Linksliberalismus und Arbeiterbewegung: Die Stellung der Deutschen Fortschrittspartei zur Arbeiterbewegung, 1861–1866 [Reprint 2021 ed.] 9783112478509, 9783112478493


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German Pages 224 [225] Year 1977

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Linksliberalismus und Arbeiterbewegung: Die Stellung der Deutschen Fortschrittspartei zur Arbeiterbewegung, 1861–1866 [Reprint 2021 ed.]
 9783112478509, 9783112478493

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AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN DER

DDR

SCHRIFTEN DES ZENTRALINSTITUTS FÜR GESCHICHTE BAND 48

Gerd Fesser

Linksliberalismus und Arbeiterbewegung Die Stellung der Deutschen zur Arbeiterbewegung

Fortschrittspartei

1861—1866

A K A D E M I E - V E R L A G • B E R L I N 1976

Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Str. 3—4 © Akademie-Verlag Berlin 1976 Lizenznummer: 202 • 100/365/76 Gesamtherstellung: IV/2/14 VEB Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz«, 445 Gräfenhainichen • 4717 Umschlaggestaltung: Nina Striewski Bestell-Nr. 753 022 8 (2083/48) • LSV 0265 Printed in GDR DDR 27 - M

Inhalt

Vorwort Kapitel

V I

Die Konstellation der Klassenkräfte in Preußen um 1860 und die Anfänge der Deutschen Fortschrittspartei 1. Die Konstellation der Klassenkräfte in Preußen um 1860 2. Die Anfänge der Deutschen Fortschrittspartei 3. Die politische Konzeption der Fortschrittspartei Kapitel

1 7 17

II

Fortschrittspartei und Arbeiterbewegung bis zur Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins 1. Die „Arbeiterpolitik" der Fortschrittspartei bis Ende 1862 2. Schulze-Delitzschs „Arbeiterkatechismus" 3. Die Anfänge der Auseinandersetzung zwischen der Fortschrittspartei und F. Lassalle Kapitel

22 34 36

III

Fortschrittspartei und Arbeiterbewegung vom Mai 1863 bis Dezember 1864 1. Ursachen und Wirkungen der Frontstellung Lassalles gegen die Fortschrittspartei 2. Die Fortschrittspartei im Kampf gegen Lassalle bis Ende 1863 . . . . 3. Die Fortschrittspartei im Kampf gegen Lassalle und die Lassalleaner während des Jahres 1864 Kapitel

40 49 63

IV

Fortschrittspartei und Arbeiterbewegung vom Januar 1865 bis zum Preußisch-Österreichischen Krieg 1866 1. Das Aktionsprogramm der Arbeiterklasse 2. Die Haltung der Fortschrittspartei in den Auseinandersetzungen um die Koalitionsfreiheit

73 77

Inhalt 3. F. A. Langes Alternativkonzeption zur „Arbeiterpolitik" der Fortschrittspartei 4. Zur „Arbeiterpolitik" der Fortschrittspartei bis zum Sommer 1866 . .

