gerade dazu führe, in der Mittelmäßigkeit zu verharren,22 ein Syndrom, das heute meist mit Termini wie „Statusangst“, Anhäufung von „symbolischem Kapital“ oder dem Wunsch, „Marker“ zu sammeln, gekennzeichnet wird.23 Vielleicht ist es symptomatisch, dass mit Goethe ausgerechnet ein Vielreisender das viele Reisen und 20 Hoffmann, Hilmar, Das Guggenheim-Prinzip, Köln 1999, S. 19. „Verräterisch ist die Einschätzung der deponierten Kunstschätze im Magazin als zu nutzendes und zu vermehrendes ‚Kapital‘. Im modernen Betrieb sind damit auf jeden Fall zwei Aspekte gemeint. Einmal soll die Kunst dienen als Ressource für die kreative Aneignung, für die sie weitgehend verloren wäre, wenn sie nicht öffentlich präsent ist; gemeint ist aber auch die Nutzung als Mittel zum Erwerb von Einkünften durch Ausstellungen, Eintrittsgelder und Nebenrechte, wie sie vom Guggenheim-Konzern ja unverhohlen angestrebt werden“. 21 Nur ein Prozent der Kunstwerke eines Museums werden auch gezeigt, die übrigen 99 Prozent bleiben im Depot. Bericht Clarysse, Andreas/Kleinhaupt, Juliane, Verborgene Schätze, in: Tagesthemen, 30.7.2018. 22 Reichtum und Schnelligkeit ist, was die Welt bewundert und wonach jeder strebt, Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle mögliche FaCilitäten der Communication sind es, worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbieten, zu überbilden und dadurch in der Mittelmäßigkeit zu verharren. Siehe Johann Wolfgang von Goethe, Brief an Carl Friedrich Zelter, 6. Juni 1825, in: Goethes Werke (Sophien-Ausgabe), Abt. IV: Goethes Briefe, Bd. 39: November 1824 – Juli 1825, Weimar 1907, S. 214–216, hier S. 216. 23 Vgl. Botton, Alain de, StatusAngst, Frankfurt am Main 2006; „Symbolisches Kapital ist eine Art Kredit, den die Beherrschten den Herrschenden vorstrecken, solange sie meinen, die Herrschaft sei in ihrem eigenen Interesse“, bemerken Gerhard Fröhlich und Boike Rehbein in dem von ihnen herausgegeben „Bourdieu Handbuch“, Sonderausgabe, Stuttgart 2014. Der Bourdieus Werk perennierende Terminus kulturelles Kapital wird umfassend entwickelt in Bourdieu, Pierre, La Distinction. Critique social du jugement, Paris 1979; d’Eramo, Marco, Die Welt im Selfie. Eine Besichtigung des touristischen Zeitalters, Berlin 2018, S. 54. Letzterer: „Der Prozess des Einsammelns von Markern gewinnt letztendlich die Oberhand über den Prozess des Reisens und wird zu dessen Hauptzweck.“
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die neuen Verkehrsmittel kritisiert. Heinrich Heine (1797–1856) dagegen diagnostiziert die Folgen der Beschleunigung, wenn er 1843 bemerkt, dass Züge den Raum töteten; ihm sei, als kämen die Berge und Wälder aller Länder auf Paris angerückt.24 In seiner Studie zur Geschichte der Eisenbahnreise hebt Wolfgang Schivelbusch (geb. 1941) hervor, dass gesteigerte Geschwindigkeit eine panoramatische Wahrnehmung der Dinge schaffe und eine überholte Welt zurücklasse: „Was Teil der Zirkulation ist, gilt als gesund, fortschrittlich, konstruktiv; das nicht an die Zirkulation Angeschlossene erscheint dagegen krank, mittelalterlich, subversiv-bedrohlich.“25 Waren und Menschen müssen ständig schneller und häufiger unterwegs sein; die materielle Bewegung entwickelt sich immer gemeinsam mit dem immateriellen Austausch von Information. Telekommunikation sei eine körperlose Form der Kommunikation, sagt Peter Weibel (geb. 1944). „Das Verschwinden der Ferne bedeutet daher schließlich in seiner letzten Konsequenz auch das Verschwinden des Körpers.“26 Eine Auslöschung des Lebens und ein Triumph der Macht zugleich, wie Paul Virilio (1932–2018) am Beispiel des die Welt umrundenden und der Zeit und den Menschen fliehenden Howard Hughes (1905–1976) ausgeführt hat.27 In diesem Rennen, das nach Weibel auch ein Rennen gegen den Tod ist, möchte niemand zurückfallen. Anscheinend macht es keinen Unterschied, ob jemand aufgrund eines materiellen Interesses oder wegen einer immateriellen Sehnsucht auf Reisen geht. 24 Hansen, Volkmar (Bearb.), Heinrich Heine, Lutezia (Heinrich Heine. Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, Bd. 14/1), Hamburg 1990, S. 58: „Sogar die Elementarbegriffe von Zeit und Raum sind schwankend geworden. Durch die Eisenbahnen wird der Raum getötet, und es bleibt uns nur noch die Zeit übrig. Hätten wir nur Geld genug, um auch letztere anständig zu tödten! In vierthalb Stunden reist man jetzt nach Orléans, in ebensoviel Stunden nach Rouen. Was wird das erst geben, wenn die Linien nach Belgien und Deutschland ausgeführt und mit den dortigen Bahnen verbunden sein werden! Mir ist, als kämen die Berge und Wälder aller Länder auf Paris angerückt. Ich rieche schon den Duft der deutschen Linden; vor meiner Thüre brandet die Nordsee.“ Fast schon redensartlich die Beobachtung in Marx, Karl/Engels, Friedrich, Manifest der Kommunistischen Partei, in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hg.), Karl Marx, Friedrich Engels. Werke, Bd. 4, Berlin (Ost) 1959, S. 459–493, hier S. 465 f.: „Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, […] Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muß sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen. Die Bourgeoisie hat durch ihre Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumption aller Länder kosmopolitisch gestaltet.“ 25 Schivelbusch, Wolfgang, Geschichte der Eisenbahnreise – Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, München 1977, S. 172. „Aufgrund dieser komplexen Bedeutung erweist sich der Begriff der Zirkulation als ein Schlüssel, die offenen Triumphe und die verborgenen Ängste des 19. Jahrhunderts zu begreifen. Die Formel ist denkbar einfach. Was Teil der Zirkulation ist, gilt als gesund, fortschrittlich, konstruktiv; das nicht an die Zirkulation Angeschlossene erscheint dagegen krank, mittelalterlich, subversiv- bedrohlich.“ 26 Decker, Edith/Weibel, Peter (Hgg.), Vom Verschwinden der Ferne. Telekommunikation und Kunst, Köln 1990, S. 33. 27 Virilio, Paul, Ästhetik des Verschwindens, übersetzt von Marianne Karbe und Gustav Roßler, Berlin 1986, S. 26–28. Auf dem Umschlag steht ein Zitat von Paul Cézanne, das auch als angsterfüllter Kampfruf des Tourismus verstanden werden könnte: „Man muss sich beeilen, wenn man noch etwas sehen will. Alles verschwindet.“
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Schon 1854 ruft Thomas Cook (1808–1892) aus: „An einen Ort gebunden zu bleiben in diesen Zeiten der Veränderung, wäre ein Verbrechen. Hurrah for the Trip – the cheap, cheap Trip.“28 Der auf die Urlaubszeit begrenzte Trip läuft zusammen mit der dynamischen Welt des Geschäfts; beide gedeihen auf demselben Grund. Verkehrsstau und Menschenschlange sind dem Augenschein nach Störungen der Zirkulation, verweisen aber auch auf deren Intensität und Erfolg. Es kann also nicht schaden, sich anzustellen, wo schon viele stehen.29 Freizeit kopiert die Arbeit. Es ist geradezu eine gesellschaftliche Pflicht geworden, mobil zu sein, sich das anzueignen, was fern oder anders scheint. „In der modernen Welt gibt es eine Akkumulation von Bewegung, die der Akkumulation von Kapital entspricht“30, sagt Mobilitätsforscher John Urry (1946–2016). Der materielle soll sich mit ideellem Gewinn paaren; hier wie dort zählt nur Erfolg; mithin muss es, egal, wohin die Reise ging und welchen Verlauf sie nahm, immer schön gewesen sein. Fremde Länder, fremde Sitten, vielfach als Reisemotiv beschworen, können in diesem Dispositiv nur stören; was sich nicht anverwandeln lässt, fällt aus dem Tausch heraus. „Auch um des Schönen willen ist kein Schönes mehr.“31 Der Schein der Freiheit entpuppt sich als zweckgebunden. Die Künste haben bisweilen versucht, die assimilierende Wucht der Mobilitätsindustrie zu unterlaufen: Raymond Roussel (1877–1933) unternimmt eine höchst luxuriöse Reise in einer „maison roulante“, einem komplett abgedunkelten Gefährt, konstruiert, um die Sinne auszublenden;32 Guy Debord (1931–1994) und die Situationisten brechen zu „Dériven“ in den urbanen Raum auf;33 Jochen Gerz (geb. 1940) ist mutmaßlich 16 Tage in einem verdunkelten Zugabteil unterwegs, nur, um keine unmittelbaren Eindrücke seiner Expedition zu hinterlassen;34 Julio Cortázar (1914–1984) und Carole Dunlop (1946–1982) bereisen eine Autobahn; François Maspero (1932–2015) und Anaïk Frantz (geb. 1952) nehmen einen Vorortzug, um das Leben außerhalb der Pariser 28 Zit. n. Urry, John/Larssen, Jonas, The Tourist Gaze 3.0 (Theory, Culture & Society) London 2011, S. xiii. „To remain stationary in these times of change, when all the world is on the move, would be a crime.“ 29 In Porto bietet die Livraria Lello in der Nähe ihrer Verkaufsräume zwei Check-in-Schalter, an denen die am Betreten der Buchhandlung interessierten Reisenden eine Eintrittskarte erwerben können. Selbstredend ist ein „Voucher“ auch online erhältlich. Vor dem Prachtbau, der durch J. K. Rowling erheblich an Fama gewonnen haben dürfte und Hogwarts School of Witchcraft and Wizardry inspiriert haben soll, formiert sich während der Geschäftszeiten jeden Tag auf dem Bürgersteig eine Menschenschlange; ein Türsteher dosiert den Zutritt, siehe Jacobs, Harrison, I visited one of the world’s most beautiful book stores, which is over 100 years old and a rumored inspiration behind Harry Potter — and despite the sea of tourists, I’d tell anyone to go, in: Business Insider, 1.9.2018. 30 Urry, John, Mobilities, Cambridge 2007, S. 13. „There is in the modern world an accumulation of movement that is analogous to the accumulation of capital – repetitive movement or circulation made possible by diverse, interdependent mobility-systems“. 31 Adorno, Theodor W., Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main 1970, S. 85. 32 Wilde, Sebastian, Verreisen, um die Welt nicht zu sehen – Roussel-Ausstellung in Berlin, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Nr. 33, 18.8.2013, S. 38. 33 Debord, Guy, Théorie de la Dérive, abgerufen unter: infokiosques.net/imprimersans2.php?id_article=357; www.si-revue.de/theorie-des-umherschweifens (abgerufen am 4.8.2021). 34 Gerz, Jochen, Das Transsib.-Projekt, abgerufen unter: www.jochengerz.eu/works/der-transsib-prospekt (abgerufen am 4.8.2021).
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Bannmeile zu erschließen;35 Raymond Depardon (geb. 1942) und Claudine Nougaret (geb. 1958) kadrieren in „Journal de France“36 die Topographie des Landes und suchen in „Les Habitants“37 Kontakt zu den Einheimischen. Jean-Luc Godard (1930–2022) zeigt im „Film Socialisme“ Passagiere einer Kreuzfahrt als auf dem Schiff sistierte Migranten, die die Zielhäfen verfehlen.38 Lucius Burckhardt (1925–2003) provoziert die Hierarchien des Sehenswürdigen und legt den Nullpunkt der Weltaneignung dezisionistisch auf einen beliebigen Ort fest: „Hier ist es schön“.39 Die von Burckhardt gewählten Orte wären vermutlich nicht nach dem Geschmack von Urlaubsreisenden; sie sind jedoch frei zugänglich, stellen das affirmative Verhältnis zum kodifizierten Schönen infrage und appellieren an die Autonomie der Subjekte. Hier erhebt die ästhetische Erfahrung keinen Eintritt. Nach ihren Hobbys gefragt, bekennen die Leute im Allgemeinen, dass sie gerne reisen. In den Augen von Unternehmern und Beschäftigten nicht minder als bei Partnerschaftsagenturen ist Reisen eine Tugend ganz wie Flexibilität oder Resilienz. Niemand würde dagegen jemals zugeben, dass er oder sie gerne ein Tourist ist. Obwohl der FerienTrip keiner Notwendigkeit entspringt, möchte er doch als ernsthafte Aktivität anerkannt werden und heischt Respekt; nach Marie-Anne Dujarier (geb. 1966) sind Verbraucher längst Teilzeitbeschäftigte der Industrie ohne Bezahlung und Rechte, aber mit Nutzungsvertrag;40 dies mag ein Grund sein, weshalb Touristen manchmal ahnen, dass sie nicht zum Vergnügen unterwegs sind. Die Spannung zwischen dem physischen Unbehagen an einem gegebenen Ort und dem Verlangen, in virtuelle Welten flüchten zu können, ist in den letzten Jahren immer deutlicher geworden. Die Dialektik von Nah und Fern durchläuft eine weitere Veränderung. Nachdem die beiden letzten Jahrhunderte, in denen nach Sigfried Giedion (1888–1968) die Mechanisierung das Kommando übernommen hat, auch einen ständig 35 Maspero, François, Roissy-Express – Reise in die Pariser Vorstädte, aus dem Französischen übersetzt von Verena Vannahme, Freiburg im Breisgau 1993. 36 Depardon, Raymond/Nougaret, Claudine, „Journal de France“, Frankreich 2012. 37 Depardon, Raymond/Nougaret, Claudine, „Les Habitants“, Frankreich 2016. 38 Godard, Jean-Luc, „Film Socialisme“, Frankreich/Schweiz 2010. 39 Hennig, Falko, Landschaft – Das Kino im Kopf, in: Die Tageszeitung, 27.12.2006, S. 21. „Hier ist es schön“, stand auf Burckhardts Spazierstocknagel. Vgl. Hennig, Falko, Landschaft: Das Kino im Kopf, in: Die Tageszeitung, 27.12.2006, S. 21. Siehe auch Programmheft zu: Gut zu Fuß – Die Spaziergangswissenschaft. Kuratiert von Martin Schmitz. Frankfurt am Main, 12. und 13. September 2008; Burckhardt, Lucius, Warum ist Landschaft schön? Die Spaziergangswissenschaft, Berlin 2006. 40 „Verbraucher gelten heute als unbezahlte Teilzeitbeschäftigte der Industrie. Wir müssen für die Betriebskosten aufkommen“, sagt die Soziologin Marie-Anne Dujarier in einem Interview in Dannoritzer, Cosima, „Time Thieves/Zeit ist Geld“ Frankreich/Spanien 2018. – „Verbraucher unterliegen nicht dem Arbeitsrecht“. Deshalb regele sich ihr gesellschaftliches Verhältnis immer seltener durch Arbeitsverträge, sondern zunehmend durch die „AGB“, die Allgemeinen Geschäftsbedingungen, die jeder Software-Nutzung vorgeschaltet sind, erstaunlicherweise meist ohne Bedenken akzeptiert werden und eine gesellschaftliche Beziehung herstellen. Die scheinbare Deregulierung des Arbeitsmarkts ist faktisch eine Regulierung zum Schaden der „User“ und eine Entlastung der Arbeitgeber. Vgl. A. R., Le Travail du Consommateur de Marie-Anne Dujarier, in: Le Monde (online), 15.9.2008, abgerufen unter: www.lemonde.fr/talents-fr/article/2008/09/15/le-travail-duconsommateur-de-marie-anne-dujarier_1095214_3504.html (abgerufen am 25.8.2021).
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wachsenden öffentlichen und Individualverkehr hervorgebracht haben, fügt das 21. Jahrhundert dem eine frenetisch expandierende digitale Kontrolle hinzu. Verglichen mit dieser Geschwindigkeit, mit der mythischen Echtzeit der Telekommunikation, verlieren selbst Autos und Flugzeuge ihre Magie. Die soziale Vision des italienischen Futurismus erreicht ihre höchste Stufe, die Drahtlosigkeit.41 Giacomo Balla (1871–1958) lässt in „Auto per tutti“ (1920) Automobile die statischen Behausungen der Stadt durchpflügen; gelenkt werden sie von Strahlen, die von Antennen ausgehen. Gegenwärtig vermittelt nichts außer dem Online-Sein ein stärkeres Gefühl, mit der Zirkulation vernetzt zu sein. Das Leben „on screen“ wähnt sich dem in der „Fleisch-Welt“ überlegen.42 Im Alltag hat diese „blended reality“ ältere Vorstellungen von wahren Werten sehr schnell außer Kraft gesetzt. Digital Sesshafte sehen viel modischer aus als leibhaftige Nomaden.43 In Don DeLillos (geb. 1936) Roman „White Noise/Weißes Rauschen“ besuchen zwei Männer eine Sehenswürdigkeit, die als „Die meistfotografierte Scheune Amerikas“ beworben wird. Sie sehen zu, wie die Leute Fotos aufnehmen. „Keiner sieht die Scheune“, sagt der eine. „Wir sind nicht hier, um ein Bild einzufangen, wir sind hier, um eines aufrechtzuerhalten. Jedes Foto verstärkt die Aura. […] Sie fotografieren das Fotografieren. […] Wir können nicht aus der Aura heraus. Wir sind Teil der Aura. Wir sind hier, wir sind das Jetzt.“44 41 Marinetti, Filippo T., Zerstörung der Syntax – Drahtlose Phantasie – Befreite Worte, in: Asholt, Wolfgang/Fähnders, Walter (Hgg.), Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909–1938), Stuttgart 1995, S. 39–43. 42 Vgl. dazu einschlägige Beiträge wie „Meat world“ im „Urban Dictionary“, vgl. Action Steve, meat world, in: Urban Dictionary, abgerufen unter: www.urbandictionary.com/define.php?term=meat%20world (abgerufen am 4.8.2021). Hier: „Yeah she looks good on Myspace, but have you seen her in the meat world? she’s disgusting“. 43 Vgl. d’Eramo, Welt, S. 54. Ein Paradoxon, das den aussichtslosen Wettlauf der Tourist*innen mit der Kontingenz der Welt noch weiter verschärfen und beschleunigen wird. Wenn das Vorbild, das „eidos“ des Urlaubsziels, und die Nach-Bilder der digitalisierten „eigenen“ Eindrücke in der Echtzeit von Wiedergabe und Aufnahme im Smartphone zusammenschnurren, erscheint die eigentliche Reisetätigkeit nur mehr als Verzögerung auf dem Weg zum angestrebten Ergebnis, der Autopsie einer Sehenswürdigkeit, dem Einsammeln von „Markern“. Siehe auch Baecker, Dirk, 4.0 oder Die Lücke die der Rechner lässt. Leipzig 2018, S. 227: „Das Warten dauert zu lange, das Reisen wird zur Belastung, die Langeweile wird nicht mehr ausgehalten, jede Dienstleistung zu einer Strapaze für die Nerven.“ Die technischen Innovationen des letzten Jahrzehnts haben einen erheblichen Effekt auf Politik und Ökonomie wie auch auf individuelle Erfahrungen und erfordern ganz offenkundig eine ausführlichere Betrachtung, als es in diesem Vortrag möglich wäre. Die hier geäußerten Mutmaßungen versuchen lediglich, einige Phänomene im Verhältnis von Kunst und Tourismus zu pointieren. Verwiesen sei auf Fotos aus der Benetton-Werbung „Clothes for humans“. Hier ist ein Model zu sehen, das eher durch elektronische Gerätschaften als durch Textilien eingekleidet scheint. 44 DeLillo, Don, White Noise, New York 1985, S. 12–13: „They notice people taking pictures. ‚No one sees the barn‘, one of the two men observes. The other replies: ‚We’re not here to capture an image, we’re here to maintain one. Every photograph reinforces the aura … They are taking pictures of taking pictures […] We can’t get outside the aura. We’re part of the aura. We’re here, we’re now.“ (Vgl. hierzu auch Museum of Contemporary Art Chicago, Ill. (Hg.), Universal Experience. Art, Life, and the Tourist’s Eye [Ausstellungskatalog], Chicago 2005, S. 80.) – DeLillo, Don, Weißes Rauschen. Aus dem Amerikanischen von Helga Pfetsch, Köln 2018, S. 22 f.
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Mehr als drei Jahrzehnte nach diesem Besuch bei der meistfotografierten Scheune präsentiert sich die Lage im Louvre und an den anderen „hot-spots of overtourism“ fast unverändert. Die Besucher*innen haben nicht aufgehört, Fotos vom Foto-Machen zu machen. „We’re here, we’re now“. Aber wir sind heute immer auch woanders, in einem audiovisuellen Jenseits. Die Aura eines Ortes, ganz gleich ob wahrnehmbar oder nicht, wird durch seine digitale Aura verstärkt. Anders als ihr physisches Objekt erscheint die fotografische Fiktion gereinigt45 und kann leicht privatisiert werden als Erinnerung „to go“. Das Fotografieren einer Ansicht oder der Stimmung in einem Museum dient vor allem als personalisiertes Anhängsel zu all den virtuellen Artikeln und Handreichungen, zu Myriaden besserer Fotos, die immer zur Hand sind, an jedem Ort, zu jeder Zeit. Das Mittel heiligt die Zwecklosigkeit. Von nun an regieren Omnipräsenz und Omnidistanz das Verhältnis eines neuen sozialen Charakters namens „User“ gegenüber seiner oder ihrer Umgebung. Wenn die digitale Welt immer „up to date“ ist, phantastische Bilder anbietet und stets alles besser weiß – weshalb sollte der User damit zu konkurrieren versuchen? Er oder sie lebt im Hier und Jetzt und drückt einen Bestätigungsknopf – immer zu Haus in einer virtuellen Welt, oder verbunden mit einem virtuellen Büro, und zur selben Zeit Teil eines ephemeren Ereignisses. Ein Foto aufnehmen bedeutet einen minimalen Akt der Privatisierung, steigert möglicher Weise die Freude am Erlebnis46 oder gewährt einen flüchtigen Augenblick des Wohlbefindens, wie zwei Studien aus dem Jahr 2016 versichern.47 45 Vgl. d’Eramo, Welt, S. 57: Mark Twain hat diesen Effekt früh festgestellt. Das Bild vom Orient sah besser aus als die Wirklichkeit; auf dem Stahlstich des von ihm besuchten Ortes gab es keine unangenehmen Gerüche und Hitze. 46 Thurner, Ingrid, Die Rezeption des Fremden in der touristischen Fotografie, in: Häusler, Nicole/Rieländer, Klaus (Hgg.), Konsequenzen des Tourismus, Göttingen 1995, S. 57. „Das Erlebnis ist das Foto.“ 47 Chen, Yu/Mark, Gloria/Ali, Sanna, Promoting positive affect through smartphone photography, in: Psychology of Well-being 6 (2016), abgerufen unter: https://psywb.springeropen.com/articles/10.1186/ s13612-016-0044-4, Kristin/Zauberman, Gal/Barasch, Alixandra, How taking photos increases enjoyment of experiences, in: Journal of personality and social psychology 111 (2016) 2, S. 119–140. Beide Studien interessieren sich für den Gemütszustand der fotografierenden Subjekte, nicht für ästhetische Segnungen im Bereich der Fotografie. – Weniger affirmativ gefasst bei Rosa, Hartmut, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt am Main 2005, S. 213. Zur Zeiterfahrung: „Die quantitative Erhöhung des objektiven Lebenstempos scheint zu einer qualitativen Veränderung der subjektiven Zeiterfahrung zu führen.“ – Je näher das Fotografieren an die „Echtzeit“ heranrückt, desto geringer werden kompositorischer Anspruch und Vielfalt. Die ewige Gegenwart des Aufnehmens lässt keinen Platz mehr für Geschichte und Reflektion; permanent neu, kann das Foto seine permanente Alterung nicht mehr reflektieren. „Im Jahre 1927 hatte [Aleksandr] Rodtschenko geschrieben: ‚Es ist großartig in den Norden oder nach Afrika auf Expedition zu gehen, dort neue Leute zu fotografieren und neue Dinge, eine neue Natur: Aber was machen sie [die Reisenden]? Sie fotografieren mit den verräucherten Augen eines Corot und Rembrandt, mit Museumsaugen, mit den Augen der ganzen Kunstgeschichte‘“, zit. n. Dewitz, B. von, ‚Erschöpfte Frau‘ oder ‚Pionier mit Horn‘. Bild der 47. Woche, 23. bis 29. November 2009, abgerufen unter: https://museenkoeln.de/portal/bild-der-woche.aspx?bdw=2009_47 (abgerufen am 16.1.2022). Diese Musealisierung des Blicks vollzieht sich in der Smartphone-Fotografie paradoxerweise gerade durch die Präpotenz des permanenten Jetzt und des Wohlgefühls gegenüber dem Sehen.
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Diese Haltung hat Auswirkungen auf das Universum der Kunst. Museen, einst ge gründet, um Chronologien der Malerei und Skulptur oder nationale und regionale Traditionen herzustellen, müssen eine neue Rolle akzeptieren. Sofern sie nicht über eine große Allzeit-Attraktion verfügen wie die Mona Lisa,48 sehen sie sich gedrängt, Anlässe zu schaffen,49 ständig die Sammlung umzugruppieren und dabei eine Menge für Marketing auszugeben. Jede Ausstellung muss andere und frühere übertreffen;50 das Publikum soll begreifen, dass diese Gelegenheit nur einmal und nur jetzt besteht, und dass sie die längste Anreise wert ist. Dieser Umstand könnte erklären, warum in den letzten ein, zwei Dekaden die Bedeutung der Kuratorenschaft kontinuierlich zugenommen hat. Einrichtungen mit Tradition wie Museen, Theater, Opernhäuser, aber auch wie die Biennale di Venezia, die documenta oder Musikfestivals, werden dadurch lebendig gehalten, dass sie Innovation verkaufen und Touristen anziehen. Und umgekehrt: in Ischgl haben sie Michael Jackson (1958–2009) und Elton John (geb. 1947) eingeladen; und sie hätten gern auch ein „Guggenheim Mountain“51. Bei verschiedenen Gelegenheiten hat Wolfgang Ullrich (geb. 1967) über ein Schisma gesprochen zwischen „celebrity culture“ und „Kunstpolitik“, zwischen Markt und „Kuratorenregime“. Er beschreibt eine Trennung zwischen autonomer Kunst, in der das auratische Werk verehrt wird, und einer kollektiv erarbeiteten Kuratorenkunst, die auf Performance und Zuschauerbeteiligung Wert legt.52 Künstler*innen, die Anlageobjekte für private Investitionen abliefern? Oder eher Künstler*innen als Expert*innen für poli-
48 „Wahre Werte – Sie würden dran vorbeilaufen“ – wenn die Mona Lisa unter zahllosen anderen Bildern hinge und keinen Sonderstatus hätte, meint die Galeristin Ravenbach zu Schotty; „Tatortreiniger“. NDR Fernsehen, 18.12.2018; Folge 7.1 „Currywurst“. 49 Die Vergänglichkeit nicht nur des besonderen Anlasses, sondern gleich des ganzen Museums machte den speziellen Reiz des auf drei Monate Bestehen angelegten „Super Candy Pop Up Museums“ in Köln aus (ab September 2018). Außen komplett in rosa, innen mit 20 begeh- und erlebbaren Installationen. Kuratiert von Designer*innen und Candy Liebhaber*innen. Candy, Eye Candy und die moderne Selbstfotografie stehen im Mittelpunkt des Museums. 50 In Ruben Östlunds Filmsatire „The Square“ gerät die Strategie einer vom Museum beauftragten Werbeagentur außer Kontrolle. Die Deutung eines Kunstwerks als „Zufluchtsort, an dem Vertrauen und Fürsorge herrschen und an dem alle die gleichen Rechte und Pflichten haben“, erscheint den Event-Experten als ungeeignet für eine virale Kampagne. Sie drehen stattdessen ein Video, in dem ein kleines blondes Mädchen zur Explosion gebracht wird. Es gibt einen öffentlichen Aufschrei, der Kurator tritt zurück; es bleibt aber offen, ob der Skandal dem Museum geschadet oder genutzt hat. 51 Klotzek, Timm, Das Millionen-Dorf, Tirol Bergwelten 2004, abgerufen unter: www.bergwelten.at (abgerufen am 5.8.2021). 52 Ullrich, Wolfgang, Schisma 2027. Zur näheren Zukunft der Kunstakademien, in: Büttner, Werner (Hg.), Überlebensrate 4 %. Aktuelle Frontberichte aus der Kunstakademie, Hamburg 2018, S. 77–95. Ullrich nimmt an, dass dieses Schisma auch zu einer Aufspaltung im Bildungsbereich führen dürfte: auf der einen Seite Kunsthochschulen für eine (finanzielle) Elite, mit Gaultier als Sponsor und dem Label Damien Hirst, die Studierende in aller Welt ansprechen und gewaltige Studiengebühren erheben; auf der anderen Seite staatliche Akademien, die auf methodisches Handeln in- und außerhalb des Kunstbereichs vorbereiten. In beiden Hochschultypen würde Kunst an äußerlichen Maßstäben ausgerichtet werden.
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tische Steuerung und Event-Management? Tauschwert vs. gesellschaftlichen Wert? Kunst als ein Anreiz fürs Geschäft?53 Modernität bedeutet Mobilität.54 Das könnte erklären, weshalb mobile Künste wie Graffiti, Street Art, Tagging usw., obwohl bescheiden und oft rückständig in ihrer Ikonographie, als Artefakte in einer dahineilenden Welt zu den beliebtesten Mitteln visuellen Ausdrucks zählen. Schnell sein, sich nicht erwischen lassen, ein Terrain, besser aber noch ein weithin Reklame fahrendes Vehikel markieren, wird einer ganzen Szene zum Bedürfnis. Im Rahmen (hier auch wörtlich zu nehmen) akkreditierter Kunstüberlieferung blieben die Bildwelten der Writers, Sprayer, Maler vermutlich überwiegend arm; erst das für sie konstitutive Element der Bewegung reichert sie an; sie sind für ein mobiles Publikum gemacht. Hier scheint weiterentwickelt, was die Eisenbahn als Begründerin der industriellen Mobilität im 19. Jahrhundert bereits ausmachte – Bannerträgerin der Zirkulation zu sein – freilich in der Negation ihres Triumphs: Die Schiene ist nicht mehr beweglich genug, um den Attacken des Zeichens, des „Einschreibens“ zu entgehen – nachdem sie sich, ab Mitte des 19. Jahrhunderts, der Erde eingeschrieben hatte. Alles in Bewegung zu halten, scheint zunehmend das zentrale Anliegen auf dem kombinierten Kunst- und Tourismusmarkt zu sein.55 Der „touristische Blick“ entwickelt sich im Wechselspiel von Medien der Bewegung und Bewegung der Medien. Bei Kultur 53 „‚Through the discourse of creativity, the elitist activity of art is democratised, although today this leads to business rather than to Beuys.‘“ Bishop, Claire: Artificial Hells. Participatory Art and the Politics of Spectatorship, London/New York 2012, S. 16; weiterführend Tietenberg, Annette, Lebenskunst für die jungen Generationen. Die Mechanismen von Verschleiß und Zerstörung, Erniedrigung, Isolierung, Leiden, Arbeit, Druckausgleich, in: Büttner, Überlebensrate, S. 61. – „Die globale Klasse […] muß ‚kreativ‘ werden, muß lokale Unterschiede künstlich generieren, (vgl. auch Baudrillard, Jean: Die Simulation). Differenz wird simuliert, um aus dem erzeugten Gefälle Gewinn zu ziehen. Der konkrete Ort mit seiner Spezifik, die eine Verankerung in der ‚realen‘ (d. h. erlebten) Kultur und Geschichte hatte, entschwindet dabei. Es entsteht eine Art ‚Disney-World‘ virtueller lokaler Landschaften. Deren ‚Besonderheiten‘ haben nur noch oberflächlichen Charakter. Sie lassen sich nach Belieben umformen, um gewandelten Ansprüchen gerecht zu werden. Der ‚space of places‘ wird vom ‚space of flows‘ aufgesogen und den Interessen der Manager-Elite angepaßt […].“ Dazu: Jain, Anil K., Die „Globale Klasse“. Die Verfügungsgewalt über den (globalen) Raum als neue Dimension der Klassenstrukturierung, S. 12, abgerufen unter: power-xs.net/ jain/pub/globaleklasse.pdf (abgerufen am 24.8.2022); basiert auf Angermüller, Johannes/Bunzmann, Katharina/Rauch, Christina (Hgg.), Reale Fiktionen, fiktive Realitäten (Diskursive Produktionen. Text, Kultur, Gesellschaft, Bd. 1), Hamburg 2000, S. 51–68. 54 Assheuer, Thomas, In den Stahlgewittern des Kapitalismus, in: Die Zeit, Nr. 11, 10.3.2005. „Waren linke Utopien nicht stets das Zuckerbrot unter der Peitsche des Fortschritts? Zum Beispiel die Mobilität. Früher versprach sie Befreiung vom Muff der autoritären Heimat, heute ist sie Bewegungszwang, eine heimtückische Methode, das Volk auf Trab zu halten […]“. 55 Die Avantgarden inszenieren seit dem italienischen Futurismus Mobilitätsmutproben. Untergrund und Massenkultur eilen hinterher. Vom Skater (Van Sant, Gus „Paranoid park“) über Sprayer, Train Surfer bis hin zu den nun oft schon meist senilen Bikern („Kuhle Wampe“, „The Wild One“, „Easy Rider“) findet ein virtuelles Wetteifern um Mobilitätsfähigkeit statt, Sport nicht zu vergessen. Die genannten „Subkulturen“ (ein weiterer Fall von Enteignung der Zeichen) bilden keine Opposition zum System, sondern den selbstorganisierten Stoßtrupp der Tugend universeller Verfügbarkeit und Schnelligkeit.
