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German Pages 372 [373] Year 1963
DEUTSCHE AKADEMIE D E R WISSENSCHAFTEN ZU BERLIN S C H R I F T E N D E S I N S T I T U T S FÜR G E S C H I C H T E BAND 16
F R I T Z SCHAAF
Der Kampf der deutschen Arbeiterbewegung um die Landarbeiter und werktätigen Bauern 1848—1890
A K A D E M I E - V E R L A G
1962
•
B E R L I N
Erschienen im Akademie-Verlag G m b H , Berlin W 8 , Leipziger Str. 3—4 Copyright 1962 by Akademie-Verlag G m b H Lizenz-Nr.: 202 • 100/142/62 Gesamthersteilung: Druckhaus „Maxim G o r k i " , Altenburg Bestellnummer: 2083/I/16 • E S 14 E
INHALTSVERZEICHNIS
Vorwort Einleitung.
Kapitel I.
Kapitel II.
5 Die Bedeutung der Landarbeiter und werktätigen Bauern für den Kampf der deutschen Arbeiterbewegung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts
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Die Auffassungen von Karl Marx und Friedrich Engels sowie der Internationalen Arbeiterassoziation zur Landarbeiter- und Bauernfrage (1842-1871) . . . . . .
29
1. Karl Marx und Friedrich Engels 2. Die Internationale Arbeiterassoziation
29 49
Die Stellung der deutschen Arbeiterbewegung zur Landarbeiter- und Bauernfrage in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts 1. Die Lassalleaner unter Ferdinand Lassalle und Johann Baptist von Schweitzer 2. Der Eisenadier Kongreß von 1869 3. Die Auseinandersetzungen über die Grund- und Bodenbeschlüsse des Baseler Kongresses der Internationalen Arbeiterassoziation in der deutschen Arbeiterbewegung a) Der Widerhall der Baseler Grund- und Bodenbeschlüsse in Deutschland . . . b) Die Lassalleaner und die Baseler Beschlüsse zur Grund- und Bodenfrage . . c) Die Eisenadier und die Baseler Beschlüsse zur Grund- und Bodenfrage . . .
Kapitel III.
Die Politik der Eisenadier und Lassalleaner gegenüber dem Landproletariat und der werktätigen Bauernschaft von 1870 bis 1875 . . . 1. Einiges über die grundsätzliche Stellung der Eisenadier und Lassalleaner zur Landarbeiter- und Bauernfrage 2. Die Landarbeiter- und Bauernfrage auf den Kongressen der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschlands in Stuttgart 1870, Dresden 1871, Eisenach 1873 und Koburg 1874 . . . " 3. Zur Agitation der deutschen Arbeiterbewegung auf dem platten Lande . . . .
1*
71 71 85
91 91 94 99
115 115
124 136
Inhaltsverzeichnis 4. Der Kampf des deutschen Landproletariats gegen die junkerlich-bourgeoise Ausbeutung und Unterdrückung 5. Zum Kampf des Junkertums und der Bourgeoisie gegen die Bemühungen der deutschen Arbeiterbewegung, auf dem platten Lande Fuß zu fassen Kapitel IV.
Kapitel V.
Schluß.
151 169
Der Kampf der deutschen Sozialdemokratie um die werktätige Landbevölkerung in den Jahren 1875 bis 1878
189
1. Die Stellung der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands zur Landarbeiterund Bauernfrage 2. Zur Agitation der deutschen Sozialdemokratie auf dem platten Lande . . . .
189 205
Die Stellung der deutschen Sozialdemokratie zur Landarbeiter- und Bauernfrage und die sozialdemokratische Landagitation in den Jahren des Sozialistengesetzes
217
1. Das Sozialistengesetz und die sozialdemokratische Agitation auf dem platten Lande 2. Friedrich Engels' Hilfe für den Kampf der deutschen Sozialdemokratie um die Gewinnung der arbeitenden Klassen des platten Landes
220
3. Die prinzipielle Stellung der deutschen Sozialdemokratie zur Landarbeiter- und Bauernfrage 4. Zur Agitation der deutschen Sozialdemokratie auf dem platten Lande . . . .
226 242
Der erfolgreiche Kampf der deutschen Sozialdemokratie um die Landarbeiter und werktätigen Bauern - ein Sieg auf dem Wege zu einer marxistischen deutschen Arbeiterpartei
275
217
Quellenanhang
281
Literatur und Quellen
353
Personenregister
367
VORWORT
Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sidi um die überarbeitete und zum Teil stark erweiterte Fassung meiner Dissertationssdirift „Die deutsche Sozialdemokratie und die Landarbeiter (1869-1890)", die Ende 1956 von der Philosophischen Fakultät der Karl-MarxUniversität in Leipzig angenommen wurde. Die Erweiterung machte sich besonders deshalb notwendig, weil nach Abschluß der Promotion noch eine Fülle neuen Materials - vorwiegend in zeitgenössischen Zeitungen und Zeitschriften sowie in einigen staatlichen Archiven der Deutschen Demokratischen Republik und der Volksrepublik Polen - ermittelt werden konnte, das unbedingt zu berücksichtigen war. Hinzu kommt, daß nunmehr audi die Stellung der deutschen Sozialdemokratie zur Landarbeiter- und Bauernfrage, wie sie in den siebziger und achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts im deutschen Reichstag im Rahmen der Debatten um die Kontraktbruchfrage und die Sozialpolitik Otto von Bismarcks zum Ausdrude kam, Beachtung fand. Und nicht zuletzt mußten schließlich auch die für eine marxistisch-leninistische Geschichtsschreibung so außerordentlich bedeutsamen Hinweise über die nationalen Grundaufgaben der deutschen Arbeiterklasse berücksichtigt werden, die Walter Ulbricht - ausgehend von den heutigen Erfordernissen des politischen Kampfes um die demokratische und friedliche Wiedervereinigung Deutschlands - 1959 in seiner grundsätzlichen Arbeit „Des deutschen Volkes Weg und Ziel" dargelegt hat. 1 Die Schwierigkeit des behandelten Themas läßt die vorliegende Arbeit nur als einen Versuch gelten, die Haltung der deutschen Arbeiterbewegung zur Landarbeiter- und Bauernfrage und die politisch-agitatorische Tätigkeit tausender sozialdemokratischer Arbeiter unter der werktätigen Landbevölkerung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts darzustellen. Trotz aller notwendigen Einschränkungen soll damit zugleich nachgewiesen werden, daß die revolutionäre Arbeiterbewegung in Deutschland frühzeitig die große Bedeutung der landwirtschaftlichen Arbeiter und werktätigen Bauern für den gerechten politischen Kampf des Proletariats und die Verwirklichung demokratischer und sozialistischer Verhältnisse erkannte und sich demzufolge befleißigte, entsprechend der gegebenen Möglich1
Ulbricht, W., Des deutschen Volkes Weg und Ziel. I n : „Einheit. Zeitschrift f ü r Theorie und Praxis des wissenschaftlichen Sozialismus", hrsg. vom Zentralkomitee der Sozialistischen Einheit« partei Deutschlands, Nr. 9 vom September 1959, S. 1169 ff.
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Vorwort
keiten mit Erfolg auf dem platten Lande 'zu wirken. W e n n auch kritisch anzumerken ist, d a ß die alte deutsche Sozialdemokratie die Landarbeiter und werktätigen Bauern nur allzuwenig auf die nächste Aufgabe, den nationalen Kampf um eine demokratische Republik, orientierte, wird doch dabei deutlich, daß in Deutschland nur die revolutionäre Arbeiterbewegung unter der Führung von August Bebel und Wilhelm Liebknecht willens und in der Lage war, der werktätigen Landbevölkerung einen ihren Interessen entsprechenden Ausweg zu zeigen; einen Ausweg, der den landwirtschaftlichen Arbeitern und werktätigen Bauern den dauernden Besitz des Grund und Bodens und durch die sozialistisch-genossenschaftliche Organisation der Bodenbebauung im großen einen wachsenden Wohlstand garantierte. Sie vollbrachte damit, obwohl sie die objektiv vorhandenen revolutionärdemokratischen Potenzen der arbeitenden Landbevölkerung f ü r den Kampf gegen den preußisch-deutschen, junkerlich-bourgeoisen Militär- und Polizeistaat noch nicht voll erkannte, eine bedeutende historische Leistung. Die von der deutschen Sozialdemokratie angestrebte Lösung der Agrarfrage stand schroff dem reaktionären junkerlich-kapitalistischen W e g der Entwiddung der Landwirtschaft gegenüber, der in letzter Konsequenz zur massenhaften Expropriation der werktätigen Bauern führen mußte und in der T a t auch dazu führte. Der Kampf der deutschen Arbeiterbewegung um eine demokratische und sozialistische Lösung der Agrarfrage war und ist deshalb ein Kampf um die Befreiung der Landarbeiter und werktätigen Bauern von jeglicher Ausbeutung und Unterdrückung, ein Kampf um die Beseitigung jeglicher N o t und jeglichen Elends der arbeitenden Bevölkerung des platten Landes, ein Kampf um die Erhaltung des bäuerlichen Besitzes an Grund und Boden, ein Kampf um die Rückgewinnung des Grund und Bodens in die H ä n d e derer, die ihn bearbeiten, ein Kampf aber auch um die Stärkung d e r w a h r h a f t nationaldenkenden und nationalhandelnden Schichten des deutschen Volkes. Es versteht sich von selbst, daß die Untersuchung der Stellung der deutschen Arbeiterbewegung zur Landarbeiter- und Bauernfrage f ü r das heutige Deutschland, das durch die Schuld der imperialistischen Kräfte gespalten wurde, von höchster Aktualität ist. Nach der endgültigen Zerschlagung des unheilvollen Hitlerfaschismus im Jahre 1945 zeichneten sich in unserem Vaterlande sehr bald zwei verschiedene Entwicklungslinien ab, die entgegen dem demokratischen Wollen der Mehrheit der deutschen Bevölkerung immer mehr dazu führten, daß auch die Agrarverhältnisse beider deutscher Staaten nichts Gemeinsames mehr besitzen. W ä h r e n d auf dem Territorium der Deutschen Demokratischen Republik die Großgrundbesitzer durch die demokratische Bodenreform entmachtet und enteignet wurden, die Landarbeiter und landarmen Bauern dadurch wieder in den Besitz des ihnen gehörenden und von ihnen bewirtschafteten Bodens gelangten und in der neuesten Zeit dazu übergingen, zu ihrem eigenen Vorteil und zum Nutzen des gesamten werktätigen Volkes allen Grund und Boden auf sozialistisch-genossenschaftlicher Grundlage gemeinsam zu bebauen, wurde in Westdeutschland, wo die alten gesellschaftlichen Kräfte wieder das Übergewicht erlangten, das sich unrechtmäßig in den H ä n d e n der Großgrundbesitzer befindliche bäuerliche Eigentum nicht angetastet. Das hatte aber zum Ergebnis, daß in Westdeutschland heute noch hunderttausende Landarbeiter und werktätige Bauern nicht zuletzt durch die jetzigen Herren des Grund und Bodens ausgebeutet und unterdrückt werden; eine Ausbeutung und Unterdrückung, die sich in den letzten Jahren infolge der dadurch geförderten imperialistisch-militaristischen Entwicklung Westdeutschlands nicht nur
Vorwort
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ständig verschärfte, sondern in Hunderttausenden von Fällen eingestandenermaßen bereits zum ökonomischen Untergang ehemals selbständiger werktätiger Bauern führte. Den Landarbeitern und werktätigen Bauern Westdeutschlands durch eine Darstellung der sozialdemokratischen Agrarpolitik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Weg zu zeigen, wie sie sidi von jeglicher Ausbeutung und Unterdrückung befreien können, und sie darauf hinzuweisen, daß nur das revolutionäre Proletariat allein willens und in der Lage ist, ihnen selbstlos dabei zu helfen, erscheint mir eine Notwendigkeit. Den ehemaligen Landarbeitern und Kleinbauern in der Deutschen Demokratischen Republik, die heute geschlossen zur sozialistisch-genossenschaftlichen Produktion übergegangen sind, durch die vorliegende Arbeit verständlich zu machen, daß der Weg, den sie unter der Führung der Partei der Arbeiterklasse eingeschlagen haben, auf wissenschaftlichen Grundlagen beruht und die volle Wiederherstellung der bäuerlichen Freiheiten zur Folge hat, ist ebenfalls angebracht. Es wird sie befähigen, ihre sozialistisdi-genossenschaftlidien Gegenwartsaufgaben, die von großer nationaler Bedeutung sind, noch besser zu lösen. Soviel mir bekannt ist, gibt es von Seiten der bürgerlichen Wissenschaft keine Bearbeitung des vorliegenden Themas. Auch seitens der marxistischen Historiker bzw. anderer Geschichtsschreiber aus der Arbeiterbewegung liegen meiner Kenntnis nach keine zusammenfassenden Darstellungen darüber vor. Wenn sich einzelne Autoren mit der Stellung der deutschen Arbeiterbewegung zur Agrarfrage beschäftigten, was relativ oft der Fall war, dann behandelten sie vorzugsweise, allerdings nur im allgemeinen, die marxistische Agrartheorie oder die Agrarpolitik der einen oder anderen Richtung in der deutschen Sozialdemokratie, gingen jedoch kaum auf den praktisch-politischen Kampf der deutschen Arbeiterbewegung um die Gewinnung der Landarbeiter und werktätigen Bauern für die demokratische Umgestaltung des preußisch-deutschen Militär- und Polizeistaates und die Ziele der sozialistischen Revolution ein. Lediglich Wilhelm Cohnstaedt befaßte sich in seinem Buche „Die Agrarfrage in der deutschen Sozialdemokratie von Karl Marx bis zum Breslauer Parteitagallerdings vom revisionistischen Standpunkt aus, mit der Stellung der deutschen Sozialdemokratie zur Landarbeiter- und Bauernfrage, wobei er, wenn auch völlig ungenügend, die praktische Agitation der deutschen Arbeiterbewegung auf dem platten Lande berücksichtigte, die Bedeutung der Landarbeiter und werktätigen Bauern für den Kampf um eine demokratische Republik in Deutschland jedoch ebenfalls ganz außer Acht ließ. Das in der vorliegenden Arbeit verwertete Material mußte deshalb in der Hauptsache in einer großen Zahl von Büchern, Schriften, Broschüren, Artikeln, Protokollen, Zeitungen, Zeitschriften und Aktenbänden staatlicher Archive aufgespürt werden. Dabei kann mit ziemlicher Sicherheit angenommen werden, daß bei weitem noch nicht das gesamte, tatsächlich existierende Material ausgegraben wurde, was überhaupt eine Aufgabe ist, die von einem einzelnen kaum gelöst werden kann. Die eingehende Durchsicht aller Presseorgane der deutschen Arbeiterbewegung, des Junker- und des Bürgertums sowie der einschlägigen Bestände der bestehenden Archive wird zweifelsohne noch eine Vielzahl weiterer wichtiger Fakten zutage fördern, zumal in den siebziger und achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts die junkerlich-großbürgerliche Reaktion aus leicht verständlichen Gründen sehr aufmerksam die Tätigkeit der deutschen Sozialdemokratie auf dem platten Lande verfolgte und bekämpfte. Am Gesamtbild meiner Arbeit, so glaube ich, würde sich dadurch aber kaum etwas verändern.
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Vorwort
Aus der Tatsadie heraus, daß das vorliegende Thema in umfassender Weise bisher nidit bearbeitet wurde, hielt idi es für notwendig, die zum großen Teil erstmalig veröffentlichten Quellen sehr oft und recht ausführlich selbst spredien zu lassen sowie der Arbeit einen kleinen Quellenanhang beizugeben. Die Orthographie und Interpunktion wurden dabei in der Regel modernisiert. Abschließend darf ich all denen danken, die mich in der einen oder anderen Weise bei der Überarbeitung und Erweiterung der vorliegenden Arbeit unterstützt haben. Mein besonderer Dank gebührt jedodi Herrn Professor Dr. Engelberg, der mir durch mandie widitige Anregung seine Hilfe lieh. August 1960 Der Verfasser
EINLEITUNG
Die Bedeutung der Landarbeiter und werktätigen Bauern für den Kampf der deutschen Arbeiterbewegung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts
Der Kampf um die Gewinnung der Landarbeiter und werktätigen Bauern für die demokratischen und revolutionären Ziele der proletarischen Bewegung ist eine der entsdieidenden Aufgaben aller sozialistisch orientierten Arbeiter, die den fortgeschrittensten Teil des Proletariats verkörpern. Von der Lösung dieser Frage hängt im hohen Maße der Sieg der Demokratie und des Sozialismus ab. Die historisdie Mission der Arbeiterklasse, die darin besteht, für die Befreiung aller Ausgebeuteten und Unterdrückten vom Jodi des Kapitalismus und damit für wahrhaft demokratische Verhältnisse zu kämpfen, kann nur erfüllt werden, wenn das Proletariat die politische Macht erobert. Diese revolutionäre Aufgabe vermag es aus eigenen Kräften, d. h. ohne die aktive Unterstützung anderer werktätiger Klassen und Schichten, nicht zu verwirklichen. Bleibt es nämlich allein auf sich selbst gestellt, kann es den errungenen Sieg auf die Dauer nicht sichern. Der Bestand der sozialistischen Revolution ist erst dann garantiert, wenn die arbeitende Landbevölkerung tätigen Anteil an den politischen und ökonomischen Umwälzungen nimmt und mit dafür sorgt, daß auch auf dem platten Lande neue, sozialistische Verhältnisse geschaffen werden. Gelingt es aber der Arbeiterklasse, das Landproletariat und die werktätige Bauernschaft noch während der Herrschaft der Bourgeoisie - zumindest zu einem Teil - für die demokratischen und revolutionären Bestrebungen der Arbeiterbewegung zu gewinnen und, soweit möglidi, zu organisieren, werden natürlich die Durchführung der proletarischen Revolution und der darauffolgende Aufbau der neuen, sozialistischen Gesellschaftsordnung sehr erleichtert. In diesem Falle entwickelt das industrielle Proletariat eine unvergleichlich größere Durchschlagskraft. Es tritt nicht nur mit einer weit zahlreicheren Armee in die entscheidende Klassenauseinandersetzung ein, sondern ist unter diesen Umständen außerdem in der Lage, den Angriff auf das herrschende kapitalistische Gesellschaftssystem gleichzeitig in der Stadt und auf dem Lande zu beginnen. Einem solchen geschlossenen Ansturm auf breitester Front ist der Kapitalismus nicht gewachsen. Daraus ergibt sich, daß die Einbeziehung des Landproletariats und der werktätigen Bauernschaft in den Kampf der revolutionären Arbeiterbewegung um die Verwirklichung der Demokratie und des Sozialismus von hervorragender Bedeutung ist. Um dieses Ziel
Einleitung
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zu erreichen, bedarf es aber der geduldigen und beharrlichen politischen Arbeit auf dem platten Lande. Eine proletarische Partei, deren Kampf für eine demokratische und sozialistische Gesellschaftsordnung ernst genommen werden soll, muß deshalb ständig um die arbeitende Landbevölkerung ringen. Ein Blick in die bisherige Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung bestätigt, daß immer dann das revolutionäre Proletariat umwälzende Erfolge erkämpfen konnte, wenn es ihm gelang, bedeutende Teile des Landproletariats und der werktätigen Bauernschaft auf seine Seite zu ziehen. Überall dort, wo die sozialistische Revolution zum Siege führte oder auf dem besten Wege ist, zum Siege zu führen, wie in der Sowjetunion und in den europäischen und asiatischen Volksrepubliken, stützten sich und stützen sich noch heute die industriellen Arbeiter besonders auf die werktätige Landbevölkerung. Alle übrigen Versuche dagegen, die politische und ökonomische Macht der Bourgeoisie zu brechen und auf den Trümmern des bürgerlichen Staates eine neue, von jeglicher Ausbeutung und Unterdrückung freie demokratische und sozialistische Gesellschaftsordnung aufzurichten, scheiterten letzten Endes, weil versäumt wurde, auch das Land zu revolutionieren. Bekanntlich lag darin eine der Ursachen der Niederlage der Pariser Kommune, des ersten Staates der Diktatur des Proletariats. *
Dieses revolutionäre Prinzip galt auch für die deutsche Arbeiterbewegung des vorigen Jahrhunderts. Angesidits der komplizierten inneren Entwicklung Deutschlands nach der bürgerlich-demokratischen Revolution von 1848/49, die eine Niederlage erlitten hatte, gewann der Kampf um die Gewinnung der Landarbeiter und werktätigen Bauern für Demokratie und Sozialismus sogar eine besondere Bedeutung; eine Bedeutung auch für den nationalen Kampf um die Einführung demokratischer und antimilitaristischer Verhältnisse in Deutschland. Das Streben der ausgebeuteten und unterdrückten Volksmassen in Deutschland gipfelte damals schon, zur Mitte des 19. Jahrhunderts, im Sozialismus. Für den größten Teil des städtischen Proletariats und nodi mehr für die Landarbeiter und werktätigen Bauern war das allerdings nur ein vager Begriff, der vielfach noch keine realen Vorstellungen zu erwecken vermochte. Ebenso unklar war den arbeitenden Massen der Weg, der beschritten werden mußte, um dieses hehre Ziel zu erreichen. Ein konkretes Bild davon konnten sich zu jener Zeit nur wenige machen. Dazu gehörten vorwiegend die Mitglieder des Bundes der Kommunisten, die für die Verwirklichung einer demokratischen und sozialistischen Gesellschaftsordnung bewußt eintraten und leidenschaftlich stritten. Ihnen verschaffte die theoretische und praktisch-politische Tätigkeit von Karl Marx und Friedrich Engels frühzeitig die notwendige Einsicht, daß der Aufbau des Sozialismus erst dann begonnen werden kann, wenn in Deutschland die einheitliche demokratische Republik erkämpft worden ist und darüber hinaus alle Ausbeuter- und Unterdrückerklassen politisch und ökonomisch entmachtet sind. Dem Kampf um die Errichtung des Sozialismus mußte der Kampf um die Verwirklichung der Demokratie und die Eroberung der politischen und ökonomischen Macht durch das Proletariat vorausgehen.
Einleitung
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In England und Frankreich, im 19. Jahrhundert die gesellschaftlich fortgeschrittensten Länder Europas, standen sich im wesentlichen die Bourgeoisie und das Proletariat gegenüber.1 Die Klasse der Feudalherren spielte hier keine Rolle mehr. Ihre politische und ökonomische Macht war bereits im siebzehnten bzw. achtzehnten Jahrhundert von der revolutionären Bourgeoisie dieser beiden Länder gebrochen worden. Insoweit es dabei einigen feudalen Grundherren gelungen war, Teile ihres „Eigentums" an Grund und Boden in die bürgerliche Zeit hinüberzuretten, mußten sie sich unter dem ehernen Zwang der kapitalistischen Entwidmung den neuen ökonomischen und politischen Verhältnissen anpassen. Nidit wenige wurden selbst zu Kapitalisten. Demzufolge gestaltete sich in diesen beiden Ländern der Klassenkampf verhältnismäßig einfach. Die englische und französische Bourgeoisie, die ihre Macht mit keiner anderen Ausbeuter- und Unterdrückerklasse teilte, bildete die Klasse, welche das industrielle und ländliche Proletariat sowie die übrigen werktätigen Schichten der Stadt und des platten Landes allein ausbeutete und unterdrückte. Deren Kampf mußte sich daher in erster Linie gegen die industrielle, landwirtschaftliche und kommerzielle Bourgeoisie Englands und Frankreichs und deren Staat richten.2 Anders in Deutschland. Hier hatte bis zum Jahre 1848 noch keine bürgerliche Revolution im gesamtnationalen Maßstab stattgefunden, die den Feudalismus liquidierte und an dessen Stelle den Kapitalismus setzte. Die feudalen Grund- und Gutsherren herrschten nach wie vor uneingeschränkt. Im Gefolge der epochemachenden französischen Revolution von 1789 war es lediglich links des Rheines zur revolutionären Beseitigung der feudalen Zustände gekommen, während im übrigen Deutschland nur einige bürgerliche Reformen zur Durchführung gelangten, deren ursprünglicher Charakter von den Junkern obendrein verfälscht wurde. Diese Refor1
Natürlich bildeten in England und Frankreich die Bourgeoisie und das Proletariat nicht die einzigen Klassen; in Frankreich noch weniger als in England. Neben diesen beiden Hauptklassen existierten nodi, besonders in Frankreich, das zahlenmäßig sehr starke Kleinbürger- und das Kleinbauerntum. Gerade wegen ihrer zahlenmäßigen Stärke dürfen beide nicht unterschätzt werden, obwohl ihre selbsttätige politische Kraft mehr und mehr geringer wurde.
