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German Pages 308 [322] Year 1992
EUROPÄISCHE AUFKLÄRUNG(EN) Herausgegeben von Siegfried Jüttner und Jochen Schlobach
STUDIEN ZUM ACHTZEHNTEN JAHRHUNDERT Herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts Band 14
FELIX MEINER VERLAG · HAMBURG
.. BUROPAISCHE AUFKLÄRUNG(EN) Einheit und nationale Vielfalt
Herausgegeben von Siegfried Jüttner und Jochen Schlobach
FELIX MEINER VERLAG · HAMBURG
Für die Mitwirkung an der Redaktion bedanken wir uns bei Karin Broch, Rosa María Esteban, Ulrich Klotz und Klaus Semsch.
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Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VII
I. Allgemeine Perspektiven Wenzer Schneiders (Münster) Aufklärungsphilosophien .
1
Georges Gusdorf (Straßburg) Das theologische Ferment in der Kultur der Aufklärung
26
Manfred Kt!ssok (Leipzig) Historische Bedingungen der europäischen Aufklärung(en)
40
Lothar Bornscheuer (Duisburg) Die Aufklärung der Topik und die Topik der Aufklärung .
54
Reinhard Brandt (Marburg) Die englische Philosophie als Ferment der kontinentalen Aufklärung . . . . . . . . . . . · · · · ·
66
Klaus L. Berghahn (Madison) Die Idee des ewigen Friedens und die Grenzen der Aufklärung •
80
IT. Vergleichende Perspektiven Ulrich Ricken (Halle) Begriffe und Konzepte für Aufklärung. Zur Problematik einer Begriffsgeschichte als vergleichende Lexikologie der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . .
95
Gerhard Sauder (Saarbrücken) Spielarten der Empfindsamkeit in England, Frankreich und Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
VI
Inhalt
Wilhelm Voßkamp (Berlin) Peifectibilite und Bildung. Zu den Besonderheiten des deutschen Bildungskonzepts im Kontext der europäischen Utopie- und Fortschrittsdiskussion . . . . . . . . . . . . .
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. 117
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. 173
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. 188
Martin Fontius (Berlin) Tendenzen der Literaturkritik in Frankreich und Deutschland im 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . .
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Marcin Gienski (Wroclaw)
Aufklärung in Deutschland und Polen. Versuch eines Vergleichs
Gert Robel (München) Zur Aufklärung in Adelsgesellschaften: Rußland und Polen .
m. Nationale Standortbestimmungen Karl Tilman Wmkler (Göttingen) Aufklärung und Politisierung in England im 18. Jahrhundert.
Jochen Schlobach (Saarbrücken) Der Universalitätsanspruch der französischen Aufklärung.
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Gunter E. Grimm (Wützbwg) Vompoeta doctus zum Volksdichter? Bemerkungen zum Selbstverständnis deutscher Schriftsteller im 18. Jahrhundert
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. . 203
Gemeinnützig-ökonomische Aufklärung und Volksaufklärung. Bemerkungen zum Selbstverständnis und zur Wirkung der praktischpopulären Aufklärung im deutschprachigen Raum . . . . . . .
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. 218
. • .
. 249
Nationale Mythenbildung und Reformdiskussion im patriotischen Drama der spanischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . .
. 269
Holger Böning (Bremen)
Siegfried Jüttner (Duisbwg)
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Spanien - Land ohne Aufklärung? Zur Wiedergewinnung eines verdrängten Erbes . . . . . . . . . . . . . . .
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Hans-Joachim Lope (Marbwg)
Hans-Otto Kleinmann (J(i)ln) Zwischen kultureller Imitation und politischer Bewußtseinsbildung. Zur Rezeption der Aufklärung in Lateinamerika . . . . . .
283
Namenregister
295
Einleitung
Das achtzehnte Jahrhundert als Epoche - unter diesem programmatischen Titel stand im November 1976 die erste Jahrestagung unserer ein Jahr zuvor gegründeten Gesellschaft. In acht grundsätzlichen Referaten wurden damals aus interdisziplinärer Sicht Probleme der Periodisierung diskutiert; in einem Versuch der Synthese beleuchtete Roland Mortier die "Vielfalt europäischer Aufklärung".' Die zwölfte, 1987 in Wolfenbüttel durchgeführte Tagung, deren Akten wir in diesem Band vorlegen, knüpfte an diese für das Selbstverständnis einer interdisziplinär organisierten Gesellschaft zur Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts zentrale Themenstellung an, wenngleich in veränderter Perspektive. Sie rückte den Begriff Aufklärung in den Mittelpunkt. Die alte Frage nach dem Wesen von Aufklärung, nach ihrer Einheit und Vielfalt sollte erneut zum Ausgangspunkt werden für eine historische Rückbesinnung auf die Sinnpotentiale von Aufklärung, in des Wortes doppelter Verwendung als Tätigkeit und als Epochenbezeichnung. Schließlich war beim heutigen Stand der internationalen Forschung Skepsis angesagt, ob die Vielfalt der Positionen und die Verschiedenheit der nationalen und regionalen Entwicklungen in Buropa den Rückgriff auf Begriffe wie Aufklärung, Sieeie des Lumieres, Enlightenment oder Ilustraci6n zur Charakterisierung einer Gesamtepoche europäischer Kultur nicht eher verbieten als nahelegen. Der Titel Aufklärung(en). Einheit und nationale Vielfalt nimmt diese Zweüel in der Absicht auf, mit Blick auf die Fülle der konkreten Erscheinungsformen in der historischen Realität Aufklärung als ein Geflecht von zusammengehörigen Haltungen und Einstellungen sichtbar zu machen. Gleichwohl könnte der PluralAufklärung(en) als Provokation empfunden werden. Immerhin bricht er mit geläufigen Positionen der Forschung, die den Sinn von Aufklärung tendenziell auf eine Bedeutung - bürgerliche Emanzipation - und eine Folge -die Revolution von 1789- reduzieren. Solch normatives Verständnis verband lange Zeit die Vertreter sehr unterschiedlicher Weltbilder, der idealistischen Geistesgeschichte wie der marxistischen Historiographie. Die französische Entwicklung erschien dabei mit erstaunlicher Konstanz sowohl in national-staatlichen wie internationalistischen Geschichtskonstruktionen als prototypisch. Die französische Aufklärung wurde zum Modell für Aufklärung schlechthin. Es ist wohl gerade das Zusammenwirken heterogener Denkansätze, das den Vorbildcharakter der Aufklärung in Frankreich zu einem zählebigen Mythos hat werden lassen. Ihren Ursprung hatte diese Vorstellung- wo nicht bereits im französischen Hege1 R. Mortier, 'Divcrsitt des Lumi~res europtenes', in: B. Fabiu.fW. BiggemBDD (Hgg.), DtiS Achtzehnte Jflhmundert als Epoche, Lichtenstein 1978 (Studien zum Achtzehnten Jahrhundert), S. 39-
51.
VIII
Einleitung
monialstreben unter Ludwig XIV.- im Universalitätsanspruch französischer Aufklärer selbst, noch bevor eine patriotische Rezeption der Aufklärung als Wegbereiter der bürgerlichen Revolution die Sonderstellung Frankreichs als die eines Landes festigte, in dem mit der Proklamation der Menschenrechte und der Revolution die Umsetzung von Theorie in Praxis exemplarisch gelungen schien. Selbst nach den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts und der Infragestellung der bürgerlichen Nationalstaaten in Europa galt die Aufmerksamkeit bei der Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts weiterhin vornehmlich Frankreich. Wo auch sonst hätte das nunmehr desorientierte Bürgertum eine ähnlich beeindruckende Vergangenheit als geschichtsbildende Kraft vorweisen können. War nicht überhaupt wahre Aufklärung radikal-republikanisch, atheistisch-materialistisch, kritisch-emanziporisch und zweckrational? Einmal mehr gab so der politische Ereignisablauf in Frankreich die Folie ab für Bild und Bewertung der Aufklärung in Europa. Freilich war ein solch scharfkantiges Profil eines revolutionär-aufklärerischen Bürgertums das Ergebnis einer rigorosen Reduktion der Quellen. Selbst namhafte Aufklärer aus England und Frankreich - und nicht nur die Locke oder Montesquieu verblaBten im Spiegel dieser Selektion zu Vorläufern, wo sie nicht gar- wie etwa der Abbe Raynal - zu Renegaten deklariert wurden. Und die Reformanstrengungen in den Nachbarstaaten wurden pauschal als halbherzig, verspätet oder rückständig kritisiert. Dabei war es vom Zentrum Paris zur Peripherie oft nur ein Schritt. Gleichwohl, von Zentrum und Peripherie, vom Kernland der Aufklärung war in der Forschung gern die Rede, von Phasenverschiebung auch, so als vollzöge die jeweilige Region endlich nach, was im Zentrum lange schon vorgedacht lag. Vorgeprägt waren diese Metaphern bereits im späten achtzehnten Jahrhundert, in der Zeit zunehmender Polarisierung um das Wesen der Aufklärung, als mit dem Erfolg der Bewegung jede Form gemäßigter Aufklärung zwischen Jakobinerturn und Gegenaufklärung in Mißkredit geriet. Wahre Aufklärung war radikal, oder sie war bestenfalls gut gemeint; in der Sprache der Gegenaufklärer: herzlos, geistlos und gottlos, zu allem Überfluß auch ohne Poesie. Was Wunder, wenn diese Aufklärungsschelte mit der Restauration in Europa vor allem in den Ländern Gehör fand, in denen die Stimmen der radikalen Aufklärung weitaus geringer waren als in Frankreich und sich aus der Revolution keinerlei Prestige für die eigene Nation ziehen ließ? Ein Land mit gemäßigter Aufklärung wurde da bald zum Land ohne Aufklärung. Die Marginalisierung der Aufklärung im For~chungsbetrieb dieser Länder im Gefolge des Kulturkampfes in Europa war nahezu vorgezeichnet; und spät erst setzte dort ihre systematische Erforschung ein, meistens unter dem unverfänglichen Dach des achtzehnten Jahrhunde11s. Breites und interdisziplinäres Interesse fand die Aufklärung allerdings in dem Moment, als wesentliche Prämissen der vorherrschenden Aufklärungsforschung ins Wanken gerieten, weil sie am Modell Frankreich den Beweis ihrer Tauglichkeit schuldig blieben. In der Tat hat die Forschung der letzten Jahrzehnte Schritt für Schritt die lange unbestrittene These in Frage gestellt, daß die Aufklärung die Revolution vorbereitet habe. Auch die Revolution selbst wurde in ihrer Bedeutung als säkularer Einschnitt zwischen feudaler und bürgerlicher Gesellschaft relativiert, ebensowenig konnte mehr das immer heterogener erscheinende Bürgertum als einziger Träger für ihren Ausbruch gelten. Fanden die Enzyklopädisten nicht ausge-
Einleitung
IX
rechnet unter den Verwaltungsbeamten ihre eifrigsten Leser? Wurden Reformwillen und Bildungsoptimismus nicht gerade von Teilen des Adels und des Klerus vertreten? Griffen nicht sogar die Revolutionäre mit großer Vorliebe zurück auf alte Traditionen? Und waren die Positionskämpfe unter den verschiedenen Orientierongen der Aufklärer nicht Beweis genug für die genuine Mehrpoligkeit der Bewegung auch in Frankreich, wo phi/osophes, beaux-esprits, encyc/opedistes, economistes und ega/itaires bereits vor 1789 als Konkurrenten um die wahre Aufklärung in Erscheinung traten. Keine Frage, die These von der Revolution als geschichtlich notwendiger Konsequenz der Aufklärung, die der Fixierung auf das französische Modell zugrunde liegt, ist in ihrer nonnativ generalisierenden Form unhaltbar geworden. Eine neue, unbefangene Sicht auf den Zusammenhang zwischen Aufklärung, Revolution und Bürgertum - die sich im übrigen auch in Frankreich selbst weitgehend durchgesetzt hat - . gibt den Weg frei für ein zunehmend differenzierteres Bild von Aufklärung. Im Blick auf Buropa erscheint Aufklärung als Zeitalter der Reform. Dabei verlieh der Wettlauf um die Kolonien, insbesondere um den Amerikahandel dem Vonnachtsstreben der Staaten in Buropa einen dauerhaften Modernisierungsdruck, den überständische, d.h. aus allen Ständen sich rekrutierende Eliten zu Schritten einer pragmatischen Liberalisierung in Staat und Gesellschaft nutzten und im Namen der Aufklärung dafür warben. Jenseits der einseitigen Fixierung auf die bürgerliche Revolution rückt Aufklärung wieder in die Nähe der zahlreichen Spielarten des aufgeklärten Absolutismus in Europa. Mit dem Verblassen des einen Modells verloren überdies die Bekenntnisse zum nationalen Sonderweg ihren traumatischen Charakter. Der aufgeklärte Absolutismus war nun freilich im 18. Jahrhundert keine selbstverständliche Erscheinung, so wie es in manchen - vor allem regionalgeschichtlichen Arbeiten in der deutschen Historiographie dargestellt wird. Nicht jeder Besuch Voltaires und nicht jeder Plan für eine Verwaltungsreform sind ein Beweis für Aufgeklärtheit an einem Fürstenhof. Zwischen dem Bild der Aufklärung, das sich ausschließlich an der Revolution von 1789 orientiert und einer inhaltlichen Entleerung des Begriffs ist die Forschung gehalten, die je spezifischen Bedingungen zu analysieren, unter denen sich die Reformbewegung - meist in geistiger und politischer Auseinandersetzung mit dem Bestehenden - vollzog. Die weltweit immer intensiver betriebene Aufklärungsforschung läßt nunmehr ein Netz von Kontakten erkennen, das mit Kategorien von Nachahmung oder Verspätung nicht mehr charakterisierbar ist. Die Aufklärung war nicht zuletzt ein kultureller Vermittlungsprozeß in ganz Europa, der in den verschiedensten Formen intellektueller Kommunikation als Dialog zwischen unterschiedlichen Partnern stattfand (in Korrespondenzen, der literarischen Presse, in Akademien, in Salons oder Lesegesellschaften). Die Bereitschaft zum Gespräch über allgemeingültige Grundwerte und moralische Anleitungen zum Handeln in den verschiedenen Ländern setzt selbstbewußte alternative Positionen voraus. Der aufgeklärte Reformpragmatismus löst die Einheit der Bewegung keineswegs auf. Er schafft vielmehr ein kommunikatives Kraftfeld, das von keinem noch so privilegierten Ort aus in seiner komplexen Dynamik beschreibbar ist. Die Erforschung der europäischen Aufklärung muß dieses Geflecht von Relationen transparent machen, weil Aufklärung in Buropa weder über
X
Einleitung
die Hochrechnung eines Modells noch über die Addition sektoraler Ausschnitte als geschichtsbildende Kraft erfahrbar wird. Die veränderten Orientierungen der Forschung betreffen auch den Begriff der Aufklärung. Nicht die Fixierung auf normative, nachträgliebe Definitionen bestimmt gegenwärtig die Diskussion, sondern die genaue begriffsgeschichtliche Erfassung des Epochenbewußtseins auf der einen, das Ausloten der Sinnpotentiale von Aufklärung auf der anderen Seite. Eine umfassende vergleichende Untersuchung über die Bedeutungsgeschichte des Epochenbegriffs Aufklärung und seiner Entsprechungen steht zwar noch aus; soviel steht jedoch fest, daß die Liebtmetaphorik mit ihren eindeutig positiv konnotierten Eigenschaften und in ihrer säkularisierten Bedeutung bezogen auf Fortschritt der Erkenntnis übereinstimmend in ganz Buropa das historische Selbstverständnis der Autoren des 18. Jahrhunderts ausdrückte. Die in Deutschland schon in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts erfolgte Fixierung eines Wortes aus diesem Bildfeld als Epochenbegriff ist jedoch in den meisten anderen Sprachen erst sehr viel später, zum Teil sogar erst in der jüngsten Vergangenheit festzustellen. Ist es mehr als nur ein Zufall, daß sich in der französischen Forschung der Begriff Sieeie des Lumieres erst nach 1960 gegenüber konkurrierenden Bezeichnungen wie siecle philosophique durchgesetzt hat? Die Internationalisierung der Forschung verspricht daher beides: Differenzierung der Gegenstände und Vereinheitlichung der Terminologie. Die Bedeutung der Begriffe wird jedoch nicht ein für allemal festzulegen sein. Die Aufklärung als Epoche und als Bewegung widersetzt sich normativem Denken. Ihre Grundwerte sind immer zugleich auch Möglichkeiten für die Zukunft. So ist Kritik ein allgemeines Prinzip der Aufklärung, aber Bruch mit der Tradition keine notwendige Konsequenz. Kritische Selektion umschließt auch die Möglichkeit des Festballens und Bewahrens. Fortschritt ist nicht in jedem Falle der Tod des Alten und Wahrheit weniger Besitz als Suche, weniger Zustand als Prozeß. Unbescbadet aller Distanz der Aufklärer zu den Institutionen der Kirche gewinnt angesichts dieses Probabilismus die Frage nach dem Verhältnis von Aufklärung und Religion an Gewicht. Und der vielgeschmähte Eklektizismus der Aufklärer wird endlich als Ideal eines aus Systemzwängen befreiten Denkens mündiger Bürger neu geadelt. Das Wagnis des freien Denkens konnte schließlich vor dem überlieferten Bild des Menschen nicht haltmachen. Die neue Anthropologie mußte die Natur aus den Hierarchien eines angestammten Vernunfts- und Ordnungsdenkens lösen. Die zahlreichen Entwürfe einer aufgeklärten, bald natürlichen, bald sittlichen Ordnung von Herz, Hirn und Hand sind da Beleg genug. Die Erforschung der kulturellen und mentalen Dimension der Aufklärung hat sie neu in den Blickpunkt gerückt. Es wird klar: die Relativierung des Modells vom revolutionären Frankreich durch Einbeziehung seiner Nachbarn in Buropa und die Öffnung des Begriffs Aufklärung auf dessen Sinnpotentiale bedingen einander. Sie können die komparatistische Erforschung der Aufklärung in Buropa auf eine neue Grundlage stellen. Vorausgesetzt der neue Reichtum löst sich nicht auf in die unverbindliche Vielheit des Partikularen oder versandet im rubrizierenden Entzücken, sondern wird zum Stimulus einer systematischen Reflexion auf die Lebendigkeit dieses Erbes. Als aktuell wird ein Erbe letztlich nur erfahren, wenn die Erinnerung an das Erreichte zugleich im Horizont der nicht eingelösten Möglichkeiten seine Bewertung erfährt. Der philoso-
Einleitung
XI
phisehe Entwurf oder die literarische Fiktion können daher für die Erkenntnis und Bewertung von Aufkärung als Denkhaltung und Bewegung ebenso bedeutsam sein wie die Analyse des Politisch-Sozialen. Die Erforschung der Mentalitäten, die in Frankreich die Erforschung von Aufklärung und Revolution bereits umfassend verändert hat, wird auch die Zusammenarbeit von Historikern und Sozialwissenschaftlern mit Philosophen und Philologen, mit den Historikern von Literatur und Sprache, neu begründen. Bei einem solchen Verständnis von Aufklärung versagen zwar alle Versuche, zu knappen reduzierten Definitionen von einer alles umgreifenden Epochenbezeichnung zu gelangen oder sie nach allgemein verbindlichen Prinzipien ein für allemal zu fixieren, dennoch oder gerade deshalb zeigt gerade die neueste Geschichte, daß Aufklärung als. ständiger Stimulus zur Veränderung, als ständige Bereitschaft zur (auch selbstkritischen) Infragestellung des Bestehenden, als Verweigerung autoritären Denkens und Handeins in allen Bereichen immer wieder von Neuern geschichtswirksam wird. Der Zusammenhang zwischen einem solchen Prinzip Aufklärung und der historischen Epoche des 18. Jahrhunderts, als in einigen Teilen der Welt sich der Begriff und die Sache in den Köpfen der Menschen festsetzten, wird schlagartig deutlich, richtet man den Blick auf Länder, in denen es keine entsprechende historische Bewegung gegeben hat. Auf dem Hintergrund der skizzierten, fundamental veränderten Perspektiven der Aufklärungsforschung verstand sich die von uns im November 1987 organisierte Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts als Beitrag zum interdisziplinären Dialog über die europäische Aufklärung. Eine verstärkte Einbeziehung der oft als peripher abgewerteten Räume (wie Polen und Rußland, Spanien und Lateinamerika) wurde angestrebt, konnte im Rahmen eines zeitlich begrenzten Kolloquiums jedoch nicht in der gewünschten Breite verwirklicht werden. Das Fehlen so bedeutsamer Räume wie Schottland oder Italien dagegen hatte ebenso tagungspragmatische Gründe wie die Art der Einbeziehung von Mittelund Osteuropa, das Fehlen einer Darstellung über den Reformkatholizismus oder jener über die Zusammenhänge von Aufklärung und Revolution in mentalitätsgeschichtlicher Sicht. Die Reflexion auf den Begriff der Aufklärung und die komparatistische Integration des jeweiligen Gegenstandes in den europäischen Kontext wurde von den Beiträgem zwar erbeten, konnte jedoch selbstverständlich nur in der Verantwortung des einzelnen liegen. Angesichts der interdisziplinären Themenstellung. und der Heterogenität der Forschungsstände war von vornherein eher eine Skizze als eine Gesamtschau zu erwarten. Die hier vorgelegten, überarbeiteten Beiträge der Tagung können keine Synthese der europäischen Aufklärungsforschung bieten. Aber sie sind - so hoffen wir - Teil jener Neuorientierung der internationalen Forschung zum 18. Jahrhundert, in der Vielfalt und Differenzierung gerade die Lebendigkeit der Aufklärung verdeutlichen. Die Pluralisierung Europäischer Aufklärung(en) im Titel des vorliegenden Sammelbandes ist insofern durchaus programmatisch gemeint.
Siegfried Jüttner Universität Duisburg
Jochen Schlobach Universität Saarbrücken
I. Allgemeine Perspektiven
Wemer Schneiders (Münster) Aufklärungsphilosophien •
I. Anfangsschwierigkeiten. Oder: Gibt es eine deutsche Aufklärungsphilosophie?
In seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie schreibt Hegel: "Hume und Rousseau sind die beiden Ausgangspunkte der deutschen Philosophie" (Bd. 22, S. 311, vgl. S. 275, 280, 308, 365, 430). 1 "Die Deutschen trieben sich zu dieser Zeit in ihrer Leibnizisch-Wolffschen Philosophie ruhig herum, [... ) als sie nach und nach, vom Geist des Auslands angeweht, in alle Erscheinungen eingingen. die dort erzeugt worden waren [...]" (S. 308). Allerdings betrachtet Hegelauch Hume und Rousseau als Beispiele für das ''Verkommen des Denkens" in der Aufklärung, vor allem Hume: "tiefer kann man im Denken nicht herunterkommen" (vgl. S. 267, 279). Aber die Deutschen sind eben "ehrliche Trödler, denen alles gut genug ist und die mit allem Schacher treiben" (S. 308f). Immerhin bemüht sich Hegel, trotzaller Verachtung der Aufklärung als bloße Verstandesphilosophie, um historische Gerechtigkeit und schreibt z.B. auch, Thomasius und Wolff hätten das "unsterbliche Verdienst, das Philosophieren in Deutschland einheimisch gemacht" zu haben, nämlich durch ihr Denken in deutscher Sprache (S. 258). Damit hat Hegel die Grundlage für eine Einschätzung der deutschen Aufklärung formuliert, die, mit unterschiedlichen Akzenten bis in die heutige Aufklärungsforschung hinein wirksam geblieben ist. Und unbestreitbar hat sie auch ein fundamentum in re. Aber es ist auch nicht zu leugnen, daß die deutsche Aufklärungsphilosophie durch Kant und Hegel, Klassik und Romantik so verschüttet worden ist, daß heute viele Fehlurteile auf schlichter Ignoranz beruhen. Nur dagegen richten sich die folgenden Bemerkungen, die sich vor allem auf die deutsche Aufklärungsphilosophie beziehen werden. Geht man nun, mit oder ohne Hegel, nämlich aufgrund anderer Maßstäbe, davon aus, daß, wie die Aufklärungsphilosophie im allgemeinen, so auch die deutsche Aufklärungsphilosophie im besonderen als zumindest historisch bemerkenswertes Phänomen existiert hat, so wird man auch feststellen, daß diese einen durchaus eigentümlichen Charakter und einen durchaus eigenständigen Ursprung hatte. Allerdings muß man sich, um dies zu sehen, von dem axiomatischen Vorurteil freimachen, nur
' Öffentlicher Abendvortrag auf der Tagung der Deutschen Geseßschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts: Europlüsche Aufki/Jmng(en). Einheit und nationale Vielfalt, 18.-21.11.1987, HerzogAuf!!t-Bibliothek, Wolfenbüttel. Zitate nach G.W.F. Hegel, Werke in zwwiZig Bii11den, Frankfurt a.M. 1970 ff.