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dreht es sich heute, wie Tim Creswell (geb. 1965) einmal formulierte, mehr um „routes than roots“56. Nicolas Bourriaud (geb. 1965) schlägt daher vor, das Modell des radikalen Künstlers, das bis zum Ende des letzten Jahrhunderts die Diskurse bestimmt habe, zu ersetzen durch den „Radikanten“, einen Künstler, der seine Wurzeln in heterogenen Kontexten ausbreitet und damit die diktatorische Idee der „Identität“, der Verwurzlung im Boden, aushebelt.57 Radikanten sollten übersetzen zwischen dem Vertrauten und dem Diversen und dabei vermeiden, das Andere zu dominieren oder zu kolonisieren. Sie sollten als Agenten der Alterität auftreten, als Nomaden oder „Semionauten“ zwischen den Kulturen reisen. Ihr Werk besteht vor allem im Herumirren, im Erzählen der Routen, die sie erprobt haben. „Mobilis in mobili“ lautet ihr Slogan.58 Während Millionen Menschen Bilder aufnehmen, um Erinnerungen festzuhalten, versetzt der Semionaut Zeichen in Bewegung und schafft sein eigenes Universum, indem er unablässig den Raum durchmisst.59 Bourriaud fordert die Semionauten dazu auf, ein prekäres Leben zu führen, sich auf walkabouts zu begeben,60 die Gesellschaft von Flaneurs, Müßiggängern, Kriminellen zu suchen.61 Ihre politische Aufgabe sei es, „die Prekarität ins Herz der Repräsentationssysteme selber zu tragen“62. Bourriaud ist nicht entgangen, dass mehr als eine Milliarde Menschen jedes Jahr um den Globus reist oder migriert, und dass der Kapitalismus diese Ströme längst genauso vereinnahmt hat wie die raumzehrende Geschwindigkeit und das Konzept des Nomadismus. Alles, was er dem entgegenzusetzen hat, ist der Impetus: „Seien wir noch mobiler.“63 Die Künste als eine Art Gegen-Avantgarde zur kommerziellen Innovation. Ein zwiespältiges Programm, welches das System zu unterminieren versucht, indem es dessen Waffen zweckentfremdet und den Pulsschlag der Zirkulation überbietet? Künstler*innen in der widersprüchlichen Rolle von Spitzenkräften in Lumpen? – Armut ist bekanntlich kein neues Konzept für die Künste; immer wieder zeigen Untersuchungen, dass Künstler nur über ein niedriges Einkommen verfügen; schon Gustave Flaubert vermerkte in seinem satirischen Wörterbuch der Gemeinplätze, Kunst führe ins Armenhaus: „Wozu ist sie noch gut, da man sie durch Maschinen ersetzt, die es ‚besser‘ und ‚schneller‘ machen.“64 Bourriauds Plan, mit ästhetischer Höchstgeschwindigkeit auf die Zirkulationsgeschwindigkeit der Waren zu antworten, wirkt auch deshalb wenig 56 Creswell, Tim, On the Move. Mobility in the Western World, New York/London 2006, S. 1. „Culture, we are told, no longer sits in places, but is hybrid, dynamic – more about routes than roots“. 57 Bourriaud, Nicolas, Radikant. Aus dem Französischen von Katarina Grän und Ronald Voullié. Berlin 2009. – Die im Folgenden genannten Seitenzahlen beziehen sich auf diesen Titel. 58 Ebd., S. 126. 59 Ebd., S. 92 f., 108. 60 Ebd., S. 130. 61 Ebd., S. 97 f, 104. 62 Ebd., S. 105. 63 Bourriaud, Radikant, S. 53: „Sieht es so aus, dass der globale Kapitalismus die Ströme, die Geschwindigkeit und das Nomadentum in Beschlag genommen hat? Seien wir noch mobiler.“ 64 Flaubert, Gustave, Wörterbuch der Gemeinplätze aus dem Französischen von Monika Petzenhauer und Cornelia Langendorf, München 1999, S. 6.
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überzeugend, weil im Allgemeinen die digitalen Schwärme, das sogenannte „storytelling“ und die kulturelle Anreicherung65 viel effektiver arbeiten. Während Bourriaud die Kunst durch Betonung des Elitären vor der kollektiven Vereinnahmung zu retten versucht, setzt Berthold Seliger (geb. 1960) darauf, das Musikleben zu revolutionieren und dadurch „Bildung und Kultur für alle“ zurückzuerobern: „Ziehen wir in den Klassikkampf.“66 Dieser Klassikkampf soll „zwischen traditionellen und modernen Hörern“67 ausgerechnet im Konzertsaal ausgetragen werden, obwohl doch, wie der Autor hervorhebt, Kunstvereine und Musikgesellschaften im 19. Jahrhundert jene kulturelle Hegemonie herzustellen bestimmt waren, mit der das Bürgertum seine Herrschaft absicherte und die den Aufbau der Nationen begleitete.68 Heute müsse das Publikum wieder eine „dionysische Ekstase“ erleben.69 Durch leidenschaftliche Interpretationen solle die Klassikszene aus ihrer konservativen Lethargie gerissen und der Kontrolle einer ignoranten „Hochkultur“ entwunden werden,70 die Not des gesellschaftlichen Zustands aussprechen und zur Veränderung aufrufen.71 Die Kampfschriften von Bourriaud und Seliger sind nicht die ersten, die den kulturellen Apparat von Eskapismus und einem unwahren schönen Schein befreien wollen. Allein im deutschsprachigen Bereich hat es im Verlauf von rund hundert Jahren immer wieder Versuche gegeben, die Künste zu politisieren, grob gesagt, in einem Bogen von Dada, Bauhaus und epischem Theater über die Revolten der Sechziger Jahre bei Peter Weiss (1916–1982) und Hans-Werner Henze (1926–2012) bis hin zu Christoph Schlingensief (1960–2010) oder der „Politics/Poetics“-documenta (1997).
65 Vgl. Boltanski, Luc/Esquerre, Arnaud, Enrichissement. Une critique de la merchandise, Paris 2017. 66 Seliger, Klassikkampf, S. 21. „[…] nahezu alle Lebensbereiche sind individualisiert worden. Wir müssen uns die Gesellschaftlichkeit zurückerobern. Und wir müssen uns all das, was dazu dient, neu erkämpfen – die Gleichheit, die Solidarität, die Gesellschaftlichkeit an sich, die Bildung, insbesondere die musikalische und künstlerische Bildung, und die ernste Musik. Ziehen wir in den Klassikkampf. […]“. 67 Ebd., S. 183 f. „Durch mehr als zwei Jahrhunderte Geschichte der klassischen Musik zieht sich das, was ich ‚Klassikkampf ‘ nenne: Eine Auseinandersetzung zwischen ‚traditionellen‘ Hörern, die das Alte bevorzugen und die Einhaltung der sozusagen goldenen Kompositionsregeln erwarten und überwachen, und den ‚modernen‘ Hörern, die sich an Grenzüberschreitungen, an Verletzungen des Regelwerks und an kompositorischen Neuerungen geradezu begeistern. Eine Auseinandersetzung zwischen denen, die im Konzert eine Aneinanderreihung von ‚schönen Stellen‘ erwarten, und denen, die eine Erweiterung des Darstellbaren, Kühnheit und Wildheit wünschen“. 68 Ebd., S. 81. „Zur Absicherung der Herrschaft wird jedoch bekanntlich auch kulturelle Hegemonie benötigt“. 69 Ebd., S. 106. „Werden Menschen, die Musik hören wollen […], auch so ergriffen sein, dass sie das Gefühl haben, nach diesem Konzerterlebnis sei die Welt eine andere?“ 70 Ebd., S. 124. „Sicher war das simple Abkanzeln der klassischen Musik als per se verpönte ‚Hochkultur‘ ein ebenso großer Fehler der Achtundsechziger wie ihre unkritische Zuneigung zur angeblich demokratischeren Pop- und Rockmusik“. 71 Ebd., S. 187. „In seinem Aufsatz ‚Zur gesellschaftlichen Lage der Musik‘ verlangt Adorno 1932 ‚von Musik, die heute ihr Lebensrecht bewähren will‘, dass sie ‚die Not des gesellschaftlichen Zustandes ausspricht und in der Chiffrenschrift des Leidens zur Veränderung aufruft‘. Die Situation der Welt unserer Tage würde eigentlich eine Musik dringend nötig machen, die diese Forderung Adornos erfüllt“.
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Die geschlossene Gesellschaft wurde dadurch nicht gesprengt; die Kritik am affirmativen Charakter der Kultur hat sich offenkundig nicht verschärft. Mit dem Einlass beginnt der Ausschluss; wohl auch deshalb suchen offene Werke das Weite und begeben sich in den öffentlichen Raum.72 Das Publikum steht Provokationen gelassen gegenüber; es ist seit Schultagen über den „V-Effekt“ auf dem Laufenden. Bildungsbürgertum und Event-Süchtige genießen auch das schrillste „épater le bourgeois“ noch als weiteren Beitrag zur Anhäufung kulturellen Kapitals. Sie erleben den Versuch, gesellschaftliches Handeln auf die Bühne zu bringen, als Ersatzhandeln. So kann der Angriff auf die politikfreien Sphären gerade das Gegenteil bewirken: Politisierung als Schauspiel, als Unterhaltung für eine Elite, die um ihre Privilegien selbst dort nicht fürchten muss, wo sie ihr ideell bestritten werden, Revolte als Sonder-Attraktion für reiselustige Kunstliebhaber. Wo das Refugium jederzeit den Ort wechseln oder auch vollständig virtuell werden kann und dadurch gesellschaftlich unantastbar bleibt, kann ihm die künstlerische Attacke nichts mehr anhaben. Das ist das Schöne am kulturellen Leben.
72 Ist das Schöne, diese Frage zum Schluss der vorliegenden Notizen, überhaupt irgendwo zugänglich, ohne dass es privatisiert oder industrialisiert würde? Interventionistische Kollektive arbeiten an einer Politisierung des Alltags („Yes Men“; Wermke/Leinkauf u. a.); Ausstellungen verlassen ihren traditionellen Ort (etwa bei J. Holzer, L. Weiner u. a.), wenn auch meist nicht ihr traditionelles Publikum. Ein „Détournement“, von dem Guy Debord sprach, die Rückeroberung von Deutungsmacht und gesellschaftlichen Beziehungen, scheint manchmal außerhalb der Institutionen möglich, etwa bei Streifzügen durch die Städte. Beispielsweise unlängst bei dem Projekt „Von fremden Ländern in eigenen Städten“ in Düsseldorf, Sommer 2018 (allgemeine Zugänglichkeit, keine Eintrittsgelder; Kunst an einem Kreuzungsort, unter veränderten Rezeptionsvorgaben, Multiperspektivik usw.). Entsprechendes gilt für die Initiative NoArte in Sardinien, die dem Verfasser seit vielen Jahren als einzigartiges Beispiel sozialer Partizipation an zeitgenössischer Kunst vertraut ist. Hier hat sich seit den 1960er Jahren um den Bildhauer und Aktivisten Pinuccio Sciola eine Kunst-Gemeinde entwickelt, die, ausgehend vom muralismo, eine dauerhafte und in den Alltag einbezogene Konfrontation der lokalen Bevölkerung mit den Werken einer internationalen Szene ins Leben gerufen hat. Eine Chronik bei Porcu, Cenzu, Gli „anni della calce“ e il paese museo San Sperate o. J.
210 Jahre Musik-Institut Koblenz und fünf Beispiele außermusikalischer Einflüsse auf dessen Wirken1 Andreas Pecht
„Refugium einer politikfreien Sphäre“ – wahrscheinlich hatte Joseph Andreas Anschuez (1772– 1856), der Gründungsintendant des Koblenzer Musik-Instituts, sich genau das gewünscht: ein eigenes Orchester, einen eigenen Chor, eine eigene Singschule als Elemente einer einzig der hohen Musikkunst gewidmeten Institution. Doch es hat nicht sollen sein. So sehr das Institut auch bemüht war, sich aus politischen Entwicklungen und Verwerfungen herauszuhalten – musste es sich in seiner 210-jährigen Geschichte doch immer wieder mit außermusikalischen Eingriffen, Angriffen, Abb. 61 Joseph Andreas Anschuez, Zugriffen auseinandersetzen. Genau genommen war, zumindest im histori- Ölgemälde von Gustav Zick, undatiert schen Rückblick, bereits die Gründung des Instituts ein Politikum: Ausdruck eines Epochenwandels infolge der französischen Revolution; Ausdruck des Übergangs der Verantwortung für die Künste aus der Hand der Feudalherrschaft in die Hand des Bürgertums. Der nachfolgende Text greift zunächst zurück auf die Zeit um 1808, um kurz einige der konkreten Koblenzer Umstände jenes Übergangs zu betrachten. Anschließend nimmt er vier weitere, spätere Fälle außermusikalischen, ja politischen Einflusses auf die Arbeit des Koblenzer Musik-Instituts in Augenschein.
I. Der Kurfürst, die Franzosen, das Musik-Institut Wir sind im Jahr 1808. Die linksrheinischen deutschen Gebiete und mit ihnen die Stadt Koblenz gehören zu Frankreich. Genauer gesagt: Bereits 1794 haben französische Revolutionstruppen die Stadt am Rhein-Mosel-Eck kampflos eingenommen. Vier Jahre später ist sie Hauptstadt des neuen Départements de Rhin-et-Moselle. 1 Das abgedruckte Vortragsmanuskript basiert auf Pecht, Andreas, Aus Liebe zur Musik. Das Musik-Institut Koblenz im Lauf der Zeiten 1808 bis 2018, Vallendar 2018. Eine weitere Bearbeitung war dem Autor nicht möglich.
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Während 1808 Ludwig van Beethoven (1770–1827) aus Bonn in Wien manchen Erfolg feiert, zugleich Klemens Wenzel Fürst von Metternich (1773–1859) sich auf bestem Wege befindet, einer der einflussreichsten Politiker Europas zu werden, ergreift in Metternichs Geburtsstadt Koblenz der Bürger Joseph Andreas Anschuez eine folgenreiche Initiative: Er sammelt um sich Mitstreiter für die Einrichtung einer Institution zur Pflege und Förderung der Musikkultur in der französischen Rhein-Mosel-Stadt, insbesondere zur Besorgung der sonn- und feiertäglichen Aufführungen in den Koblenzer Pfarrkirchen. Anschuez begeistert den Bürgermeister Johann Nikolaus Nebel (1752–1828) für das Projekt. Dieser wendet sich seinerseits am 1. März mit einem enthusiastischen Aufruf an die Bürgerschaft des damals allenfalls 10.000 Einwohner zählenden Städtchens. Darin beschwört er die Bedeutung von Musik und Gesang bei der Verherrlichung Gottes sowie ihre segensreiche Wirkung auf Mensch und Gesellschaft. Zugleich wirbt er um finanzielle Unterstützung des Vorhabens durch alle bemittelten Einwohner dieser Stadt. Die folgende Subskription erbringt binnen weniger Tage das Doppelte der erhofften Summe. Auf dieser Grundlage kann Nebel nun beim französischen Präfekten in Koblenz um Erlaubnis zur Einrichtung der angestrebten Musik-Akademie nachsuchen. Die Erlaubnis wird am 7. April 1808 in Form eines Erlasses über die Ernennung der Mitglieder der Verwaltungskommission für die späterhin „Institut de Musique“ genannte Akademie erteilt. Dieser Erlass gilt als Gründungs-Urkunde des Musik-Instituts Koblenz und damit der 7. April als der Tag seiner Geburt. Joseph Andreas Anschuez – der Initiator des Instituts und bis 1846 dessen Intendant – war von Hause aus Jurist, Ergänzungsrichter am Kriminalgerichtshof des Departements in Koblenz, ab 1814 dort Staatsprokurator. Was bewegt einen solchen Mann, sich in seiner Freizeit mit Verve und umfangreichem persönlichem Engagement für das Musikleben in der Stadt einzusetzen? Diese Frage lässt sich über nachfolgende Generationen bis ins 21. Jahrhundert auf viele Bürger der Stadt übertragen, die sich jahre- und jahrzehntelang für das Musik-Institut engagieren, es oft auch mit beträchtlichen privaten Finanzmitteln unterstützen. Liebe zur Musik und Liebe zur Heimatstadt stehen als eng miteinander verbundene Triebkräfte wohl im Zentrum dieses Engagements. Im Falle Anschuez war beides kräftig ausgeprägt. Der Jurist galt auch als exzellenter Musiker, war ein Klavierspieler von hohen Graden und hatte beim Musik-Institut nicht umsonst neben dem Intendantenamt zugleich 34 Jahre lang die Funktion des Musikdirektors inne, also des künstlerischen Leiters und Chefdirigenten. Sein Engagement am Ort war jedoch nicht auf das Musikleben begrenzt, wie beispielsweise Anschuez’ Mitgliedschaft bei den Freimaurern oder sein Mitwirken in der 1814 eingerichteten Koblenzer Bürgerwehr bezeugen. So mag der Gründer des Musik-Instituts als Beispiel dienen für ein sich im noch jungen Bürgertum an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert verbreitendes Bewusstsein, dass erst die Kunst, also Theater, Museen und Musikleben aus dem Verwaltungs- und Gerichtszentrum Koblenz, dem Militärstandort und Handelsplatz am Zusammenfluss von Mosel und Rhein ein urbanes Gemeinwesen macht.
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In Koblenz wurde die Entwicklung solchen Denkens befeuert durch den Umstand, dass die über Jahrhunderte sämtliche Geschicke der Stadt bestimmende Kraft 1794 schlagartig verschwand: Als am 23. Oktober jenes Jahres General François Séverin Marceau (1769–1796) mit französischen Truppen über die Moselbrücke in die Stadt einzog, war Kurfürst Clemens Wenzeslaus (1739–1812) mitsamt Entourage bereits geflohen. Der Hofstaat hatte sich aufgelöst und die Hofkapelle sich in alle Winde zerstreut. Mit dem Koblenzer Hof dieses letzten Erzbischofs und Kurfürsten von Trier verlor die Rhein-Mosel-Stadt von jetzt auf gleich ihren politischen, gesellschaftlichen, kulturellen Dreh- und Angelpunkt. Das Regime der französischen Besatzung schuf zwar einen neuen politischen Ordnungsrahmen, gesellschaftlich und kulturell indes hinterließ das abrupte Verschwinden der feudalen Herrschaft erst einmal ein Vakuum. Es dauerte einige Jahre, bis das örtliche Bürgertum das Selbstbewusstsein entwickelt hatte, im Rahmen der französisch-republikanischen Ordnung die Dinge in die eigenen Hände zu nehmen. Was das Musikleben angeht, so müssen Anschuez und andere Musikfreunde am Ort den Zustand nach 1794 als schmerzhaft empfunden haben. Denn vom vormaligen Glanz und hohen Niveau der Musikpflege am kurfürstlichen Hof – die unter Clemens Wenzeslaus durchaus auch auf das Musikleben in der übrigen Stadt ausstrahlte – war wenig geblieben. Die Umstellung von feudaler auf bürgerliche Musikpflege brauchte offenbar ihre Reifezeit – und die dauerte eben von 1794 bis 1808. Dann aber platzte der Knoten nicht nur im Bereich der Musik: Mit dem Wohlwollen der französischen Präfektur wurde im selben Jahr wie das Koblenzer Musik-Institut auch das Casino zu Koblenz ins Leben gerufen, eine Bürgervereinigung, die unter dem Leitmotiv „Freiheit, Urbanität, Eintracht“ städtische Geselligkeit und geistigen Austausch im aufklärerischen Sinne zum Programm hatte. Die beiden Vereinigungen existieren bis heute. Sie begründeten 1808 gewissermaßen aus dem Vakuum, das der Zusammenbruch der kurfürstlichen Herrschaft hinterlassen hatte, eine Tradition bürgerschaftlichen Engagements, die in Koblenz bis in die Gegenwart eine gewichtige Stellung einnimmt. Unter den bürgerlichen Förderern der Stadtgemeinschaft und der Künste waren Juristen, Ärzte, Beamte und Kaufleute stets stark vertreten. Erste Ansätze dazu gab es bereits unter Kurfürst Clemens Wenzeslaus. Das 1787 in Koblenz erbaute Residenztheater (Stadttheater) beispielsweise ist nicht etwa dem Fürsterzbischof zu verdanken, sondern dem großzügigen mäzenatischen Engagement eines wohlhabenden Bürgers: Franz Joseph Schmitz machte den Theaterbau mit seinen privaten Finanzmitteln erst möglich. Solche Persönlichkeiten aus dem Bürgertum sollten dem Kulturleben in Koblenz späterhin immer wieder bemerkenswerte Dienste erweisen. Stellvertretend sei die Familie Wegeler genannt, beginnend mit dem von Bonn nach Koblenz umgesiedelten Beethovenfreund und -biographen Franz Gerhard Wegeler (1765–1848). Dieser war ein früher Mitstreiter des Musik-Instituts. Später stellte die Familie dem Institut nicht nur zahlreiche Vorstandsmitglieder, sondern auch drei Intendanten: Um die Wende vom 19. zum 20. Jahr-
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hundert hatten nacheinander zwei Enkel des Beethovenfreundes dieses Amt inne, nämlich die Brüder Julius (1836–1913) und Carl Wegeler. Mit Rolf Wegeler wurde 1993 noch einmal ein Spross der Familie für 17 Jahre zum Instituts-Intendanten berufen. Keine acht Tage nach der offiziellen Genehmigung durch den französischen Präfekten für die Gründung des Musik-Instituts fand am 15. April 1808, Karfreitag, in der Schlosskapelle das erste Konzert statt. Schon am Ostersonntag folgte mit der ersten „Musikmesse“ in der Liebfrauenkirche ein weiterer Einsatz der sich ums neue Institut scharenden Musiker und Choristen. Es liegt auf der Hand, dass die für diese Ereignisse notwendigen Instrumentalisten und Sänger wohl kaum binnen einer Woche quasi aus dem Nichts heraus aufgetrieben und auftrittssicher gemacht werden konnten. Tatsächlich liefen Vorarbeiten für das Projekt Musik-Institut schon eine ganze Weile. Anschuez hatte, wie er selbst bekundete, bereits 1805 begonnen, privat einige arme Mädchen und auch verschiedene Gesang-Liebhaber zu unterrichten. Zudem hatte er manche Andere in der Instrumental-Parthie aufgemuntert. Man kann demnach davon ausgehen, dass sich in Koblenz schon vor 1808 um Anschuez ein musikalisches Netzwerk gebildet hatte, das schließlich danach drängte, sich unter dem Nahmen eines Musik-Instituts zu constituieren, um das angefangene Werk mit Energie und Erfolg fortsetzen zu können. Das 1808 in Koblenz vor das Publikum tretende neue Orchester umfasste anfangs rund zwei Dutzend Instrumentalisten, darunter neben etlichen sogenannten Dilettanten aus dem Bürgertum einige Mitglieder der ehemaligen Hofkapelle sowie einige vormals kurfürstliche Militärmusiker. Letztere Gruppe, Militärmusiker, spielte später in preußischer Zeit eine noch größere Rolle. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts nämlich wuchs das Orchester auf 60 bis 70 Aktive an, von denen rund ein Drittel, später bisweilen die Hälfte aus Bläsern und Schlagwerkern der Musikkorps preußischer Garnisonstruppen am Rhein-Mosel-Eck bestanden. Der Instituts-Vorstand selbst schreibt in einem Bericht von 1849 an die preußische Provinzialregierung über die Militärmusiker: Das Blase-Orchester zeichnete sich durch Reinheit und Stimmung, festes und markiges Einsetzen aus und ließ nur in Betreff der PianoNuancierung etwas zu wünschen übrig. Aus dem bisher Gesagten lassen sich vier zentrale Aufgaben ableiten, die sich das Musik-Institut bei Gründung stellte und die seine wichtigsten Säulen werden sollten. Erstens: Schaffung und Unterhalt eines sinfonischen Orchesters in der nun bürgerlichen Nachfolge der kurfürstlichen Hofkapelle. Zweitens: Aufbietung eines versierten Chores. Drittens zur „Nachziehung“ qualifizierter Mitwirkender: Betreiben einer eigenen Singschule und Erteilung von Instrumentalunterricht. Viertens verstand sich das Musik- Institut bald als der Konzertveranstalter in Koblenz, schrieb sich das Monopol darauf gar in seine erste Satzung. Über etliche Jahre fühlte sich das Institut primär der Kirchenmusik verpflichtet, wie es zuvor schon bei der Hofkapelle des Kurfürsten Usus war. Doch schon 1809 wurden neben geistlichen auch weltliche Konzerte aufgelegt; nicht selten mit einem wohltätigen Zweck und auch mit einem der beliebten Tanzbälle verbunden.
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Aus der Breite dieses Aufgabenspektrums lässt sich ebenfalls unschwer ableiten, dass die dafür nötigen Finanzmittel dauerhaft wohl kaum allein aus Abonnementsverkauf und Spenden zu erlösen waren. Deren Ergiebigkeit folgte ohnehin den Schwankungen der allgemeinen Wirtschaftslage – und sank beispielsweise mit Beginn der antinapoleonischen Kriege 1812 in für das Musik-Institut schier existenzgefährdende Tiefen. Kurzum: Vom ersten Tage an war die Geldfrage vielschichtiger Dauerbrenner in der Vorstandsarbeit. Zumal die anfänglichen Zuwendungen aus der Staatskasse durch den kunstsinnigen Präfekten Adrien de Lezay-Marnésia (1769–1814) bald ausblieben. Dessen Nachfolger ab 1810 machte keinerlei Anstalten, die Förderpraxis seines Vorgängers fortzuführen. So wurde die nachfolgende Zeit auch zu einem steten Kampf im Spannungsgeflecht zwischen Bemühen um staatliche Unterstützung und Verzicht auf Orchester und Singschule als Eigeneinrichtungen des Musik-Instituts. Und tatsächlich gab es Mitte des 19. Jahrhunderts erst die Singschule auf, verabschiedete sich um die Wende zum 20. Jahrhundert dann auch vom Prinzip des eigenen Orchesters. Im Jahr 1811 gab das Verwaltungskomitee dem Musik-Institut seine ersten Statuten. In diesen wurde nun offiziell festgeschrieben, was schon seit 1808 praktiziert worden war – und in einigen Teilen bis in die Gegenwart Gültigkeit behalten hat. So etwa die Regel, dass qua Amt der Oberbürgermeister der Stadt Koblenz automatisch Vorsitzender des Instituts-Vorstandes ist. Auch von den vier zentralen Säulen der Gründerjahre, die in den Statuten akribisch geregelt wurden, stehen nach 210 Jahren zwei noch immer: der institutseigene Chor und das Institut als Veranstalter der Anrechtskonzerte – dieser in Stadt und Region zentralen und publikumsstärksten Reihe klassischer Orchesterkonzerte. Geblieben ist von den 1811er-Regelungen ebenso die Organisationsstruktur, nach der das Institut kein Mitgliederverein ist, sondern de jure nur aus dem Vorstand besteht.
II. Das Musik-Institut und die Preußen 1815. Mit dem Wiener Kongress wird das eben noch französische „Rheinland“ Teil des Königreichs Preußen. Auf Befehl des Preußenkönigs Friedrich Wilhelm III. (1770– 1840) wird sogleich begonnen, Koblenz zur Großfestung und zu einer der wichtigsten Garnisonsstädte im Westen des Reiches auszubauen. In Koblenz machten sich Anschuez und Mitstreiter schon in der frühen nach-französischen Übergangsperiode 1814/15 entschlossen an die Reaktivierung des zuvor kriegsbedingt krisengeschüttelten und zuletzt dann doch fast in Agonie versunkenen MusikInstituts. Als hoher örtlicher Repräsentant der neuen preußischen Obrigkeit genehmigte der noch in russischen Diensten stehende Staatsrat Justus Gruner (1770–1820) einen jährlichen Zuschuss von 2.400 Franken aus der Staatskasse „zur Erhaltung des Musikinstituts und vorzüglich zum Besuch des theoretischen Unterrichts im Gesange und der Musikschule überhaupt“.
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Diese erfreuliche Entwicklung kam jedoch wegen mehrfachen Umbaus der Provinzialstruktur und Wechseln an deren jeweiliger Spitze ständig ins Wanken. Die Auszahlung des Zuschusses verzögerte sich immer wieder. Und rasch bekamen es die Koblenzer Musikfreunde gehörig mit der preußischen Bürokratie zu tun. Wiederholt musste Joseph Görres (1776–1848) – Herausgeber des „Rheinischen Merkur“ sowie Direktor des Öffentlichen Unterrichts in Koblenz – als Fürsprecher eintreten. Antragspflicht, Etatpflicht, Begründungspflicht, Rechenschaftspflicht gegenüber dem Königlichen Konsistorium, der Königlichen Ober-Rechen-Kammer und der Königlichen General-Controlle: Stets aufs Neue wollte die staatliche Zuwendung erstritten sein – obwohl sie doch bei weitem nicht hinreichte, die Aufgaben in Gänze zu finanzieren, die sich das Musik-Institut gestellt hatte. Floss der Zuschuss, waren Singschule und Instrumentalunterricht einigermaßen gesichert, aber die Konzerte noch keineswegs „in trockenen Tüchern“. Dafür bedurfte es neuerlicher Subskriptionen; so etwa für je drei Konzerte im Dezember 1815 und weitere drei im Januar 1816. In den Zeichnungslisten tauchen bis heute nicht nur am Ort bekannte Namen auf, darunter Gneisenau (1760–1831), Scharnhorst (1755–1813), Görres (1776–1848), Wegeler, Deinhard (1772–1827). Allerdings reichten auch die Abonnements nicht aus, die Konzerte verlässlich zu finanzieren. Im Jahr 1817 konfrontierte die preußische Verwaltung das Musik-Institut zudem mit einem Ansinnen, das dessen Existenz unmittelbar gefährdet hätte: Das Königliche Provinzialschulkollegium wollte dem Institut den musikalischen Elementarunterricht am Koblenzer Gymnasium sowie an den fünf örtlichen Pfarrschulen aufbürden und die Kosten dafür aus dem staatlichen Zuschuss ans Institut decken. Für die Sing- und Instrumentalschule als Talent- und Nachwuchsschmiede im Dienste der „hohen Musikkunst“ des Instituts wäre dann kein Geld mehr übrig geblieben. Als „Tüpfelchen auf dem i“ der Zumutungen beschied das Königliche Konsistorium obendrein: Man halte sich nicht für befugt, auch nur einen Theil des aus der Staatskasse bisher an das Musikinstitut verabreichten jährlichen Beytrages für die Besorgung der Instrumental-Parthie und für die Solosängerinnen bey Aufführung von Konzerten und KirchenMusiken fernerhin zu verwenden. Es ist offensichtlich, dass die preußische Kultusbürokratie Zweck und Zielsetzung des Musik-Instituts als reine Kunstanstalt entweder nicht verstanden hatte oder nicht goutieren wollte. Die Beamten sahen in dem unter französischen Bedingungen entstandenen Konstrukt wohl eher eine potenzielle Volksbildungseinrichtung, die nur ihren rechten Platz in Preußens Staatsstruktur noch nicht gefunden hatte. Jedenfalls war die Lage für den Fortbestand des Instituts in seiner bisherigen Form und Ausrichtung anno 1817 sehr gefährlich. Weshalb Anschuez sich mit Verve, gebotener Schärfe sowie der Unterstützung von Görres und anderen Prominenten am Ort ins Zeug legte, um diese Gefährdung seines noch jungen und für Koblenz so wichtigen Lebenswerkes abzuwenden. Die Beharrlichkeit führte schließlich zum Erfolg. Die Provinzialregierung der Rheinprovinz empfahl im Dezember 1819 dem königlich-preußischen Ministerium der geist-
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Abb. 62 Konzertprogramm des Musik-Instituts, 1833
lichen Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten zu Berlin, dem Musik-Institut den Zuschuss von 2.400 Franken rein und ohne Abzug zu bewilligen sowie den Musikunterricht an den Schulen nicht aus dem Instituts-Zuschuss, sondern aus dem Gymnasialfond (Bildungshaushalt) zu finanzieren. Und tatsächlich folgte das Berliner Ministerium der Empfehlung. Damit waren nach langem Ringen die Voraussetzungen geschaffen für eine zwar selten sorgenfreie, aber doch über viele Jahre in den Grundzügen gesicherte Nachwuchsförderung im Dienste der Konzerttätigkeit des Instituts.