2
Vgl. dazu den folgenden Gedanken von Friedrich Engels: „Der moderne Arbeiter, der Proletarier, ist ein Produkt der großen industriellen Revolution, welche namentlich in den letzten hundert Jahren in allen zivilisierten Ländern die ganze Produktionsweise, zuerst der Industrie und nachher auch des Ackerbaues, total umgewälzt hat und infolge deren an der Produktion nur noch zwei Klassen beteiligt sind: die der Kapitalisten, welche sich im Besitz der Arbeitshilfsmittel, der Rohmaterialien und der Lebensmittel befinden, und die der Arbeiter, welche weder Arbeitshilfsmittel noch Rohmaterialien noch Lebensmittel besitzen, sondern sich diese letzteren mit ihrer Arbeit von den Kapitalisten erst kaufen müssen. Der moderne Proletarier hat also direkt nur mit einer Gesellschaftsklasse zu tun, die ihm feindlich gegenübersteht, ihn ausbeutet, mit der Klasse der Kapitalisten, der Bourgeois. In Ländern, wo diese industrielle Revolution vollständig durchgeführt ist. wie in England, hat der Arbeiter wirklich auch nur mit Kapitalisten zu tun, denn auch auf dem Lande ist der große Cutspächter nichts als ein Kapitalist (Hervorhebungen von mir, F. Sch.); der Aristokrat, der nur die Grundrente seiner Besitzungen verzehrt, hat mit dem Arbeiter absolut keine gesellschaftlichen Berührungspunkte" (Engels, F., Die preußische Militärfrage und die deutsche Arbeiterpartei. In: Marx, Engels, Lenin, Stalin, Zur deutschen Geschichte. Bd. U/1, Berlin 1954, S. 827).
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Einleitung
men hatten eine Stärkung des bereits vorhandenen kapitalistischen Elements zur Folge und leiteten die kapitalistische Entwicklung der Landwirtschaft ein. Gleichzeitig damit bildete sidi das moderne städtische und ländliche Proletariat heraus. Als im März 1848 die bürgerlich-demokratische Revolution schließlich auch in Deutschland begann, fanden sich höchst komplizierte Klassenverhältnisse vor. Dem Feudaladel, der um die Existenz seiner reaktionären Vorherrschaft und um die Erhaltung seines Grundbesitzes kämpfte, stand die junge, aufstrebende Bourgeoisie gegenüber, die beabsiditigte, die politische Macht an sich zu reißen, um den Weg für eine schnelle kapitalistische Entwicklung zu ebnen. Als selbständige Klasse betrat außerdem das Proletariat, das bereits eigene Forderungen anmeldete, die Arena der Revolution, in der auch die kleinbürgerlichen! Schichten eine nicht geringe Aktivität entfalteten. Die Arbeiterklasse, in derem Schöße die soziale und politische Zukunft des deutschen Volkes ruhte, hatte in jener Zeit, obwohl sie noch wenig entwickelt und deshalb kaum organisiert war, schon unübersehbare Beweise ihrer revolutionären Kraft und ihres heroischen Mutes geliefert. Im Sommer 1844 hatten die aufständischen schlesischen Weber der Bourgeoisie einen gewaltigen Schrecken eingejagt; sie konnten nur mit Hilfe der preußischen Soldateska niedergeschlagen werden. Vier Jahre darauf, in den hoffnungsvollen Märztagen des Jahres 1848, waren es wiederum Arbeiter, die auf den Barrikaden Berlins, und anderer deutscher Städte selbstlos kämpften und den Sieg über die feudale Reaktion erfochten. Zudem besaß das Proletariat im „Manifest der Kommunistischen Partei", das am Vorabend der bürgerlichen Revolution in Deutschland von Karl Marx und Friedrich Engels verfaßt worden war, ein wissenschaftlich fundiertes, revolutionäres Programm, welches keinen Zweifel über die nächsten Aufgaben und letzten Ziele der Arbeiterbewegung zuließ. „In Deutschland", hieß es darin, „kämpft die kommunistische Partei, sobald die Bourgeoisie revolutionär auftritt, gemeinsam mit der Bourgeoisie gegen die absolute Monarchie, das feudale Grundeigentum und die Kleinbürgern. Sie unterläßt aber keinen Augenblick, bei den Arbeitern ein möglichst klares Bewußtsein über den feindlichen Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat herauszuarbeiten, damit die deutschen Arbeiter sogleich die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen, welche die Bourgeoisie mit ihrer Herrschaft herbeiführen muß, als ebenso viele Waffen gegen die Bourgeoisie kehren können, damit, nach dem Sturz der reaktionären Klassen in Deutschland, sofort der Kampf gegen die Bourgeoisie selbst beginnt. Auf Deutschland richten die Kommunisten ihre Hauptaufmerksamkeit, weil Deutschland am Vorabend einer bürgerlichen Revolution steht, und weil es diese Umwälzung unter fortgeschritteneren Bedingungen der europäischen Zivilisation überhaupt und mit einem viel weiter entwickelten Proletariat vollbringt als England im siebzehnten und Frankreich im achtzehnten Jahrhundert, die deutsche bürgerliche Revolution also nur das unmittelbare Vorspiel einer proletarischen Revolution sein kann." 3 3
Marx/Engels,
Manifest der Kommunistischen Partei. In: Marx/Engels, Ausgewählte Schriften in
zwei Bänden. Bd. I, Berlin 1951, S. 5 3 - 5 4 . 4
Friedrich Engels wies einmal darauf hin, daß die deutsche Bourgeoisie 1848 „nicht so sehr vor dem deutschen wie vor dem französischen Proletariat" erschrak. „Die Pariser Junisdiladit 1 8 4 8
Einleitung
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Dieses machtvolle und selbständige Auftreten der Arbeiterklasse erfüllte die deutsche Bourgeoisie noch während ihrer eigenen Revolution mit Angst und Schrecken 4 , kaufte ihr jeden revolutionären Schneid ab und trieb sie schließlich „in die Arme der eben besiegten Gegner - der monarchischen, bureaukratischen, halbfeudalen und militärischen Reaktion, der die Revolution 1 8 4 9 erlag" 5 . Aus Furcht vor dem Proletariat fiel das Bürgertum dem heldenhaften Kampf der breiten Massen des Volkes feig in den Rücken und schloß mit der alten Feudalklasse einen faulen Kompromiß, der sich hauptsächlich gegen die entstehende Arbeiterbewegung richtete und die Restaurierung der politischen Herrschaft der feudalen Grund- und Gutsherren zur Folge hatte. Damit verriet die deutsche Bourgeoisie ihre eigenen revolutionären Aufgaben und zugleich die sozialen und nationalen Interessen der großen Mehrheit des Volkes, darunter die Interessen der Bauern, ihrer natürlichen Verbündeten. In politischer Hinsicht war sie vorzeitig eine konterrevolutionäre Klasse geworden. Die Auswirkungen dieses reaktionären Kompromisses auf den Verlauf und den Ausgang der bürgerlich-demokratischen Revolution in Deutschland waren verheerend. Trotz aller gegebenen Voraussetzungen gelang es nicht, auch nur eine ihrer Hauptaufgaben zu lösen. Die Forderungen aller fortschrittlich-bürgerlichen Kräfte, die in der Beseitigung der feudalen Zustände und der Schaffung einer einheitlichen, bürgerlich-demokratischen Republik kulminierten, konnten nicht erfüllt werden. Die Bourgeoisie erzielte lediglich einen ökonomischen Erfolg. Für ihren politischen Verrat erhielt sie die Möglichkeit, sich in wirtschaftlicher Hinsicht relativ rasch zu entwickeln; eine Chance, die sie weitgehend nutzte. In Anbetracht dessen, daß eine siegreiche bürgerliche Revolution der kapitalistischen Entwicklung viel größere Perspektiven eröffnet hätte, war dieser Erfolg jedoch gering. Demgegenüber vermochte die alte Feudalklasse ihre Machtpositionen wieder einzunehmen. Unter anderem blieb auch das Königreich Preußen, der Hort der feudalen Reaktion in Deutschland, samt seinem ostelbischen Junkertum bestehen, was der künftigen deutschen Geschichte einen betont preußisch-reaktionären Charakter aufprägte. Der unheilvolle Kompromiß zwischen Bourgeoisie und Feudaladel zwang die Arbeiterbewegung, die Strategie und Taktik ihres politischen Kampfes zu ändern. Das Proletariat, das im eigenen Interesse die deutsche Bourgeoisie unterstützen mußte, solange sie revolutionär gegen die feudale Reaktion auftrat, sah sich nach dem Verrat des Bürgertums gezwungen, auch diese Klasse zu bekämpfen. Das Zurückweichen der Bourgeoisie vor ihren historischen Aufgaben forderte die schonungslose Kritik der bewußten Vertreter des arbeitenden Volkes heraus. In erster Linie war jedoch nach wie vor der konsequente Kampf gegen die Kräfte des Feudalismus notwendig; denn die feudalen Grund- und Gutsherren, die sich nach der Revolution von 1 8 4 8 / 4 9 mehr als vorher auf die kapitalistischen Ausbeutungsverhältnisse in der Landwirtschaft orientierten, die sich immer mehr der kapitazeigte ihr", schrieb er, „was sie zu erwarten habe; das deutsche Proletariat war gerade erregt genug, um ihr zu beweisen, daß auch hier die Saat für dieselbe Ernte schon im Boden stecke; und von dem Tage an war der politischen Aktion der Bourgeoisie die Spitze abgebrochen" (Engels, F., Der deutsche Bauernkrieg [Vorbemerkung]. In: Marx/Engels, Ausgewählte Schriften in zwei Bänden. Bd. I, Berlin 1951. S. 611). 6Engels, F.. Die Rolle der Gewalt in der Geschichte. In: Marx, Engels. Lenin. Stalin, a. a. O., Bd. II/2. Berlin 1954, S. 1054.
Einleitung
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listischen Produktionsweise anpaßten, die nach und nach selbst zu Kapitalisten wurden und die die politische Macht wieder fest in ihren Händen hielten, erwiesen sich noch immer als die unmittelbarsten Gegner des Proletariats. •
Worauf beruhte die politische Macht der feudalen Reaktion? Ihre ökonomische Hauptbasis war der Großgrundbesitz, der sich vorwiegend in den ostelbischen preußischen Provinzen und in Mecklenburg konzentrierte. 6 Zumeist befand er sich in den Händen des alten Feudaladels, gehörte aber auch sdion zum Teil bürgerlichen Eigentümern an. 7 Aus der Klasse der Großgrundbesitzer ragten die Magnaten hervor, die in der Regel nicht nur ein Gut latifundialen Ausmaßes, sondern mehrere dieser Art ihr eigen nannten. So besaßen beispielsweise allein in der Provinz Schlesien neunundzwanzig Gutsherren je einen Grundbesitz von mehr als 1 2 0 0 0 Morgen, davon vierzehn, von denen jeder einzelne über ein Areal zwischen 5 0 0 0 0 und 1 7 5 0 0 0 Morgen verfügte. 8 Ähnlich e
In den sieben ostelbischen Provinzen des Königreichs Preußen (Ostpreußen, Westpreußen, Pommern, Posen, Brandenburg. Schlesien und Sadisen) nahmen nach der Betriebszählung vom 14. Juni 1895 18649 Güter mit über 100 ha allein 40,94 % der Gesamtfläche des Bodens ein. Dem standen 1723173 Güter unter 100 ha mit 5 9 , 0 6 % der Gesamtfläche gegenüber. In ganz Preußen waren die entsprechenden Zahlen die folgenden: 20390 Güter über 100 ha nahmen 3 0 , 9 4 % der Gesamtfläche ein. denen 3287736 Güter unter 100 ha mit 6 9 , 0 6 % der Gesamtfläche gegenüberstanden. Sdion daraus zeigt sich, daß sich der große Grundbesitz in Deutschland in der Hauptsache östlich der Elbe vorfand. Das wird noch deutlicher, wenn man sich die entsprechenden Zahlen der einzelnen Provinzen vor Augen hält: Provinz
100--200 ha
Ostpr. Westpr. Pommern Posen Brdbrg. Sdiles. Sadisen Kgr. Pr.
7
8
200--500 ha
% d. Ges.flädie
995 346 497 009 608 262 885
1680 1994 760 753 737 1038 773
9,05 9.02 5,14 5,05 4.51 5,83 6,24
1268 818 1229 1105 836 1447 652
15,74 15.84 20,42 17.51 12.20 17,35 11,90
483 417 804 747 537 366 185
18,80 29.57 29,63 18.53 10.68 9.41
3 308 126
8697
5,57
8050
12.08
3643
13,29
226 158 181 206 284 375 307
Zhl. d. Betr.
über 500 ha
Zhl. d. Betr.
Betriebe öberhpt.
% d. Ges.flädie
Zhl.d. Betr.
% d. Ges. fläche 14.68
(Vgl. Backhaus, A., Agrarstatistische Untersuchungen über den preußischen Osten im Vergleich zum Westen. Berlin 1898, S. 28,) Bereits zur Mitte des 19. Jahrhunderts gab es in Deutschland eine Anzahl Güter mit weit über 100 ha, die sich in bürgerlichen Händen befanden (vgl. Kautsky, K.. Die Agrarfrage. Eine Übersicht über die Tendenzen der modernen Landwirtschaft und die Agrarpolitik der Sozialdemokratie. 2. Aufl., Stuttgart 1902, S. 151). Nach 1871 stieg die Zahl der bürgerlichen Großgrundbesitzer rasch an; eine Erscheinung, auf die u. a. Th. Frh. o. d. Goltz in seinem Buche »Die ländliche Arbeiterklasse und der preußische Staat", Jena 1893, S. 181, hinwies. Laut Mitteilung der Berliner „Volks-Zeitung", welche die Angaben der „Weser-Zeitung" entnommen hatte, besaßen:
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Einleitung
lagen die Verhältnisse in den übrigen Teilen Ostelbiens. 9 Audi hier dominierten einige Feudalherren, deren Macht sich auf riesige Latifundien stützte. Und schließlich gab es noch die große Masse der mittleren Großgrundbesitzer, der Junker, die ebenfalls jeweils weit über 1 0 0 ha an Grund und Boden bewirtschafteten. Durdi die sogenannte „Bauernbefreiung" in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die nicht zur Befreiung der Masse der Bauern, sondern zur mächtigen Stärkung der ökonomischen und politischen Machtpositionen der reaktionären Feudalklasse in ganz Deutschland, besonders im Königreich Preußen, führte, war es den großen Grundbesitzern gelungen, ihren ohnehin schon beträchtlichen Landbesitz und ihr flüssiges Kapital auf Kosten der Bauern noch gewaltig zu mehren. In einem Zeitraum von etwa fünfzig Jahren ( 1 8 1 6 bis 1865) entzogen allein die preußischen Junker den Bauern 1 6 4 6 121 Morgen fruchtbaren Ackerlandes, 3 5 2 4 2 2 4 9 Taler baren Kapitals, 5 4 9 0 1 2 8 Taler jährlich zu entrichtende Geldrcnten und 3 1 5 591 Scheffel jährlich abzuliefernde Roggenrenten. 10 Darin sind Graf York von Wartenburg auf Klein-Oels Graf Burghauß von Laasan Geh. Komm. Rat Schüller in Düren Großherzogin von Sadisen-Weimar Graf Prasdima auf Falkenberg Herzog von Sagan Baron Rothschild auf Sdiillersdorf Graf von Oppersdorf auf Oberglogau Graf von Magnis auf Eckersdorf H. U. Graf Schaffgotsdi-Koppitz Fürst Lidinowski auf Kudielna Graf von Rothenburg in Holstein Graf Hochberg auf Rohnstodc Reidisgraf von Maitzahn auf Militsdi Graf Stradiwitz auf Stubendorf von Thiele-Winkler Graf H. Henkel von Donnersmardc-Naclo Fürst Carolath-Beuthen Prinz Biron-Curland-Polnisdi-Wartenberg Fürst Herrn, von Hatzfeld-Tradienberg Prinz von Hohenlohe-Ingelfingen Graf G. Henkel von Donnersmardc Herzog von Ujest-SIawenzütz Reichsgraf Schaffgotsch-Warmbrunn Graf Renard-Gr.-Strehlitz Herzog von Ratibor-Rauden Prinz Fr. der Niederlande. Erbinnen Fürst von PIeß Herzog von Braunschweig Insgesamt
12 13 18 23
204 116 330 022
Morgen Morgen Morgen Morgen
23 484 24 464 24 696 25 360 26 112 31 236 33 084 34 448 34 774 41 604 46 648 53 864 57 272 64 112 70 088 76 700 86 180 92 008
Morgen Morgen Morgen Morgen Morgen Morgen Morgen Morgen Morgen Morgen Morgen Morgen Morgen Morgen Morgen Morgen Morgen Morgen
114 126 127 131 142 150 176
568 276 988 360 100 764 992
Morgen Morgen Morgen Morgen Morgen Morgen Morgen
1 882 913 Morgen
(„Volks-Zeitung. Organ für Jedermann aus dem Volke, Berlin, Nr. 194, Zweites Blatt, 20. August 1882.) 9 Vgl. dazu Häbisch, Th.. Deutsche Latifundien. Ein Beitrag zur Berichtigung unserer Vorstellungen von der bestehenden Verteilung des ländlichen Grundeigentums. Königsberg i. Pr. 1929, S. 144 bis 155. - Th. Häbich führte nach dem Stande von 1925 eine Liste mit 139 Namen an. Daraus lassen sich jedoch sehr reale Rückschlüsse auf die Grundbesitzverhältnisse im 19. Jahrhundert ziehen. 10 Meitzen, A.. Der Böden und die landwirtschaftlichen Verhältnisse des Preußischen Staates nach
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die ungezählten Morgen des Ackerlandes der Bauern, die von den Junkern ohne jedes Ablösungsgeschäft willkürlich und gewaltsam vom Grund und Boden verjagt worden waren, nicht berücksichtigt. Friedrich Engels berechnete die Gesamtsumme, um die allein die preußischen Bauern geprellt wurden, mit einer Milliarde Mark. 1 1 Dieser Raubzug, der seinesgleichen sucht, versetzte die Junker in die Lage, nach der Revolution von 1 8 4 8 / 4 9 , als mit der schnellen Entwicklung der kapitalistischen Industrie auch eine raschere Entwicklung des Kapitalismus in der Landwirtschaft begann, ihre landwirtschaftlichen Betriebe zu modernisieren. Neue Maschinen und Geräte wurden angeschafft, Felder und Wiesen drainiert, neue Stallungen und Scheunen errichtet. In verstärktem Maße gingen die großen Gutsbesitzer auch zur Inbetriebnahme von Schnapsbrennereien, Zudcerrüben- und Stärkefabriken, Mühlen und anderen landwirtschaftlich-industriellen Objekten über. D a ß dieser Vormarsch des Kapitalismus auf dem platten Lande die ökonomische Kraft der Großgrundbesitzer erhöhte und zugleich deren politische Macht festigte, steht außer Zweifel. Friedrich Engels, der diese Entwicklung sehr aufmerksam verfolgte, sah in der Schnapsproduktion der preußischen Junker eine „Grundlage des preußischen Staats". 1 2 Im Jahre 1 8 9 4 schrieb er, die Macht der Junker beruhe darauf, „daß sie in dem geschlossenen Gebiet der sieben altpreußischen Provinzen - also etwa einem Drittel des ganzen Reichsgebiets über den Grundbesitz verfügen, der hier die gesellschaftliche und politische Macht mit sich führt, und nicht nur über den Grundbesitz, sondern vermittels der Rübenzuckerfabriken und Schnapsbrennereien auch über die bedeutendsten Industrien dieses Gebiets". 1 3 Ihre ökonomische Machtstellung suchten die Großgrundbesitzer, darunter besonders die preußischen Junker, auf die vielfältigste Art und Weise politisch und militärisch zu stützen und zu festigen. Sie fürchteten trotz der feigen und schwächlichen Haltung der Bourgeoisie während der Revolution von 1 8 4 8 / 4 9 und danach dennoch diese Klasse, weil deren ökonomische Potenz, in der sie eine Gefahr für ihre eigene Existenz erkannten, zusehends wuchs. In der Hauptsache zitterten sie jedoch vor der nodi nicht entfesselten Kraft des Proletariats, die sie einmal schon, im Jahre 1848, direkt zu spüren bekommen hatten. V o n den aggressiven außenpolitischen Zielen abgesehen, waren es vorwiegend innenpolitische Gründe, welche die Großgrundbesitzer veranlaßten, die Staats- und Verwaltungsbürokratie sowie das Militärwesen in Deutschland, besonders im Königreich Preußen, auszubauen. Mit Hilfe dieser reaktionären Institutionen unterdrückten sie jede demokratische Bewegung und verfolgten besonders scharf jedes selbständige Auftreten der Arbeiterklasse. U m den riesigen und ständig wachsenden Verwaltungs- und Militärapparat in „zuverlässige" Hände zu legen, wurden die höhere und mittlere Beamtenschaft sowie das Offizierkorps der Armee fast ausschließlich den Kreisen des adligen Großgrundbesitzes entnommen. Dem Staats-, Verwaltungs- und Militärdienst traten hauptsächlich die jüngeren Söhne des grundbesitzenden Adels bei, die auf den Gütern und Besitzungen ihrer Väter kein
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dem Gebietsumfange vor 1866. 4 Bde., Berlin 1868-1871, Bd. I, S. 432 und 434 sowie Bd. IV. S. 312-313. Engels, F., Zur Geschichte der preußischen Bauern. Berlin 1950, S. 15-16. Derselbe, Preußischer Schnaps im Deutschen Reichstag. In: Marx. Engels, Lenin, Stalin, a. a. O., Bd. II/2, Berlin 1954, S. 979. Derselbe, Die Bauemfrage in Frankreich und Deutsdiland. Berlin 1951, S. 27.