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Allgemeine Perspektiven
eine atheistische und revolutionäre Aufklärung als wahre Aufklärung gelten zu lassen; denn dann reduziert sich die Aufklärung in der Tat auf einige wenige Personen, und alles andere sinkt, an dieser Norm gemessen, in die Bedeutungslosigkeit zurück. Damit will ich gar nicht leugnen, daß Aufklärung, aufgrund der ihr eigenen Negativität zu Revolution und Atheismus führen kann und daß ihr sogar eine starke Tendenz dazu innewohnt. Es geht jedoch im Augenblick zunächst nur darum, den Blick frei zu halten für die Vielfalt der geschichtlichen Phänomene, die wir immer noch mit dem Begriff Aufklärung verbinden und die unter sich selber mehr oder weniger fest verbunden sind: Hoffnung auf mehr Vernunft und Freiheit, also auch auf eine verbesserte Moral und Politik zum Nutzen der Menschen, und daher Kampf gegen die ethischen und intellektuellen Hindernisse einer solchen Bemühung um Vernunft, nämlich Kampf gegen Vorurteile und Aberglauben, Fanatismus und Dogmatismus, und also auch Kampf gegen die auf dieser Basis institutionalisierte und tradierte Praxis. Ist man in diesem Sinne bereit, von einem mittelfesten, d.h. einem nicht allzu engen und flexiblen Aufklärungsbegriff auszugehen, dann kann man m.E. auch nicht übersehen, daß die Aufklärung in Deutschland nicht erst nach 1750, sondern schon in den achtziger Jahren des 17. Jahrhunderts begonnen hat. Und wenn man die begrenzte Zahl symbolischer Anfangsdaten miteinander vergleicht (für Frankreich etwa die Aufhebung des Ediktes von Nantes und für England die Glorious Revolution) dann läßt sich für Deutschland eben nur 1687 als Anfangsdatum nennen, also der Eklat einer deutschen Vorlesungsankündigung, mit der Thomasius vor 300 Jahren seine Karriere als Aufklärer begann. Diese Initialzündung aber läßt sich weder aus englischen noch aus französischen Ursprüngen deduzieren, z.T. schon aus rein chronologischen Gründen nicht. Zwar setzt die geistige Explosion, mit der die deutsche Aufklärung ihren Anfang nahm, auch die moderne Philosophie voraus, wie sie vor allem in England und Frankreich seit etwa 1600 entstanden war. Aber es macht m.E. wenig Sinn, um die Abhängigkeit der deutschen Aufklärung vom Ausland zu demonstrieren, mit einem doppelten Aufklärungsbegriff zu arbeiten, nämlich einen für den externen und einen für den internen Gebrauch: einerseits mit einem möglichst weiten, um auch Bacon und Descartes als Aufklärer bezeichnen zu können, und andererseits mit einem sehr engen, um die deutsche Aufklärung erst mit Lessing oder der Popularphilosophie beginnen zu lassen. Geht man also von. 1687 als Anfang der deutschen Aufklärung aus, dann sieht man auch sogleich, daß es sich hier nicht um ein politisches, sondern um ein akademisches Ereignis handelt. Dieser akademische Ursprung prägt die deutsche Aufklärung noch bis ins letzte Glied, eigentlich bis heute - schon Thomasius erhoffte sich (typisch deutsch) die Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse von einer Universitätsreform. Die deutsche Aufklärung ist daher zunächst eine akademische Bildungsbewegung, eine Art protestantische Kulturrevolution, aber, bei aller individuellen Frömmigkeit, mit einem neuen theologiefernen Selbstverständnis der Philosophie. Die deutsche Aufklärung wiederholt zwar, aufgrund der besonderen deutschen Verhältnisse, in ihren Anfängen in gewisser Weise den Aufstand der Laien, d.h. der Nichttheologen und Nichtprofis, mit denen die neuzeitliche Philosophie in England und Frankreich begann; aber im Lande Luthers und der Universitäten sind es zunächst Professoren und nicht zuletzt Theologen, die gegen die orthodoxe Scholastik opponieren und die die Aufklärung als Fortsetzung der Reformation verstehen.
W. Schneiders - Au!ldärungsphilosophien
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Daher ist die deutsche Aufklärung wie bekannt, auch sehr viel weniger religionskritisch als die englische und die französische; sie ist wenigstens auf weite Strecken nur reformistisch, z.B. gegen den Konfessionalismus und die kirchlich-dogmatische Bevormundung gerichtet. Und daher ist die deutsche Aufklärung wie bekannt auch sehr viel weniger politikkritisch als die englische und französische; sie ist auch in diesem Punkt, wenigstens auf weite Strecken, nur reformistisch, nämlich prostaatlich, um eine Aufklärung der Herrscher und des Volkes und um eine vorsichtige Uberalisierung der Verhältnisse bemüht. Unter den 1648 festgeschriebenen Bedingungen des Restreiches versteht sie das Problem einer Erneuerung unvermeidlich moralisch und setzt daher auf eine Verbesserung der Moral und ineins damit auf eine Entwicklung von Vernunft und Freiheit.1
II. Entwicklungsprobleme. Oder: Einheit und Vielheit der deutschen
Aufklärungsphilosophie Die deutsche Aufklärung begann mit einer akademischen Provinzposse, mit den Leipziger Streitigkeiten um Thomasius' erste deutsche Vorlesung. In dieser ihrer ersten Phase konnte sie gar nicht anders als destruktiv sein. Geradezu barbarisch schiebt Thomasius fast die ganze philosophische Tradition, insbesondere die aristotelische Scholastik, als Gerümpel beiseite, und auch aus dem Cartesianismus nimmt er nur wenige Theoreme auf, wie den (allerdings schon auf maßvolle Kritik begrenzten) universalen Zweifel. Thomasius nennt dieses Vorgehen bekanntlich eklektisch; gemeint ist: freie und kritische Auswahl und damit Verselbständigung des Denkens (Selbstdenken). Am meisten ist Thomasius den modernen Naturrechtslehren verpflichtet, und in ihrer konstruktiven Fortbildung, vor allem in der systematischen Unterscheidung von Recht und Moral, liegt sein bleibendes Verdienst; davon profitieren wir heute noch. Im übrigen profitieren wir vor allem von Thomasius' praxisbezogenen Aufräumarbeiten, von seinem Kampf gegen Vorurteile und Aberglauben, gegen Folter und Hexenwahn; und nehmen es alles wie selbstverständlich. Dies alles mußte aber erst einmal durchgefochten werden, und dies alles konnte nur der Anfang der Aufklärung sein. Auf der Grundlage der durch Thomasius erworbenen Denkfreiheit beginnt Wolff mit einer umfassenden Systematisierung der modernen Philosophie, ohne dabei die Grundlagen der philosophischen Tradition ganz zu verlassen. Seine Philosophie ist ein exemplarischer Versuch zu umfassender und konsequenter Anwendung der Vernunft in allen Denkgebieten und Lebensbereichen, ein erster Ansatz zur totalen Verwissenschaftlichung unserer Lebenswelt Dieser Anspruch auf rationale Universalität entspringt einem Anspruch auf rationale Fundamentalität. Nur als letztbegründetes Wissen kann Philosophie auch prinzipielles Totalwissen sein; und nur als exakte Ursachenwissenschaft kann sie auch eine
z Zu diesen und den folgenden Ausführungen vgl. bes. Vf., "Der Philosophiebegriff des philosophischen Zeitalters, Wandlungen im Selbstverständnis der Philosophie von Leibniz bis Kant", in: R. Vierhaus (Hg.), WISsenschaften im Zeitalter der Aufklilrung, Göttingen 1985; ders., "Akademische Weltweisheit. Die deutsche Philosophie im Zeitalter der Au!ldärung", in: G. Sauder/J. Schiabach (Hgg.),Aufkldrungen. Frankreich und Deutschland im 18. Jahrltundert, Heidelberg 1986.
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Allgemeine Perspektiven
richtige Praxis gewährleisten. Damit stellt sich Wolff gegen die geschichtlich orientierte Eklektik des Thomasius und begründet die Aufklärung als methodisches Wissen aufgrund von Prinzipien, als universale reproduzierbare Rationalität. Aufklärung ist Wissenschaft geworden, und zwar tendenziell absolutes Wissen, aufgrund dessen sich auch alle Lebensprobleme durch richtige Folgerung richtig lösen lassen. Auch Jahrhunderte haben ihre midlife-crisis- im 18. Jahrhundert war es der Siebenjährige Krieg, der die politische und intellektuelle Landschaft umpflügte. Ohne jetzt eine Kurzgeschichte der Philosophie der Aufklärung versuchen zu wollen, möchte ich doch darauf hinweisen, daß sich der Denkhabitus in Deutschland, aber nicht nur in Deutschland, schon vor 1750 deutlich zu wandeln beginnt. Zweifellos gehören zu den Ursachen dieses geistigen Klimawechsels verstärkte Einflüsse aus dem Ausland. Aber alle diese Fermente hätten nicht wirksam werden können, wenn in Deutschland nicht der geistige Boden bereit gewesen wäre. Auf philosophischem Gebiet zeigten sich die ersten Veränderungen schon, als spätestens mit der triumphalen Rückkehr Wolffs nach Halle auch ein Überdruß an dessen weitschweifiger Lehrbuchphilosophie aufkam und zugleich mit Crusius ein verstärkter Kampf gegen ihn auf einem neuen Niveau begann. Jetzt entsteht (zunächst neben, dann gegen Wolffs lateinische Schulphilosophie) eine deutsche Popularphilosophie, die nicht nur die Schulphilosophie in anderer Form war. Zwar schlachten Meier, Mendelssohn, Reimarus und andere Wolff weidlich aus; ihrer Denkhaltung nach sind sie aber wie schon Thomasius eher antifundamentalistisch eingestellt. So entsteht eine neue Eklektik, die immer deutlicher zu einer gewissen Resignation und Skepsis tendiert. Spätestens seit der Jahrhundertmitte bekommt die heilige Trinität der Aufklärung Wahrheit-Tugend-Nutzen einen unverkennbar hohlen Klang, und der durch die Aufklärung entwickelte Rationalitätsstandard läßt nun die inzwischen ausgebreitete Aufklärung selbst als leer und platt erscheinen. Die Spätaufklärer nach 1780 bieten daher in der Tat ein schwaches Bild; sie sind den Innovationen und Forderungen der neuen Zeit, vor allem der allgemeinen "Freiheitsinfluenza" (v. Moser), nicht mehr gewachsen. Sie geraten in einen Zweifrontenkrieg mit alten und neuen Gegnern, und sie geraten Schritt für Schritt in die Defensive. Während die junge Generation sich im Sturm und Drang austobt, fühlen sich die meisten Aufklärer schon zu alt, um auf das neue Karussell der Gefühle aufspringen zu können - obwohl doch das heute so gern zitierte Andere der Vernunft durch diese Vernunft allererst so möglich geworden ist. Zwar eröffnet Kant dann die Aussicht auf eine neue Art von selbstkritischer Vernunft, aber diese verlangt den Verzicht auf anscheinend unabdingbare Axiome der bisherigen Philosophie; so zerfiel die Spätaufklärung in einen kantianischen und einen antikantianischen Flügel. Und als dann noch die Französische Revolution mit ihren Folgen neue politische Bekenntnisse verlangte, war die deutsche Aufklärung zu konstruktiven Antworten nicht mehr fähig; die von ihr emphatisch als wahre Aufklärung verteidigte reformistische Aufklärung wurde zuletzt nahezu rein defensiv. Aber gerade dieser reformatorische oder reformistische Aspekt ist ein Zeichen für die relative Homogenität der deutschen Aufklärung über vier Generationen hinweg.
W. Schneiders- Aufklärungsphilosophien
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1/J. Typologien Oder: Wie man Ordnung in die Aufklärung bringt Was immer man für typisch aufklärerisch halten mag, offensichtlich gibt es innerhalb der Aufklärung selbst wieder verschiedene Typen, die man nach verschiedenen Gesichtsp!lnkten ordnen kann. Von diesen vielen möglichen Klassifikationen der vielen Spielarten von Aufklärung scheinen mir vier von besonderem Interesse zu sein. Sie alle haben ein gewisses Wahrheitsmoment in sich, aber sie alle haben auch ihre eigene, nur z.T. ähnliche Problematik und sind daher mit Vorsicht zu gebrauchen. Es sind die Unterscheidungen zwischen dogmatischer und skeptischer, rationalistischer und empiristischer, rationalistischer und emanzipatorischer sowie relativer und absoluter Aufklärung. Die beiden ersten beziehen sich auf den erkenntnistheoretischen Status der Aufklärung, die beiden letzten auf praktische Fragen nach den Zielen und Möglichkeiten der Aufklärung. 1. Dogmatische und skeptische Aufklärung. Die alte Unterscheidung von Dogmatismus und Skeptizismus, von Kant mit der von Rationalismus und Empirismus verbunden und als durch seinen Kritizismus überwunden erklärt, führt in ihrer Anwendung auf die Aufklärung im allgemeinen zu der Behauptung, die deutsche Aufklärungsphilosophie sei dogmatisch gewesen, die englische und französische hingegen, zumindest tendenziell, skeptisch. Aber erstens gibt es neben Wolff (dem sogenannten Fürsten der Dogmatiker) und den Wolffianern den breiten Strom der eher erkenntnisskeptischen Richtung des Thomasianismus und der Popularphilosophie; und zweitens würde sich Wolff nicht als bloßer Dogmatiker verstanden haben, jedenfalls nicht in der durch Kant geläufig gewordenen negativen Bedeutung des Wortes. Nimmt man aber das Wort dogmatisch positiv (nämlich als in thetischer Aussage die Möglichkeit irgendeiner Erkenntnis voraussetzend), dann dürften sich nicht nur Hume und Voltaire, sondern auch Kant schnell so oder so als Dogmatiker erweisen. 2. Rationalistische und empiristische Aufklärung. Wenn man, wieder im Anschluß an Kant, aufgrund der Wertung der menschlichen Erkenntnisquellen zwischen Rationalismus und Empirismus und dann zwischen rationalistischer und empiristischer Aufklärung unterscheidet, dann tut man das meist in der Absicht, die englische Aufklärung als empiristische, die kontinentale hingegen als rationalistische zu kennzeichnen, wobei man dann noch zwischen einem dogmatischen deutschen Rationalismus und einem skeptischen französischen Rationalismus unterscheiden kann. Aber die deutsche Aufklärung war keineswegs durchgängig rationalistisch orientiert. Der ganze Thomasianismus wie auch die spätere Popularphilosophie sind empiristisch ausgerichtet, und selbst Wolff betont den empirischen Ursprung fast aller unserer Erkenntnisse und fordert für die Wissenschaft ein connubium rationis et experientiae. 3. Rationalistische und emanzipatorische Aufklärung. Diese Unterscheidung bezieht sich vor allem auf das Ziel der Aufklärung. Sie benennt zwei divergierende Aufklärungsprogramme, die damals mit Begriffen wie Selbstdenken und Freidenken einerseits sowie Helldenken und Richtigdenken andererseits diskutiert wurden. Die Frage war, wessen bedarf das Denken mehr, der Wahrheit oder der Freiheit? Und je nachdem wie die Antwort ausfiel, herrschten auch andere Vorstellungen von den Haupthindernissen der Aufklärung: moralische Mängel wie
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Feigheit und Faulheit einerseits oder intellektuelle Defizite wie unklare oder unzureichende Begriffe und falsche Urteile andererseits. Aufs Ganze gesehen neigt der Thomasianismus eher zum ersten Typus von Aufklärung (Emanzipation durch Authentizität), der Wolfflanismus eher zum zweiten (Wahrheit durch Klarheit). Aber natürlich geht es auch hier nur um einen- allerdings wichtigen· Akzentunterschied; denn selbstverständlich ist auch Thomasius fürs Richtigdenken und auch Wolff fürs Selbstdenken. 4. Relative und absolute Aufklärung. Diese Unterscheidung, die vor allem die Frage nach den Grenzen und Möglichkeiten der Aufklärung betrifft, stammt aus der Spätaufklärung. Faktisch ist sie jedoch seit der Frühaufklärung vorhanden, nämlich seit Thomasius Aufklärung für alle forderte. Sie bezieht sich nicht (erkenntnistheoretisch) auf die aufzuklärende Sache, sondern (pädagogisch) auf die aufzuklärenden Menschen, d.h. sie setzt die Möglichkeit von Erkenntnis voraus und fragt nach der Möglichkeit ihrer Vermittlung. Wenn Aufklärung von sich aus nicht nur Aufklärung seiner selbst, sondern auch Aufklärung des anderen intendiert, muß sie dann universale Aufklärung sein wollen, auch wenn sie dies in praxi nie sein könnte? Oder darf bzw. muß sie sich aus sachlichen wie pädagogischen Erwägungen von vornherein begrenzen? Und umgekehrt, macht man die Begrenztheit der Aufklärung zum Programm, unterschätzt man dann nicht ganze Menschengruppen und stellt man sich dann nicht auf einen absoluten Standpunkt, auf dem man sich das Recht zur Rationierung von Rationalisierung gibt? Wie dem auch sei, die meisten Aufklärer (nicht nur in Deutschland) haben geglaubt, aus pädagogischer Verantwortung, Aufklärung nicht überstürzen zu dürfen sondern vorsichtig dosieren zu müssen. Eine derartige Reflexion auf historische Klassifikationsmöglichkeiten und ihren mehr oder weniger großen heuristischen Wert müßte natürlich durch systematische Erörterungen erläutert werden - man darf ja vermuten, daß die drei ersten Gegensätze sich kritisch oder dialektisch auflösen ließen, während der letzte möglicherweise eine echte Alternative darstellt. Eine solche Erörterung würde hier jedoch zu weit führen. Vielleicht gewinnt die trockene Aufzählung von Aufklärungstypen jedoch auch ohne dies an Reiz, wenn man sie als Annäherung an das Selbstverständnis der Aufklärung versteht. Denn: die beiden ersten Unterscheidungen gewinnen zwar im 18. Jahrhundert an Prägnanz, aber sie sind ursprünglich nicht auf die Aufklärung bezogen und daher nicht nur mit dem Aufklärungsproblem verknüpft. Die beiden letzten sind in der Aufklärung selbst entwickelt worden und formulieren typische Aufklärungsprobleme; sie führen in das Zentrum der Selbstreflexion der Aufklärung und reichen bis in die moderne Aufklärungsdiskussion hinein. Vor allem die letzte Unterscheidung, die zwischen relativer und absoluter Aufklärung, scheint mir, auch wenn sie in modernen Aufklärungsprogrammen offiziell als Problem ignoriert wird, immer noch aktuell zu sein. Wer wagt schon, allen immer alles zu sagen? Woher diese Angst des Aufklärers vor der Aufklärung?
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W. Philosophie und Aufklärung. Oder: Die Selbstdefinition der Philosophie im Zeitalter
der Aufklärung Das Zeitalter der Aufklärung heißt auch das philosophische Zeitalter. Die Philosophie versuchte die Rolle einer Führungswissenschaft zu übernehmen und sich unter Verdrä:ngung der Theologie an die Spitze des Zeitgeistes zu setzen. Philosophie und Aufklärung sind daher am Ende des 18. Jahrhunderts oft fast austauschbare Begriffe. Deshalb muß man sich auch fragen, was damals unter Philosophie verstanden wurde, d.h. wie sich die Philosophie der Aufklärung selbst verstand, und das zeigt sich zunächst in den Definitionen der Philosophie, die ein Ausdruck der Selbstreflexion und der Selbstbestimmung der Philosophie sind. Der Philosophiebegriff eines Autors oder einer Epoche kann gleichsam der Kristallisationspunkt, der Brennspiegel oder das Barometer eines Denkens sein. Dabei sind gerade auch die unbedeutenderen Philosophen interessant, zumal die Kenntnis der großen Gründerväter inzwischen vorausgesetzt werden kann. Thomasius' Versuche, Wesen und Aufgabe der Philosophie zu bestimmen, entwickeln sich in drei Etappen: am Anfang steht die noch stark der Tradition verbundene Definition der Philosophie als Erkenntnis der göttlichen und menschlichen Dinge zum Zwecke der Glückseligkeit; in der Mitte herrscht die Definition der Philosophie als Erkenntnis des Wahren und Guten, ebenfalls zum Zwecke der Glückseligkeit; und am Ende steht die Einschränkung der Philosophie auf die Erkenntnis des Guten, wobei diese Erkenntnis mehr oder weniger zu einem bloßen vernünftigen Glauben wird. Die derart finalistisch definierte Philosophie ist also, um es mit den Worten von Thomasius' Schüler Heumann zu sagen, durch und durch eine scientia practica. Darin stimmen die Thomasianer im Prinzip alle überein, doch setzen sie auch neue wichtige Akzente. Der Theologe Budde z.B. übernimmt Thomasius' erste Definition, fügt aber hinzu, daß sich die philosophische Glückssuche auch auf das ewige Heil erstrecken müsse. Der Mediziner Rüdiger hält zwar an der existentiellen Relevanz der Philosophie fest (sie sei omnibus perutilis), geht aber darüber hinaus auch auf die Eigenart der philosophischen Erkenntnis ein: sie beziehe· sich auf Wahrheiten, die, obwohl in der Erfahrung gegründet, nicht jedermann auf Anhieb offenbar seien, sich der cognitio vulgaris sogar entzögen. Diese Konzeption der Philosophie als Kritik hat dann der Rüdiger-Schüler August Friedrich Müller noch unterstrichen, indem er die Philosophie als scharfsinniges, ja künstliches Nachdenken charakterisierte. Und Georg Walch, Schüler von Budde und bis in die aetas kantiana hinein als Lexikograph wirksam, nimmt dies auf, indem er die Philosophie als "judicieuse Wissenschaft" beschreibt. Ich denke also, daß man berechtigt ist, von einer kritischen und praktischen Intention der Philosophie im Thomasianismus zu sprechen: Philosophie als praxisorientierte Kritik. Demgegenüber hat Wolff, obwohl auch er den Nutzen der Philosophie betont, vor allem deren theoretischen Anspruch unterstrichen. Philosophie ist strenge Wissenschaft, exakte Fundamental- und Universalwissenschaft, letztlich absolute Wissenschaft. Sie fragt nach den Gründen aller Dinge oder den Bedingungen ihrer Möglichkeit; sie ist also scientia possibilium, und ihr höchster Gegenstand ist die letzte ratio possibilium selber. Obwohl diese Reaktivierung der Philosophie als Wissenschaft von den Gründen oder Prinzipien bis in die Thomasius-Schule hinein wirkt und auch
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dort das Wortgründlich zu einem Modewort werden läßt, fällt doch auf, daß die Anhänger von Wolff dessen ungewöhnliche Definition der Philosophie als Möglichkeitswissenschart von Anfang an restriktiv behandeln. Schon Bilfinger und Thümming kümmern sich kaum um diese Definition; und auch Baumeister ersetzt scientia possibilium durch die harmloser klingende cognitio causarum bzw. cognitio rationiS .sufficientis, ja er schließt sich am Ende sogar wieder ausdrücklich der ganz auf Praxis zielenden Philosophieauffassung des Thomasianismus an. Kurz, die WolffSchule tendiert zur Abschwächung oder Ignorierung der Definition der Plilosophie als Möglichkeitswissenschaft, sie tendiert zur traditionellen Definition der Philosophie als Grundwissenschaft oder als Glückswissenschaft Daß es dabei zu allerlei interessanten Varianten kommt, daß z.B. schon Darjes die Philosophie wie später Kant als Erkenntnis aus Begriffen definiert, darauf will ich jetzt nicht eingehen. Es genügt im Augenblick festzuhalten, daß sich gerade in dem zentralen Punkt der Philosophiekonzeption schon früh eine Tendenz zur Vermischung der Positionen ausbildet, also eine neue Eklektik. Diese neue Eklektik, deren erste Ansätze bis in die Blütezeit Wolffs zurückgehen, hat zwei Wurzeln, nämlich im Kampf gegen Wolffund im Bemühen, Wolff zu popularisieren. Ich gebe nur einige Beispiele, immer im Hinblick auf den Philosophiebegriff. Wolffs Definition der Philosophie als Erkenntnis alles Möglichen, so schon Johann Liborius Zimmermann, läuft auf eine Definition der Philosophie als Allwissenheit hinaus und damit auf eine phantastische Identifikation von Philosoph und Gott. Die gesunde Philosophie hingegen sei eine Erkenntnis nötiger und nützlicher Dinge, und zwar in praktischer Absicht; indem sie sich (jetzt teleologisch) am "Endzweck" des Menschen orientiert, arbeitet sie an der "Cultur des Verstandes" zwecks "Restitution der Welt". Ferner, so schon vor allem Crusius, verdeckt die Definition der Philosophie als Möglichkeitswissenschaft die Tatsache, daß es in der Philosophie vor allem um eine Erkenntnis der Wirklichkeit geht. Und letztlich, darin sind sich die Gegner und Anhänger Wolffs um die Mitte des Jahrhunderts bereits weitgehend einig, Wolffs Pseudo-Mathematizismus enthält die Gefahr, die Philosophie auf die Erkenntnis meßbarer Quantitäten zu reduzieren. Während Baumgarten und Meier daher darauf abstellen, daß der Philosoph es mit Qualitäten, nicht mit Quantitäten zu tun habe, geht schon Gottsched mit seiner Definition der Philosophie als Glückssuche wieder ganz traditionelle Wege. Ähnlich betonen auch Reimarus, Sulzer und Eschenbach, mit dem ich diesen Punkt abschließen möchte, vor allem die praktische Bedeutung der Philosophie. Bei Eschenbach findet sich dann die schöne, m.E. leider völlig falsche Charakterisierung der Philosophie, diese mache aus den Menschen nützliche und verständige, ruhige und (man höre:) reiche Mitglieder der Gesellschaft.