III. Das Musik-Institut und die erzkonservativen Katholiken Machen wir einen kleinen historischen Sprung in einen Zeitraum von den späten 1830er bis in die 1850er Jahre. Um 1837 brach in Koblenz ein veritabler Streit zwischen MusikInstitut und örtlichen Pfarrgemeinden über die rechte Kirchenmusik aus. Dieser ent-
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wickelte eine beträchtliche Sprengkraft, drohte das Institut von seinen Wurzeln und programmatisch erklärten Urzwecken zu trennen. Erinnert sei an das Postulat der Gründertage, wonach die Musikpflege nicht zuletzt dem Lobe Gottes und der religiösen Erbauung der Menschen dienen solle. Daraus hatte sich für die Konzertpraxis des Instituts eine gewisse Vorrangstellung kirchenmusikalischer Werke und musikalischer Messen gegenüber der weltlichen Musik ergeben. Was nun aber, wenn Mitglieder der am Ort dominierenden katholischen Gemeinden zuhauf nichts mehr wissen wollen von den musikalischen Beiträgen des Chores und Orchesters zu den Messfeiern? Was, wenn sie gar geharnischt Front dagegen machen? So geschehen 1837. Da unterschrieben mehrere hundert Gemeindemitglieder eine Eingabe an den Kirchenrat der Pfarre Liebfrauen, in der etwa beklagt wurde, die Aufführungen des Musikinstituts störten die Andacht, atmeten vielfach einen unkirchlichen Geist, seien bloße Konzert- und Schaubelustigungen, würden von Ungläubigen aufgeführt und angehört, veranlassten viele Kirchenbesucher, dem Altar den Rücken zu kehren oder seien Gelegenheit zu einem Stelldichein der eleganten Welt. In Koblenz mochten die Gemeinden von Liebfrauen und St. Kastor die bisherigen Musikmessen also nicht mehr dulden. Ihre Pfarrer sahen als dem Kirchenraum gemäße Art des Musizierens nur reine Vokalwerke im alten Stile der Gregorianik. Darauf aber war der Chor des Musik-Instituts nie eingestellt worden, und sowieso mochte man sich wohl von einer Schar „frömmelnder Eiferer“ nicht diktieren lassen, was wertvolle Kirchenmusik sei. Die Differenzen waren so gravierend, dass das kirchenmusikalische Engagement des Instituts für rund zwei Jahre völlig zum Erliegen kam. Ein schwerer Schlag, bei dem es Joseph Andreas Anschuez nicht belassen mochte. Langwierige Verhandlungen mit den Kirchenvorständen führten schließlich zu einem Kompromiss: Die von der Geistlichkeit geforderte Musik werde nach Vermögen der Sänger in die Programme der Musikmessen aufgenommen und im Wechsel mit Werken jüngerer Meister aufgeführt. Doch der Burgfriede währte nicht allzu lange. Im Jahr 1849 wiederholten sich die Vorgänge von 1837/38 nachgerade. In einem Schreiben an das Musik-Institut verknüpften die Pfarrer von Liebfrauen und St. Kastor die weitere Mitwirkung des Instituts an Gottesdiensten mit der kategorischen Bedingung, in der Kirche den alten Gregorianischen Gesang wieder aufzunehmen, oder sich ausschließlich und unter Beseitigung der der Kirche ganz fremden Saiten-Instrumental-Begleitung an die anerkannt kirchlichen Werke eines Palästrinas usw. zu halten. Die beiden Anschuez-Nachfolger – Intendant Benedict Kopp und Musikdirektor Joseph Lenz (1815–1865) – widersprachen entschieden. Sie führten an, dass die von den Pfarrern inkriminierten Mess-Kompositionen in der ganzen katholischen Welt tagtäglich und selbst unter den Augen der Bischöfe in ihren Domkirchen zur Aufführung kommen. Ebenso sei die Ersetzung derselben durch sogenannten gregorianischen Gesang unthunlich, da die Cultivierung dieser Gattung keineswegs Aufgabe eines Kunst-Gesangchors sein könne. Erneut musste das Institut die Musikmessen für eine Weile aussetzen.
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Im Herbst 1850 wurde bei extrem schwierigen Verhandlungen neuerlich ein Kompromiss erzielt, der auf eine deutliche Ausweitung des Repertoires Alter Musik hinauslief. Die Geistlichen selbst holten sich beim Trierer Domkapitular Rat hinsichtlich geeigneter Werke und beschafften in eigener Initiative ebensolche von Palestrina und di Lasso, um sie dem Musikdirektor Lenz, sagen wir: nachdrücklich ans Herz zu legen. Gleichwohl war das Einverständnis zwischen den Kontrahenten offenbar nur schwach ausgeprägt. Denn die Musikmessen mit Beteiligung von Musik-Instituts-Chor und -Orchester verlagerten sich bald zusehends weg von den Gemeindekirchen und ab 1853 ganz hin zur neuen Garnisonskirche – bis sich ihre Spur ab 1856 vollständig verliert. Das Institut hatte zu diesem Zeitpunkt sein kirchenmusikalisches Engagement als Beitrag zum gottesdienstlichen Geschehen der örtlichen Gemeinden völlig eingestellt und von gelegentlichen besonderen Ereignissen abgesehen, nie wieder als eigenständiges, reguläres Element seiner Tätigkeit aufgenommen.
IV. Das Musik-Institut und die Schleifung der Festung Koblenz Wir schreiben das Jahr 1900. Die Welt befindet sich in rasend schnellem Umbruch – es sind die all überall rasch wachsenden Städte und industriellen Ballungsräume, die den Takt vorgeben. Es wächst und wächst auch die Stadt Koblenz. Im Jahr 1900 finden wir sie im Zustand einer einzigen großen Baustelle. Seit 1890 drängt sie mit Macht zur Erweiterung den Rhein hinauf gen Süden und das Moseltal hinan Richtung Westen. Zugleich wird die innere Struktur des Stadtzentrums umgekrempelt. Es entstehen die großen Ringstraßen. Es entstehen neue Großbauten wie Herz-Jesu-Kirche, ChristusKirche, Kreishaus und Polizeipräsidium, Eichendorff-Gymnasium, Oberpostdirektion, Hauptbahnhof und Städtische Festhalle. Koblenz wurde zu dieser Zeit hinsichtlich seiner baulichen Entwicklung von einem enormen Nachholbedarf getrieben. Denn die Preußen hatten die Rhein-Mosel-Stadt seit der Eingliederung des Rheinlandes 1815 in ihr Königreich zu einer das gesamte Stadtgebiet umgreifenden militärischen Großfestung ausgebaut und den Zivilbereich strengen Baubeschränkungen unterworfen. Koblenz steckte seither quasi in einer engen und starren Rüstung aus Gräben, Wehrmauern, armierten Toren, aus Forts und Bastionen, aus komplexen Bollwerken wie Festung Ehrenbreitstein, Feste Alexander, Feste Franz und Fort Konstantin. Für einen Aufbruch in die Urbanität des aufziehenden 20. Jahrhunderts brauchte es städtebaulich aber vor allem Luft, Platz, Wachstums- und Gestaltungsraum. Die Aufhebung der Baubeschränkungen am Ort durch die preußische Zentralregierung war ein drängendes Anliegen der zivilen Stadtverwaltung und der Koblenzer Bürger. Im Jahr 1888 endlich war es nach schier endlosen Verhandlungen mit dem Berliner Kriegsministerium so weit: Die Baubeschränkungen wurden aufgehoben, 1889 auch die Festungsmauern an Rhein und Mosel entmilitarisiert. Mit Kabinettsordre vom 13. März 1890 wurde schließ-
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lich die gesamte Festung Koblenz aufgegeben und für einen großen Teil der Anlagen die Schleifung angeordnet. Von da an ging vieles sehr schnell, die Abbruchhandwerker konnten sozusagen direkt mit dem Aufbau eines neuen Koblenz beginnen. Was hat das alles mit dem Musik-Institut und dem Koblenzer Musikleben zu tun? Nun, man muss sich vorstellen: Die Rhein-Mosel-Stadt hatte bis zu diesem Bauboom keinen großen Saal, von den Kirchen einmal abgesehen. Proben und Konzerte von Chor und Orchester des Musik-Instituts waren seit seiner Gründung auf die recht kleine Aula des Gymnasiums sowie zwei oder drei Tanzsäle örtlicher Wirtshäuser angewiesen. Die Platzverhältnisse waren beengt, die Bedingungen oft schwierig, Saalakustik und Raumatmosphäre dem Kunstgenuss eher abträglich. Gewiss, man kannte es nicht anders. Doch die Städte wurden größer, die Welt kleiner und die Ansprüche an Künstler und Räume höher. Schließlich waren die sich weiterentwickelnde bürgerliche Konzertkultur und die noch aus dem 18. Jahrhundert stammenden Koblenzer Raumverhältnisse in dauerhaften Widerspruch zueinander geraten. Vor diesem Hintergrund stellte die nun im Stile der Neorenaissance und des Neobarock erbaute und 1901 eröffnete Koblenzer Festhalle einen „Quantensprung“ dar: Für die Konzerte stand jetzt ein repräsentativer, nach damaliger Ästhetik schöner Saal mit 1.200 Besucherplätzen sowie einer am Ort noch nie erlebten Akustikqualität zur Verfügung. Möglich geworden war dieser Bau dadurch, dass der ortsansässige Kaufmann Julius Wegeler – von 1887 bis 1892 selbst Intendant des Musik-Instituts – aus seinem Privatvermögen die für damalige Verhältnisse gewaltige Summe von 100.000 Goldmark zum Bau der städtischen Festhalle beisteuerte. Diese im Zweiten Weltkrieg zerstörte Stadthalle strotzte äußerlich wie im Innern von bürgerlichem Selbstbewusstsein. Und nichts lag näher als der Wunsch, dem baulichen Glanz möge der künstlerische Glanz entsprechen, die Halle also durch ein eigenes, ständiges Profiorchester von einigem Rang bespielt werden. Gemäß der allgemeinen Tendenz jener Zeit zu stärkerer Professionalisierung der Orchester, wollte man auch in Koblenz endlich weg von der Praxis, den Klangkörper für jede Saison neu zusammenzuwürfeln – aus örtlichen Berufsmusikern und Laien, Mitgliedern der umliegenden Kurochester von Bad Kreuznach, Bad Ems und Bad Neuenahr sowie aus ständig wechselnden Instrumentalsoldaten der gerade in der Garnison stationierten zwei bis manchmal sieben Militärkapellen. Dass das Koblenzer Musik-Institut einen solchen Klangkörper allein nicht würde finanzieren und tragen können, war schnell ausgerechnet. Weshalb sich die Waage nun in Richtung ganzjährig festes städtisches Orchester neigte. Genauer gesagt: Anvisiert wurde ein Künstler-Orchester in der Trägerschaft eines zu gründenden Philharmonischen Vereins. Es sollte sich finanzieren aus kommunalen Zuschüssen und Einlagen der Vereinsmitglieder sowie Honorar-Engagements bei Musik-Institut, Stadttheater, CasinoGesellschaft und benachbarten Orten. Auf dieser Grundlage wurde im März 1901 der Philharmonische Verein zu Koblenz als Rechtsträger des künftigen Orchesters am Ort gegründet. Schnell ging es dann auch mit dem Aufbau des Klangkörpers: Es wurde
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Abb. 63 Zerstörte Festhalle, 1950
Abb. 64 Innenansicht der zerstörten Festhalle, 1950
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kurzerhand das Bad Kreuznacher Kurorchester mitsamt seinem Chefdirigenten Heinrich Sauer (1870–1955) als neues Philharmonisches Orchester Koblenz engagiert. Bonner Leser werden jetzt aufmerken: Heinrich Sauer? War das nicht der Gründungskapellmeister des Bonner Beethovenorchesters? In der Tat, so ist es. In Koblenz sind die Erinnerungen an diesen Mann allerdings etwas zwiespältig. Denn 1907 wandte das vormals Bad Kreuznacher Kurorchester, dann Philharmonische Orchester Koblenz der Rhein-Mosel-Stadt völlig unerwartet den Rücken zu und zog, Kapellmeister Heinrich Sauer vorweg, mit Sack und Pack nach Bonn um. Dort bildeten Sauer und seine Musiker den Kern des neu gegründeten Beethovenorchesters – während Koblenz wenige Monate vor den Festlichkeiten zum 100. Geburtstag des Musik-Instituts ohne Orchester dastand. Die Gründe für diesen abrupten Ortswechsel sind aus der Koblenzer Aktenlage nicht recht ersichtlich. Möglicherweise hat Bonn Sauer ein besseres Angebot gemacht als die schlussendlich doch wieder nur siebenmonatige Beschäftigungsgarantie in Koblenz, bei der es wegen Halbherzigkeit des dortigen Stadtrates blieb. Und wie zog man sich in Koblenz hinsichtlich der bevorstehenden Jubiläumsfestivitäten aus der Affäre? Kurzerhand wurde der Kreuznacher Coup von 1901 wiederholt – nur, dass im Spätherbst 1907 vom Philharmonischen Verein Koblenz das Kurorchester aus Bad Neuenahr als neues Stadtorchester am Rhein-Mosel-Eck installiert wurde. So kommt es, dass das Beethovenorchester Bonn und das Staatsorchester Rheinische Philharmonie Koblenz ihre ureigentlichen Wurzeln in der heutigen rheinland-pfälzischen Provinz haben: Ersteres in Bad Kreuznach, Letzteres in Bad Neuenahr.
Abb. 65 Der Gesamtchor des Musik-Instituts mit Musikdirektor Willem Kes und Intendant Carl Wegeler (mittig erste Reihe) zur 100-Jahr-Feier, 1908
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V. Das Musik-Institut und die Nationalsozialisten Wir sind nun im Jahr 1939 – und das Musik-Institut Koblenz existiert quasi nicht mehr. Genauer gesagt: Der Name bezeichnet nur noch einen gemischten Volkschor innerhalb der bereits vier Monate nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 neu gegründeten „Gemeinschaft Koblenzer Sängerschaft“. Diese steht ihrerseits unter Kuratel der „Führer“ des Landessängerbundes und der Reichsmusikkammer. Im Vorjahr 1938 mündeten die Gleichschaltungsbemühungen der NS-Kulturpolitik in Koblenz darin, dass nun die Stadt selbst die Konzerte in eigener Verwaltung und in enger Zusammenarbeit mit der NS-Gemeinschaft ‚Kraft durch Freude‘ übernommen hat. Damit ist das Musik-Institut als eigenständiger Konzertveranstalter ausgeschaltet und obendrein nicht einmal mehr Herr darüber, welche Stücke sein Chor singt. Gehen wir zurück in das Jahr 1933, um zu sehen, wie es schließlich bis 1939 quasi zur Abschaltung des Musik-Instituts kam. Die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten ging in Koblenz recht zügig, bisweilen handstreichartig vonstatten. Hingegen vollzog sich die Umwandlung der örtlichen Zivilgesellschaft und Kultur in Richtung NSVolksgemeinschaft teils als ziemlich verwickelter bis schleichender Prozess aus manchmal auf den ersten Blick unscheinbaren Verwaltungsakten, Organisationsreformen, Personalwechseln. Der systemtreue neue Oberbürgermeister Otto Wittgen (1881–1941) war – gemäß Musik-Instituts-Satzung seit 1808 qua Amt – automatisch Vorsitzender des Musik-Instituts geworden. Einen Monat nach seiner Amtseinführung als Oberbürgermeister im März 1933 eröffnete er dem Intendanten Hans Graeff brieflich, dass die Statuten des Instituts „einer eingehenden Änderung zu unterziehen“ seien. Im September 1933 trat die revidierte Satzung in Kraft. Danach mussten nun die Mitglieder deutschstämmiger (arischer) Abstammung sein und war Führer des Musikinstituts der jeweilige Oberbürgermeister. Dieser Führer sei ermächtigt, Satzungsänderungen zu beschließen und rechtsverbindlich zu verkünden. Außerdem habe der geschäftsführende Ausschuss die Veranstaltungen des Instituts nach den Weisungen des Führers des Instituts vorzubereiten. Die statuarische „Arisierung“ des Musik-Instituts war Teil einer massiven „Entjudungskampagne“ in der Stadt, die sich 1933 zunächst vor allem gegen Juden oder „jüdisch versippte“ Personen in den Leitungspositionen von Ämtern, Institutionen, Vereinen richtete. Die ersten beiden prominenten Opfer in der Kulturszene waren der Intendant des Stadttheaters Bruno Schönfeld (1885–1981), „Halbjude“ und bekennender Demokrat, sowie der Jude Erwin Landau, Vorsitzender des Vereins der Musikfreunde. Beide wurden ihrer Ämter enthoben, Landau durch Paul Fischer ersetzt, der als linientreuer NS-Mann bald maßgeblichen Einfluss auf das Koblenzer Musikleben wie auch auf das Musik-Institut nehmen sollte. Das Institut selbst erwies sich vorerst jedoch als etwas sperrig gegenüber den Bemühungen zur Gleichschaltung: Seinem Intendanten Hans Graeff war als Person über die Arisierungsbemühungen nicht beizukommen, denn er war eben lupenrein „deutsch-
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stämmig“. Dass Graeff schließlich im Januar 1935 doch sein Amt resigniert wie gleichsam gezwungenermaßen aufgab, muss gedeutet werden als Ergebnis endloser Querelen zwischen ihm und diversen Gliederungen und Funktionären des NS-Kulturapparates sowohl auf örtlicher wie auf überregionaler Ebene. „Widerständig“ wäre gewiss das falsche Wort für das damalige Verhältnis des MusikInstituts zum NS-Regime. Doch von willfähriger, gar begeisterter Unterstützung der braunen Revolution im Kulturwesen kann ebenfalls keine Rede sein. Soviel man weiß, war Intendant Graeff, seines Zeichens Justizrat, ein ebenso selbstbewusster wie bisweilen eigensinniger bürgerlich-konservativer Zeitgenosse. Im Bewusstsein der langen eigenständigen Tradition des Instituts sowie seiner persönlichen Mitwirkung daran über gut vier Jahrzehnte mochte er sich wohl von dahergelaufenen NS-Apparatschiks nicht dreinreden und gängeln lassen. Zugleich jedoch versuchte das Musik-Institut, auch den Nationalsozialisten gegenüber seiner seit 1808 gepflegten Praxis zu folgen: Im Interesse der Musik sich aus den politischen Niederungen möglichst herauszuhalten und mit den jeweiligen Machthabern irgendwie verträglich zu arrangieren. Das hatte im französischen Koblenz funktioniert, anschließend ebenso im preußischen, hatte nachher auch unter amerikanischer sowie wieder französischer Besatzung geklappt. Doch dieses Mal sollte es nicht gelingen. Denn das Musik-Institut bekam es mit einer Zug um Zug schärfer werdenden nationalsozialistischen Kulturpropaganda zu tun. In deren Zentrum stand die populistische Generalkritik, das Institut sei in seiner bisherigen Form eine überkommene Institution elitärer, abgehobener, volksferner Kulturpflege nur für eine Kaste wohlhabender Großbürger. Wie gesagt, gab sich Hans Graeff im Januar 1935 geschlagen und legte sein Amt als Intendant nieder – offiziell aus Altersgründen. Seine Nachfolge trat, wie bereits erwähnt, Paul Fischer an. Über diesen Mann schrieb die „Coblenzer Volkszeitung“ im selben Jahr voller Stolz: Mit großem Geschick hat er die musikpflegenden Vereinigungen zu einheitlichen Zielen, sicherem Wollen und Wirken zusammengeschlossen. Er war in Koblenz als Mitbegründer der Ortsgruppe des deutsch-völkischen Schutz- und Trutzbundes mit einer der ersten, die seit dem Jahre 1920 das Hakenkreuz trugen. Dieser „alte Kämpfer“ Fischer war die Zentralfigur bei der nationalsozialistischen Gleichschaltung der Musikkultur in Koblenz, am Mittelrhein und im gesamten Gau Koblenz/Trier. Er vereinte auf sich bis 1935 unter anderem folgende Ämter: Landesleiter der Reichsmusikkammer im Gau, Gaukulturwart, erst „Führer“ des Mittelrheinischen Sängerbundes, dann des Rheinischen Sängerbundes, Leiter des Koblenzer Stadtamtes für Musik, „Führer“ des Koblenzer Vereins der Musikfreunde. Nun übernahm er obendrein die Intendanz des Musik-Instituts. 1938 gab Fischer für eine Funktion in der Industrie all seine Ämter ab. Aber da waren die wesentlichen Weichen bereits gestellt. Schon im September 1935 hatte Oberbürgermeister Wittgen eine Verfügung an alle Stadtämter erlassen, den Musik-Instituts-Chor betreffend: Ich halte es für eine Ehrenpflicht der städtischen Beamten und Angestellten die-
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sem städtischen Chor beizutreten. Damit war der Instituts-Chor nach 127 Jahren bürgerschaftlicher Eigenständigkeit kurzerhand zur staatlichen Einrichtung erklärt. Am 8. Juli 1938 hieß es in einer Zeitungsmeldung fast beiläufig: So wird das Institut künftighin von sich aus keinerlei Veranstaltungen mehr durchführen. Träger jedweder Veranstaltungen ist in Zukunft die Stadt Koblenz, während das Musik-Institut, das als gemischter Chor in den Reichsverband der gemischten Chöre eingetreten ist, sich für diese Veranstaltungen zur Verfügung hält. So existierte von da an das Musik-Institut zwar noch dem Namen nach, war aber de facto ein städtischer Chor – der während der folgenden Kriegsjahre nach Maßgabe der NS-Stadtführung zwecks Erbauung an der „Heimatfront“ zum Einsatz kam. Am 25. August 1944 erging schließlich der Befehl, jegliches Musik- und Theaterleben zugunsten des totalen Kriegseinsatzes einzustellen. Am 6. November 1944 wurde bei einem Luftangriff der Stadtkern von Koblenz mitsamt Festhalle schier dem Erdboden gleichgemacht. Am 19. März 1945 marschierten amerikanische Truppen in Koblenz ein. Inmitten von Trümmern, Not, Trauer und Entsetzen sollte es von da an nur sieben Monate dauern, bis ein neues Orchester zur ersten Probe zusammenkam, und 15 Monate bis zur Wiedergründung des Koblenzer Musik-Instituts in der ursprünglichen Tradition einer bürgerschaftlich eigenständigen Institution – die bis zum heutigen Tag eine der wichtigsten Säulen des klassischen Musiklebens in der Rhein-Mosel-Stadt ist.
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Verpasste Gelegenheiten und künftige Chancen Stephan Eisel
Dass der Prophet in seiner Heimat wenig gilt, ist in allen vier Evangelien nachzulesen,1 und es findet allzu oft seine Bestätigung im Verhältnis des amtlichen Bonn zum größten Sohn der Stadt. Rat und Verwaltung der Stadt zeigten meist kein Interesse an der Beethoven-Pflege, immer wieder ging die Initiative dazu von Bürgern ohne offizielle Funktion aus. Meist reagierte man in städtischen Gremien und Amtsstuben nur, wenn der Druck aus der Bürgerschaft groß genug war. Dieses Kontinuum über zwei Jahrhunderte hinweg fällt auf, wenn man untersucht, wie die Stadt mit dem Erbe des Komponisten umgegangen ist.
I. Beethoven Bonnensis2: Zeitlebens mit Bonn verbunden Ludwig van Beethoven (1770–1827) ist nicht nur 1770 in Bonn geboren, sondern er hat dort auch 22 Jahre gelebt und gearbeitet – länger als Mozart in Salzburg.3 Bonn war in jener Zeit neben Mannheim herausragendes Musikzentrum Deutschlands,4 denn die hier residierenden Kölner Kurfürsten waren besondere Liebhaber und Förderer der Musik. So kam auch die Familie Beethoven nach Bonn und wirkte dort über drei Generationen unter drei Kurfürsten: Kurfürst Clemens August (1700–1761) warb 1733 den aus Mechelen im heutigen Belgien stammenden Sänger (Bass) Ludwig van Beethoven der Ältere (1712–1792) von Lüttich nach Bonn ab. Sein Nachfolger Kurfürst Maximilian Friedrich (1708–1784) ernannte Beethoven 1761 zum Hofkapellmeister und hatte schon 1756 dessen Sohn Johann (1740–1792) in die Hofkapelle aufgenommen. Kurfürst Max Franz (1756–1801) schließlich ernannte den 13-jährigen Ludwig van Beethoven, Enkel des gleichnamigen Hofkapellmeisters, 1784 zum stellvertretenden Hoforganisten und 1 Matthäus 13,57, Markus 6,4, Lukas 4,24 und Johannes 4,44. 2 Mit Beethoven Bonnensis hat Ludwig van Beethoven in Wien Briefe an Nikolaus Zmeskall (24. Juni 1813), Ferdinand Piringer (6. November 1821) und Joseph Karl Bernard (Ende Februar 1823) unterschrieben. Alle im Text aufgeführten Beethoven-Briefe sind zitiert nach Brandenburg, Sieghard (Hg.), Ludwig van Beethoven. Briefwechsel. Gesamtausgabe, 6 Bde., München 1996; 1998 erschien als Bd. 7 ein Registerband. 3 Dazu ausführlich Eisel, Stephan, Beethoven – Die 22 Bonner Jahre (Veröffentlichungen des BeethovenHauses Bonn Für Kenner und Liebhaber, N. F., Bd. 3), Bonn 2020. 4 Vgl. Eisel, Beethoven, S. 337.
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machte ihn damit zum Mitglied der Hofkapelle, in der er ab 1789 auch seinen Dienst als Bratscher versah. In Bonn wurde Ludwig van Beethoven mit dem Gedankengut der Aufklärung konfrontiert, entwickelte sich zum herausragenden Pianisten, sammelte wertvolle Erfahrungen als Orchestermusiker und reifte zum profilierten Komponisten. Hier stellte er 59 Kompositionen fertig – darunter zwei Klavierkonzerte, eine Sinfonie sowie zwei Kantaten – und entwickelte zahlreiche musikalische Ideen, die dann als Wiener Werke veröffentlicht wurden. Als er 1792 mit einem kurfürstlichen Stipendium zur Ausbildung bei Joseph Haydn (1732–1809) nach Wien aufbrach, hatte Beethoven die Rückkehr an den Rhein fest eingeplant: Er wollte wie sein Großvater in Bonn Hofkapellmeister werden. Die Besetzung Bonns durch die Franzosen 1794 vereitelte diesen Plan, denn mit der Flucht des Kurfürsten wurde auch die Bonner Hofkapelle aufgelöst. Ohne das Bonner Fundament sind die Wiener Jahre Beethovens nicht vorstellbar. Auch in Wien blieb er seiner rheinischen Heimat eng verbunden, hielt engen Kontakt zu seinen Bonner Freunden, von denen viele ihm nach Wien folgten, und hatte Heimweh nach den Rheingegenden, die ich so sehnlich wiederzusehen wünsche, da ich sie schon in meiner Jugend verlassen5 habe. Dass Ludwig van Beethoven in Wien mehrfach Briefe mit Beethoven Bonnensis unterschrieben hat, ist mehr als nur ein Symbol für diese Verbundenheit. Die Bonn-Affinität Beethovens hat allerdings leider lange kein Echo in Form einer Bonner Beethoven-Affinität gefunden.
Abb. 66 Ludwig van Beethoven, Elfenbeinminiatur von Christian Hornemann, Wien, 1802
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Ludwig van Beethoven am 13. Oktober 1826 an seinen Mainzer Verleger Johann Joseph Schott (1782–1855).
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II. […] im Auslande gepriesen, von uns kaum geehrt 6: Wie Beethoven in Bonn vergessen wurde In seiner Heimatstadt Bonn war Beethoven schon bald nach seiner Abreise vergessen. So beklagte sein zeitweiliger Assistent Anton Schindler (1795–1864) am 20. September 1845 in der Leipziger „Illustrirten Zeitung“, dass seit Beethovens Wegzug bis zu seinem Tod [n]iemand aus dieser Stadt sich auf irgendeine Weise um ihn bekümmerte.7 Dazu trug zunächst die französische Besetzung bei, die das Musikleben in der Stadt praktisch zum Erliegen gebracht hatte, viele von Beethovens Bonner Musiker-Kollegen zum Wegzug veranlasste und mit der Übersiedlung seiner Brüder nach Wien und dem Tod des Vaters auch die Zeit der Familie Beethoven in Bonn beendete. In der Stadt am Rhein blieben nur wenige persönliche Beethoven-Freunde wie Franz Anton Ries (1755–1846), Nikolaus Simrock (1751–1832) oder Franz Gerhard Wegeler (1765–1848) mit seiner Frau Eleonore, geborene von Breuning (1771–1841), die 1807 nach Koblenz übersiedelten. Offizielle Bonner Stellen hatten Beethoven trotz dessen ständig wachsender Bekanntheit überall in Europa längst aus den Augen verloren. Lediglich als sich 1806 Ferdinand Ries (1784–1838), aus Wien kommend, einige Zeit in Bonn aufhielt, geriet Beethoven auch in seiner Heimatstadt kurz noch einmal in den Fokus. Er war in Wien Schüler von Beethoven gewesen, sein Vater Franz Anton in Bonn dessen Lehrer. Mit ihm konzertierte er in Bonn und Köln mit Beethoven-Werken. Ferdinand Ries spielte Beethovens 3. Klavierkonzert in c-Moll op. 39, das er 1804 bei seinem ersten öffentlichen Auftritt in Wien mit großem Erfolg dargeboten hatte, und Beethovens „32 Variationen über ein eigenes Thema“ in c-Moll WoO 80. Außerdem wurde neben einer Haydn-Sinfonie auch Beethovens 2. Sinfonie op. 36 aufgeführt.8 Nach dem kurzen Schlaglicht der Ries-Konzerte 1806 geriet Beethoven in Bonn wieder aus dem Blick. Nur vereinzelte Stimmen wie der Altertumssammler und Kanonikus Franz Pick (1750–1819) nahmen daran Anstoß. In einer Eingabe an Bonns Bürgermeister (Maire) Anton Maria Graf von Belderbusch (1758–1820) schlug er um 1808 vor, den Rundbau der verfallenden Martinskirche zum Pantheon für verdiente Bonner Bürger umzugestalten: Auch wäre zu wünschen, dass hier in diesen Hallen die Namen Beethoven, Ries und Salomon etc. widerhallten, im Auslande gepriesen, von uns kaum geehrt.9 Die Idee blieb freilich ohne Resonanz.
6 Der Bonner Kanonikus Franz Pick 1808 in einer Eingabe an Bürgermeister Anton Maria Karl Graf von Belderbusch zit. n. Henseler, Theodor Anton, Das musikalische Bonn im 19. Jahrhundert. Aus Anlaß der Einweihung der neuen Beethovenhalle am 8. September 1959 (Bonner Geschichtsblätter, Bd. 13), Bonn 1959, S. 14). 7 Zit. n. Schindler, A., Die Enthüllungsfeier des Beethoven-Denkmals zu Bonn, in: Illustrirte Zeitung 5 (Juli bis Dezember 1845), No. 116, 20.9.1845, S. 179–182. 8 Vgl. Henseler, Bonn, S. 27. 9 Zit. n. ebd., S. 14.
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In anderen Städten wurde Beethoven damals gefeiert. Nicht so in Bonn: Von öffentlichen Aufführungen von Beethoven-Werken ist nach den Ries-Konzerten 1806 erst wieder am 25. Juli 1813 die Rede, als im Programm des 25. Stiftungsfestes der Lesegesellschaft im Poppelsdorfer Schloss ein Marsch unseres Beethoven angekündigt wurde.10 Elf weitere Jahre später vermerkt das „Bonner Wochenblatt“ am 21. März 1824 für ein Großes Vokal- und Instrumental-Concert zum Besten der Armen auf dem Programm eine Symphonie von L. v. Beethoven.11 Auch bei der akademischen Feier zum Geburtstag des Königs am 6. August 1825 stand dann eine Beethoven-Sinfonie auf dem Programm.12 Wenn man sich vor Augen hält, dass beispielsweise Beethovens 5. Sinfonie bereits 1809 in Bremen und in Breslau und 1811 in Paris, Mannheim und Dresden aufgeführt wurde, fällt auf, wie sehr Bonn hinterherhinkte. Erst am 17. Dezember 1826 – in Bremen hatte es das schon 1819 gegeben – kam es zum ersten Bonner Konzert am Tauftag des Bonner Komponisten. In diesem Rahmen wurde Beethovens 4. Sinfonie zum ersten Mal in Bonn gespielt. Sie war schon 20 Jahre zuvor komponiert und 1807 in Wien uraufgeführt worden. Initiator der Bonner Aufführung war der aus Hessen stammende Musikwissenschaftler Heinrich Karl Breidenstein (1796–1876), der 1822 Musikdirektor an der Bonner Universität und 1826 als außerordentlicher Professor Inhaber des ersten musikwissenschaftlichen Lehrstuhls in der deutschen Universitätsgeschichte überhaupt geworden war.13 Beethovens Tod am 27. März 1827 wurde in seiner Heimatstadt erst am 5. April 1827 durch die „Bonner Zeitung“ bekannt gemacht – auf der letzten Seite mit drei Zeilen als letzte und kürzeste von drei Meldungen aus Wien.14 Dem „Bonner Wochenblatt“ war der Tod des größten Sohns der Stadt zunächst keine Meldung wert, aber es druckte am 3. Juni 1827 immerhin den Bericht einer Wiener Zeitung vom dortigen Begräbnis nach.15 Keine der beiden Bonner Zeitungen hatte es übrigens für nötig gehalten, daran zu erinnern, dass der große Komponist in Bonn geboren wurde und hier 22 Jahre gelebt und gearbeitet hatte. In vielen anderen Zeitungen und Zeitschriften in ganz Europa waren dagegen ausführliche Nachrufe erschienen, und in vielen Städten – so in nächster Umgebung in Aachen, Elberfeld und Köln – hatten bereits Gedenkfeiern für Beethoven stattgefunden.16 Bonn war auch hier Nachzügler: Erst am 13. Juli 1827 kam es – veranstaltet vom „Bonner Musikzirkel“ in Verbindung mit der Junggesellen-Bruderschaft – in der Jesuitenkirche 10 Vgl. ebd., S. 31. 11 Dr. Breidenstein, Großes Vokal- und Instrumental-Conzert zum Besten der Armen, in: Bonner Wochenblatt, Nro. 24, 21.3.1824, S. 4. 12 Vgl. Henseler, Bonn, S. 31. 13 Vgl. Kahl, Willi, Art. Breidenstein, Heinrich Carl, in: Neue Deutsche Biographie 2 (1955), S. 572, abgerufen unter: https://www.deutsche-biographie.de/pnd119059231.html#ndbcontent (abgerufen am 30.12.2021). 14 Vgl. Bonner Zeitung, Nr. 54, 5.4.1827, S. 4. Gestern Abend um 6 Uhr verschied unser hochverehrter Beethoven zum allgemeinen Leidwesen des musikalischen Publikums. 15 Vgl. Beethovens Todtenfeier, in: Bonner Wochenblatt, Nro. 45, 3.6.1827, S. 1. 16 Vgl. Bartels, Bernhard, Beethoven und Bonn, Dinkelsbühl/Stuttgart 1954, S. 113.
