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German Pages 263 Year 1998
Schriften zum Prozessrecht Band 144
Anscheinsbeweis im Strafprozeß Am Beispiel der Feststellung von Kausalität und von Dispositionsprädikaten
Von
Christoph Markus Müller
Duncker & Humblot · Berlin
CHRISTOPH MARKUS MÜLLER
Anscheinsbeweis im Strafprozeß am Beispiel der Feststellung von Kausalität und von Dispositionsprädikaten
Schriften zum Prozessrecht Band 144
Anscheinsbeweis im Strafprozeß am Beispiel der Feststellung von Kausalität und von Dispositionsprädikaten
Von Christoph Markus Müller
Duncker & Humblot • Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Müller, Christoph Markus: Anscheinsbeweis im Strafprozeß am Beispiel der Feststellung von Kausalität und von Dispositionsprädikaten / von Christoph Markus Müller. - Berlin : Duncker und Humblot, 1998 (Schriften zum Prozessrecht; Bd. 144) Zugl.: Freiburg (Breisgau), Univ., Diss., 1997/98 ISBN 3-428-09490-5
Alle Rechte vorbehalten © 1998 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0219 ISBN 3-428-09490-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ©
Für Johanna Adelheid
Vorwort Die Arbeit hat der Juristischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau im Wintersemester 1997/98 als Dissertation vorgelegen. Das Manuskript wurde im Juli 1996 abgeschlossen. Herzlich danken möchte ich an dieser Stelle vor allem Herrn Professor Dr. Wolfgang Frisch, der die Arbeit betreut und mich in der Zeit als Assistent an seinem Lehrstuhl und auch darüber hinaus stets unterstützt hat. Danken möchte ich auch Herrn Professor Dr. René Bloy für die rasche Erstellung des Zweitgutachtens. Außerdem bin ich der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg zu Dank verpflichtet, die mir im Rahmen der Landesgraduiertenförderung für die Fertigstellung der Arbeit ein Stipendium gewährt hat. Eine große Hilfe waren mir Rainer Strnad und Dr. Uwe Murmann, die das Manuskript Korrektur gelesen haben und mir wertvolle Anregungen geben konnten, sowie Dr. Joachim Vogel für manch nützliche Hinweise; auch ihnen allen möchte ich danken. Eine unschätzbare Hilfe war insbesondere Dr. Johanna Adelheid Lüpfert, die ständiger Diskussionspartner war und in vielfältiger Weise zur Fertigstellung des Werkes beitrug. Nicht zuletzt steht meinen Eltern ein herzlicher Dank zu, die mich auf meinem Werdegang stets fürsorglich begleitet und gefördert haben. Berlin, im März 1998
Christoph Markus Müller
Inhaltsverzeichnis Einleitung
19
Erster Teil Anwendbarkeit des Anscheinsbeweises im Strafprozeß § 1 Der Anscheinsbeweis im Zivilprozeß
23
I. Vorbemerkung
23
IL Entwicklung des Anscheinsbeweises durch die zivilrechtliche Rechtsprechung
24
1. Grundsätze des Anscheinsbeweises
24
2. Anwendungsbereich
26
III. Dogmatische Einordnung des Anscheinsbeweises
27
1. Beweislasttheorie
29
2. Beweismaßtheorie
30
3. Beweiswürdigungstheorie
31
4. Materiell-rechtliche Theorie
32
§ 2 Anscheinsbeweis und Strafprozeß I. Bestandsaufnahme der grundsätzlichen Auffassungen zum Anscheinsbeweis im Strafprozeß II. Das Alternativenausschluß verfahren § 3 Fallkonstellationen für die Anwendung eines Anscheinsbeweises im Strafprozeß I. Anscheinsbeweis bei der Kausalitätsfeststellung 1. Feststellung der physischen Kausalität a) "Schuß-Fall" und "Doppelschuß-Fall" aa) Die materiell-rechtlichen Kausalitätsformeln
34 34 37
40 40 41 41 42
Inhaltsverzeichnis
10
(1) Conditio sine qua non-Formel
42
(2) Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung
44
(3) Bedeutung beider Formeln
45
bb) Prozessuale Feststellung der Kausalität b) "Contergan-Fall"
46 47
aa) Das Feststellungsproblem
47
bb) Ansicht von Armin Kaufmann
48
cc) Ansicht des LG Aachen
49
c) "Leder spray-Fall"
51
aa) Ansicht des BGH
51
bb) Stellungnahmen aus der Literatur
53
(1) Allgemeines Stimmungsbild
53
(2) Die Auffassung von Samson
54
(3) Die Auffassung von Puppe
55
cc) Ergebnis zur Unterscheidung zwischen "Contergan-" und "Lederspray-Fall" 55 d) "Speiseöl-Fall"
57
e) "Holzschutzmittel-Fall"
58