V. Exkurs über Sinnepoppen. Oder: Illustration der Illustracion Sinnepappen - das ist der Titel einer niederländischen Emblemata-Sammlung von Roemer Visscher, die 1614 in Amsterdam erschienen ist. Sinnepoppen (also Sinnpuppen) - das sind Sinnbilder, allegorische Figuren, mehr sinnige als sinnliche Sinnträger, auch da, wo es sich um sogenannte Minnepoppen, Liebesallegorien, handelt.
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Im folgenden soll es allerdings nicht um liebes-, sondern um Uchtallegorien gehen, also um Aufklärungsallegorien oder sogenannte Emblemata der Vernunft. Als Beispiel mögen die Frontispizien einiger philosophischer Schriften dienen. Thomasius' erstes philosophisches Werk, die Phi/osophia aulica von 1688, erschien im Selbstverlag, apud autorem (vgl. Abb. 1). Das Buch suchttrotzaller Polemik gegen Ati~toteles wie dieser das Gute in der Mitte. Der Mittelweg ist der Königsweg, die via aurea zwischen zwei Abwegen, den Vorurteilen der Cartesianer und den Ungereimtheiten der Aristoteliker. Es geht also nicht nur um die einfache Wahl zwischen Gut und Böse, sondern (wie so häufig in der Philosophie und Politik) um einen dritten Wegangesichts einer falschen Alternative. Also nicht Herades in bivio, sondern Thomasius in trivio. Dieser steht selbst als Wahrheitssucher im Vordergrund (mit dem berüchtigten Kavaliersdegen), daneben zwei falsche Ratgeber, die in verschiedene Richtungen deuten. In der Mitte der Weg des Selbstdenkens, der zur Wahrheit führt, die im Hintergrund mit Szepter und Hofstaat thront. Unks im Spiegelbild dieselbe Dame als Scheinwahrheit der Cartesianer, rechts die schon etwas altersschwache Phi/osophia aristotelica, gestützt von einigen wenigen Professoren in ihren Talaren. Aufklärung als freie Wahl des vernünftigen Weges zur Wahrheit. 1697 veröffentlichte Samuel Grosser eine Logik mit dem Titel Pharus inte//ectus, Leuchtturm des Verstandes (vgl. Abb. 2). Grosser, der von Thomasius und Weise beeinflußt ist, repräsentiert eine Strömung der Frühaufklärung, die einerseits novantik auf Vermittlung und andererseits politisch auf Wirkung bei Hofe ausgerichtet war. Das Titelbild mahnt jedoch, den richtigen Weg zwischen Scylla und Charybdis zu suchen. Das Schiff der Vernunft, die Noonautica, fährt zwischen den Klippen der Irrtümer und den Klippen der Unwissenheit über die Flut der Vorurteile in den Hafen der Stadt der Wahrheit ein, und zwar vom künstlichen Ucht des Leuchtturms des Verstandes, der logica artificialis, eingewiesen. Aber der moderne Hermeneutiker sieht natürlich sofort, daß die Wogen der Vorurteile, über die das Schiff der Vernunft so stolz hinweggleitet, dieses Schiff auch tragen. Offensichtlich ein Eigentor der frühen Aufklärung! Das Bild, das Rüdigers Philosophia synthetica von 1711 schmückt, stellt noch ganz auf den Gegensatz von alt und neu ab (vgl. Abb. 3). Aber nun ist es nicht mehr der eklektisch oder kritisch zu überwindende Gegensatz zwischen Aristotelikern und Cartesianern, sondern bereits der ausschließende Unterschied zwischen der neuesten Philosophie und aller bisherigen Philosophie überhaupt. Rechts im Schatten eines schönen neuen Gebäudes der dunkle und unordentliche Trödelladen eines obskuren Altwarenhändlers (Veterarius) mit seinen alten Sachen, den traditionellen Theorien, eine Art philosophischer second-hand shop, in den niemand mehr kommt. Unks das helle und wohlaufgeräumte Magazin des Novator, ein selbstbewußter und freundlicher Mann, bei dem, wie man an den adretten Herren sieht, nur anständige Kundschaft einkauft. Die neuen Stoffe gefallen der Sache wie dem Aussehen nach (Re specieque p/acent), die alten Lumpen hingegen haben weder Substanz noch gefälliges Aussehen (Re specieque carent). Die Aufklärung, d.h. hier der Thomasianismus, scheint sich seines Sieges schon sehr sicher zu sein. Mit Gundling kommen wir endlich zu jener Sonne, deren Strahlen noch in der Zauberflöte die Nacht vertreiben. An sich ist die Sonne, wie allgemein bekannt, nachdem sie erst selbst als Gott verehrt worden war, ein uraltes Symbol für das
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Göttliche; noch in der Bibel wird Gottpater luminum genannt. In der Philosophie bezog sich die Lichtmetapher dann vor allem auf das Iumen naturale, die menschliche Vernunft. Doch bekommt die Sonne, deren etwas schmuckloses Bildehen die Gundlingiana seit 1715 ziert, bei Gundling eine neue dynamische Funktion (vgl. Abb. 4). Während sie in älteren Emblemata-Sammlungen nur die alte Weisheit illustriert, ·daß es nach dem Regen besonders schön ist (Post nubila clarior), vertreibt sie bei Gundling die Wolken (nämlich die Irrtümer und Vorurteile) aus eigener Kraft, und zwar programmatisch zukunftsgerichtet: Dispellam. Aufklärung als philosophia
militans! Nach Gundling wird die Sonne als Symbol der Aufklärung dann durch Wolff bekannt, dessen Werke überhaupt sehr bilderfreudig ausgestattet sind. Dabei ist allerdings anscheinend bis heute unbeachtet geblieben, daß der Autor und seine Frontispizien auch eine sehr interessante Entwicklung durchgemacht haben. 1720 erschien die Deutsche Metaphysik mit einer strahlenden Sonne über einer gefälligen Kulturlandschaft: "Lucem post nubila reddit" (vgl. Abb. 5). Die Wolken haben sich verzogen, das Licht ist wiederda-durch Wolff (versteht sich) ist es wieder in die Welt gekommen. Wolff selber bemerkt dazu in seinen Ausführlichen Nachrichten (1726, 2. Aufl. 1733, Repr. 1933), daß er aufgrund seiner Methodi.sierung der Metaphysik mit Recht behaupten dürfe, "ich hätte in dieser Disciplin angefangen es lichte zu machen": "so wird sich niemand verständiges darüber ärgern können, daß ich vor mein Buch die Sonne stechen lassen, wie sie aus denen sich brechenden Wolcken hervor kommet und Hoffnung macht, es werde das Gewölcke nach und nach ganz vertrieben werden" (S. 312). Auf dem Titelbild der Deutschen Ethik im gleichen Jahr (vgl. Abb. 6) scheint die Sonne allerdings nur noch über den Wolken und über der durch die Gewitterwolken verdunkelten Erde. Natur und Menschenwelt verbleiben in wüster Finsternis, und nur ein einsamer Berg, vermutlich die Wolffsche Philosophie, ragt mit seiner Spitze ins Licht. "Non perturbatur in alto." Die Wahrheit bleibt durch das Treiben der dunklen und niederen Mächte unberührt, aber sie scheint diese auch ganz sich selbst überlassen zu wollen. Doch 1724 in den Anmerkungen zur Deutschen Metaphysik (vgl. Abb. 7) zeigt sich die Sonne bereits wieder für alle, nämlich ohne alle Wolken als fruchtspendende Gebieterirr der gesamten Welt: "Foecundo lumine fulget." Wolff weiß sichtrotz der Vertreibung nach Marburg als Sieger. Entsprechend kommentieren die Kleinen philosophischen Schriften (Bd. IV) die ~ögliche Verdunkelung des Lichts noch einmal, und zwar als ein bloß epiphemeres Problem. Wolken sind vergänglich, die Sonne aber bleibt bzw. kommt wieder (Abb. 8). "Das Licht nimmt selbst nicht ab, ein dunkler Körper machts, daß ein anderer den vollen Schein nicht siebet, doch nur auf kurtze Zeit." Der Obskurantismus der Wolff-Gegner konnte nur eine kurze Trübung bewirken. Die Wolffianer hatten diesem Seihtbewußtsein des Meisters im Grunde nichts mehr hinzuzufügen: außer daß es immer noch einige unverbesserliche Obskuranten gibt. Darauf verweist das Titelkupfer der ersten Dokumentation über Wolff, die nicht von Wolff selber stammt, die Geschichte der Streitigkeiten Wolffs mit seinen Gegnern von Georg Volkmar Hartmann (vgl. Abb. 9). Aus der Tür ihres Tempels tritt die Wahrheit (also die Wolffsche Philosophie) und schleudert ihre Blitze gegen die Chiliasten und diejenigen, die immer noch das Iumen intemum und die illumina-
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tio immediata hochhalten_ Sie bleiben draußen vor der Tür. Nur den Freunden Wolffs und der Wahrheit ist deren Tempel zugänglich: "Amicis adire licet." Ihre mathematischen Hilfsmittel liegen wie Opfergaben an der Stufe zum Heiligtum. Im Hintergrund tanzen bereits einige fröhliche Putten und schauen mit einem Fernrohr in die Sonne, was zwar schon bei Platon vom wahren Philosophen erwartet wird, aber bekanntlich nicht ungefährlich ist. Der Popularphilosoph Georg Friedrich Meier scheint dann schon ganz von diesem fröhlichen Geist einer geradezu anakreontischen Aufklärung erfüllt zu sein (vgl. Abb. 10). Er hat das Nützliche mit dem Angenehmen verbunden, "Miscuit utile dulci". Und nun sprudelt in einer idyllischen Landschaft eine Rocaille-Quelle, während der Philosoph Iinksaußen friedlich die Flöte bläst. Hoffentlich nur das Signet eines philosophisch unbedarften Verlegers! Ein kluger Mann hat einmal gesagt, die Philosophie lasse sich auf ein halbes Dutzend Metaphern reduzieren: Wie dem auch sei, die Tendenz der Philosophie ist es jedenfalls, das Bild durch den Begriff zu ersetzen, auch wenn der Begriff, wie der Begriff des Begriffes selbst am besten zeigt, vielleicht selber nur wieder eine Metapher ist. Diese Neigung zum Begriff ohne Bild, zum Verzicht auf sinnliche Veranschaulichung von Sinn, muß sich in der Aufklärung, die bekanntlich ohnehin eine Papierkultur war, besonders bemerkbar machen. Ihre ursprüngliche Bilderfreudigkeit nimmt mit wachsender Entfernung vom Barock ab. Kant ist nur ein Beispiel dafür, wie sehr am Ende der Aufklärung die Vergeistigung über die Versinnlichung, die Intellektualisierung über die Augenlust gesiegt hat. Die Kritik der reinen Vernunft verzichtet auf allen sinnlichen Bilderschmuck (wenn man von den drei unpassenden Blümchen des Verlegers auf dem Titelblatt einmal absehen darf). Die Kritik der reinen Vernunft scheint wie der Popularisierung so auch der Verbildlichung unfähig zu sein. Oder hätte die Veranschaulichung der Selbstkritik der Vernunft als Autovivisektion des Denkens zu sado-masochistischen Horrorbildern geführt?
VI. Ansätze zur Selbstverständigung. Oder: Der Fortschrittspessimismus der Aufklärung Die Emblematik der Aufklärung verrät mehr vom philosophischen Zeitgeist als die notwendigerweise etwas dürren Philosophiedefinitionen. Es gibt aber noch einen weiteren wichtigen Schlüssel zum Selbstverständnis der Aufklärung, nämlich deren Diskussion über ihre Ziele und Möglichkeiten, wie sie hier schon in der Unterscheidung zwischen rationalistischer und emanzipatorischer Aufklärung sowie zwischen relativer und absoluter Aufklärung angeklungen war. Dieser Streit um die Aufklärung (was denn die Aufklärung in Wirklichkeit sei) ist praktisch so alt wie die Aufklärung selber, er gehört zu ihr und es gibt wahrscheinlich so viele Aufklärungskonzepte wie Aufklärer. Auf diese Vielfalt will ich jetzt auch nicht andeutungsweise eingehen. Ich möchte hier nur auf einen einzigen, m.E. bisher zu wenig beachteten Aspekt der Aufklärung aufmerksam machen, nämlich auf ihre Zweifel an einem echten Fortschritt der Menschheit. Zunächst fällt ja immer ihr vielbeschriebener Fortschrittsoptimismus, d.h. ihre Hoffnung auf mehr Vernunft, Freiheit oder Moral ins Auge - weniger die vorsichtigen, manchmal allerdings sogar drastischen Argumente gegen diese Erwartungen. Wieweit ist die Hoffnung auf eine Entwicklung der
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Einsicht und eine Verbesserung der Moral berechtigt, wieweit lassen sich Vorurtei;e und Aberglauben wirklich abbauen? Die Frage stellt sich zunächst an das Individuum, dann aber auch an die Menschheit im ganzen; sie ist eine moralphilosophische und eine geschichtsphilosophische Frage. Der Anbruch der Neuzeit war bekanntlich von großen Hoffnungen getragen. Zum ersten·Mal rückte die Möglichkeit eines allgemeinen wissenschaftlichen und technischen Fortschritts in den Blick der jetzt zukunftsgerichteten Geister, und diese Erwartung beflügelte die Aussicht auf eine allgemeine intellektuelle, moralische und politische, ja sogar religiöse Höherentwicklung der Menschheit, wenn erst einmal die richtigen Grundlagen und Methoden der Erkenntnis gefunden worden seien. Bacon, Descartes und Leibniz sind bekanntlich voll von diesen Hoffnungen, die dann in der Aufklärung zum ersten Mal kulminieren und z.T. sogar noch bis in die Gegenwart reichen. Auch Thomasius beginnt mit solchen großen Hoffnungen. Aber erstens knüpfen sich diese bei ihm von Anfang an nicht mehr an die theoretischen Wissenschaften und die daraus resultierenden Techniken, sondern an die praktischen und praktikabler zu machenden Wissenschaften wie Ethik und Jurisprudenz. Und zweitens brechen diese Hoffnungen schon nach wenigen Jahren in der Konfrontation mit der Realität, den fremden wie den eigenen Schwächen, zusammen. Thomasius wird, wie man das kurz ausdrückt, zu einem Pessimisten, der nicht mehr an die moralische Emendation glaubt, das Erfinden neuer Maschinen als im Eigentlichen nutzlos verachtet und vor allen radikalen politischen und religiösen Reformen warnt. Aber er macht natürlich im Kleinen und Konkreten weiter, weil er als vernünftiger Mensch gar nicht anders kann, und er ist, wie sein Kampf gegen Folter und Hexenwahn zeigt, sogar erfolgreich. Schon Thomasius' Schüler mochten dessen moralischen Pessimismus nicht so recht teilen, sie waren schließlich jünger als er. Mit Wolff wird dann noch einmal das ganze Pathos des Wissenschaftsglaubens oder Wissenschaftsaberglaubens des 17. Jahrhunderts lebendig. Wenn man nur die richtige, nämlich die mathematische Methode anwendet und die richtigen Grundlagen für alle Erkenntnis legt, dann wird sich die Wahrheit nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch ganz von alleine durchsetzen; Tugend und Glück werden der endlich gefundenen Wahrheit auf dem Fuße folgen. Aber schon Wolffs Anhänger teilen diesen Wissenschaftsoptimismus nur noch bedingt; sie sahen deutlicher als dieser selber,, daß die erhofften Folgen ausblieben, daß der Erkenntnisanspruch Wolffs und die Wirklichkeit immer weiter auseinanderklafften, daß sein System immer umfangreicher, aber auch immer substanzloser wurde. Als sich um die Mitte des Jahrhunderts mit der Ausbreitung der Aufklärung auch deren erste Ermüdungserscheinungen abzuzeichnen begannen, kam es zu neuen Zweifeln über die Aussichten der Aufklärung, z.B. in der Diskussion über die Möglichkeiten bzw. unaufhebbaren Grenzen der Vorurteilskritik bei Georg Friedrich Meier. Bei Friedrich II. gibt es dann bereits ein wachsendes Bewußtsein davon, daß nicht alle Menschen aufklärbar sind und daß selbst da, wo die Aufklärung erfolgreich ist, die Hydra der Finsternis immer nachwächst. Das Bedürfnis des Menschen nach Wundern und Mysterien ist unausrottbar. Auch dies führt dann bei vielen zu Bedenken gegen eine allgemeine Volksaufklärung, natürlich nicht zuletzt auch aus Furcht
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vor den unabsehbaren Folgen. So breitet sich schon lange vor dem Ende des 18. Jahrhunderts eine Art Fin-de-siecle-Stimmung aus. Während die junge Generation die Aufklärung als alt und verstaubt beiseiteschiebt, beginnen die Aufklärer selbst mehr und mehr Rückblick zu halten. Die Aufklärung wird sich selber historisch, und sie entdeckt, um dieses Modewort nicht unbenutzt zu lassen, selber eine Art Dialektik der'Aujklärung. Mendelssohn und Engel sehen den Umschlag des höchstmöglichen Fortschritts in eine neue Barbarei voraus. Leider auch damals schon keine neue Weisheit. Schließlich heißt es schon in jenem alten Buch, das zum ersten Mal ein Fiat Iux verkündete: "Quid lucidius sole? et hic deficiet" (Ecclesiasticus, Buch Jesus Sirach 17, 30).
VII. Aufklärungen über Aufklärungen. Oder: Kann man heute noch Aufklärer sein? Trotz der hier hervorgehobenen Skepsis waren die Aufklärer des 18. Jahrhunderts im Prinzip ihrer Sache noch sicher, jedenfalls aufklärungsoptimistischer als wir es heute sind. 200 Jahre Gegenaufklärung und Metaaufklärung haben uns alle (auch die Aufklärungsfreunde und Aufklärungsforscher) geprägt. Zwar kam es, wie bekannt, nach dem Zweiten Weltkrieg auf mehreren Wegen zu einer Erneuerung der Aufklärungsprogrammatik. Aber seit einigen Jahren gibt es auch wieder eine Welle radikaler Aufklärungskritik, die alles, was sich früher wie heute unter dem Banner der Aufklärung gesammelt haben mag, wieder als bloß platte Verstandesbildung abtut. Schon die Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adomo war ja sehr zweideutig in ihrer Einstellung zur bisherigen und jeder künftigen Aufklärung. Jetzt machen neue Titel Mode: Die verspielte Aufklärung; Die palavernde Aufklärung; Vom Elend der Aufklärung. Aber was immer diese Kritiken über oder vielmehr gegen die Aufklärung vorbringen: sie sind selber auf dem Boden der Aufklärung erwachsen, sie möchten de facto eine Aufklärung über die Aufklärung leisten. Und nicht selten behauptet ein solcher moderner Aufklärer malgre lui sogar wörtlich, nun endlich die wahre Aufklärung entdeckt zu haben. Wie dem auch sei, was immer eine wahre Aufklärung sein mag, zur Pflicht eines wahren Aufklärers gehört es zweifellos auch, die Argumente der sogenannten Gegenaufklärung aufzunehmen und auf ihre Berechtigung zu prüfen. In diesem Sinne nehme ich mir zum Schluß die Freiheit, mich der Gegenaufklärung anzuschließen und auch einmal die Aufklärung anzuklagen. In diesem Sinne sage ich jetzt: Aufklärung ist ein trostloses Geschäft, und zwar mindestens in vierfacher HinsiC!1t. 1. Aufklärung ist ein trostloses Geschäft, weil sie endlos ist. Aufklärung ist eine Sisyphosarbeit. Das Problem der Aufklärung beginnt immer wieder von neuem, nämlich mit jedem Menschen, der geboren wird und dessen natürliche Unwissenheit sich alsbald zum Pseudowissen verhärtet. Und weil die Aufklärung endlos ist, bleibt sie auch so gut wie ergebnislos; in Anbetracht der endlosen Zahl der Probleme schrumpfen die erreichten Lösungen fast auf Null zusammen. 2. Aufklärung ist ein trostloses Geschäft, weil sie langweilig ist. Indem die Aufklärung die bunte Vielfalt unserer individuellen und kollektiven Illusionen zerstört, macht sie gewissermaßen tabula rasa - so wie unsere Industriekultur in ihrem Gefolge die letzten Reste der menschlichen Artenvielfalt einebnet. An die Stelle
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der Götterbilder sind weltweit einige dürre Prinzipien getreten; die Wahrheit (d.h. das, was bisher noch dafür gilt) ist monoton geworden - fast schon auf Computerniveau heruntergekommen. Was seit eh und je als wesentliche Wahrheit galt, ist vielfach als bloßer Wahn aufgeklärt und damit weggeklärt - jetzt stehen wir da: aufgeklärt und was nun? 3. Aufklärung ist ein trostloses Geschäft, weil sie wesentlich negativ ist. Aufklärung ist zwar auf die Aufdeckung der Wahrheit ausgerichtet, aber als Kritik ist sie zunächst nur Aufhebung des falschen Scheins, Destruktion, nicht Affirmation. Als Negation aber ist Aufklärung bezogen auf das, was noch unaufgeklärt ist, d.h. sie lebt von der noch vorhandenen Dunkelheit; sie ist eigentlich parasitär. Die Aufklärung ist eine bloß sekundäre Reflexionskultur, die von der Substanz lebt, die sie zerstört; als Epoche war sie eine ziemlich unschöpferische Metakultur, "ein tintenklecksendes Saeculum". Aber natürlich lebt sie auch von den Illusionen, die sie sich selber immer noch wider Willen macht und die sie irgendwann auch angreifen und zerstören muß. Auch die Aufklärung schafft sich ihre Illusionen. Im historischen Abstand erkennen wir, in welchem Maße das 18. Jahrhundert von falschen Hoffnungen gelebt hat, von den verbliebenen Resten eines säkularisierten Christentums, das die Aufklärung aus sich heraus eigentlich gar nicht mehr rechtfertigen konnte. 4. Aufklärung ist ein trostloses Geschäft, weil sie hoffnunglos macht. Die Aufklärung war ausgezogen, um ein neues "Fürchtet euch nicht" zu lehren. Aber das Licht hat nicht nur die bösen, sondern auch die guten Geister verjagt - die Gespensterkammer war nur ganz oder gar nicht auszuräumen. Mit anderen Worten, das, was uns unsere Furcht nehmen sollte, hat uns auch einen guten Teil unserer Hoffnungen genommen, jedenfalls nicht nur unsere unbegründeten Ängste, sondern auch unsere falschen Hoffnungen. Und nicht selten sind sogar die Ängste geblieben, und nur die Hoffnungen geschwunden. Zumindest lassen sich die berechtigten Hoffnungen noch nicht klar ausmachen. Die neuen Wahrheiten, die die Aufklärung bisher als Tröstungen anbieten konnte, waren jedenfalls nicht viel besser als die alten, so daß die gesuchte erlösende Wahrheit je länger je mehr im Unerreichbaren zu verschwinden droht. Man mag diese und viele andere Vorwürfe gegen die Aufklärung für übertrieben halten. Richtig bleibt jedoch: Aufklärung ist kein Freudenfest. Aufklärung ist zerstörerisch. Zwar ist sie kritisch um der Wahrheit willen - in der Hoffnung auf eine bessere Wahrheit und unter der Voraussetzung noch ungeprüfter Wahrheiten. Aber dieser Reflexionsprozeß scheint, wenn man ihn nicht willkürlich oder unter Zwang abbricht, nirgendwo endgültig zur Ruhe kommen zu können. Der Aufklärer bzw. der Aufgeklärte kann immer weniger glauben, ohne dafür ein endgültiges positives Wissen zu bekommen. Fragt sich nur: was ist die Alternative? Da wir nun einmal aus dem Paradies der kindlichen Unmündigkeit vertrieben sind, wahrscheinlich durch eigene Schuld, bleibt uns schon aus Selbsterhaltungsgründen gar keine andere Wahl als die Flucht nach vorn. Zwar gibt es immer die Versuchung in eine Flucht zurück, in eine neue Unmündigkeit durch einsacrificium intellectw; aber dies führt letztlich nur zu Neurosen. Denken kann man nicht ohne Anspruch auf Denken in Frage stellen, also immer nur bestimmtes Denken, nicht Denken als solches. Philosophie kann man nur philoso-
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phisch bestreiten, also im Prinzip bejahen- es sei denn, man schlüge die Philosophen einfach tot. Daher erheben wie gesagt auch die Kritiker der Aufklärung unwillkürlich Anspruch auf eine höhere Aufklärung, nämlich durch Behauptung irgendeines höheren Wissens. Man muß sie also nicht als Feinde, sondern als verirrte Brüder betrachten, die nicht wissen, was sie reden; denn auch sie hoffen unvermeidlich auf mehr Vernunft. Kurz, Aufklärungskritik gehört selber zur Aufklärung, die immer auch Aufklärung über Aufklärung sein muß, z.B. selbstkritische Reflexion auf ihre eigenen Möglichkeiten. Aufklärungskritik hebt Aufklärung nicht auf, sondern bestätigt sie. Aufklärung ist auch Streit über Aufklärung und Kampf der Aufklärung mit ihrer eigenen Unaufgeklärtheit. Aufklärung ist immer auch Streit mit sich selber.3
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Ausführlicher zur Thematik dieses Vortrags jetzt Vf., Hoffnung auf Vemllnft. Aufklärungsphilo-
sophie in Delllscllland, Hamburg 1990.
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Abb. 1: Christian Thomasius, Introductio ad phi/osophiam aulicam (1688}, 2. Aufl. 1702
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Abb. 2: Samuel Grosser, Pharus inte/lectus sive logica electiva, 1697
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Abb. 3: Andreas Rüdiger, Philosophia synthetica, 1711
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Abb. 4: Nikolaus Hieronymus Gundling, Gundlingiana, Bd. 1, 1715 u.ö.