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nahe des Geburtshauses mit Mozarts Requiem zu einer Bonner Totenfeier für Beethoven. Diese Feier blieb die einzige Bonner Veranstaltung zum Tod Beethovens. Die Stadt Bonn selbst war dabei erneut untätig.17 Nur vereinzelt regte sich gegen die Vernachlässigung von Beethovens Werk in Bonn Widerstand. So berichtete das „Bonner Wochenblatt“ am 30. Dezember 1827, dass Theater-Abonnenten den Spielplan der städtischen Bühne kritisierten, der darin bestehe die besseren Stücke, namentlich gute Opern, wie den in Cöln mehrmals schon gegebenen Fidelio, dem hiesigen so zahlreichen Theater-Publikum bis zum Sommer vorzuenthalten.18 Diese erste öffentliche Fidelio-Aufführung in Bonn fand schließlich am 6. Februar 1828 statt, fast 23 Jahre nach der Wiener Uraufführung. Zur ersten Bonner Aufführung von Beethovens 1807 in Eisenstadt uraufgeführten C-Dur-Messe op. 86 kam es am 2. Februar 1828. Im Jahr darauf wurde ausgerechnet das Konzert am 20. Dezember 1829 zu Beethovens Tauftag – unter anderem mit der 1. Sinfonie op. 21, der Egmont-Ouvertüre op. 84 und dem Gloria aus der C-Dur-Messe – Gegenstand einer heftigen öffentlichen Auseinandersetzung. Auslöser war eine vernichtende Konzertkritik, die das „Bonner Wochenblatt“ am 21. Januar 1830 veröffentlichte: Da dieses Fest eine Nachahmung der Geburtstagsfeier Beethovens in anderen Städten ist, so wäre es für den guten Ruf und Bestand des Bonner Musikzirkels besser gewesen, wenn er dasselbe noch ein Jahr verschoben hätte: in dieser Zeit hätte er sich mehr üben können, um es würdiger zu feiern.19 Das einstige Musikzentrum Bonn hatte sich den Ruf musikalischer Mittelmäßigkeit erworben. Am 13. Juli 1844 attestierte das in Leipzig herausgegebene „Musikalisch-kritische Repertorium“ den Bonnern, versehen mit deutlicher Kritik, immerhin: […] auch thut man viel an Beethoven’s Klaviermusik, vielleicht nur aus städtischem Patriotismus, denn die guten Leute haben nicht die entfernteste Kenntnis ihres Inhaltes, und setzte man auf das nächstbeste Stück von Hünten20 den Namen Beethoven, sie würden eben nach Beethoven’s Geist und Charakter nicht viel suchen gehen. Aber in Bonn ist für Empfänglichkeit eines besseren Wissens immer noch viel guter Boden. […] In der Instrumentalmusik ist man beim Anfang und wäre es den guthmütigen und theilweise in Bildung hochstehenden Bonnern zu wünschen, dass sie nach mehreren Jahren doch schon bis gegen die Mitte vorgedrungen seien.21 Erst 1907, also über einhundert Jahre nach Auflösung der kurfürstlichen Hofkapelle, erhielt die Beethovenstadt Bonn übrigens ein eigenes Berufsorchester, das heutige Beethoven Orchester Bonn.22 17 Vgl. Einladung zu Beethovens Todtenfeier, in: Bonner Wochenblatt, Nro. 56, 12.7.1827, S. 1. 18 Zit. n. Bonner Wochenblatt, Nro. 105, 30.12.1827, S. 2 f. 19 Vgl. Der Vorstand des Musikzirkels, Geburtstagsfeier Beethovens, in: Bonner Wochenblatt, Nro. 6, 21.1.1830, S. 1 f. 20 Franz Hünten (1792–1879) war ein Komponist, Pianist und Gitarrist aus Koblenz. 21 Z-k-g, Feuilleton, in: Musikalisch-kritisches Repertorium aller neuen Erscheinungen im Gebiete der Tonkunst 1 (1844), S. 328–332, hier S. 331. 22 Vgl. Schloßmacher, Norbert (Hg.), 100 Jahre Beethoven Orchester Bonn. Impressionen aus einem Jahrhundert Orchestergeschichte, Bonn 2007.
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III. […] laßt ab von eurem Phlegma 23: Das Beethoven-Denkmal als Wendepunkt Im „Bonner Wochenblatt“ vom 3. Juni 1827 war im Bericht zu Beethovens Todtenfeier aus Wien ein wichtiger Hinweis enthalten: Mehrere Plane [sic!] sind bereits entworfen, zur Veranstaltung von Conzerten und zur Herausgabe aller auf den Ton des großen Meisters Bezug habenden Schriften, um die dadurch einfließenden Summen zu einem Denkmale für den Meister zu verwenden.24 In Bonn wurde diese Idee von offiziellen Stellen nicht aufgegriffen. Der Vorschlag für ein Beethoven-Denkmal in Beethovens Geburtsstadt wurde erstmals fünf Jahre später am 5. Juli 1832 im „Bonner Wochenblatt“ von einem anonymen Autor vorgetragen. In dem Aufruf heißt es: Die bedeutenden Männer des deutschen Vaterlandes haben öffentliche Denkmahle ihres Namens und ihrer Verdienste erhalten in ihren Geburtsstädten oder an den Orten, wo sie länger gelebt oder gewirkt haben. […] Auch in unsern Mauern ist, wie bekannt, ein Mann geboren, unsterblichen Andenkens. Zwar hat er sich selbst ein Denkmahl gesetzt in den Herzen aller fühlenden Deutschen, sollte es aber nicht passend sein, daß auch er in seiner Vaterstadt, in der er ja auch einen Theil seiner Bildung erhielt, ein öffentlich ehrendes Denkmahl erhalten, seinen speciellen Landsleuten, so wie den Deutschen anderer Provinzen zur Freude und Nacheiferung. Die Anschauung von Beethovens Bild würde vielleicht den Sinn für Kunst überhaupt, für Musik insbesondere, ganz vorzüglich aber den Sinn für seine unsterblichen Meisterwerke auch unter uns immer mehr nähren und fordern, und Einsender ist überzeugt, daß dieser Wunsch nicht der Seine allein ist, sondern Vieler, die länger oder kürzer in dieser unserer Stadt zu leben veranlaßt sind. […] Einsender würde sich freuen, wenn es irgend einem Mitbürger unserer Stadt gefallen würde, sich an die Spitze zu stellen, und allein, oder in Verbindung mit andern kunstsinnigen Männern für diese Sache thätig zu wirken. Kaum ließe sich denken, wie irgend Jemand der Hiesigen für die Kunst sich Interessirenden von der Theilnahme hierin sich ausschließen würde.25 Wieder blieben offizielle städtische Stellen untätig, aber es fand sich eine bürgerschaftliche Initiative zusammen, die am 23. September 1835 die behördliche Zulassung als „Bonner Verein für Beethovens Monument“ erhielt. Mitinitiator und treibende Kraft war Heinrich Karl Breidenstein, als Präsident konnte der weithin bekannte Literaturhistoriker August Wilhelm von Schlegel (1767–1845) gewonnen werden. Am 17. Dezember 1835 veröffentlichte der Verein zum 65. Geburtstag des Komponisten einen Aufruf an die Verehrer Beethovens. Es hieß darin: Selten hat ein Künstler so bedeutsam, so denkwürdig gewirkt, wie Beethoven. […] Eine so äußerst seltene, wohlthätige 23 Schumann, Robert, Monument für Beethoven. Vier Stimmen darüber, in: Neue Zeitschrift für Musik 4 (1836), S. 211–213. 24 Beethovens Todtenfeier, in: Bonner Wochenblatt, Nro. 45, 3.6.1827, S. 1. 25 Erinnerung an Beethoven, in: Bonner Wochenblatt, Nro. 54, 5.7.1832, S. 1 f.
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und weithin wirkende Erscheinung verdient es, auf eine seltene und außerordentliche Weise gefeiert zu werden, nämlich durch ein plastisches, möglichst großartiges Monument. Ueber den dazu geeignetsten Ort kann kein Zweifel sein. Die Stadt Bonn am Rheine, in welcher der unsterbliche Künstler das Licht der Welt erblickte, […] scheint zu dem Unternehmen in gleicher Weise berechtigt, wie verpflichtet.26 Dass dieser Vorstoß aus Bonn schnell nationale und internationale Beachtung fand, war wesentlich Robert Schumann (1810–1856) zu verdanken, der am 8. April 1836 in der von ihm herausgegebenen „Neuen Zeitschrift für Musik“ den Aufruf aus Beethovens Geburtsstadt erstmals veröffentlichte. Am 24. Juni 1836 beleuchtete er dann dort unter der Überschrift Monument für Beethoven die Idee: Denkbar sei als Mausoleum ein leidlich hoher Quader, eine Lyra darauf mit Geburts- und Sterbejahr, darüber der Himmel, daneben einige Bäume. Man könne Beethoven auch einen griechischen Tempel errichten, damit dort seine Werke in letzter Vollendung dargestellt werden, oder man nehme hundert hundertjährige Eichen und schreibt mit solcher Gigantenschrift seinen Namen auf eine Fläche Landes. Oder bildet ihn in riesenhafter Form […] damit, wie er schon im Leben that, er über Berg und Berg schauen könne – und wenn die Rheinschiffe vorbeifliegen und die Fremdlinge fragen: was der Riese bedeute, so kann jedes Kind antworten: Beethoven ist das. Leidenschaftlich mahnte Schumann: erhebt euch einmal, laßt ab von eurem Phlegma und bedenkt, daß das Denkmal euer eignes sein wird! Und er erinnerte daran, daß, wenn nicht einmal der Anfang gemacht wird, sich eine Dekade auf die Trägheit der andern berufen wird. […] Vereinigt Euch also! In allen deutschen Landen möchten aber Sammlungen von Hand zu Hand, Akademien, Concerte, Operndarstellungen, Kirchenaufführungen veranstaltet werden; auch scheint es nicht unpassend, bei größern Musik= und Gesangsfesten um eine Gabe anzusprechen.27 Eine besondere Rolle bei der Realisierung des Bonner Denkmals spielte dann Franz Liszt (1811–1886), der schon 1836 begann, Geld dafür zu sammeln. Er schrieb angesichts des schleppenden Fortgangs der Spendensammlung am 2. Oktober 1839 verärgert an seinen Kollegen Hector Berlioz (1803–1869): Beethoven! ist es möglich? Die Sammlung für das Denkmal des größten Musikers unseres Jahrhunderts hat in Frankreich das Ergebnis von vierhundertvierundzwanzig Francs neunzig Centimes getragen! Welch eine Schmach für alle! Welch ein Schmerz für uns! Dieser Zustand der Dinge muß anders werden – Du stimmst mir bei: ein so mühsam zusammengetrommeltes, filziges Almosen darf unseres Beethoven Gruft nicht bauen helfen! 28
26 Bonner Verein für Beethovens Monument, Aufruf an die Verehrer Beethoven’s, in: Neue Zeitschrift für Musik 4 (1836), S. 121 f. 27 Schumann, Robert, Monument für Beethoven. Vier Stimmen darüber, in: Neue Zeitschrift für Musik 4 (1836), S. 211–213. 28 An Hector Berlioz, in: Ramann, Lina (Hg.), Gesammelte Schriften von Franz Liszt, Bd. 2: Essays und Reisebriefe eines Baccalaureus der Tonkunst, Leipzig 1881, S. 250–257, hier S. 256.
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Zugleich bot Liszt in einem Schreiben an das Denkmalkomitee am 3. Oktober 1839 an, die zur Errichtung des Denkmals noch erforderliche Summe aus meinen Mitteln zu vervollständigen29 und übernahm schließlich etwa 20 Prozent der Kosten aus seiner Privattasche. Abgesehen von den Finanzierungsfragen gab es noch Schwierigkeiten wegen des Standortes des Denkmals. Der preußische König Friedrich Wilhelm III. (1770–1840) hatte es nämlich immer abgelehnt, bedeutende Persönlichkeiten aus Kultur und Wissenschaft durch Statuen auf öffentlichen Plätzen zu ehren. Das sollte Herrschern vorbehalten bleiben. Karl Friedrich Schinkel (1781–1841) schrieb deshalb 1837 als Leiter der preußischen Oberbaudeputation dem „Bonner Verein für Beethovens Monument“, man solle nicht mit einer Zustimmung des Königs zu einem Beethoven-Denkmal im öffentlichen Raum rechnen und stattdessen als Standort den Kreuzgang des Münsters ins Auge fassen. Als 1840 der neue König Friedrich Wilhelm IV. (1795–1861) sein Amt antrat, revidierte er diese Haltung und machte schnell den Weg für das Bonner Beethoven-Denkmal frei.30
Abb. 67 Die Enthüllung des Beethoven-Denkmals am 12.8.1845, 1845 29 Zit. n. Ramann, Lina, Franz Liszt als Künstler und Mensch, Bd. 1: Die Jahre 1811–1840, Leipzig 1880, S. 550. 30 Vgl. Hallensleben, Horst, Das Bonner Beethoven-Denkmal als frühes „bürgerliches Standbild“, in: Bodsch, Ingrid (Hg.): Monument für Beethoven. Zur Geschichte des Beethoven-Denkmals (1845) und der frühen Beethoven-Rezeption in Bonn. Katalog zur Ausstellung des Stadtmuseums Bonn und des Beethoven-Hauses, Bonn 1995, S. 35–37.
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Die Enthüllung des Denkmals am 12. August 1845 wurde in Anwesenheit der jungen englischen Königin Victoria (1819–1901) und des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. die erste große Beethoven-Demonstration in Bonn: Es versammelten sich auf dem Münsterplatz einige tausend Menschen, darunter viele prominente Musiker aus ganz Europa – allen voran Franz Liszt – und bekannte Größen aus der Gelehrtenwelt wie Alexander von Humboldt (1769–1859). Bonns damals seit 1840 amtierender erster hauptamtlicher Oberbürgermeister Karl Edmund Joseph Oppenhoff (1807–1854) spielte beim Denkmalprojekt keine Rolle. Der Ärger von Liszt über das Desinteresse der städtischen Gremien war so groß, dass er von der Stadt auch nicht geehrt werden wollte. Dazu schrieb das „Bonner Wochenblatt“ am 17. August 1845: (Bonn, 14. Aug.) Heute in der Mittagsstunde wurde durch den Dr. Liszt, unter Böllerschüssen, der Grundstein zu dem ersten Hause in der ‚BeethovenStraße‘ gelegt. […] Die Beethoven-Straße wird auf einen Platz, Agrippinen-Platz zu nennen, führen, und die Verlängerung jener Straße, jenseits des Agrippinen-Platzes, soll ‚LisztStraße‘ heißen. Diese Ehre suchte Liszt durch ausgesprochene Worte abzulehnen, wie er die ersten drei Schläge des Hammers auf den Grundstein führte.31 Obwohl damit bereits 1845 in Bonn die weltweit erste Straße nach Beethoven benannt wurde, ist im offiziellen Bonner Straßenkataster übrigens immer noch 1863 als Jahr der Benennung der Beethovenstraße vermerkt, und die dokumentierte Grundsteinlegung durch Franz Liszt wird bis heute ignoriert.32 Für Bonn war das Beethoven-Denkmal das erste sichtbare Bekenntnis zur Aufgabe als Beethovenstadt – initiiert und realisiert von der Bürgerschaft und nicht von offiziellen Stellen. Dabei kann die Hoffnung, die Anton Schindler (1795–1864) am 20. September 1845 in der Leipziger „Illustrirten Zeitung“ als Fazit seines Berichts zur Denkmal-Enthüllung zum Ausdruck brachte, durchaus als zeitlose Mahnung gelten: Möge schließlich die von Bonns Einwohnern während der Festtage bewiesene Begeisterung fortan wenigstens zum Theile sich wach erhalten, damit sie immer mehr zur Erkenntnis des geistigen Inhalts seiner Werke gelangen, was in der That sehr noth thut.33
31 Bonner Wochenblatt, No. 226, 17.8.1945, S. 2. 32 Vgl. Stadtplan der Bundesstadt Bonn, Straßenschlüssel 1089, abgerufen unter: https://stadtplan.bonn.de/ cms/cms.pl?set=3_22_0_0 (abgerufen am 3.1.2022). Der Eintrag verweist auf das Adressbuch von 1863. 33 Zit. n. Schindler, A., Die Enthüllungsfeier des Beethoven-Denkmals zu Bonn, in: Illustrirte Zeitung 5 (Juli bis Dezember 1845), No. 116, 20.9.1845, S. 179–182.
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IV. [ …] die Lauen feuerte er an, den Gleichgültigen versuchte er Geschmack einzuflößen34: Zur wechselvollen Geschichte des Beethovenfestes Von Franz Liszt kam die Initiative, die Enthüllung des Beethoven-Denkmals mit einem europäischen Musikfest zu verbinden. Er war – wie Hector Berlioz schrieb – die Seele des Festes.35 Am 1. Mai 1845 kündigte Liszt in einem Brief aus Marseille Breidenstein seine Ankunft in Bonn für Juli an und gab als Richtung für das Fest die europäische Ausstrahlung vor: Eine kurzgefasste Circular-Einladung oder besser ein festlich musikalischer Aufruf mit Bestimmung des Datums müsse in der deutschen überregionalen Presse und den europäisch musikalischen Zeitungen baldigst erscheinen.36 In ihrer Liszt-Biographie erläuterte Lina Ramann (1833–1912): „Nach seiner Idee durfte die Feierlichkeit nicht lokal, auch nicht exklusiv musikalisch oder exklusiv national bleiben: sie sollte dem Genius des großen Meisters entsprechend auf breiter Basis sich bewegen und einen internationalen Charakter tragen.“37 Wie sehr dieser Aufruf die Musikwelt elektrisierte, wird beispielhaft an einem Brief deutlich, den Hector Berlioz am 2. August 1845 aus Paris an seinen Freund, den Cellisten und Dirigenten Georg Hainl (1807–1873), in Lyon schrieb: Ich habe vor, sofort nach Bonn zu fahren, wohin alle gehen. Es ist eine wahre Auswanderung an Künstlern, Schriftstellern und Neugierigen. Ich habe keine Ahnung, wo wir unterkommen werden. Ich nehme an, wir werden gezwungen sein, Zelte am Rheinufer aufzubauen und in Booten zu schlafen.38 Den Kern dieses ersten Beethovenfestes vom 10. bis 13. August 1845 bildeten auf Liszts Betreiben hin neben der Enthüllung des Denkmals und dem Festgottesdienst im Bonner Münster mit Beethovens Messe in C-Dur op. 86 drei Konzerte, von denen zwei ausschließlich mit Kompositionen Beethovens bestritten wurden. So kam es zur Bonner Uraufführung der Missa solemnis op. 123 und der 9. Sinfonie op. 125. Franz Liszt spielte das 5. Klavierkonzert op. 73 und dirigierte die Uraufführung seiner eigenen „Festkantate zur Enthüllung des Beethoven-Denkmals in Bonn für Solisten, Chor und Orchester“ (Searle 67). 34 So habe Hector Berlioz Franz Liszts Auftritt beim ersten Beethovenfest wahrgenommen. Siehe Ramann, Lina, Franz Liszt. Als Künstler und Mensch, Bd. 2/1: Virtuosen-Periode. Die Jahre 1839/40–1847, Leipzig 1887, S. 257. 35 Berlioz, Hector, Des fêtes musicales de Bonn, in: Journal des Débats Politique et Littéraires, 22.8.1845, S. 2 f.; sowie Ders., Des fêtes musicales de Bonn (Deuxième et dernière lettre), in: Journal des Débats Politique et Littéraires, 3.9.1845. Zit. n. der deutschen Übersetzung in: Ders., Abendunterhaltungen im Orchester, Leipzig 1909, S. 398. 36 Beethoven-Haus Bonn, BH 159, 22, Franz Liszt, Brief an Heinrich Carl Breidenstein in Bonn, Marseille, 1.5.1845. 37 Zit. n. Ramann, Lina, Franz Liszt. Als Künstler und Mensch, Bd. 2/1: Virtuosen-Periode. Die Jahre 1839/40–1847, Leipzig 1887, S. 254. 38 Berlioz, Hector, Correspondance générale, Bd. 3: 1842–1850, hrsg. v. Pierre Citron (Nouvelle bibliothèque romantique), Paris 1978, Nr. 987, S. 272 f., hier S. 272 (Übersetzung aus dem Französischen vom Autor).
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Das erste Beethovenfest war eine vom Denkmal-Komitee getragene private Initiative, die Stadt kümmerte sich lediglich um polizeiliche Aufgaben.39 Erst 30 Jahre später übernahm zum 100. Geburtstag Beethovens die Bonner Stadtverwaltung die Verantwortung40 und richtete – wegen des deutsch-französischen Krieges auf 1871 verschoben – das zweite Beethovenfest aus. Liszt wurde noch nicht einmal eingeladen, ein briefliches Angebot von Richard Wagner (1813–1883), die Festrede zu halten, blieb unbeantwortet.41
Abb. 68 Beethovenfest Bonn 1871, Ferdinand Hiller dirigiert Beethovens Missa solemnis, anonymer Stich nach einer Zeichnung von Knut Ekwall, undatiert
Bis zum nächsten, dem dritten Bonner Beethovenfest – die Stadt blieb nun Veranstalter – vergingen wieder mehr als 20 Jahre: Es fand 1894 statt – mit der ersten zyklischen Aufführung aller neun Beethoven-Sinfonien in Beethovens Geburtsstadt. Ein weiteres – das vierte – Beethovenfest wurde in Bonn erst wieder zum 100. Todestag des Komponisten 1927 ausgerichtet. Im Jahr 1931 folgte das fünfte Beethovenfest, bis dann die National39 Vgl. ausführlich dazu mit zahlreichen Presse- und Zeitzeugenberichten Eisel, Beethoven, S. 475–479. 40 Vgl. ausführlich zu den Beethovenfesten ab 1871: Manfred van Rey, Manfred/Herttrich, Ernst/Schlee, Thomas Daniel (Hgg.), Die Beethovenfeste in Bonn 1845–2003. Eine Veröffentlichung des BeethovenHauses und der Internationalen Beethovenfeste Bonn, 2 Bde. (Schriften zur Beethoven-Forschung, Bd. 17), Bonn 2003. 41 Vgl. dazu Wagner, Richard, Beethoven, Leipzig 1870, S. [VII].
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sozialisten den Komponisten von 1933 bis 1944 durch ein jährliches „Volkstümliches Beethovenfest“ okkupierten. Die Geschichte der Bonner Beethovenfeste blieb auch nach dem Zweiten Weltkrieg wechselvoll. Das erste Nachkriegsfest fand schon 1946 statt. Die Reihe wurde dann zwischen 1947 und 1967 im Zweijahresrhythmus fortgesetzt. Nach dem Beethovenfest zum 200. Geburtstag des Komponisten 1970 fand das Fest von 1974 bis 1992 nur noch alle drei Jahre statt. Nachdem die städtischen Zuschüsse schon Anfang der 1990er Jahre stark reduziert worden waren, strichen Rat und Verwaltung 1993 schließlich sämtliche Mittel für das nächste anstehende Beethovenfest 1995 zum 225. Geburtstag des Komponisten. Das Beethovenfest sollte ausfallen, einer gerade mühsam etablierten Tradition drohte das dauerhafte Aus.42 Die Empörung in der Bevölkerung darüber war groß. Es bildete sich die Bürgerinitiative „Bürger für Beethoven“, die 1995, 1996 und 1998 unter der Überschrift „Beethoven-Marathon“ private Beethovenfeste organisierte, die von hochrangigen Künstlern unterstützt wurden und mit einer Platzauslastung von 91 Prozent breiten Zuspruch in der Bürgerschaft fanden. Unter diesem Druck änderte sich die Haltung der Kommunalpolitik. 1998 wurde auf Vorschlag der „Bürger für Beethoven“ die Durchführung des Bonner Beethovenfestes einer von der Stadt Bonn mit der Deutschen Welle (also dem Bund) neu gegründeten gemeinnützigen GmbH übertragen. Auf dieser Grundlage wird das Beethovenfest seit 1999 in jedem Jahr ausgerichtet.43 Erst über 200 Jahre nach Beethovens Wegzug aus Bonn ist es so gelungen, in seiner Heimatstadt ein jährliches Musikfest zu seinen Ehren als wichtigen Eckstein auf dem Weg zur Beethovenstadt zu etablieren. Ohne bürgerschaftliche Initiative und Ungeduld wäre es dazu nicht gekommen.
V. […] so ein verrückter Kerl 44: Die Rettung des Geburtshauses Lange Zeit ging man in Bonn davon aus, dass Beethoven in der Rheingasse geboren worden sei, wo die Familie lange gelebt hatte. Dort war auch eine entsprechende Gedenkplatte montiert. Erst 1870 wurde als weiße Marmorplatte ein Hinweis am tatsächlichen Geburtshaus in der Bonngasse 20 angebracht.45 Welche Verwirrung diese doppelte Kennzeichnung auslöste, beschrieb der prominente österreichische Musikkritiker Eduard Hanslick (1825–1904) am 10. Juli 1885 in 42 Vgl. dazu ausführlich Bürger für Beethoven (Hg), 25 Jahre Bürger für Beethoven. Gegründet am 7. Dezember 1993, Bonn 2018, S. 4–6. 43 Ausgefallen ist das Beethovenfest seitdem nur coronabedingt 2020. 44 Der damalige Bonner Oberbürgermeister Hermann Jakob Doetsch über Beethoven, zit. n. Schmidt, Ferdinand August, Beethoven-Haus – Die Gründung des Vereins Beethoven-Haus und die Geschichte der beiden ersten Jahrzehnte seiner Tätigkeit. Nach meinen Erinnerungen, Aufzeichnungen und urkundlichem Material zusammengestellt, Bonn 1928, S. 8. 45 Vgl. Schmidt, Beethoven-Haus, S. 6.
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der Wiener „Neuen Freien Presse“ nach einem Besuch in Bonn: Von Schumann’s Grab heimkehrend, stand ich bald vor einem unscheinbaren Hause in der Rheingasse mit der stolzen Inschrift: ‚Beethoven’s Geburtshaus.‘ Pochenden Herzens betrat ich den feuchten Flur, erkletterte eine lebensgefährlich schmale, finstere Holztreppe und ließ mich oben von dem Besitzer oder Miether des Hauses in ein kahles, verwahrlostes Zimmer führen, dessen stark beschädigte Wände und kleines Butzenscheiben=Fenster ein ansehnliches Alter verriethen. ‚In dieser Stube ist Beethoven geboren,‘ sagte mein Führer mit einer Entschiedenheit, als ob er dabei gewesen wäre. […] Mit Lebensgefahr tastete ich mich wieder die stockfinstere Hühnerstiege herab ins Freie und war nicht wenig überrascht, bald darauf auf einem Hause in der Bonngasse abermals eine Aufschrift zu lesen: ‚Hier ward Ludwig van Beethoven geboren.‘ […] Wahrlich, der Stadtmagistrat von Bonn sollte endlich einem der beiden Häuser die Gedenktafel confisciren.46 Dieses Plädoyer blieb zunächst unbeachtet. Erst 1890 wurde die Beschilderung in der Rheingasse von „Geburtshaus“ in „Wohnhaus“ geändert. Das tatsächliche Geburtshaus in der Bonngasse befand sich damals allerdings in einem erbarmungswürdigen Zustand. Zur in dem Gebäude ab etwa 1870 betriebenen „Bierwirtschaft Blech“ gehörte ab 1875 im Garten in leichtem Holzbau eine Singhalle (sogen. ‚Tingel-Tangel‘, wohl das erste und damals einzige seiner Art in Bonn) […] So erschollen dicht unter der Geburtsstätte eines Beethoven allabendlich die gewöhnlichsten Gassenhauer und gemeine Lieder. In dem Geburtszimmer aber oben in der Mansarde kampierten die zweifelhaften Damen dieser ‚Blechhalle‘. So berichtet es als Zeitgenosse der Bonner Arzt Ferdinand August Schmidt (1852–1929) – später einer der Gründungsväter des Vereins BeethovenHaus – in seinen Erinnerungen.47 Er fährt fort: Als Mitglied der städtischen Baukommission stellte ich in einer Kommis sionssitzung im Februar oder März 1888 den Antrag, das demnächst zur Subhastation kommende Haus Bonngasse 20 für die Stadt zu erwerben, um dem schmachvollen Zustand ein Ende zu machen, daß ausgerechnet in dem Geburtshause von Ludwig van Beethoven, Beethovens, des Stolzes unserer Stadt, sich eine niedrige Bierkneipe nicht nur, sondern sogar ein Tingel-Tangel befand. Dieser Zustand sei, so führte ich aus, für die Ehre der Stadt Bonn einfach unerträglich! Die Mitglieder der Kommission waren über diesen meinen, allerdings in sehr lebhaftem Ton vorgebrachten Antrag sehr verblüfft. Der Herr Oberbürgermeister Doetsch hatte aber dafür nur ein ironisches Lächeln. Bei der Besprechung in die Enge getrieben, gab er allerdings zu, daß er schon oft, so noch vor kurzem, Briefe erhalten habe von Musikfreunden, die in Bonn Beethovens Geburtsstätte aufsuchten und entsetzt waren, dort eine Singhalle übelster Art vorzufinden. Man habe ihm gedroht, die Stadt Bonn in musikalischen Zeitschriften entsprechend an den Pranger zu stellen; der Herr Oberbürgermeister meinte, ‚so ein verrückter Kerl‘ (ich habe diesen Ausdruck nie vergessen!) brächte es am Ende fertig, unsere Stadt in ihrem Ansehen schwer zu schädigen.
46 Ed. H., Vom Bonner Musikfeste, in: Neue Freie Presse, Nr. 7493, Morgenblatt, 10.7.1885, S. 1–3. 47 Schmidt, Beethoven-Haus, S. 7.
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Worauf ich noch erwiderte, wenn das geschähe, so geschähe es mit vollem Recht. Ich drang selbstverständlich nicht durch.48 Doch Schmidt ließ nicht locker und fand Unterstützung bei dem damaligen Verleger der „Bonner Zeitung“ Hermann Neusser (1839–1903), der 1889 die Gründung eines Vereins initiierte, der Beethovens Geburtshaus durch Erwerb zur Gedenkstätte umwandeln wollte. Das Vorhaben gelang und der Verein wurde Eigentümer des Geburtshauses, das 1893 als Museum eröffnet wurde. Im Jahr 1927 wurde das Beethoven-Archiv als bis heute weltweit führende Beethoven-Forschungsstelle gegründet und schließlich 1989 ein herausragender Kammermusiksaal eröffnet. Heute ist das Geburtshaus in der Bonngasse der wichtigste authentische Beethovenort in Bonn mit jährlich circa 100.000 Besuchern aus aller Welt.49
VI. Ich schäme mich für die Stadt Bonn 50: Das Konzerthaus-Problem Als Franz Liszt in der letzten Juliwoche 1845 für die abschließenden Vorbereitungen zum ersten Beethovenfest nach Bonn kam, wurde er schnell auf das zentrale Problem aufmerksam: „Man hatte die Reitbahn zur Aufführung der Koncerte gewählt und bereits geschmückt, ohne dabei an Akustik und eine große Zuhörerschaft, geschweige an eine auch nach außen hin festliche Repräsentation zu denken.“51 Dazu vermerkt der Korrespondentenbericht der in Frankfurt am Main herausgegebenen Zeitschrift „Didaskalia – Blätter für Geist, Gemüth und Publizität“ vom 11. August 1845: Das vom Comité für die Konzerte bestimmte Festlokale genügte den Bürgern Bonns nicht; sie wollten ein größeres, würdigeres haben, konnten es aber nicht dahin bringen, daß man ihrem Wunsche entsprach! Da kam Lißt, der begeisterte, energische, und trat auf die Seite der Bürger mit der Aussprache: ‚Eine kleine Stadt kann das Glück haben, daß ein großer Mann in ihr das Licht der Welt erblickte, aber kleinstädtisch darf sein Andenken nicht gefeiert werden!‘ Dies gab den Ausschlag.52 In der von ihm autorisierten Liszt-Biographie von Lina Ramann heißt es dazu: „Schnell entschlossen erklärte jedoch Liszt: es müsse eine Festhalle noch gebaut werden. ‚Aber das Geld? und bis zum 11. August?!‘ riefen die Herren bestürzt unter einander. ‚Dafür werde ich sorgen: ich werde jedes Deficit decken‘ – entgegnete Liszt rasch, was die Herren, wenn auch nicht zur frohen Zustimmung, so doch zum Schweigen 48 Ebd., S. 8. 49 Vgl. Angaben Beethoven-Haus Bonn, abgerufen unter: https://www.beethoven.de/de/ueber-uns (abgerufen am 28.12.2021). 50 Kurt Masur zit. n. Hartmann, Bernhard, Der Maestro ist enttäuscht, in: General-Anzeiger Bonn vom 14. Dezember 2010, abgerufen unter: https://ga.de/news/kultur-und-medien/regional/der-maestro-istenttaeuscht-von-bonn_aid-40015095 (abgerufen am 6.12.2021). 51 Ramann, Liszt, Bd. 2/1, S. 255. 52 Korrespondenz [aus] Bonn, in: Didaskalia. Blätter für Geist, Gemüth und Publizität, Nro. 220, 11.8.1845, S. 4.