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standesgemäßes Auskommen zu finden glaubten.14 Auf Kosten der Steuergroschen der arbeitenden Stadt- und Landbevölkerung fanden sie hier ein höchst angenehmes Leben und waren gleichzeitig in der Lage, die Existenz und die Interessen ihrer Klasse mit den Mitteln und Methoden der reaktionären Staats- und Verwaltungsbürokratie sowie des volksfeindlichen Militärapparates zu gewährleisten. Neben der Sicherung der ökonomischen und politischen Machtpositionen der Großgrundbesitzer gehörte zu ihren innerstaatlichen Hauptaufgaben die Gewährleistung der feudalkapitalistisdien Ausbeutung und Unterdrückung des werktätigen Volkes auf dem platten Lande, der kleinen Bauern und insbesondere der ländlidien Arbeiter. Aber auch die Sicherung der Ausbeutung und Unterdrückung der städtischen Arbeiter durch die Bourgeoisie fiel in ihr Aufgabenbereich. Trotz aller noch vorhandenen Gegensätze zwischen den Großgrundbesitzern und Bourgeois, die ihren Ursprung in dem noch nicht voll entwickelten Kapitalismus in der Landwirtschaft und dem Konkurrenzkampf zwischen Industrie und Landwirtschaft hatten, gab es für beide Ausbeuter- und Unterdrückerklassen keine prinzipiellen Meinungsverschiedenheiten in der Stellung gegenüber dem städtischen und ländlichen Proletariat. In der Regel fanden sich die großen Grundbesitzer und die Bourgeois in der gemeinsamen Furcht vor dem revolutionären Elan der geeinten Arbeiterklasse zusammen. Solange die Staats- und Verwaltungsbürokratie und der Militärapparat der herrschenden Gutsbesitzerklasse intakt blieben, solange besonders der politische Einfluß der sozialistischen Arbeiterbewegung von den ländlichen Arbeitern, aus denen sich die „Kernregimenter"15 der preußischen Armee rekrutierten, und den werktätigen Bauern ferngehalten werden konnte, solange brauchten die adligen Großgrundbesitzer nicht um ihre politische Macht und nicht um ihren Besitz zu bangen, solange hatten sie allen Grund, zu frohlocken und sich sicher zu fühlen. 16 Eine weitere, nicht zu unterschätzende Stütze der Herrschaft der Großgrundbesitzer in Preußen und im übrigen Deutschland bildeten die durch die Junker bewußt gedrückten, sozial auf tiefstem Niveau gehaltenen, von wirklicher Bildung und positivem Wissen isolierten sowie politisch und rechtlich unmündig gemachten ländlichen Arbeiter. Otto Braun traf voll ins Schwarze, wenn er sagte, daß „die ausgebeutete, entrechtete ostelbische Landbevölkerung . . . der Sockel" ist, „auf dem zum überwiegenden Teile die Macht des ostelbischen Junkertums ruht und auf den gestützt es seine volksaushungernde und entrechtende Raubpolitik treibt".17 14
Emil Ludwig äußerte einmal, daß bei „den preußischen Junkern immer der klügste Sohn" Erbe des väterlichen Gutes wurde, „der schneidige geht in die Garde, der dümmste in die Diplomatie" (Gerlach, H. v„ Von Redits nach Links. Zürich 1937, S. 12). 15 Friedrich Engels gebrauchte diesen Begriff mehrfach; so z. B. in: „Preußischer Schnaps im Deutschen Reichstag", a. a. O., S. 974, und in: „Die Bauernfrage in Frankreich und Deutschland", a. a. O.. S. 27. 18 Unmißverständlich kam das einmal in den Worten Dietrich Hahns, eines führenden Mitglieds des „Bundes der Landwirte", zum Ausdruck, die er 1909 vor einer Versammlung dieses reaktionären Junkerklüngels triumphierend ausrief: „Solange die Landwirtschaft die Mehrzahl der Soldaten stellt, solange mögen die Proletarier und Wolkensdiieber, die alle diese Theorien zugunsten der Massen erfunden haben, drohen, - sie werden nichts ausrichten können" („Correspondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands", Nr. 6 vom 6. Februar 1909, S. 129). 17 Braun, O., Das ostelbische Landproletariat und die Sozialdemokratie. In: „Die Neue Zeit. Wochen2
Sdiaaf, Arbeiterbewegung
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In der Tat beruhte die Herrschaft des adligen Großgrundbesitzes zum guten Teil auf der gewaltsamen Ausbeutung und Unterdrückung der ländlichen Arbeiter Ostelbiens. Jahrhundertelang hatten die Feudalherren, allen voran die preußischen Junker, die Aussaugung und Knechtung ihrer leibeigenen und erbuntertänigen Bauern praktiziert und darin reichste Erfahrungen gesammelt, von Jahr zu Jahr war dieses schändliche und gewaltsame Treiben der Junker immer unerträglicher geworden, und nach der sogenannten „Bauernbefreiung" im 19. Jahrhundert hatten die Großgrundbesitzer diese menschenentwürdigende Praxis weitgehend auf die landwirtschaftlichen Arbeiter übertragen. Die Arbeits- und Lebensverhältnisse der leibeigenen und erbuntertänigen Bauern der ostelbischen Provinzen und Länder waren weitaus die miserabelsten und erschütterndsten in ganz Deutschland gewesen. Den Landarbeitern erging es nicht viel besser. Noch viele Jahrzehnte blieb ein bedeutender Teil von ihnen der alten, kaum gemilderten feudalen Abhängigkeit verhaftet, die zumindest „einer halben Leibeigenschaft"18 nicht unähnlich war. So scheuten sich die ostelbischen Junker nicht, ihre „Leute" mit dem Stock und der bloßen Faust zu prügeln.19 Sie durften das ungestraft tun; denn die preußische Gesindeordnung aus dem Jahre 1810, die erst durch die deutsche Novemberrevolution von 1918 hinweggefegt wurde, enthielt z. B. zwei Paragraphen, welche die Stockprügelei ausdrücklich gestatteten.20 Mit Hilfe der Pfaffen - der katholischen wie der evangelischen - , die sich auftragsgemäß alle Mühe gaben, die Landarbeiter im geistigen Dunkel zu halten, wurde das Niveau des ländlichen Schulunterrichts, das an und für sich bereits niedriger als irgendwo anders war, fortlaufend gesenkt. Statt auf dem jeweiligen Stand der Wissenschaft beruhende exakte Kenntnisse zu vermitteln und die Schüler zum selbständigen Denken zu erziehen, überwog in den Landschulen, in denen nur selten einigermaßen gut vorgebildete Lehrer in ausreichender Zahl unterrichteten, das geisttötende Büffeln des Katechismus, kirchlicher Gesangbuchverse und „vaterländischer Histörchen". Völlig ungenügend wurden dagegen die minimalsten Kenntnisse im Lesen, Rechnen und Schreiben vermittelt. Zynisch gestanden die Junker und ihre pfäffisdien Lakaien den sozialen Grund ihres bildungsfeindlichen Verhaltens ein.21 Dabei gaben sie unmißverständlich zu erkennen, wofür sie der Religion bedurften. „Haben erst die christlichen Ideen mehr Eingang gewonnen", äußerte 1872 der Rittergutsbesitzer von Wedell vor der Konferenz ländlicher Arbeitgeber zu Berlin, „so wird auch das unbe-
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schrift der Deutschen Sozialdemokratie" (Im Folgenden wird der Untertitel weggelassen). Stuttgart 1905/06. Bd. II. S. 825. - Hervorhebungen von mir, F. Sdi. Engels, F., Die Rolle der Gewalt in der Geschichte, a. a. O., S. 1097. Oldenburg-Janusdiau gab das offen und zynisch zu: Vgl. Oldenburg-Januschau. E. v., Erinnerungen. Leipzig 1936, S. 44.
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Der Paragraph 77 der preußischen Gesindeordnung von 1810 lautete: „Reizt das Gesinde die Herrschaft durch ungebührliches Benehmen zum Zorn (?, F. Sch.) und wird es in selbigem von ihr mit Sdieltworten oder geringen Tätlichkeiten behandelt, so kann es dafür keine gerichtliche Genugtuung fordern". Und der Paragraph 79 lautete gar: „Außer in dem Falle, wo das Leben oder die Gesundheit der Dienstboten durch Mißhandlungen der Herrschaft in gegenwärtige und unvermeidliche Gefahr gerät, darf es sich der Herrschaft nidit tätlich widersetzen".
21
In diesem Zusammenhang ist ein Dokument, das die Berliner „Volks-Zeitung" (Nr. 45. Erstes Blatt, vom 23. Februar 1883) abdruckte und kurz kommentierte, von großem Interesse. Es lautete:
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rechtigte Drängen nadi Genüssen und Verbesserungen der materiellen Lage aufhören" 22 . Dem fügte der Oberamtmann Schulte geflissentlich hinzu, daß die Landarbeiter, „solange sie an einen lebendigen
Gott glauben", einsehen werden, „daß nicht alle Menschen reich
sein können". 23 Fürwahr, das unter dem Ackerbauproletariat weitverbreitete Analphabetentum war denkbar gut geeignet, diese Klasse bis aufs Mark auszusaugen und zu unterjochen sowie ihren Widerstandswillen fast vollständig zu lähmen. Die bewußt veranlaßte geistige Verkümmerung der ländlichen Arbeiter trug nicht zuletzt dazu bei, viele von ihnen zu treuen und willfährigen Sklaven ihrer Herren zu machen. Die „Abgeschlossenheit der Leute von aller Welt" 2 4 und ihre ökonomisch bedingte Zersplitterung hinderte sie obendrein daran, sich über ihre elende und nahezu rechtlose Lage klar zu werden. In den ostelbischen Provinzen - und nicht nur hier - herrschte im 19. Jahrhundert noch weitgehend die Willkür der adligen Großgrundbesitzer. Ihr konnten sich die Landarbeiter im allgemeinen nur dann entziehen, wenn sie in die Stadt, in die aufstrebende „Weg mit der Schule. Der .Mährisch-Schlesische Volksbote', welcher zu Freiwaldau mit Approbation der fürst-erzbisdiöflichen Behörde erscheint, spridit sich über die moderne Sdiule in folgenden Sätzen aus: .Wilde Menschen darf es in der Gesellschaft nicht geben, aber einfache, die nicht acht oder zehn Jahre in der Schule herumhocken; für die untersten Schichten genügt die Schule des Lebens. Die bekannten fünf Stüdce, welche nach dem Katechismus jeder Mensch wissen muß, reichen noch immer zur Seligkeit aus. Den gleichen Unsinn, als ob man jedes Stückchen Boden kultivieren könnte, betreibt man in der sozialen Welt. Alles muß kultiviert sein, man muß Lesen und Schreiben und Zeichnen und Naturkunde betreiben. Wenn alle Welt hochkommen will, dann darf man sich nicht wundern, daß es an echten Knechten und Mägden fehlt. Es muß dann der Herr Baron seine Senkgrube selber ausschöpfen und die Frau Baronin ihre Küche mit eigener Hand reinigen ; denn Leute, welche moderne Schulbildung haben, mögen dies nicht tun.
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Es muß eben audi in der Menschenwelt Wälder und Haine geben, und wer Stallmägde und Pferdeknechte will, der darf nicht alle Welt zu Studenten und Pensionsschülern machen. Es muß Ungebildete geben. Was brauchen wir notwendiger als landwirtschaftliche Arbeiter, Bauernknechte und Bauernmägde? Die Schule rottet sie allgemadi aus. Soweit hat man den Leuten den Kopf verrückt, daß es als eine Pflichtverletzung erscheint, wenn Eltern ihre Kinder ländliche Dienstboten werden lassen. Die Schulwut hat es dahin gebracht, daß es als ein gesellschaftlicher Makel gilt, nichts gelernt zu haben, d. h. ein Knecht oder eine Magd geworden zu sein. Kein Wunder, daß wir solchen Verheerungen entgegentreten, gegen welche die Überschwemmung in Tirol ein reines Kinderspiel ist. Schonet die Wälder und hütet Euch, alles kultivieren zu wollen, sdionet aber audi das natürliche Volkstum und hütet Euch, alle Welt mit Eurer Schulbildung zu beglücken. Beides ist ein gewaltsamer Eingriff in den Haushalt und die Gesetze der Natur, eine Störung des Gleichgewichtes der Kräfte.' Also keine Störung des Gleichgewichtes! Die Dummheit muß künstlich gezüchtet werden." Goltz, Th. Frh. v. d., Die Verhandlungen der Berliner Conferenz ländlicher Arbeitgeber. Danzig 1872, S. 16. Ebenda, S. 21 (Hervorhebung von mir. F. Sdi.). Engels, F., Die preußische Militärfrage und die deutsche Arbeiterpartei, a. a. O., S. 834.
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Industrie abwanderten, bzw. wenn sie ihre Heimat für immer verließen, das heißt auswanderten. Obwohl das Landproletariat die Tyrannei der Gutsbesitzer nicht in jedem Falle widerstandslos hinnahm, wofür allein sdion die massenhafte Ab- und Auswanderung zeugte, gelang es den Junkern, Hunderttausende ihrer Arbeitssklaven so abzurichten, daß diese in ihrer großen Mehrzahl zu einem gefügigen Werkzeug der feudalen Reaktion wurden. Die ländliche Arbeiterklasse, kaum „zurechnungsfähig"25 und „ohnmächtig" 26 , vermochte lange Zeit in der Gesellschaft keine bewußte und historisch-aktive Rolle zu spielen. Sie stellte die zuverlässigsten Regimenter der „Armeen der Fürsten" 27 , die „unbedingt Order parierenden Soldaten" 28 und schickte „die große Menge der Feudalherren und Junker kraft des allgemeinen Stimmrechts ins Parlament" 29 . All das erschwerte natürlich ungemein die Verwirklichung der revolutionären Aufgabe des industriellen Proletariats, die Landarbeiter für die sozialistische Bewegung zu gewinnen und in proletarischen Klassenorganisationen zusammenzufassen. Zum Nachteil einer progressiven demokratischen und sozialistischen Entwicklung in Deutschland konnte sich die herrschende Klasse der großen Grundbesitzer noch lange auf die „in der Isolierung des Landlebens begründete Apathie" 30 der ländlichen Arbeiterbevölkerung stützen. *
Um zu ihrem eigentlichen Ziele, einer demokratischen und sozialistischen Gesellschaftsordnung, zu gelangen, mußte die revolutionäre Arbeiterbewegung in Deutschland gemeinsam mit allen anderen demokratischen Kräften zuerst die Hürde des reaktionären Preußentums nehmen. Die Regierung der preußischen Junker, die nach der Niederlage der bürgerlich-demokratischen Revolution von 1848/49 und besonders nach der Hinausdrängung der Österreich-ungarischen Donaumonarchie aus dem Deutschen Bund im Jahre 1866 in bonapartistischer Weise immer mehr die politische Entwicklung des deutschen Volkes bestimmte, war seit Königgrätz der einzige ernsthafte Gegner des Proletariats. 31 Der Kampf der deutschen Arbeiterklasse, für dessen demokratische und antimilitaristische Zielsetzung breite Schichten des deutschen Volkes gewonnen werden konnten, hatte sich deshalb in erster Linie gegen die politische Herrschaft der preußischen Großgrundbesitzer, die sich mehr und mehr mit der deutschen Großbourgeoisie verbanden, zu richten. Das bedeutete jedoch nicht, den ebenfalls notwendigen Kampf gegen die bourgeoise Ausbeutung und Unterdrückung zu ignorieren. Dabei ist zu berücksichtigen, daß es unzulässig war, die junkerliche Reaktion oder die Bourgeoisie einseitig zu bekämpfen. Noch weniger war es statthaft, sich mit der einen Ausbeuter- und Unterdrückerklasse gegen die andere - wenn auch nur zeitweilig - zu verbünden. Ein jeder Versuch dieser Art mußte die Aufgabe der selbständigen Bewegung der Arbeiterklasse zur Folge haben, mußte letztlich zum Verrat an den revolutionären 25
Derselbe, Die Rolle der Gewalt in der Geschichte, a. a. O., S. 1097.
26
Derselbe, Der deutsche Bauernkrieg (Vorbemerkung), a. a. O.. S. 614.
27
Ebenda.
28
Derselbe, Preußischer Schnaps im Deutschen Reichstag, a. a. O., S. 979.
29
Derselbe, Der deutsche Bauernkrieg (Vorbemerkung), a. a. O., S. 614.
39
Derselbe, Die Bauernfrage in Frankreich und Deutschland, a. a. O.. S. 3.
31
Vgl. derselbe. Der deutsche Bauernkrieg (Vorbemerkung), a. a. O., S. 609.
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Interessen des Proletariats führen. Dagegen war es notwendig, daß die Arbeiterklasse bei Wahrung ihrer vollen Selbständigkeit und entsprechend ihrer demokratischen und sozialistischen Zielstellung die noch vorhandenen Gegensätze zwischen dem Junkertum und der Bourgeoisie ausnutzte, wobei sie sich auf die bedeutenden demokratischen und antimilitaristischen Potenzen des deutschen Volkes stützen mußte. Insofern Teile der deutschen Bourgeoisie vor 1866 selbst noch, wenn auch nur in untergeordneten Fragen, gewillt waren, gegen die preußische junkerlich-militaristische Reaktion zu kämpfen, gehörte es zur Pflicht des Proletariats, sie dabei kräftig zu unterstützen und möglichst weit voranzutreiben. Mehr noch! Die Arbeiterklasse mußte alles in ihrer Macht stehende tun, das Bürgertum in die bis 1866 noch mögliche Auseinandersetzung mit dem reaktionären preußischen Junkerstaat zu verwickeln. Unterließ die Bourgeoisie jedoch den konsequenten Kampf gegen die herrschende feudale Reaktion, was in der Regel der Fall war, dann hatte das Proletariat im eigenen revolutionären Klasseninteresse allein gegen den Staat der Gutsherren vorzugehen. Es mußte sich dabei die Aufgabe stellen, auf der Grundlage eines breiten Bündnisses mit der werktätigen Landbevölkerung und den städtischen Mittelschichten diesen Kampf, der von nationaler Bedeutung war, einen umfassenden demokratischen Charakter zu verleihen. Eine erneute Änderung der Strategie und Taktik des proletarischen Klassenkampfes machte sich nach 1871 notwendig. Die unter der Hegemonie der preußischen Junker erzwungene Herstellung der Einheit Deutschlands, die eine neue Etappe der Entwicklung des Kapitalismus sowohl auf dem industriellen wie auf dem landwirtschaftlichen Sektor einleitete, brachte die Klasse der Großgrundbesitzer und die Großbourgeoisie ökonomisch und politisch einander immer näher. Auf dieser Grundlage wandelte sich der 1848/49 zwischen diesen beiden Ausbeuter- und Unterdrückerklassen geschlossene Kompromiß immer sichtbarer zu einem engen und festen Bündnis, was sich auch sehr stark auf die weitere Verschlechterung der Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse der industriellen und landwirtschaftlichen Arbeiter sowie auf die weitere soziale Differenzierung der werktätigen Bauernschaft auswirkte. Der Kampf des Proletariats mußte sich deshalb nach 1871 mehr und mehr gegen den junkerlich-bourgeoisen, preußisch-deutschen Militär- und Polizeistaat und die ihn tragenden Klassen - Junker und Großbourgeoisie richten. Die komplizierte Lage der Klassenverhältnisse und des Klassenkampfes in Deutschland in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts erforderte immer dringlicher die Gründung einer selbständigen, revolutionären Arbeiterpartei; einer Partei, die eine wissenschaftlich fundierte Klassen- und Bündnispolitik betreiben konnte. Das machte sich besonders deshalb notwendig, weil die in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in Deutschland bestehenden Arbeiterorganisationen - der „Allgemeine Deutsche Arbeiterverein" und der „Verband der deutschen Arbeitervereine" - die erforderliche Selbständigkeit und Unabhängigkeit sowie den notwendigen revolutionären weltanschaulichen Charakter zum großen Teil vermissen ließen. Unter den Bedingungen der in Deutschland herrschenden preußisch-junkerlichen Reaktion war die Konstituierung einer solchen Partei kein leichtes Unternehmen. Wenn das Vorhaben im August 1869 dennoch gelang, war es wesentlich das Verdienst von Karl Marx und Friedrich Engels, welche der Lösung dieser historischen Aufgabe die größte Aufmerk-
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samkeit entgegenbrachten32, sowie von August Bebel und Wilhelm Liebknecht, die ebenfalls leidenschaftlich dafür kämpften und schließlich in Eisenach die „Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschlands" mit aus der Taufe hoben.33 Zwei der vielen Wichtigen Aufgaben, die von der jungen Partei der Eisenacher zu lösen waren, bestanden nun darin, die landwirtschaftlichen Arbeiter innerhalb der sozialdemokratischen Klassenorganisationen des industriellen Proletariats zu erfassen und für den organisierten revolutionären Kampf gegen die reaktionäre Herrschaft der Junker und Militaristen zu schulen sowie das revolutionäre Bündnis zwischen der Arbeiterklasse und der werktätigen Bauernschaft zu schmieden. Ohne die Lösung dieser Aufgaben konnten keine entscheidenden Erfolge im Kampf um die Herstellung eines antimilitaristischen, demokratischen und sozialistischen Deutschlands errungen werden. Schon deshalb, weil die industriellen Arbeiter „noch immer bei weitem nicht die Mehrzahl des deutschen Volkes" bildeten, waren sie, wie Friedrich Engels 1871 schrieb, „auf Bundesgenossen angewiesen", die nur „unter den Kleinbürgern, unter dem Lumpenproletariat der Städte, unter den kleinen Bauern und Adcerbautaglöhnern" zu finden waren. Davon stellten die Kleinbürger, unter denen es nur wenige „sehr gute Elemente" gab, die sich den Arbeitern von selbst anschlössen, „höchst unzuverlässige" Verbündete dar. „Von allen möglichen Bundesgenossen" aber war das Lumpenproletariat „der schlimmste"34. Dagegen fanden die städtischen Arbeiter ihre besten und treuesten Verbündeten für den Kampf um Demokratie und Sozialismus auf dem platten Lande. Es war deshalb ihre Pflicht, auf das Land zu gehen, um sich dort die Mitstreiter für ihren revolutionären Kampf zu suchen. Die Frage nach den Bundesgenossen des platten Landes war für die Arbeiterbewegung eine Kardinalfrage. Friedrich Engels hatte sich wiederholt gerade damit beschäftigt. Noch 1894, kurz vor seinem Tode, brachte er erneut den Gedanken zum Ausdruck, das industrielle Proletariat benötige zur Eroberung der politischen Macht unbedingt die Unterstützung der werktätigen Landbevölkerung. In seiner kleinen, bedeutungsvollen Schrift „Die Bauernfrage in Frankreich und Deutschland" schrieb er: „Die Eroberung der politischen Macht durch die sozialistische Partei ist in absehbare Nähe gerückt. Um aber die politische Macht zu erobern, muß diese Partei vorher von der Stadt aufs Land gehn, muß eine Macht werden auf dem Land".35 Dieser Satz, der für die internationale Arbeiterbewegung programmatische Bedeutung besaß, war von Friedrich Engels in erster Linie für die deutsche Sozialdemokratie verfaßt worden, der er helfen sollte, eine klare marxistische Position zur Agrarfrage zu beziehen. Zugleich wurde damit der sozialistischen Partei in Deutschland der einzig mögliche Weg 32
Vgl. darüber den Aufsatz von Engelberg,
E„ Die Rolle von Marx und Engels bei der Herausbil-
dung einer selbständigen deutschen Arbeiterpartei. In: „Zeitschrift für Geschichtswissenschaft" (im folgenden ZfG.) Berlin. Jg. 1954, Heft 4 und 5. 33
Vgl. dazu Leidigheit, K.-H.,
Wilhelm Liebknecht und August Bebel in der deutschen Arbeiter-
bewegung 1 8 6 2 - 1 8 6 9 . Berlin 1957; Schriftenreihe des Instituts für Deutsche Geschichte an der Karl-Marx-Universität Leipzig, hrsg. von Prof. Dr. Ernst Engelberg, Bd. 3. 34
Engels, F., Der deutsche Bauernkrieg (Vorbemerkung), a. a. O.. S. 612.
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Derselbe, Die Bauernfrage in Frankreich und Deutschland, a. a. O., S. 4 (Hervorhebungen von mir, F. Sdi.).
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zur Verwirklichung demokratischer Verhältnisse und zur Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse, zur Diktatur des Proletariats, gewiesen. Auf welche ländlichen Klassen und Schichten mußte sich nun die deutsche Arbeiterbewegung orientieren? Welche davon waren ihrer sozialökonomischen Lage nach am besten für ein festes und dauerhaftes Bündnis mit dem städtischen Proletariat geeignet? Welcher Teil der arbeitenden Landbevölkerung brachte die denkbar besten Voraussetzungen mit, gemeinsam mit den industriellen Arbeitern den revolutionären Kampf um Demokratie und Sozialismus zu bestreiten? Dafür kamen bei weitem nicht alle Klassen und Schichten des platten Landes in Frage. Von vornherein schieden die Großgrundbesitzer, die Magnaten und Junker, aus. Als Personen wie als Klasse verkörperten sie den reaktionären preußisch-deutschen, junkerlichbourgeoisen Ausbeuter- und Unterdrückerstaat, gegen den sich ja hauptsächlich der politische Kampf der revolutionären Arbeiterbewegung zu richten hatte. Auch die Großbauern kamen für ein Bündnis mit dem städtischen Proletariat nicht in Betracht. Sie waren die Bourgeois des platten Landes und beuteten als solche die Arbeitskraft anderer Menschen aus. Teilweise hatten sie sich auch schon wirtschaftlich und politisch mit den Junkern verbunden, die immer mehr zur kapitalistischen Produktion in der Landwirtschaft übergingen. Wie diese waren sie direkte und entschiedene Feinde des Proletariats. Dagegen ließ sich die Frage, ob sich die Mittelbauern für ein Bündnis mit der Arbeiterklasse eigneten, nicht so eindeutig beantworten. Auf Grund ihrer ökonomischen Lage 36 nahmen sie durchgängig eine schwankende Haltung zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat ein, wobei sie mehr der bourgeoisen Seite zuneigten. Es bestand jedoch die Möglichkeit, die mittelbäuerlichen Schichten weitgehend zu neutralisieren. Je stärker und geschlossener die deutsche Sozialdemokratie auftrat, je überzeugender ihre politischen Argumente wirkten, je größer ihr Einfluß auf dem platten Lande wurde, um so eher mußte es gelingen, die Mittelbauern zu einem der Arbeiterbewegung gegenüber wohlwollenden neutralen Verhalten zu bestimmen. Der Kampf des deutschen Proletariats gegen das reaktionäre Preußentum, oder - anders ausgedrückt - den preußisch-deutschen Militarismus, das heißt gegen die ostelbischen Großgrundbesitzer und deren Staat, eröffnete sogar die Möglichkeit, einen Teil der Mittelbauern als Bundesgenossen der industriellen Arbeiter zu gewinnen. Bleiben noch die Klein- und Parzellenbauern. Diese beiden Gruppen, die einen bedeutenden Teil der Landbevölkerung umfaßten, brachten im wesentlichen alle objektiven Voraussetzungen mit, feste und treue Verbündete des städtischen Proletariats zu sein. Zweifelsohne waren die Kleinbauern am schwersten von der Notwendigkeit zu überzeugen, sich aktiv am revolutionären Kampf der Arbeiterklasse zu beteiligen. Friedrich Engels, der sie als „ein politisch wenig aktives Element" charakterisierte, sagte einmal, sie wären „meist indifferent oder reaktionär" 37 . Und dennoch mußte sich das Proletariat um diesen Teil der werktätigen Landbevölkerung bemühen. Die ökonomische und soziale Lage der Klein36
Die Mittelbauern besaßen als Eigentümer oder Pächter immerhin so viel Boden, daß sie ihre Familien und Wirtschaften wenigstens kümmerlich erhalten und zumindest in günstigen Jahren einen kleinen Überschuß, der auch in Kapital verwandelt wurde, erzielen konnten. Ferner nahmen sie des öfteren fremde Arbeitskräfte in Anspruch.