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Abb. 5: Christian Wolff, Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt (Deutsche Metaphysik), 1710
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Abb. 6: Christian Wolff, Vernünftige Gedanken von der Menschen Tun und Lassen (Deutsche Ethik), 1720
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Abb. 7: Christian Wolf!, Anmerkungen überdie vernünftigen Gedanken von Gott,
der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt (Anmerkungen zur Deutschen Metaphysik), 1724
W. Schneiders· Aullclärungsphilolosphien
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Abb. 8: Christian Wolff, Kleine philosophische Schriften, Bd. 4, 1739 (Repr. 1981)
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Allgemeine Perspektiven
Abb. 9: Georg Volkmar Hartmann,Anleitung zur Historie der Leibnitzisch·
Wolffischen Philosophie, 1737
W. Schneiders- Aufklärungsphilolosphien
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Ebd., S. 174 und 193 f.
""Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. v. H. Eichner, München 1975, Abtl. 1, Bd. 3, S. 15.
M. Pontius - Tendenzen der Literaturkritik in Frankreich und Deutschland
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genstände verkleinert, gescholten oder gar vernichtet werden", um daraus ein dictionnaire detractif zu machen.27 Als "Urteilsworte französischer Kritiker" ließ Goethe seine beiden Listen mit Kommentar 1817 und 1820 erscheinen, nachdem er seine Beobachtung, daß "der Tadel bei weitem das Lob überwog" und "mehr scheltende als ehrende Terminologie" vorkam, durch wiederholtes Überprüfen als objektiven Sachverhalt gesichert hatte. 28 Goethes Reaktion macht einen entscheidenden Unterschied im Wertungsverfahren französischer und deutscher Literaturkritik sichtbar: In Frankreich galt unverändert ein einheitlicher Maßstab für alle literarischen Produkte. Im Banne der klassischen Poetik blieb die französische Kritik auf Perfektionskritik fixiert. Durch den Vergleich mit den größten Mustern in einer Gattung wurden an den neuen Werken vorwiegend die Schwächen beleuchtet. Demgegenüber setzte sich in Deutschland, nachdem Lessing das Szepter der Kritik nicht mehr führte und die Stürmer und Dränger ihren Übermut abgekühlt hatten, eine Entwicklung durch, in der zwei verschiedene Maßstäbe der Kritik zur Anwendung kamen: Gegenüber großen Kunstwerken der ästhetisierende Maßstab der Konstruktion ihrer Ganzheit und inneren Vollendung, gegenüber allen übrigen Produkten, die solchen Kunstansprüchen nicht genügten, Polemik oder schweigende Verachtung. Mit dem herrischen Wort der Bibel: "Denn wer da hat, dem wird gegeben, daß er die Fülle habe; wer aber nicht hat, von dem wird auch genommen, was er hat" wird in der Literaturkritik Ernst gemacht und so der Tatsache Rechnung getragen, daß es neben authentischen Kunstwerken in zunehmendem Maße Produkte von Marktschriftstellern gibt, die einer kritisch-ästhetischen Mühewaltung nicht lohnen, sondern eher in die Zuständigkeit statistischer oder sozialer Analyse gehören. Den ästhetischen Werken wurde damit eine Würde zuerkannt, die am sichtbarsten in einem Diskurs sich niederschlägt, aus dem so unästhetische Worte wie Fehler oder Schwächen verbannt sind. Aus dieser Traditionslinie der deutschen Literaturkritik heraus, die am Jahrhundertausgang tonangebend wurde, ist Goethes betroffene Reaktion vor der Dominanz der scheltenden Terminologie der französischen Kritiker verständlich. Vor Jahren hatte ich den Versuch gemacht, diesen bei Kar! Philipp Moritz in den achtziger Jahren in reflektierter Gestalt greifbaren Sonderungsprozeß in den Zusammenhang der allgemeineren ökonomischen und politischen Entwicklung einzuordnen und für die in keinem anderen Land so früh nachweisbare Ausbildung des Autonomiegedankens den besonderen Formen der Buchvermittlung in Deutschland eine entscheidende Bedeutung zuzusprechen. 29 Auf eine Seite, die ich damals übersah, die spezifische Rolle des Übersetzungswesens in der deutschen Aufklärung nämlich, möchte ich hier abschließend noch eingehen. Zur Beurteilung der umstrittenen These, ob zwischen der Kapitalisierung der Literaturverhältnisse und der Ausbildung
rl Goethe an Knebel, 17.12.1812; zit. n. Goethe, Kunsttheoretische Schriften und Übersetzungen, Berliner Ausgabe, Berlin 1979, Bd. 18, S. 768 f. 28 Ebd., S. 175. 20 Vgl. "Produktivkraftentfaltung und Autonomie der Kunst. Zur Ablösung ständischer Voraussetzungen in der Literaturtheorie", in: G. Klotz/W. Schröder/P.Weber (Hgg.), Literatur im Epochenumbroch. Funktionen europäischer Literaturen im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, Berlin 1977, s. 409-529.
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Vergleichende Perspektiven
der Lehre von der Kunstautonomie ein Zusammenhang besteht oder nicht, wird damit weiteres Material zur Verfügung gestellt. Während das Bewußtsein der kulturellen Überlegenheit bei den französischen Übersetzern jeden Gedanken an ein verständnisvolles Eingehen auf die fremde Eigenart als Preisgabe des erreichten Niveaus und Brüskierung des Pariser Publikums verbot, mußte die deutsche Situation die umgekehrte Wertung nahelegen: Durch Übertragung und Erläuterung der besten Stücke der bedeutendsten Dramatiker der Weltliteratur sowie der wichtigsten theoretischen Abhandlungen durfte man hoffen, der deutschen Bühne aufzuhelfen. Genau dies ist das Programm der ersten deutschen Theaterzeitschrift, die Lessing und sein Vetter Mylius 1750 unter dem Titel Beiträge zur Historie und Aufnahme des Theaters veröffentlichen. Die Konzeption der Herausgeber steht mit ihrer Zielsetzung, der durch Gottsched bewirkten einseitigen Orientierung am französischen Theater durch eine universale Horizonterweiterung entgegenzuwirken, freilich in seltsamem Widerspruch. Denn alle übersetzten theoretischen Abhandlungen stammen ausschließlich von Franzosen. In Lessings Hauptbeitrag, der Übersetzung der Captivi, verbunden mit einer Kritik des Stückes sowie einer Replik, das Ganze eingeleitet durch eine Abhandlung über Leben und Werk des Plautus, findet sich jedoch das Bekenntnis: "Ich habe allezeit geglaubt, daß Plautus gewisse Fehler habe; allein diese Fehler sind von mir niemals für was anders gehalten worden, als für eine Sommersprosse auf einem sonst vollkommen schönen Gesicht."30 Der Sinn für das Besondere und das Charakteristische an einem Werk ist hier im Kern bereits vorhanden, der Schritt zu der Lesung des Helferich Peter Sturz nicht mehr groß: "Gebt mir den Künstler mit all seinen Fehlern, und vertilgt mir die Eigenart nicht."31 Im bewußten Gegensatz zu den belles injüleles der Franzosen war man in Deutschland um eine fast wissenschaftliche Haltung beim Übersetzen bemüht. "Die allerpünktlichste Treue" gegenüber dem Original32 wird erstaunlich rasch zur Devise. Wie modern die deutschen Übersetzungstheorien der Spätaufklärung tatsächlich waren, wird in vollem Umfang erst sichtbar werden, wenn eine vergleichende Untersuchung der wichtigsten europäischen Literaturen die Credos der bedeutendsten Übersetzer durch Vergleich überschaubar gemacht hat. Neben dem Königsweg der "vollkommenen Übersetzungen von beynahe allen Classikern", wie Villers 1799 bewundernd seinen Landsleuten mitteilt,33 gibt es in Deutschland aber schon sehr früh das ganz andersartige Phänomen der in Manufakturarbeit hergestellten Übersetzungen. So erschien die deutsche Erstübersetzung von Rousseaus Nouvelle Helofse in Leipzig im gleichen Jahre 1761 wie die französische Originalausgabe, und sechs Hände arbeiteten, um die erste Hälfte des Werkes in
"" Lessing, "Kritik über Die Gefangenen des Plautus~ in: Gesammelle Werke, a.a.O., Bd. 3, S. 205 • 31 H.P. Sturz, FI'Gfi"Wnt eines GespriJchs ( 1778); zit. n. Sturz, Die Reise nach dem Deister. Prosa und Briefe, hg. v. K.W. Bedter, Berlin 1975, S. 271. 32 So Wilhelm Christhelf Siglnund Mylius in der "Vorrede" zur zweiten Ausgabe von Voltaires KJmdide, Berlin 1782; zit. n. H. Knufmann, "Das deutsche Übersetzungswesen des 18. Jahrhunderts im Spiegel von Übersetzer- und Herausgebervorreden", in: An:hiv für Geschichte des Buchwesens, Bd. 9 (1959), Sp. 521. » C. de Villers, Der gegenwilltige Zustand der deutschen Literatur, a.a.O., S. 395.
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8 Wochen rechtzeitig für die Ostermesse fertigzustellen. 34 Der ungezügelte Konkurrenzkampf zwischen den Verlegern hatte dazu geführt, daß Großverleger Agenten in Paris oder London unterhielten, die es ihnen bei wichtigen Werken ermöglichten, sich durch Eintragung in die Leipziger Bücherrolle das Übersetzungsrecht zu sichern bzw. gleich an Ort und Stelle die Bogen von der Presse weg übersetzen zu lassen, was im Falle des ökonomischen Hauptwerks von Adam Smith geschah.35 Unter diesen Umständen konnte Mendelssohn in den Literaturbriefen Nr. 166 bis 170 im Juni 1761 die Originalausgabe des Rousseauschen Romans besprechen und im Folgebrief bereits die "unverzeihlichen Fehler" der deutschen Übersetzer anprangern. 36 Einer der beteiligten Übersetzer, mit Namen Johann Gottfried Gellius, hat diese Mendelssohnsche Kritik genutzt, um in einem ganzen Buch mit dem Titel Anmerkungen zum Gebrauche deutscher Kunstrichter die Sache der Übersetzer gegen die "utopischen" Forderungen der Autoren der Literaturbriefe zu verteidigen. Die wichtigsten Argumente von Gellius lassen sich in 3 Punkten zusammenfassen: 1. Die Berliner Kritiker tragen den ökonomischen Bedingungen, unter denen die Arbeit der Übersetzer geschieht, keine Rechnung. Dem Verleger, der "einen zu erlangenden Vortheil" sehe und der wisse, daß er Konkurrenten dabei habe, bleibe "kein anderes Mittel als die Geschwindigkeit".37 Aus dem Gebot des Verlegers nach Eile und dem Postulat der Kritiker nach vollkommener Arbeit resultiere ein Antagonismus, für dessen Überwindung der praktisch denkende Gellius vorschlägt, die Kritik solle eine Übersetzung beim ersten Erscheinen nur historisch anzeigen und erst die zweite Auflage einer kritischen Analyse unterziehen.38 Wichtig, auch für weitere Forschungen zur Geschichte der deutschen Übersetzung, ist der Hinweis, "gerade die schönsten ausländischen Werke, die das Aufsehen machen, sind diesem Schicksal am ersten unterworfen".39 Und wichtig auch der einschränkende, auf Verleger und Übersetzer bezogene Zusatz: "Ich läugne damit nicht, daß es Ausnahmen von der Regel giebt; aber es sind auch bloß Ausnahmen.'o40 Gellius leugnet also nicht die schlechte Qualität der deutschen Übersetzung im allgemeinen: Die "Schönheiten der ausländischen Schriftsteller würden täglich zu Hekatomben aufgeopfert".41 Aber die Arbeitsbedingungen und nicht die Übersetzer sind dafür verantwortlich.
J.G. Gellius,Anmerlcungm zum Gebrauche deutscher Kunstrichter, a.a.O., 1762, S. 138 f. H. Rosenstrauch, Buchhandelsmanufaktur und Aufklärung. Die Refonnen des Buchhiindlers und Verlegers Ph. E. Reich (1717-171f7), Frankfurt 1986, S. 71. 36 Briefe, die Neueste Lineratur betreffend, Thei/10, Berlin 1761, S. 297 ff. -Das Rätsel, daß die deutsche Übersetzung bereits im Hambwgischen Correspondenten gleichzeitig ungemein gelobt und getadelt worden war, erklärt Mendelssohn mit der Arbeitsteilung: "Die Ungleichheit der Uebersetzung zeiget gar deutlich, daß verschiedene ganz ungleiche Hände daran gearbeitet haben. Daher sind manche Briefe gut, manche erträglich übersetzt, und in manchen zeigt sich die elendste Unwissenheit von der Welt."- Zu den "erträglich" übersetzten Briefen zählt er Nr. 5 und 6, zu den schlecht übersetzten offenbar Nr. 4. (Vgl. S. 298 f.). -n J.G. Gellius, a.a.O.,S. 7 . .. Ebd., s. 4 f. 34
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Ebd., S. 7. Ebd. 41 Ebd., S. 53. 30
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Vergleichende Perspektiven
2. Die Berliner Kritiker urteilen "nach einem metaphysischen Maßstab des Vollkommenen",4z ohne auf die verschiedenen Bedürfnisse in der Gesellschaft Rücksicht zu nehmen. Nach den Erfahrungen des Gellius sind die I...eser und der Verleger "mit einer Schönheit im ganzen zufrieden; das Werk soll sich leicht lesen lassen, es soll eine Reihe angenehmer Begriffe und Empfindungen erregen, die Fehler dürfen nicht zu anstößig, zu häufig, oder zu enge zusammengedrängt seyn. So viel ist zur Befriedigung der I...eser genug. Was thut aber der Kunstrichter? Er verlangt eine Schönheit ohne Ausnahme; er verzeiht keine falschen Begriffe, er will iedes kleine Wort ausgedrückt wissen, die mindeste Unrichtigkeit ist in seinen Augen ein Verbrechen, darüber er schreyt und schimpft.'o43 Was Gellius hier in schlichten Sätzen vorbringt, hat der Begründer der Rezeptionsästhetik mit der These aufgenommen, kein Text sei je geschrieben worden, um philologisch von Philologen oder historisch von Historikern gelesen zu werden. Nur wird Hans Robert Jauß sicher unbekannt sein, daß er im Kreis der von I...essing und Mendelssohn "gezüchtigten Übersetzer•o44 und "elenden Scribenten" einen geistigen Ahnherrn hat. Gellius nennt den Kritiker einen "Krüpel am Geschmacke", und er hat eine plausible Begründung: "Ein Fehler rührt ihn stärker, als tausend Schönheiten.'o45 Die Einbildung der Kritiker, "ieder Autor schreibe nur für sie", sie, die nicht lesen, um sich zu unterrichten, sondern Spürhunden gleich, um Fehler aufzusuchen, weist Gellius als Unverschämtheit zurück: "Ich wenigstens habe niemals für Kunstrichter, ich habe für Leser geschrieben, und bey diesen die Billigkeit gefunden, die jenen fremd war.'146 Man muß hinzufügen, daß Gellius diese "Billigkeit" bis heute findet. Die Übersetzung von 1761 erschien als Neudruck nicht nur 1920 im Pantheon-Verlag Berlin, sondern 1980 auch bei Kiepenheuer in I...eipzig. Und wenn Kästner im 18. Jahrhundert reimte: "Das Schicksal Abälards hat auch Saint Preux erlitten; Der ihn uns Deutschen gab, wie hat er ihn verschnitten!", so sind die Ausgaben des 20. Jahrhunderts Verschnitt in Potenz, weil sie nur noch ein Drittel der verrufenen Übersetzung bringen.47 3. Die Berliner Kritiker machen bei ihrem kritischen Geschäft keinen Unterschied "zwischen Werken des Witzes und der Gelehrsamkeit", zwischen Wissenschaft und Belletristik. "Einen fehlerhaften Perioden in einem Roman tadeln sie eben so strenge, als ein verfälschtes Theorem, oder ein unrichtiges Glied in einer Kette von Demonstrationen." Ironisch fragt der I...eipziger Übersetzer, ob es den Fortschritt der Wissenschaften beeinträchtige, wenn ein Roman unübersetzt bliebe
42
Ebd., S. 4. Ebd., S. 3 f. 44 So Herder 1767 über die Literatu~riefe, in: Herder, Sämtliche Werke, hg. v. B. Suphan, Neudruck, Hildesheim 1957, Bd. 1, S. 250. 45 F.G. Gellius, a.a.O., S. 31. 46 Ebd., s. 32. "'A.G. Kästner, Gesammelte poetische und prosaische Schönwissenschaftliche Werke, Theil 4, Berlin 1841, S. 22, Nr. 61: "Auf die deutsche Uebersetzung der neuen Heloise." -Auf der Rückseite des Titelblattes der Ausgabe des Pantheon-Verlages heißt es: "Neudruck unter teilweiser Benutzung der deutschen Ausgabe von 1751", von der im Nachwort gerühmt wird, hinter ihr stünden "die späteren Übertragungen bei weitem zurück". (Bd. 2, S. 249). Die Kiepenheuer-Ausgabe gibt den Hinweis: "Die Zusammenfassung des Werkes nach einer revidierten zeitgenössischen Übertragung( ...)." 43
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bzw. wenn er übersetzt wäre, "und zwanzig Stellen oder noch mehr waren darinne nicht getroffen, wäre das nicht ein schreckliches Unheil für die Christenheit?".48 Es ist hier nicht der Ort, der Wirkungsgeschichte dieser Apologie der Übersetzer im einzelnen nachzugehen, die Mendelssohn in den Literaturbriefen 220 und 221 als "lustige Erscheinung" präsentierte, Kästner mit entsprechenden Epigrammen bedachte und auch Herder in den Fragmenten Ober die neuere deutsche Literatur erwähnt hat. Man darf vermuten, daß Mendelssohn, der in seiner Rezension sich auf eine ernsthafte Auseinandersetzung nicht einließ, die Gegründetheil bestimmter Argumente des Gellius nicht entgangen sind. In der neu erscheinenden Ausgabe seiner Werke sollten sich weitere Aufschlüsse finden lassen, und die Widmung der wichtigen Moritzschen Abhandlung von 1785 an Mendelssohn dürfte kein Zufall sein.49 Soviel ist sicher: Das Lessingsche Konzept der Literaturbriefe, die Entwicklung der Gesamtheit der deutschen Literatur von ihren Gipfeln bis in ihre Niederungen in einem Journal zu verfolgen, die zahlreichen "Züchtigungen der Uebersezzer" und die "Urtheile über die vornehmsten Deutschen Schriftsteller" wie Wieland und Klopstock miteinander zu verbinden, stieß früh auf Kritik. Herder faßte 1767 in den Fragmenten Ober die neuere deutsche Literatur seine Betrachtungen der Literaturbriefe in dem Urteil zusammen: "Ueberhaupt schlechten Schmierern [... ] ihre Fehler weitläufig sagen ist ihnen unnütz, und Lesern verdrießlich: man lege den heiligen Fluch der Muse auf sie."50 Die Einsicht in "die Doppelexistenz des Buches als Ware und als Geist" ist nach alledem nicht erst in den späten Krisenjahren der deutschen Aufklärung errungen worden.51 Als ein zu übersetzendes trägt das geistvollste Buch, damals wie heute, einen Warencharakter, der sich am greifbarsten in den "häufigen Fehlern auf den letzten Seiten"52 bekundet. Diese Beobachtung von Gellius dürfte auch heutigen Lektoren in Verlagen, die fremdsprachliche Literatur betreuen, nicht fremd sein. "Nur der Anfang muß gut seyn", ist gewiß nicht ein bewußt gehandhabter Vorsatz, wohl aber ein Motto, das man noch manchem Übersetzungsresultat mit auf dem Weg geben kann, obwohl sich die Bedingungen, was die Rechtssicherheit von Übersetzern und Verlegern angeht, doch grundlegend verbessert haben. Ein entwickeltes Übersetzungswesen mit garantiertem Stücklohn bei festem Zeitplan hat zum ersten Male die Lohnarbeit in die Gelehrtenrepublik gebracht. In Deutschland waren die Gelehrten-Manufakturen um 1760 offenbar schon so fest etabliert, daß Gellius dem Kritiker, der sich einbilde, den Verlegern Gesetze vorschreiben zu können, als Träumer "eine[r] utopische[n] Republik"53 betrachtet.
F.G. Gellius, Anm., a.a.O., S. 16. .. Vgl. J.-P. Meier, L'estMtique de Moses Mendelssohn (1729-1786), Lilie, Paris 1CJn, Bd. 1, S. 262: "Une chose est sOre, en tout cas: c'est seulement Ii partir du moment ou il rencontre Mendelssohn que Moritz s'int~ressa Ii l'esth~tique et Ii Ia psychologie." ~ Herder, "Ueber dieneuere Deutsche Litteratur. Zwote Sammlung von Fragmenten (1767)", in: Herder, Sämtliche Wem, a.a.O., Bd. 1, S. 250 und 253. 51 J. Schulte-Sasse, "Das Konzept bürgerlich-literarischer Öffentlichkeit und die historischen Gründe seines Verfalls", in:Auf1clil1ungund literarische Öffentlichkeit, a.a.O., S. 99. 52 F.G. Gellius, a.a.O., S. 174. 48
"Ebd.,S. 7.
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Vergleichende Perspektiven
Unter dem Stichwort "Übersetzungsmanufakturen" bemerkt Nicolais 1773 im Sebaldus Nothanker. "Ich versichere Sie, daß wenigstens der dritte Teil der deutschen Bücher auf diese Art fabriziert wird. Denn ich sage nicht zuviel, wenn ich behaupte, daß beinahe die Hälfte der neuen deutschen Bücher Übersetzungen sind, und ich sage gewiß zu wenig, wenn ich nur zwei Drittel der Übersetzungen als Fabrikenarbeit ansehe."54 Wenn dem so war und das auch von der neueren sozialgeschichtlichen Forschung vernachlässigte Übersetzungswesen, wie Garve beobachtete, "das Schriftstellermetier" als solches aufbrachte55 und die Herausbildung des freien Schriftstellers als Berufsform ermöglichte, dann wird die frühe und rigorose Abgrenzung einer Kunstsphäre von der Massenproduktion in Deutschland verständlicher. Nimmt man die beiden behandelten Tendenzen zusammen, die Ausbildung der deutschen Übersetzungsmanufakturen auf der einen Seite und die Ausbildung der epochemachenden Übersetzungen und der affirmativen Kunstkritik auf der anderen, so zeichnet sich der Weg zur Spaltung zwischen Höhenkammliteratur und Massenliteratur, zwischen Kunstsektor und Unterhaltungssektor deutlich ab. Die Arbeitsteilung brauchte nur auf die Romanproduktion übertragen zu werden, und die Probleme der Kulturindustrie, mit denen wir zu schaffen haben, beginnen.
54
Zit. n. E. Rietzschel (Hg.), Gelehrsamkeit ein Handwerk? Bücherschreiben ein Gewerbe? Dokumente zum VerluJJtnis von Schriftsteller und Verleger im 1& Jahrllundett in Deutschland, Leipzig 1982, s. 29. "Garve an Schiller, 17.10.1794, in: Schiller, Werke, Nationalausgabe, Weimar 1964, Bd. 35, S. 73.