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brachte.“53 Mit Hilfe des Kölner Dombaumeisters Ernst Friedrich Zwirner (1802–1861) entstand dann in wenigen Tagen ein Konzertbau, der mit circa 3.000 Menschen mehr Besucher fasste als der Kölner Gürzenich. Gottfried Kinkel (1815–1882) schrieb am 7. August 1845 in der Augsburger „Allgemeinen Zeitung“: die Bürgerschaft betheiligt sich mit großem Eifer an dem Werke, und unter einer Fahne mit der Inschrift: Eintracht macht stark, arbeiten jetzt in dem ehemaligen Franciscanergarten (zwischen der gleichnamigen Kirche und dem Kloster) vom frühen Morgen bis zum späten Abend Maurer und Zimmerleute aus Bonn und den Nachbarorten.54 Dieses in unmittelbarer Nähe des ehemaligen kurfürstlichen Schlosses, des jetzigen Hauptgebäudes der Universität, an der heutigen Franziskanerstraße errichtete Festspielhaus wurde trotz seiner mehrfach gelobten guten Akustik schon zwei Monate nach seiner Errichtung wieder abgerissen. Zum einen brachte die Holzbauweise erhöhte Aufwendungen für den Brandschutz, zum anderen hatte man wegen der Größe – mit fast 3.000 Plätzen bei damals 17.000 Einwohnern in Bonn – dafür keine Verwendung mehr.55 Erst zum 100. Geburtstag des Komponisten konnte am 17. Dezember 1870 eine neue Beethovenhalle am Vierecksplatz – heute Berliner Freiheit – eröffnet werden. Dort wurden Konzerte ausgerichtet, aber es fanden auch Boxkämpfe, landwirtschaftliche Ausstellungen und Karnevalsveranstaltungen statt. Im Ersten Weltkrieg war die Halle Kriegslazarett, am 18. Oktober 1944 wurde sie bei einem Bombenangriff zerstört. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es ab 1950 zu einer bürgerschaftlichen Initiative für eine dritte Beethovenhalle. Als Standort wählte man das zerstörte Gelände der ehemaligen Universitätskliniken am nördlichen Rand der Altstadt (Wachsbleiche) aus. Dabei trafen sich das Interesse an einem Konzertsaal – für den ursprünglich Geld gesammelt wurde – mit dem Interesse der jungen Bundesrepublik Deutschland an einem großen, flexiblen Veranstaltungsraum in der Hauptstadt. So wurde aus dem angestrebten Konzertsaal eine auch vom Bund geförderte Mehrzweckhalle, die am 8. September 1959 eröffnet wurde.56 In den 1990er Jahren nahm die Kritik an der mangelnden akustischen Qualität der Mehrzweckhalle deutlich zu und – auch im Blick auf den 250. Geburtstag Beethovens im Jahr 2020 – bildeten sich bürgerschaftliche Initiativen zum Bau eines BeethovenFestspielhauses.57
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Ramann, Liszt, Bd. 2/1, S. 255. Allgemeine Zeitung, Nr. 219, 7.8.1845, S. 1750 f. Vgl. Henseler, Bonn, S. 222. Vgl. dazu im Einzelnen StA Bonn, SN 30, Stifterverband Beethovenhalle e. V. Bonn; Zurnieden, Paul, Bonner Geschichte(n). Begebenheiten, Anekdoten, Lebensbilder aus Bonn und dem Rheinland. Von 1984 bis 1993 zu Gedenktagen geschrieben und General-Anzeiger veröffentlicht, neu hrsg. v. Hans-Dieter Weber, Königswinter 2014, S. 16–19; Krüger, Jens, Die Finanzierung der Bundeshauptstadt Bonn (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 106), Berlin/New York 2006, S. 89 f. 57 Vgl. zu den Einzelheiten des Projektes Beethoven-Festspielhaus Eisel, Stephan, Das Beethoven-Festspielhaus und sein (vorläufiges) Ende, abgerufen unter: http://www.buergerfuerbeethoven.de/clubs/beethoven/artic/Festspielhaus%20Factsheet-Ende-Juni-2015.pdf (abgerufen am 28.12.2021).
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Der Bau sollte unter der Führung der Deutschen Post DHL als in Bonn ansässigem DAX-Unternehmen vollständig privat finanziert werden. Für eine Betriebsstiftung von Bund, Land, Stadt Bonn und Rhein-Sieg-Kreis hatte der Deutsche Bundestag bereits im November 2007 in einem Sonderprogramm zur Förderung „national bedeutsamer Kulturinvestitionen“ 39 Millionen Euro für die Beethovenpflege durch ein Beethoven-Festspielhaus in Bonn beschlossen. Die Deutsche Telekom gehörte ebenfalls zu den Unterstützern. 2008/09 lud die Deutsche Post DHL zehn weltweit führende Architektenbüros zu einem internationalen Architektenwettbewerb ein, bei dem eine hochkarätig besetzte Fachjury unter Beteiligung der Vertreter von Rat und Verwaltung sowie der damaligen SPDOberbürgermeisterin Barbara „Bärbel“ Dieckmann (geb. 1949) einstimmig die Entwürfe „Diamant“ von Zaha Hadid (1950–2016) und „Welle“ von François Valentiny (geb. 1953) und Hubert Hermann (geb. 1955) als Siegerentwürfe auswählte. In beiden Fällen sollte der Neubau die alte Beethovenhalle ersetzen. Während die Deutsche Post DHL im Herbst 2009 ein Auswahlverfahren von Generalunternehmen begann, um bis Anfang Februar 2010 mit marktbasierten Kostenschätzungen eine endgültige Entscheidung zwischen den beiden Siegerentwürfen vorzubereiten, stellte der im September 2009 neu gewählte SPD-Oberbürgermeister Jürgen Nimptsch (geb. 1954) den erzielten Konsens infrage, brachte neue Standorte ins Spiel und schlug vor, statt des geplanten Festspielhauses ein auch als Opernhaus nutzbares Gebäude zu bauen. In einem Schreiben vom 23. März 2010 an die Sponsoren des Festspielhauses teilte er mit, er könne nicht erkennen dass der Stadtrat derzeit eine Beschlussfassung auf den Weg bringen könnte, die Beethovenhalle abzureißen und das Festspielhaus dort zu errichten.58 In vielen, auch überregionalen Medien wurde später zutreffend kommentiert, dass er das Projekt damit auf Eis gelegt59 habe. Am 21. April 2010 teilten daraufhin die Vorstandsvorsitzenden der DAX-Unternehmen nach einem Gespräch mit dem Oberbürgermeister in einer gemeinsamen Erklärung mit, das Projekt vorerst nicht weiter zu verfolgen.60 Manfred Harnischfeger (1944–2015), bis Ende 2009 Kommunikationschef der Deutschen Post DHL, schrieb dazu wenige Monate später: Die Unternehmen waren das Hin und Her leid. Die Vorstandvorsitzenden fragten den OB, ob er das Festspielhaus wirklich wolle. Wenn ja, ob die Stadt ihre Einlage in die Stiftung leiste und welches die ganz konkreten Arbeitsschritte seien. Da gestand das Stadtoberhaupt, dass er derzeit keine Ratsmehrheit und keinen Konsens in der öffentlichen Meinung erkenne. Das bedeutet das vorläufige Aus.61 58 Zit. n. Oberbürgermeister der Bundesstadt Bonn (Hg.), Newsletter Rat Nr. 5, 23.3.2010. 59 So unter anderem Kölnische Rundschau, 30.12.2010; Westfälische Nachrichten, 7.7.2011; Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9.9.2011; Deutsche Welle, 9.9.2011; Hannoversche Allgemeine Zeitung, 25.11.2011; Deutschlandfunk, 5.6.2015; und General Anzeiger, 18.10.2015. Die Welt schrieb am 6.9.2011 rückblickend: Unter der Last des Finanzdesasters um das halb- fertig gebaute WCCB scheute Nimptsch jedes neue Risiko und eine klare Entscheidung zum Festspielhaus. 60 Zit. n. Oberbürgermeister der Bundesstadt Bonn (Hg.), Newsletter Rat Nr. 9, 21.4.2010. 61 Harnischfeger, Manfred, Das Drama von Bonn, in: CRESCENDO – Das Magazin für klassische Musik und Lebensart 13 (2010) 5, S. 38 f., hier S. 39.
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Einen Beschluss des Stadtrates zur Verschiebungsinitiative von Oberbürgermeister Nimptsch hatte es nicht gegeben. Aber aus der Bürgerschaft erhob sich vielfältiger Protest, und ein neuer Verein „Fest.Spiel.Haus-Freunde“ unter dem Vorsitz der ehemaligen EU-Kommissarin Monika Wulf-Mathies (geb. 1942) sammelte in kurzer Zeit fast 10.000 Unterschriften für das ursprünglich geplante Beethoven-Festspielhaus. Der Stadtrat reagierte auf den Protest und gab im Sommer 2014 grünes Licht für einen zweiten Architektenwettbewerb der Deutschen Post DHL für ein Festspielhaus, das nun neben der Beethovenhalle gebaut werden sollte. Daraus gingen drei Siegerentwürfe hervor (David Chipperfield, Hermann & Valentiny und kaddawittfeldarchitektur), die baureif durchgeplant wurden. Zur Finanzierung standen inzwischen neben der Deutschen Post DHL die private Spendensammlung „5000 × 5000“ und die von Bonner Unternehmen gegründete „Beethoventaler-Genossenschaft“ bereit. Alle Beteiligten vom Deutschen Bundestag über die Deutsche Post DHL und den Rhein-Sieg-Kreis bis zu den privaten Initiativen hatten ihre Entscheidungen für die Verwirklichung des Beethoven-Festspielhauses getroffen. Aber Stadtrat und Oberbürgermeister in Bonn zögerten die notwendigen kommunalen Beschlüsse über den Beginn dieses privaten Bauvorhabens so lange hinaus, bis der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Post DHL Frank Appel (geb. 1961) am 16. Juni 2015 erklärte: Die Langfristigkeit des Projekts Beethoven Festspielhaus verlangt eine deutliche Willensbekundung – heute und für die kommenden Jahrzehnte. Wenn aber schon zum Start kein eindeutiger Schulterschluss innerhalb der Stadt zu erkennen ist, dann hat das Projekt keine Zukunft und ist auch für Sponsoren nicht hinreichend attraktiv.62 Schon am 14. Dezember 2010 hatte der damalige Vorsitzende des Beethoven-Hauses Kurt Masur (1927–2015) zum 240. Geburtstag Beethovens im Bonner „General-Anzeiger“ seinem Unmut über die Entschlusslosigkeit von Rat und Verwaltung zu einem BeethovenFestspielhaus in Bonn freien Lauf gelassen: Ich schäme mich für die Stadt Bonn. Im Augenblick haben wir in Bonn alles, was mit Beethoven zu tun hat, begraben.63 Die Beethovenstadt Bonn bleibt so einstweilen ohne angemessenen Konzertsaal. Stattdessen wird seit 2015 die alte Beethovenhalle „denkmalgerecht“ als Mehrzweckhalle saniert, wobei dafür inzwischen die Kosten von ursprünglich geplanten 60,5 Millionen Euro auf zuletzt über 221,6 Millionen Euro64 explodiert sind. Die eigentlich zum Beethoven-Jubiläum 2020 beabsichtigte Fertigstellung erwies sich schnell als unrealistisch. Inzwischen rechnet die Stadtverwaltung mit einem Ende der Bauzeit erst Ende 2025. 62 Pressemitteilung der Deutschen Post DHL Group, 16.6.2015, „Deutsche Post DHL Group verfolgt Planungen für die Errichtung des Beethoven Festspielhauses nicht weiter“, abgerufen unter: https://www.dpdhl. com/de/presse/pressemitteilungen/2015/deutsche-post-dhl-group-verfolgt-planungen-fuer-beethovenfestspielhaus-nicht-weiter.html (abgerufen am 11.1.2022). 63 Zit. n. Hartmann, Maestro. 64 Vgl. Pressemitteilung der Bundesstadt Bonn, 4.11.2022, „Beethovenhalle: OB Dörner legt Einigungsvorschläge vor – Neustart kann beginnen“, abgerufen unter: https://www.bonn.de/pressemitteilungen/ november-2022/beethovenhalle-ob-doerner-legt-einigungsvorschlaege-vor-neustart-kann-beginnen. php (abgerufen am 9.11.2022).
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VII. D ie Grenzen sind noch nicht gesteckt.65 Der 250. Geburtstag Beethovens 2020 als Chance Als er Ende September 1826 dem preußischen König Friedrich Wilhelm III. die Abschrift der Partitur seiner 9. Sinfonie mit einer handschriftlichen Widmung übersandte, bekannte sich Ludwig van Beethoven nur sechs Monate vor seinem Tod im Begleitschreiben noch einmal ausdrücklich als Bürger von Bonn.66 Diesem „Bürger von Bonn“ hatten die Bonner Bürger nach seinem Tod mit dem Beethoven-Denkmal, dem Beethoven-Haus und dem Beethovenfest die Referenz erwiesen. Auf diesen drei Säulen, die es ohne bürgerschaftlichen Einsatz nicht gäbe, ruht die Beethovenstadt Bonn. Offizielle städtische Stellen waren desinteressiert, erst zur Stelle, als der Erfolg gesichert war, oder durch eigene Passivität hinderlich, wie bei der gescheiterten Realisierung eines Beethoven-Festspielhauses. Der 250. Geburtstag Beethovens 2020 bot Bonn die Möglichkeit, sich auch in den offiziellen städtischen Strukturen als Beethovenstadt zu etablieren. Spätestens nach der internationalen Aufmerksamkeit für das Mozartjahr 2006 zum 250. Geburtstag des Salzburger Komponisten hätte man die mit einem solchen Jubiläum verbundenen Chancen in Rat und Verwaltung erkennen können. In Salzburg und Wien sowie in Österreich insgesamt hatten die Vorbereitungen für das Mozart-Jubiläum bereits acht Jahre zuvor begonnen. In Bonns städtischen Strukturen tat sich im Blick auf das Jubiläum 2020 zunächst nichts. Wieder kam der Anstoß durch bürgerschaftliche Initiativen. So begannen die „Bürger für Beethoven“ – mit über 1.700 Mitgliedern inzwischen der größte selbstständige Verein in Bonn und der Region ohne hauptamtliche Geschäftsstelle – bereits 2011 eine eigene Werbekampagne „2020 – Wir sind dabei“. Der Beethoven-Verein legte konkrete Konzepte für übergreifende Organisationsstrukturen zur Vorbereitung des Jubiläums vor67 und gewann auch die ersten Partner auf der Bundesebene, wo Ende 2013 sein Formulierungsvorschlag wörtlich in die Koalitionsvereinbarung von CDU, CSU und SPD aufgenommen wurde: Der 250. Geburtstag von Ludwig van Beet hoven im Jahr 2020 bietet herausragende Chancen für die Kulturnation Deutschland im Inund Ausland. Deshalb ist die Vorbereitung dieses wichtigen Jubiläums eine nationale Aufgabe.68 65 Ludwig van Beethoven zit. n. Schindler, Anton, Biographie von Ludwig van Beethoven, Münster 1840, S. 244. 66 Vgl. Anm. 2. 67 Vgl. Eisel, Stephan, 250. Mozart 2006 – Beethoven 250. Anregungen aus dem Mozartjahr 2006 für das Beethovenjahr 2020 (Schriftenreihe Bürger für Beethoven, Bd. 1), [Bonn] 2014; Bürger für Beethoven, Ideenbörse Beethoven 2020. Vorschläge von Bürgern für Beethoven. Anregungen aus der „Bürgerwerkstatt Beethoven 2020“ (Schriftenreihe Bürger für Beethoven, Bd. 2), [Bonn] 2016; und Bürger für Beethoven, Bonn als erlebbare Beethovenstadt gestalten. Anregungen aus der 2. Bürgerwerkstatt „Beethoven 2020“ der Bürger für Beethoven am 14. Dezember 2016 (Schriftenreihe Bürger für Beethoven, Bd. 5), [Bonn] 2017. Alle abgerufen unter: https://www.buergerfuerbeethoven.de/start/Beethoven-Links/index.html (abgerufen am 24.8.2022). 68 Deutschlands Zukunft gestalten. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 18. Legislaturperiode, unterzeichnet am 27. November 2013, S. 132, abgerufen unter: https://www.bundestag.de/resource/
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Dies war die Voraussetzung dafür, dass auf Initiative der Bundesregierung von Bund, Land, der Stadt Bonn und dem Rhein-Sieg-Kreis Mitte 2016 die „Beethoven Jubiläumsgesellschaft“ gegründet werden konnte, die Anfang 2017 ihre Arbeit aufnahm. Dafür stellten der Bund 15 Millionen Euro und das Land Nordrhein-Westfalen 10 Millionen Euro zur Verfügung. Die Stadt Bonn steuerte 3,5 Millionen Euro und der RheinSieg-Kreis eine Million Euro bei.69 Darüber hinaus investierte der Bund noch einmal 12 Millionen Euro für bundesweite Aktivitäten zum Jubiläumsjahr, die in Bonn unter anderem für eine große BeethovenAusstellung in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland und die Erweiterung des Beethoven-Hauses eingesetzt wurden. Inhaltlich wurde das Beethoven-Jubiläum an fünf Leitthemen entwickelt, die in der Dachmarke „BTHVN2020“ sichtbar werden. Die Buchstabenfolge stammt von Beethoven selbst: So hatte er – unter Weglassung der Vokale in seinem Namen – eigene Kompositionen signiert. Das Jubiläumskonzept orientiert sich an Beethoven als B(onner Weltbürger), T(onkünstler), H(umanist), V(isionär) und N(aturfreund). Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier übernahm die Schirmherrschaft für „BTHVN2020“. Eine erste weit über die Grenzen Bonns hinaus beachtete Jubiläumsinitiative kam dann allerdings nicht aus den staatlichen Strukturen, sondern war die Bürgeraktion „UNSER LUDWIG“ im Mai 2019. Die im Verein „city-marketing-bonn“ organisierten Geschäftsleute in der Bonner Innenstadt und der Verein „Bürger für Beethoven“ hatten sich dafür mit dem renommierten Konzeptkünstler Ottmar Hörl (geb. 1950) zusammengeschlossen. Dieser entwickelte mit dem etwa einen Meter hohen „lächelnden Ludwig“ eine Skulptur im bewussten Kontrapunkt zum üblichen mürrischen Beethoven-Bild. Die Kunstinstallation „Ludwig van Beethoven – Eine Ode an die Freude“ mit 750 dieser Statuen auf dem Münsterplatz vor dem Beethoven-Denkmal besuchten vom 17. Mai bis 2. Juni 2019 über 75.000 Menschen. In den nationalen und internationalen Medien wurde sie zum dominierenden Fotomotiv für das Jubiläumsjahr. Über 3.300 Menschen erwarben als „Paten“ eine der Beethoven-Statuen, die seitdem überall im Bonner Stadtbild zu sehen sind.70 Die Sichtbarkeit der Beethovenstadt Bonn wurde auch durch den neuen „BeethovenRundgang“ erhöht, den die Jubiläumsgesellschaft auf der Grundlage eines Konzeptes der „Bürger für Beethoven“ im Oktober 2019 eröffnete. Unter der Überschrift „BTHVNSTORY“ wird seitdem an 22 Stationen mit teilweise multimedial ausgestatteten Informationsstelen mehrsprachig über authentische Orte und Begebenheiten in Beethovens blob/194886/696f36f795961 df200fb27fb6803d83e/koalitionsvertrag-data.pdf (abgerufen am 28.12.2021). Vgl. auch Zur Entstehungsgeschichte der Koalitionsvereinbarung zum Beethoven-Jubiläum, abgerufen unter: https://www.buergerfuerbeethoven.de/start/Home/news/Dass--es-Beethoven-in-den-Koalitionsvertrag-von-CDU-CSU-und-SPD__5235.html?xz=0&cc=1&sd=1&ci=5235 (abgerufen am 29.12.2021). 69 Zur Beethoven Jubiläums GmbH siehe ausführlich Beethoven Jubiläums GmbH (Hg.), Abschlussdokumentation zum Beethoven-Jubiläum. Beethoven neu entdecken anlässlich seines 250. Geburtstages. 16. Dezember 2019 bis 30. September 2021, Bonn 2021. 70 Ausführliche Informationen zu „Unser Ludwig – Die Bürgeraktion zum 250. Geburtstag von Ludwig van Beethoven“ sind abrufbar unter https://unser-ludwig.com/ (abgerufen am 24.8.2022).
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Stephan Eisel
22 Bonner Jahren informiert. Neun Stationen in der Innenstadt bilden den etwa einstündigen Kernrundgang. Dazu kommen zwei Stationen in Bad Godesberg und elf im Rhein-Sieg-Kreis.71 Ein weiterer besonderer Höhepunkt zur Eröffnung des Beethoven-Jubiläumsjahres war die Präsentation der 80-Cent-Sonderbriefmarke „250. Geburtstag Ludwig van Beethoven“. Sie wurde vom Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Post DHL Group, Frank Appel, am 17. Dezember 2019 im Bonner Alten Rathaus vorgestellt und erschien in einer Rekordauflage von 626 Millionen Stück.72 Musikalisch war das Jubiläumsjahr 2020 von einer Fülle von Konzerten aller Stilrichtungen und Veranstaltungen unterschiedlichster Art geprägt. Die Eröffnung der Feierlichkeiten mit einem Festakt am 17. Dezember 2019, der folgende Beethoven-Marathon des „Beethoven Orchesters Bonn“ mit allen neun Sinfonien an nur einem Tag, eine viel beachtete Fidelio-Neuinszenierung an der Bonner Oper sowie ein herausragendes Konzert des London Symphony Orchestra unter der Leitung von Sir Simon Rattle (geb. 1955) waren ein weit über die Stadtgrenzen beachteter fulminanter Jubiläumsauftakt. Doch dann legte die Corona-Krise das öffentliche Leben lahm, alle Konzerte mussten abgesagt werden. Die Beethoven-Jubiläumsgesellschaft entschied daraufhin im April 2020, die Feierlichkeiten zum 250. Beethoven-Geburtstag bis zum Herbst 2021 zu verlängern. Damit konnte auch das 2020 ausgefallene Beethovenfest 2021 nachgeholt werden. Der 250. Tauftag von Ludwig van Beethoven am 17. Dezember 2020 war so nicht mehr der Endpunkt, sondern der Mittelpunkt des Jubiläumsjahres. Aus diesem Anlass setzt auch der aufwendig inszenierte Historienfilm „Louis van Beethoven“ einen besonderen Bonner Akzent. Im Unterschied zu den seit 1909 rund einem Dutzend erschienenen Spielfilmen über Beethoven legt die Koproduktion von ARD und ORF erstmals den Schwerpunkt auf die Bonner Zeit Beethovens. Die Jubiläumsfeierlichkeiten waren trotz der Einschränkungen wegen der CoronaPandemie eindrucksvoll: Von Ende 2019 bis einschließlich September 2021 konnten deutschlandweit 244 staatlich geförderte Projekte mit tausenden Einzelevents realisiert werden. Dazu kamen unzählige private Initiativen. Im Blick auf die Beethovenstadt Bonn wird für die endgültige Bewertung des Beethoven-Jubiläums entscheidend sein, dass es sich dabei nicht um ein einmaliges Feuerwerk handelte, sondern ob das Jubiläum als Initialzündung für die weitere Profilierung Bonns als Beethovenstadt wirken wird – getreu Beethovens eigenem Grundsatz: Die Grenzen sind noch nicht gesteckt, die dem Talent und Fleiss entgegentretend zuriefen: bis hierher und nicht weiter!73
71 Siehe die Hinweise der Touristeninformation abgerufen unter: https://beethoven-rundgang.bonn.de/ (abgerufen am 12.1.2022). 72 Vgl. dazu Pressemitteilung der Deutschen Post vom 17.12.2019, abgerufen unter: https://www.dpdhl.com/ content/dam/dpdhl/de/media-relations/press-releases/2019/pm-beethoven-briefmarke-2020-20191217. pdf (abgerufen am 29.12.2021). 73 Zit. n. Schindler, Biographie, S. 244.
Resümee Helmut Rönz, Martin Schlemmer, Maike Schmidt
I. Zur Konzeption von Tagung und Tagungsband Bei der Konzeption dieser Publikation haben sich die Beteiligten bewusst für einen anderen Weg entschieden als beispielsweise den der gediegenen und verdienstvollen Festschrift zur Geschichte des Städtischen Orchesters Münster.1 Diese wurde nahezu ausschließlich von Musikwissenschaftlerinnen und Musikwissenschaftlern erstellt, wenngleich einige der Autorinnen und Autoren einen musikgeschichtlichen Forschungsschwerpunkt haben. Das Spezifische an der vorliegenden Tagungspublikation ist hingegen der interdisziplinäre Ansatz, der Landes- und Regionalgeschichte sowie Musikwissenschaften zusammenzubringen beabsichtigt. Dieser interdisziplinäre Ansatz wurde im Rahmen der im Anschluss an die einzelnen Vorträge geführten Diskussionen begrüßt und letztlich in Form dieser – lebhaften, mitunter recht kontroversen – Diskussionen selbst bereits vor Ort „praktiziert“. Denn wenngleich gegenwärtig viel zu Themen der Musikgeschichte geforscht wird, so handelt es sich doch oft um Arbeiten, die eher weniger interdisziplinär angelegt sind – so verdienstvoll sie im Einzelnen auch sein mögen.2 Allzu oft bleiben die jeweiligen „Communities“ weitgehend unter sich, findet ein Austausch über die „Kantönli-Grenzen“ des jeweils eigenen Fachs hinweg allenfalls sporadisch statt. Wenn es aber ganz konkret um die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen Musik und der „Sphäre“ des Politischen, um die enge Verschränkung zwischen Institutionen, Akteuren und politischen wie sozialen Voraussetzungen geht, sind die Kompetenzen mehrerer Fächer gefragt. Der in diesem Band gewählte Ansatz spiegelt sich in der inhaltlichen Zusammensetzung der Beiträge, welche die Vielgestaltigkeit der Musiklandschaft des Rheinlands im 19. und 20. Jahrhundert in ihren (kultur-)politischen Dimensionen abbilden, die historischen Spezifika der Region herausarbeiten und daneben auch Impulse von im Hier und Jetzt ‚Aktiven‘ sowie Kulturschaffenden aufnehmen. 1
Vgl. Berg, Golo/Custodis, Michael/Heidrich, Jürgen (Hgg.), Musik für Münster. Die Geschichte des Städtischen Orchesters 1919–2019, Münster 2019. 2 Allerdings finden sich in regional- und landeshistorischen Periodika immer wieder Beiträge, die musikhistorische Themen zum Gegenstand haben, so etwa Fischer, Ralph, Theodor Anton Henseler (1902–1964). Heimatforscher, Musikwissenschaftler und Begründer der wissenschaftlichen Offenbach-Forschung. Eine Würdigung anlässlich des 200. Geburtstags von Jacques Offenbach, in: Bonner Geschichtsblätter 68 (2018), S. 313–338. Hier begegnet das Verbindende und Interdisziplinäre bereits im Aufsatztitel.
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Helmut Rönz, Martin Schlemmer, Maike Schmidt
Im Plenum fanden sich neben Vertreterinnen und Vertretern der unterschiedlichen Fachdisziplinen auch Kulturinteressierte sowie Mitglieder des Musikvereins. An beiden Tagen zu Gast war unter anderem der Kirchenmusiker, Komponist und Professor an der Robert-Schumann-Hochschule in Düsseldorf Oskar Gottlieb Blarr3, dessen Werk „Kopernikus“ der Chor des Städtischen Musikvereins vor einiger Zeit in der Tonhalle uraufführte. Ferner waren die Beteiligten bemüht, der häufig an Tagungsbänden geäußerten Kritik4 nachzukommen, die einzelnen Beiträge nicht „einfach nur“ abzudrucken, sondern diese auch in das Rahmenthema einzubetten sowie in Beziehung zueinander zu setzen, wo dies verspricht, ertragreich zu sein. Somit soll der „rote Faden“ der Tagung, das „Leitthema“, über die „naturgemäß“ zu erwartende Disparität der Vorträge und der Vortragsthemen nicht aus den Augen verloren werden. Dieser keineswegs leichten Aufgabe versucht die folgende Synthese nachzukommen, indem sie die Themenstellung des Bandes zunächst rekapituliert und anschließend die Essenz der Beiträge in Hinblick auf die Ausgangsfrage nach dem „politikfreien Refugium“ resümiert – eine Frage von Tragweite, deren vollumfassende Beantwortung sich dieser Band freilich nicht anmaßt. Ziel ist es, einige Überlegungen genereller Natur unter Berücksichtigung des interdisziplinären Charakters des Bandes anzustellen, sodass er weitere Fragen und Forschungen anregen möge, auch über die Grenzen des Rheinlands hinaus.
3 Vgl. hierzu Art. „BLARR, Oskar Gottlieb“, in: Evangelisches Gesangbuch. Ausgabe für die Evangelische Kirche im Rheinland, die Evangelische Kirche von Westfalen, die Lippische Landeskirche in Gemeinschaft mit der Evangelisch-reformierten Kirche (Synode evangelisch-reformierter Kirchen in Bayern und Nordwestdeutschland), Gütersloh/Bielefeld/Neukirchen-Vluyn 1996, S. 1535. 4 So etwa Weichlein, Siegfried, Besprechung von Breuer, Constanze/Holtz, Bärbel/Kahl, Paul (Hgg.), Die Musealisierung der Nation. Ein kulturpolitisches Gestaltungsmodell des 19. Jahrhunderts, in: HZ 305 (2017) 1, S. 244 f., S. 245. Hier: „Der Band schreitet nicht in einer sachlich überzeugenden Gliederung voran. Er teilt das Schicksal der meisten Tagungsbände, die Tagungsbeiträge mehr oder weniger identisch abdrucken. Was im Tagungsformat durch die Diskussion verbunden und problematisiert wird, steht hier für sich. […] Die Herausgeber unternehmen keinerlei Versuch, die Beiträge zusammenzufassen und zu systematisieren.“ Rosin, Philip, Besprechung von Runde, Ingo (Hg.), Die Universität Heidelberg und ihre Professoren während des Ersten Weltkriegs, in: RhVjBll 83 (2019), S. 352–354, S. 354. Hier: „Einziges größeres Manko des Bandes ist das Fehlen einer Schlussbetrachtung mit der Bündelung der Tagungsergebnisse, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der interessanten Einzeluntersuchungen näher beleuchtet hätte.“ Groten, Manfred, Besprechung von Bihrer, Andreas/Fouquet, Gerhard (Hgg.), Bischofsstadt ohne Bischof? Präsenz, Interaktion und Hoforganisation in bischöflichen Städten des Mittelalters (1300–1600), in: RhVjBll 82 (2018), S. 251 f., S. 251. Hier: „Die einzelnen Beiträge vermitteln durchaus interessante Einsichten, aber man vermisst doch eine verbindende Idee und Wegweiser, die neue Forschungsrichtungen für das ja keineswegs neue Thema aufzeigen können.“
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II. Der Tagungsband und die Forschung Das Verhältnis von Musik und Politik steht immer wieder auf der Agenda der aktuellen historischen Forschung.5 Dabei werden Aspekte der Musikgeschichte nicht nur von der (regionalen) Geschichtswissenschaft aufgegriffen,6 sondern tatsächlich auch rezipiert.7 Auch in der rheinischen Musikgeschichte gibt es immer wieder Fortschritte zu verzeichnen, wenngleich nicht alle Projekte als gleichermaßen gelungen aufgenommen werden.8 Dabei werden durchaus interdisziplinäre Ansätze verfolgt und verschiedene Forschungsfelder zusammengeführt, beispielsweise die Musikgeschichte, die Regionalgeschichte, die politische Geschichte und die Religionsgeschichte.9 Für den Betrachtungszeitraum unserer Tagung sei auf Forschungen verwiesen, welche die Perspektive von der Region respektive der Provinz auf den preußischen Gesamtstaat weiten und zu bemerkenswerten Ergebnissen kommen. So stellt Pauline Puppel in der Besprechung eines Aufsatzes von Matthias Kornemann zur „Genese bildungsbürgerlicher Denkformen in der preußischen Musikkultur“ fest, dass auf der Ebene des preußischen Gesamtstaates nach Einschätzung des Autors „[z]u Beginn des 19. Jahrhunderts […] keine institutionalisierte Konzertkultur existiert […] und auch in den folgenden Jahrzehnten […] 5 So zum Beispiel Becker, Tobias, Only Rock ’n’ Roll? Rock-Musik und die Kulturen des Konservativen, in: VfZ 70 (2022) 3, S. 609–634. 6 Vgl. beispielsweise Klenke, Dietmar, Volkstümliches Musiktheater in der Kulturkampf-Ära: die Partitur einer „Kaffeekrieg-Oper“ als Überbleibsel liberaler Paderborner Kultur, in: Gaidt, Andreas/Grabe, Wilhelm (Hgg.), Kommunalarchiv und Regionalgeschichte. Rolf-Dietrich Müller zum 65. Geburtstag, Paderborn 2015, S. 93–116 – ein Beispiel sowohl für einen musikhistorischen Beitrag in einer regionalhistorischen Publikation als auch für den politischen Charakter, den Musik annehmen kann; Huchzermeyer, Hans, Adam Valentin Vol(c)kmar (1770–1851). Organist, Lehrer und Komponist in Rinteln. Ein Beitrag zur hessischen Musikgeschichte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 69 (2019), S. 141–168. Zur Kölner Kirchenmusikgeschichte vgl. Jacobshagen, Arnold/Kreutziger-Herr, Annette (Hgg.), 1863 – Der Kölner Dom und die Musik (Musik – Kultur – Geschichte, Bd. 2), Würzburg 2016, sowie die Besprechung dieses Werks von Stefan Plettendorff, in: Geschichte in Köln 66 (2019), S. 307–309. 7 So etwa der Aufsatz von Linsemann, Andreas, Mit Klängen umerziehen – französische Musikpolitik in Deutschland nach 1945, in: Braese, Stephan/Vogel-Klein, Ruth (Hgg.), Zwischen Kahlschlag und Rive Gauche. Deutsch-französische Kulturbeziehungen 1945–1960, Würzburg 2015, S. 91–103 in dem Tagungsband-Beitrag Kwaschik, Anne, Hinter dem „seidenen Vorhang“. Entnazifizierung und Umerziehung in der französischen Besatzungszone (1945–1949), in: Engehausen, Frank/Muschalek, Marie/Zimmermann, Wolfgang (Hgg.), Deutsch-französische Besatzungsbeziehungen im 20. Jahrhundert (Werkhefte der staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg, Serie A Heft 27), Stuttgart 2018, S. 209–231, hier S. 219, Anm. 42. 8 Vgl. etwa Stahl, Enno, Besprechung von Incorvaia, Salvio, Der klassische Punk. Eine Oral History. Biografien, Netzwerke und Selbstbildnis einer Subkultur im Düsseldorfer Raum 1977–1983, in: Düsseldorfer Jahrbuch 88 (2018), S. 373 f. 9 Pars pro toto sei aus jüngerer Zeit verwiesen auf Niemöller, Klaus Wolfgang, Die musikalische Ausbildung an den jüdischen Lehrerseminaren in Düsseldorf und Köln 1867–1933, in: Kalonymos 24 (2021) 3–4, S. 8–12. Ähnliches gelingt Harald Schroeter-Wittke in seiner profunden, luziden Besprechung der CD „Tersteegen meets Jazz … Felicia singt: Tersteegen“ im Jahrbuch für Evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes 71 (2022), S. 299–302. Hier werden Religions- bzw. Kirchengeschichte, Regionalgeschichte, Musikgeschichte und musikalische Praxis zusammengeführt.