87 97

Schlußbetrachtungen

113

Abkürzungen

120

Anmerkungen

121

Dokumentenanhang

155

Quellen- und Literaturverzeichnis Personenverzeichnis

177 191

Vorwort

Vor mehreren Jahren hat die marxistisch-leninistische Geschichtswissenschaft der DDR verstärkt damit begonnen, die Geschichte der deutschen Bourgeoisie und insbesondere die Geschichte der bürgerlichen Parteien zu erforschen und darzustellen. In offensiver Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Historiographie wurden bereits wichtige Ergebnisse erzielt, doch ist noch eine Vielzahl komplizierter und umfangreicher Aufgaben zu lösen. 1 So verwies Walter Schmidt unlängst auf die Notwendigkeit, „gründliche Studien über die Bourgeoispolitik in den verschiedenen Etappen der bürgerlichen Umwälzung" auszuarbeiten. 2 Die bürgerliche Umwälzung in Deutschland war Bestandteil der wellgeschichtlichen Epoche der Durchsetzung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung. W. I. Lenin kennzeichnete diese Epoche, die 1789 eingeleitet wurde und 1871 in Westeuropa und den USA zum Abschluß gelangte, als die „ . . . Epoche des Aufstiegs und des vollen Sieges der Bourgeoisie", als die „. . . Epoche der bürgerlich-demokratischen Bewegungen im allgemeinen und der bürgerlich-nationalen im besonderen, die Epoche, in der die überlebten feudal-absolutistischen Institutionen rasch zerbrochen werden." 3 In den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts trat in Deutschland — ebenso wie in den anderen fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern Europas und Nordamerikas — die bürgerliche Umwälzung in ihre Endphase ein. Aufgabenstellung und Bedeutung der vorliegenden Arbeit nun seien wie folgt skizziert: 1. Es wird die Politik einer Partei untersucht, die 1861—66 Wortführerin eines großen Teils der preußischen Bourgeoisie war. Die Entscheidung darüber, ob in Deutschland die Durchsetzung des Kapitalismus und die nationalstaatliche Einigung durch eine bürgerlich-demokratische Revolution oder durch eine „Revolution von oben" zu Ende geführt werden würden, konnte nur in Preußen fallen — dem größten, ökonomisch und militärisch stärksten deutschen Staat. Hegemon einer bürgerlichen Revolution konnte auch in den 60er Jahren nur die Bourgeoisie sein/' Und die preußische Bourgeoisie war, wie Friedrich Engels hervorhob, bereits in den 40er Jahren „wirtschaftlich und politisch an die Spitze der deutschen Bourgeoisie" getreten. 5 Die vorliegende Untersuchung schließt sich dem Verfahren an, welches Engels in seiner Schrift „Die preußische Militärfrage und die deutsche Arbeiterpartei" anwendete, als er bemerkte, daß die preußische Bourgeoisie „hierein Recht hat, diese (die deutsche Bourgeoisie — G. F.) mit zu repräsentieren." 6 Im Kapitel I der Arbeit wird versucht, am Beispiel des preußischen Bürgertums die historische Aufgabe und

VI

Vorwort

die politischen Möglichkeiten zu bestimmen, welche die deutsche Bourgeoisie 1861 bis 1866 besaß und welche Stellung sie hierbei — in ihrem eigenen wohlverstandenen Klasseninteresse! — gegenüber Arbeiterklasse und Arbeiterbewegung einnehmen mußte. 2. Die zeitliche Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes ist durch die beiden folgenden Zäsuren gegeben: Im Jahre 1861 wurde die Deutsche Fortschrittspartei gegründet. Im Jahre 1866 fiel einerseits eine Vorentscheidung zugunsten der unheilvollen Bismarckschen „Revolution von oben" und wurde andererseits mit der Abstimmung des preußischen Abgeordnetenhauses über die Indemnitätsvorlage vom 3. September 1866 die Spaltung der D F P eingeleitet. Politisch-geographisch beschränkt sich die Untersuchung auf Preußen. Jene liberalen Gruppierungen in verschiedenen deutschen Mittelstaaten, die sich nach dem Vorbild der Deutschen Fortschrittspartei ebenfalls „Fortschrittspartei" nannten, werden nicht berücksichtigt. 3. Über die Politik der Fortschrittspartei im allgemeinen und auch über ihre „Arbeiterpolitik" speziell finden sich in den meisten entsprechenden bürgerlichen und auch in manchen marxistischen Arbeiten Pauschalurteile und unzulässige Verallgemeinerungen. Der Verfasser der vorliegenden Untersuchung ist bestrebt, der Tatsache Rechnung zu tragen, daß die DFP, wie das ihre Vertreter auch selbst empfunden haben, eine „Koalitionspartei" war; daß es innerhalb dieser Organisation verschiedenartige Strömungen gab, deren Politik zum Teil stark voneinander abwich. Es geht ihm dabei insbesondere darum, aufzuzeigen, welche Klassenkräfte tatsächlich hinter der D F P standen und welchen Einfluß diese Kräfte insbesondere auf die Stellung der Partei zur Arbeiterklasse nahmen. 4. Es kann in der Arbeit nicht nur darum gehen, zu untersuchen und darzustellen, welche Haltung die Fortschrittler gegenüber Aktionen der verschiedenen Strömungen innerhalb der Arbeiterbewegung eingenommen haben. Vielmehr muß versucht werden, Aussagen darüber zu treffen, auf welche Weise und in welchem Umfang die D F P Einfluß auf Arbeiterklasse und Arbeiterbewegung erlangte. Das ist um so wichtiger, als dieser Einfluß ja keineswegs auf Preußen beschränkt war (wo die deutsche Arbeiterbewegung vor 1866 auch noch nicht ihren Schwerpunkt hatte), sondern über verschiedene Institutionen und mittels verschiedenartiger Methoden im Grunde zumindest ganz Norddeutschland erfaßte. 5. Die 60er Jahre des 19. Jahrhunderts waren die „zweite entscheidende Phase in der Entwicklung der deutschen Arbeiterbewegung". 7 Und in der vorliegenden Arbeit geht es — soweit dies zum Thema gehört — nicht zuletzt darum, die Rolle der deutschen Arbeiterklasse im Kampf um die Errichtung eines bürgerlich-demokratischen Nationalstaates zu charakterisieren. Es wird die Konzeption skizziert, welche Karl Marx und Friedrich Engels für diesen Kampf entwickelten, und es werden unter anderem das Wirken Wilhelm Liebknechts in Berlin, die Linksentwicklung des Verbandes Deutscher Arbeitervereine am Beispiel des Berliner Arbeitervereins, die Rolle der revolutionären proletarischen Opposition im A D A V , vor allem am Beispiel Julius Vahlteichs, beleuchtet. Schließlich ist es ein Anliegen des Verfassers, am Beispiel der politisch fortgeschrittenen Arbeiter Berlins jene vielen namenlosen proletarischen Kämpfer zu würdigen, die seit 1865 zur „wichtigsten Kraftpotenz und zum Hauptträger" 8 der demokratischen Volksbewegung wurden.