Marcin Cieilski (Wroclaw)
Aufklärung in Deutschland und Polen. Versuch eines Vergleichs
Es ist immer wieder mit durchaus beachtlichen Ergebnissen versucht worden, ein Modell der europäischen Aufklärung zu rekonstruieren. Solche Versuche, aus der Vielfalt der Erscheinungen über die Grenzen der Nationen und Disziplinen hinweg Aufklärung zu definieren, müssen freilich vorläufig bleiben. Zwei Typen der Definition sind dabei zu unterscheiden: eine optimistische und eine resignative. Die erste geht von der Existenz eines Komplexes von Eigenschaften aus, welche die Aufklärung von anderen Epochen unterscheiden und sich relativ genau beschreiben lassen. Die resignative Definition beschreibt die Aufklärung schlicht als einen Zeitabschnitt, gekennzeichnet durch die Aktivitäten der darin lebenden Menschen. Wir schlagen als Lösungsansatz vor, die Aufklärung als eine Matrix von Möglichkeiten zu betrachten, die alle in der Epoche real aufgetretenen und sich oft gegenseitig ausschließenden Phänomene beinhaltet. In Abhängigkeit von Tradition und Entwicklungsstand der einzelnen Staaten und Nationen wurden daraus die verschiedensten Impulse, Ideen und Muster oder Vorbilder entnommen und ihnen eine jeweils eigene Bedeutung zugeordnet. In dieser Perspektive wäre die europäische Aufklärung ein Prozeß der Erkenntnistindung über die selbst gestellte Aufgabe. Dies bezeugen die zahlreichen, im 18. Jahrhundert entstandenen Schriften, die sich mit dem Problem der Selbsterkenntnis der Epoche beschäftigten und sich auf die Kantsche Frage: Was ist Aufklärung? konzentrieren. Im Rahmen der Matrix der europäischen Aufklärung erscheinen differenzierte nationale Modelle, die diesem abstrakten europäischen Konstrukt mehr oder weniger stark angenähert sind. Die Andersartigkeit in einem Bereich schließt die Ähnlichkeit in einem anderen nicht · aus. Gleichartige Erscheinungen in verschiedenen Ländern konnten als Ergebnis völlig unterschiedlicher Prozesse entstehen; sie sind also analoger, nicht homologer Art. Es soll hier versucht werden, zwei nationale Ausprägungen der Aufklärung - die deutsche und die polnische - miteinander zu vergleichen, wobei als tertium comparationis die europäische Aufklärung dient, auch wenn nicht jedesmal auf sie Bezug genommen wird. Der Beginn der deutschen Aufklärung ist in den achtziger Jahren des 17. Jahrhunderts anzusetzen und wird von den Werken Leibniz', Thomasius' und Weises geprägt. Trotz politischer Wandlungen, Kriege und eines relativ langsamen wirtschaftlichen Aufschwungs gab es in Deutschland eine Kontinuität der Wandlungsmöglichkeiten; die konservativen kulturellen Tendenzen waren nicht so stark entwickelt, daß die Einflüsse aus England, den Niederlanden und Frankreich nicht ein breites Feld für ihre Wirkung finden konnten. Anders sieht die Situation in Polen aus, wo die konservative politische und kulturelle Realität bis in die dreißiger Jahre des 18. Jahrhunderts von keinem neuen Impuls belebt worden ist. Obwohl schon am Ende des 17. Jahrhunderts die Kritik an
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Vergleichende Perspektiven
der sarmatischen Gesellschaft eingesetzt hatte, kann man nicht von einer Kontinuität dieser Kritik sprechen. Eine entscheidende Rolle spielte dabei ein Bruch in den Formen gesellschaftlicher Kommunikation, der mit der handschriftlichen Zirkulation der literarischen Werke und mit dem partikulären Charakter der sarmatischen Kultur zusammenhing.1 Die ersten, noch zaghaften Versuche, die Aufmerksamkeit auf die Unzulänglichkeiten des Staates zu lenken und der Gesellschaft neue Muster anzubieten, bezeichneten im Grunde genommen den Anfang eines Nachholprozesses. 2 Die Allfangsphase der Aufklärung in Polen kann man auf die Zeit von der Mitte der dreißiger bis in die Mitte der sechziger Jahre des 18. Jahrhunderts datieren, in der diese neue Kulturformation mit der alten, sarmatischen ohne antagonistische Widersprüche koexistierte. 3 Während ein Großteil des Adels mit dem Leben unter der Regierung der sächsischen Könige zufrieden war, was praktisch den vollständigen Zerfall der Staatsmechanismen bedeutete, griffen die Brüder Zaluski, Stanislaw K.onarski und der zweimal vom Thron gestoßene, unglückliche Königs Stanislaw LeszczyDski die Ideen der Aufklärung auf. Die eigentliche Aufklärungsepoche begann in Polen in der zweiten Hälfte der 60er Jahre und wird die Stanislawische Periode genannt, nach dem Vornamen des 1764 gewählten König Stanislaw August Poniatowski. In einer außerordentlich schwierigen Situation Polens entschied er sich für aufklärerische Reformen sowohl in der politischen Sphäre als auch in allen anderen gesellschaftlichen und kulturellen Bereichen. Die elitären Gruppen der Reformanhänger mußten sich einem Kampf an zwei Fronten stellen, einerseits gegen die ausländischen Bestrebungen, in Polen einen für die Nachbarstaaten günstigen status quo aufrechtzuerhalten, und andererseits gegen den konservativen Teil der adeligen Gesellschaft im eigenen Land. Diese Reformpolitik barg seit der Konföderation der Adeligen im Jahr 1768, deren Konsequenz 1773 die erste Teilung Polens war, die Gefahr eines Verlustes der staatlichen Unabhängigkeit. Der Erfolg der aufgeklärten Reformatoren, die Verfassung vom 3. Mai 1791, wurde nur wenig später durch die nächsten Teilungen und 1795 durch die Auflösung des Reiches zunichte gemacht. Ich zitiere Emanuel Rostworowski: "Man kann sagen, daß das Werk innerer Verbesserung die Gefährdung von außen vergrößerte. Es bestand ein dramatischer Rhythmus und eine Verbindung zwischen den patriotischen Reformbestrebungen und den Repressalien der Teilungen.'14 Die deutsche Aufklärung umfaßt eine größere Zeitspanne als die polnische. Es fällt schwer, den genauen Zeitpunkt für den Wandel von der Frühphase zur voll entfalteten Aufklärung zu bestimmen, doch mit einiger Berechtigung kann man ihn im zweiten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts situieren, in den Jahren also, in denen Wolff J. Maciejewski, "Sarmatyzm jako formacja kulturowa", in: Teksty 4 (1974), S. 32-33, S. 41-42. Vgl. E. Rostworowski, "Polens SteUung in Europa im Zeitalter der Aufklärung", in: R. Riemenschneider (Hg.), Polen und Deutschland im Zeitalter der Aufklärung, Braunschweig 1981, S.ll-12, hier s. 12-14. 3 Vgl. J. Maciejewski, "Otwiecenie polskie. POCZftek formacji. jej stratyfikacja i pnebieg procesu historycznoliteraekiego", in: Z. Golinski (Hg.), Problemy literatury polskiej okresu Ojwiecenia, Wanzawa, Wroclaw 1m, Serie 2, S. 5-128, hier S. 60-66. • E. Rostworowski, "Polens Stellung in Europa im Zeitalter der Aufklärung", a.a.O., S. 20. 1
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M. Qcdski • Aufklärung in Deutschland und Polen
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seine Vernünftigen Gedanken zu veröffentlichen begann.5 Das Ende der Aufklärung in Deutschland wird von der Französischen Revolution bestimmt, die den besonders in den siebziger und achtziger Jahren ausgeprägten Prozeß der Politisierung der Aufklärung wirkungsvoll beendete.6 Die Bedeutsamkeit des Jahres 1789 zeigt sich auch daran, daß es ein Datum der europäischen Geschichte ist; hier zeigt die deutsche Aufklärung eine stärker universelle Dimension als die polnische. In Polen dagegen kann man das Fortwirken der Aufklärungsideen, insbesondere im Schulwesen und in der Literaturästhetik, bis zum Beginn der zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts beobachten. Es war jedoch ein Strategiewandel nötig: statt den Staat zu bewahren, galt es nun, nach seinem Wiederaufbau zu streben und gleichzeitig die Nation zu schützen. 7 Die Abkehr von diesem Modell, einem Erbe des 18. Jahrhunderts, erfolgt erst mit dem Umbruch zur Romantik. Das einzige gemeinsame Moment in der Chronologie bildet das Ende der Blütezeit der Aufklärung zu Anfang des letzten Jahrzehnts des 18. Jahrhunderts. Die Ursachen dieses Ausklangs waren allerdings verschieden, obwohl sie in beiden Fällen politischen Charakter besaßen. Das Schema der Entwicklungsphasen der deutschen und polnischen Aufklärung ist im Grunde genommen ähnlich, jedoch sind die Dauer der Phasen, die Ursachen der Veränderungen und die konkreten Ereignisse unterschiedlich. Gerade die Differenzen in der Politik, im Machtsystem und in der Organisation des Staates sind für die Verschiedenheit der Aufklärung in Deutschland und Polen von entscheidender Bedeutung. Die Konsequenzen dieser Grundverschiedenheit kamen sowohl im gesellschaftlichen Leben zum Tragen als auch im Charakter der Institutionen und in den intellektuellen und ästhetischen Gegebenheiten. Die Literatur spiegelte diese Probleme wider, artikulierte sie in einer je eigenen Form und benutzte dabei verschiedene Modelle der literarischen Sprache, was besonders in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sehr deutlich wird. "Die regionale Vielgestaltigkeit der Staatenwelt des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation•tS stellt einen Faktor dar, der einerseits eine Vielfalt von Regierungsfarmen ermöglichte, andererseits in erheblichem Maße gemeinsame Aktivitäten blockierte. Eine dominierende Rolle im Wandlungsprozeß "von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft"9 spielten die Tendenzen, die mit verschiedenen Varianten des Absolutismus- vom höfischen Absolutismus des 17. Jahrhunderts bis zum aufgeklärten Absolutismus und Josephinismus- verbunden waren. In Bezug auf die Regierungsform war das polnische Staatsmodell völlig verschieden: Polen präsentierte sich als eine zentralisierte Monarchie mit deutlichen republikanischen Zügen, die in der politischen Praxis die Macht des Königs stark be 5 Anders sehen dieses Problem z.B. N. Merker, Die Aufklärung in Deutschland, München 1982, S. 1112 und T.P. Saine, "Was ist Aufklärung?", in: F. Kopitzsch (Hg.),Aujkliinuag. Absolutismus und Bürgertum in Deutschland, München 1976, S. 319-324. 6 Als eine andere Möglichkeit gilt auch das Datum 1806. 7 Vgl. R. Przybylski, Klasycyzm, czyli prawdziwy koniec KrO/estwa Polskiego, Warszawa 1983. 8 H. Möller, Vernunft und Kritik. Deutsche Aufklärung im 17. und 18. Jahmundert, Frankfurt a.M. 1986, S.19. 9 Vgl. Z. Batscha/J. Garher (Hgg.), Von du ständischen mr bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1981, s. 9-34.
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Vergleichende Perspektiven
grenzten. Die Ausbildung dieses Systems war eine Konsequenz der traditionellen Adelsdemokratie, dank derer der polnische Adel (die Szlachta), dessen Anteil an der 10 Millionen zählenden Einwohnerzahl Polens auf 8% geschätzt wird, eine Fülle politischer und bürgerlicher Freiheiten für sich gesichert hatte. Wirkliche politische Macht besaß jedoch nur das Magnatenturn (der Hochadel). Diese Schicht bestand aus etwa 200 Familien, die miteinander liiert waren und riesige Landgüter besaßen. Die Magnaten übten in ihren Territorien eine praktisch unbegrenzte und unkontrollierte Herrschaft aus; bei ihnen standen viele Angehörige des niederen Adels im Dienst, die eine Art Armee bildeten. Das Polen des 18. Jahrhunderts kann man also als ein Konglomerat magnatischer Fürstentümer bezeichnen, die oft von Despoten regiert wurden und mit eigenen Höfen und Städten, prächtigen Palästen und sogar Theatern ausgestattet waren. Die Analogie zu der Situation in Deutschland ist evident: In beiden Fällen haben wir es mit einem eigenartigen polyzentrischen Staatsmodell zu tun, diese Ähnlichkeit istjedoch äußerlicher Natur. Präzise formuliert es Emanuel Rostworowski: "Im Gegensatz zu dem feudalen Partikularismus des Deutschen Reiches wirkte die polnische Oligarchie im Rahmen der formal-egalitären Demokratie und der das ganze Land umfassenden Institutionen [... ]."10 Eine Folge des zunehmenden Einflusses des Magnatenturns in Polen war die Schwächung staatlicher Institutionen: wie des Sejm, der Sejmikf (Landtage), der Gerichtshöfe, der Armee und der staatlichen Finanzverwaltung. Unter diesen Bedingungen und bei der ständigen Pression der Nachbarstaaten war es sehr schwierig, Reformen durchzuführen, die das politische Zentrum hätten stärken können, obwohl einige Historiker die Meinung äußern, "daß man der Reformunfähigkeit des Heiligen Römischen Reichs die Reformfähigkeit der Republik Polen gegenüberstellen müsse, wenngleich bei Polen gewisse Zweifel laut wurden, was den historischen Nachweis des Reformerfolgs betrifft". 11 Hinzu kamen die traditionellen Befürchtungen der Szlachta gegenüber dem königlichen Absolutismus, den sie als Bedrohung der Freiheiten des Adels verstanden. Im Gegensatz zu Deutschland, wo es um allgemeine bürgerlichen Freiheiten ging, erfolgt in Polen der Widerstand gegen den Absolutismus aus einer konservativen und partikularen Denkart des Adels heraus. Obwohl sich der Weg zum Absolutismus in Polen aus den oben genannten Gründen als nicht gangbar erwies, wäre er doch die einzige Lösungsmöglichkeit gewesen. Die Staaten, die die Teilungen Polens vollzogen, gehörten zu den hervorragendsten Vertretern des aufgeklärten Absolutismus, wenn er dort auch bisweilen Züge von Tyrannei trug. Inmitten dieser Nachbarn gab es keine Überlebenschancen für einen Staat mit einer veralteten Struktur, der von innen heraus zerstört wurde von jener Klasse, die als einzige zu vorbeugenden Maßnahmen fähig gewesen wäre. Ebenso unvermeidlich war der Fall des Deutschen Reiches. Er hatte jedoch keine so tragische Konsequenzen, weil es in Deutschland mit Preußen eine dynamische politische 10
E. Rostworowski, "Czuy aukie i Oiwiecenie", in: J. Tazbir (Hg.), Zmys historii Pols/ci, Warszawa
1980, s. 295.
K. Zernack, "Ancien Regime und modernes Zeitalter in Mitteleuropa•, in: Polen und Deutschland im Zeitalter der Aufklärung, a.a.O., S. 127. 11
M. Ocilski • Aufklärung in Deutschland und Polen
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Kraft gab, die nach der Vereinigung der deutschen Staaten strebte. Es existierten dort gute Voraussetzungen zur Wandlung des wirtschaftlichen Systems und zur Bewahrung der Kontinuität des geschichtlichen Prozesses. Die Klassenfrage im Rahmen der Aufklärung erschien in der Forschung der Vergangenheit z.T. als das wichtigste das 18. Jahrhundert betreffende Problem. Heute gelten eindimensionale Thesen wie die von der Aufklärung als bürgerlicher Bewegung als überholt. Das polnische Beispiel stellt sich solchen Verallgemeinerungen besonders entschieden entgegenP Der Historiker Jerzy Kowecki stellt fest, daß im Polen des 18. Jahrhunderts "das Bürgertum keine Kräfte und Mittel zur Verfügung hatte, die nötig gewesen wären, nach den Privilegien der herrschenden Schicht zu greifen, und es nicht einmal Verlangen danach hatte."13 Dies bedeutet natürlich nicht, daß es im Bürgertum keine Anhänger der Aufklärungsideen gab (ganz im Gegenteil), aber für sie bestand die Hauptaufgabe in der Stärkung der bürgerlichen Position im aktuellen Staatssystem und nicht in dessen Veränderung. Die eigentlichen Träger der polnischen Aufklärung waren also die Vertreter des Adels und der Magnaten; eben diese Schicht stellte die Elite der Reformer; die Verabschiedung der Verfassung des 3. Mai wurde als "sanfte adelige Revolution" bezeichnet. Die Unhaltbarkeit der These einer Klassenbedingheit der polnischen Aufklärung wird noch dadurch verstärkt, daß die Reformgegner aus denselben adeligen und magnatischen Kreisen kamen. Die Situation in Deutschland war einfacher. Die Aristokratie und der Hofadel stellten sich entschieden gegen die Aufklärung. Eine große Rolle im Prozeß der Entstehung der deutschen Aufklärung spielte die bürgerliche Intelligenz, deren Entfaltung in der damaligen deutschen Gesellschaft behindert wurde. Es muß dabei vor allem auf die innere Differenzierung des Bürgertums und die Verschiedenheit seiner Situation in den vereinzelten deutschen Staaten hingewiesen werden. Als eine Konsequenz dieser Unterschiede in der gesellschaftlichen Funktion des Bürgertums und auch in den gesellschaftlichen Grundlagen der Aufklärung erscheinen die Differenzen im Wertesystem. In der polnischen Aufklärung standen- wie das die Publizistik exakt widerspiegelt - die Probleme der staatlichen Unabhängigkeit, die Verbesserung der Lage der Bauern und Bürger sowie das Bildungssystem im Vordergrund. 14 Es war also ein Programm, das auf allgemeine gesellschaftliche Werte ausgerichtet war und keine Möglichkeit einer individuellen Selbstreflexion eröffnete, obwohl es sehr stark moralistisch geprägt war. In der deutschen Aufklärung spielte die Selbstvervollkommnung des Individuums eine zentrale Rolle, die Suche nach einer individuellen Dimension in Begriffen, die zum bürgerlichen Wertesystem gehörten, wie "Bildung, Vernunft, Humanität, Toleranz, Tugend, aber auch unternehmenscher Wagemut, Leistungsdenken, Fleiß".U Das wachsende Gefühl der Un 12 Vgl. T. Namowicz, "Deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts in Polen. Haupttendenzen der Rezeption und ihre soziologische Aspekte", in: T. Höhle/D. Sommer (Hgg.), Probleme der LiteralUrsoziologie und der literarischen Wirlcung, Halle/Saale 1978, S. 31-36. 13 J. Kowecki, "U poczftk6w nowoczemcgo urodu", in: B. Lesnodorslti (Hg.), PolaJ:a w epoce Oiwiecenia, Warszawa 1971, S.128. 14 Vgl. z. Golinski (Hg.), Abyimy o ojczyinie naazej radzili. Antologia publicystyki doby stanislawowskiej, Warszawa 1984. "H. Kiesei/P. Münch, Gesellschaft und Literatur im 18. Jahrhundert, München 1977, S. 54.
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Vergleichende Perspektiven
zulänglichkeit dieser Ideale führte zur Politisierung der Aufklärung, die in der Reaktion auf die Französische Revolution und im Bewußtseinswandel um 1800 kulminierte. Was die Rolle der Religion und die Probleme der Religiosität angeht, so überwiegen die Differenzen zwischen Deutschland und Polen gegenüber den Ähnlichkeiten. Für die geistige und intellektuelle Situation Deutschlands im 18. Jahrhundert gilt die konfessionelle Spaltung als eine der wichtigsten Determinanten. 16 Die Unterschiede zwischen Protestantismus und Katholizismus in der Theologie, den politischen und moralischen Anschauungen, den Auseinandersetzungen mit Religionskritik, Deismus und Atheismus bereicherten das intellektuelle Leben und erweiterten den Horizont des Denkens. Einen spezifischen Einfluß auf die deutsche Religiosität übte der Pietismus mit seinem Versuch einer moralischen Vertiefung der individuellen Existenz aus. Im Rahmen der Aufklärung lassen sich sowohl religiöse Haltungen als auch säkularisierte Moral fassen. Die Tendenzen zur Säkularisierung sind in Verbindung zu sehen mit der Einwirkung des bürgerlichen Wertesystems und dem absolutistischen Streben nach Dominanz der staatlichen Institutionen über die kirchlichen. In Polen war die Situation bekanntlich ganz anders: "Die einzige öffentliche Institution, die zur Zeit der Anarchie leistungsfähig und gewandt funktionierte, war die Kirche."17 Ihre Rolle im 18. Jahrhundert ist jedoch von vielen Paradoxien geprägt. Einerseits war sie eine Quelle typisch konservativer Haltungen, ein Medium für das devot-fanatische Modell einer oberflächlichen Religiosität; andererseits bestand eine enge Verbindung zu den Vertretern der intellektuellen Eliten aller Generationen der polnischen Aufklärung: von Konarski und den Brüdern Zaluski über die Bischöfe, die gleichzeitig große Dichter waren (Krasicki und Naruszewicz) bis zu den Radikalen der Verfassungszeit (Staszic und IC.ollataj). Die Kirche wurde auf breiter Front kritisiert, wobei die Kritik sehr verschieden (sittlich- moralisch, weltanschaulich und auch libertinistisch) motiviert sein konnte. 18 Im Vordergrund standen keine theologischen Probleme - obwohl die Diskussion über den Deismus schon in den sechziger Jahren begann19 -, sondern moralische Fragen. Statt von einer katholischen Aufklärung zu sprechen, scheint es im Falle Polens sinnvoller, von einer Aufklärung in einem katholischen Land zu reden. Das zeigt sich deutlich, wenn wir die polnische Aufklärung mit der deutschen vergleichen. Die ausgeprägte Religions- und Kirchenkritik ist ein beiden Bewegungen gemeinsames Element. Unterschiede bestehen jedoch in der Art dieser Kritik, in den Aktivitäten der religiösen Institutionen und endlich in den Einflüssen der Religiosität auf Denk- und Wirkungsart der Öffentlichkeit und einzelner Individuen. Den nächsten Problembereich wollen wir hier nur kurz signalisieren, es geht nämlich um die Sphäre der institutionellen Formen des gesellschaftlichen Lebens, durch deren Vermittlung konkretisieren sich die oben dargestellten Determinanten der Aufklärung. Hier gehören die Institutionen der Buchproduktion, -Verbreitung und -Rezeption (Zensur, Verlage, Druckereien, Buchhandlungen, Bibliotheken, H. MöUer, Vernunft und Kritik. Deutsche Aufklärung im 17. und 18. Jahrllundert, a.a.O., S. 19. E. Rostworowski, "Polens Stellung in Europa im Zeitalter der Aufklärung", a.a.O., S. 16. 18 Vgl. J. Snopek, Objawienie i Oswiecenie. Z dziejbw libertynizmu w Police, Wroclaw 1986. 19 H. Hinz, "Deizm", in: T. Kostkiewiczowa (Hg.), Slownilc literatury polslciego Oäwiecenia, Wroclaw 19n, S. 67. 16 17
M. Oeflski • Aufklärung in Deutschland und Polen
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Ausleihen, Lektürkabinette, Lesegesellschaften, literarische Salons), auch die Zeitschriften und das Theater als Medien der Literaturverbreitung. In Deutschland gestaltete sich im 18. Jahrhundert ein neues System der literarischen Kommunikation, das sich auf Marktverhältnisse stützte. Das Buch (auch das literarische) wurde zur Ware, der Schriftsteller begann aus den Honoraren seinen Unterhalt zu finanzieren. Es entstand ein breites und differenziertes Lesepublikum, das durch seine Präferenzen auf die Popularität der Schriftsteller (und auch auf seine Honorare) einwirkte. In Polen hatte das literarische Publikum einen elitären Charakter, es bestand vor allem aus Adeligen, Geistlichen und in geringerem Maß aus reichen Bürgern, was erklärt, daß der Typ des freien Schriftstellers (mit wenigen Ausnahmen, vor allem Journalisten)20 inexistent war. Im Vergleich mit anderen Ländern waren auch die unabhängigen Buchhändler und Verleger dünn gesät (desto wichtiger sind die Ergebnisse ihrer Tätigkeit).:n In den beiden Ländern sind also die Institutionen, die der Buchproduktion und -verbreitung dienten, ähnlich und nur quantitiv unterschiedlich. Ihre viel größere Zahl in Deutschland führte zu einer stärkeren literarischen Kommunikation. In Polen gab es als literarische Zentren nur Warszawa, in geringerem Umfang Krakow und (später) Wilno. In Deutschland dagegen waren sie zahlreich: Leipzig, Weimar, Berlin, Hamburg, Köln, Wien und Dresden, um nur einige zu nennen. Ähnlich verhält es sich mit dem Zeitschriftenwesen: die große Menge der spezialisierten Zeitschriften in Deutschland (allein an moralischen Wochenschriften gab es im 18. Jahrhundert Hunderte) stehen der kleinen Produktion von Periodika in Polen gegenüber. Sie hatten außerdem im Vergleich mit den deutschen kleinere Auflagen. Alle erwähnten Erscheinungen und Probleme beeinflußten in hohem Maße die Iiteratur. Die Verschiedenheit der Aufklärung in beiden Ländern (und natürlich auch ihre Ähnlichkeit) spiegelt sich in ihr in verdichteter Form. Man macht es sich jedoch zu einfach, wenn man (wie Tadeusz Namowicz), davon spricht, daß der Unterschied zwischen beiden Iiteraturen nichts anderes als die Opposition zwischen einer bürgerlichen und einer adeligen Aufklärung sei. 22 Grundlegend anders sind das Verhältnis des Staatsbürgers zum Staat und- auf einer anderen Ebene- der Charakter der literarischen Öffentlichkeit, die den Erwartungshorizont gegenüber Autoren und Werken bestimmte. In Deutschland war die Konzentration der Literatur auf die Suche nach der individuellen Identität eine Konsequenz der eingeschränkten Möglichkeiten des einzelnen oder gesellschaftlicher Gruppen, auf das politische Leben einzuwirken, wobei übereinstimmend mit dem Epochenprogramm - vor allem die moralische Dimension akzentuiert wurde. Das ethische Element steht in Werken wie Die Räuber oder Emilia Galoni im Vordergrund, in denen Regierungsform und Machtausübung deutlich
Vgl. R. Kaleta, Miejsc:e i apoleczna funkcja litcratllw w okrcaic 06wicccuia, in: Z. Golinski (Hg.), Problemy Iiteratur y polsJ:iej oJ:resu Oswiecenia, Wroctaw 1973, Serie 1, S. 30. 21 Vgl. J. Szczepaniec, "Drukantwo • kai~gantwo", in: SlowniJ: literatury polsJ:iego Oswiecenia, 20
a.a.O., S. 85-87, S. 89-91. 22 T. Namowicz, "0 litcraturzc polskicgo i nicmicckicgo 06wieecuia w u,Kciu por6wnawczym•, in: Rocznik Towanystwa Literackiego lmienia Adama Mickiewicza, Warszawa 1985 (XIX), S. 73.