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die Musikpflege in den Händen einzelner Bürger“ gelegen habe.10 Hagen Kunze macht in seiner „Biografie der Musikmetropole Leipzig“ gleichfalls auf das bürgerschaftliche Engagement aufmerksam, welchem sich die Gründung der Leipziger „Singakademie“ im Sommer 1802 verdankt. Diese nach der heute noch existierenden „Berliner Sing-Akademie“ zweitälteste gemischte Chorvereinigung im deutschsprachigen Raum achtete lange Zeit auf ihre Selbstständigkeit und pflegte eine „gutbürgerliche Exklusivität“11 – die Nähe des Chors zum nationalsozialistischen Regime führte nach 1945 zu seinem schleichenden Niedergang und 1967 schließlich zur Selbstauflösung.12 Die zu beobachtende Abgrenzung nach „unten“, etwa gegenüber Männergesangvereinen, wie auch die unterschiedliche Entwicklung von Laienchören in West- und Ostdeutschland nach 1945 drängen sich hier für eine vergleichende Betrachtung geradezu auf. Und unwillkürlich lassen diese Ausführungen einen gedanklichen Bogen schlagen zum Düsseldorfer Städtischen Musikverein – einem „bürgerlichen“ Verein in der preußischen Provinz –, den Nina Sträter in der vergleichenden Zusammenschau mit anderen Düsseldorfer Musikvereinen in ihrem Beitrag näher beleuchtet. Auch für die Stadt Düsseldorf kann Sträter von einem gewissen „Dünkel“ gegenüber den Männergesangvereinen berichten, wenn etwa der vierstimmige Männergesang in der Gegenüberstellung mit dem gemischten Chorgesang als „das schlichtere Kind der Frau Musica“ bezeichnet wurde. Thomas Nipperdey hat darauf hingewiesen, dass die bürgerlichen Vereine, und somit auch Laienchöre wie der Städtische Musikverein, einer im 19. Jahrhundert zu verzeichnenden „Individualisierung des Lebens“ geschuldet waren. Dies war letztlich, wenngleich nicht immer auf den ersten Blick zu erkennen, eine hochpolitische Angelegenheit: „In der alten Gesellschaft war die Organisation der Individuen zunächst die Korporation, der man durch Geburt und Stand zugehörte […]. Solche Organisationen werden […] aufgelöst, die Gesellschaft wird dekorporiert. Aber an ihre Stelle tritt […] eine neue Organisation: die Assoziation, der Verein, d. h. der freie Zusammenschluß von Personen, die ein- und austreten, die auf selbst gesetzte, nicht auf vorgegebene Zwecke sich richten, die spezifische Zwecke (und nicht wie die Zunft das ganze Leben) angehen. Aus kleinen Anfängen im späten 18. Jahrhundert wird das ‚Vereinswesen‘ bis zur Jahrhundertmitte zu einer sozial gestaltenden, Leben und Aktivität der Menschen prägenden Macht. Das Jahrhundert wird das Jahrhundert der Vereine, jeder steht – oft mehrfach – in ihrem Netzwerk.“13 Und mehr noch: „Die Vereine haben zunächst erhebliche Bedeutung für die neue soziale Gliederung, Differenzierung und Integration der Gesellschaft gehabt. Die Assoziationen sind ursprünglich gerichtet gegen die Stände. Man kann, man soll ihnen zugehören ohne Rücksicht auf Geburt und Stand, allein auf
10 Puppel, Pauline, Besprechung von Mettele, Gisela/Schulz, Andreas (Hgg.), Preußen als Kulturstaat im 19. Jahrhundert, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, Neue Folge 28 (2018), S. 234–237, hier S. 236. 11 Kunze, Hagen, Gesang vom Leben. Biografie der Musikmetropole Leipzig, Leipzig 2021, S. 113. 12 Vgl. ebd., S. 117. 13 Nipperdey, Thomas, Deutsche Geschichte. 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1998, S. 267.
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Grund von Bildung und Leistung.“14 Dies alles gilt auch für den Städtischen Musikverein, wie Sträter, aber auch Nipperdey konturieren. Die Laienchöre und Singakademien zählt Nipperdey neben dem modernen Konzertwesen und der Oper als die „dritte große Institution des Musiklebens, besonders charakteristisch für das 19. Jahrhundert“: „Typisch vor allem für den Vormärz war dabei das von diesen Chören und dem örtlichen Orchester getragene regionale Musikfest – das niederrheinische bestand seit 1818; 1832 kamen in Düsseldorf 20 Chöre und 30 ‚Delegationen‘ zusammen – mit ernstem und großem Programm, national und volkstümlich zugleich, […] vom Enthusiasmus und der Aktivität der Laien lebend.“15 Sträters Forschungsergebnisse wären auch zu kontrastieren respektive abzugleichen mit Forschungen, die zumindest für die Mitte des 19. Jahrhunderts eine weitgehende Abhängigkeit der Musikerinnen und Musiker von Angebot und Nachfrage konstatieren.16 Spannend ist in diesem Zusammenhang die Beantwortung der Ausgangsfrage dieses Tagungsbandes, konkret also die Frage, welche Auswirkungen diese Abhängigkeit auf die Politisierung oder aber auch Entpolitisierung der Protagonistinnen und Protagonisten hatte. Mit dem Beitrag zur Düsseldorfer Band „Kraftwerk“ kann eine wichtige Forschungslücke geschlossen werden. So hebt Enno Stahl in einem 2020 erschienenen ZeitschriftenAufsatz zum Thema „Elektro-Pop und Punk“ hervor, dass „die Elektronik-Pioniere um Ralf Hütter und Florian Schneider-Esleben […] gerade international als die deutsche Avantgardeband schlechthin“17 gelten. Stahls Ausführungen zur Kultband erfahren durch den Beitrag von Karsten Lehl im vorliegenden Tagungsband eine willkommene Ergänzung und Erweiterung. Es lohnte sich darüber hinaus, auf der Basis von Lehls Darstellung einmal zu untersuchen, ob das Stereotyp von Musik als kulturellem und symbolischem Kapital18 auch im Falle von Kraftwerk zutrifft. Ein tagesaktuelles Thema schneidet Andreas Altenhoff an, wenn er sich der touris tischen Zugänglichkeit zu Kunst und Landschaft zuwendet. Eine Forschung, die diese Impulse zum Anlass nimmt, sich letztlich auch dem mit Musikveranstaltungen in Zusammenhang stehenden Tourismus zuzuwenden, könnte den Anschluss zu Forschungsprojekten der jüngsten Vergangenheit herstellen.19 Künftige Forschungen, so viel lässt sich bei aller Heterogenität der einzelnen Beiträge in der Zusammenschau dann doch sagen, können auf dem einen oder anderen Beitrag aufbauen. 14 Ebd., S. 268. 15 Ebd., S. 535. 16 So etwa Rempe, Martin, Kunst, Spiel, Arbeit. Musikerleben in Deutschland, 1850 bis 1960 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 235), Göttingen 2020. 17 Stahl, Enno, Elektro-Pop und Punk. Das Dorf an der Düssel als deutsche Musik-Hochburg (1970–1985), in: Düsseldorfer Jahrbuch 90 (2020), S. 297–313, hier S. 301. 18 Vgl. hierzu beispielsweise Elster, Christian, Pop-Musik sammeln. Zehn ethnografische Tracks zwischen Plattenladen und Streamingportal (Studien zur Popularmusik), Bielefeld 2020. 19 Ein Beispiel hierfür ist etwa Lauterbach, Burkhart, „Die Ferien sind vorbei“. Überlegungen zur Kulturanalyse touristischer Reisefolgen (Kulturtransfer. Alltagskulturelle Beiträge, Bd. 11), Würzburg 2021. Hier spielt auch der Aspekt des massenhaften Tourismus als einer der Treiber des Klimawandels eine Rolle.
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III. Zur inhaltlichen Ausrichtung der Tagung und Fragestellung des Bandes Gibt es überhaupt so etwas wie „unpolitische Kunst“? – so ließe sich ganz allgemein fragen. Konrad Hummler dürfte diese Frage bejahen. Er ist der Auffassung, Beethoven werde „bis auf den heutigen Tag – man denke an die Verwendung der Freudenmelodie aus der Neunten als Europahymne – auch für politische Zwecke missbraucht. […] Ich höre mir Beethovens späte Streichquartette wie sogenannt[e] ‚moderne‘ Musik an, indem ich sie einfach auf mich einwirken lasse, ohne etwas Bestimmtes zu wollen. Kein Erkennenwollen, kein Verstehenwollen, nicht einmal ein Schönfindenwollen. Einfach nichts. Ich nehme die Musik als im eigentlichen Sinne des Wortes Zweckloses hin, öffne Ohren und Geist und lasse ‚es‘ geschehen. Und ich vermute mittlerweile, dass es Beethoven genau so meinte mit diesen Kompositionen.“20 Ganz anders sieht dies Stefan Siegert, der im Reclam-Verlag eine Kurzbiographie zu Beethoven vorgelegt hat. Er bezeichnet Ludwig van Beethoven als „bürgerliche[n] Revolutionär“, der „auf eine Welt jenseits der Feudalherrschaft“21 gehofft habe. Schon bei ein und demselben Musikschaffenden können die Meinungen demnach weit auseinandergehen, je nachdem, welcher Blickwinkel eingenommen wird und wie tief man den Musikschaffenden im politischen Kontext, im sozialen Umfeld und im Erfahrungshorizont seiner Zeit verortet. Denn objektive Wechselwirkungen zwischen beiden „Sphären“ hat es, vereinfacht gesprochen, in allen Zeiten gegeben, sowohl in Form politischherrschaftlicher Indienstnahme und Zensur als auch in Form des bewussten Transports politischer Botschaften, die entweder von der individuellen Überzeugung oder „Vision“ des Künstlers abhingen – wie hier für Beethoven unterstellt – oder aber schlicht von der seines Auftraggebers, der ihn dafür großzügig entlohnte. Man denke, um ein Beispiel aus entlegeneren Epochen zu nennen, an die einschlägigen Hofkünstler, die in ihrer Existenz bedingungslos an das Wohlwollen des fürstlichen Mäzens geknüpft und somit alles andere als „frei“ in ihrem künstlerischen Ausdruck waren: schlicht und ergreifend, weil ihre Existenz davon abhing. Solche Positionen eröffneten zwar neben dem Auskommen und den Karriereoptionen ohne Frage auch Spielräume der Einflussnahme und der Gefühlserzeugung. Jedoch komponierte im Frankreich des 16. Jahrhunderts etwa Clément Janequin (1485–1558) das bekannte Stück „La chasse“ nicht etwa, weil er der zeitgenössischen Ethik der Jagd in tiefer Weise verbunden war, sondern weil es ihm vielmehr darum ging, unmissverständlich die politische Macht seines Fürsten zu demonstrieren und diese Tatsache akustisch in alle Sphären des höfischen Lebens zu transportieren.22 Die Simulation von Hundelauten wiederum war eine geistreiche Erfindung des Künstlers, die das polyphone Stück zum Erfahrungsraum werden ließ: Es projizierte das Erleb20 Hummler, Konrad, Wie schön Elefanten rasen können, in: Neue Zürcher Zeitung (Internationale Ausgabe), 4.4.2020, S. 15. 21 Siegert, Stefan, Musiker einer neuen Zeit, in: junge Welt, Nr. 39, 15./16.2.2020, S. 12 f., hier S. 12. 22 Harmonia mundi (1988): La chasse. Chansons de Clément Janequin. Unter der Leitung von Michel Bernard. CD. Arles.
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nis der Jagdpartie sozusagen vom Wald an den Hof, um dort ein spezielles Publikum zu unterhalten, dem die Macht des Herrschers immer wieder vor Augen zu führen war. Aber wie sieht es auf einer abstrakteren Ebene aus? Auf der einen Seite lässt sich sicher so etwas wie „reine“ Kunst, „reine“ Musik konstatieren, etwa wenn wir, ohne uns zu sehr auf das inzwischen weite Feld der „Animal Studies“ zu begeben, die „Musikfähigkeit“ – oder besser: das Rhythmus- und Taktgefühl der Tiere in den Fokus rücken.23 Auf der anderen Seite gab oder gibt es dezidiert politische, ja „hochpolitische“ Phänomene in der Musik. Hierzu zählen, um wieder konkreter zu werden, etwa das 1970 ins Leben gerufene „Festival des politischen Liedes“, das 2019 zum vorerst letzten Mal veranstaltete „Festival Musik und Politik“24 oder in unserem Betrachtungsraum – dem Rheinland und seinen Nachbarregionen – das „Rebellische Musikfestival“ in Gelsenkirchen.25 Demgegenüber konstatiert die weit links stehende Tageszeitung „junge Welt“ im Frühjahr 2020: „[…] steckt sie tatsächlich in ernsthaften Schwierigkeiten, die Reflexion über Musik, über Pop? […] Ist Pop uninteressant geworden, und wenn ja, warum? Zu disparat, um noch als Redegegenstand zu taugen? Zu dumm? Na ja: Politisch oder sonst wie mordmäßig interessant ist er ja die meiste Zeit sowieso nur ausnahmsweise gewesen.“26 Ganz so einfach scheint eine „Ordnung der Dinge“ im Kontext der Frage, wie politisch Musik sein darf, ja muss, also nicht zu sein. Man scheint geradezu nach politischem Gehalt und nach „echten“ Statements zu suchen. Ob Musik eine politische Aussage transportiert, ja an sich politisch „ist“, lag und liegt nicht nur im Ermessen des individuellen Musikschaffenden. Es ist eine Aushandlungssache, in die auch das musikhörende Publikum involviert war und ist, das mitunter klare Erwartungen an das hat, was eine bestimmte Musik – in diesem Falle Pop – leisten soll: Man soll sich eben unter anderem von ihr repräsentiert fühlen dürfen. Diese identitätsstiftende Kraft von Musik ist gerade in hiesigem Kontext nicht zu vernachlässigen. Wie aber könnte die angesprochene Ordnung aussehen? Und kann Musik überhaupt nur für sich selbst stehen? Das eine Ende der Skala wäre Musik, die nahezu intentions los geschaffen beziehungsweise vorgetragen würde, vielleicht bereits an der Grenze zu den Geräuschen – doch wo endet das Geräusch und beginnt eigentlich die Musik?27 23 Vgl. hierzu beispielsweise Honing, Henkjan, Der Affe schlägt den Takt. Musikalität bei Tier und Mensch. Eine Spurensuche, Leipzig 2019, sowie die Besprechung des Werkes von Melanie Wald-Fuhrmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Nr. 285, 7.12.2019, S. 12. 24 Vgl. hierzu „Es wurde ein Fenster aufgestoßen“. Erinnerungen an das „Festival des politischen Liedes“. Gespräch mit Lutz Kirchwitz, in: junge Welt, Nr. 39, 15./16.2.2020, S. 8. 25 Vgl. http://www.rebellischesfestival.de/ (abgerufen am 1.6.2022). Auf der Einstiegsseite des Internetauftritts finden sich diverse politische Forderungen, so z. B. zum türkisch-kurdischen Konflikt oder zur Flüchtlingsfrage. 26 Saager, Michael, Ist es sehr schlimm? „Life after Music Magazines“: Die neue Berliner Veranstaltungsreihe „On Music“, in: junge Welt, Nr. 55, 5.3.2020, S. 10. 27 Vgl. zu diesem Aspekt etwa Wakefield, Mary, We’re living amid a rising tide of background noise, in: The Spectator, 23.3.2019, S. 21. Zum Grenzbereich respektive Übergang vom Geräusch zur Musik vgl. auch Küchemann, Fridtjof, Sounds of Silence. Was man alles von der Stille hören kann, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 108, 9.5.2020, S. 11, mit Verweis auf das BBC-Archiv mit 16.000 Sound-Effek-
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Am anderen Ende des Spektrums wäre eine hochpolitische und politisierte Musik, die letztlich der Politik oder anderen Zielen dient. Hier wird die Musik, einmal klar erkennbar, einmal eher subtil, anderen Zwecken untergeordnet, man könnte auch sagen: verzweckt und umgenutzt. Doch lässt sich diese Skala in ihrer Reinform aufrechterhalten? Kay Sokolowsky (geb. 1963) schildert die brasilianische Protestform der „Panelac¸o“, bei der von Balkonen und Fenstern aus auf Töpfe und Pfannen geschlagen und die jeweilige politische Parole skandiert wird: „Hier bilden sich Klangskulpturen und Tonmassive; ein Tsunami aus Lärm wälzt sich durch Hochhausschluchten und Favelas. Experimentelle Musik behandelt jedes Geräusch gleichwertig; das ist ihre Ästhetik. Die erstaunlich rhythmisch trommelnden Brasilianer produzieren Musik im avantgardistischen Sinn. […] Ich habe jedenfalls seit Beethovens Siebter, Mahlers Neunter und Coltranes ‚Ascension‘ nichts gehört, was mich mehr elektrisierte. Die ‚Panelac¸o‘ ist ein machtvolles Manifest der sonst Ungehörten, eine dissonante Union der Dissidenten.“28 Ein Beispiel für sich unmittelbar politisch betätigende Musiker ist der im Herbst 2018 von zahlreichen namhaften britischen Musikern – etwa Simon Rattle (geb. 1955), John Eliot Gardiner (geb. 1943), Jarvis Cocker (geb. 1963) – an die britische Premierministerin Theresa May (geb. 1956) gerichtete offene Brief, in dem sie scharfe Kritik am „Brexit“ übten. Die Unterzeichner plädierten angesichts der befürchteten gravierenden Folgen des EUAustritts für die britische Musikindustrie für ein zweites Referendum über den „Brexit“.29 Bei einem Blick in die jüngere Geschichte fallen weitere Beispiele ins Auge, etwa dasjenige des den Nationalsozialisten nahestehenden Komponisten Hans Pfitzner (1869– 1949), dessen Charakterisierung als „konservativer Komponist“30 ohne Zweifel einen Euphemismus darstellt. Der 2015 verstorbene Musikjournalist der „Bergischen Morgenpost“ Ulrich Mutz (1963–2015) schrieb zum „Konservatismus“ Pfitzners: „Der betrifft weniger sein kompositorisches Schaffen als vielmehr seine theoretischen Schriften und scheint deshalb besonders anrüchig, weil er sich nicht auf die Ästhetik beschränkt, sondern auch auf politischem Terrain unzweideutig Stellung bezieht, ja in unerhörter Weise die konservativen Positionen in beiden Bereichen – Kunst und Politik – aufeinander überträgt.“31 Ein zeitlich versetzt wirkender inhaltlicher Gegenpol zu Pfitzner ist der dezidiert politisch und allzeit meinungsfreudig agierende Musiker und Dirigent Daniel Barenboim (geb. 1942), der im Mai 2020 die „Musik“ wie folgt charakterisierte: „Musik erzählt nie ten. Literarisch thematisieren das Spannungsfeld von Geräusch und Musik, erweitert um die Größen „Schweigen“ und „Lärm“, Rees-Jones, Deryn, Lied an den Lärm, aus dem Englischen von Birgit Kreipe, und Ammon, Frieder von, Wenn das letzte Geräusch verklungen ist, in der „Frankfurter Anthologie“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 15, 18.1.2020, S. 18. 28 Sokolowsky, Kay, Kochtopfrevolte mit Rhythmus, in: junge Welt, Nr. 69, 21./22.3.2020, S. 6. 29 Vgl. T[homas], G[ina], Scharfer Ton. Musiker protestieren gegen Brexit, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 233, 8.10.2018, S. 12. 30 So Mutz, Ulrich, Konservative Revolution in der Musik? Hans Pfitzners ästhetischer Standort zwischen Traditionalismus und Futurismus, in: Jahrbuch zur Konservativen Revolution 1994, S. 53–76, hier S. 54. 31 Ebd.
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eine einzige Erzählung, es gibt immer einen Dialog oder Kontrapunkt. Wenn es nur eine Stimme gibt, dann ist das eine Ideologie, und das könnte in der Musik nie passieren.“32 Auch die hoch politisierte Zeit der „68er“ ist ohne direkte Beziehungen zu Musik und musikalischen Ausdrucksformen kaum denkbar,33 der Feminismus suchte sich ebenfalls musikalische Ausdrucksformen.34 Und im Zusammenhang mit einem erstarkenden Rechtspopulismus sind es wiederum auch viele Musiker, die sich diesem Trend aktiv entgegensetzen.35 Wie aber hat man umzugehen mit Kunst, die als politisch „kontaminiert“ einzuschätzen ist? Darf man Pfitzner aufführen oder – ein Beispiel aus der Literatur – Knut Hamsun (1859–1952) noch lesen36 oder gar diese Werke vertreiben und damit letztlich Gewinn erwirtschaften? Beim Dresdner Opernball 2020 folgte jedenfalls Absage auf Absage, nachdem der Opernballverein, namentlich in Person des Ballchefs Hans-Joachim Frey (geb. 1965), mitgeteilt hatte, den ägyptischen Staatspräsidenten Abd al-Fatah as-Sisi (geb. 1954) mit dem St. Georgs-Orden des Dresdner Semperopernballs auszuzeichnen.37 Ein sich zunächst nicht als „politisch“ verstehendes Musikereignis wurde in kurzer Zeit
32 Barenboim, Daniel, Nur Verstehen führt zur Freiheit. Fehlerhafte Ethik: Israels neue Regierung muss ihr Verhältnis zu den Palästinensern überdenken, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 110, 12.5.2020, S. 9. 33 Im Westen Deutschlands können „Liedermacher“ wie Degenhardt und Wader als Beispiele gelten, für die Deutsche Demokratische Republik Hans Uszkoreit: „Ein wichtiges Ausdrucksmittel für diesen Protest war die Musik. […] Uszkoreit verweigerte die vormilitärische Ausbildung, trug lange Haare und produzierte mit Freunden Aufnahmen von Tonbändern, auf denen Musik mit regimekritischen Texten gemischt wurde […]. Tonbänder hatten gegenüber Flugblättern den Vorteil, dass sie nicht sofort als systemkritisch erkannt werden konnten.“ (Art. „,Dubček!‘. Staatsbibliothek, Berlin“, in: Juchler, Ingo, 1968 in Deutschland. Schauplätze der Revolte, Sonderausgabe für die Zentralen für politische Bildung, Berlin 2018, S. 76– 77) und Toni Krahl, später Sänger der Rockband „City“: „Es gab eine absolute Aufbruchsstimmung. […] Das hat mich sehr interessiert, war ich doch immer etwas verbunden mit dem Hippie-sein, dem Suchen von Alternativen, dem Anders-sein. Da spielte die Musik schon eine besondere Rolle, da die Musik, die wir mochten, die aufkeimende Beatmusik, die auch viel mit Haltung zu diesem Zeitpunkt zu tun hatte, eine Message hatte. Nicht nur John Lennon. Da waren Bob Dylan, aber auch Folk-Musiker wie Pete Seeger.“ (Interview mit Toni Krahl. 14. Juni 2017 im Schwarzen Café, Berlin-Charlottenburg, in: ebd., S. 104–111, hier S. 107). Zum spannungsreichen Verhältnis von Musik und Politik in der DDR vgl. auch Kerschowski, Lutz/Meinecke, Andreas (Hgg.), Östlich der Elbe. Songs und Bilder 1970–2013, mit Fotos von Ulrich Burchert und Essays von Wolfgang Herzberg, Christian Kunert, Flake Lorenz, Bernd Rump, Hans-Eckardt Wenzel und Peter Wicke, Berlin 2020. 34 Vgl. zum Beispiel Streich, Julia (Hg.), These Girls. Ein Streifzug durch die feministische Musikgeschichte, Mainz 2019. 35 Vgl. etwa „Waren halt doch nur arme Schweine“. Musiker Felix Kummer über Nazis, Mitleid und Chemnitz [Interview des Sängers der Band „Kraftklub“ Felix Kummer mit Aylin Güler], in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 251, 29.10.2019, S. 9. 36 Ein Beispiel für die künstlerische Wertschätzung Hamsuns bei gleichzeitigem Bewusstsein für dessen unrühmliche Position gegenüber dem Nationalsozialismus, die weder verschwiegen noch beschönigt wird, ist Knausgård, Karl Ove, Das Heimatland, in: I. K. H. Kronprinzessin Mette-Marit/Gulliksen, Geir (Hgg.), Heimatland und andere Geschichten aus Norwegen, München 2019, S. 187–210. 37 Vgl. Locke, Stefan, Ein Orden zu viel, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 30, 5.2.2020, S. 7.
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durch und durch politisiert. Daneben traten in jüngster Zeit Boykott-Überlegungen, die auf dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 beruhten.38 Selbst in der Architektur von Konzerthäusern spiegeln sich programmatische Aussagen wider, die über das rein Musikalische und das rein Ästhetische hinausgehen.39 Und, um auf den Beitrag von Andreas Altenhoff in diesem Tagungsband anzuspielen: „[…] wir leben in einer Zeit, in der die Städte, Orchester und Konzertsäle im Wettbewerb miteinander stehen. Konzerthäuser wie dieses in München sind ein Grund für Menschen zu reisen. Städte, die solche Säle haben, sind im Vorteil.“40 Ohne dem Fazit vorgreifen zu wollen: Musik und Politik sind, so haben die angeführten Beispiele gezeigt, schwerlich zu trennen, sei es im politischen Diskurs, in der öffentlichen Debatte oder aber in der Historiographie, die schon seit Längerem ein Interesse an der Historisierung und Kontextualisierung von Musik hat. Sie war und ist, so kann man zumindest in streng historischer Perspektive resümieren, stets in die politischen und sozialen Kontexte ihrer Zeit eingebunden. Gleichzeitig kommt ihr, ganz gleich von welcher Epoche die Rede ist, eine spezifische Eigendynamik, eine Faszinationskraft und damit eine „Reichweite“ zu. Aufschlussreich sind aus eben diesem Grund die Momente des Wandels, denn das Verhältnis zwischen Musik und Politik war, so die These, nicht immer gleich, sondern – im Gegenteil – hoch veränderlich. Gerade die vielen politisch-sozialen Umwälzungen des 19. und 20. Jahrhunderts, die zunächst im Licht der Herausbildung des „Nationalen“ standen und auch das Rheinland in besonderer Weise betrafen, lassen die enge Verquickung zwischen der musikalischen und der politischen Sphäre hervortreten.
38 Vgl. hierzu Seliger, Berthold, Ein ungeheurer Wurf, in: junge Welt, Nr. 75, 30.3.2022, S. 11. Seliger fragt direkt zu Beginn seines Beitrags: „Ist es derzeit überhaupt moralisch vertretbar, russische Musik zu hören? In Freiburg wurde bereits Prokofiews ‚Peter und der Wolf ‘ von einem Familienkonzert gestrichen, weil Prokofiew der ‚große offizielle Komponist der UdSSR‘ war […], und andernorts werden Stücke von Schostakowitsch und anderen russischen Komponisten aus den Konzertprogrammen geworfen“. Elisa von Hof schreibt in ihrem Artikel „Eine Linie überschritten“ (Der Spiegel, Nr. 18, 30.4.2022, S. 110–112, hier S. 111) bezüglich des russischen Balletts und unter Bezugnahme auf die Forschungen der Slawistin Marina Scharlaj: „[…] es platzt die Lebenslüge vieler, dass diese Kunstform schön, aber apolitisch sei“. Und weiter: „Ballett sei vor allem seit der Sowjetzeit stark politisiert worden […]. Durch streng choreografierten Tanz und hohe Ansprüche an die Athletik habe man Körper in Kollektiven disziplinieren können, das habe sich auch gut in die russische Tradition einer Zeremonialkultur gefügt – es sei die perfekte Kunst gewesen, um sozialistische Ziele zu propagieren und direkt umzusetzen“ (ebd.). 39 So ist der Akustiker für das neue Münchener Konzerthaus am Ostbahnhof, Tateo Nakajima, der Auffassung: „Wir wollen, dass die Menschen kommen und etwas mitnehmen, das sie bewegt. Etwas, dass [sic!] Teil ihres Lebens wird, etwas für mehrere Generationen, eine Plattform, um Fragen zu stellen, wer wir sind, und wer wir sein werden, ohne die Vergangenheit zu vergessen“ (Nakajima, Tateo [im Interview mit Nina Bovensiepen und Egbert Tholl], „Wir wollen etwas kreieren, das zu dieser Stadt passt“, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 166, 20./21.7.2019, S. 82). 40 Ebd.
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IV. Beiträge und Erträge im Einzelnen Exemplarisch für diese Verquickung von musikalischer und politischer Sphäre steht der Beitrag von Simone Bornemann, der den Komponisten und Pianisten Karlrobert Kreiten (1916–1943) zum Gegenstand hat. Von diesem Beitrag aus ergeben sich Möglichkeiten des Vergleichs mit anderen Protagonistinnen und Protagonisten des musikalischen Lebens im Nationalsozialismus. Auf regionalhistorischer Ebene wären aus jüngster Zeit die Studien zum auch in Köln und Düsseldorf-Duisburg wirkenden Kammersänger Paul Bender (1875–1947)41 sowie zur der Duisburger Oper verbundenen Opernsängerin Saadet Ikesus (1916–2007)42 zu nennen. Von „außermusikalischen Eingriffen, Angriffen, Zugriffen“ weiß auch der Beitrag von Andreas Pecht zum Musik-Institut Koblenz zu berichten. Das Musik-Institut war immer wieder Spielball verschiedener politischer Akteure wie „der Preußen“, „der erzkonservativen Katholiken“ und der Nationalsozialisten. Von Interesse wäre ein Vergleich mit ähnlich beschaffenen Institutionen innerhalb wie außerhalb des Rheinlands. Bereits für das 19. Jahrhundert lässt sich, um auf Andreas Altenhoffs Beitrag zu sprechen zu kommen, die Bedeutung des Faktors „Musik“ für den Fremdenverkehr nachweisen. Als Nassau 1866 an Preußen fiel, beabsichtigten die neuen Landesherren die Umgestaltung des Kurbetriebes in der Stadt Wiesbaden, weg vom Spielbetrieb des Kasinos hin zu einem besseren kulturellen Angebot.43 Zu diesem Zwecke wurde 1873 ein städtisches Kurorchester gegründet, und die „Signale für die Musikalische Welt“ vom Dezember 1873 wussten dann bereits zu berichten: Aus Wiesbaden schreibt man uns: Seitdem das Spiel hier aufhörte, ist ein viel regeres Musikleben als früher. Die Wintercur ist glänzend zu nennen und es wird in künstlerischer Beziehung Alles aufgeboten, um den Fremden den Aufenthalt so angenehm als möglich zu machen. Ein Concert folgt dem
41 Als das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus im Jahr 1937 den Vertrag mit der Akademie der Tonkunst kündigte, hieß es zur Begründung: „Kammersänger Paul Bender hat zweimal hintereinander nichtarische Frauen geheiratet. Seine erste Gattin war Volljüdin, die jetzige ist Halbjüdin. Unter diesen Umständen ist Kammersänger Bender als Lehrer an einer staatlichen Musikhochschule nicht mehr tragbar“ (zitiert nach Schuppener, Ulrich, Kammersänger Paul Bender (1875–1947). Der in Driedorf/ Nassau geborene Bassist wurde im In- und Ausland zum gefeierten Sänger, in: Nassauische Annalen 133 (2022), S. 363–398, hier S. 390). 42 Nesrin Tanç geht auf die Positionierung Ikesus’ im und gegenüber dem Nationalsozialismus ein: „Mit aller gebotenen Vorsicht kann gesagt werden, dass sie in ihrem Nichtbefolgen der nationalsozialistischen Repressionen gegenüber Juden ihrem späteren Intendanten der Duisburger Oper Dr. Georg Hartmann, den sie sehr schätzt, ähnelt. Hartmann fällt 1936 dadurch auf, dass er ‚sich schützend vor jüdische Ensemblemitglieder gestellt‘ habe“ (Tanç, Nesrin, Saadet Ikesus, „die kleine Türkin mit der goldenen Kehle“ an der Duisburger Oper zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs. Verwahrensvergessen in der Kulturgeschichte der Stadt Duisburg, in: Duisburger Forschungen 63 (2021), S. 59–81, hier S. 62). 43 Vgl. Kannenberg, Simon, Joachim Raff und das Wiesbadener Musikleben, in: Nassauische Annalen 130 (2019), S. 239–254, hier S. 249.