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Engels, Fr.. Die Rolle der Gewalt in der Geschichte, a. a. O.. S. 1 0 9 5 und 1 0 9 6 .
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bauern 3 8 bot nämlich mehr als eine Möglichkeit, sie auf die Seite der für Demokratie und Sozialismus kämpfenden Arbeiter zu führen; denn letzten Endes versprachen nur die sozialistische Revolution und die proletarische Diktatur eine lebenswerte und gesicherte Z u kunft, f ü r die es zu streiten und zu arbeiten lohnte. Abschaffung der durch den preußischdeutschen Militarismus verursachten drückenden materiellen und moralischen Lasten, Beseitigung der kapitalistischen Pachten, Befreiung von den Hypotheken, dem Wucher und der wachsenden Verschuldung, Liquidierung der noch vorhandenen halbfeudalen Ausbeutungsverhältnisse, Steuererleichterungen, Übernahme des Gutsbesitzerlandes und des dazu gehörenden lebenden und toten Inventars, bessere Produktionsmethoden auf genossenschaftlicher Basis, soziale Sicherheit bei Unglücks- und Krankheitsfällen - all das und noch mehr winkte den kleinen Bauern, wenn sie sich der politischen Bewegung des klassenbewußten und revolutionären Proletariats anschlössen und damit der Demokratie und der sozialistischen Revolution zum Siege verhalfen. „Mit dem Beistand seiner natürlichen Bundesgenossen, der Arbeiter", konnte und kann sich der kleine Bauer „selbst helfen", „sobald er nur begreifen will, wie".39 Unter noch weit schlimmeren ökonomischen und sozialen Bedingungen fristete dagegen der Parzellenbauer, der mit voller Berechtigung auch als ländlicher Halbproletarier bezeichnet wurde, sein kümmerliches Dasein. Seine Lage glich schon mehr der des Fabrikproletariats. 40 Eine von der sozialistischen Arbeiterbewegung intensiv betriebene politische Agitation mußte deshalb bei diesem Teil der werktätigen Landbevölkerung auf besonders fruchtbaren Boden fallen. Die Aussichten der demokratischen Umgestaltung Preußen-Deutschlands und der proletarischen Revolution waren geeignet, die Parzellenbauern noch mehr als die Kleinbauern zu revolutionieren. Dem industriellen Proletariat am nächsten standen jedoch die landwirtschaftlichen Arbeiter, die Tagelöhner, Saisonarbeiter, Schnitter, Drescher, Knechte und Mägde usw. Audi sie, die sich ebenso wenig wie ihre städtischen Klassengenossen im Besitze von Produktionsmitteln befanden, waren gezwungen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Die Landarbeiter mußten das sogar unter weit ungünstigeren Bedingungen tun als die Masse der Fabrikarbeiter. Für einen geringen Natural- und Geldlohn arbeiteten die Ackerbautagelöhner zum Beispiel bis zu sechzehn Stunden täglich. Die Behandlung, die ihnen dabei durch die Junker und Großbauern widerfuhr, war vielfach eines Menschen unwürdig. Fer38
Der Boden, den die Kleinbauern als Eigentümer oder als Pächter auf der Grundlage der Familienarbeit, also ohne fremde Arbeitskräfte, bewirtschafteten, reichte im allgemeinen nicht aus, einen Überschuß an landwirtschaftlichen Erzeugnissen zu erzielen. Die kleinbäuerliche Produktion, die vielfach noch mit mittelalterlichen Methoden betrieben wurde und betrieben werden mußte, deckte in günstigen Jahren gerade die niedrigen Bedürfnisse der Kleinbauernfamilien und -wirtschaften. In ungünstigen Jahren mußten Hypotheken und andere Schulden aufgenommen werden. Die ständig wachsende Verschuldung hatte faktisch die Expropriation der Masse der kleinen Bauern zur Folge. 39 Engels, F., Die Mark. In: Marx, Engels, Lenin. Stalin, a. a. O., Bd. I, Berlin 1953, S. 156. Die Parzellenbauern oder ländlichen Halbproletarier besaßen im allgemeinen so wenig Land, daß sie mit ihren Familien davon nicht existieren konnten. Sie waren deshalb gezwungen, einen mehr oder minder großen Teil der zur Verfügung stehenden familiären Arbeitskraft gegen niedrigen Lohn an große Grundbesitzer, Großbauern oder Fabrikherren zu verdingen.
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ner waren sie vielen persönlichen und politischen Beschränkungen unterworfen. Das Landproletariat, das im Zustande besonderer Rückständigkeit, großer Zersplitterung und halbfeudaler Abhängigkeit lebte, unterlag im allgemeinen einer schärferen Ausbeutung und Unterdrückung als die städtischen Arbeiter, wobei die Ausbeutung und Unterdrückung mit dem Vordringen des Kapitalismus in der Landwirtschaft, der Verwandlung des ehemaligen feudalen Gutsherrn in den mehr und mehr kapitalistisch wirtschaftenden Junker noch ständig, wenn auch in modifizierter Form, zunahm. Die Zusammenfassung der landwirtschaftlichen Proletarier in sozialistisch orientierten Klassenorganisationen sowie ihre Einbeziehung in den revolutionären Kampf der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung wurden dadurch außerordentlich behindert. Und dennoch besaßen die landwirtschaftlichen Arbeiter, die einen nicht unwesentlichen Teil des modernen Proletariats bildeten, objektiv die besten Voraussetzungen, die zuverlässigsten Kampfgenossen des städtischen Proletariats zu sein. Auf dem platten Lande bildeten sie, sobald sie sich ihrer Klassenlage vollauf bewußt wurden, die Hauptstütze der revolutionären proletarischen Bewegung. Hinzu kommt, daß das Ackerbauproletariat in den ostelbischen Gebieten Deutschlands die zahlreichste Klasse darstellte 41 , „die Industriearbeiter der Städte" demzufolge, wie Friedrich Engels sagte, „ihre zahlreichsten und natürlichsten Bundesgenossen" unter dem ländlichen Proletariat „in ganz Nord- und Ostdeutschland" fanden. 42 Das aber heißt: Zusammen mit den Klein- und Parzellenbauern der anderen Teile Deutschlands waren die ostelbischen
41
a
Für die siebziger Jahre des 19. Jh. eine genaue Zahl der ostelbischen Landarbeiter zu ermitteln, ist nicht möglich. Die bürgerlichen Statistiken geben darüber keine exakte Auskunft, sie bemühen sich im Gegenteil, die Tatsachen zu verschleiern, was Th. Frh. o. d. Goltz ungewollt zugeben mußte. In seinem Buche: „Die ländliche Arbeiterfrage und ihre Lösung", Danzig 1872, S. 1, schrieb er dazu: „Bei uns", in den ostelbischen Provinzen, „ist die Klasse der ländlichen Arbeiter... weit zahlreicher als die der städtischen oder Fabrikarbeiter... Eine genaue Feststellung der Zahl der im landwirtschaftlichen Gewerbe beschäftigten Arbeiter ist leider schon deshalb nicht möglich, weil viele ländliche Arbeiter gleichzeitig Grundbesitzer sind und in den statistischen Tabellen nur als solche sich aufgeführt finden". Der Anteil des Landproletariats an der Gesamtbevölkerung kann deshalb nur annähernd bestimmt werden. Am 1. Dezember 1880 wohnten in Deutschland noch 58,6 Prozent der gesamten Bevölkerung in Orten mit weniger als 2000 Einwohnern, das heißt auf dem platten Lande; 66,1 Prozent waren es in den ostelbischen preußischen Provinzen, Berlin ausgenommen (Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, hrsg. vom Kaiserlichen Statistischen Amt, Sechster Jahrgang 1885, Berlin 1885, S. 1). Davon beanspruchten natürlich die ländlichen Arbeiter einschließlich ihrer nächsten Familienangehörigen den Hauptanteil. Die Zahl der Kleinund Parzellenbauern mit ihren Frauen und Kindern war ebenfalls bedeutend. Exaktere Angaben brachten erstmalig die Berufszählungen vom 5. Juni 1882 und vom 14. Juni 1895. Nach der Zählung von 1882 betrug die Gesamtbevölkerung des Deutschen Reiches mehr als 45 Millionen Menschen. Auf die Erwerbstätigen in der Landwirtschaft - außer Forstwirtschaft. Jagd und Fischerei entfielen dabei über 8 Millionen, von denen 5,75 Millionen als Landarbeiter anzusehen waren; 3 Millionen davon waren völlig besitzlos (Ebenda, S. 5). Etwa 4,8 Millionen ländliche Arbeiter einschließlich ihrer nächsten Familienangehörigen lebten allein in den östlichen Provinzen des Königreichs Preußen; hier sind die Arbeiter der Forstwirtschaft, Tierzucht und Fischerei allerdings mit eingeschlossen (Ebenda, Siebenter Jahrgang 1886, Berlin 1886, S. 6). Das gleiche Bild zeigte im wesentlichen die Berufszählung von 1895. Engels, F., Der deutsche Bauernkrieg (Vorbemerkung), a. a. O.. S. 613.
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Ackerbautagelöhner schon rein zahlenmäßig ein nicht zu unterschätzender Verbündeter des städtischen Proletariats. Angesidits der Tatsache, daß in einem großen Teile des Deutschen Reiches, dem ausgedehnten Gebiet östlich der Elbe, der junkerliche Großgrundbesitz dominierte, der sich unter anderem auf die Ausbeutung und Unterdrückung der ländlichen Arbeiterbevölkerung stützte und der in Deutschland die Basis für die politische Herrschaft der preußisch-deutschen Reaktion abgab, war die Einbeziehung der ostelbischen Landarbeiter in den revolutionären Kampf des städtischen Proletariats gegen die herrschenden Klassen von größerer Bedeutung als die Gewinnung der klein- oder gar mittelbäuerlichen Schichten der übrigen Teile Deutschlands. Friedrich Engels, der das frühzeitig erkannte, appellierte deshalb 1894 erneut an die deutsche Sozialdemokratie, in erster Linie unter den Landtagelöhnern Ostelbiens zu wirken. Er versprach sich davon sehr viel. „Werft den Samen der Sozialdemokratie unter diese Arbeiter", rief er den fortgeschrittenen, klassenbewußten, organisierten städtischen Proletariern zu, „gebt ihnen den Mut und den Zusammenhalt, auf ihren Rechten zu bestehen, und es ist aus mit der Junkerherrlichkeit. Die große reaktionäre Macht, die für Deutschland dasselbe barbarische, erobernde Element repräsentiert wie der russische Zarismus für ganz Europa, sinkt in sich zusammen wie eine angestochne Blase. Die ,Kernregimenter' der preußischen Armee werden sozialdemokratisch, und damit vollzieht sich «ine Machtverschiebung, die eine ganze Umwälzung in ihrem Schöße trägt. Darum aber ist die Gewinnung der ostelbischen Landproletarier von weitaus größerer Wichtigkeit als die der westdeutschen Kleinbauern oder gar der süddeutschen Mittelbauern. Hier, im ostelbischen Preußen, liegt unser entscheidendes Sdiladttfeld, und deshalb wird Regierung und Junkerschaft alles aufbieten, uns hier den Zugang zu verschließen".43 Mit diesen Worten orientierte Friedrich Engels die deutsche Sozialdemokratie hauptsächlich auf die politische Agitation unter den Ackerbauarbeitern des preußischen Ostens. Keinesfalls wollte er jedoch damit zum Ausdruck bringen, die Verbreitung demokratischer und sozialistischer Ideen unter der werktätigen bäuerlichen Bevölkerung sei nicht notwendig. Im Gegenteil. „Je größer die Anzahl der Bauern ist, denen wir den wirklichen Absturz ins Proletariat ersparen, die wir schon als Bauern für uns gewinnen können", schrieb Engels -zur gleichen Zeit, „desto rascher und leichter vollzieht sich die gesellschaftliche Umgestaltung".44 Die Bemühungen von Friedrich Engels, die deutsche Arbeiterbewegung immer wieder zur politischen Agitation unter der werktätigen Landbevölkerung, insbesondere dem ostelbischen Landproletariat, zu veranlassen, ergaben sich aus der ökonomischen und politischen Lage, in der sich das preußisch-deutsche Reich während der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts befand. Obwohl die deutsche Bourgeoisie zur ökonomisch mächtigsten Klasse herangewachsen war, übte sie noch keinen direkten Einfluß auf die politische Entwicklung Deutschlands aus. Die politische Macht hielten noch immer fast uneingeschränkt die deutschen Junker, die sich auf den großen Grundbesitz und die Ausbeutung und Unterdrückung der landwirtschaftlichen Arbeiter stützen konnten, in ihren Händen. Diese reaktionäre 43
Derselbe, Die Bauernfrage in Frankreich und Deutschland, a. a. O., S. 2 7 - 2 8 (Hervorhebungen
44
Ebenda. S. 22.
von mir, F. Sdi.).
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Herrschaft galt es zu beseitigen, sollte der Weg für eine demokratische und sozialistische Entwicklung freigelegt werden. Zur Verwirklichung dieses Zieles bedurfte das organisierte städtische Proletariat, das allein die revolutionäre Aufgabe der demokratischen Umgestaltung Preußen-Deutschlands und der Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse nicht zu lösen vermochte, unbedingt der Masse der ländlichen Arbeiter und werktätigen Bauern. Als Teil und als Verbündete des industriellen Proletariats stellten sie schon rein zahlenmäßig eine bedeutende Kraft dar, die - in die demokratische und sozialistische Bewegung hineingezogen - den im nationalen Interesse des deutschen Volkes liegenden Bestrebungen der revolutionären Arbeiter zum Siege verhelfen mußte. Aber damit nicht genug. Die Teilnahme der werktätigen Landbevölkerung, darunter besonders der landwirtschaftlichen Arbeiter, am politischen Klassenkampf des industriellen Proletariats bedeutete nicht nur das unvermeidliche Ende der reaktionären Junkerherrschaft, sondern auch, daß die Bourgeoisie niemals ihre alleinige Macht errichten konnte. Mit aller Deutlichkeit hatte Friedrich Engels diesen Gedanken bereits im Jahre 1870 ausgesprochen. In der „Vorbemerkung" zur Neuauflage seiner Schrift „Der deutsche Bauernkrieg" wies er die deutsche Sozialdemokratie „auf die nächste, dringendste Aufgabe der deutschen Arbeiterbewegung" hin, die ländlichen Arbeiter „lebendig zu machen und in die Bewegung hineinzuziehen"; denn „von dem Tage an, too die Masse der Landtaglöhner ihre eigenen Interessen verstehen gelernt hat, von dem Tage an ist eine reaktionäre, feudale, bürokratische oder bürgerliche Regierung in Deutschland unmöglich"}5 45
Derselbe, Der deutsche Bauernkrieg (Vorbemerkung), a. a. O., S. 614 (Hervorhebungen von mir, F. Sdi.).
KAPITEL I
Die Auffassungen von Karl Marx und Friedrich Engels sowie der Internationalen Arbeiterassoziation zur Landarbeiter- und Bauernfrage (1842—1871)
1. Karl Marx und Friedrich Engels1
Das Bestreben der reaktionären Klassen, den wissenschaftlichen Sozialismus als eine der werktätigen Landbevölkerung feindliche Doktrin zu verleumden, ist ebenso alt wie die theoretische Grundlage der modernen proletarischen Bewegung selbst. Seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts verging kaum ein Jahr, in dem nicht die eine oder die andere Schrift publiziert wurde, die sich zur Aufgabe stellte, einen tiefen Keil zwischen die arbeitenden Klassen und Schichten der Stadt und des platten Landes zu treiben. Die großen Grundbesitzer und Bourgeois, in deren Solde die Autoren solcher Madiwerke standen, bezweckten damit, den gemeinsamen Kampf aller Ausgebeuteten und Unterdrückten zu verhindern. Sie wußten sehr gut, daß nichts ihrer Herrschaft so gefährlich werden konnte, wie gerade die Einbeziehung der Landarbeiter in den proletarischen Klassenkampf und das Bündnis des städtischen Proletariats mit den werktätigen Bauern. Der Zwietracht zwischen den Werktätigen der Stadt und des platten Landes sollte auch das 1951 in den USA erschienene Buch David Mitranys, „Marx against the Peasant. A Study in Social Dogmatism", dienen. In diesem antimarxistischen Werk, das auch in deutscher Übersetzung verlegt wurde 2 , versuchte Mitrany unter anderem den Nachweis zu führen, „die Theorien und Schriften des Marxismus", die „über die wirtschaftliche und politische Stellung der Bauern in der modernen Gesellschaftsentwicklung und in einer möglichen sozialen Revolution eine Menge auszusagen" hatten, wären „starr und dogmatisch" gegen die werktätige Landbevölkerung gerichtet.3 Um die These von der angeblichen Bauernfeindlichkeit des Marxismus zu stützen, scheute sich Mitrany nicht, die entsprechenden Auffassungen des wissenschaftlichen Sozialismus verfälscht wiederzugeben. Ein Beispiel möge das beweisen. 1
2 3
Der Verfasser der vorliegenden Arbeit stellte sich nicht die Aufgabe, in diesem Abschnitt all das zusammenzutragen, was Karl Marx und Friedrich Engels im Verlaufe ihres bewegten politischwissenschaftlichen Lebens über die Landarbeiter- und Bauernfrage geschrieben oder geäußert haben. Vollständigkeit kann deshalb nicht erwartet werden. Mitrany, D „ Marxismus und Bauerntum. München 1956. Ebenda, S. 7.
30
I. Marx/Engels zur Landarbeiter- und Bauernfrage
„Wenn man nicht nur das .Kapital', sondern auch Marx' ganze wissenschaftliche und politische Tätigkeit betrachtet", schrieb Mitrany im vierten Kapitel seines Buches, „wird man nirgends Anzeichen finden, daß er den damaligen Zustand der Bauern in irgend einem Lande studiert hätte. Seine Methode war die Formulierung einer allgemeinen Theorie und die bloße Hineinpressung der Bauernfrage in diese, nie aber betrachtete er die Bauern als Gegenstand eigener Pläne oder Reformen. Es war eine Verurteilung ohne Prozeß. Durch sein ganzes Leben, nicht nur als Nationalökonom, sondern auch als Stadtbürger und Revolutionär, war Marx von einer unverhüllten Verachtung f ü r den Bauern erfüllt. Für ihn hatten diese stupiden und engstirnigen Tölpel durch die ganze Geschichte hindurch sich als .unfähig jeglicher revolutionären Initiative' erwiesen;... Er ging sogar so weit, den Kapitalismus zu loben, weil er .einen erheblichen Teil des Volkes von der Idiotie ländlichen Lebens gerettet' habe". 4 Allein dieser kleine Ausschnitt zeigt deutlich, daß David Mitrany vor offensichtlichen Entstellungen des Marxismus nicht zurückschreckte. Ohne die Fälschungen im einzelnen ausführlich widerlegen zu wollen, sei im Gegensatz zu den unwahren Behauptungen des Verfassers der genannten antimarxistischen Schrift gesagt, daß Karl Marx und Friedrich Engels nicht nur die ökonomische, politische und soziale Lage der Landarbeiter und Bauern der verschiedensten Länder recht eingehend studierten, sondern darüber hinaus der werktätigen Landbevölkerung ein höchst bemerkenswertes Interesse entgegenbrachten. 5 Die von Mitrany verwendeten Marx-Zitate, die aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang gerissen wurden, besagen in dieser Form ebenfalls noch nichts über den wirklichen Inhalt der wissenschaftlichen Lehre des Proletariats zur Landarbeiter- und Bauernfrage, stehen ihnen doch weit mehr auch von Karl Marx stammende gegenteilige Aussagen gegenüber, steht ihnen doch die gesamte marxistische Auffassung der Agrarfrage gegenüber. 4 5
Ebenda, S. 3 6 - 3 7 . Ein Blick in das Werk: „Karl Marx. Chronik seines Lebens in Einzeldaten. Zusammengestellt v o m Marx-Engels-Lenin-Institut Moskau". Moskau 1934, bestätigt bereits, daß sich Karl Marx immer wieder mit agrarischen Fragen beschäftigt hat. V o n den vielen diesbezüglichen Hinweisen, die darin enthalten sind, seien hier nur die folgenden erwähnt: 1854 schrieb Karl Marx für eine amerikanische Zeitung einen Artikel über neue Fälle von Expropriation der Bauern durch die englische Aristokratie in Irland und Schottland (S. 147); 1858 veröffentlichte er in der gleichen amerikanischen Zeitung drei Aufsätze über die bevorstehende Aufhebung der Leibeigenschaft in Rußland (S. 174); 1868 studierte er Literatur über die Grundrente und die Agrikultur überhaupt (S. 266); im gleichen Jahr las er Berichte über irische Agrarverhältnisse (S. 269), forderte ferner Material über die Grundeigentums- und Ackerbauverhältnisse der Vereinigten Staaten an (S. 269) und befaßte sich mit der Frage des russischen Grundeigentums (S. 274); 1869 studierte er einen offiziellen englischen Bericht über die Kinderarbeit in der Landwirtschaft (S. 280); 1870 erbat er von de Paepe Unterlagen über die landwirtschaftlichen Verhältnisse Belgiens (S. 239); 1 8 7 3 (S. 341 bis 344), 1875 (S. 3 5 2 und 355), 1876 (S. 356), 1877 (S. 359) und 1878 (S. 366) beschäftigte er sidi erneut mit russischen Agrarproblemen; 1876 nahm er sich vor, über den Adcerbau und die Grundeigentumsverhältnisse der U S A und Ungarns (S. 356) zu arbeiten; im gleichen Jahr begann er mit dem intensiven Studium der Formen des primitiven Grundeigentums bei verschiedenen Völkern, besonders bei den Slawen (S. 357) ; und 1878 exzerpierte er schließlich einige landwirtschaftliche Lehrbücher (S. 367).