Vorwort

VII

Eine relativ ausführliche Berücksichtigung findet in dieser Arbeit das Wirken der — auf kleinbürgerlich-demokratischen Positionen stehenden — äußersten Linken der Fortschrittspartei. Die Arbeit liefert somit auch einen Beitrag zur Erforschung der Geschichte der nichtproletarischen demokratischen Kräfte in Deutschland. 6. Eine zentrale Aufgabe der vorliegenden Monographie besteht in der parteilichen Auseinandersetzung mit der modernen imperialistischen und rechtssozialdemokratischen Geschichtsschreibung. Insbesondere gilt das für die Thesen der ConzeSchule, einer Richtung innerhalb der Geschichtsschreibung der B R D , welche sich vorrangig mit den Wechselbeziehungen befaßt, die in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts in Deutschland zwischen der liberalen und kleinbürgerlich-demokratischen Bewegung einerseits und der Arbeiterbewegung andererseits bestanden haben. Zu den Aufgaben dieser Arbeit gehört auch die Auseinandersetzung mit dem Lassalleanismus, jener frühen Erscheinungsform opportunistischer Ideologie und Politik, auf die die rechten sozialdemokratischen Führer in der B R D in starkem Maße zurückgreifen. 7. In den letzten Jahren haben Gustav Seeber 9 und Ludwig Elm 1 0 die Geschichte des Linksliberalismus in Deutschland für den Zeitraum von 1871 bis 1918 erforscht und dargestellt. Die Erarbeitung einer vergleichbaren Publikation über die Entwicklung des deutschen Linksliberalismus von seinen Anfängen bis zum Jahre 1871 gehört zu den Desiderata der marxistischen Geschichtswissenschaft der DDR. Der Verfasser der vorliegenden Untersuchung hofft, für eine solche künftige Publikation einen Beitrag geliefert zu haben. Bürgerliche und rechtssozialdemokratische Historiker haben sich des öfteren zum Gegenstand der vorliegenden Untersuchung geäußert. Dennoch ist zu betonen, daß die bürgerliche Geschichtsschreibung und gleichfalls die rechtssozialdemokratische — die ja ihrer Klassenposition nach nur eine Art „Unterabteilung" der ersteren ist — qualitativ und selbst quantitativ nur sehr wenig zur Erforschung der „Arbeiterpolitik" der Fortschrittspartei geleistet haben. In den Arbeiten des Linksliberalen Ludolf Parisius 1 1 , der faktisch offizieller Parteihistoriograph der Fortschrittler war, wird die Stellung der D F P zur Arbeiterbewegung nahezu vollständig ausgeklammert. Das fällt um so mehr auf, als diese Arbeiten im allgemeinen sehr materialreich sind — und ihr Autor obendrein als Gefolgsmann Schulze-Delitzschs selbst aktiven Anteil an der „Arbeiterpolitik" seiner Partei hatte. 1 2 Einige wichtige Fakten — und auch einige treffende knappe Einschätzungen 13 — zur Politik der Berliner Fortschrittler gegenüber der Arbeiterbewegung bringt Eduard Bernstein. Bernstein deutet selbst die Hauptursache dafür an, daß seine „persönliche Note" (lies: seine revisionistische Konzeption) in dem Geschichtswerk über die Berliner Arbeiterbewegung „zurückgedrängt" wurde: den Einfluß, welchen die sozialdemokratischen Vertrauensleute Berlins auf die Gestaltung des Werkes genommen haben. 14 Bis auf den heutigen Tag blieb Gustav Mayers bekannte Arbeit vom Jahre 1911 1 5 der fundierteste Beitrag der bürgerlichen Geschichtsschreibung zur „Arbeiterpolitik" der DFP. Es ist überaus bezeichnend, daß der Linksliberale G. Mayer ein krasser