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Vergleichende Perspektiven
kritisiert wurden. Die Anklage gegen den Absolutismus hatte in hohem Maße emotionalen Charakter, oft benutzten die Autoren eine historische Kostümierung. Nur selten erschienen konkrete und richtungsweisende Vorschläge für politische Veränderungen. Das Interesse der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts konzentriert sich auf die Schaffung eines idealen Menschen auf der Grundlage eines utopischen bürgerlichen Tugendverständnisses. Die Zurückweisung der politischen Dimension dieser Ideale spiegelt die Resignation eines großen Teils der bürgerlichen Intellektuellen gegenüber politischer Willensbildung wider, eine Resignation, die vom politischen System abgefordert wurde. Hier liegen die Ursprünge des kompensatorischen Charakters vieler der utopischen Elemente der damaligen Literatur, wie Hellenismus, ästhetische Utopie, exotische Reisebeschreibung und Robinsonade. Wesentlich für die deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts ist die Bestimmung des Einzelwesens in einer kleinen Gruppe - Familie oder Freundeskreis. (Ein Gegengewicht bildet das Interesse für Außenseiter.) Innerhalb der polnischen Aufklärungsliteratur kam dagegen öffentlichen Fragen die zentrale Bedeutung zu, und zwar ging es um zwei miteinander verbundene Problemkreise: den der politischen Aktualität und den der Gesellschaftsreform, beides wurde als Einheit verstanden. Entsprechend kritisierte die Literatur existierende Verhaltensmuster und schlug an deren Stelle neue aufklärerische vor. Die Mehrheit der literarischen Werke sollte didaktischen Zwecken dienen; die Überzeugung von einer realen Einwirkungsmöglichkeit der Literatur (besonders der satirischen) auf das öffentliche Leben war allgemein. Dieses Literaturverständnis, dem die Rezeption der Werke entsprach, führte zu einer Publizistisierung; die Grenze zwischen Literatur und Publizistik ist in der polnischen Aufklärung fließend, was am deutlichsten in der Literatur der Bar-Konföderation, 1768-1772, und des Großen Sejms, 17881792, festzustellen ist. Zugrunde lag dieser Bedeutung der Publizistik die Überzeugung, daß die Meinung jedes Adeligen wichtig ist und effektiv die Staatspolitik beeinflussen könne, eine Überzeugung, die ihre Wurzel in der Tradition der adeligen Demokratie hatte. Auch der König und reformerische Magnaten - wie Czartoryscy und Malachowski - maßen der Literatur und besonders dem Theater eine große Bedeutung im Wandel der sarmatischen Gesellschaft bei. Die Grundeinstellung der polnischen Aufklärungsliteratur war von der deutschen weitgehend verschieden: Sie war auf kollektive Haltungen ausgerichtet und nicht auf psychische und individuelle. Als hervorragendes Mittel für die Verwirklichung dieses didaktischen Programms galten die Möglichkeiten, die der Klassizismus eröffnete. Der polnische Klassizismus war eine Art synthetische Version dieses Stils, die seine hundertjährige Entwicklung seit der Zeit der französischen Klassik unter Louis XIV. zusammenfaßte. Ein ausdrucksvolles Zeugnis dafür ist die 1788 geschriebene Reimkunst (Sztuka rymotw6rcza), eine normative Poetik von Franciszek Ksawery Dmochowski, die man in vieler Hinsicht mit der Gottschedschen Critische(n) Dichtkunst vergleichen kann. Innerhalb der polnischen Literatur traten aber auch Erscheinungen auf, die in Opposition zum Klassizismus standen: der Sentimentalismus und das Rokoko, wobei dieser Gegensatz nicht so stark wie z.B. in Frankreich erscheint. So bestanden in Polen für einen begrenzten Zeitraum vier Literaturstile gleichberechtigt nebeneinander und ergänzten sich: der barocke als Erbe der vorangegangenen Epoche, der
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klassizistische, der sentimentale und das Rokoko.23 Sie richteten sich nicht an unterschiedliche Kreise innerhalb des Publikums, sondern befriedigten verschiedene Erwartungshaltungen einer im Grunde genommen elitären Leserschaft.· Das betraf auch die einzelnen Schriftsteller, die sehr flexibel die verschiedenen stilistischen Möglichkeiten handhabten; z.B. stellte der sentimentale Autor Franciszek Karpi.Dski patriotische Themen sowohl in klassizistischen Oden als auch in sentimental stilisierten Volksliedern dar. Eine solche Vielseitigkeit findet sich bei deutschen Autoren nicht, was mit der größeren Differenzierung des Lesepublikums und einer weitgehenden Spezialisierung der Schriftsteller zu begründen ist. Der Versuch einer Periodisierung der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts stützt sich in erster Linie auf literarische Kriterien. Anders sieht es in der polnischen Literatur aus, in der die wichtigsten Grenzdaten von historischen Ereignissen bestimmt werden. Die deutsche Literatur ist also in größerem Maße als die polnische autonom im Verhältnis zur Aufklärung als geistige Bewegung und sie bewahrt stärker ihre ästhetische Besonderheit. Die polnische Literatur, die sich im Ästhetischen als eklektisch erweist, schöpft dagegen ihre Kraft aus der Verbindung mit dem staatlichen und nationalen Leben. Die dargestellten Phänomene und Probleme bilden eine Perspektive, in der man die deutsche und die polnische Literatur des 18. Jahrhunderts miteinander vergleichen kann. Sie sind nur der Rahmen für ein größeres Forschungsprogramm, das Vielfalt und Vielschichtigkeit aller erwähnten Unterschiede und Ähnlichkeiten der beiden Literaturen veranschaulichen läßt. Wir wollen im folgenden wenigstens einige Fragen und Problemkreise eines solchen Programms aufzählen. Ein erster Fragenkomplex, den es zu klären gilt, betrifft die literarische Tradition, insbesondere die jeweils charakteristischen Züge und die innere Dynamik der Epochenwende Barock-Aufklärung in den beiden Literaturen. Damit verbunden sind Fragen der Geschichtsauffassung, wobei zwei Gebiete zu unterscheiden sind: erstens der Bereich der Quellen für politische, moralische und ästhetische Verhaltensmuster (z.B. deutscher Hellenismus versus römisch-republikanische Tradition in der polnischen Literatur) und zweitens der Bereich der Geschichtsphilosophie, z.B. bei Krasicki oder Herder, deren Positionen höchst verschieden sind. Einem zweiten Fragenkomplex sind die Probleme des literarischen Selbstverständnisses, der Systeme literarischer Normen, der programmatischen und kritischen Aussagen und der ästhetischen Diskussionen zuzuordnen. Weiter wären genauer zu untersuchen: die Wandlungen der Literatursprache (im Zusammenhang mit der Geschichte der Nationalsprache), die Entwicklung literarischer Gattungen, die in Theorie und Praxis bevorzugt wurden, die Wandlungen der Gattungskonventionen, schließlich die Entstehung neuer und die Krise traditioneller Gattungen. Ein anderer Themenkomplex betrifft Fragen, die für die europäische Aufklärung insgesamt von großer Bedeutung waren: Welches Bild von Natur und Zivilisation haben die beiden Literaturen? Welche Rolle spielen deskriptive Literatur und Volkstradition? Welche Bedeutung haben Persönlichkeiten im literarischen Prozeß in beiden Nationalliteraturen? (Hier böte sich ein Vergleich zwischen Krasicki und 23 Vgl. T. Kostkiewicz, KJasycyzm, sentymentalizm, rokoko, Warszawa 1975, bes. S. 454-464 und Z. Libera, Problemy polsJ:iego Oswiece.nia. Kultura i styl, Warszawa 1969.
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Vergleichende Perspektiven
Wieland an.) Wichtig wäre auch, die Einflüsse dritter Literaturen auf die deutsche und polnische vergleichend zu untersuchen. Wie werden allgemeineuropäische Moden wie der Rousseauismus, der Sternismus, die Robinsonaden, der Gotizismus, der Youngismus und der Ossianismus verarbeitet? Schließlich wären die Bilder der Aufklärungsepoche zu vergleichen, die die Literaturgeschichten des 19. und 20. Jahrhunderts (mit dem großen Bruch in der Romantik) in Polen und Deutschland vermitteln. Abschließend soll auf die unmittelbaren Kontakte und Einflüsse zwischen beiden Ländern eingegangen werden. In der Forschung fehlt es vor allem an einer genauen Beschreibung der beiderseitigen Beziehungen während der sächsischen Periode. Es gab in dieser Zeit verschiedene Formen von Kontakten zwischen Vorläufern der polnischen Aufklärung und deutschen Gelehrten24 ; eine Monographie über die Beziehungen der Brüder Zahlski zu Deutschland haben wir Heinz Lemke zu verdanken.25 Eine wichtige Rolle bei der Herausbildung der Aufklärung in Polen spielte bekanntlich die Wolffsche Philosophie. 26 Schon 1755 erschien die polnische Übersetzung von Gellerts Roman Das Leben der schwedischen Gräfin von G***.21 In der Stanislawischen Epoche hatten die nach Polen übergesiedelten und sich polonisierenden Deutschen großen Einfluß. Es seien als wichtigste Persönlichkeiten Laurentius Mitzierde Koloff, bekannt als Verleger, und Michael Gröll, der vom König privilegierte Drucker, genannt. Der Einfluß der deutschen Kultur auf Polen vollzog sich insbesondere durch die Vermittlung von Zeitschriften28; hier ist der Redakteur von Pami~tnilc Historyczno-Polityczny, Piotr Switkowski, zu nennen, der "im Gegensatz zur Gallomanie seiner Zeit besonderes Interesse für die deutsche Literatur zeigte". 29 Am häufigsten wurden damals die Werke Salomon Gessners übersetzt, was sich durch die Tradition der polnischen Idylle erklären läßt. Wesentlich war der Einfluß des deutschen Theaters, ein Gebiet, das bislang erst unzureichend erforscht ist. Im allgemeinen waren die deutschsprachigen Autoren in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Polen nicht sonderlich bekannt, meist wurden sie in der französischen Übersetzung rezipiert (so etwa von Ignacy Krasicki). 30 Diese Situation änderte sich in der polnischen Spätaufklärung; die Lektüre der deutschen Schriftsteller wie Sulzer, Herder, Schiller und Bürger wurde zur Hilfestellung bei der Lösung der eigenen Probleme, vor allem für die Empfindsamen und Vorromantiker wie Kazimierz BrodziDski.31 Die deutschen Einflüsse auf die polnische Aufklärung sind (ausgenommen vielleicht die Frühphase) zwar mit der starken Wirkung der "' Z. Sinko, "GI6wne drogi i tendencje recepcji pümiennictwa zachodnioeuropejakiego w Iiteratune Otwiecenia pollkiego", in: Problemy literatury polskiej okresu Oswiecenia, a.a.O., S. 112. 25 Vgl. H. Lemke, Die Brüder Zafuski und ihre Bezjehungen zu Gelehrten in Deutschland und Danzig, Berlin 1958. .. M. Klimowicz, Os'wiecenie, Warszawa 1m, S. 15-16. 77 Vgl. M. Klimowicz, "Romans GeUerta w Iiteratune polskiej czas6w saskich", in: Ptnniftnik LiterliCki 3-4 (1959), S. 189-201, S. 204-213. 28 Vgl. J. Kasprzyk, Zeitschriften der polnischen AuflcJärung und die deutsche Literatur, Gießen 1982. 20 Z. Sinko, "Deutsch-polnische Literaturbeziehqen in der Zeit der Aufklärung', in: Zeitschrift für
Slavistik 24 (1979), H. 6, S. 825. "'Vgl. J. Wieczerska, "'0 rymotw6rstwie i rymotw6rcach' Krasickiego", in: Pamiftnik Literac/ci 2 (1962), s. 372-375. 31 M. Adamiak/E. Klin/M. Posor (Hgg.), RBepcja literatury niemieckiej u. K.azimierza Brodziia•kit!ID, Wroclaw 1979.
M. CiciJBki - Aufklärung in Deutschland und Polen
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französischen Aufklärung nicht zu vergleichen, sie hatten jedoch wegen der Nachbarschaft beider Nationen einen besonderen Charakterl2• Umgekehrt ist die polnische Wirkung auf die deutsche Kultur und besonders die Uteratur von geringerer Bedeutung, obwohl sich auch für solche Einflüsse Belege finden lassen. Ungleich kleiner war die Zahl der Übersetzungen aus dem Polnischen; zu nennen wäre Ignacy Krasicki, dessen Hauptwerke schnell im Deutschen erschienen.33 Übertragungen von Gedichten und Romanen anderer Schriftsteller erschienen zumeist in den deutschsprachigen Zeitschriften Polens. Viele Informationen über Polen wurden durch Reiseberichte und diplomatische Berichte verrnittelt.34 In der historischen Wirklichkeit des 18. Jahrhunderts fügten sich Elemente, die aus wechselseitiger Beeinflußung entstanden, zusammen mit solchen, die der Matrix einer europäischen Aufklärung zuzuordnen sind. Dafür abschließend ein bezeichnendes Beispiel: Im Jahre 1736 entstand in Berlin eine sogenannte Gesellschaft der Wahrheitsfreunde, die Societas Alethophilorum, deren Ziel die Verbreitung der Leibnizschen und Wolffschen Philosophie war. Auf der von ihr geprägten Münze befand sich das MottoSapere aude!. 35 Im Jahre 1771 ließ König Poniatowski eine silberne Medaille zu Ehren der Verdienste von Stanislaw Konarski prägen, auf deren Revers Sapere auso stand.36 Die Devise Sapere aude! wurde bekanntlich im Jahre 1784 zu einer der wichtigsten Aussagen in Kants Aufsatz Was ist Aufklärung?. Vom heutigen Standpunkt aus ist es nicht mehr möglich, präzise festzustellen, inwieweit diese drei Aufnahmen von Horaz in einem unmittelbaren Zusammenhang standen. Es ist durchaus denkbar, daß sie- als Zeugnis der aufklärerischen Vernunftbegeisterungvöllig unabhängig voneinander auftraten. Im historischen Kontext bedeuten diese Worte jeweils etwas anderes, doch ist eine Ähnlichkeit unverkennbar. Im übertragenen Sinn gilt das auch für das Verhältnis zwischen deutscher und polnischer Aufklärung insgesamt. Ihre vergleichende Betrachtung zeigt sowohl vielfältige Variationen der nationalen Kulturen der Epoche als auch die zum Teil enge Verwandtschaft zwischen den nationalen Entwicklungen, die sie- aus heutiger Sichtim Rahmen der europäischen Aufklärung als Einheit erscheinen lassen.
:u Vgl. Z. Ciechanowska, "Literatura niemiecka a polska w XVIII wieku", in: Pamietnik Literacki 1 (1936), s. 24. 33 Z. Sinko, "Deutsch-polnische Literaturbeziehungen in der Zeit der Aufklärung", a.a.O., S. 831. 34 Vgl. W. Zawadzki (Hg.), Polska stanislawowska w oczach cudzozicmc6w, Warszawa 1963,2 Bde. 35 E. Bahr (Hg.), Was ist Aufklärung? Thesen und Definitionen, Stuttgart 1974, S. 57. 36 A.K. Guzek, "Odznaczenia literackie", in: Slownik Iiteratory polskiego Oswiecenia, a.a.O., s. 390-391.
Gert Robe/ (München)
Zur Aufklärung in Adelsgesellschaften: Rußland und Polen
Das wohl auffallendste Merkmal der Aufklärung in den beiden großen osteuropäischen Staaten, dem Zarenreich und der polnischen Adelsrepublik, ist der gravierende Mangel, ja in Rußland das fast völlige Fehlen bürgerlicher Repräsentanten unter den nationalen, indigenen Trägern der Aufklärung.1 Dieses Phänomen, das die osteuropäische Aufklärung vonjener West- und Mitteleuropas so grundlegend unterscheidet, ist Folge der spezifischen Sozialstruktur dieser beiden Länder, die ein Bürgertum mit einer verfaßten Selbstverwaltung nicht oder, in Polen, nur als rudimentäres, untergeordnetes gesellschaftliches Phänomen aufweist. In der Rzeczpospolita verfiel die noch im 16. Jahrhundert blühende Wirtschaftskraft der Städte und in der Folge ihre Autonomie im Zeichen der Adelsherrschaft und des liberum veto rasch, der ständische Egoismus des Adels führte zum Niedergang der Städte und des Bürgertums.2 Wenn sich vereinzelt bürgerliche Repräsentanten wie etwa Stanislaw Staszic in der polnischen Aufklärungsbewegung hervorgetan haben, so widerspricht das der Charakteristik der polnischen Aufklärung als einer Adelsaufklärung nicht, ihre bürgerlichen Vertreter bilden, aufs Ganze gesehen, eine Minderheit; sie stammen - sieht man von Warschau ab - vor allem aus dem westlichen Teil des Landes (Groß- und K.leinpolen), der stark nach dem Westen, d.h. Deutschland, orientiert war; die Herrschaft der Wettiner hat diese Kommunikation durch die engen Verbindungen des Landes zu Sachsen noch intensiviert. Der weitaus größte Teil der polnischen Aufklärer entstammte dem K.leinadel, der szlachta, und hier sind es besonders die Angehörigen des geistlichen Standes gewesen, die als Vertreter der neuen Ideen auftraten. 3 In Rußland war ein Bürgertum im westlichen Sinne, das als Gegengewicht und Herausforderung des Adels fungieren konnte, noch weniger existent.4 Der Anteil der 1 Auszuschließen sind hier Immigranten bütgerlichen Standes, auch wenn sie Untertanen der russi· schen Kaiserin oder der Krone Polens waren, desgleichen ihre Nachkommen, sofern sie nach Sprache und Kultur sich noch nicht assimiliert hatten. 2 Zum Niedergang des polnischen Städtewesens N. Davies, God's playground. A history of Poland, Bd. 1: The origins to 1795, Oxford 1981, S. 318-320; J. Ptainik, Mia1ta i mieBZczahltwo w dawnej Po/see, Warszawa 21949; M. Bogucka, 'The towns of East-Central Europe from the fourteenth to the seventeenth century", in: A. Maczak/H. Samsonowicz/P. Burke (Hgg.), East-Central Europa in transition. From the fourteenth to the seventeenth century, Cambridge 1985, S. 101 ff. 'J. Fahre, Stanislas-Auguste Poniatowski et I'Europe des lumieres, Paris 1952, S. 55 ff., S. 104 ff. Vgl. auch EA. Dudzinskaja, "Slawophile Periodika als Quelle für die Erforschung der Kulturbeziehungen Rußlands zu den Völkern West-, Mittel- und Osteuropas in der Mitte des 19. Jahrhunderts", in: Zeitschriften und Zeitungen des 18. und 19. Jahrllundelts in Mittel- und Osteuropa, Berlin 1986 (Studien zur Geschichte der Kulturbeziehungen in Mittel- und Osteuropa 8 [im Folgenden: SGKMO)), S. 243. • Einen Überblick über den Forschungsstand zur russischen Stadtgeschichte bei M. Hildermeier, Büf811Ttum und Stadt in Rußland 1760-1870. Rechtliche Lage und soziale Struktur, Köln, Wien 1986 (Beiträge zur Geschichte Osteuropas 16), S.1-31. -Zum Verhältnis Adel-Bürgertum G. Sacke, "Adel und Bürgertum in der Regierungszeit Katharinas II. von Rußland", in: Revue beige de Philologie et d'Histoire 17 (1938), S. 815-852, zur wirtschaftlichen Konkurrenz des Adels vgl. A. Fenster, Adel und
G. Robe! - Zur Aufklärung in AdelsgeseUschaften: Rußland und Polen
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ständischen Stadtbevölkerung, d.h. jener Gruppe von Einwohnern einer Stadt, die den Rechtsstatus eines Stadtbewohners besaß,5 betrug zwar während des 18. Jahrhunderts 3-4% der Gesamtbevölkerung des Reiches, doch war diese Schicht keineswegs homogen. Sie umfaßte, wie in den Städten des westlichen Europa, Gruppen höchst unterschiedlicher Wirtschaftskraft und damit unterschiedlicher Interessen, aber - und dies vor allem und im Gegensatz zu einer Bürgerschaft westlicher Art mit Selbstverwaltung - sie besaßen unterschiedliche Rechtsstatus. Ein autonom verfaßter Bürgerstand existierte nicht. So kam es innerhalb der städtischen Bevölkerung zu keinem generell wirksamen Konsens über gemeinsame Interessen, erst recht nicht über gemeinsame gesellschaftliche Aktionen. Großkaufleute (Kaufleute 1. und 2. Klasse) und Fabrikanten standen dem Adel näher als den niederen Handwerkern oder städtischen Bauern, und ein Verwaltungsbürgertum westlicher Art war in Rußland nicht entstanden, da die petrinische Ordnung den Adel mit diesen Funktionen betraute. Peters Rangordnung (Tab!' o rangach) von 1722 schrieb die russische Gesellschaft, um einen Begriff Dietrich Geyers aufzunehmen,6 als "staatliche Veranstaltung" fest, sie konstituierte ein System, in dem zwar - idealtypisch - dem Adel die Pflicht des Staatsdienstes oblag und auch weitgehend vorbehalten blieb, das trotzdem aber soziale Mobilität als Prinzip beinhaltete und dadurch auch dem Nichtadeligen gesellschaftlichen Aufstieg als Leistungsanreiz garantierte.' Doch eben dieses System entzog den städtischen Bevölkerungsschichten durch Aufstieg in die Adelsränge oder durch persönliche NobilitierungB jene Kräfte, die vermöge ihres wirtschaftlichen Potentials als Repräsentanten der Stadtbevölkerung deren Ansprüche auf korporative Selbstverwaltung und Beteiligung an der Gestaltung der Gesellschaft wirksam hätten vertreten können. Eine gesellschaftliche Kraft, die auf die Korrektur sozialer Fehlentwicklungen oder auf Beseitigung von Modernisierungshemmnissen hinwirken konnte, indem sie Defizite bewußt machte, bildete sich daher vor allem aus dem Adel, insbesondere nach der Aufhebung der petrinischen Dienstpflicht
Ökonomie im vorindustriellen Rußland. Die untemehmerische Betäligung in der großgewerblichen Wutscluzft im 17. und 18. Jaluhundert, Wiesbaden 1983 (Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 23). 5 Zur Einwohnerschaft russischer Städte gehörte ein beträchtlicher Teil andersständischer Bevölkerung, Adel, Geistlichkeit, Beamte, Bauern u.a., vgl. B. Knabe, Die Struktur der nusischen Posallgemeinde und der Kolalog der Beschwerden und Forderungen der nusischen Kaufmannschaft (1762-1787), Wiesbaden 1975 (Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 22), S. 270 ff. 6 D. Geyer, "'GeseUschaft' als staatliche Veranstaltung. Sozialgeschichtliche Aspekte des russischen Behördenstaates im 18. Jahrhundert", in: Vf. (Hg.), Wutschaft und Gesell.rcluzft im vorrevolutionlirm Rußland, Köln 1975 (Neue Wissenschaftliche Bibliothek 17), S. 20-52; ders., "Der aufgeklärte Absolutismus in Rußland", in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. NF 30 (1982), S. 176-189. 7 J. Hasse!, "The implementation of the Russian Table of Ranks during the eighteenth century", in: Slavic Review 29 (1970), S. 283-299; D. Geyer, "'GeseUschaft' als staatliche Veranstaltung. Sozialgeschichtliche Aspekte des russischen Behördenstaates im 18. Jahrhundert", a.a.O., S. 22; G.L. Yaney, The
systematization of Russiml govemment: Social evolution in the domestic administration of Imperial Russia, 1711-1905, Illinois 1973; zur Problematik der Rangtabelle vgl. H. Bagger, Peterden Stores reformer. En forskningsoversigt, Aarbus 1979 (Problemer i Ruslands og Sovjetunionens historie 2), S. 58 ff., zur sozialen Mobilität, a.a.O., S. 68 f. 1 Angaben über nobilitierte Unternehmer städtischer Herkunft bei A. Fenster, Adel und Ökonomie im vorindustriellen Rußlllnd, a.a.O., S. 274 f. S. 292-299, S. 319-323, S. 334 ff.; M. Hildermeier, Bürgertum und Stadt in Rußlllnd 176().1870, a.a.O., S. 102-123.