1. Karl Marx und Friedrich Engels
31
So hatten Karl Marx und Friedrich Engels die große Bedeutung, die die werktätigen Klassen und Schichten des platten Landes für den revolutionären Kampf dex Arbeiterbewegung besaßen, bereits sehr früh erkannt. In ihren Werken befinden sich zahlreiche Hinweise und Ausführungen, die Zeugnis davon ablegen, daß sich die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus des öfteren mit dieser Frage beschäftigten. Der Lage der ländlichen Bevölkerung wandte Karl Marx seine Aufmerksamkeit erstmalig Ende 1842 zu. Den Anlaß boten die Debatten des Rheinischen Landtages über das Holzdiebstahlsgesetz. Als leitender Redakteur der „Rheinischen Zeitung für Politik, Handel und Gewerbe" 6 veröffentlichte er darüber in dem Organ der rheinischen Bourgeoisie einen Artikel. 7 Darin verteidigte er leidenschaftlich die „Interessen der Armen gegen die Gutsbesitzer" 8 , welche die strengste Bestrafung jener Parzellenbauern forderten, die es trotz Verbot wagten, in den herrschaftlichen Wäldern Holz zu sammeln. Obwohl diese Frage eine zutiefst soziale war, ging Karl Marx aber noch „nicht von einem wirtschaftlich-sozialen, sondern von einem rechtlich-politischen Standpunkt" 9 aus an sie heran. Er war damals noch linker Hegelianer und hatte noch nicht den Übergang zum wissenschaftlichen Sozialismus vollzogen. Etwa zur gleichen Zeit beabsichtigte Karl Marx, für die „Rheinische Zeitung" einen Aufsatz über die Parzellierung des Bodens zu schreiben 10 ; ein Vorhaben, das er nicht verwirklichen konnte. Wenig später hat er jedoch, wenn auch nur kurz, dazu Stellung genommen. In einem Artikel - betitelt: „Rechtfertigung des ff-Korrespondenten von der Mosel" kritisierte er rein vom juristischen Standpunkt aus das Bestreben, die Parzellierung des Grundbesitzes zu beschränken 11 ; das heißt, er erkannte auch in diesem Falle noch nicht die wirtschaftlich-soziale Seite des Problems. 12 Im Dezember 1842 druckte die „Rheinische Zeitung" ferner drei Korrespondenzen über die Notlage der Moselbauern ab. Sah die erste Zuschrift die Ursachen des Elends in den ökonomischen Verhältnissen der Moselwinzer, so beschuldigten die beiden anderen die Regierung, „die Moselbauern in Not und Elend verkommen zu lassen und ihre Klagen zu unterdrücken" t3 . Dagegen protestierte der damalige Oberpräsident der Rheinprovinz, von Schaper, der seinerseits der „Rheinischen Zeitung" vorwarf, die bäuerliche Bevölkerung an der Mosel gegen die Regierung aufzuwiegeln.14 Die von ihm eingesandten „Berichtigungen" wurden am 18. Dezember 1842 im gleichen Organ veröffentlicht. Marx hegte nun die Hoffnung, daß der Verfasser der Korrespondenzen, der kleinbürgerliche Demokrat P. J. 6
Im folgenden kurz „Rheinische Zeitung" genannt.
7
Marx, K., Debatten über das Holzdiebstahlsgesetz. In: Marx/Engels, Werke. Bd. I, Berlin 1956,
8
Cornu, A„ Karl Marx und Friedrich Engels. Leben und Werk. Erster Band, Berlin 1954, S. 326.
S. 1 0 9 - 1 4 7 . 9
Ebenda. S. 325.
10
Siehe Marx, K., Debatten über das Holzdiebstahlsgesetz, a. a. O., S. 109, und Cornu. A.. a. a. O.,
11
Vgl. Marx, K., Rechtfertigung des tt-Korrespondenten von der Mosel. In: Marx/Engels, Werke,
12
Comu, A„ a. a. O.. S. 343.
13
Ebenda. S. 341.
14
Ebenda.
S. 328. Bd. I. Berlin 1956, S. 188.
32
I. Marx/Engels zur Landarbeiter- und Bauernfrage
Coblenz, eine fundierte Antwort nicht sdiuldig bleiben würde. Dieser hatte jedoch den Rückzug angetreten. 15 Karl Marx war deshalb gezwungen, den Kampf gegen die Regierung allein auszufediten. Sein Plan bestand darin, fünf Artikel mit der folgenden Thematik zu verfassen: „A. Die Frage in bezug auf die Holzverteilung; B. Das Verhältnis der Moselgegend zu der Kabinettsordre vom 24. Dezember 1841 und der durch dieselbe bewirkten freieren Bewegung der Presse; C. Die Krebsschäden der Moselgegend; D. Die Vampyre der Moselgegend; E. Vorschläge zur Abhilfe." 16 Allerdings konnten davon nur die ersten drei Themen bearbeitet werden.17 Die Artikel A und B erschienen in der „Rheinischen Zeitung" 18 , C wurde ein Opfer der preußischen Zensur. Die Beschäftigung mit diesen Fragen zwang Karl Marx, sidi wiederum mit wichtigen ökonomischen und sozialen Problemen zu befassen. Es zeigte sich jedoch auch hier, daß er „noch nicht in der Lage war, wirtschaftliche und soziale Fragen vom wirtschaftlichen und sozialen Standpunkt aus zu lösen"; Marx behandelte sie noch immer „im wesentlichen unter juristischem und ethischem Gesichtspunkt". 19 Dennoch waren für ihn diese Auseinandersetzungen von entscheidender Bedeutung. „Ich habe von Marx immer gehört, gerade durch seine Beschäftigung mit dem Holzdiebstahlsgesetz und der Lage der Moselbauern sei er von der bloßen Politik auf ökonomische Verhältnisse verwiesen worden und so zum Sozialismus gekommen", schrieb Friedrich Engels am 5. April 1893 an den führenden deutschen Sozialdemokraten Richard Fischer.20 All das beweist, daß sich Karl Marx schon damals von dem sozialen Gedanken leiten ließ, den Ausgebeuteten und Unterdrückten, in diesem Falle der kleinbäuerlichen Bevölkerung an der Mosel, zu helfen. Wenn auch die Mittel, die er zur Anwendung brachte, noch unvollkommen waren bzw. noch unvollkommen sein mußten, weil die Lehre des wissenschaftlichen Sozialismus noch nicht herausgearbeitet war, so zeugt doch seine journalistische Tätigkeit an der „Rheinischen Zeitung" davon, daß er sich eng verbunden mit allen Armen und Rechtlosen fühlte. Friedrich Engels unterzog sich ebenfalls frühzeitig der notwendigen Aufgabe, die Lage der arbeitenden Klassen zu studieren. Auch er berücksichtigte dabei die proletarische Landbevölkerung. Mit dem Leben der Adeerbautagelöhner beschäftigte er sich erstmalig ausführlicher in seinem aufsehenerregenden Jugendwerk „Die Lage der arbeitenden Klasse in England", das 1845 erschien. Darin widmete er dem englischen Ackerbauproletariat ein
15
Ebenda, S. 342. Vgl. den Brief von Ciaessen an Karl Marx vom 21. Dezember 1842 unter der An-
16
Marx, K., Rechtfertigung des tt-Korrespondenten von der Mosel, a. a. O., S. 174.
17
Marx/Engels.
18
Marx. K.. Rechtfertigung des t+-Korrespondenten von der Mosel, a. a. O., S. 1 7 2 - 1 9 9 .
19
Cornu, A„ a. a. O.. S. 343.
20
Ebenda, S. 344, zitiert. Vgl. auch Marx/Engels,
merkung 228. Werke, Bd. I. Berlin 1956, S. 603.
Berlin 1951, S. 3 3 6 - 3 3 7 .
Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Bd. I,
1. Karl Marx und Friedrich Engels
33
ganzes Kapitel.21 Eindringlich und erschütternd zugleich schilderte Engels hier, wie in England die Klasse der Landarbeiter entstand, wie sie durch das Vordringen des Kapitalismus in der Landwirtschaft mehr und mehr verarmte und wie sie nahezu wehrlos den kapitalistischen Pächtern ausgeliefert war. Mit unverhohlener Sympathie registrierte er aber auch jede noch so kleine selbständige Bewegung des englischen Ackerbauproletariats, weil diese erkennen ließen, daß sich unter den ländlichen Arbeitern das Klassenbewußtsein zu entwickeln begann. Wenn Friedrich Engels am Ende seines Buches zu dem Schluß kam, die Revolution in England, der „Krieg der Armen gegen die Reichen" müsse kommen22, so war das nur folgerichtig - auch wenn die proletarische Revolution in England heute noch aussteht. Mit der leidenschaftlichen Darstellung der Zustände des englischen Fabrik- und Landproletariats verfolgte Friedrich Engels die Absicht, auch die arbeitenden Klassen seines eigenen Volkes aufzurütteln. „Für Deutschland insbesondere", schrieb er am 15. März 1845 im Vorwort zu seinem bereits sdion kommunistischen Werk, „hat die Darstellung der klassischen Proletarierzustände des britischen Reichs - und namentlich im gegenwärtigen Augenblick - große Bedeutung... Uns Deutschen vor allen tut eine Kenntnis der Tatsachen in dieser Frage not. Und wenn auch die proletarischen Zustände Deutschlands nicht zu der Klassizität ausgebildet sind wie die englischen, so haben wir doch im Grunde dieselbe soziale Ordnung, die über kurz oder lang auf dieselbe Spitze getrieben werden muß, welche sie jenseits der Nordsee bereits erlangt hat - falls nicht beizeiten die Einsicht der Nation Maßregeln zustande bringt, die dem ganzen sozialen System eine neue Basis geben. Dieselben Grundursachen, welche in England das Elend und die Unterdrückung des Proletariats bewirkt haben, sind in Deutschland ebenfalls vorhanden und müssen auf die Dauer dieselben Resultate erzeugen. Einstweilen wird aber das konstatierte englische Elend uns einen Anlaß bieten, auch unser deutsches Elend zu konstatieren.. Z"23 Das Ziel, das sich Friedrich Engels mit seiner Arbeit gestellt hatte, bestand also nicht nur darin, die Lage des englischen Fabrik- und Adcerbauproletariats sowie die Entwicklung der englischen Arbeiterbewegung zu beschreiben. Er wollte mehr. Seine Bemühungen liefen darauf hinaus, der gesamten internationalen Arbeiterklasse ein menschenwürdiges Dasein zu verschaffen. Um das zu erreichen, unterzog er sich der mühevollen Arbeit, die Not und das Elend des Proletariats sowie deren Ursachen gleich einem Spiegel allen Ausgebeuteten und Unterdrückten vor Augen zu halten und damit ins Bewußtsein der Arbeiterklasse zu rufen. Er sah darin den ersten Schritt auf dem Wege zur revolutionären Aktivität des industriellen und ländlichen Proletariats. Das Studium der Lage der werktätigen Klassen und Schichten der Stadt und des platten Landes ließ bei Friedrich Engels die Erkenntnis reifen, daß auch die kleinen Bauern zu revolutionären Aktionen fähig sind. Bereits im Jahre 1847, am Vorabend der bürgerlichdemokratischen Revolution in Deutschland, schrieb er das prophetische Wort: „Es wird allerdings die Zeit kommen, wo der ausgesogene, verarmte Teil der Bauern sich dem bis 21
22 23
3
Engels, F.. Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Nadi eigener Anschauung und authentischen Quellen, Berlin 1952, S. 3 1 6 - 3 3 1 . Ebenda. S. 3 5 5 - 3 5 7 . Ebenda. S. 1 1 - 1 2 . Sdiaaf. Arbeiterbewegung
34
I. Marx/Engels zur Landarbeiter- und Bauernfrage
dahin weiterentwickelten Proletariat anschließen und der Bourgeoisie den Krieg erklären wird". 24 Im gleichen Jahr verfaßte Friedrich Engels zur Vorbereitung des „Manifests der Kommunistischen Partei" die „Grundsätze des Kommunismus". Diese enthielten unter anderem einige Forderungen, welche geeignet waren, neben dem städtischen Proletariat auch die werktätige Landbevölkerung für die heranreifende revolutionär-demokratische Bewegung zu mobilisieren, befanden sich doch unter den Maßregeln, die Engels zur Sicherung der Demokratie und der Existenz der Arbeiterklasse für erforderlich erachtete, z. B. die folgenden : 1. „Allmähliche Expropriation der Grundeigentümer"; 2. „Konfiskation der Güter aller Emigranten und Rebellen"; 3. „Beschäftigung der Proletarier auf den Nationalgütern"; 4. „Bildung industrieller Armeen besonders für die Agrikultur"; 5. „Urbarmachung aller Ländereien und Verbesserung der schon urbar gemachten"; 6. „Errichtung großer Paläste auf den Nationalgütern als gemeinschaftliche Wohnungen für Gemeinden von Staatsbürgern, welche sowohl Industrie wie Ackerbau treiben und die Vorteile sowohl des städtischen wie des Landlebens in sich vereinigen, ohne die Einseitigkeiten und Nachteile beider Lebensweisen zu teilen"; 7. „Zerstörung aller ungesunden und schlecht gebauten Wohnungen". 2 5 Friedrich Engels stellte also Forderungen auf, die wesentlich bürgerlich-demokratischen Charakters waren, zugleich aber bereits den Keim der proletarisch-sozialistischen Entwicklung, die gesetzmäßig nach dem Sieg der Bourgeoisie kommen mußte, in sich trugen. Ähnliche Forderungen erhoben wenig später Karl Marx und Friedrich Engels gemeinsam im „Manifest der Kommunistischen Partei". In dieser berühmten Schrift, der Geburtsurkunde des wissenschaftlichen Sozialismus, wurde für die Zeit nach der erfolgten siegreichen bürgerlich-demokratischen Revolution darauf hingewiesen, „daß der erste Schritt in der Arbeiterrevolution die Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse, die Erkämpfung der Demokratie" sein müsse. Die errungene politische Macht müßten die Arbeiter dazu benutzen, führten Karl Marx und Friedrich Engels aus, „der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen, alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staats, das heißt des als herrschende Klasse organisierten Proletariats zu zentralisieren und die Masse der Produktionskräfte möglichst rasch zu vermehren". Dies könne „natürlich zunächst nur geschehen vermittelst despotischer Eingriffe in das Eigentumsrecht und in die bürgerlichen Produktionsverhältnisse, durch Maßregeln also, die ökonomisch unzureichend und unhaltbar erscheinen, die aber im Lauf der Bewegung über sich selbst hinaus treiben und als Mittel zur Umwälzung der ganzen Produktionsweise unvermeidlich sind". Unter diesen Maßregeln, die, wie betont wurde, „natürlich je nach den verschiedenen Ländern verschieden" sein werden, nannten Marx und Engels auch solche, welche die werktätige Landbevölkerung direkt betrafen. Sie lauteten: 24
25
Zitiert bei Hoernle, E.. Bauer und Arbeiter. In: „Einheit. Theoretische Zeitschrift des wissenschaftlichen Sozialismus" (im folgenden wird der Untertitel weggelassen), hrsg. vom Parteivorstand der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Nr. 10 vom Oktober 1947. S. 908 (Hervorhebungen von mir, F. Sch.). Engels. F.. Grundsätze des Kommunismus. Berlin 1955, S. 27-28.
1. Karl Marx und Friedrich Engels
35
„1. Expropriation des Grundeigentums und Verwendung der Grundrente zu Staatsausgaben. 2. Starke Progressivsteuer. 3. Abschaffung des Erbrechts. 4. Konfiskation des Eigentums aller Emigranten und Rebellen. 7
Urbarmachung und Verbesserung der Ländereien nach einem gemeinschaftlichen Plan.
8. Gleicher Arbeitszwang für alle, Einrichtung industrieller Armeen, besonders für den Ackerbau. 9. Vereinigung des Betriebs von Ackerbau und Industrie, Hinwirken auf die allmähliche Beseitigung des Gegensatzes zwischen Stadt und Land. «26 Nur wenige Wochen nach dem erstmaligen Erscheinen des „Manifests der Kommunistischen Partei" sahen sich Karl Marx und Friedrich Engels erneut veranlaßt, zur Landarbeiter- und Bauernfrage Stellung zu nehmen. Um der eben in Deutsdiland ausgebrochenen bürgerlich-demokratischen Revolution Auftrieb und Richtung zu geben, um möglichst breite Bevölkerungskreise in den revolutionären Kampf gegen die feudale Reaktion einzubeziehen und um die unausbleibliche Auseinandersetzung mit der Bourgeoisie vorzubereiten, erließen sie Ende März 1 8 4 8 mit Karl Schapper, Heinrich Bauer, Josef Moll und Wilhelm Wolff einen Aufruf, der in Deutschland verbreitet wurde. Dieses Dokument, das unter dem Namen „Forderungen der Kommunistischen Partei in Deutsdiland" bekannt geworden ist, enthielt allein vier die Agrarfrage betreffende Forderungen: „6. Alle Feudallasten, alle Abgaben, Fronden, Zehnten etc., die bisher auf dem Landvolke lasteten, werden ohne irgendeine Entschädigung abgeschafft. 7. Die fürstlichen und andern feudalen L a n d g ü t e r . . . werden in Staatseigentum umgewandelt. Auf diesen Landgütern wird der Ackerbau im großen und mit den modernsten Hilfsmitteln der Wissenschaft zum Vorteil der Gesamtheit betrieben. 8. Die Hypotheken auf den Bauerngütern werden für Staatseigentum erklärt. Die Interessen für jene Hypotheken werden von den Bauern an den Staat gezahlt. 9. In den Gegenden, wo das Pachtwesen entwickelt ist, wird die Grundrente oder der Pachtschilling als Steuer an den Staat gezahlt." 2 7 „Alle diese unter 6, 7, 8 und 9 angegebenen Maßregeln werden gefaßt", fügten die Unterzeichner des Aufrufs zur näheren Erläuterung hinzu, „um öffentliche und andere Lasten der Bauern und kleinen Pächter zu vermindern, ohne die zur Bestreitung der Staatskosten nötigen Mittel zu schmälern und ohne die Produktion selbst zu gefährden. - Der eigentliche Grundeigentümer, der weder Bauer noch Pächter ist, hat an der Produktion gar keinen Anteil. Seine Konsumtion ist daher ein bloßer Mißbrauch." 2 8 Den politischen Sinn ihrer Forderungen hoben Karl Marx und Friedrich Engels sowie die anderen Unterzeichner des Flugblattes am Schluß desselben hervor. „Es liegt im Interesse des deutschen Proletariats, des kleinen Bürger- und Bauernstandes", schrieben sie dort, „mit ^Marx/Engels. Manifest der Kommunistischen Partei, a. a. O., S. 42. 27Marx!Engels, Forderungen der Kommunistischen Partei in Deutsdiland. In: Marx, Engels, Lenin, Stalin, Zur deutschen Geschichte, Bd. II/l, Berlin 1954, S. 187. 2 8 Ebenda. 3»
36
I. Marx/Engels zur Landarbeiter- und Bauernfrage
aller Energie an der Durchsetzung obiger Maßregeln zu arbeiten. Denn nur durch Verwirklidiung derselben können die Millionen, die in Deutschland von einer kleinen Zahl ausgebeutet wurden und die man weiter in der Unterdrückung zu erhalten suchen wird, zu ihrem Recht und zu derjenigen Macht gelangen, die ihnen als den Hervorbringern alles Reichtums gebührt." 29 Dieser Aufruf, über dessen Verbreitung im einzelnen leider nichts gesagt werden kann, war zweifelsohne geeignet, die Landarbeiter und werktätigen Bauern Deutschlands für die Ziele der bürgerlich-demokratischen Revolution in Bewegung zu bringen. Die ökonomische und soziale Lage, in der sich der größte Teil der landwirtschaftlichen Bevölkerung der deutschen Staaten 1848 befand, war dafür sehr günstig, bestand doch eine der Ursachen der revolutionären Ereignisse von 1848/49 beispielsweise in der großen Unzufriedenheit der arbeitenden Klassen und Schichten des platten Landes mit den in Deutschland noch immer herrschenden feudalen Zuständen. 30 Das aus dieser sozialen und politischen Unzufriedenheit geborene Streben der ländlichen Arbeiter und kleinen Bauern nach eigenem und ausreichendem Grundbesitz sowie nach Beseitigung der feudalen Ausbeutung und Unterdrückung hatte in der Tat bedeutende Teile von ihnen während der Revolution von 1848/49 gesellschaftlich mobilisiert. In einer 1873 der preußischen Regierung vorgelegten Denkschrift wurde dazu zurückschauend festgestellt, daß „im Jahre 1848 die sogenannten Büdner, Häusler, Dreschgärtner etc. zu den allerunruhigsten Elementen des platten Landes" gehörten; „ihnen schlössen sich die freien Arbeiter(Einlieger) an, während der abhängige Arbeiterstand(Tagelöhner) sich meist passiv, vielfach aber auch durchaus zuverlässig verhielt". 31 In Schlesien, wo eine Zeitlang der Tagelöhnersohn und Freund von Karl Marx und Friedrich Engels Wilhelm Wolff wirkte 32 , der in der „Neuen Rheinischen Zeitung" seine „flammenden, das ländliche Proletariat aufstürmenden A u f s ä t z e . . . über die Schlesische Milliarde" 33 veröffentlichte, entstanden vielfach sogenannte „Rustical-Vereine". Bauern- und Tagelöhnervereine bildeten sich auch in SchleswigrHolstein, Mecklenburg, Sachsen, Franken, Hessen und Nassau. 34 Der vom Zentralkomitee der Arbeiterverbrüderung zum 2. April 1849 nach Nürnberg einberufene „Allgemeine bayrische Arbeiterkongreß" faßte unter anderem einen Beschluß über die Gründung von Bauernvereinen im engen Anschluß an die Arbeitervereine. 35 Danach war der Nürnberger Arbeiterverein aktiv unter den Bauern tätig. 36 Als im Zusammenhang mit 29
Ebenda. S. 188.
30
Vgl. Goltz, Th. Frh. v. d„ Die ländliche Arbeiterklasse und der preußische Staat, a. a. O.. S. 111.
31
Ehem. Preuß. Geh. Staatsarchiv (bzw. Brandenburg-Preußisches Hausarchiv), heute Deutsches Zentralarchiv, Abt. Merseburg, Rep. 120, Ministerium für Handel und Gewerbe, BB, Abtlg. VII, Fach 5, Nr. 3 : Die Verhältnisse der ländlichen Arbeiter 1 8 7 2 - 1 8 7 9 . Bl. 49.
32
Vgl. dazu Bleiber,
H.. Wilhelm Wolfis Aufenthalt in Breslau im Frühjahr 1843. In: .Zeitschrift
für Geschichtswissenschaft", Berlin 1958. H. 6, S. 1 3 1 0 - 1 3 2 6 . 33
Mehring,
34
Vgl. Schmidt, H.,
F., Karl Marx. Geschichte seines Lebens. Berlin 1960, S. 193.
examensarbeit 35
Gärtner,
Die deutschen Bauern in der Revolution von 1 8 4 8 / 4 9 . Leipzig o. J. (StaatsMaschinenschrift).
G., Mit uns zieht die neue Zeit. Geschichte der Nürnberger Arbeiterbewegung von ihren
Anfängen bis zum Jahr 1928. Nürnberg 1928, S. 3 2 . 36
Ebenda, S. 33.
1. Karl Marx und Friedrich Engels
37
den Bewegungen zur Verteidigung und Verwirklichung der Reichsverfassung im Jahre 1849 auch in Franken die bewaffnete Erhebung drohte, beschloß dieser die Sensenbewaffnung.37 In Mecklenburg, wo die Landarbeiter ebenfalls sehr mobil waren 38 , soll es sogar einen Tagelöhner gegeben haben, der als Mitglied des „Bundes der Kommunisten" Versammlungen unter der Arbeiterbevölkerung des platten Landes organisierte und durdiführte. 39 Auch in der „Neuen Rheinischen Zeitung" kämpften Karl Marx und Friedrich Engels für die Befreiung der noch von den Junkern ausgebeuteten und unterdrückten Bauern Deutschlands, besonders der des Königreichs Preußen. Am 25. Juni 1848 setzten sie sich z. B. mit Patows Ablösungsdenkschrift auseinander, die wenige Tage zuvor, am 20. Juni, dem Berliner Parlament vorgelegt worden war. „Wenn man diese Denkschrift liest", bemerkten Marx und Engels dazu, „so begreift man nicht, warum in den altpreußischen Provinzen nicht längst ein Bauernkrieg ausgebrochen ist. Welch ein Wust von Leistungen, Abgaben, Lieferungen, welch ein Wirrwarr von mittelalterlichen Namen, einer noch toller als der andre! Lehnsherrlichkeit, Sterbefall, Besthaupt, Kurmede, Blutzehnt, Schutzgeld, Walpurgiszins, Bienenzins, Wachspacht, Auenredit, Zehnten, Laudemien, Nachschußrenten, das alles hat bis heute noch in dem ,bestverwalteten Staate der Welt' bestanden und würde in alle Ewigkeit bestanden haben, wenn die Franzosen keine Februarrevolution gemacht hätten!" 40 Im Anschluß daran gelangten die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus zu der Feststellung, „die meisten dieser Lasten und gerade die drückendsten unter ihnen würden in alle Ewigkeit fortbestehen, wenn es nach dem Wunsche des Herrn Patow ginge", dem „ja gerade deshalb dies Departement überwiesen worden, damit er die märkischen, pommerschen und schlesisdien Krautjunker soviel wie möglich schonen, die Bauern soviel wie möglich um die Früchte der Revolution prellen soll I" 41 „Der richtige Titel für den Aufsatz des Herrn Patow", erklärten Marx und Engels zum Schluß, müßte demzufolge lauten: „Denkschrift wegen Erhaltung der Feudallasten auf ewige Zeiten, vermittelst der Ablösung." 42 Ein weiterer Artikel, der am 30. Juli 1848 in der „Neuen Rheinischen Zeitung" veröffentlicht wurde, beschäftigte sich mit dem Gesetzentwurf über die Aufhebung der Feudallasten in Preußen. 43 Darin kritisierten Karl Marx und Friedrich Engels die Auffassungen des damaligen preußischen Landwirtschaftsministers Gierke, der im Interesse der Junker für 37
Ebenda.