Vili

Vorwort

Außenseiter der bourgeoisen Historiker-Zunft gewesen ist. 16 Seine Arbeit enthält einige wichtige Einsichten. Sie sollte aber dennoch nicht überschätzt werden: Zum einen liefert sie lediglich eine sehr kurze Skizze der Stellung der Fortschrittler zur „sozialen Frage" 1 7 ; zum anderen, und das ist entscheidend, verkennt G. Mayer die objektiven Ursachen für die Haltung der DFP und stellt zufällige Faktoren — das Verhalten einiger liberaler und demokratischer Politiker — in den Vordergrund. 18 Das umfangreiche und auf ein reiches Quellenmaterial gestützte Buch des amerikanischen Historikers Eugene N. Anderson über den preußischen Heeres- und Verfassungskonflikt 19 ignoriert die Arbeiterbewegung und die Stellung der Fortschrittspartei zu ihr völlig. Die bürgerliche Geschichtsschreibung der BRD behandelte bekanntlich mehrere Jahre lang die Geschichte der Interessenorganisationen ihrer eigenenen Klasse genauso stiefmütterlich, wie das die bürgerliche deutsche Geschichtsschreibung vor 1945 getan hatte. Seit der Mitte der 50er Jahre aber wurden dann in der BRD die Arbeiten zur Erforschung und Darstellung der Parteiengeschichte außerordentlich verstärkt. 20 Freilich wird in den mittlerweile vorliegenden umfangreicheren Gesamtdarstellungen zur Parteiengeschichte und in den Monographien zur Rolle der DFP in der „Konfliktszeit" über die Stellung der Fortschrittler zur Arbeiterbewegung nur sehr wenig ausgesagt. Bergsträsser 21 und Tormin 22 bringen hierzu lediglich im Zusammenhang mit der Entstehung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins ein paar nichtssagende Bemerkungen. Winkler handelt dieses Problem auf 3 Seiten eilig ab — um es im weiteren Verlaufe seiner Darstellung nie wieder zu berühren. 23 Hess schweigt sich völlig aus. 24 Bisher liegt seitens der bürgerlichen Gesehichlsschreibung der BRD lediglich eine Arbeit vor, deren Untersuchungsgegenstand sich unmittelbar mit dem der vorliegenden Monographie deckt: Ernst Schraeplers Aufsatz vom Jahre 1958. 25 Neben dieser Studie — auf die unten noch näher eingegangen werden wird — ist mittlerweile eine ganze Anzahl solcher Arbeiten veröffentlicht worden, die sich mit Teilaspekten des Untersuchungsgegenstandes beschäftigen. Alle diese Arbeiten sind — wie auch die genannten Uberblicksdarstellungen von Bergsträsser und Tormin 26 — auf die „Integrations"-Konzeption ausgerichtet, welche das „entscheidende Instrument imperialistischer und rechtssozialdemokratischer Historiker zur Verfälschung der Geschichte der Arbeiterbewegung" darstellt. 27 Diese Konzeption 28 , auf eine knappe Formel gebracht, besagt folgendes: Seit dem Übergang zur „Industriegesellschaft" vollziehe sich eine „Integration" der Arbeiterklasse in den bürgerlichen Staat und die bürgerliche Gesellschaft. Dieser Prozeß sei gesetzmäßig, seine Durchsetzung entspreche den Interessen der Arbeiterklasse, und sie werde — ungeachtet aller gegenläufigen Entwicklungen — von der Arbeiterbewegung selbst vollzogen. Die Mission der Arbeiterbewegung bestehe nicht etwa in der Beseitigung, sondern in der „Demokratisierung" (lies: Stabilisierung und Aufrechterhaltung) der kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Es ist keineswegs so, als sei die „Integrations"-Konzeption erst in den 50er Jahren dieses Jahrhunderts entwickelt worden. Vielmehr sind ihre Ansätze bereits um die