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durch die Gnadenurkunde Katharinas II. vom 21. April 1785.9 Dieser emanzipatorische Akt legalisierte zwar nur einen aktuellen Prozeß, aber er schuf die rechtlichen Voraussetzungen für die bereits im Entstehen begriffene kritische Intellektuellenschicht, die sich als sozialpolitisches Korrektiv verstand. Als intelligencija ist sie, zunehmend verstärkt durch nichtadelige Kräfte, u.a. durch Angehörige des geistlichen Standes, 10 wesentliches moven.s des gesellschaftlichen Transformationsprozesses im Rußland des 19. und 20. Jahrhunderts geworden. Bürgerliche russische Schichten (die baltischen Provinzen können hier ebensowenig wie die Ausländer herangezogen werden) sind im Zeitalter der Aufklärung jedoch nicht oder allenfalls höchst marginal an der öffentlichen Diskussion beteiligt gewesen, denn auch Katharinas Städteordnung schuf kein Bürgertum im westlichen Sinne. 11 Im Gegensatz zu Rußland, wo der autokratische Entwurf einer Harmonisierung der Gesellschaft die Sozialstruktur bestimmte, konstituierte in der Rzeczpospolita der Adel als natio Polonica die Gesellschaft selbst. Dieser Adel aber betrachtete sich seit Jahrhunderten als integraler Teil der okzidentalen Adelsgesellschaft, dem lateinischen Buropa zugehörig. Ein entwickeltes Bildungswesen, an dessen Spitze die ehrwürdige Universität zu Krakau und die Hohe Schule der Jesuiten in Wilna stand, fügte das Land ein in das Kommunikationssystem der europäischen Gelehrtenwelt; Bildung war für die adelige Elite ebenso Bestandteil ihrer Erziehung wie in den westlicheren Teilen Europas, und die Kavaliersreise nach Frankreich und Italien gehörte zum Bildungskanon der Söhne großer Familien. 12 Hier war auch, ausgehend vom Humanismus, eine ausgebildete Profansprache 13 entstanden mit einer weltlichen Literatur, die an der Entwicklung des westlichen Buropa teilhatte und das Land in den lateinischen Kulturkreis einband. 14 So verfügte Polen über eine tradierte Öffentlichkeit, die an der Diskussion der europäischen Fragen der Zeit partizipierte. Die im Erziehungswesen lange dominierenden Jesuiten, die ob ihrer scholastischen Bildungsinhalte nicht nur von den Aufklärern bekämpft wurden, verloren im 18. Jahrhundert ihre Monopolstellung im Bildungswesen durch die piaristischen Anstal-
M. Raeff, Origins of the RJusian intel/igentsia. The eighteenth-centwy nobility, New York 1966. Ein beträchtlicher Teil der unteren Verwaltungsbeamten rekrutierte sich seit langem aus dieser Sozialgruppe, vgl. G.L. Freeze, "Social mobility and the Russian parish in the eighteenth eentury", in: S/avic Review 33 (1974}, S. 641-662; ders., The RJusian /evites. Parish c/ergy in the eighteenth centwy, Harvard 1m; E. Brynner, Der geistliche Stand in Rußland. Sozialgeschichtliche Untersuchungen zu Episkopat und Gemeindegeistlichkeit der russischen 01thodoxen /(jrr:he im 18. Jahrhundert, Göttingen 1982; I. Smolitsch, Geschichte der russischen /(jrr;he 1700-1917, Leiden 1964, Bd. 1, S. 442-450. 11 M. Hildermeier, Bürgertum und Stadt in Rußland 1760-1870, a.a.O., S. 73-90. Vgl. auch W.B. Lincoln, "The Russian state and its cities: a search for effective municipal government, 1786-1842", in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. NF 17 (1969), S. 531-541; J.M. Hittle, The service city. State and townsmen in RJusia, Cambridge 1979. 12 Vgl. dazu A Moczak, Zycie chodzienne w podrbzach po Europie XVI i XVII wieku, Warszawa 1978. 13 1 Zar~baki, "Uwagi o roll azkoly w walcc o jozyk w dobic Odrodzcnia •, in: Studia i materialy z dziejow nauki polsldej 2 (1954), S. 103-107. Zur Geschichte des polnischen Bildungswesens R. Wroczyilski, Dzieje oswiaty polskiej do roku/795, Warszawa 1983. 1• Ein Zeichen dieser Teilhabe war das Erscheinen der ersten polnischen Enzyklopädie von B. Chmielowski, Nowe Ateny fllbo Akademia wszelkiej scyencyej peJna (Bde.1-2, Lw6w 1745-1746), dessen zweite Auflage (1753-1756) schon 4 Bände umfaßte. 9
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ten mit ihrer modernen pädagogischen Konzeption, mit denen sie sehr rasch die adelige Jugend an sich zogen. 15 Eine derartige Grundlage fehlte im vorpetrinischen Rußland fast ganz. Lateinisches Bildungsgut ist zwar seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in den Moskauer Staat eingedrungen, doch blieb die Kultur des Zarenreiches kirchlich bestimmt - von einer Kirche, die stark auf ihre griechisch-orthodoxen Wurzeln rekurrierte; und auch die Literatur blieb im Wesentlichen religiöse Literatur, wenn sich auch in der Moskauer Kanzleisprache Ansätze zu einer schriftlichen Profansprache zu entwickeln begannen. 16 Der im westlichen Europa mit dem Beginn der frühen Neuzeit einsetzende Prozeß einer Profanierung der gelehrten Welt, die Emanzipation der res publica litteraria von der Theologie aber begann im Moskauer Reich erst mit der petrinischen Modernisierung. 17 Das Bildungswesen blieb bis dahin nicht nur in den Händen der Geistlichkeit, sondern war fast ganz für den Bedarf der kirchlichen Institutionen bestimmt. 18 Das Fehlen einer breiten gebildeten Theologenschicht, wie sie etwa in Polen, auch in den baltischen Provinzen des russischen Reiches und in den anderen "ateinischen Ländern Europas im hohen Maße nicht nur eine lesende und vielfach durchaus nicht nur auf theologische oder religiös-erbauliche Themen beschränkt auch publizierende Gruppe der Gesellschaft bildete und auch als Multiplikatoren der Volksaufklärung stark hervorgetreten ist, hat die russische Aufklärung erheblich erschwert und verzögert. Die staatliche Praxis, bei administrativem Bedarf dafür Schriftkundige aus dem geistlichen Stande zu rekrutieren, hat dieses Defizit noch verstärkt. Die vererbte Zugehörigkeit zum geistlichen Stand, die zugleich eine Art Erblichkeit des geistlichen Amtes beinhaltete, und der Mangel einer institutionalisierten allgemeinen theologischen Ausbildung für den unteren Klerus hat zudem insbesondere im ländlichen Bereich zu einem vielbeklagten niederen Bildungsstand der Popen geführt, der, zumindest bei Texten der bürgerlichen Schrift, bis zum Analphabetismus reichte. So entfiel hier eine wesentliche Mittlerschicht der Aufklärung. Peter der Große hat diese Defizite durchaus gesehen. Als er es in einer ebenso gewaltigen wie gewaltsamen Anstrengung unternahm, der Neuzeit in Rußland zum Durchbruch zu verhelfen, schuf er einige Ausbildungsstätten (vor allem die beiden Cadettencorps und das akademische Gymnasium), um eine den Erfordernissen des neuzeitlichen Verwaltungsstaates genügende Funktionselite heranzubilden, 19 doch 15
S. Bednarski, Upadek i odrodzenie szk6l jezuickich w Polsce. Studium z dziej6w kulluly i szkolnictwa
polskiego, Warszawa 1933. 16 D. Freydank, "Die Zweisprachigkeit des 16. und 17. Jahrhunderts", in: W. Boeck/C. Fleckenstein/D. Freydank (Hgg.), Geschichte der russischen Literatursprache, Dösseidorf 1974, S. 55-62, S. 6668; C. Fleckenstein, "Die russische Literatursprache im 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts", in: ebd, S. 69-108, G. Hüttl-Worth, Die Bereicherung des russischen Womchatzes im XVI/I.Jaluhundert, Wien 1956; F. Kaiser, "Der europäische Anteil an der russischen Rechtsterminologie der petrinischen Zeit", in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 10 (1965), S. 75-333. 17 Von einzelnen Vorläufern wie Sofija Michajlovnas Favorit Fürst V.V. Golycin ist hier abzusehen. 11 1. Smolitsch, Geschichte der russischen Iarr;he 1700-1917, a.a.O., S.446 ff.; G.L. Freeze, "Social mobility and the Russian parish in the eighteenth century". in: a.a.O., S. 651 f. 19 M. Raeff, "Home, school, and service in the life ofthe 18'"-century Russian nobleman•, in: The Slavonic and East European Review 40 (1961/62), S. 295-307; J.L. Black, Citizens for the fatherland. Education, educators, and pedagogical ideals in eighteenth cenluly Russia, Boulder, New York 1979, S. 15-69.
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reichte die Produktion dieser Institutionen auch unter Inanspruchnahme der Kapazitäten des geistlichen Standes bei weitem nicht aus, den enormen und rasch wachsenden staatlichen Bedarf zu decken. So mußten die Defizite der Eigenproduktion durch Importe, d.h. durch Anwerbung qualifizierter Kräfte aus dem Ausland gedeckt werden. 20 Dies schloß die Anwerbung von Hauslehrern ein, die in der Folgezeit in zunehmendem Maße die Ausbildung in den adeligen Häusern übemahmen. 21 Sie rekrutierten sich vor allem aus Deutschland, der Zustrom französischer Immigranten es waren dies überwiegend Hugenotten- setzte erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts ein; nach der Revolution suchten refugies in größerer Zahl hier ihr Fortkommen, auch als Hauslehrer. 22 Rußland bildete bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts einen aufnahmebereiten Markt für die Überproduktion deutscher Universitäten, viele Studenten und Magister der Theologie haben dort vorübergehend oder auf Dauer als Hauslehrer ihr Auskommen gefunden. Diese Immigration ist oft über die Transitstation der baltischen Provinzen erfolgt, denen eine spezifische Mittlerfunktion zukam und die auch selbst durch die Eingliederung eines Teiles ihrer Eliten in den russischen Staatsdienst einen beträchtlichen Beitrag zur Entwicklung Rußlands leisteten. Von hier aus sind auch- durch Literaten und protestantische Pastoren (die ihre Qualifikation zumeist an deutschen Universitäten erworben hatten) - Einflüsse auf die russische Aufklärung ausgegangen oder vermittelt worden. Diese Dominanz deutscher Universitätsabsolventen wurde noch verstärkt durch die große Zahl deutscher Mitglieder der 1725 gegründeten Akademie der Wissenschaften zu St. Petersburg und der Professorenschaft der 1755 entstandenen Universität Moskau.23 So haben die an den deutschen Universitäten vorherrschenden Lehrmeinungen weitgehend das von der russischen Elite rezipierte Bildungsgut bestimmt. Bacons Empirismus oder l..ockes Ideen haben in Rußland keine Verbreitung gefunden, hier herrschten Wolffs Lehre und Pufendorffs Naturrecht vor, und die deutsche Cameral- und Policeywissenschaft blieb bis in die siebziger Jahre hinein führend, 24 Katharina ließ noch die Hauptwerke Bielfelds und Justis ins Russische übersetzen. (Übersetzungen brachten dann auch in den siebziger Jahren die britische Nationalökonomie nach Rußland - sie wurde zumeist in französischer Übersetzung rezipiert). Diese 20 Zu den ausländischen Spezialisten grundlegendE. Amburger, Die Anwerbung aus/lbulischer FIIChkräfte für die Wirtschaft Rußlands vom 15. bis ins 19. Jahrhundert, Wiesbaden 1968; ders., Beiträge zur Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen, Gießen 1961. 21 Vgl. dazu E. Amburger, "Der Hauslehrer im alten Rußland", in: Aufkliirerische Volksbildung und ständische Gesellschaft (SGKMO 11), [im Druck). 22 L. Pingaud, Les fram;ais en Russie et /es russes en France. L 'ancienne ~e - l'emigration -/es invasions, Paris 1886; E. Hautmann, La culture franr;aise en Russie (1700-1900), Paris 1910; J. Kämmerer, Rußland und die Hugenotten im 18./ahrhundert (1689-1789), Wiesbaden 1978. ·Eine befriedigende Untersuchung des britischen Beitrags zur Modernisierung Rußlands steht noch aus, vgl. A.G. Cross, "The British in Catherine's Russia: a preliminary survey", in: J.G. Garrard (Hg.), The eighteenth-centwy Russia, Oxford 1973, S. 233-235. Sehr summarisch EJ. Simmons, English Iiterature and culture in Russia, 1553-1840, Cambridge/Mass. 1935. 23 Vgl. das Verzeichnis der Akademiemitglieder 1725·1799 bei E. Amburger, Beiträge zur Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen, a.a.O., S. 45-52. 34 M. Raeff, "Les Slaves, les Allemands et les 'Lumieres'", in: Canadian Slavic Studies 1 (1967), S. 521-551; ders., "The Enlightenment in Russia and Russian thought in the Enlightenment", in: J.G. Garrard (Hg.), The eighteenth-centwy Russia, a.a.O., S. 32-35.
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schulbezogene Selektion des Bildungsgutes wurde durch die Wahl der ausländischen Studienorte für die Fortbildung der russischen Nachwuchselite noch verstärkt: Halle, Leipzig und Marburg, seit den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts auch Göttingen waren die bevorzugten Universitäten, eine Folge auch der engen Kontakte, die die deutschen Gelehrten in russischem Dienst auch weiterhin mit ihrer alten alma mater unterhielten. Diese Deutschland-Orientierung ist durch die nationale Reaktion auf die Siron-Herrschaft und die Krise der Akademie nur kurzfristig und ephemer gelockert worden, 25 denn das Fehlen ausreichender russischer Bildungsmöglichkeiten war nur durch deutsche Hauslehrer auszugleichen (der Aspekt des Sozialprestiges kann hier außer Acht gelassen werden). Sie haben auch zu Zeiten Elisabeths und Katharinas II., als die Pariser Kultur in Petcrsburg Leitfunktion besaß und die französische Sprache bei Hofe und in der Aristokratie dominierte, diese Profession beherrscht. Wie stark trotz des französischen Kulturideals die Dominanz der deutschen Bildung war, zeigt sich etwa darin, daß noch Derfavin (1743-1811) und Fonvizin (1745- 1792), ja selbst noch Karamzin (1766-1826) als erste Fremdsprache Deutsch lernten, daß die Werke Gellerts, Klopstocks und Lessings wie später des Sturm und Drang zum Literaturkanon des gebildeten Russen gehörten. 26 Die petrinischen Reformen27 im Ausbildungsbereich und auf kulturellem Gebiet etwa die Ablösung der kirchlichen Schrift durch die bürgerliche (gra!danka), die Einführung des julianischen Kalenders u.a.m. - sind als Teil der Aufklärung bezeichnet worden, besonders Eduard Winter hat mit seiner Übertragung des Begriffes Frühaufklärung auf das petrinische Reformwerk dazu beigetragen. 28 Peters Reformen aber sind Teil eines Modernisierungsprozesses, der primär den Staat meint und nicht die Gesellschaft. Hier ist, wenn schon der Terminus verwendet werden soll (wofür sich Gründe anführen lassen), 29 präzisierend von einer etatistischen Aufklärung zu sprechen, handelt es sich doch um einen vom Staat initiierten und betriebenen Transformationsprozeß der Gesellschaft, der die Erhöhung der militärischen, wirtschaftlichen und administrativen Effizienz zum H. Rogger, National consciousness in eighteenth-century Russia, Cambridge/Mass. 1969, S. 20-34. Die Tätigkeit der Akademie in den beiden ersten Jahrzehnten ihres Bestehens ist von den Zeitgenossen heftig kritisiert worden, vgl. etwa das ätzende Urteil Christoph Hermann von Mansteins (in: M~moires historiques, politiques et militaim sur Ia Russie depuis 1727 jusqu'tl1744, par le G~n~ral Manstein, Lyon 1772, Bd. 2, S. 346-348), auch Lomonosovs scharfe Kritik (in: M.V. Lomonosov, Polnoe sobranis s~i nenij, Moskva, Leningrad 1957, Bd. 10, S. 276-316 ff.). :16 Eine umfassende Darstellung steht noch aus, beispielhaft H.-B. Harder, Schiller in Rußland. MaterialiBn zu einer Wukun&fgeschichte 1789-1814, Bad Homburg, Berlin, Zürich 1969 (Frankfurter Beiträge zur Germanistik 4); G. Giesemann, Kotzebue in Rußland. Materialien zu einer 'Wirkun&fgeschichte, Frankfurt a.M. 1971 (Frankfurter Abhandlungen zur Slavistik 14). n Grundlegend noch immer die Biographie von R. Wittram, Peter der Große, Czor und Kaiser, Göttingen 1964, Bde.1-2, doch ist kritisch heranzuziehen: H. Bagger, Peterden Stores reformer. En fonknin&foversigt, a.a.O. 28 So etwa E. Winter, Frühaufkliirung. Der Kampf gegen den Konfessionalismus in Mittel- und Osteuropa und die deutsch-slawischen Beziehungen, Berlin 1966. Vgl. auch J. Lotman, "Die Frühaufklärung und die Entwicldung des geseUschaftlichen Denkens in Rußland", in: Studien zur Geschichte der russischen Literatur im 18. Jahrhundert, Berlin 1968, Bd. 3, S. 93-119. 29 Dies könnte zur Differenzierung des Modernisierungsbegriffes hilfreich sein. Aller~ ergeben sich Schwierigkeiten im Hinblick auf die Anfänge des staatlichen und korporativen Bildungswesens der frühen Neuzeit im westlichen Europa mit der Gründung von Gymnasien wie etwa der sächsischen Fürstenschulen (seit 1543) oder des Bielefelder Ratsgymnasiums. 25
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Zwecke einer Steigerung der staatlichen Macht intendiert und in dem die Gesellschaft Objekt staatlicher Maßnahmen und nicht handelndes Subjekt ist. Eine derartige Instrumentalisierung der Aufklärung hebt sie per se auf: Aufklärung ist ihrem Selbstverständnis gemäß ein gesellschaftlicher Prozeß, der zwar vom Individuum zu leisten ist, aber primär auf die Gesellschaft bezogen, von ihr intendiert ist, sie ist als gesellschaftliche Aktion unmittelbar auf gesellschaftliche Wirkung gerichtet, auf Wandel der individuellen als eines integralen Bestandteil der kollektiven Mentalität im Interesse des Gemeinwohls, und zwar durch Bewußtmachung von Defiziten, durch Erkenntnis. Nicht heteronome Aneignung von funktionsbestimmten Kenntnissen und Fähigkeiten, sondern autonomer Bildungsdrang zeichnet Aufklärung aus (wobei Bildung als nicht funktionsbedingtes Wissen verstanden sei). Und Aufklärung setzt Öffentlichkeit voraus, denn für die individuelle Partizipation am gesellschaftlichen Emanzipationsprozeß, vollziehbar als personales Handeln in Interdependenz mit der gesellschaftlichen Entwicklung, bildet Öffentlichkeit ein konstitutives Element, eine conditio sine qua non. Mit ihr und der interdependenten Entstehung nicht staatlicher, gesellschaftlicher Eliten setzt die Korrekturfunktion der öffentlichen Meinung ein, ihr Aufstieg zu einem vom Staat zu berücksichtigenden Machtfaktor. Was der genannten Frühaufklärung in Rußland fehlt, ist - in absentia der nichtstaatlichen intellektuellen Elite - die öffentliche Diskussion geistiger, kultureller und sozialer Fragen, die debattierende Bestimmung der Standpunkte und Ziele. Davon kann in der petrinischen Epoche nicht die Rede sein. Was hier als Aufklärung gelten soll, ist ein staatlich initiierter utilitaristischer Kenntniserwerb, eine fremdbestimmte Aneignung von Wissen und Fertigkeiten zum etatistischen Nutzen (wenn auch im Namen des bonum commune); hier fehlt neben dem Bildungsaspekt als der Aneignung eines nicht unmittelbar produktiv verwendbaren Wissens auch die lesende Gesellschaft, vor allem aber die diskutierende Publizität der Zielsetzungen; denn die oftmals als Periodika angeführten Vedomosti oder die spätere, an der Akademie besorgte Sankt Petersburgische Zeitung waren, ihrer Intention wie ihrer Informationsgebung nach, staatliche Instrumente der Meinungsbildung. 30 Die Entwicklung in Rußland läßt sich verkürzt etwa folgendermaßen charakterisieren: Der Adel wurde durch den Staat gezwungen, die von diesem gesetzten Bildungsnormen für eine Karriere in seinem Dienste zu erfüllen; ihnen nachzukommen, wurde schließlich zu einer Frage des Sozialprestiges und des Selbstbewußtseins der Elite, die anfänglich erzwungene Akzeptanz der staatlichen Anforderungen bewirkte einen Mentalitätswandel, in dem die selbstbestimmte Aneignung des Bildungsgutes und die Teilhabe, schließlich die Beteiligung an den Fragen der Zeit zum Selbstverständnis der sozialen Führungsschicht gehörten. Diese öffentliche Diskussion ist in Polen - analog zur westlichen Entwicklung schon früher aufgenommen worden, 31 wobei die enge Kommunikation mit dem 30
A.V. Zapadov, Ru86Jcaja Zu.rllllliatilca XVIII velca, Moskva 1964, S. 20-34, S. 57-66 (Journale der Moskauer Universität); zu den Akademie-Periodika R.M. Tonkova, "lz materialov archiva Akademü nauk po Iiterature i lurnaliltike 18. v.", in: XVIII veka, Leningrad 1935, (Sbornik 1), S. 357-385. 31 Das Standardwerk zur polnischen Aufklärung von M. Klimowicz OswW:enk, Warszawa 1972, S. 7 datiert die Anfänge der polnischen Aufklärung auf den Beginn der dreißiger Jahre des 18. Jahrhunderts. Zur Rezeption westlicher Einflüsse vgl. Z. Siflko, "GI6w:ae drogi i tendencje recepcji pümennictwa
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deutschsprachigen Raum (auch in seiner Transferfunktion) die Entwicklung gefördert hat. Neben den Verbindungen zu Sachsen wirkten sowohl Danzig als auch Schlesien, beides zu dieser Zeit zweisprachige Gebiete, stark auf die Anfänge der polnischen Aufklärung ein. 32 In Danzig erschien seit 1718 die (freilich kurzlebige) Polnische Bibliothek, 33 von Breslau aus wirkte u.a. die berühmte Offizin Korn34 und auch in Warschau entstanden bald private profane Verlage. 35 Erleichtert wurde die Verbreitung neuer Literatur besonders dadurch, daß unter den wettinischen Königen die Zensur höchst locker gehandhabt wurde. 36 Erst unter der Herrschaft Stanislaw Augusts sah sich die Regierung mit Rücksicht auf Rußland gezwungen, die Zensur wenigstens partiell anzuwenden, um antirussische Publikationen - oder solche, die Petersburg dafür ausgab- zu verhindern, damit der russischen Regierung kein Vorwand für Interventionen oder Repressionen gegeben war. 37 Dagegen hat die Zensur in Rußland stärker eingegriffen und die öffentliche Verbreitung mißliebigen Schrifttums bis gegen Ende der fünfziger Jahre be- oder verhindert. Erst unter Katharina II. setzte hier ein Wandel ein, der unter dem Eindruck der Französischen Revolution wieder einer restriktiveren Handhabung wich (Pauls Verbot des Importes ausländischer Bücher bestand nur kurzfristig). 38 Die zeitweilig restriktive Informationspolitik Petersburgs39 (während der dreißiger und vierziger zachadniocuropejskiego w literaturze Oiwiecenia polskiego", in: Problemy literatury pols.tiego o.tresu Olwiecenia, Wroclaw [u.a.]1973, S.111 ff. 30 I. Stasiewicz, Poglqdy na nau.toiVe IV Polsee o.tresu Oswiecenia na tle ogblnoeuropejs.tim, Wroclaw, Warszawa, Krak6w 1967, weist darauf hin, daß französische und englische Einflüsse erst "gegen Ende des XVIII. und zu Anfang des XIX. Jahrhunderts" (S. 209) vorherrschend werden. 33 Grundsätzlich zur Frage der aufklärerischen Periodika S. Salmonowicz, "Die Zeitschriftentypen in Polen und ihre Rolle als Förderer der Aufklärung", in: Zeitschriften und Zeitungen des 1& und 19. Jahrhunderts in Mittel- und Osteuropa, a.a.O., S. 65-90, vgl. auch J. Kasparzyk, Zeitschriften der polnischen Aufklärung und die deutsche Literatur, Gießen 1982 (Vorträge und Abhandlungen zur Slavistik 4), S. 63 f. - Zur Polnischen Bibliothek vgl. G. Kozielek, "Die deutschsprachige 'Bibliothek' in Polen", in: Zeitschriften und Zeitungen, a.a.O., S. 97-108. 34 G. Kozielek, "Der Verlag W.G. Korn- Mittler zwischen Ost und West", in: Buch- und Verlagswesen im 1& und 19. Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte der Kommunikation in Mittel- und Osteuropa, Berlin 1977 (SGKMO 4), S. 174-200. 35 W. Smoleillki, PrzeiVrbt umysloiVy IV Polsee wie.tu XVIII, Warszawa 1949; J. Piro!yDski, "Die Bedeutung Krakaus für den polnischen Buchdruck und Buchhandel im 18. Jahrhundert', in: Buch- und Verlagswesen, a.a.O., S.155-173; M. .Cieila, 'Drei ausländische Buchdrucker und Verleger als Mittler aufklärerischen Gedankengutes in Polen", in: ebd., S. 138-148; A. Donat, 'Zum Verlagsprogramm von Michael Grölls Warschauer Buchhandlung", in: ebd., S.149-153. 36 M. Cieüa, "Drei ausländische Buchdrucker und Verleger als Mittler aufklärerischen Gedankengutes in Polen", a.a.O., S. 138: "[...] wie Smolenski feststellt, wurden hier in Polen Bücher vertrieben, deren öffentlicher Verkauf in jedem anderen Land Europas nicht denkbar gewesen wäre." 37 Dazu J. Wojtowicz, "Zensurbestimmungen und Zensurpraxis im Polen des ausgehenden 18. Jahrhunderts", in: Buch- und Verlagswesen im 18. und 19. Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte und Kommunikation in Mittel- und Osteuropa, a.a.O., S. 47-53. ""Zur Zensur in Rußland noch immer grundlegend A.M. Skabieevskij, 06er.ti msskoj censury (17001863), Sankt Peterburg 1892; einen Überblick gibt W. Gesemann: "Grundzüge der russischen Zensur im 18. Jahrhundert', in: Buch- und Verlagswesen im 18. und 19. Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte und Kommunikation in Mittel- und Osteuropa, a.a.O., S. 60-75, ausführlicher KA. Papmehl, Freedom of apression in eighteenth-century Russia, The Hague 1971. 39 Vf., "Die Sibirienexpeditionen und das deutsche Rußlandbild im 18. Jahrhundert. Bemerkungen zur Rezeption von Forschungsergebnissen", in: Wissenschaftspolitik in Mittel- und Osteuropa. WISsenschaftliche Gesellschaften, Akademien und Hochschulen im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, Berlin 1976 (SGKMO 3), S. 275 f.; L. Maier, "Die Krise der St. Petersburger Akademie der