38
Vgl. Herzfeld,
]., Landarbeiter in Mecklenburg. Berlin 1905, S. 2 9 - 3 1 , und Hering, F., Die Land-
arbeiter und ihre Gewerkschaften. Berlin 1929, S. 14. 39
Bei Arbeiten im Landeshauptarchiv Schwerin fand der Verfasser der vorliegenden Monographie vor längerer Zeit den Bericht eines Landgendarmen, aus dem hervorging, daß vor 1850 - d. h. während der Revolution von 1848/49 - ein Landarbeiter als Mitglied des „Bundes der Kommunisten" tätig war; dieser soll Landarbeiterversammlungen organisiert und durchgeführt haben. Der Verfasser ist im Augenblick leider nicht in der Lage, die notwendigen Quellenangaben zu machen.
40
Marx/Engels,
Die Revolution von 1848. Auswahl aus der „Neuen Rheinischen Zeitung", Berlin
1949, S. 137. 41
Ebenda.
42
Ebenda, S. 138.
43
Ebenda. S. 1 3 8 - 1 4 3 .
38
I. Marx/Engels zur Landarbeiter- und Bauernfrage
die Beseitigung der alten und schon lange überlebten Feudallasten gegen Entschädigung eintrat. Sie charakterisierten seine Agrarpolitik, die derjenigen der französischen Revolution von 1789 gegenübergestellt wurde, als Verrat an den Bauern, den natürlichen Bundesgenossen der Bourgeoisie. Wörtlich schrieben sie: „Was ist nun des langen Gesetzes kurzer Sinn? Der schlagendste Beweis, daß die deutsche Revolution von 1848 nur die Parodie der französischen Revolution von 1789 ist. Am 4. August 1789, drei Wochen nach dem Bastillensturm, wurde das französische Volk auf einen Tag mit den Feudallasten fertig. Am 11. Juli 1848, vier Monate nach den Märzbarrikaden, werden die Feudallasten mit dem deutschen Volk fertig, teste Gierke cum Hansemanno. Die französische Bourgeoisie von 1789 ließ ihre Bundesgenossen, die Bauern, keinen Augenblidc im Stich. Sie wußte, die Grundlage ihrer Herrschaft war Zertrümmerung des Feudalismus auf dem Lande, Herstellung der freien, grundbesitzenden Bauernklasse. Die deutsche Bourgeoisie von 1848 verrät ohne allen Anstand diese Bauern, die ihre natürlichsten Bundesgenossen, die Fleisch von ihrem Fleische sind, und ohne die sie machtlos ist gegenüber dem Adel. Die Fortdauer, die Sanktion der Feudalrechte in der Form der (illusorischen) Ablösung, das ist also das Resultat der deutschen Revolution von 1848. Das ist die wenige Wolle von dem vielen Geschrei!"44 Mit der Landarbeiter- und Bauernfrage, wie sie zur Zeit der bürgerlich-demokratischen Revolution von 1848/49 in Deutschland stand, befaßten sich Karl Marx und Friedrich Engels dann noch einmal in den Jahren 1851 und 1852. Damals schrieben sie für die amerikanische Zeitung „New York Daily Tribüne" eine Anzahl Aufsätze über die revolutionären Ereignisse von 1848/49, in denen sie - wenn auch nur kurz - wiederholt auf die Rolle der werktätigen Landbevölkerung während der Revolution zu sprechen kamen.45 Der erste, im September 1851 formulierte Artikel, der die Lage in Deutschland zu Beginn der bürgerlich-demokratischen Revolution analysierte, berücksichtigte dabei in besonderem Maße die Landarbeiter und werktätigen Bauern, welche „die große Mehrheit des ganzen Volkes" darstellten.46 Marx und Engels gelangten darin auf Grund einer ausführlichen Klassenanalyse zu dem Schluß, daß sich „die kleinen Freibauern, die feudalen Hintersassen und die Landarbeiter", die „sich vor der Revolution über Politik nie viel Kopfzerbrechen gemacht" hatten, „ihr der Reihe nach alle anschließen" mußten, weil „dieses Ereignis ihnen eine neue Bahn voll der glänzendsten Ausblicke" eröffnet hatte. 47 Gleichzeitig hoben sie aber hervor, „daß die Landbevölkerung niemals selbständig in eine erfolgreiche Bewegung eintreten kann; denn sie ist über ein zu großes Gebiet verstreut, und es hält schwer, unter einem einigermaßen erheblichen Teil von ihr eine Verständigung herbeizuführen". 48 „Den Anstoß", so betonten sie, „muß ihr die Initiative der aufgewedcteren und beweglicheren Be44
Ebenda, S. 143. Vgl. Marx/Engels, Revolution und Konterrevolution in Deutschland. In: Marx, Engels, Lenin, Stalin, a. a. O., Bd. I I / l , Berlin 1954, S. 360, 361. 369, 374, 393. 445, 451, 452 und 460. 46 Ebenda, S. 360. 47 Ebenda, S. 360-361. 48 Ebenda. S. 361. 45
1. Karl Marx und Friedrich Engels
39
völkerung geben, die in den Städten konzentriert ist".49 Es versteht sich von selbst, daß Marx und Engels, die dabei das enge Bündnis zwischen dem Fabrikproletariat und den arbeitenden Klassen und Schichten des platten Landes ins Auge faßten, diese Worte als historische Lehre verstanden haben wollten. Nach der Revolution von 1848/49 wandten Karl Marx und Friedrich Engels weiterhin ihre Aufmerksamkeit den landwirtschaftlichen Arbeitern und werktätigen Bauern zu. In der Ansprache der Zentralbehörde des „Bundes der Kommunisten" vom März 1850, in der die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus auf Grund ihrer reichen revolutionären Erfahrungen die proletarische von der kleinbürgerlich-demokratischen Bewegung abgrenzten und Wesentliches zur Taktik der Arbeiterklasse aussagten, wiesen sie z. B. klar und deutlich darauf hin, daß „sich die Arbeiter mit dem Landproletariat verbinden" müssen, wenn sich die Demokraten mit den Bauern zusammentun. Marx und Engels zeigten, daß in der Frage der Aufhebung des Feudalismus die Demokraten „mit den Arbeitern in Konflikt kommen werden", weil sie „das Landproletariat bestehen lassen und eine kleinbürgerliche Bauernklasse bilden wollen". „Diesem Plane", riefen die Führer des „Bundes der Kommunisten" den städtischen Arbeitern zu, müßten sie „im Interesse des Landproletariats und in ihrem eigenen Interesse" entgegentreten. „Sie müssen verlangen, daß das konfiszierte Feudaleigentum Staatsgut bleibt und zu Arbeiterkolonien verwandt wird, die das assoziierte Landproletariat mit allen Vorteilen des großen Ackerbaus bearbeitet und wodurch das Prinzip des gemeinsamen Eigentums sogleich eine feste Grundlage in den wankenden bürgerlichen Eigentumsverhältnissen erlangt."50 Drei Monate später, in der Ansprache der Zentralbehörde des „Bundes der Kommunisten" an seine Mitglieder vom Juni 1850, konnten Karl Marx und Friedrich Engels bereits über eine Reihe Erfolge berichten. Sie teilten mit, daß in Schleswig-Holstein und Mecklenburg Bauern- und Tagelöhnervereine bestehen, auf die direkten Einfluß zu gewinnen und sie teilweise ganz in die Hand zu bekommen den Bundesmitgliedern gelungen sei. Die sächsischen, fränkischen, hessischen und nassauischen Tagelöhnervereine ständen ebenfalls zum größten Teil unter der Leitung des „Bundes". Marx und Engels machten schließlich „alle Gemeinden und Bundesmitglieder darauf aufmerksam, daß dieser Einfluß auf die Arbeiter-, Turn-, Bauern- und Taglöhnervereine etc. von der höchsten Wichtigkeit" sei „und überall gewonnen werden" müsse. Sie forderten „die leitenden Kreise und direkt mit ihr (der Zentralbehörde des „Bundes der Kommunisten", F. Sch.) korrespondierende Gemeinden auf, in ihren nächsten Briefen speziell zu berichten, was in dieser Beziehung geschehen ist".51 Die kleine, aber sehr bedeutende Schrift von Friedrich Engels, „Der deutsche Bauernkrieg", die „im Sommer 1850, noch unter dem unmittelbaren Eindruck der eben vollendeten Konterrevolution, in London geschrieben"52 wurde, diente letztlich ebenfalls dazu, die städti49
Ebenda. Marx/Engels, Ansprache der Zentralbehörde an den Bund vom März 1850. In: Marx/Engels, Ausgewählte Schriften in zwei Bänden. Bd. I. Berlin 1951, S. 101. 51 Marx/Engels, Ansprache derselben Zentralbehörde an den Bund vom Juni 1850. In: Marx, Engels, Lenin, Stalin, a. a. O., Bd. II/l, Berlin 1954, S. 607. Vgl. auch Engels, F., Z u r Geschichte des Bundes der Kommunisten. In: Marx, K., Enthüllungen über den Kommunistenprozeß zu Köln. Berlin 1952. S. 27. 50
40
I. Marx/Engels zur Landarbeiter- und Bauernfrage
sehen Arbeiter auf ihre nächsten Klassen- und Bundesgenossen, die Landproletarier und werktätigen Bauern, aufmerksam zu madien. Friedrich Engels, der hier in konzentrierter Form, dabei aber nicht wenig farbig, vor seinen Zeitgenossen ein Bild über die Ursachen und den Ablauf des deutschen Bauernkrieges mit allen seinen sozialen und politischen Problemen zeichnete, erinnerte daran, daß auch das deutsche Volk revolutionäre Traditionen besitzt. „Es gab eine Zeit", hieß es einleitend in seiner Darstellung, „wo Deutschland Charaktere hervorbrachte, die sich den besten Leuten der Revolutionen anderer Länder an die Seite stellen können, wo das deutsche Volk eine Ausdauer und Energie entwickelte, die bei einer zentralisierten Nation die großartigsten Resultate erzeugt hätte, wo deutsche Bauern und Plebejer mit Ideen und Plänen schwanger gingen, vor denen ihre Nachkommen oft genug zurückschaudern."53 Diese Traditionen dem deutschen Volke vor Augen zu halten, sei deshalb notwendig, erklärte Engels, weil „sich nach zwei Jahren des Kampfes fast überall"54 ein Nachlassen der revolutionären Aktivität der werktätigen Volksmassen bemerkbar gemacht habe. Des weiteren müsse gesehen werden, daß „der Bauernkrieg unsern heutigen Kämpfen so überaus fern nicht" stehe 55 ; denn „die zu bekämpfenden Gegner sind großenteils noch dieselben"56. Indem Friedrich Engels bedauerte, daß „der robuste Vandalismus des Bauernkriegs in der Bewegung der letzten Jahre nur stellenweise, im Odenwald, im Schwarzwald, in Schlesien, zu seinem Rechte kam" 57 , brachte er unmißverständlich zum Ausdruck, welch große Bedeutung einer revolutionären Bauernbewegung noch nach 1848/49 beizumessen war. Den Gedanken, „daß die Verknüpfung der revolutionären Bauernbewegung mit der proletarischen Revolution notwendig sei" 58 , vertrat mit aller Entschiedenheit auch Karl Marx. In seinem Briefe vom 16. April 1856 an Friedrich Engels schrieb er dazu die oft zitierten und ganz und gar für sich sprechenden Worte: „The whole thing in Germany wird abhängen von der Möglichkeit to back the Proletarian revolution by some second edition of the Peasant's war. Dann wird die Sache vorzüglich."59 Zwei bedeutungsvolle Arbeiten aus der Feder von Karl Marx, nämlich: „Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850" und „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte", die sich ausführlich mit der Bauernfrage beschäftigten, erschienen ferner in den Jahren 1850 und 1852. Beide Schriften enthielten wichtiges Material und wesentliche Gesichtspunkte zur Rolle der französischen Bauern in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Beide erbrachten zugleich den Beweis, daß die Befreiung der werktätigen Bauern von kapitalistischer Ausbeutung und Unterdrückung nur möglich ist durch den Anschluß dieser Klasse an die revolutionäre Bewegung des Proletariats. Es ist hier nicht der Platz, im einzelnen das Verhalten und die Stellung der französischen Bauernklasse zur politischen Entwicklung Frankreichs seit der Julirevolution von 1830 zu 52
Engels, F., Der deutsche Bauernkrieg. Berlin 1946, S. 5.
53
Ebenda, S. 21.
54
Ebenda.
55
Ebenda.
56
Ebenda.
57
Ebenda.
Fischer,
68 59
K„ Das Bündnis mit der Bauernschaft. In; „Einheit". Nr. 4. April 1947, S. 363.
Marx/Engels,
Briefwechsel, Bd. II ( 1 8 5 4 - 1 8 6 0 ) , Berlin 1949, S. 166.
1. Karl Marx und Friedrich Engels
41
verfolgen. Notwendig macht es sich jedoch, die sich daraus für die internationale Arbeiterbewegung ergebenden Lehren zu ziehen. Eine der Aufgaben, die sich Karl Marx in seiner Schrift „Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850" stellen mußte, bestand darin, die politische Rolle der französischen Bauern in den Revolutionsjahren 1848 bis 1850 unter Berücksichtigung ihrer ökonomischen Lage zu untersuchen; eine solche Analyse war für die Klärung der Ursachen der Niederlage des französischen Proletariats, ja überhaupt für die Einschätzung der historischen Ereignisse in Frankreich in dem genannten Zeitraum von wesentlicher Bedeutung. Er gelangte dabei zu dem Ergebnis, daß die in ökonomischer und politischer Hinsicht noch unreifen französischen Kleinbauern, die durch die Einführung des allgemeinen Wahlrechts im Februar 1 8 4 8 plötzlich „zu Schiedsrichtern über das Schicksal Frankreichs eingesetzt" worden waren 6 0 , sich in jedem Falle veranlaßt sahen, die Geschäfte der bürgerlichen und bonapartistischen Konterrevolution zu verrichten 61 , das heißt nicht nur gegen die revolutionären Ziele der französischen Arbeiterklasse, sondern auch gegen ihre eigenen politischen und ökonomischen Interessen zu handeln. Erst im Verlaufe der Revolution, besonders nach der Juniniederlage der Pariser Arbeiter, so wies Karl Marx nach, begannen die werktätigen Bauern Frankreichs allmählich zu erkennen, wie sie nacheinander von den einzelnen Gruppen und Vertretern der Bourgeoisie getäuscht und betrogen wurden; sie näherten sich seitdem mehr und mehr dem kämpfenden Proletariat 62 , der einzigen Klasse, die fähig und willens war, mit ihrer eigenen Emanzipation zugleich die Emanzipation der werktätigen bäuerlichen Bevölkerung herbeizuführen. Andererseits wurde die These, daß die werktätigen Bauern ohne die revolutionären Arbeiter nichts Entscheidendes für ihre Befreiung von kapitalistischer-Ausbeutung und Unterdrückung tun können, durch die These, daß die Arbeiter ohne die Unterstützung der kleinen Bauern unweigerlich eine Niederlage erleiden müssen, ergänzt. „Die französischen Arbeiter", schrieb Karl Marx, „konnten keinen Sdiritt vorwärts tun, kein Haar der bürgerlichen Ordnung krümmen, bevor der Gang der Revolution die zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie stehende Masse der Nation, Bauern und Kleinbürger, nicht gegen diese Ordnung, gegen die Herrschaft des Kapitals empört, sie gezwungen hatte, sich den Proletariern als ihren Vorkämpfern anzuschließen." 63 Diese revolutionäre Einsicht brach sich jedoch sehr spät, allzuspät erst Bahn; und als die französischen Sozialisten der Februarrevolution endlich dazu übergingen, sich „in Pamphlets, in Almanachs, in Kalendern und Flugschriften aller Art" an die werktätigen Bauern zu wenden 64 , wurden ihre Rufe auf dem platten Lande auch zustimmend aufgenommen. Die Entwicklung der Revolution und die Enttäuschung, welche die Bourgeoisie den französischen Bauern immer wieder bereitet hatte, hatten diese für die proletarische Agitation empfänglich gemacht. In zunehmendem Maße orientierten sie sich nunmehr auf die Bewegung der Fabrikarbeiter, die dadurch in den Stand gesetzt wurde, ihren Kampf in einzelnen Fällen
Marx,
60
K.. Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850. In: Marx/Engels, Ausgewählte Schrif-
ten in zwei Bänden, Bd. I, Berlin 1951, S. 130. 61
Vgl. dazu die Seiten 1 3 6 - 1 3 7 , 141, 156 und 172 der eben zitierten Schrift.
62
Ebenda. Vgl. die Seiten 145, 160, 1 7 2 - 1 7 3 und 201.
«Ebenda. S. 1 3 2 - 1 3 3 . 64
Ebenda. S. 197.
42
I. Marx/Engels zur Landarbeiter- und Bauernfrage
wieder erfolgreich zu gestalten. 65 Es soll nicht unerwähnt bleiben, daß Karl Marx gerade in diesem Zusammenhang sein berühmtes Wort prägte: „Die Revolutionen sind die Loko-
motiven der Gesdiichte."m
Welch große Bedeutung Friedrich Engels den Ausführungen von Karl Marx über die Bauernfrage beimaß, zeigte er 1895 in seiner „Einleitung" zur Neuausgabe der genannten Marxschen Schrift. Zum Beweis dessen mögen daraus zwei Sätze zitiert werden, in denen Engels betonte, daß der Sieg der Arbeiterbewegung nur mit Hilfe der werktätigen Landbevölkerung zu erringen sei. Auf die Lage in Frankreich am Ende des 19. Jahrhunderts hinweisend, bemerkte er: „...selbst in Frankreich sehn die Sozialisten mehr und mehr ein, daß für sie kein dauernder Sieg möglich ist, es sei denn, sie gewinnen vorher die große Masse des Volks, das heißt hier die Bauern." 67 Und auf die Entwicklung in Deutschland eingehend, wo die Sozialdemokratie zusehends an Boden gewann, führte er aus: „Auf 2 7 4 Million Wähler können wir schon heute rechnen. Geht das so voran, so erobern wir bis Ende des Jahrhunderts den größeren Teil der Mittelschichten der Gesellschaft, Kleinbürger wie Kleinbauern, und wachsen aus zu der entscheidenden Madit im Lande, vor der alle andern Mächte sich beugen müssen, sie mögen wollen oder nicht." 68 Abgesehen davon, daß der Optimismus Friedrich Engels', der im letzten Zitat zum Ausdrude kam, verfrüht war, braucht diesen Sätzen wohl nichts hinzugefügt zu werden. In seiner 1852 veröffentlichten Arbeit „Der achtzehnte Bmmaire des Louis Bonaparte" kam Karl Marx erneut auf die Bauernfrage zu sprechen. Er bestätigte darin seine zwei Jahre zuvor in der Schrift „Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850" geäußerten Gedanken über die während der Februarrevolution zutage getretene politische Haltung der französischen Kleinbauern. Noch einmal stellte er fest, daß „die alten Mächte der Gesellschaft" „eine unerwartete Stütze an der Masse der Nation, den Bauern und Kleinbürgern", gefunden hatten. 69 Auch Louis Bonaparte, schrieb er, habe sich nur mit Hilfe der Parzellenbauern an die Spitze Frankreichs setzen können. 70 Die Dynastie der Bonapartes charakterisierte Karl Marx geradezu als „die Dynastie der Bauern, d. h. der französischen Volksmasse". 71 Allerdings fügte er dem hinzu, „nicht der Bonaparte, der sich dem Bourgeoisparlamente unterwarf, sondern der Bonaparte, der das Bourgeoisparlament auseinanderjagte", sei „der Auserwählte der Bauern gewesen 72 , womit gleichzeitig zum Ausdruck gebracht wurde, daß die französischen Kleinbauern einerseits gegen die Bourgeoisie eingestellt waren und sich andererseits über Louis Bonaparte noch Illusionen hingaben. Karl Marx fiel es nun nicht ein, den werktätigen Bauern Frankreichs deshalb einen Vorwurf zu machen, sie zu verurteilen. Was er jedoch tat, war, die ökonomischen und gesellschaftlichen Ursachen des 85
Ebenda, S. 198.
66
Ebenda.
67
Ebenda, S. 119.
68
Ebenda, S. 120.
Marx,
69
K„ Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. In: Marx/Engels, Ausgewählte Schriften
in zwei Bänden, Bd. I. Berlin 1951, S. 232. 70
Vgl. dazu die Seiten 242 und 3 0 8 der eben zitierten Arbeit.
71
Ebenda. S. 308.
72
Ebenda.
1. Karl Marx und Friedrich Engels
43
politischen Versagens dieser Klasse aufzuspüren. 73 Dabei gelangte er zu dem Ergebnis, daß die französischen Parzellenbauern auf Grund ihrer ökonomischen und der sich daraus ergebenden politischen Rückständigkeit „unfähig" waren, „ihre Klasseninteressen im eigenen Namen, sei es durch ein Parlament, sei es durch einen Konvent geltend zu machen". „Sie können sich nicht vertreten", schrieb er wörtlich, „sie müssen vertreten werden. Ihr Vertreter muß zugleich als ihr Herr, als eine Autorität über ihnen erscheinen, als eine unumschränkte Regierungsgewalt, die sie vor den andern Klassen beschützt und ihnen von oben Regen und Sonnenschein schickt."74 Und es war nur allzu verständlich, wenn den französischen Kleinbauern Louis Bonaparte, der kleine Neffe des großen Napoleon, als der ihnen geeignetste „Vertreter" ihrer Interessen erschien, erinnerten sie sich doch zu gern daran, daß Napoleon Bonaparte es war, dem ihre Väter und Großväter einst zugejubelt hatten. „Aber man verstehe wohl", fuhr Karl Marx fort. „Die Dynastie Bonaparte repräsentiert nicht den revolutionären, sondern den konservativen Bauern, nicht den Bauern, der über seine soziale Existenzbedingung, die Parzelle hinausdrängt, sondern der sie vielmehr befestigen will, nicht das Landvolk, das durch eigne Energie im Anschluß an die Städte die alte Ordnung umstürzen, sondern umgekehrt dumpf verschlossen in dieser alten Ordnung sich mitsamt seiner Parzelle von dem Gespenste des Kaisertums gerettet und bevorzugt sehen will I Sie repräsentiert nicht die Aufklärung, sondern den Aberglauben des Bauern, nicht sein Urteil, sondern sein Vorurteil, nicht seine Zukunft, sondern seine Vergangenheit, nicht seine modernen Cevennen, sondern seine moderne Vendee."75 Dieser klassisch formulierte Gedanke, der bereits den wichtigen Hinweis enthielt, daß sich die französische Bauernklasse in zwei Gruppen spalten mußte, nämlich in eine noch rückschrittliche, das Alte verteidigende und in eine schon progressive, das Alte verwerfende Gruppe, leitete dann zu der These über, der Gang der ökonomischen Entwicklung auf dem platten Lande dränge die Parzellenbauern mehr und mehr in die Opposition zur Bourgeoisie, gleich wie deren jeweilige Repräsentanten sich im einzelnen nennen mögen. Die Parzelle, bemerkte Karl Marx in diesem Zusammenhang, „die im Anfange des neunzehnten Jahrhunderts die Bedingung für die Befreiung und die Bereicherung des französischen Landvolkes war, hat sich im Laufe dieses Jahrhunderts als das Gesetz ihrer Sklaverei und ihres Pauperismus entwickelt"76, was dazu führte, daß sich „das Verhältnis der Bauern zu den übrigen Gesellschaftsklassen von Grund aus verkehrt" habe. 77 D. h„ die Bauern, deren Interessen sich „nicht mehr, wie unter Napoleon, im Einklänge, sondern im Gegensatze mit den Interessen der Bourgeoisie, mit dem Kapital" befanden, begannen allmählich „ihren natürlichen Verbündeten und Führer in dem städtischen Proletariat, dessen Aufgabe der Umsturz der bürgerlichen Ordnung ist", zu erkennen.78 Je deutlicher den französischen Kleinbauern nun bewußt werde, wohin ihn die ökonomische Entwicklung des Parzelleneigentums führe, sagte Karl Marx schließlich, desto mehr verliere er den Glauben an seine Parzelle, desto mehr scheide er sich von ihr. Die Folge werde sein, daß „das ganze auf diese '»Ebenda, S. 3 0 8 - 3 0 9 . 74
Ebenda, S. 309.