Vorwort

IX

Mitte des 19. J a h r h u n d e r t s e n t s t a n d e n . 2 9 Ein besonders wichtiger „ S c h r i t t m a c h e r " war Hermann Oncken.30 Die bereits e r w ä h n t e P u b l i k a t i o n Schraeplers stellt einen e i n d e u t i g e n R ü c k s c h r i t t g e g e n ü b e r G u s t a v M a y e r s S t u d i e v o m J a h r e 1911 d a r . Sie r u h t auf einer ausgesproc h e n s c h m a l e n M a t e r i a l g r u n d l a g e (fast ausschließlich auf der bürgerlichen u n d r e c h t s sozialdemokratischen S t a n d a r d l i t e r a t u r u n d einigen der d o r t z i t i e r t e n Quellen) u n d e n t h ä l t z u d e m allerlei F l ü c h t i g k e i t s f e h l e r . S c h r a e p l e r s E i n s c h ä t z u n g e n sind — z u m Teil n a h e z u wörtlich — der soeben g e n a n n t e n L i t e r a t u r e n t n o m m e n . Die „ I n t e g r a t i o n s " - K o n z e p t i o n ist u n v e r k e n n b a r : „ R ü c k b l i c k e n d k a n n n a c h Beurteilung der g e s a m t e n Lage wohl b e h a u p t e t w e r d e n , d a ß eine endgültige T r e n n u n g h ä t t e v e r m i e d e n u n d die A r b e i t e r s c h a f t a n die n a t i o n a l e Bewegung u n d die liberalen B e s t r e b u n g e n herangezogen sowie n a c h der Reichsg r ü n d u n g m i t d e m n e u e n S t a a t v e r b u n d e n werden k ö n n e n . D e r H o c h m u t u n d m a n ches Mal u n b e w u ß t a u s g e ü b t e r Klassenegoismus bürgerlicher P a r t e i f ü h r e r g a b e n a b e r d e n Ausschlag n a c h d e r n e g a t i v e n S e i t e . " 3 1 Der a n s o n s t e n sehr zitierfreudige Schraepler e n t h ä l t sich a n dieser Stelle jeglichen Z i t a t e s oder Verweises. E s ist wohl k a u m als Zufall a n z u s e h e n , w e n n sich in W i l h e l m M o m m s e n s Miquel-Biographie, die S c h r a e p l e r in seiner S t u d i e n i c h t e r w ä h n t , eine P a s s a g e f i n d e t , welche seiner soeben zitierten Ä u ß e r u n g in f a t a l e r Weise ä h n e l t . M o m m s e n b e m e r k t n ä m l i c h ü b e r die „ T r e n n u n g der A r b e i t e r b e w e g u n g von der b ü r g e r l i c h - n a t i o n a l e n " in d e n sechziger J a h r e n des 19. J a h r h u n d e r t s : „ D a ß diese T r e n n u n g d a m a l s noch vermieden w e r d e n k o n n t e , darf m a n auf G r u n d der ganzen Lage wohl b e h a u p t e n ; die A r b e i t e r s c h a f t s u c h t e ja noch F ü h l u n g m i t d e n Liberalen u n d m i t d e m N a t i o n a l v e r e i n , u n d die e n t s t e h e n d e A r b e i t e r b e w e g u n g h ä t t e wohl ohne weiteres a n die n a t i o n a l e B e w e g u n g h e r a n g e z o g e n werden k ö n n e n , w e n n n i c h t deren F ü h r e r a u s m e h r oder weniger u n b e w u ß t e m b ü r g e r l i c h e m Klasseng e f ü h l sie a b g e s t o ß e n h ä t t e n . " 3 2 Bei d e n j e n i g e n b ü r g e r l i c h e n Historikern, welche in d e n 60er u n d zu Beginn der 70er J a h r e A r b e i t e n zu T e i l a s p e k t e n des U n t e r s u c h u n g s g e g e n s t a n d e s v e r ö f f e n t l i c h t e n , h a n d e l t es sich z u m e i s t e n t w e d e r u m V e r t r e t e r d e r Conze-Schule o d e r u m r e c h t e S o z i a l d e m o k r a t e n . E s ist im übrigen zu v e r m u t e n , d a ß diese beiden historiographischen R i c h t u n g e n in d e n k o m m e n d e n J a h r e n a u c h u m f a s s e n d e D a r s t e l l u n g e n zur gen a n n t e n P r o b l e m a t i k vorlegen w e r d e n . Conze 3 3 u n d sein Schülerkreis — hier sind vor a l l e m G r o h 3 4 , B a i s e r 3 5 sowie Volkm a n n 3 6 zu n e n n e n — b e h a u p t e n , d a ß die „ I n t e g r a t i o n " von Arbeiterklasse u n d Arbeit e r b e w e g u n g in d e n S t a a t u n d in die bürgerliche G e s e l l s c h a f t in d e n 60er J a h r e n des 19. J a h r h u n d e r t s d u r c h a u s möglich gewesen sei. Als Mittel f ü r eine solche „ I n t e g r a t i o n " b e t r a c h t e n sie die „soziale D e m o k r a t i e " , w o r u n t e r sie eine Politik der sozialen R e f o r m e n im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaft v e r s t e h e n , u n d die „ N a t i o n a l d e m o k r a t i e " , lies: d e n bürgerlichen N a t i o n a l i s m u s . Als das wichtigere, das e n t s c h e i d e n d e Mittel sehen sie d a b e i den bürgerlichen N a t i o n a l i s m u s an. 3 7 Die Conze-Schule v e r t r i t t die Ansicht, d a ß die F o r t s c h r i t t s p a r t e i bei der „ I n t e g r a t i o n " der Arbeiterklasse eine e n t s c h e i d e n d e Rolle h ä t t e spielen k ö n n e n u n d m ü s sen. I h r e g r u n d s ä t z l i c h apologetische Darstellung der „ A r b e i t e r p o l i t i k " der D F P ist