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andern. […] Auch ein neues Theater werden wir jetzt bekommen, da das jetzige Gebäude zu klein ist, die vielen Fremden und Einwohner Wiesbaden’s zu fassen.44 Gerade in Zeiten der heftigen Diskussionen um die Ursachen und Eindämmung des Klimawandels, der in Reise- und „reiseverursachenden“ Branchen – wie Kulinarik, Wissenschaft, Arbeitswelt, aber auch Musik – mitunter bereits zu einem gewissen Umdenken geführt hat,45 ist Altenhoffs Beitrag umso aktueller: Wer soll sich künftig noch den „Luxus“ von Reisen zu Opernhäusern, berühmten Musikvereinssälen oder Festivals leisten dürfen? Oder wird auch hier die „Digitalisierung der Welt“ ihren Beitrag leisten? Musiktouristen treten hier in eine Art „Rechtfertigungs-Wettbewerb“ mit anderen Tourismusformen wie etwa den „Elendstouristen“.46 Dass Altenhoffs Ausführungen nicht aus der Luft gegriffen sind, beweisen zahlreiche Publikationen und Reiseangebote, die für Musikreisen oder Reisen mit musikalischen Höhepunkten werben.47 In einem jüngst erschienenen Reiseführer für den Norden Italiens heißt es beispielsweise unter der Überschrift „Popgeschichte an der Blumenriviera“: „Einen Blumenstrauß und 30.000 Italienische Lire erhielt 1951 die Gewinnerin des ersten Festival della Canzone Italiana di Sanremo. Der Musikwettbewerb sollte den Tourismus der Stadt fördern. […] Statt zwei wie in seinen Anfängen dauert es nun fünf Abende und der Sieger […] darf dann sein Land beim European Song Contest vertreten.“48 Der Kulturreisen-Anbieter „Mainka Reisen“ hat für das Jahr 2020 Reisen zur Elbphilharmonie („Hamburg exklusiv in der Elbphilharmonie“), nach Bonn („Bonn & Beethoven. Das musikalische Genie in der ehemaligen Bundeshauptstadt“ mit zwei Konzerten des Beethovenfestes sowie einem Privatkonzert im Beethoven-Haus), Prag („Musikalischer Frühling in Prag“), Istrien („Musikalischer Frühling an der Adria“), Baden-Baden („Osterfestspiele Baden-Baden mit Weltstars der Klassik“) und Verona („Opernfestival in Verona“) im Pro-
44 Zitiert nach ebd., S. 252. Dass auch Byron, Robert, Europa 1925 (Die Andere Bibliothek, Bd. 373), aus dem Englischen übersetzt von Peter Torberg, Berlin 2016, eine Verbindung von Musik und Fremdenverkehr konstruiert, wird an anderer Stelle in diesem Tagungsband thematisiert. 45 Vgl. etwa Oelckers, Angela, Urlaub ungestört: Einmal Ruhe, bitte!, in: Der Feinschmecker Heft 9 (September 2019), S. 38–42. 46 So mit Bezug auf den Tourismus nach und in Detroit Moore, Tim, T wie Trouble. Mit Fords Tin Lizzy durch Trumps Amerika, aus dem Englischen von Olaf Bentkämper, Bielefeld 2019, S. 105. 47 So zum Beispiel FAZ-Leserreise „Britischer Land-Luxus & Oper in Glyndebourne“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 37, 13.2.2020, S. R 5), ferner die vier auf einer Seite beworbenen Leserreisen nach Turin: „Carlos Álvarez singt in Giuseppe Verdis ‚Simon Boccanegra‘ im Teatro Regio“, Sevilla: „Erleben Sie ‚La Traviata‘ mit der hervorragenden Sopranistin Nino Machaidze im Teatro de la Maestranza. Sie besichtigen die wunderschöne Altstadt und wandeln ‚Auf den Spuren der Operngeschichte‘“, Bilbao & San Sebastián: „Genießen Sie ein wunderbares Konzert mit Auszügen aus Opern von Verdi und Wagner in Bilbao, Klaviersonaten von Beethoven in San Sebastián, interessante Besichtigungen und Kulinarik“ sowie nach Salzburg zum Jubiläum „100 Jahre Salzburger Festspiele“: „Erleben Sie die Neuinszenierung von Mussorgskis ‚Boris Godunow‘, den ‚Jedermann‘ und ein Konzert des Pittsburgh Symphony Orchestra mit der einzigartigen Anne-Sophie Mutter“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 43, 20.2.2020, S. R 6). 48 Wagner, Christiane (Red.), Italien. Norden (Dumont Bildatlas, Nr. 215), Ostfildern 2019, S. 65.
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gramm.49 Der ADAC bot für das Jahr 2020 unter der Rubrik „ADAC Klassik-Highlights“ ebenfalls Reisen zu musikalischen „Events“ nach Sofia (Nationaltheater, Ballett), Dresden (Semperoper), Barcelona (Gran Teatre del Liceu) und Hamburg (Elbphilharmonie) an.50 Und in der „Neuen Züricher Zeitung“ wurde noch lange nach dem Beginn der Fridaysfor-Future-Demonstrationen eine Silvester-Reise zu den musikalischen Genüssen Wiens beworben – Hin- und Rückreise Zürich–Wien mit dem Flugzeug.51 Das Musikerleben – auch Musikerlebnis – vor Ort war an Rhein und Ruhr immer besonders wichtig, fehlten hier doch – mit Ausnahme der in Köln ansässigen „EMI“ – jegliche „musikindustriellen Strukturen“. Als Vorstandsvorsitzender des Bundesverbandes Musikindustrie e. V. führte Dieter Gorny (geb. 1953) vor einiger Zeit aus: „Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre war im Ruhrgebiet eine extrem lebendige Szene aktiv […]. Da gab es […] Menschen, die Spaß daran hatten, einen Ereignisort zu schaffen. […] Das war kein Ergebnis von Marktbeobachtung, sondern ein Beispiel dafür[,] wie man damals Kultur machte: äußerst engagiert und risikoreich. Es war eine Zeit, in der die Musik […] eine Art gesellschaftlicher Monstranz war, die man vor sich hertrug, um zu sagen: Alles verändert sich, die Gesellschaft ist im Auf- und Umbruch! […] Das[s] der ‚Rockpalast‘ hier so reüssieren konnte, hatte ja auch damit zu tun, dass viele Menschen zur Grugahalle gelangen konnten, ohne 900 Kilometer fahren zu müssen.“52 In rein virtueller Form dürfte das Erleben von Musik auf Dauer für viele unbefriedigend sein. Will man also beides – Klimaschutz wie Kulturteilhabe (und somit auch -förderung) – ernst nehmen, gehören beide Aspekte auf den Prüfstand gestellt, um eine Güterabwägung vornehmen zu können. Von der „Präsenz“ eines Musikers vor Ort handelt auch der Beitrag von Stephan Eisel. Er belegt die Bedeutung, die ein Musikschaffender, in diesem Falle der Komponist Beethoven, auch lange Zeit nach seinem Ableben für die kommunale Politik und die städtische Gesellschaft, für das „Image“ einer Stadt respektive für das Stadtmarketing haben kann. In einer anderen bedeutenden rheinischen „Musik-Stadt“, nämlich in Düsseldorf, ist der Beitrag von Karsten Lehl geografisch zu verorten. Dass Düsseldorf in den 1980er Jahren ein regelrechter „Punkhotspot“ war, dürfte heute – zumal in der jüngeren Generation – vielen nicht mehr geläufig sein.53 Auf das Potenzial, das sich der musikhistorischen Forschung in Form „subkultureller Quellen“ bietet, ist in jüngster Zeit von archivischer 49 Vgl. Katalog Mainka Reisen GmbH – anspruchsvolle Kulturreisen seit 1988, Januar–November 2020, S. 16, 18, 20, 21, 30, 71. 50 Vgl. ADAC motorwelt 11/2019, S. 45. 51 Werbeanzeige „150 Jahre Wiener Staatsoper: Gourmetrestaurants und fantastisches Musikprogramm“ – „150 Jahre Wiener Staatsoper. Musikalische Höhepunkte zu Silvester in Wien“, 30.12.2019–04.01.2020, in: Neue Zürcher Zeitung (Internationale Ausgabe), 6.11.2019, S. 10. 52 Interviewaussage von Dieter Gorny im „Epilog“ von: Grütter, Heinrich Theodor (Hg.), Rock & Pop im Pott. 60 Jahre Musik im Ruhrgebiet. Katalogbuch zur Ausstellung des Ruhr Museums auf Zollverein Essen 5. Mai 2016 bis 28. Februar 2017, Essen 2016, S. 259–269, hier S. 267. 53 Vgl. „Wir waren immer etwas derbe“. Die Düsseldorfer Punkband Östro 430 ist wieder da. Ein Gespräch [von Christina Mohr] mit Sängerin Martina Weith über Frauenbands, Einflüsse und Männerklos, in:
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Seite aufmerksam gemacht worden.54 Es wäre wünschenswert, dass sich auch in dieser Hinsicht Impulse aus dem Tagungsband ergeben, die ein Zusammenwirken von (subkultureller) Musikwissenschaft und Landes- bzw. Regionalgeschichte befruchten können. Wenngleich die Elektro-Band „Kraftwerk“, die ihre Heimatstadt Düsseldorf zur „Electri- City“ werden ließ, eben nicht wie andere zur „Selbsterklärung“ neigte, ergo Aussagen über ihr Schaffen und ihre Motivation hinterließ, legt Lehl eine regelrechte KraftwerkBiographie vor, welche die Relevanz des Verhältnisses von Einzelkünstlern zur Gruppe, die Relevanz der Gruppenkonstellation selbst sowie der Bezüge zur „Szene“ weit über den Düsseldorfer Kosmos verdeutlicht. Eine Band kann sich um ihre Musik und „die“ Szene drehen, muss aber nicht zwangsläufig politisiert sein. Andererseits ist die „PunkSzene“ weitaus mehr als eine rein musikalische Angelegenheit, die Musik steht in den Augen vieler Protagonistinnen und Protagonisten nicht einmal im Mittelpunkt.55 Ebenfalls in Düsseldorf ist der Beitrag von Nina Sträter zu den Reichsmusiktagen 1938 und 1939 angesiedelt. Er führt ein Beispiel für das Scheitern eines Versuchs der kulturpolitischen Vereinnahmung einer Stadt mit „musikalischen Mitteln“ vor Augen. Dabei lag das Scheitern nicht etwa in passiv oder gar aktiv geleistetem Widerstand oder zumindest einer Verweigerung begründet, sondern in der mangelnden Qualität von Konzeption und Durchführung dieses propagandistischen Projekts – oder, um mit Sträter zu sprechen: in „Kompetenzstreitigkeiten, handwerklichen Fehlern in der Umsetzung und unrealistischen Zielen“. Letztlich fehlte es dem Projekt an einem positiven Alleinstellungsmerkmal, das es aus der Masse anderer Musikveranstaltungen herausgehoben hätte. In diesem Kontext wäre sicher ein synchroner wie ein diachroner Vergleich mit anderen vergleichbaren Projekten eine Erkenntnisgewinn versprechende Bereicherung nicht nur der Forschungen zum Nationalsozialismus, sondern auch derjenigen zur politischen Indienstnahme von Kultur, namentlich von Musik, im Laufe der Zeit. Wenn Julia Vreden in ihrem Beitrag die Rheinromantik um den Ort Rüdesheim herum thematisiert, wie sie sich bei Robert Schumanns (1810–1856) 1850 entstandener „Rheinischer“ findet, darf man sich erinnert fühlen an die Schilderungen des Rheins bei Bingen – genauer gesagt: bei der Ruine des Mäuseturms – aus der Feder Victor Hugos (1802–1885).56 Der Rhein war seit jeher landschaftliche Inspirationsquelle und ausgesprochene, zum Teil aggressiv genutzte Identifikationsfigur – übrigens nicht erst im Zeitalter der nationalen Gegensätze, sondern schon im 17. Jahrhundert, als sich im Zuge der in diesem Fall gegen Ludwig XIV. (1638–1715) von Frankreich gerichteten junge Welt, Nr. 96, 24.4.2020, S. 11. Der Schlusssatz der Sängerin lautet: „Wir waren immer etwas derbe, doch zwischen den Zeilen sind unsere Texte sehr gesellschaftspolitisch“. 54 Vgl. Schneider, Daniel, Subkulturelle Quellen zwischen Pop und Politik – die Sammlung des Archivs der Jugendkulturen in Berlin, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 154 (2018), S. 405–414. 55 Vgl. beispielsweise Lötzsch, Maurice, „Du orderst 100 Killernieten“. Szene, Soziologie, Sufforientierung: Jack Cadillac und Katharina Ferrari über Punk und das Herausbringen des Zines „Accident Grotesque“, in: junge Welt, Nr. 13, 17.1.2022, S. 10. 56 Vgl. Hugo, Victor, Der Rhein, herausgegeben und übersetzt von Annette Seemann, mit einem Nachwort von Hermann Mildenberger (Insel-Bücherei, Nr. 1328), Berlin 2010, S. 65–76.
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Gallophobie erstmals so etwas wie ein Reichspatriotismus entwickelte.57 Im 19. und 20. Jahrhundert spitzte sich die Symbolkraft des Rheins bekanntermaßen zu und nicht ohne Grund formulierte der später von den Nationalsozialisten ermordete Historiker Marc Bloch (1886–1944), dass, wenn man einigermaßen objektiv über den Rhein sprechen wolle, man diesem zuerst „die Dämonen austreiben“ müsse.58 Das Identifikationspotenzial von Flüssen konnte von der Musik ausgeschöpft oder befeuert werden, und dies, wie Julia Vreden anschaulich zeigt, auf der Ebene der Gefühlserzeugung. So erkennt sie in den drei untersuchten Stücken – Schumanns „Rheinische“, Raffs „An das Vaterland“ und Wagners „Rheingold“ – eine „patriotisch motivierte Darstellung“, allerdings von jeweils individuellem, zum Teil auch biographischem Zuschnitt. Richard Wagner (1813–1883), der zeitlebens auch als politischer Publizist auftrat, bediente sich für den fulminanten „Ring des Nibelungen“ des Rheins als Quelle germanisierender Mythen und Sagen, kombinierte ihn mit skandinavischen Stoffen und schuf so ein einzigartiges, triumphales Werk, das nicht vom patriotisch-nationalen Geist der Zeit zu trennen ist.59 Gleiches gilt für den Schweizer Joseph Joachim Raff (1822–1882), der in „An das Vaterland“ das komplette Ernst-Moritz-Arndt-Lied verarbeitete. Wenngleich die Beschäftigung mit dem Thema „Rhein“ eine hoch politisierte Angelegenheit war, so spielten für die Inspiration der Komponisten auch naturale Faktoren – zum Beispiel das „Donnern“ des Rheinfalls – eine Rolle, was sich am ehesten an Schumanns „Rheinischer“ erkennen lässt, welche, anders als der Titel suggeriert, nachweislich vom imposanten Kölner Dom und eben nicht vom Rhein inspiriert war. Wenn bei der Gründung der „Crefelder Stadt-Theater“ Aktiengesellschaft, wie Britta Marzi in ihrem Beitrag aufzeigt, von 225 Anteilsschein-Eignern nur 16 weiblich waren, kommt hier auch die gesellschaftliche und politische Situation der Zeit zum Tragen. Der Bau der Krefelder Stadthalle im Jahr 1875 wurde von bürgerlichen Mäzenen ermöglicht, eine Parallele sehen wir beispielsweise in Wuppertal. Hier demonstrierte das rheinische 57 Vgl. Gantet, Claire, Die äußeren Grenzen des Heiligen Römischen Reichs. Wahrnehmung und Repräsentationen in der zweiten Hälfte des 17. Jh., in: François, Étienne/Seifarth, Jörg/Struck, Bernhard (Hgg.), Die Grenze als Raum, Erfahrung und Konstruktion. Deutschland, Frankreich und Polen vom 17. bis 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2007, S. 53–76. 58 „Qui veut écrire sur le Rhin, en historien, doit d’abord exorciser des fantômes.“, Bloch, Marc, Le Rhin, in: Annales d’histoire économique et sociale 5 (1983), S. 84. Zit. n. Schöttler, Peter, Lucien Febvres Beitrag zur Entmythologisierung der Rheinischen Geschichte, in: Febvre, Lucien, Der Rhein und seine Geschichte. Herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort von Peter Schöttler, 3. Aufl., Frankfurt/New York 2006, S. 218–265, hier S. 218. Schöttler übersetzte die Passage seinerzeit folgendermaßen: „Wer als Historiker über den Rhein schreiben will, muss zuerst Gespenster vertreiben.“, siehe ebd. 59 Nipperdey, Bürgerwelt und starker Staat, S. 550, skizziert den Kontext, in welchen dieses Phänomen zu stellen ist: „[…] das Musikdrama hat für Wagner, der sich des Verhältnisses von Kunst und Gesellschaft stets intensiv bewußt war, einen universalen Anspruch. Es präsentiert die Wahrheit in dieser Zeit und für sie, und zwar eben musikalisch-dramatisch, und das heißt: nicht theoretisch und nicht einsam, sondern in einem lebendigen, gemeinsamen Vollzug. Insofern hat es eine politische, eine soziale, eine religiöse Funktion – wie das griechische Drama –, es schafft den Menschen um, […] es stiftet, gegen die individualistische Auflösung der kapitalistischen Bourgeois-Gesellschaft, Gemeinschaft und gemeinsame (nationale) Kultur“.
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Bürgertum – nicht zuletzt auch gegenüber „Berlin“ – um die Jahrhundertwende mit dem Bau der Stadthalle sein Selbstbewusstsein wie seine finanzielle Potenz. Das Mehrspartenhaus in Krefeld diente auch touristischen Zwecken und wurde zudem als „Schule des Volkes“ betrachtet. Auch hier also spielen gesellschaftliche und politische Implikationen eine Rolle. Insofern schlägt Marzis Beitrag eine Brücke zu Altenhoffs Beitrag, der den Zusammenhang von Musik und Fremdenverkehr thematisiert. Auch wird an diesem Beispiel deutlich, dass das musikalische Programm als bewusstes politisches Statement verstanden wurde, ja als Propagandainstrument ge- oder auch missbraucht wurde, um die „deutsche Nationalkultur“ gegen die Besatzungsmächte ins Feld zu führen. Bereits während des Ersten Weltkrieges hatte die Musik in Krefeld diese Aufgabe an der „Heimatfront“ wahrgenommen, galt doch das Theater nicht mehr als „Stätte des Vergnügens“, sondern als „ernsten Kulturaufgaben gewidmetes Unternehmen […], verbunden mit vaterländischen und sozialen Interessen“.60 Peter Sühring zeigt auf, dass Felix Mendelssohn (1809–1847) während seiner Düsseldorfer Zeit zwar die „erste ‚proletarische‘ Oper“, Luigi Cherubinis (1760–1842) „Der Wasserträger“, im Stadttheater zur Aufführung brachte, dabei „allerdings ganz ohne revolutionäre Ambitionen“ auskam. Die vielfältigen Aufgaben Mendelssohns in Düsseldorf, die ihm 1833 mit der Leitung der niederrheinischen Musikfeste und fortan im Amt des städtischen Musikdirektors zukamen, verdeutlichen die enge Verbindung zwischen Komponist und Stadt, die sich nicht zuletzt in der Errichtung des später von den Nationalsozialisten demontierten und vor einigen Jahren wieder errichteten – auch hieran waren Mitglieder des Städtischen Musikvereins beteiligt – Denkmals widerspiegelte. Das intensive Engagement in der Kirchenmusik, musikalische Einflüsse, die u. a. aus vielen Forschungsreisen und Archivrecherchen resultierten, sowie die Zusammenarbeit mit Theaterintendant Karl Immermann (1796–1840) machen Mendelssohn zu einer prägenden Figur der rheinischen Musiklandschaft und des kulturellen Lebens der Region. Nina Sträter zeigt in ihrem Beitrag über das Vereinswesen in Düsseldorf auf, dass „das Wirken von Vereinen per se eine höchst politische Angelegenheit war und es bis heute ist“. Auch der Netzwerkgedanke innerhalb der städtischen Gesellschaft sei in Musikvereinen praktiziert worden. Ein Phänomen, das Sträter ebenfalls der politischen Sphäre zuordnet. Jürgen May schilderte jüngst die Begeisterung Kaiser Wilhelms II. für den Männerchorgesang. So stiftete dieser als Wanderpreis eine „Kaiserkette“ – in der Jury war in der Person des Kölner Gürzenich-Orchester-Direktors Franz Wüllner (1832–1902) auch die Rheinprovinz vertreten –, welche die Musik und Politik verbindende Inschrift trug: „Im Liede stark, deutsch bis ins Mark“.61 60 Dass Musik nicht nur als Propagandainstrument eingesetzt werden kann, sondern auch als „physische Waffe“ einer „tonalen Kriegsführung“, wäre eine eigene Betrachtung wert. Vgl. hierzu etwa Schäfer, Frank, Luzifers Hammer. Musik als Waffe: Unabsichtliche Erfahrungen mit tonaler Kriegführung, in: junge Welt, Nr. 127, 3.6.2020, S. 11. 61 May, Jürgen, Des Kaisers „Hofbusenschlange“. Richard Strauss und Wilhelm II., in: Kroll, Frank-Lothar/ Thoß, Hendrik (Hgg.), Musik in Preußen – preußische Musik? (Forschungen zur Brandenburgischen und
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Jutta Lambrecht zeichnet nach, wie der WDR insbesondere der Jazzmusik, aber auch anderer im Nationalsozialismus als „entartet“ verfemter Musik den Weg in die deutsche Nachkriegsgesellschaft ebnete und im Kalten Krieg mit einem Kompositionsauftrag in ein kommunistisches Land politisch aktiv wurde. Sie wandelt damit auf den Spuren von Robin Lindemann, der unlängst für die Entwicklung des Städtischen Orchesters Münster die wichtige „treibende“ Funktion des Rundfunks, genauer der „Westdeutsche Funkstunde AG“ (WEFAG), herausgearbeitet hat.62 Rolf Wörsdörfers migrationsgeschichtlicher Beitrag illustriert, dass bereits die bloße Existenz einer migrantischen Musikszene ein „Politikum“ darstellte (und sicherlich auch heute noch darstellen kann) – mit entsprechenden Konsequenzen in Kaiserreich und Nationalsozialismus. Andreas Linsenmann legt in seinem Beitrag dar, dass die französische Besatzungsmacht nach dem Zweiten Weltkrieg Musik zum einen als „potenzielle Identitätsressource“ betrachtete, zum anderen aber auch als Instrument der „Umerziehung des deutschen Volkes“ benutzte. Von einem Refugium einer politikfreien Sphäre könne demnach keine Rede sein. Wenn Linsenmann „Musikpolitik als Teil einer Kulturpolitik“ versteht, erinnert dies an den Bourdieu’schen „Distinktionsgewinn“ durch Aneignung bestimmter Kulturgüter der „Hochkultur“, so auch auf dem Gebiet der Musik.63 In beiden Fällen dient die Musik „musikfremden“ Zielen, eben einmal der „Umerziehung“ und Heranbildung einer demokratischen „Identität“, und ein anderes Mal dem Distinktionsgewinn und der Ausbildung einer „höherwertigen“ Identität des Individuums in der gesellschaftlichen Hierarchie. Politikfern ist in der Tat beides nicht. Wie bei Michael Custodis stellen sich auch hier Musiker als Musikdiplomaten heraus: Es gab Konzertreihen von Orchestern, Kammermusikensembles, Solisten und Dirigenten, und französische Dirigenten leiteten deutsche Klangkörper im besetzten Gebiet, etwa das SWF-Sinfonieorchester. Unwillkürlich muss man darüber hinaus auch an ein weiteres politischen Zwecken dienendes Orchester denken: die Philharmonia Hungarica.64 Spannend und wert, weiterverfolgt zu werden, ist auch die von Linsenmann thematisierte Frage einer Arbeitsgruppe des Alliierten Kontrollrats für den Bereich Theater und Musik, ob nicht die „vom Militarismus geprägt[en]“ Bezeichnungen, etwa eines „Generalintendanten“ oder eines „Generaldirektors“, gegen andere Benennungen ausgetauscht werden könnten. Spielte dies in anderen Kontexten irgendwann noch einmal Preussischen Geschichte, Neue Folge, Beiheft 13, Bd. 2: Preußen in seinen künstlerischen Ausdrucksformen), Berlin 2016, S. 169–185, das Zitat S. 179. 62 Lindemann, Robin, Das Orchester und der Sender Münster 1924/1933, in: Berg/Custodis/Heidrich (Hgg.), Musik, S. 106–109. 63 Vgl. Bourdieu, Pierre, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, übersetzt von Bernd Schwibs und Achim Russer (suhrkamp taschenbuch wissenschaft, Bd. 658), 23. Aufl., Frankfurt am Main 2013, S. 388 f., 531–536, 569–572. 64 Vgl. hierzu Schlemmer, Martin, Gerufen und doch hinausgewünscht? Die „Gastarbeiter-Frage“ und die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen zwischen 1946 und 1980, in: Duisburger Forschungen 63 (2021), S. 11–57, hier S. 23–30.
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eine größere Rolle? Wie macht sich Sprache in der Musik bemerkbar? Kann nicht auch hier von einer „politikfreien Sphäre“ keine Rede sein? Es lohnte sich wohl ein synchroner wie diachroner Vergleich dieses Aspekts. Darüber hinaus konnte Andreas Linsenmann Bourdieus Ansätze zum Aufbau „kulturellen Kapitals“ fruchtbar machen, etwa wenn er schildert, wie die französische Besatzung mittels ihrer Musikpolitik „eine[] weitreichende[] Veränderung deutscher Mentalität im Sinne einer intendierten Abkehr von einem aggressiven Nationalismus“ avisierte, sich hierzu jedoch vornehmlich der vermeintlich höherstehenden Musik bediente und die als „trivial“ geltende Musik eher gering achtete. Zu fragen wäre, ob man mit solch einer Ausrichtung nicht eher die Zielgruppe der deutschen gesellschaftlichen „Eliten“ erreichte als die breite Bevölkerung. Die Frage nach der Distinktion und der Aneignung kultureller Werte stellt sich hier geradezu unüberhörbar. Linsenmann greift auch die von den Herausgebern in ihrer Einleitung zur Tagung angesprochene Frage nach der Trennung von Werk und Person eines Musikschaffenden auf – und zwar ebenfalls am Beispiel des „Falles“ Richard Wagner: Die französische Seite „trennte bei der Bewertung des in Frankreich bereits seit Wagners Lebzeiten leidenschaftlich umstrittenen Werks scharf die musikalische von der philosophisch-politischen Sphäre“ – ganz so, wie das gegen erhebliche Widerstände auch manch einer in Israel handhabt(e).
V. Fazit Auf das 19. Jahrhundert blickend, konstatiert Volker Hagedorn (geb. 1961): „Musik kann bei der Annäherung an diese gar nicht sehr ferne Zeit zum ‚time tunnel‘ werden. Denn Töne sind physisch, fühlbar, sie vergehen zwar, sind aber immer Gegenwart.“65 So bleibt die Hoffnung, dass auch der vorliegende Band dazu beigetragen hat und beitragen wird, sich anhand des Betrachtungsgegenstandes „Musik“ derjenigen Zeit zu nähern, welche die Zeit der Existenz des Städtischen Musikvereins zu Düsseldorf ist. Wie aber ist es um die Beantwortung der Ausgangsfrage, der Suche nach einem „politikfreien Refugium“, bestellt? Im Grunde genommen sind sich alle Beiträgerinnen und Beiträger einig, dass „die Musik“ kein Refugium einer politikfreien Sphäre ist. Wenn wir von einer Skalierung des politischen Grades von Musik ausgehen, kann zwar unter Umständen der einzelne Künstler für sich in Anspruch nehmen, sich nicht aktiv in einem (partei-)politischen Sinne zu betätigen, doch in einem weiter verstandenen Sinne ist auch dies ein politisches Statement. So konnte man auch als Musiker nicht „politikfrei“, quasi als „Unpolitischer“, durch den Nationalsozialismus „gehen“. Wer zwischen 1933 und 1945 in Deutschland blieb, bezog automatisch Position – sei es als glühender Anhänger 65 Hagedorn, Volker, Der Klang von Paris. Eine Reise in die musikalische Metropole des 19. Jahrhunderts, 2. Aufl., Reinbek bei Hamburg 2020, S. 408.
Resümee
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des Systems, sei es als Mitläufer und Karrierist, sei es in der „inneren Emigration“. Eine wahre Neutralität konnte es für vernunftbegabte Menschen – für Zeitgenossen also, die über einen gewissen Grad an kognitiven und „intellektuellen“ Fähigkeiten verfügten – nicht geben. Das Verhalten der „Gebliebenen“ war ein politischer Akt, auch wenn man sich nicht dezidiert zur NS-„Tagespolitik“, zu einzelnen politischen Themen verlautbaren ließ. Heute wäre bereits viel erreicht, wenn sich alle Musikschaffenden dieser Tatsache bewusst wären. Wenn der Städtische Musikverein mit Flüchtlingen arbeitet, ist dies ebenso eine Positionierung im gesellschaftlichen respektive politischen Raum wie ein Auftritt des Chors dieses Vereins in der Düsseldorfer Tonhalle im Rahmen eines Konzerts zugunsten der Opfer der Tsunami-Katastrophe und der Havarie des Atomreaktors im japanischen Fukushima im März 2011. Der Musikverein gestaltet somit nicht „nur“ Musik mit, sondern auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen seines Wirkens. In diesem Sinne: ad multos annos!