75
Ebenda, S. 3 0 9 - 3 1 0 .
76
Ebenda, S. 311.
77
Ebenda.
78
Ebenda, S. 312.
44
I. Marx/Engels zur Landarbeiter- und Bauernfrage
Parzelle aufgeführte Staatsgebäude" zusammenstürzt, daß „die proletarische
Revolution
das Chor" erhält, „ohne das ihr Sologesang in allen Bauernnationen zum Sterbelied wird".79 1865 war es dann wiederum Friedrich Engels, der sich mit der Stellung der deutschen Arbeiterbewegung zur Landarbeiter- und Bauernfrage ausführlich beschäftigte. In seiner Schrift „Die preußische Militärfrage und die deutsche Arbeiterpartei", in der er sich mit der junkerfreundlichen Politik der Lassalleaner, besonders der Johann Baptist von Schweitzers, auseinandersetzte, führte er insbesondere zur Landarbeiterfrage aus: „In Deutschland ist die Landbevölkerung doppelt so stark wie die Städtebevölkerung, das heißt, es leben zwei Drittel vom Ackerbau, ein Drittel von der Industrie. Und da der große Grundbesitz in Deutschland die Regel und der kleine Parzellenbauer die Ausnahme ist, so heißt das mit andern Worten: daß, wenn ein Drittel der Arbeiter unter dem Kommando des Kapitalisten stehen, so stehen zwei Drittel unter dem Kommando des Feudalherrn. Die Leute, welche in einem fort über die Kapitalisten herfallen, aber gegen die Feudalen kein Wörtchen des Zorns haben, mögen sich dies zu Gemüte führen. Die Feudalen beuten in Deutschland doppelt soviel Arbeiter aus wie die Bourgeois; sie sind in Deutschland ganz ebenso direkte Gegner der Arbeiter wie die Kapitalisten. Das ist aber noch lange nicht alles. Die patriarchalische Wirtschaft auf den alten Feudalgütern bringt eine angestammte Abhängigkeit des ländlichen Taglöhners oder Häuslers von seinem .gnädigen Herrn zuwege, die dem Ackerbauproletarier den Eintritt in die Bewegung der städtischen Arbeiter sehr erschwert. Die Pfaffen, die systematische Verdummung auf dem Lande, der schlechte Schulunterricht, die Abgeschlossenheit der Leute von aller Welt tun den Rest. Das Ackerbauproletariat ist derjenige Teil der Arbeiterklasse, dem seine eignen. Interessen, seine eigne gesellschaftliche Stellung am schwersten und am letzten klarwerden, mit andern Worten derjenige Teil, der am längsten ein bewußtloses Werkzeug in der Hand der ihn ausbeutenden, bevorzugten Klasse bleibt. Und welche Klasse ist dies? In Deutschland nicht die Bourgeoisie, sondern der Feudaladel. Nun hat selbst in Frankreich, wo doch fast nur freie grundbesitzende Bauern existieren, wo der Feudaladel aller politischen Macht längst beraubt ist, das allgemeine Stimmrecht die Arbeiter nicht in die Kammer gebracht, sondern sie fast ganz davon ausgeschlossen. Was würde das Resultat des allgemeinen Stimmrechts in Deutschland sein, wo der Feudaladel noch eine wirkliche soziale und politische Macht ist und wo zwei Adcerbautaglöhner auf einen industriellen Arbeiter kommen? Die Bekämp-
79
Ebenda, S. 3 1 4 . - Ergänzend dazu sei mitgeteilt, daß Karl Marx diese von ihm hervorgehobenen W o r t e in der von ihm selbst besorgten Ausgabe von 1 8 6 9 wegließ. W a r u m er darauf verzichtete, kann heute nicht mehr exakt nachgewiesen werden, zumal Marx selbst im Vorwort zur 1 8 6 9 e r Ausgabe des „Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte" nur davon sprach, „jetzt nicht mehr verständliche Anspielungen" gestrichen zu haben (Ebenda, S. 223). Es ist jedoch anzunehmen, daß die Weglassung dieses sehr bedeutenden Gedankens deshalb erfolgte, weil sich die französischen Parzellenbauern im wesentlichen dodi nodi nicht, wie 1 8 5 2 von Karl Marx vorausgesagt, von ihrer Parzelle getrennt und dem revolutionären Kampf des Proletariats angeschlossen hatten. Dennodi ist festzustellen, daß die grundsätzliche Richtigkeit dieser These durch die gesamte bisherige Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung ihre Bestätigung fand. Vgl. dazu die Anmerkung 2 7 in:
Marx. K...
Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. Herausgegeben vom Marx-Engels-
Lenin-Institut Moskau, Moskau-Leningrad 1 9 3 5 , S. 118.
45
1. Karl Marx und Friedrich Engels
fung der feudalen und bürokratischen Reaktion - denn beide sind bei uns jetzt untrennbar - ist in Deutschland gleichbedeutend mit dem Kampf für geistige und politische Emanzipation des Landproletariats - und solange das Landproletariat nicht in die Bewegung mit hineingerissen wird, solange kann und wird das städtische Proletariat in Deutschland nicht das geringste ausrichten, solange ist das allgemeine, direkte Wahlrecht für das Proletariat keine Waffe, sondern ein Fallstrick."80 Mit diesen Worten, die, wie schon kurz angedeutet, als Kritik an der junkerfreundlichen Politik der Lassalleaner zu werten waren, wies Friedrich Engels in unmißverständlicher Weise nach, daß Schweitzer und seine Mannen die städtischen Arbeiter irreführten, als sie diese fast ausschließlich zum Kampfe gegen die Bourgeoisie, nicht aber zum Kampfe gegen die Klasse der Junker aufriefen. Und in der Tat, jedes Kokettieren mit der feudalen und bürokratischen Reaktion in Deutschland, die in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts noch immer die politische Macht uneingeschränkt ausüben konnte, hinderte Lassalle und seine Epigonen daran, sich im gleichen Maße für die Befreiung des Landproletariats von junkerlicher Ausbeutung und Unterdrückung einzusetzen, wie es viele Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins für die städtischen und industriellen Arbeiter ohne Zweifel getan haben. 8 1 Das hatte schließlich zur Folge, daß die ländlichen Proletarier dem politischen Kampf ihrer städtischen Klassengenossen nicht nur lange Zeit fernblieben, sondern sich ihm gegenüber zum Teil sogar feindselig verhielten. D a ß dadurch die deutsche Arbeiterbewegung viele Jahre hindurch daran gehindert wurde, die feudale Reaktion in ihrer Domäne, nämlich auf dem platten Lande, mit Erfolg anzugreifen, versteht sich von selbst; überhaupt wurde durch diese Politik der Lassalleaner die revolutionäre Kraft des deutschen Proletariats nicht wenig geschwächt. Das ist aber noch nicht alles. Aus den W o r ten von Friedrich Engels ging ferner hervor, daß unter den Bedingungen der noch vorhandenen wirtschaftlichen und politischen Herrschaft des Junkertums der alleinige Kampf der städtischen Arbeiter gegen die Bourgeoisie im Grunde genommen erfolglos bleiben mußte, weil er objektiv der schlimmsten feudalen Reaktion in die Hände arbeitete. Um den revolutionären Bestrebungen des Proletariats zum Siege zu verhelfen, so brachte Friedrich Engels deutlich genug zum Ausdruck, war der konsequente politische Kampf aller Werktätigen, also auch der der landwirtschaftlichen Arbeiter, gegen die herrschende Junkerklasse und den von ihr geleiteten reaktionären Staat vonnöten. Mit anderen W o r t e n : Um den gerechten Kampf für eine demokratische und sozialistische Gesellschaftsordnung erfolgreich gestalten zu können, mußte sich das städtische Proletariat unbedingt seiner Klassengenossen, der ländlichen Arbeiter, sowie seiner nächsten und natürlichsten Bundesgenossen, der werktätigen Bauern, versichern, mußte es diese in den demokratischen und revolutionären Kampf der Arbeiterbewegung einbeziehen. Seitdem nun der Schweitzersche „Social-Demokrat" erschien und Karl Marx und Friedrich Engels hin und wieder an dieser Zeitung mitarbeiteten, hatten beide immer wieder versucht, den Nachfolger Ferdinand Lassalles von der dringenden Notwendigkeit des prinzi80
Engels, F., Die preußische Militärfrage und die deutsche Arbeiterpartei, a. a. O., S. 8 3 4 - 8 3 5 .
81
Betont wird „im gleichen
Maße";
denn es würde den historischen Tatsachen widersprechen, zu
sagen, Lassalle und seine Nachfolger, besonders Johann Baptist von Schweitzer, hätten bei aller Unterschätzung des Landproletariats diesen Teil der Arbeiterklasse ganz und gar unbeachtet gelassen. Vgl. dazu das Kapitel II der vorliegenden Arbeit.
46
I. Marx/Engels zur Landarbeiter- und Bauernfrage
piellen Kampfes gegen die feudale Reaktion zu überzeugen. So ließ zum Beispiel Friedrich Engels am 5. Februar 1 8 6 5 im „Social-Demokrat" die Übersetzung eines alten dänischen Bauernliedes abdrucken, das gegen den Feudaladel gerichtet war. 8 2 Johann Baptist von Schweitzer sollte dadurch veranlaßt werden, nicht allein gegen die Bourgeoisie, sondern auch gegen das reaktionäre Junkertum zu schreiben. „In einem Lande wie Deutschland, wo die besitzende Klasse ebenso viel Feudaladel wie Bourgeoisie und das Proletariat ebenso viel oder mehr Ackerbauproletarier als industrielle Arbeiter enthält", fügte Friedridi Engels in diesem Sinne den einzelnen Liedstrophen hinzu, „wird das kräftige alte Bauernlied ge-
82
Der Text des Liedes und die Bemerkungen dazu lauteten: „Herr
Tidmann.
Altdänisches
Volkslied.
Früh am Morgen, da ward es Tag, Herr Tidmann kleidet' sich vor dem Bett, Und er zog an sein Hemd so schön. Das loben alle die Süderleut.
Auf da stund der alte Mann: .Keiner von uns das geben kann, Und ehe die Steuer zahlen wir Das loben alle die Süderleut.
Er zog an sein Hemd so schön. Sein seidner Rock war herrlich und grün, Bockslederne Stiefel schnürt' er ans Bein. Das loben alle die Süderleut.
,Und ehe die Steuer zahlen wir. Bleibt jeder Mann am Thinge hier Ihr Süderharder Bauern steht zusammen im Ring!' Das loben alle die Süderleut.
Bockslederne Stiefel schnürt' er ans Bein, Vergoldete Sporen schnallte er drein. So zog er hin zum Süderharder Thing. Das loben alle die Süderleut.
.Ihr Süderharder Bauern steht zusammen im Ring, Herr Tidmann darf lebend nicht kommen vom Thing!' Den ersten Schlag der alte Mann sdilug. Das loben alle die Süderleut.
Sieben Scheffel Roggen von jedes Mannes Pflug. Den ersten Sdilag der alte Mann sdilug, Herrn Tidmann nieder zu Boden er sdilug. Das vierte Schwein aus dem Mastungswald Da liegt Herr Tidmann, von ihm rinnt das Blut. Auf da stund der alte Mann. Das loben alle die Süderleut. Das loben alle die Süderleut. Da liegt Herr Tidmann, von ihm rinnt das Blut, Doch frei geht der Pflug im schwarzen Grund, Frei gehn die Schweine im Mastungswald. Das loben alle die Süderleut. Dieses Stüde mittelalterlidien Bauernkriegs spielt in der Süderharde (Harde ist Geriditsbezirk) nördlich von Aarhaus in Jütland. Auf dem Thing, der Gerichtsversammlung des Bezirks, wurden außer den gerichtlichen auch Steuer- und Verwaltungssachen erledigt, und wie mit dem Aufkommen des Adels dieser den Edelingen, d. h. den freien Bauern gegenübertrat, zeigt das Lied ebenso wohl wie die Art und Weise, wie die Bauern der Adelsarroganz ein Ziel zu setzen wußten. In einem Lande wie Deutschland, wo die besitzende Klasse ebenso viel Feudaladel wie Bourgeoisie und das Proletariat ebenso viel oder mehr Ackerbauproletarier als industrielle Arbeiter enthält, wird das kräftige alte Bauernlied gerade am Platze sein. Friedrich Engels." („Der Social-Demokrat", Nr. 18 vom 5. Februar 1865.)
1. Karl Marx und Friedrich Engels
47
rade am Platze sein." 83 Im gleichen Zusammenhang äußerte er sich gegenüber Karl Marx wie folgt: „Ich schicke den Kerls das kleine dänische Volkslied von dem Tidmann, den der alte Mann auf dem Thing totschlägt, weil er den Bauern neue Steuern auferlegt. Das ist revolutionär und doch nicht straffällig, und vor allem, es ist gegen den Feudaladel, wogegen das Blatt absolut auftreten muß."u Trotz aller dieser Bemühungen ließ Schweitzer jedoch nicht von seiner den preußischen Junkerstaat verherrlichenden Politik ab. Er ging im Gegenteil immer mehr dazu über, den Junkern zu schmeicheln, wo er nur konnte. Als er schließlich die Artikelserie „Das Ministerium Bismarck", worin Bismarcks Blut- und Eisenpolitik kritiklos bejaht wurde, im „SocialDemokrat" veröffentlichte, sahen sich Karl Marx und Friedrich Engels genötigt, ihre weitere Mitarbeit an diesem Blatt einzustellen. Am 18. Februar 1865 traten beide aus dem Mitarbeiterkollektiv des „Social-Demokrat" aus. Die Gründe dafür legten sie in einer Erklärung nieder, die am 3. März 1865 im Organ des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins erschien. Unter anderem schrieben sie, daß „ihre Mitarbeit am ,Social-Demokrat'" und „ihre Nennung als Mitarbeiter" nur „unter dem ausdrücklichen Vorbehalt" zugestanden worden sei, „daß das Blatt im Geist des ihnen mitgeteilten kurzen Programms redigiert werde". Sie hätten auch „keinen Augenblick die schwierige Stellung des .Social-Demokrat'" verkannt und „daher keine für den Meridian von Berlin unpassenden Ansprüche" gemacht, mußten aber wiederholt verlangen, „daß dem Ministerium und der feudal-absolutistischen Partei gegenüber eine wenigstens ebenso kühne Sprache geführt werde wie gegenüber den Fortschrittlern". Dies sei jedoch von Schweitzer nicht eingehalten worden, und demzufolge schließe „die von dem .Social-Demokrat' befolgte T a k t i k . . . eine weitere Beteiligung an demselben aus". 85 Abschließend sei endlich noch ein bedeutendes Werk aus der Feder von Karl Marx erwähnt, das sich ebenfalls in ausführlicher Weise mit der Landarbeiterfrage beschäftigte. Es handelt sich um den ersten Band des „Kapital", der erstmalig im Jahre 1867 verlegt wurde. Karl Marx, der sich in dieser genialen Arbeit die Aufgabe stellte, „die kapitalistisdie Produktionsmeise und die ihr entsprechenden Produktions- und Verkehrsverhältnisse" zu erforschen 86 , der den letzten Endzweck seines Werkes darin sah, „das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen"87, kam dabei an den verschiedensten Stellen auch auf die Landarbeiter zu sprechen.88 Sich auf vielseitiges und wichtiges Quellenmaterial stützend, vermittelte er in leidenschaftlichen Worten ein eindringliches Bild der elenden und erschütternden Lage der irischen und englischen Ackerbauproletarier, die durch die fortschreitende Entwicklung des Kapitalismus in der Landwirtschaft mehr und mehr ausgebeutet wurden und zusehends verarmten. Sein konsequentes Parteiergrei83
Ebenda.
Marx/Engels,
84 85
Briefwechsel, Bd. III ( 1 8 6 1 - 1 8 6 7 ) , Berlin 1 9 5 0 , S. 2 6 1 .
„ D e r Social-Demokrat", Nr. 2 9 v o m 3. M ä r z 1 8 6 5 . Die Erklärung findet sidi auch in: Marx, Engels, Lenin, Stalin, a. a. O., Bd. I I / l , Berlin 1 9 5 4 , S. 8 4 0 .
Marx, K„
m 8
D a s Kapital. Bd. I, Berlin 1947, S. 6.
' Ebenda, S. 7 - 8 .
88
Vgl. hierzu z. B. die Seiten 2 6 2 , 2 8 1 , 5 3 1 - 5 3 2 , 5 5 7 , 5 8 3 , 6 7 7 . 7 1 0 - 7 3 5 . 7 4 4 - 7 4 7 der eben zitierten Arbeit.
48
I. Marx/Engels zur Landarbeiter- und Bauernfrage
fen für die Ausgebeuteten und Unterdrückten des platten Landes erklärte sich einerseits aus den hohen menschlichen Gefühlen, die er f ü r die Opfer der kapitalistischen Ausbeutung und Unterdrückung hegte, andererseits aus der Einsicht in die Entwicklungsgesetze der menschlichen Gesellschaft, die er durch seine unermüdliche politische und wissenschaftliche Tätigkeit gewonnen hatte. Revolutionär war die Darstellung der fast unbesdireibbaren Verhältnisse der irischen und englischen Ackerbauarbeiter aber auch deshalb, weil damit überhaupt erst die Voraussetzung dafür geschaffen wurde, auch dem ländlichen Proletariat ein wissenschaftlich begründetes Klassenbewußtsein zu vermitteln. Die Tatsache, daß sich Karl Marx im „Kapital" ausschließlich auf die irischen und besonders die englischen Zustände bezog, bedeutete nun nicht, daß er nicht auch die Zustände anderer Länder ins Auge faßte. Sein Ziel bestand ja gerade darin, am englischen, am klassischen Beispiel zu zeigen, wohin der Kapitalismus im allgemeinen führt. Deutlich genug brachte er das zum Ausdruck, als er im Hinblick auf die Lage in Deutschland schrieb: „Sollte jedoch der deutsche Leser pharisäisch die Achseln zucken über die Zustände der englischen Industrie- und Ackerbauarbeiter, oder sich optimistisch dabei beruhigen, daß in Deutschland die Sachen noch lange nicht so schlimm stehn, so muß ich ihm zurufen: De te fabula narraturl [Ueber dich wird hier berichtet 1]."89 Zusammenfassend kann also gesagt werden, daß es Karl Marx in seinem weltberühmten Werk nicht nur darum ging, die Lage des Landproletariats der Wirklichkeit entsprechend zu beschreiben, sondern weit mehr noch darum, die ländlichen Arbeiter für den proletarischen Klassenkampf zu gewinnen. Gleichzeitig war er bestrebt, die Landarbeiter aus ihrem elenden und menschenunwürdigen Dasein herauszureißen, sie einer lichten Zukunft entgegenzuführen; eine Aufgabe, die er direkt dem fortgeschrittenen städtischen Proletariat stellte. Zugleich war ihm auch klar, daß die Menschwerdung der landwirtschaftlichen Arbeiter nur dann verwirklicht werden konnte, wenn die herrschenden Ausbeuter- und Unterdrückerklassen durch den gemeinsamen politischen und sozialen Kampf aller Proletarier politisch und ökonomisch entmachtet wurden, wenn es den Werktätigen in Stadt und Land gelang, die Diktatur des Proletariats zu errichten. Alle diese Beispiele belegen in genügender Weise, daß Karl Marx und Friedrich Engels die große Bedeutung, welche die landwirtschaftlichen Arbeiter und werktätigen Bauern f ü r den proletarischen Klassenkampf besaßen, schon früh erkannt hatten. Sie behielten deshalb die Landarbeiter- und Bauernfrage ständig im Auge, dabei stets davon ausgehend, daß der Kampf des Proletariats gegen die herrschenden Klassen, sollte er erfolgreich sein, die aktive Beteiligung aller Werktätigen erforderlich machte, daß die Teilnahme der Landarbeiter und Kleinbauern an dem revolutionären Kampf für Demokratie und Sozialismus eigentlich erst den Sieg über alle Ausbeuter- und Unterdrückerklassen verbürgte. 90 89 00
Ebenda, S. 6. Nach dem Erscheinen des ersten Bandes des „Kapital" äußerten sich Karl Marx und Friedrich Engels noch des öfteren zur Landarbeiter- und Bauernfrage in Deutschland (vgl. dazu die folgenden Abschnitte und Kapitel der vorliegenden Arbeit). Sie bewiesen damit auch weiterhin, daß sie den Landarbeitern und kleinen Bauern eine wichtige und hervorragende Rolle im proletarischen Klassenkampf zubilligten.