X

Vorwort

deshalb auch durch Kritik gekennzeichnet. Conze wirft Schulze-Delitzsch und den anderen Fortschrittlern in erster Linie vor, sie hätten die angeblich bestehenden „Integrations"-Möglichkeiten nicht ausgeschöpft. 38 In den Arbeiten des Conze-Kreises wurde und wird — teils unterschwellig, teils auch recht offen — die historische Darstellung zielbewußt mit einer politischen Aktualisierung verbunden. Hierbei werden zwei Ziele verfolgt: Zum einen soll die Existenz einer „national-demokratischen" und „sozial-demokratischen" Traditionslinie für das staatsmonopolistische Herrschaftssystem der B R D vorgetäuscht, soll damit ein Beitrag zur ideologischen Stabilisierung dieses Herrschaftssystems geleistet werden. Zum anderen geht es diesen Ideologen der imperialistischen Bourgeoisie darum, durch den Rückgriff auf progressive Traditionen der Geschichte des deutschen Volkes und der deutschen Arbeiterbewegung eine neue und wirksamere — weil „demokratisch" und „sozial" aufgeputzte — Variante des bürgerlichen Nationalismus zu entwickeln. Diese „moderne"— und gefährliche — Variante des bürgerlichen Nationalismus ist von Anfang an auch als Mittel der ideologischen Diversion gegen die sozialistische DDR konzipiert worden. Conze und seine Schüler haben somit bereits Mitte der 60er Jahre jene nationalistische Demagogie in der Grundlinie entwickelt, deren sich gegenwärtig alle maßgeblichen politischen Repräsentanten der B R D bedienen, wenn sie die heuchlerische These von der „Einheit der deutschen Nation" kolportieren. Die Auffassungen Conzes und seiner Schüler werden von den rechten Führern der S P D und von der rechtssozialdemokratischen Geschichtsschreibung in der Grundlinie weitgehend geteilt. Dies ist durchaus „folgerichtig", da die rechten sozialdemokratischen Führer in der B R D mittlerweile „. . . vollständig auf die Positionen des staatsmonopolistischen Kapitalismus übergegangen sind und die Arbeiterklasse diesem System unterwerfen möchten." 3 9 Bei den Differenzen, welche zwischen den rechtssozialdemokratischen Politikern und Historikern einerseits, der bourgeoisen Conze-Gruppe andererseits bestehen, geht es vordergründig insbesondere um die Beurteilung Lassalles. 40 Für die vorliegende Arbeit sind selbstverständlich jene Differenzen besonders wichtig, die sich auf die Auseinandersetzung zwischen Lassalle und der Fortschrittspartei beziehen. Eine vielzitierte Äußerung Conzes besagt, Schulze-Delitzsch — der führende „Arbeiterpolitiker" der D F P — stehe dem Godesberger Programm näher als Lassalle. 41 Die ConzeSchule ergreift nachträglich für die Fortschrittler und gegen Lassalle Partei und bemüht sich nach Kräften, die Bedeutung Lassalles generell herabzusetzen. Diese Konzeption steht in deutlichem Widerspruch zum gleichsam „klassischen" rechtssozialdemokratischen Lassalle-Bild, das gekennzeichnet ist durch eine maßlose Aufbauschung der Bedeutung Lassalles als des angeblichen Begründers der deutschen Arbeiterbewegung sowie durch eine bejahende Hervorhebung seiner opportunistischen Staatsauffassung. Im Jahre 1963 zeichneten insbesondere C. Schmid 4 2 und K. Anders 43 dieses herkömmliche Lassalle-Bild von neuem nach. C. Schmid und K. Anders richten scharfe, undifferenzierte Angriffe gegen die „Arbeiterpolitik" der D F P und rechtfertigen pauschal die Politik Lassalles. Wie sind nun diese Differenzen zu erklären? In letzter Instanz reflektieren diese - Differenzen die Rivalität zwischen zwei ver-