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Jahre) hingegen hat, wie es scheint, die Rezeption westlichen Gedankengutes nicht beeinträchtigt, sie ist allenfalls durch die nationale Reaktion beeinflußt worden.40 Mit dem Mangel eines indigenen Gelehrten- und Literatenstandes korrelierte das Fehlen eines freien Verlagswesens. In petrinischer Zeit waren zu den kirchlichen noch weltliche Druckereien errichtet worden, die jedoch ganz für den staatlichen Bedarf arbeiteten. Die Typographie der Akademie der Wissenschaften druckte zwar neben gelehrten Werken die PetersbUTger Zeitung und besaß das einträgliche Kalenderprivileg (das später auch der Typographie der Moskauer Universität verliehen wurde), doch die Liebhaber belletristischer Literatur blieben auf die Importe ausländischer - und damit fremdsprachiger - Bücher und Zeitschriften angewiesen.41 Die staatlichen Druckereien, die in petrinischer Zeit entstanden waren, wurden bald nach Peters Tode aufgehoben. Erst um die Jahrhundertmitte wurde eine zunehmende Zahl von Druckereien bei verschiedenen staatlichen Institutionen eingerichtet.42 Da sich etwa um die Mitte des Jahrhunderts ein Markt für Literatur gebildet hatte43 - Ergebnis auch der Bildungsanstrengungen des Adels -, sind Buchimporte in erheblichem Ausmaße vorgenommen worden, wie die Bibliotheksverzeichnisse ausweisen.44 Deutschsprachigen Werken wurde die Verbreitung durch Verlage wie Hartknoch in Riga u.a. erleichtert,45 auch entstanden seit den siebziger Jahren deutsche Druckerei- und Verlagshäuser, die zumeist mit Buchhandlungen verbunden wa-
Wissenschaften nach der Thronbesteigung Elisabeth Petrovnas und die 'Affäre Gmelin'", in: JaJubücher
für Geschichte Osteuropas. NF 1:1 (1979), S. 354 f. Siehe dazu oben, S. 8 und Anm. 25. S.P. Luppov, Xniga v Ros•ii v pervoj ~etverti XVIII vd:a, Leningrad 1973, S. 55-111. - Eine Untersuchung der Leserschaft, wie sie der gleiche Autor für die Produktion der Moskauer Druckerei Mitte des 17. Jahrhunderts vorgelegt hat (ders., l:itateli izdlznij Moskovskogo tipognifii v seredine 17 velal. Publilau:ija dolcumentov i issledovanija, Leningrad 1983), liegt von sowjetischer Seite noch nicht vor, dagegen hat GJ. Marker (Publishing and the fonnation of a reading public in eighteenth-century Russia, Pb. D. Berkeley 1977) anband von Subskriptionslisten eine erste Untersuchung des Lebepublikums und Leseverhaltens in Rußland vorgelegt. 42 S.P. Luppov, Kniga v Rossii v poslepetrovskoe vremja. 1725-1740, Leningrad 1976, S. 36-107; E. Amburger, "Buchdruck, Buchhandel und Verlage in St. Petcrsburg im 18. Jahrhundert", in: Buch- und Verlasswesen im 18. und 19. Jahrlumdert. Beiträge zur Geschichte der Kommunikation in Mittel- und Osteuropa, a.a.O., S. 202. 43 Untersuchungen über seine Größe, d.h. über den Buchabsatz in der Elisabethanischen Zeit, sind ein dringliches Desideratum. Material bei NA. Kopanev, "Rasprostranenie francuzskoj knigi v Moskve v seredine XVIII v.", in: Francuzskaja kniga v Rossii v XVIII v. ~erki istorii, Leningrad 1986, S. 59-172. 44 Bibliotheksbestände der petrinischen Zeit bei S.P. Luppov, Kniga v Rossii v pervoj cetverti XVIII vekll, a.a.O., S. 165-358; für die Jahre 1725-1740 in ders., Kniga v Rossii v pos/epetrovskoe Vl'f!mja. 1725-1740, a.a.O., S.169-363; die französischen Bestände der Akademiebibliothek bis 1742 bei P.l. Chotecv, "Francuzskaja kniga v Biblioteke Peterburgskoj Akademü nauk (1714-1742)", in: Francuzskllja kniga v Rossii v XVIII v. Ocerki istorii, a.a.O., S. 5-58. Vgl. auch VA. Sojmov, "Francuzskaja 'Rossika' epochi Prosvelfenija i russkij ~tatel'", in: ebd., S. 173-245 (dort auch S. 225-228 ein Verzeichnis von Katalogen privater Bibliotheken). - Eine ähnliche Untersuchung für deutsche Bücher wäre wünschenswert. 45 Eine ausführliche Untersuchung über Hartknoch steht noch aus. Ein Überblick bei H. Rietz, "Johann Friedrich Hartknoch 1740-1789", in: Wegbereiter der deutsch-slawischen Wechsel~Jarluit, Berlin 1983, S. 89-99. Vgl. auch ders., "Vertrieb und Werbung im Rigaer Buchhandel des 18. Jahrhunderts", in: Buch- und Verlasswesen im 18. und 19. Jahrlumde11. BeitriJge zur Geschichte der Kommunikation in Mittel- und Osteuropa, a.a.O., S. 253-262; W. Rosenberg. 'Johann Friedrich Steffenhagen als Verleger lettischer Literatur', in: ebd., S. 235-252. 40
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G. Robe)- Zur Aufklärung in Adelsgesellschaften: Rußland und Polen
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ren.46 Nach der Aufhebung des Lizenzierungszwanges für Druck- und Verlagshäuser (1783) entwickelte sich dann eine umfangreiche Konkurrenz auch russischer Typographien auf diesem Markt. Hier sind besonders zur Zeit Katharinas, die dies, darin ihrem vielberufenen Vorbild Peter dem Großen ähnlich, geradezu zum Programmpunkt ihrer Bildungspolitik machte, in großem Ausmaße Übersetzungen fremdsprachiger Werke, besonders deutscher, französischer und englischer, gedruckt worden,47 die sie auch dem nicht dieser Sprachen Kundigen erschlossen.48 Der Prozeß der Sprachentwicklung, der sich im Polnischen durch die Kommunikation mit dem westlichen Geistesleben kontinuierlich vollzogen hatte und vollzog, ist in Rußland in engster Verbindung mit der Rezeption der zeitgenössischen westlichen Literatur - der belletristischen wie der gelehrten während des 18. Jahrhunderts erfolgt. Brachte die petrinische Epoche mit der Profanierung der Literatursprache die Ablösung vom Kirchenslawischen,49 so vollzog sich seit der Jahrhundertmitte eine zunehmende Emanzipation von den Fremdsprachen, eine Entwicklung, die · im Bereich der Lexik am auffälligsten scheint,50 die aber den gesamten sprachlichen Bereich umfaßt.51 Die Erstellung einer normativen Grammatik, die Schaffung von Lehnwörtern anstelle der Übernahme von Fremdwörtern, die Eliminierung der kirchenslawischen Traditionen und schließlich die Einbeziehung der Umgangssprache in die Literatursprache in den letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts, in denen der Klassizismus als bestimmende literarische Richtung durch den Sentimentalismus abgelöst wurde, waren Etappen, die das Land innerhalb eines Jahrhunderts durchlief - eine außerordentliche Leistung, die dem rapiden Modernisierungsprozeß entsprach, dem es unterworfen wurde. Die Schaffung einer modernen Nationalsprache, die die Probleme des raschen kulturellen und wirtschaftlichen Wandels in ihrer zunehmenden Komplexität zu erfassen und bewußt zu machen vermochte, war zugleich kommunikative '"E. Amburger, "Buchdruck, Buchhandel und Verlage in St. Peterburg im 18. Jahrhundert", a.a.O., S. 203-212 (mit Angaben zu Übersetzungen). 47 A.G. Cross: "'S anglijskago': Books of English origin in Russian translation in Iate eighteenth-century Russia", in: Oxford S/avonic Paperli 19 (1986), S. 62-87 (Liste der übersetzten Werke: S. 77-87). Übersetzungen aus englischen aufklärerischen Zeitschriften in: Epocha prosvel~enija. lz istorii mddunarodnych svjazej russlcoj literatury, Leningrad 1967, S. 84-109, Goldoni-Übersetzungen in: ebd., S. 349-352. Vgl. auch I.E. Barenbaum, ''Natalo izdanija francuzkoj knigi v ROISÜ (pcrvaja ~ctvcrt XVDI v.'l', in: Kniga. Issledovanija i materialy. Sbornik 32 (1976), S. 93-106; V.P. Semennikov, SobraniB starajuJ~eesja o perevode inostrannych Jcnig, ~rddennoe Elcaterinoj II 1768-1783 gg.lstorilcoliteraturnoe issledovaniB, Sankt-Petersburg 1913. 48 Zur Rezeption westlicher Literatur vgl. u.a. den Sammelband: lpocha prosvel~enija. Iz istorii mezdunarodnych svjazej russlcoj literatury mit Beiträgen über die Wirkung der englischen Aufklärungsjournalistik (S. 3-79), Rousseaus (S. 208-281), Lessings (S. 281-306) und Goldonis (S. 307-352). 49 Vgl. U. Lehmann, "Russische Literatur der Übergangsepoche (1650-1730). Aktuelle Forschungsprobleme", in: H. GraBhoff (Hg.), Literaturbeziehungen im 18. Jahmunde11. Studien und Quellen zur deutsch-russischen und russisch-westeuropäischen Kommunikation, Berlin 1986, S. 190-204. "Der Vergleich zwischen dem im Erscheinen begriffenen Lexikon der russischen Sprache des 18. Jahrhunderts (Slovar' russogo jazyka XVIII veka. Vyp. 1-[3], Leningrad 1984-[1987]) und dem Dahl'schen Werk (V.I. Dal', To/kovyj slovar' zivogo velikorusskogo jazyka, Bde. 1-4, Sankt-Petersburg 1863-1868, Repr. Moskva 1955) zeigt dies deutlich.- Zu Dahl vgl. P. Pascal, "V.I. Dahl", in: Cahier du Monde Russe 1 (1959), S. 7-24; B. Brasol, "V.I. Dahl: immortal Russian Iexikographer", in: The Russian Review 23 (1964), S. 116-130. SI B.I. Bursov, Nacional'noe svoeobrazie russkoj literatury, Moskva 1964; C. Fleckenstein, Die russische Literaturliprache im 18. und zu Begrinn des 19. Jahmundens, a.a.O., S. 69-111.
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Vergleichende Perspektiven
Voraussetzung für die Entstehung einer sich vom Staat emanzipierenden Gesellschaft und den damit verbundenen MentalitätswandeL Dieser sprachliche Modernisierungsprozeß ist in Polen nicht in diesem Umfange erforderlich gewesen, weil das Polnische bereits früher eine profane Literatursprache entwickelt hatte. Allerdings waren auch hier die restaurativen Züge der Gegenreformation und des Barocks mitsamt des Sarmatismus zu überwinden.52 In Polen bestand bereits ein polnisches Theater - das Jesuitendrama hat wohl seine Entstehung geförderf3 -, in Rußland entstand trotz einiger Vorstufen54 ein nationales Drama erst unter Elisabeth, besonders gefördert nach der Errichtung des russischen Theaters in Petersburg (1756), dessen Leiter der u.a. auch durch seine Tragödien bekanntgewordene Sumarokoy55 wurde. Parallel dazu vollwg sich die Entwicklung der verschiedenen literarischen Genres, und, analog zur westlichen Entwicklung, der Übergang vom Klassizismus Lomonosovs und Sumarokovs zum Sentimentalismus, als dessen herausragender Vertreter Kararnzin erscheint. Aufklärung hat für diese russischen Dichter und Literaten primär Rezeption und später Adaption der westlichen Entwicklung bedeutet, Teilnahme Rußlands an der gesamteuropäischen kulturellen Entwicklung; ihre eigene Funktion war die des Mittlers, wobei auch hier zwischen einer eher kosmopolitisch-universalen, gesamteuropäischen Einstellung - etwa bei Novikov - und einer mehr patriotischen - als Exponent sei Fürst SCerbatoySii genannt - zu unterscheiden ist.57 Beide Richtungen haben (mit unterschiedlicher Intensität) nebeneinander bestanden, mit dem Regierungsantritt Katharinas II. dominierte die von ihr geförderte kosmopolitsch-universale, bis der Ausbruch der Französischen Revolution zu einem abrupten Wechsel der staatlichen Kulturpolitik führte, wie er durch den Sturz Novikovs,58 das Verbot der Freimaurer und den Fall RadiJcev gekennzeichnet ist. Dieser Wandel geht im literarischen Bereich mit dem Durchbruch des Sentimentalismus (Kritik an den sozialen
52 Vgl. dazu A. Brückner, Geschichte der polnischen Literatur, Leipzig 1901, S. 115-193; M. Kridl, A survey of Polish Iiterature and culture, s'Gravenhage 1956, S. 93-122. 53 A. Brückner, Geschichte der polnischen Literatur, a.a.O., S. 179-182; A. Szweykowska, Dramma per musica w teatrze Warow 1635-164& Kmta z dziejow barokowego dramatu, Krak6w 1976. 54 Unter Zar Aleksej Michajlovic bestand kurzfristig (1672-1676) eine Art Hoftheater unter Leitung
des Pastors der lutherischen Gemeinde Moskau, Georgii, doch erst unter Peter dem Großen fmdet sich in Moskau, später auch Petersburg, eine ausländische (zuerst deutsche) Theatertruppe. Liebhaberaufführungen, u.a. in den Kadettenkorps, gingen der Errichtung des russischen Theaters vorauf. "'A.P. Sumarokov (1718-1777), vgl. A.V. Zapadov, Polty XVIII veka, Moskva 1984, S. 62-113. "'M. Raeff, "State and nobility in the ideology of M.M. Shcherbatov", in: Slavic Review 19 (1960), s. 363-379. SI H. Schmidt, "Die russische Literatur des 18./19. Jahrhunderts als neuzeitliche Nationalliteratur. Persönlichkeits- und Nationalbewußtsein", in: LiteratuTbeziehungen im 18. Jahrhundert. Studien und Quellen zur deutsch-russischen und russisch-westeuropäischen Kommunikation, a.a.O., S. 205-220, weist zu Recht darauf hin, daß die Rezeption "bürgerlichen" Gedankengutes Auswirkungen auf Bewußtsein und Mentalität zur Folge hatte. Offen aber bleibt dabei, inwieweit derartige Veränderungen dazu führten, die sozialen und wirtschaftlichen Interessen des Adels zu überwinden. Das Erscheinen literarischer Motive und Topoi, die dichterische Verwertung oder Umsetzung von Gedankengut aus andersstrukturierten Gesellschaften bedarf hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Wirkung sorgfältiger Prüfung. ss G.H. Mac Arthur, "Catherine II and the masonic circle .:>f N.l. Novikov", in: Canadian Slavic Studies 4 (1970), S. 529-546.
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Defekten wird durch Mitgefühl mit deren Opfern ersetzt) einher: 1792 erschien Karamzins Bednaja Liza (Die arme Lisa), ein für die Entwicklung der russischen Literatur epochales Werk.59 Auch in der Historiographie, die für die Entwicklung der kollektiven Mentalität so bestimmend wurde, wird diese Entwicklung sichtbar, etwa im Vergleich der Werke Tatiscevs,60 der noch in der faktographischen annalistischen Moskauer Tradition steht, und Karamzins, 61 der es unternimmt, dem russischen Patriotismus ein breites Publikum zu gewinnen. Die Entfaltung und Entwicklung der Aufklärung ist in Rußland aufs Engste mit der Person und der Herrschaft Katharinas II. verknüpft.62 Sie hat nicht nur in ihren Memoiren ein Bekenntnis zu den Ideen und Zielen der Aufklärung abgelegt, sondern auch im Rahmen der sozialen und wirtschaftlichen Gegebenheiten sich um ihre Verwirklichung bemüht.63 Versuche, die führenden Köpfe der französischen Aufklärer zu gewinnen,64 scheiterten freilich ebenso wie die hochgesteckten Ziele ihrer ersten Regierungszeit Daß am Ende ihrer Herrschaft nach fast 34 Jahren politischen Gestaltens die Herrschafts- und Sozialverhältnisse sich nur wenig verändert hatten, ist den restaurativen Tendenzen zuzuschreiben, die sich schon nach dem Pupfcv39 H.M. Nebel Gr.), N.M. Koramzin, a Russian sentimentalist, Den Haag, Paris 1967; W. Gesemann, Die Entdeckung der unteren Volksschichten durch die russische Literatur. Zur Dialektik eines literarischen Motivs von Klmtemir bis Belinskij, Wiesbaden 1972, S. 135-149. Vgl. J. Dolansky, 'Deutsche Vorgänger von Karamzins 'Die arme Lisa", in: Slawisch-deutsche Wechselbeziehungen in Sprache, Literatur und IWItur, Berlin 1969, S. 310-320. Vgl. auch W. Mitter, 'Die Entwicklung der politischen Anschauungen Karamzins", in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 2 (1955), S. 165-285; ferner L.G. Kisljagina, Fonnirovanie ob§~estvenno-politi~eskich vzgljadov N.M. Karamzina (1785-1803), Moskva 1976; A.G. Cross, N.M. Koramzin: a study of a literary career, Carbondale/III. 1971. 60 V.N. Tatiscev, lstorija rossijskaja, Bde. 1-5, Sankt-Peterburg 1768-1848 (Neuausgabe: Bde.1-7, Moskva, Leningrad 1962-1968). Vgl. S. Blanc, Un disciple de Pien-e le Granddans Ia Russie du XVIIr si~cle, Lille 1m, 2 Bde. R.L. Daniels, V.N. Tatishchev, guardian of the Petrine revolution, Philadelphia
1973. 61 N.M. Karamzin, lstorija gosudantva rossijskaja, 12 Bde., Sankt-Peterburg 1818-1819 (Dt.: Geschichte des russisches Reiches, 11 Bde., Riga 1820-1833). Vgl. J.L. Black, Nicholas Koramzin and Russian society in the nineteenth century: a study in Russian political and historical thought, Toronto 1975. 62 Eine befriedigende Biographie Katharinas II. fehlt seit langem. Heranzuziehen ist noch immer A. Brückner, Katharina die Zweite, Berlin 1883; VA. Bil'basov, lstorija Ekateriny II, Berlin 1900, 2 Bde. Zur Herrschaft der Kaiserin: Isabel de Madariaga, Russia in the age of Catherine the Great, London 1981 (zur Kulturpolitilc, S. 327 ff., S. 488 ff., zu den Reformen S. 123 ff., S. 277 ff.). 61 Ungeachtet ihrer exzellent gehandhabten Kunst der Selbstdarstellung- auch in ihren Memoiren (dt.: Klltharina IL Memoiren, hg. v. A. Graßhoff, Leipzig, München 1987, 2 Bde.)- ist ihr Bekenntnis zur Aufklärung wohl mehr als ein bloßes Herrschaftsinstrument gewesen - wenn die "gekrönte Tochter der Aufklärung' sich auch ihres vielfach publizierten Ruhmes klug zu bedienen wußte. Vgl. D.M. Griffiths, 'Caterine II: the republican empress', in: Jahrbacher fiJr Geschichte Osteuropas. NP 21 (1973), S. 323344. Dagegen G. Sacke, Die Gesetzgebende Kommission Kiltharinas II. Ein Beitrag zur Geschichte des Absolutismus in Rußland, Breslau 1940, S. 35 ff. 64 Dazu A. Lortholary, Le mirage russe en France au XVIIr si~cle, Paris 1951, S. 79-170; vgl. auch D.S. von Mohrenschildt, Russia in the intellectuallife of eighteenth-century France, New York 1936 (Repr. 1m), S. 68-155; VA. Bil'basov, Didro v PeterlJurge, S.-Peterburg 1884; A. Wilson, "Diderot in Russia, 1m-1774', in: J.G. Garrard (Hg.), The eighteenth-century Russia, a.a.O., S.166-197. Zum britischen Einfluß, der besonders in der Tätigkeit der Freien Ökonomischen Gesellschaft (siehe Anm. 92) wirksam wurde, vgl. A.H. Brown, 'S.E. Desnitsky, Adam Smith, and the Nakaz of Catherine II', in: Oxford Slavonic Papers 1 (1974), S. 42-59; G. Sacke, "Die Moskauer Nachschrift der Vorlesungen von Adam Smith", in: Zeitschrift fiJr Nationalökonomie 9 (1938), S. 351-356; E. Donnert,
Politische Ideologie der russischen Gesellschaft zu Beginn der Regierun[peit Katharinas II. Gesellschaftstheorien und Staatslehren in der Ära des aufgeklärten Absolutismus, Berlin 1976, S. 118 ff.
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Vergleichende Perspektiven
Aufstand zeigten und die besonders unter dem Eindruck der Französischen Revolution dominierend wurden. 65 Die weiland Prinzessin Sophie von Anhalt-Zerbst hat in ihrem aufklärerischen Bemühen an eine Entwicklung anknüpfen können, die, in der Tradition der etatistischen Aufklärung stehend, bereits in den letzten Regierungsjahren Elisabeths einsetzte. Auch die Gründung erster Journale wie Gerhard Friedrich Müllers Ezemesjacnyja socinenija (1755) und Sumarokovs Trudoljubivaja pcela (1759) nach dem Vorbild der englischen moralischen Zeitschriften erfolgte unter den Auspizien des Staates, blieb Instrument zur moralischen Verbesserung der Untertanen im Sinne des wohlgeordneten Policey-Staates.'» Dieser Absicht diente zweifellos auch die von einem Strohmann Katharinas herausgegebene Vsjakina vsjaeina (Allerlei), an der die Kaiserin persönlich mitarbeitete. 67 Doch erklärter aufklärerischer Impetus der Kaiserin und wachsendes Selbstbewußtsein des Adels68 schufen einen Freiraum, der zumindest Ansätze einer Gesellschaftskritik ermöglichte. Der Bedarf an zusätzlicher Innovation und Initiative, über die administrativen Kapazitäten hinaus, erforderte die Erschließung ungenutzter Ressourcen, zu deren Mobilisierung auch die publizistischen Medien verhelfen sollten. So bietet das Ende der sechziger Jahre entstehende Zeitschriftenwesen eine Öffentlichkeit, die von Publizisten wie Novikov69 zur Diskussion gesellschaftlicher Defizite genutzt wurde, und zwar in einer Weise, die der Kaiserin oftmals nicht behagte: Seine drei einander folgenden Zeitschriften (1769-1774), deren programmatische Namen - Truten (Die Drohne), Zivopisec (Der Maler) und Koselek (Der Beutel) - bereits die Intention ihres Herausgebers verkündeten, verfielen ob ihrer Schärfe jeweils dem Verdikt. Novikovs Periodika standen jedoch in der Tradition der moralischen Wochenschriften. Gesellschaftskritik vollzog sich hier oft in Form der Satire,'70 als Kritik an individu"'J.T. Alexander, Autocratic politics in anational crisis. 7he imperial govemment and Pugochev's revolt, Bloomington/Ind. 1969; M. Raeff, "Pugachev's rebellion", in: Preconditions of revolution in early modern Europe, hg. v. R. Forsler u.a., Baltimore, London 1971, S. 161-202. - Zu bedenken ist ferner, daß Katharina als Usurpatorin während der Anfangsphase ihrer Herrschaft in besonderem Maße auf den Konsens mit der Aristokratie angewiesen blieb. G. Sacke, Die Gesetzgebende Kommission Klltharinas II. Ein Beitrag zur Geschichte des Absolutismus in Rußland, sieht sogar in der "Gesetzgebenden Kommission" einen taktischen Zug der Kaiserin gegen den Einfluß des Adels, S. 132 ff. 66 M. Raeff, 7he Weil Ordered Police State: Social and institutional change through law in the Gennaniesand Russia, 1600-1800, New Haven/Conn., London 1983; D. Geyer, '"Gesellschaft' als staatliche Veranstaltung. Sozialgeschichtliche Aspekle des russischen Behördenstaates im 18. Jahrhundert", a.a.O., S.27f. 67 P. Pekarskij, "Materialy dlja istorii !urnalnoj i literalurnoj dejatel'nosti Ekateriny II", in: Zapiski Imperatorskoj Alaulemii nauk (1863), kn. 3, prilo!cnic, S. 1-90; P.N. Berkov, Istorija russkoj zumalistiki, Moslcva 1952, S. 161 ff. 68 M. Raeff, "Staatsdienst, Außenpolitik und Ideologien", in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. NF 7 (1959), S. 155 ff., weist auf das wachsende Selbstbewußtsein des Adels im Staatsdienst hin. Vgl. auch R.M. Jones, The emancipation of the Russian nobility, 1762-1785, Princeton/NJ. 1973; W. Leitsch "The Russian nobility in the eighteenth century'', in: East European Quarterly 11 (1977), S. 311-340; D. Geyer, "'Gesellschaft' als staatliche Veranstaltung. Sozialgeschichtliche Aspekte des russischen Behördenstaates im 18. Jahrhundert", a.a.O., S. 29 ff. (S. 30 "Rekrutierung adliger Privatleute").