2. Internationale Arbeiterassoziation
49
2. Die Internationale Arbeiterassoziation Am 28. September 1864 erfolgte in der St. Martins Hall zu London anläßlich eines internationalen Arbeitermeetings die Gründung der Internationalen Arbeiterassoziation. Dieses Ereignis, dessen volle historische Tragweite damals nur von den wenigsten erkannt wurde, besaß für die Entstehung und Entwicklung der internationalen marxistischen Arbeiterbewegung allergrößte theoretische und praktisch-politische Bedeutung. Etwa ein Jahrzehnt lang arbeitete die Internationale Arbeiterassoziation unter dem direkten Einfluß von Karl Marx und Friedrich Engels für die Befreiung des Proletariats von jeglicher Ausbeutung und Unterdrückung. Ihre Tätigkeit war von solch revolutionierender Wirkung, daß sie bald von allen herrschenden Klassen und Regierungen in höchstem Maße gefürchtet, gehaßt und verfolgt wurde. Vermittelte sie doch durch ihren theoretischen, ideologischen und organisatorischen Kampf gegen alle auftretenden kleinbürgerlichen und pseudosozialistischen Auffassungen, die innerhalb der Arbeiterbewegung der damaligen Zeit besonders von den Anhängern Proudhons und Bakunins sowie von Bakunin selbst verbreitet wurden, dem Proletariat geschliffene Waffen, mit denen es erfolgreich den Kampf gegen die Ausbeuter und Unterdrücker aller Länder zu führen vermochte. Die Beschlüsse der Internationalen Arbeiterassoziation - unter hervorragender Beteiligung von Karl Marx und Friedrich Engels zustande gekommen - bildeten auch in Deutschland bis zum Siege des Reformismus in der Sozialdemokratie das Rüstzeug der sozialistischen Arbeiter. Solange sich diese auf die revolutionäre Politik der I. Internationale stützten, gingen sie in ihrem Kampfe gegen die Ausbeuter und Unterdrücker des werktätigen Volkes kaum fehl und konnten viele bedeutende Erfolge erringen. Natürlich galt die revolutionäre Tätigkeit der Internationalen Arbeiterassoziation der Befreiung des ganzen Proletariats; also auch der des ländlichen. In einigen ihrer Beschlüsse fand das deutlich seinen Niederschlag. Aber auch andere agrarpolitische Fragen, wie zum Beispiel die Grund- und Bodenfrage, wurden von ihr weitgehend berücksichtigt. Das war nicht etwa eine Besonderheit ihrer marxistischen Politik; die Behandlung agrarischer Probleme entsprang vielmehr der revolutionären Einsicht, daß das industrielle Proletariat ohne die werktätige Landbevölkerung, wobei aus naheliegenden Gründen in erster Linie an die landwirtschaftlichen Arbeiter gedacht wurde, nicht zu siegen vermochte. Hinzu kam die Erkenntnis, daß die angestrebte sozialistische Umwälzung alle Bereiche des ökonomischen und gesellschaftlichen Lebens, also auch die Landwirtschaft, zu erfassen habe. Zum revolutionären Charakter der Internationalen Arbeiterassoziation gehörte unabdingbar eine revolutionäre Agrarpolitik. Unverständlich waren deshalb die Worte Wilhelm Cohnstaedts, der einmal schrieb, daß „die wesentlichsten Agrarfragen prinzipiell außerhalb ihres (Cohnstadt sprach von der Internationalen Arbeiterassoziation, F. Sch.) Wirkungsfeldes" lagen und „nicht einmal das ländliche Proletariat... vor ihren Augen Beachtung" fand. 9 1 Das Gegenteil traf zu, wie die 91
Cohnstaedt, W., Die
Agrarfrage in der deutschen Sozialdemokratie von Karl Marx bis zum Bres-
lauer Parteitag. München 1903, S. 81. -
Trotz dieser Behauptung behandelte Cohnstaedt in
seinem vom Agrarrevisionismus eines Eduard David beeinflußten Werk, wenn bei weitem auch 4
Sdiaaf, Arbeiterbewegung
50
I. Marx/Engels zur Landarbeiter- und Bauernfrage
Tatsachen beweisen. Wenn die Internationale Arbeiterassoziation vom „Proletariat" sprach, dann hatte sie selbstverständlich in erster Linie und fast ausschließlich das industrielle Proletariat im Auge, und zwar schon deshalb, weil dieser Teil der Arbeiterklasse seiner gesamten Lage nadi am ehesten zu organisieren und zu revolutionieren war. Daraus jedoch zu schlußfolgern, die Internationale Arbeiterassoziation habe die ländlichen Arbeiter sowie die wesentlichsten Agrarfragen prinzipiell ignoriert, ist falsch. Ihre Konferenzen, Kongresse und Beschlüsse besagen etwas anderes. Geschickter als Cohnstaedt operierte Eduard David, der lange Zeit als der führende Agrarrevisionist in der deutschen Sozialdemokratie angesehen wurde und der als solcher auch einen großen Einfluß auf die „Marxverbesserer" in der internationalen Arbeiterbewegung ausübte. 92 Er gab zu, daß die Kongresse der Internationalen Arbeiterassoziation die theoretischen und agitatorischen Leitsätze für die marxistische Agrarpolitik festlegten, „die den Inbegriff dessen bildeten, was die sozialistische Partei bis in die neunziger Jahre hinein über die Landwirtschaft und zu der Landbevölkerung zu sagen hatte". 93 Allerdings stellte er das nur fest, um diese Politik zu verwerfen. Noch 1921 polemisierte er „gegen die Vertreter der alten, agrarmarxistischen Richtung, die mit ihrer Lehre vom .naturnotwendigen Untergang des Kleinbetriebes'", wie er sagte, angeblich „den Weg zu einer praktischen Bauernpolitik verrammelt hatten".94 Einige Grundzüge der revolutionären Agrarpolitik der Internationalen Arbeiterassoziation wurden bereits in der von Karl Marx im Oktober 1864 verfaßten „Inauguräladresse der Internationalen Arbeiterassoziation", die Cohnstaedt in seinem Buche eigenartigerweise unbeachtet ließ, niedergelegt. Die darin enthaltene kurze Charakterisierung der elenden Lage des englischen Ackerbauproletariats, das, wie es hieß, schlechter als die Galeerensklaven Englands und Schottlands lebe95, verfolgte nicht zuletzt die Absicht, die Arbeiterbewegung aller Länder auf das Problem der werktätigen Landbevölkerung hinzulenken. Durch die Darstellung des menschenunwürdigen Daseins der englischen Landarbeiter sollte die Notwendigkeit, solche verabscheuungswürdigen Verhältnisse zu verändern, bewußt gemacht werden. Gleichzeitig wurde nachgewiesen, daß sich das englische Grundeigentum auf Kosten des kleinen Grundbesitzes in immer wenigeren Händen konzentrierte. „Wenn die Konzentration des Landes in wenigen Händen gleichmäßig fortschreitet", schrieb Karl Marx, „wird sich die Grund- und Bodenfrage (the land question) ganz merkwürdig vereinfachen."96 Er hatte dabei offensichtlich die Tatsache im Auge, daß sich im Interesse der nidit vollständig, die innerhalb der Internationalen Arbeiterassoziation geführten Auseinandersetzungen über die Agrarfrage. Er widerlegte sich also faktisch selbst; zumindest drückte sidi in diesem Widerspruch eine völlige und durch nichts gerechtfertigte Unterschätzung der Agrarpolitik der I. Internationale aus. 92 Noch heute spuken seine revisionistischen Auffassungen in der antimarxistischen Literatur aller Schattierungen herum (vgl. z. B. die Schrift Mitrany, D„ Marxismus und Bauerntum. München 1956). 93 David, £., Sozialismus und Landwirtschaft. 2. Aufl., Leipzig 1922, S. 3. 94 Ebenda, S. IV. 95 Marx, K.. Inauguraladresse der Internationalen Arbeiterassoziation. In: Marx/Engels, Ausgewählte Schriften in zwei Bänden. Bd. I, Berlin 1951, S. 352. 353 und 354. 96 Ebenda, S. 354.
2. Internationale Arbeiterassoziation
51
Gesamtgesellschaft der große Grundbesitz leichter in das gemeinschaftliche Eigentum überführen ließ als der kleine. Außerdem war die fortschreitende Konzentration des Grund und Bodens in wenigen Händen gleichbedeutend mit der Expropriation der Bauern, die auf diese Weise selbst zu besitzlosen Arbeitern wurden und als solche die Armee des kämpfenden Proletariats verstärkten. Um die durch die kapitalistische Entwicklung in Industrie und Landwirtschaft hervorgerufene wachsende Not der Arbeiterklasse, wobei Karl Marx augenfällig auch an das steigende Elend der Agrikulturarbeiter dachte, zu beseitigen, rief er in der „Inauguraladresse" das Proletariat schließlich dazu auf, „politische Macht zu erobern". 97 Das heißt: In ihrer ersten großen Verlautbarung wies die Internationale Arbeiterassoziation der proletarischen Bewegung in allen Ländern den einzig möglichen Weg, der zur Beseitigung jeglicher Ausbeutung und Unterdrückung der arbeitenden Klassen und damit zur Beseitigung jeglichen sozialen Elends führt. Der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaftsordnung bedurfte der Erringung der Diktatur des Proletariats. Der Genfer Kongreß der Internationalen Arbeiterassoziation von 1866, der erste Kongreß der Internationale überhaupt, beschäftigte sich ebenfalls mit agrarpolitischen Fragen, was besonders auf den Einfluß von Karl Marx zurückzuführen war, der den Kongreßvorarbeiten manche Stunde und manchen T a g opferte. 98 Die entscheidenden Resolutionen zum Beispiel, die der Generalrat der Internationalen Arbeiterassoziation in Genf den Delegierten vorlegte, entstammten seiner Feder. Darunter befand sich eine Resolution über assoziation zu den Produktivgenossensdiaftendie 97
die Stellung der Internationalen Arbeitereine gewisse agrarpolitische Bedeutung
Ebenda. S. 358. 23. August 1866 schrieb Karl Marx an Ludwig Kugelmann: „Obgleich ich den Vorarbeiten für den Kongreß zu Genf viel Zeit widme, kann idi nidit hingehen und will es nicht, weil keine längere Unterbrechung meiner Arbeit möglich. Ich halte das, was ich durch dieselbe tue, für viel wichtiger für die Arbeiterklasse als alles, was ich persönlich auf einem Kongreß quelconque tun könnte" (Marx, K., Briefe an Kugelmann. Berlin 1952, S. 30). - Karl Marx arbeitete damals am ersten Band des „Kapital". Diese lautete:
5)8 Am
99
„Es ist die Aufgabe der Internationalen Arbeiterassoziation, die von selbst entstehenden Bewegungen der Arbeiterklassen miteinander in Verbindung zu bringen, zu verallgemeinern und ihnen Einheitlichkeit zu geben, aber nicht zu diktieren oder doktrinäre Systeme irgendwelcher Art aufzudringen. Der Kongreß sollte sich deshalb nicht für ein besonderes System des Genossenschaftswesens aussprechen, sondern sich auf die Erklärung einiger allgemeiner Grundsätze beschränken: a) Wir anerkennen die Genossenschaftsbewegung als eine der Triebkräfte zur Umwandlung der gegenwärtigen Gesellschaft, welche auf Klassengegensätzen beruht. Ihr großes Verdienst besteht darin, praktisch zu zeigen, daß das bestehende, verarmende und despotische System der Unterjochung der Arbeit unter das Kapital aufgehoben werden kann durch das Wohlstand erzeugende und republikanische System der Assoziation von freien und gleichen Produzenten. b) Aber die Genossenschaftsbewegung, beschränkt auf die zwerghaften Formen der Entwicklung, welche ihr einzelne Lohnarbeiter durch die Vereinigung geben können, ist nicht imstande, durch sich selbst die kapitalistische Gesellschaft umzugestalten. Um die gesellschaftliche Produktion in ein großes und harmonisches System der freien und genossenschaftlichen Arbeit zu verwandeln, bedarf es allgemeiner gesellschaftlicher Veränderungen. Veränderungen der allgemeinen Bedingungen der Gesellschaft, welche nie verwirklicht werden können ohne die organisierten Gewalten
4»
52
I. Marx/Engels zur Landarbeiter- und Bauernfrage
besaß, obwohl in ihr nidit ausdrücklich von ländlichen Produktivgenossenschaften die Rede war. Allein schon die Tatsache, daß Karl Marx und Friedrich Engels bereits lange vor der Gründung der Internationalen Arbeiterassoziation für die Bildung von Ackerbaugenossenschaften eingetreten waren 100 , berechtigt zu dieser Annahme. Die Auslegung Wilhelm Cohnstaedts, die Internationale habe in Genf „ausschließlich an industrielle Genossenschaften" gedacht 10i , kann dagegen - zumindest in dieser Ausschließlichkeit - nicht unterstützt werden. Von zweifellos noch größerer agrarpolitischer Bedeutung war in Genf jedoch die ebenfalls von Karl Marx vorbereitete Denkschrift über die Gewerbevereine, die von den Delegierten fast ohne Diskussion angenommen wurde. 102 Sie stellte dem industriellen Proletariat unter anderem eindringlich die Aufgabe, sich mit aller Aufmerksamkeit auch den Landarbeitern zuzuwenden. Die entscheidenden Gedanken dazu lauteten: „Abgesehen davon", daß die Arbeiter „den unmittelbaren Übergriffen des Kapitals entgegenwirken, müssen sie nunmehr lernen, bewußterweise als Brennpunkte der Organisation der Arbeiterklasse zu handeln, im großen Interesse ihrer vollständigen Emanzipation. Sie müssen jede soziale und politische Bewegung, welche auf dies Ziel lossteuert, unterstützen, sich selbst als die handelnden Kämpen und Vertreter der ganzen Klasse betrachten; sorgfältig sich um die Interessen der am schlechtesten bezahlten Gewerbe bekümmern, die Ackerbauarbeiter zum Beispiel, die aus ausnahmsweise ungünstigen Umständen bisher nicht den geringsten Widerstand leisten konnten; dieses muß unfehlbar die außerhalb Stehenden anziehen und wird in der großen Masse der Arbeiterklasse die Überzeugung erwecken, daß ihr Ziel, weit entfernt, ein begrenztes, selbstsüchtiges zu sein, auf die allgemeine Befreiung der niedergetretenen Millionen losgeht." 103 Diese Denkschrift, die Cohnstaedt in seinem Buche ebenfalls geflissentlich ignorierte, forderte also das revolutionäre Bündnis zwischen dem industriellen und ländlichen Proletariat. Karl Marx rief darin die städtischen Arbeiter auf, sich nicht nur deshalb sorgfältig um ihre in der Gesellschaft; nämlidi die Staatsmacht muß aus den Händen der Kapitalisten und Landeigentümer genommen und von den Arbeitern selbst geübt werden. c) Wir empfehlen den Arbeitern, sich eher auf Produktivgenossenschaften als auf Konsumgenossenschaften einzulassen. Die letzteren berühren nur die Oberfläche des heutigen ökonomischen Wesens, die ersteren greifen es in ihren Grundfesten an. d) Wir empfehlen allen Kooperativgenossenschaften, einen Teil ihres Gesamteinkommens in einen Fond für die Propaganda zu verwandeln und ihre Grundsätze sowohl durch Beispiele als durch Vorschriften, in anderen Worten durch Beförderung der Errichtung von neuen Geschäften zur Kooperativproduktion, durch theoretische und praktische Anleitung zu lehren und zu predigen. e) Um zu verhindern, daß Kooperativgesellschaften in gewöhnliche bürgerliche Aktiengesellschaften entarten, sollten alle Arbeiter, die bei ihnen beschäftigt sind, ob Aktionär oder nidit, gleichen Anteil haben. Als ein bloß zeitweiliges Mittel sind wir willens, zuzugeben, daß die Aktionäre Zinsen zu einem niedrigen Fuß erhalten". („Die Neue Zeit". Stuttgart 1894/95, Bd. I, S. 666-667.) Vgl. die Seiten 34/35 und 39 der vorliegenden Arbeit. 101 Cohnstaedt, W., a. a. O., S. 82. 102 „Der Vorbote", Nr. 11 vom November 1866, S. 163. 103 Stegmann, C. - Hugo, C.. Handbudi des Sozialismus. Zürich 1897, S. 349 (Hervorhebungen von. mir, F. Sdi.). Vgl. auch: Marx/Engels, Über die Gewerkschaften. Berlin 1953, S. 121. 100
2. Internationale Arbeiterassoziation
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der Landwirtschaft tätigen Klassengenossen zu bekümmern, weil diese der solidarischen Hilfe bedurften, sondern auch, weil nur beide - zur gemeinsamen Aktion verbündet - in der Lage waren, die Befreiung der unterdrückten und ausgebeuteten Millionen zu erzwingen. Weit mehr Widerhall und Interesse als die agrarpolitischen Festlegungen von Genf fanden aber die Auseinandersetzungen und Beschlüsse der Internationalen Arbeiterassoziation über die Grund- und Bodenfrage, womit sich allein drei internationale Arbeiterkongresse beschäftigten. In Lausanne 1867, Brüssel 1868 und Basel 1869 wurde leidenschaftlich um dieses Problem, das nicht nur theoretischer Art war, gerungen, was bereits bewies, daß man der Agrarfrage eine große praktisch-politische Bedeutung beimaß. Und in der Tat, die Grund- und Bodenbeschlüsse der Internationalen Arbeiterassoziation stellten für die Politik der Arbeiterbewegung aller Länder gegenüber dem landwirtschaftlichen Proletariat und der werktätigen Bauernschaft eine wesentliche Hilfe dar. Von besonderer Bedeutung waren sie dabei für Deutschland; denn hier existierten in weiten Gebieten nicht nur ein umfangreicher Großgrundbesitz mit einer zahlreichen ländlichen Arbeiterklasse, sondern auch eine Vielzahl von kleinsten und kleinen Bauern. Schon 1865 war auf der Londoner Konferenz der Internationalen Arbeiterassoziation die Grund- und Bodenfrage angeschnitten worden. 104 Umfassender wurde diese Frage allerdings erstmalig 1867 in Lausanne diskutiert. Obwohl eine Auseinandersetzung darüber nicht vorgesehen war, kam diese keineswegs zufällig zustande. Die tiefen, klassenmäßig bedingten ideologischen Gegensätze zwischen den Anhängern Proudhons und denen von Karl Marx und Friedrich Engels mußten einmal in aller Schärfe aufeinanderprallen. Die Auseinandersetzungen über die Grund- und Bodenfrage begannen, als de Paepe (Brüssel) den Kommissionsbericht über die Frage, ob die derzeitigen Vorschläge zur Emanzipation des vierten Standes (Produktivgenossenschaften etc.) nicht die Gefahr der Schaffung eines fünften Standes in sich schlössen und wie gegebenenfalls dieser Gefahr zu begegnen sei, erstattete. In diesem Zusammenhang empfahl er, das Problem der Überführung des Grund und Bodens in das gesellschaftliche Eigentum zu studieren. Allein schon diese Empfehlung rief die in Lausanne anwesenden Proudhonisten auf den Plan; als fanatische Anhänger des französischen kleinbürgerlichen Sozialisten Proudhon waren sie offensichtlich an einer ihrer empfindlichsten Stellen getroffen worden. Chemale (Paris) beschuldigte de Paepe, der sich selbst noch zu Proudhon bekannte, der Ketzerei am Proudhonschen Evangelium. Dem hielt de Paepe jedoch entgegen, daß die Anregung zum Studium einer Frage ja noch keiner Entscheidung vorgreife; außerdem müßten für den Grund und Boden, der kein Arbeitsprodukt sei, andere Grundsätze als für das auf eigener Arbeit beruhende Privateigentum angewendet werden. Auf Antrag Tolains (Paris) 105 beschloß der Kongreß schließlich mit 27 gegen 11 Stimmen, die Empfehlung de Paepes aus dem Bericht zu ent104
David, E„ a. a. O., S. 3. - Ausführliche Mitteilungen darüber standen leider nicht zur Verfügung.
105
Tolain wurde am 25. April 1871 durch Beschluß des Generalrats der Internationalen Arbeiterassoziation aus der Internationale ausgestoßen. In die konterrevolutionäre Versailler Nationalversammlung gewählt, um die Interessen der Arbeiterklasse zu vertreten, hatte er die proletarische Revolution, die Pariser Kommune, in feigster Weise verraten (vgl. . D e r Vorbote", Nr. 7 vom Juli 1871. S. 109).
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I. Marx/Engels zur Landarbeiter- und Bauernfrage
fernen, wobei-einige Delegierte Tolain nur deshalb zustimmten, um die Annahme des Berichtes überhaupt sicherzustellen. Die Proudhonisten konnten somit einen vorläufigen, aber keinen überzeugenden Sieg verbuchen.106 In falscher Einschätzung der tatsächlichen Kräfteverteilung und im Überschwang der Freude über den vermeintlichen Sieg brachten die Jünger Proudhons die Grund-und Bodenfrage in Lausanne noch einmal zur Sprache. Longuet (Paris) benutzte die Debatte zur Resolution über den Begriff und die Rolle des Staates, den öffentlichen Dienst, den Transport und Verkehr usw., um erneut gegen das Gemeineigentum an Grund und Boden zu Felde zu ziehen. Er gab kund, daß er lediglich das kollektive Eigentum der Eisenbahnen, Kanäle und Minen für notwendig erachte, vornehmlich aus politischen Gründen aber Parteigänger des privaten Grundeigentums sei. Die Überführung des gesamten Grund und Bodens in das Nationaleigentum des Staates lehnte er ab, weil dadurch die politischen Freiheiten, die seiner Meinung nach nur durch Schaffung einer großen Anzahl Grundeigentümer gesichert werden können, beeinträchtigt würden. Diese individualistische und prinzipiell staatsablehnende Haltung Longuets - geboren aus einer anarchistischen Einstellung zum Staat überhaupt - wurde beredt durch seine Gesinnungsfreunde Chemale, Coullery und Tolain unterstützt. Dabei ereiferte sich Coullery besonders leidenschaftlich für die „absolute persönliche Freiheit" und das persönliche Eigentum, während Tolain seine Ablehnung des Gemeineigentums an Grund und Boden in die Formel kleidete: „Die Erde gehört dem Adcerbau und der Kredit dem Arbeiter," Bei de Paepe, der sich nunmehr entschieden f ü r die Vergesellschaftung des Grund und Bodens aussprach, fanden die Proudhonisten jedoch wiederum den energischsten Widerstand. Gegen Longuet gewandt, führte er aus, daß das kollektive Eigentum an Grund und Boden notwendiger sei als die Vergesellschaftung der Eisenbahnen, Kanäle und Minen, die er ebenfalls befürworte. Coullery erhielt zur Antwort, daß auch er, de Paepe, ein Freund der persönlichen Freiheit sei; da es aber keine Freiheit ohne Befreiung des Magens, keine Freiheit ohne Brot gebe, so müsse er Schutzmittel für seine persönliche Freiheit gegen diejenigen verlangen, welche ihm die Brotquelle verstopfen. Und der Tolainschen Formel stellte er die Forderung entgegen: „Kredit dem Bauer und Kredit dem Arbeiter." Die Delegierten Eccarius, Leßner, Stampa, Stumpf, Ladendorf und Johann Philipp Becker, die sich bisher nicht an der Diskussion beteiligt hatten, erklärten sich schließlich ebenfalls für das Gemeineigentum an Grund und Boden. Besonders die deutschen und englischen Vertreter wiesen nach, daß das Großkapital fortlaufend die Massen der industriellen und ländlichen Arbeiter enterbe und die Produktionsmittel der Industrie und Landwirtschaft in wenigen Händen konzentriere, so daß von persönlicher Freiheit der Massen keine Rede sein könne.107 Darüber hinaus kam in Lausanne eine in der englischen Zeitung „The Commonwealth" erschienene Artikelserie von Eccarius, die sich mit den nationalökonomischen Lehren John Stuart Mills kritisch auseinandersetzte, zur Sprache.108 Unter diesen Aufsätzen, an deren 106 Vgl ( j a z u • J 3 j e Landfrage auf den Kongressen der Internationale". In: „Die Neue Zeit". Stuttgart 1894/95. Bd. I. S. 3 5 7 - 3 5 8 . 107
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Ebenda, S. 3 5 8 - 3 5 9 . Vgl. ferner ]aetkh, G.. Die Internationale. Leipzig 1904, S. 5 7 - 5 8 , besonders aber „Der Vorbote", Nr. 4 vom April 1868, S. 5 8 - 6 1 . Eccarius, /. G., Eines Arbeiters Widerlegung der national-ökonomischen Lehren John Stuart Mill's. Berlin 1869, S. IV.
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Zustandekommen Karl Marx wesentlidi beteiligt war 109 , befand sich auch ein Kapitel über die kleine Bauernwirtschaft, das offensichtlich die Haltung einiger Delegierter beeinflußt hatte." 0 Darin 111 erklärte sich Eccarius aus ökonomischen, sozialen und politischen Gründen gegen die kleine Bauernwirtschaft, die er als „die Agrikultur der Vergangenheit" charakterisierte. Er wandte sich energisch gegen solche Leute, die - wie John Stuart Mill zum Beispiel die Existenz der kleinbäuerlichen Wirtschaft und die Schaffung neuen bäuerlichen Kleineigentums befürworteten. Indem er feststellte, daß die kleinen Grundeigentümer, deren Verschuldung ständig anwachse, ihr mehr als dürftiges Dasein nur durch übermenschlichen Fleiß und untermenschliche Lebenshaltung fristen können, und daß der große Landbau dem kleinen in jedem Falle überlegen sei, kam er zu dem vernichtenden Urteil: Die Ökonomie gebiete, „die kleine Bauernwirtschaft zu unterdrücken, wo sie existiert". „Die kleine Bauernwirtschaft", schrieb Eccarius, „ist politisch, sozial und ökonomisch gerichtet. Sie hat sich nirgends bewährt und kann sich nirgends bewähren als zuverlässiger, schritthaltender Zeitgenosse der modernen Industrie und des sozialen Fortschritts. Sie ist das fünfte Rad am Wagen des politisch-sozialen Fortschritts, das Bleigewicht, welches die Arbeiterbewegung in Frankreich wie anderswo auf dem Kontinent paralysiert." Die Zukunft, so wurde von Eccarius betont, gehöre der genossenschaftlichen Produktion; denn „über kurz oder lang" werde „die kooperativ-genossenschaftliche Produktion die kapitalistische überflügeln und aufheben". Die „Kooperativbewegung", „das ureigenste Kind, die natürliche Leibesfrucht der großen Industrie und Agrikultur", werde auch die Landarbeiter erfassen. Sie wären bereit, „in die Kooperation einzutreten", weil sie „gewohnt" sind, „mit Werkzeugen zu arbeiten, die nicht im kleinen angewandt werden können". Der kleine Bauer, dem, wie Eccarius schrieb, „nur sein Eigentum und seine Laune als Richtschnur dient", tauge dagegen nicht zur genossenschaftlichen Bearbeitung des Grund und Bodens. Deshalb müssen die Arbeiter, die unmittelbar daran interessiert sind, „jeden Versuch, die kleine Bauernwirtschaft einzuführen, im Keim zu ersticken", „statt unbebaute und Gemeindeländereien in kleine Bauernhöfe zu verwandeln, mit aller Macht darauf hinarbeiten, daß nicht allein jene Ländereien, sondern auch die Krön- und Kirchengüter von Staats wegen an Ackerbaugenossenschaften übergeben werden". Allerdings sei der Grund und Boden den Ackerbaugenossenschaften „nicht als permanentes Eigentum", sondern nur „unter Pachtkontrakten, welche der Gesellschaft die Kontrolle über den Boden, die Quelle aller Nahrungsmittel sichern", zu überlassen.112 109
Vgl. Marx/Engels, Briefwechsel. Bd. IV (1868-1883), Berlin 1950, S. 228, und Karl Marx. Chronik seines Lebens in Einzeldaten, a. a. O., S. 234. 110 Im Vorwort zu seiner Schrift erwähnte Eccarius. daß in Lausanne seine „deutsch sprechenden F r e u n d e . . . allgemein den Wunsch" äußerten, die Commonwealth-Artikel „deutsdi zu lesen"