Vorwort

XI

schiedenen Gruppierungen von Sachwaltern des Monopolkapitals der B R D . Es geht den Kontrahenten um den Nachweis, wer besser geeignet sei, die Interessen der imperialistischen Bourgeoisie — speziell hinsichtlich der „Integration" der Arbeiterklasse — wahrzunehmen. Und dieser Nachweis soll auch mittels historischer Leitbilder erbracht werden. Die Orientierung der Conze-Schule auf Schulze-Delitzsch bedeutet Orientierung auf eine unmittelbar von der Bourgeoisie gesteuerte Arbeiterbewegung. Die Orientierung des Gros der rechten Sozialdemokraten auf Lassalle hingegen bedeutet Orientierung auf eine opportunistische Arbeiterbewegung, welche die Interessen der Bourgeoisie wahrnimmt, aber dabei als deren selbständiger „Partner" handelt. Das konventionelle rechtssozialdemokratische Lassalle-Bild wurde in den letzten J a h r e n durch den israelischen sozialreformistischen Historiker Shlomo Na'aman, dessen Arbeiten größtenteils in der B R D veröffentlicht worden sind, erheblich modifiziert. Na'aman vertritt eine spezifische Variante der „Integrations"-Konzeption. 4 4 E r richtet gleichfalls heftige Angriffe speziell gegen Schulze-Delitzsch, hält aber Lassalle nicht für geeignet, der „Integration" der Arbeiterklasse als Leitbild zu dienen. Na'aman stellt nämlich die geradezu abstruse Behauptung auf, Lassalle sei bis zu seinem Tode Kommunist gewesen — ein Kommunist, der noch weiter „links" als Karl Marx und Friedrich Engels gestanden habe und „totalitärer" als diese gewesen sei. Als historische Leitbilder der „Integrations"-Konzeption fungieren bei Na'aman vor allem einerseits „soziale Demokraten" von der äußeren Linken der D F P wie F . A. Lange 4 5 und F . Ziegler, andererseits Vertreter der elementaren Arbeiterbewegung der J a h r e 1862/63 46 — und als zeitgenössisches Leitbild der israelische Sozialreformismus. Daneben gibt es in Na'amans Schriften aber auch Bemühungen, Marx und Engels zu „integrieren". Kennzeichnend für die Veröffentlichungen dieses Historikers sind eine umfangreiche Rezeption von Forschungsergebnissen der marxistischen Geschichtswissenschaft — wobei er freilich nahezu ohne entsprechende Zitate und Verweise auskommt — und sogar eine weitgehende formelle Verwendung marxistischer Terminologie. Jegliche ernsthafte wissenschaftliche Beschäftigung mit der Stellung der Fortschrittspartei zur Arbeiterbewegung hat von den grundlegenden Hinweisen auszugehen, welche die Klassiker des Marxismus-Leninismus hierzu gegeben haben. Von unschätzbarem Wert sind vor allem Friedrich Engels' Schrift „Die preußische Militärfrage und die deutsche Arbeiterpartei" ; 47 der Briefwechsel von Marx und Engels sowie W. I. Lenins Ausführungen zur „Linksschwenkung" eines Teils der preußischen und deutschen Bourgeoisie in den 60er J a h r e n des 19. Jahrhunderts. 4 8 Unentbehrlich für Forschungen zu unserem Untersuchungsgegenstand sind auch die Memoiren August Bebels 4 9 sowie Wilhelm Liebknechts Briefwechsel mit Marx und Engels. 5 0 Wichtige Aufschlüsse zum Verhältnis des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins und speziell seiner revolutionären proletarischen Opposition zur D F P enthalten die Veröffentlichungen Julius Vahlteichs. 5 1 Groß ist die Zahl der Arbeiten, in denen Franz Mehring, der bedeutendste marxistische Historiker der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung nach Marx und