Abkürzungen und Siglen
Abb. Abbildung AFIR Anatolische Folklore im Ruhrpott AG Aktiengesellschaft AN Archives Nationales Anm. Anmerkung AOFAA Archives de l’Occupation Française en Allemagne et en Autriche ARD Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland Aufl. Auflage BBC British Broadcasting Corporation Bd./Bde. Band/Bände Bearb. Bearbeiter Bl. Blatt BSM Bureau des Spectacles et de la Musique BuJazzO Bundesjazzorchester BArch Bundesarchiv CD Compact Disc DDR Deutsche Demokratische Republik DEP Direction de L’Education Publique Ders./Dies. Derselbe/Dieselbe(n) DI Direction d’Information Diss. Dissertation Ebd. Ebenda EMI Electric and Musical Industries Limited E-Musik „ernste“ Musik, klassische Musik e. V. eingetragener Verein geb. geboren GeSoLei Große Ausstellung Düsseldorf 1926 für Gesundheitspflege, soziale Fürsorge und Leibesübungen Gestapo Geheime Staatspolizei gest. gestorben GmbH Gesellschaft mit beschränkter Haftung Hg./Hgg. Herausgeber hrsg. v. herausgegeben von HZ Historische Zeitschrift ISS Internationale Raumstation Jg. Jahrgang
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KdF KHM KV
Abkürzungen und Siglen
Kraft durch Freude Kunsthochschule für Medien Köln Köchelverzeichnis (Werkverzeichnis der Kompositionen von Wolfgang Amadeus Mozart) k.v. kriegsverwendungsfähig LAV NRW R Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland LP Langspielplatte MAE Ministère des Affaires Etrangères MoMA Museum of Modern Art N.F. Neue Folge Nr./Nro. Nummer NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei NVZ Niederrheinische Volkszeitung NWDR Nordwestdeutscher Rundfunk o. J. ohne Jahr op./opp. Opus (künstlerisches Werk) p. Pagina PfA Pfarrarchiv RCA Radio Corporation of America Records RhVjBll Rheinische Vierteljahrsblätter SA Sturmabteilung SDR Süddeutscher Rundfunk SED Sozialistische Deutsche Einheitspartei SFB Sender Freies Berlin SMD Stadtmuseum Düsseldorf s.p. sine pagina StA Stadtarchiv SWF Südwestfunk SWR Südwestrundfunk Tab. Tabelle u.k. unabkömmlich UKW Ultrakurzwelle U-Musik „Unterhaltungsmusik“ VfZ Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte VW Volkswagen WDR Westdeutscher Rundfunk WEFAG Westdeutsche Funkstunde AG WERAG Westdeutsche Rundfunk AG ZDF Zweites Deutsches Fernsehen zit. n. zitiert nach ZK Zentralkomitee
Abbildungsnachweis
Archiv der Berliner Philharmoniker: Abb. 8 (F4 V Fur 178–1), Abb. 9 (F7 VIII 1955-7-07), Abb. 10 (Fs VIII 1955-1), Abb. 11 (F 4 VIII 1955-3-1) Bayerische Staatsbibliothek: Abb. 2 (port-007933) Beethoven-Haus Bonn: Abb. 1 (HCB P / 1798 Allg), Abb. 66 (HCB Bi 1), Abb. 67 (B 2119/b), Abb. 68 (B 2138) Bundesarchiv: Abb. 6 (R 3017/20099) Gemeinfrei (CC-BY-SA 4.0): Abb. 57 Heimatarchiv Benrath: Abb. 33 (II, A-1-04-3, 1895-02) Historisches Archiv des WDR: Abb. 37, Abb. 48–49 Mittelrhein-Museum-Koblenz: Abb. 61 (M 37) Museum of Fine Arts Boston: Abb. 12 (Accession Number 13.2723) Nationalarchiv der Richard-Wagner-Stiftung, Bayreuth: Abb. 14 Privatbesitz (Andreas Altenhoff): Abb. 58–60 Privatbesitz (Simone Bornemann): Abb. 7 Privatbesitz (Gilbert von Studnitz): Abb. 3–5 Privatbesitz (Milica Lopičić): Abb. 55–56 Privatbesitz (Rolf Wörsdörfer): Abb. 29 Rheinisches Bildarchiv: Abb. 13 (rba c001898) Slovenska Izseljenska Matice: Abb. 25–27 Stadtarchiv Düsseldorf: Abb. 15 (Bild-Nr. 026-330-001), Abb. 16 (Bild-Nr. 026-330-003), Abb. 17 (BildNr. 026-330-012), Abb. 18 (Bild-Nr. 026-330-005), Abb. 19 (Bild-Nr. 111-411-001, -002), Abb. 20 (BildNr. 026-330-022), Abb. 21 (Bild-Nr. 026-330-018), Abb. 22 (Bild-Nr. 026-330-015), Abb. 33 (4/69/0, M.V. 190, 69, s. p.), Abb. 35 (4/69/0, M.V., 192) Stadtarchiv Duisburg: Abb. 28 (StADU 61, Beziehungen-Europa, M, Nr. 3) Stadtarchiv Koblenz: Abb. 62 (StAK KH 54, Nr 3), Abb. 63 (StAK FA 1-534, Festhalle 1950-02), Abb. 64 (StAK FA 3 Nr. 127), Abb. 65 (StAK FA 4,21 Nr. 7-212) Stadtarchiv Krefeld: Abb. 30 (Bildarchiv Nr. 4169), Abb. 31 (Bestand 40/4/4), Abb. 32 (Bildarchiv Nr. 17393) Stadtarchiv Mainz: Abb. 24 (BPSF / 2660 A) Städtischer Musikverein zu Düsseldorf e. V. gegr. 1818: Abb. 36 Universitätsarchiv Mainz/Philipp Münch: Abb. 23 (S 3/780) WDR-Bildarchiv: Abb. 41, Abb. 43, Abb. 45, Abb. 50, Abb. 51, Abb. 52, Abb. 53 WDR-Notenarchiv: Abb. 38 (Gr. O. 1), Abb. 39 (T. O. 10956), Abb. 40 (Bd. 1), Abb. 42 (E 2), Abb. 44 (Bd. 100), Abb. 45 (Bd. 102), Abb. 46, Abb. 54 (OP 9115)
Ortsregister
Aachen 69, 71 f., 74, 161, 169, 246 Ägypten 24 f. Aix-en-Provence 63 Amsterdam 158, 213 Ann Arbor 61 Augsburg 257 Bacharach 85 Bad Ems 236 Baden 61 Baden-Baden 119 f., 123, 126, 129, 274 Bad Godesberg Siehe Bonn Bad Kreuznach 236, 238 Bad Neuenahr Siehe Bad Neuenahr-Ahrweiler Bad Neuenahr-Ahrweiler Ȥ Bad Neuenahr 236, 238 Baltimore 61 Barcelona 213, 275 Baumberg Siehe Monheim am Rhein; Bayern 273 Bayreuth 52, 56, 63, 96, 102 Begunje 144 Belgien 243 Berlin 14, 21 f., 24, 26, 28 f., 31–34, 37–40, 46 f., 49–64, 68, 103, 112, 142, 165, 189, 192, 194, 233, 235, 266, 278 Ȥ Moabit 39 Bilbao 274 Bingen 276 Birmingham 55, 57 Bloomington 61 Bochum 145, 150 Bonn 14, 25, 27, 36, 39, 43, 45, 52, 68, 92, 228 f., 238, 243–262, 274 Ȥ Bad Godesberg 262 Ȥ Poppelsdorf 246 Borbeck Siehe Essen Boston 61 Brasilien 270 Bremen 246 Breslau 246 Bristol 55 Buenos Aires 54
Calais 53 Capri 212, 216 Cardiff 55 Chicago 61 Cincinnati 61 Cleveland 61 Columbus 61 Dessau 31 Detroit 61, 274 Deutsche Demokratische Republik 271 Ȥ Ostdeutschland 266 Deutschland 24, 28, 31, 35, 37 f., 41, 45, 47, 51 f., 55 f., 60, 67, 69, 76, 78, 93, 109, 115, 117, 119, 123–127, 129–132, 142 f., 147, 153, 175, 188 f., 195, 198 f., 204, 206, 215, 243, 257, 260–262, 271, 280 Dinslaken 148 Dortmund 148 Dover 53 Dresden 87, 246, 271, 275 Driedorf 273 Dubrovnik 213 Duisburg 147–149, 273 Ȥ Hamborn 136–138, 141, 147, 149 Ȥ Homberg 138, 148 Ȥ Marxloh 148 Düren 159, 166, 169 Düsseldorf 11–13, 15, 21–34, 36 f., 43, 47, 54, 65, 67–69, 72–74, 76 f., 79, 87–89, 101 f., 105–108, 110–118, 141, 148, 154 f., 159–161, 163, 166, 169, 171–173, 175– 185, 188, 226, 264, 266 f., 273, 275 f., 278, 280 f. Edinburgh 55, 57, 63 Eickel Siehe Herne Eisenstadt 247 Elberfeld Siehe Wuppertal England Siehe Großbritannien Essen 12, 70, 148, 161, 169 Ȥ Borbeck 138
Ortsregister Frankfurt am Main 23, 27, 30, 34, 111, 215, 256 Frankreich 45, 54, 76, 78, 119 f., 123, 125, 132 f., 177, 189, 227, 249, 276, 280 Freiburg 272 Fukushima 281 Gelsenkirchen 269 Gladbeck 137, 139 Glasgow 55 Glyndebourne 274 Großbritannien 21 f., 24, 32, 34, 53–55, 70, 76, 78, 85 Hamborn Siehe Duisburg Hamburg 45, 61, 73, 76, 189, 214, 274 f. Hamm 135 Hartford 61 Heidelberg 39, 85, 88, 109 Herne 135, 141, 148, 206 Ȥ Eickel 141 Ȥ Wanne 141 Homberg Siehe Duisburg Huddersfield 55 Indien 206 Irak 206 Iran 206 Ischgl 222 Israel 15, 24 f., 64, 280 Istanbul 146 Istrien 274 Italien 21, 29, 32 f., 46, 54, 70, 78, 85, 135, 216, 220, 223, 274 Japan 63, 78 Jugoslawien 136–138, 140 f., 144, 146 Kanada 58 f. Koblenz 12, 17, 27, 53, 227–236, 238–241, 245, 273 Köln 25, 27 f., 37, 39, 44 f., 68, 70, 88, 90 f., 176, 189 f., 192, 194 f., 198–200, 203 f., 206, 222, 243, 245–247, 257, 265, 273, 275, 277 f. Krefeld 12, 69, 72, 153–169, 176, 277 f. Ȥ Uerdingen 154 Leicester 55 Leipzig 14, 21 f., 25 f., 28, 31, 33 f., 103, 245, 247, 251, 266 Leverkusen 72, 206
287 Lexington 61 Liverpool 55, 67 London 22, 25 f., 31–33, 54–56, 63, 262 Lüttich 243 Luxemburg 209 Luzern 63 Lyon 252 Mailand 63 Mainz 34, 119 f., 122–124, 130 Manchester 55 Mannheim 243, 246 Marseille 252 Marxloh Siehe Duisburg Mechelen 243 Milwaukee 61 Moabit Siehe Berlin Moers 148, 206 Mönchengladbach 75, 153, 165 f., 169 Monheim am Rhein Ȥ Baumberg 68 Montreal 61 Mülheim an der Ruhr 148 München 14, 101, 110, 112, 114, 139, 144, 272 Münster 204, 263, 279 Nassau 273 Newark 61 Newcastle 55 New York City 61 f. Niederlande 53, 67, 154, 163 Nottingham 55 Ostdeutschland Siehe Deutsche Demokratische Republik Österreich 37, 45, 59, 126 f., 136–138, 144, 260 Österreich-Ungarn 138, 147, 254 Oxford 23 f., 55 Paris 14, 54, 61, 128 f., 210, 212, 216–218, 221, 246, 252 Philadelphia 61 Pittsburgh 61, 274 Polen 11, 139–141, 149 Poppelsdorf Siehe Bonn Posen 140 Prag 274 Preußen 104, 119, 231 f., 235, 273
288 Recklinghausen 140 Ȥ Suderwich 140 Reims 15 Rheinprovinz 22, 24, 141, 172 f., 176, 180, 231 f. Rochester 61 Rüdesheim 276 Russland 45 Salzburg 63, 104, 243, 260, 274 Sanremo 274 San Sebastián 274 Sarajevo 137 Sardinien 226 Schaffhausen 85 f. Scheveningen 53 Schottland 55 Sedan 175 Sevilla 274 Slowenien 149 Sofia 275 Spanien 78 Straßburg 124, 129 St. Wendel 128 Suderwich Siehe Recklinghausen Syracuse 61 Thailand 213 Toronto 61 Trier 229, 235, 240
Ortsregister Tschechien 149 Tschechoslowakei 138, 140 Turin 274 Türkei 135, 142 f., 145–150 UdSSR 272 Uerdingen Siehe Krefeld Ukraine 14, 272 Venedig 213 Vereinigte Staaten von Amerika 37, 58–63, 65, 76, 189 Verona 274 Wanne Siehe Herne Wanne-Eickel Siehe Herne Warschau 14 Washington, D.C. 61 Weimar 52, 110 f. Wesel 148 Wien 22, 37, 45, 59, 61, 63, 92, 98, 136, 156, 164, 204, 228, 231, 244–248, 255, 260, 275 Wiesbaden 85, 92, 273 f. Witten 189, 200 Worms 130 Wuppertal 27, 277 Ȥ Elberfeld 27, 61, 176, 246 Zürich 275
Personenregister
Abendroth, Hermann 44, 103, 109 Abraham, Paul 191 Abrantes, Fernando 79 Adenauer, Konrad 51 f., 58, 64 Alf, Julius 171, 177 Álvarez, Carlos 274 Anschuez, Joseph Andreas 227–232, 234 Appel, Frank 259, 262 Arent, Benno von 49 Arndt, Ernst Moritz 92 f., 174, 277 Arnim, Achim von 85 Arrau, Claudio 37, 50 Auber, Daniel-François-Esprit 25 Bach, Johann Sebastian 24, 27 f., 50, 55, 124, 127, 181 Backhaus, Albert 38 Balla, Giacomo 220 Balzer, Hugo 102, 108, 111, 118 Bambaata, Afrika 78 Banter, Harald 194 f. Barenboim, Daniel 64, 270 Baron, Hans 166 Bartók, Béla 201 Bartos, Karl 69, 77–79 Beethoven, Familie 243, 245, 254 Beethoven, Johann van 243, 245 Beethoven, Kaspar Karl van 245 Beethoven, Ludwig van 13, 24–29, 33, 37–39, 44, 47, 50, 55, 71 f., 87, 89 f., 103 f., 108 f., 124, 128, 181, 228–230, 238, 243–262, 268, 270, 274 f. Beethoven, Ludwig van, der Ältere 243 f. Beethoven, Nikolaus Johann van 245 Belderbusch, Anton Maria Graf von 245 Bendemann, Eduard 24, 33 Bender, Paul 273 Berg, Alban 110 f., 200 Berio, Luciano 200 Bériot, Charles-Auguste de 25, 33 Berlioz, Hector 55, 125, 249, 252 Besch, Otto 106 Besseler, Heinrich 109 Beuys, Joseph 68 f., 74 Bidwell, Percy 121 Bizet, Georges 125, 166
Blacher, Boris 106 f., 116 Blarr, Oskar Gottlieb 264 Bloch, Marc 277 Blume, Friedrich 109 Böhm, Marianne 154, 159 Borries, Siegfried 109 Boulez, Pierre 129, 200 Bourdieu, Pierre 12, 15, 133, 279 f. Bour, Ernest 129 Bourriaud, Nicolas 224 f. Bowie, David 71 Brachmann, Jan 11, 14 Brahms, Johannes 14, 37, 44, 109 Brailsford, Henry Noel 56 Breidenstein, Heinrich Karl 246, 248, 252 Brentano, Clemens 85, 96 Brepohl, Wilhelm 137 Britten, Benjamin 55 Brouwers, Hermann 108, 113 Bruchollerie, Monique de la 129 Brün, Herbert 203 Bruyck, Carl Debrois van 98 Bund, Hans 192, 194 Burckhardt, Lucius 219 Burgmüller, Norbert 25 f., 114 Burkhard, Johannes 12 Buths, Julius 177, 180, 182, 185 Byron, Lord George Gordon 85 Cailloux, Bernd 68 Cambreling, Sylvain 129 Cameron, Basil 57 Carter, Shawn Corey, gen. Jay-Z 210, 212 Celibidache, Sergiu 54 f., 57 Cézanne, Paul 87 Chemin-Petit, Hans 106 Cherubini, Luigi 26, 28 f., 278 Chipperfield, David 259 Chopin, Frederik 37, 139 Clemens August, Erzbischof und Kurfürst von Köln 243 Clemens Wenzeslaus, Erzbischof und Kurfürst von Trier 229 Cocker, Jarvis 270 Coltrane, John 270
290 Cook, Thomas 218 Cortázar, Julio 218 Creswell, Tim 224 Cruciger, Curt 163 f., 167–169 Curschmann, Friedrich 26 Custodis, Michael 13 Czartorysky, Georg Constantin 92 Czilery, Bela von 129 Dahm, Peter 37 Debord, Guy 218, 226 Debussy, Claude 14, 37, 55, 128 Degenhardt, Franz-Josef 135, 271 de Greiff, Familie 158 Deinhard, Johann Friedrich 232 DeLillo, Donald ‚Don‘ 220 Demirağ, Melike 145 Denissow, Edison 181 Depardon, Raymond 219 Derossi, Joseph 155 Deuß, Familie 156 Dieckmann, Barbara 258 Dinger, Klaus 67, 69, 71–74 Doazan, Jean Marie-Thérèse 231 Doetsch, Hermann Jacob 255 Doetsch, Hermann Jakob 254 Doyen, Jean 129 Drewes, Heinz 101, 108, 113 Dujarier, Marie-Anne 219 Dumont, Louise 159 Dunlop, Carole 218 Dylan, Bob 271 Edelhagen, Kurt 194–196 Egk, Werner 106, 129 Eilers, Franz 163, 169 Eimert, Herbert 200 f., 203 f. Ekwall, Knut 253 Elgar, Edward 55 Ellington, Duke 197 El-Sisi, Abdel Fatah 271 Eribon, Didier 15 Ernst, Heinrich Wilhelm 25 Etzemüller, Thomas 42 Evangelisti, Franco 203 Eysoldt, Leo 192 Fall, Leo 164 Fassbinder, Rainer Werner 69 Ferrari, Luc 206
Personenregister Février, Jacques 129 Fischer, Paul 239 f. Florian, Friedrich Karl 102, 108, 116 Flür, Wolfgang 67–69, 74–77, 79 Fortner, Wolfgang 200 Foster Wallace, David 214 Fournier, Pierre 129 Frantz, Anaïk 218 Freisler, Roland 40 Frey, Hans-Joachim 271 Friedrich August II., König von Sachsen 93 Friedrich, Prinz von Preußen 176, 182 Friedrich Wilhelm III., König von Preußen 104, 231, 250, 260 Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen 250 f. Fuchs, Ralf-Peter 16 Furtwängler, Wilhelm 41, 53–62 Geibel, Emanuel 30 Georgi, Harry 164 Gergiev, Valery 14 Gerst, Alexander 80 Gerster, Ottmar 106 Gerz, Jochen 218 Gibb, James 55 Giedion, Sigfried 219 Gieseking, Walter 39, 50 Globke, Hans 58 Goch, Stefan 140 Godard, Jean-Luc 219 Goebbels, Joseph 44, 51, 54–57, 101 f., 104 f., 108 f., 111 f., 114 f., 117 f. Goethe, Johann Wolfgang von 24, 26, 124, 216 Goeyvaerts, Karel 203 Göring, Hermann 51, 56 f., 62 Gorki, Maxim 212 Gorny, Dieter 275 Görres, Joseph 232 Gounod, Charles 125, 166 Graeff, Hans 239 f. Graener, Paul 102–105, 108 Gräfe, Serge 81 Gregor-Dellin, Martin 94 Greve, Martin 136, 138, 143, 145 Grieffenhagen, Falk 80 Grieg, Edvard 197 Grönemeyer, Herbert 150 Gruner, Justus 231 Gütermann, Anita Marion 63
Personenregister Haas, Monique 129 Haas, Willy 94 Hadid, Zaha 258 Haentzschel, Georg 194 Hagedorn, Volker 280 Hagestedt, Hermann 192 Hainl, Georg 252 Hammond, Laurens 71 Hammoudi, Basil 69, 71 Hamsun, Kurt 271 Händel, Georg Friedrich 24–28, 31, 103, 109, 181 f. Hanke, Karl 113 Hanslick, Eduard 94, 254 Harnischfeger, Manfred 258 Hartmann, Georg 273 Hartmann, Hanns 192, 194 Hauf, ‚Butch‘ 69 Hauptmann, Moritz 28 Haydn, Joseph 25–28, 103, 181, 187, 244 f. Heine, Heinrich 96, 217 Heinse, Wilhelm 85 Helms, Hans G. 203 Hendrix, Jimi 69, 71 Henry, Pierre 68 Hensel, Fanny 21, 31 f. Henze, Hans Werner 200, 225 Hermann, Hubert 258 f. Heuser, Carl 159 f. Heuss, Theodor 52 Hildebrandt, Theodor 22 Hiller, Ferdinand 87, 180 f., 253 Hilpert, Fritz 79 Himmler, Heinrich 57 Hindemith, Paul 110 f. Hindenburg, Paul von 175 Hitler, Adolf 41, 49, 51, 61, 102, 104, 110, 125 Höcker, Paul Oskar 165 Hof, Elisa von 272 Höfer, Werner 47 f. Hoffmann, Hilmar 215 Hoffmann, Josef 95 Hohmann, Andreas 71 Holreiser, Heinrich 129 Hölszky, Adriana 200 Honegger, Arthur 125, 181 Hörl, Ottmar 261 Hornemann, Christian 244 Hötter, Heinz 194 Howland, Chris 198 f. Hübner, Julius 24
291 Hughes, Howard 217 Hugo, Victor 276 Humboldt, Alexander von 251 Hummel, Johann Nepomuk 26 Hummler, Konrad 268 Hütter, Ralf 65 f., 69–74, 76–79, 267 Ikesus, Saadet 273 Immermann, Karl Leberecht 23, 28–30, 34, 155, 278 Jackson, Michael 222 Jäger, Hermann 164 Jamet, Pierre 129 Janequin, Clément 268 Janssen, Jörn 203 Jarnach, Philipp 106 Jay-Z Siehe Carter, Shawn Corey, gen. Jay-Z Jeanrenaud, Cécile 27, 34 Jentzen, Friedrich 22 Johansen, Johannes 168 John Eliot Gardiner, John Eliot 270 John, Elton 222 Juon, Paul 106 Kagel, Mauricio 72, 200, 203 Kálmán, Emmerich 164 Kanner-Rosenthal, Hedwig 37 Karaca, Cem 145 Karajan, Herbert von 54, 61–64 Kempff, Wilhelm 50 Kes, Willem 238 Kinkel, Gottfried 257 Knappertsbusch, Hans 54, 103, 117 Knowles-Carter, Beyoncé Giselle 210, 212 Koch, Karl O. 204 Koenig, Gottfried Michael 203 Koenig, Pierre 123 Kolb, Ernst 59 Kollos, Walter 165 Komensky, Jan Amos 139 Kopp, Benedict 234 Kornemann, Matthias 265 Krahl, Toni 271 Kramm, Georg 178 Kranemann, Eberhard 68 f., 72–74 Krause, Axel 14 Krebs, Friedrich 111 Kreiten, Emmy 36 Kreiten, Familie 36, 39, 41, 44
292 Kreiten, Karlrobert 15, 35–48, 50, 273 Kreiten, Rosemarie 36 Kreiten, Theo 36, 43 Krementz, Philipp 234 Kremplsetzer, Georg 198 Krenek, Ernst 110 Kreutzer, Conradin 31 Krupp, Friedrich Alfred 212 Kumer, Zmaga 137 Kunze, Hagen 266 Lachenmann, Helmut 200 Landau, Erwin 239 Lasso, Orlando di 27 f., 235 Laube, Heinrich 11 Lautz, Ernst 40 Lehár, Franz 164 Lehr, Robert 175 Lejeune Dirichlet, Rebecka 21, 25 Lenin, Wladimir Iljitsch 13, 212 Lennon, John 271 Lenz, Joseph 234 f. Lenz, Selma 178 Leo, Leonardo 27 Lessing, Karl Friedrich 23 Leydel, Michael 154 Ley, Robert 46, 51 Lezay-Marnésia, Adrien de 230 f. Ligeti, György 200, 203 Lindemann, Robin 279 Liszt, Franz 44, 103, 109, 249–253, 256 Livaneli, Zülfü 145 Livi, Ivo Siehe Montand, Yves Livny, Jonathan 15 Lopičić, Milica 209, 212 Lorenzi, Philipp de 234 Lotti, Antonio 27 f. Lübeck, Johann Heinrich 25 Luczkowski, Adalbert 192 Ludwig XIV., König von Frankreich 276 Lützner, Sybille 15 Machaidze, Nino 274 Macron, Emmanuel 14 Mahler, Gustav 178, 181, 270 Malaparte, Curzio 212 Malibran-Garcia, Maria 33 Mangelsdorff, Albert 195 Marceau, François Séverin 229
Personenregister Marschner, Heinrich 29 Marszalek, Franz 192 Martin, Ernst 163 f. Maspero, François 218 Maurenbrecher, Otto 164 Maurick, Ludwig 106 Max Franz, Erzbischof und Kurfürst von Köln 243 Maximilian Friedrich, Erzbischof und Kurfürst von Köln 243 May, Jürgen 278 May, Theresa 270 McCloy, John J. 60 Mehta, Zubin 64 Mendelssohn Bartholdy, Abraham 21 Mendelssohn Bartholdy, Fanny Siehe Hensel, Fanny Mendelssohn Bartholdy, Felix 15, 21–34, 37, 174, 176, 180–182, 185, 278 Mendelssohn Bartholdy, Lea 21 Mendelssohn Bartholdy, Rebecka Siehe Lejeune Dirichlet, Rebecka Mendelssohn, Familie 21 Mendelssohn, Moses 21 Mercadante, Saverio 26 Merckel, Henri 129 Merkel, Angela 14 Mertens, André 60 f. Mertens, Hans Gregor 61 Mertens, Otto 61 Mertens, Volker 97 Méry, Joseph Pierre 119 Messiaen, Olivier 181, 200 Metastasio, Pietro 33 Metternich, Klemens Wenzel Fürst von 228 Metzger, Heinz-Klaus 203 Meyer-Eppler, Werner 200 Mey, Reinhard 135 Millöcker, Carl 164 Molenaar, Familie 158 Molitor-Naunheim, Christa 17 Mönicks, Alfred 69 f. Montand, Yves 128 Moscheles, Ignaz 21, 31, 33 Mozart, Wolfgang Amadeus 25 f., 28 f., 39, 44, 50, 55, 109, 124, 128, 154 f., 181, 243, 247, 260 Müller-Blattau, Josef 109 Müller, Fritz 73 Müller, Werner 192 f.
Personenregister Müller-Westernhagen, Marius 67, 77 Munthe, Axel 212 Mussorgski, Modest Petrowitsch 14 Mutter, Anne-Sophie 274 Mutz, Ulrich 270 Nakajima, Tateo 272 Navarra, Andre 129 Nebel, Johann Nikolaus 228 Nedden, Otto C. A. zur 111 Neidhardt von Gneisenau, August 232 Neitzel, Otto 164 Nejadepour, Houschäng 69, 72 f. Němec, Jardo 139 Neuber, Caroline 159 Neusser, Hermann 256 Neuwirth, Olga 200 Nickisch, Arthur 53 Nimptsch, Jürgen 258 f. Nipperdey, Thomas 266 f. Nobbe, Ernst 111 Nono, Luigi 200 Nougaret, Claudine 219 Oetker, Familie 156 Oppenhoff, Karl Edmund Joseph 251 Orpel, Johann 141 Östlund, Ruben 222 Otten, Georg Dietrich 88 Ott-Moneke, Ellen 39 Otto, Anton 160–162, 169 Otto, Helmut 102, 108, 113 Paik, Nam June 203 Palestrina, Giovanni Pierluigi da 27 f., 235 Panzner, Karl 180 Papen, Franz von 141 Penderecki, Krzysztof 181, 200, 204 f. Pergolesi, Giovanni Battista 27 Pester-Prosky, Reinhold 161–165, 167, 169 Petrarca, Francesco 216 Petrillo, James C. 59 Pfaffe, Stefan 80 Pfalz-Neuburg, Johann Wilhelm von 113 Pfitzner, Hans 39, 104 f., 270 f. Piaf, Édith 128 Pick, Franz 245 Plank, Conrad 70 f., 73, 76 Polo, Marco 216
293 Pousseur, Henri 203 Prokofiew, Sergei Sergejewitsch 44, 272 Puccini, Giacomo 166 Puppel, Pauline 265 Purcell, Henry 55 Putin, Wladimir 14 Raabe, Peter 45, 112 Radecke, Robert 174 Raff, Helene 92 Raff, Joseph Joachim 87, 92 f., 277 Ramann, Lina 252, 256 Rampal, Jean-Pierre 129 Raskop, Heinrich 192 Rattle, Sir Simon 262, 270 Rauch, Erich 167 Ravel, Maurice 55, 128 Rawsthorne, Alan 55 Reichardt, Gustav 92, 174 Reutter, Hermann 111 f. Reyers, Ernest 119 Reznicek, Emil Nikolaus von 104 Rheinberger, Josef Gabriel 178 Richter, Gerhard 66, 74 Riechmann, Wolfgang 69 Ries, Ferdinand 245 f. Ries, Franz Anton 245 Rietz, Johannes 106 Rietz, Julius 26, 29, 180 Rihm, Wolfgang 200 Ritter, Rüdiger 11 Rivera, Plato Kostic 74, 77 Röckel, August 93, 97 Röder, Klaus 75 f. Roedelius, Hans-Joachim 68 Romberg, Bernhard 26 Rooyen, Jerry van 192 Rosbaud, Hans 129 Rosenberg, Alfred 111 Rosenthal, Moriz 37 Rother, Michael 69, 72–74, 76 Roth, François-Xavier 129 Roussel, Raymond 218 Rump, Michael 154–156, 159, 162 Rüther, Günther 13 Sacher, Paul 129 Safranski, Rüdiger 12 Satie, Erik 74
294 Sauer, Heinrich 238 Sauer, Wolfgang 195 Saunders, Rebecca 200 Schadow, Wilhelm von 33 Schaeffer, Pierre 68 Scharlaj, Marina 272 Scharnhorst, Gerhard von 232 Scheibler, Familie 158 Schelble, Johann Nepomuk 23, 27, 30 Schiedermair, Ludwig 109 Schiefenbusch, Erna 159 Schiller, Friedrich 104, 158 Schillings, Max von 104 Schindler, Anton 245, 251 Schinkel, Karl Friedrich 250 Schivelbusch, Wolfgang 217 Schlegel, August Wilhelm von 248 Schlingensief, Christoph 225 Schmid, Hans 129 Schmidt, Ferdinand August 255 f. Schmidt-Isserstedt, Hans 54 Schmidt, Peter A. 72 f. Schmidt, Rosl 109 Schmittlein, Raymond 120, 122–127 Schmitz, Franz Joseph 229 Schmitz, Henning 79 Schnebel, Dieter 202 Schneider-Esleben, Florian Siehe Schneider, Florian Schneider-Esleben, Paul 68 Schneider, Florian 65 f., 68–78, 80, 267 Schneider, Helge 73 Schnitzler, Conrad 68 Schönberg, Arnold 110, 200 Schönfeld, Bruno 239 Schostakowitsch, Dmitri 272 Schreker, Franz 110 Schubert, Franz 55, 174 Schubring, Julius 31 Schult, Emil 74–78 Schumann, Clara 89, 177, 180, 182, 185 Schumann, Robert 32, 68, 79, 85, 87–93, 98 f., 113, 174, 176, 178, 180–182, 185, 249, 255, 276 f. Sciola, Pinuccio 226 Seeger, Pete 271 Seliger, Berthold 13, 15 f., 225, 272 Senger, Rudolf 162
Personenregister Seyffardt, Ernst Hermann 164 Seyffardt, Familie 156 Shakespeare, William 23, 29, 31 Sharp, Elliott 14 Shostakovich, Dmitrij 55 Sibelius, Jean 55 Siegert, Stefan 268 Silcher, Friedrich 174 Simrock, Karl 86 Simrock, Nikolaus 245 Sixt, Paul 111 Smetana, Bedřich 87 Sobanski, Hans Joachim 106 Sokolowsky, Kay 270 Spiegel zum Desenberg, Ferdinand August von, Erzbischof von Köln 28 Spielberg, Steven 80 Spitta, Heinrich 106 Spohr, Louis 25 f. Sredenschek, Ivan 139 Stahl, Enno 267 Staiger, Bodo 67 Stanfield, Clarkson 91 Steinmeier, Frank-Walter 261 Stöber, Franz Xaver 23 Stockhausen, Karlheinz 200 f., 203 f., 206 Strauß, Botho 12 Strauss, Johann 164 Strauss, Richard 54 f., 104 f., 108, 181 Strawinsky, Igor 44 f., 55, 110 f., 199 f. Strobel, Heinrich 129 Stützel, Annelie 39 Sudre, Jean François 80 Summen, Maurice 16 Suppé, Franz von 164 Taubert, Wilhelm 32 Tausch, Julius 177, 182 Tellkamp, Uwe 14 Tensundern, Theodor 137, 141 Thibaud, Jacques 129 Thielemann, Christian 14 Thimonnier, René Marie Hilaire 120, 123–128, 132 Thomas, Ambroise 166 Thomas, Kurt 106 Thomas, Peter 193 Tiberius, Römischer Kaiser 212
Personenregister Tiessen, Heinz 108 Tippett, Michael 55 Tomasi, Henri 129 Tomek, Otto 204, 206 Tönnies, Ferdinand 42 Tortelier, Paul 129 Toscanini, Arturo 56 Trapp, Max 106 Tschaikowsky, Pjotr Iljitsch 45, 55 Turner, William 85 f. Ullrich, Wolfgang 222 Unger, Hermann 106 Urry, John 218 Uszkoreit, Hans 271 Valentiny, François 258 f. Vallin, Ninon 129 Verdi, Giuseppe 161, 274 Vernillat, France 129 Victoria, Königin des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Irland 251 Viereck, August 154 Virilio, Paul 217 Vollberg, Andreas 190 von Beckerath, Familie 158 Vostell, Wolf 203 Wader, Hannes 271 Wagner, Adolf 94 Wagner, Richard 12, 14 f., 55, 87, 93–99, 102 f., 125, 161–164, 169, 178, 253, 274, 277, 280 Wallraf, Günther 147 Walter, Karl 108, 113 Wand, Günther 129
295 Wartisch, Otto 106 Wasielewski, Wilhelm Joseph von 88 f. Weber, Carl Maria von 25 f., 29, 103, 155, 159, 165, 181 Webern, Anton 200 Wegeler, Carl 230, 238 Wegeler, Eleonore 245 Wegeler, Familie 229 f. Wegeler, Franz Gerhard 229 f., 232, 245 Wegeler, Julius 230, 236 Wegeler, Rolf 230 Weibel, Peter 217 Weill, Kurt 110, 112 Weisbach, Hans 180 Weismann, Julius 15 Weiss, Charly 72 f. Weiss, Peter 225 Westermann, Gerhart von 63 Wezelsberger, Bertil 129 Widmann, Jörg 200 Wiener, Oswald 12 Wilhelm, Carl 174 Wilhelm II., Deutscher Kaiser und König von Preußen 278 Wilmowsky, Johann Nikolaus von 235 Winterberg, Robert 169 Wittgen, Otto 239 f. Wulf-Mathies, Monika 259 Wüllner, Franz 278 Zelter, Carl Friedrich 21 Zick, Gustav 227 Ziegler, Hans Severus 108, 110–112, 118 Zimmermann, Bernd Alois 198, 200, 204 Zwirner, Ernst Friedrich 257