XII

Vorwort

Engels, zur „Arbeiterpolitik" der D F P Stellung nimmt. 5 2 In diesen Arbeiten finden sich viele wichtige Fakten und treffende, brillant formulierte Einzelbemerkungen. Gleichzeitig aber enthalten diese Arbeiten aber auch einige Mängel. E s geht hierbei nicht nur um die fehlerhafte Beurteilung Lassalles durch Mehring und um seine Negierung der Möglichkeit einer bürgerlich-demokratischen Revolution in den 60er J a h r e n des 19. Jahrhunderts. 5 3 Speziell zur Beurteilung der D F P und ihrer „Arbeiterpolitik" durch Franz Mehring ist anzumerken: Mehring sieht — so sei pointiert gesagt — die D F P fast durchweg mit den Augen Lassalles und Schweitzers. E r verwendet die Bezeichnung „Fortschrittspartei" unkorrekt als Synonym für die liberale Bourgeoisie, wertet die Politik und speziell die „Arbeiterpolitik" der D F P ganz undifferenziert und einseitig negativ. Viel zu negativ wird insbesondere die äußerste Linke der D F P beurteilt, wobei die positive Einschätzung F . A. Langes eine Ausnahme bildet. Seitens der marxistisch-leninistischen Geschichtsschreibung der D D R liegen zur „Arbeiterpolitik" der D F P bislang lediglich zwei fundierte, freilich sehr knappe Skizzen vor, die beide aus der Feder von Gustav Seeber stammen. 5 4 Der Verfasser der vorliegenden Studie konnte aber den vorhandenen Überblicksdarstellungen zur deutschen Geschichte der 60er J a h r e des 19. Jahrhunderts und einer Anzahl solcher Arbeiten, die Teilaspekte des Untersuchungsgegenstandes berühren, wichtige Anregungen entnehmen. Es sei hier insbesondere auf die folgenden Veröffentlichungen verwiesen: den Grundriß „Klassenkampf—Tradition—Sozialismus" 5 5 , den B a n d 1 der „Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung" 5 6 , das Hochschullehrbuch von E r n s t Engelberg 5 7 , den Band 1 des sowjetischen Werkes „Germanskaja islorija . . Z' 58 , die Bücher von Rolf W e b e r 5 9 und Heinz Hümmler 6 0 , die Dissertation von H a n s - J ü r gen Friederici. 6 1 Darüber hinaus verdankt der Verfasser vor allem Arbeiten von Walter Schmidt und Siegfried Schmidt methodologische Impulse. 6 2 Bei der Erarbeitung der vorliegenden Untersuchung konnte der Verfasser sich nur in recht begrenztem Maße auf Archivalien stützen. Die benutzten Nachlässe der führenden Fortschrittler Franz Duncker, Max von Forckenbeck und Benedikt Waldeck erwiesen sich als gänzlich unergiebig. Lediglich der Nachlaß Friedrich Hammachers bot immerhin einige interessante Aufschlüsse über die Stellung prominenter rheinpreußischer Bourgeois zur Arbeiterklasse. Fakten über die Bemühungen der Reaktion, die Arbeiterbewegung gegen die D F P auszuspielen, fanden sich im Nachlaß von Karl Zitelmann, dem vertrauten Mitarbeiter Bismarcks. Reiches Material über den Berliner Arbeiterverein und sein Verhältnis zur Fortschrittspartei konnte den entsprechenden Akten des Berliner Polizeipräsidiums entnommen werden. Briefe und andere zeitgenössische Quellen fanden sich insbesondere in den folgenden Dokumentenpublikationen: in der Ausgabe von H. Schulze-Delitzschs S c h n i t ten, insbesondere im I I . und I I I . B a n d 6 3 ; im 1. Band von I I . Onckens BennigsenBiographie 6 4 ; in den Bänden „Die I. Internationale in Deutschland" 6 5 sowie Lange, F . A., „Über Politik . . .'