2. Feststellung der psychischen Kausalität II. Anscheinsbeweis bei der Feststellung von Rechtsbegriffen, die eine "Fähigkeit" implizieren
59 61
1. Fahruntüchtigkeit
61
2. Schuldfähigkeit
64
3. Vermeidbarkeit der Verbotsunkenntnis
65
4. Feststellung der hypothetischen Kausalität beim sog. Pflichtwidrigkeitszusammenhang
65
III. Anscheinsbeweis bei der Feststellung des Nichtbestehens von Rechtfertigungs- bzw. Entschuldigungsgründen
68
IV. Zwischenresümee
69
§4 Wissenschaftstheorie und juristische Tatsachenfeststellung I. Feststellung von Tatsachen mittels Erfahrungssätzen 1. Herleitung der Erfahrungssätze
71 72 72
Inhaltsverzeichnis 2. Deterministische und probabilistische Erfahrungssätze
73
3. Das Induktionsproblem
74
n. Erklärungsmodelle in der Wissenschaftstheorie
77
1. Erklärung und Prognose
77
2. Deduktiv-nomologische Erklärung
78
a) Modell der deduktiv-nomologischen Erklärung
78
b) Typen rudimentärer Erklärungen
80
aa) Grundsätzliche Unvollständigkeit und Unabgeschlossenheit von Erklärungen
80
bb) Erklärungsskizze, Pseudoerklärung und Erklärbarkeitsbehauptung
81
cc) Unterscheidung von Stegmüller
82
c) Erklärung und Begründung
83
3. Induktiv-statistische Erklärung
84
a) Modell der induktiv-statistischen Erklärung
84
b) Bedeutung der Wahrscheinlichkeit für die Tatsachenfeststellung
84
aa) Klassische Wahrscheinlichkeit
86
bb) Grenzwertdefinition
88
cc) Subjektive oder personelle Wahrscheinlichkeit
89
dd) Wahrscheinlichkeit als theoretische Größe (logische Wahrscheinlichkeit)
91
ee) Ergebnis
92
4. Modell der pragmatischen Erklärung
94
III. Wissenschaftstheoretische Auffassungen zu besonderen Bezugspunkten strafrechtlicher Tatsachenfeststellung
95
1. Kausalität
95
a) Notwendige Bedingung
95
b) Irreale Konditionalsätze
96
c) Inus-Bedingung
97
d) Naturgesetze
99
2. Dispositionsprädikate a) Die Problemstellung bei den Dispositionsprädikaten
101 101
Inhaltsverzeichnis
12
b) Erklärungsversuche
102
aa) Definitions versuch mittels einer Implikation
102
bb) Definitions versuch mittels "wenn-dann"-Beziehung
102
cc) Andere Definitionsversuche
103
dd) Lösung von Carnap mittels sog. Reduktionssätze
103
ee) Dispositionsprädikate als theoretische Begriffe
103
3. Motivationskausalität
104
a) Kausale Erklärung
105
b) Intentionale Erklärung
107
IV. Ergebnis
108
§ 5 Argumente gegen die Zulässigkeit des Anscheinsbeweises im Strafprozeß 109 I. Argument, daß der Anscheinsbeweis streitiges Verhandeln voraussetze 109 1. Beibringungsgrundsatz versus Untersuchungsgrundsatz
109
2. Ergebnis
112
3. Exkurs: Vereinbarkeit von Anscheinsbeweis und Untersuchungsgrundsatz im Verwaltungsprozeß 112 H. Argument, daß der Anscheinsbeweis zu einer unzulässigen Beweislastumkehr führe 114 1. Objektive Beweislast und in dubio pro reo-Grundsatz
115
2. Subjektive Beweislast und Unschuldsvermutung
116
3. Ergebnis
118
HI. Argument, daß der Anscheinsbeweis unzulässig sei, da er keinen "Vollbeweis" darstelle 119 1. Die Redeweise vom "Vollbeweis" als Frage nach der Verfehlung der materiellen Wahrheit 119 a) Die philosophische Auffassung von Wahrheit
120
aa) Korrespondenztheorie
121
bb) Kohärenztheorie
121
cc) Semantische Theorie
122
dd) Diskurstheorie
122
Inhaltsverzeichnis h) Ergebnis: Funktionaler Wahrheitsbegriff für den Strafprozeß
123
2. Die an den strafprozessualen Beweis zu stellenden Anforderungen ... 124 a) Vollbeweis" versus bloßer Verdacht
124
aa) Begriff des Verdachts
124
bb) Begriff des Vollbeweises
125
cc) Ergebnis
126
b) Keine Bedeutung des materiell-rechtlichen Schuldgrundsatzes in diesem Zusammenhang 128 c) Die erforderlichen Mindestfeststellungen - insbesondere die Opferindividualisierung 129 3. Ergebnis
130
IV. Argument, daß mit der Anwendung eines Anscheinsbeweises eine Minderung des erforderlichen Beweismaßes auf unzulässige bloße Wahrscheinlichkeit verbunden sei 131 1. Bedeutung der Wahrscheinlichkeit
131
2. Ergebnis
133
V. Argument, daß die bei einem Anscheinsbeweis verwendeten Erfahrungssätze infolge ihrer den Tatrichter bindenden Wirkung gegen die Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung verstießen 133 1. Der Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung
134
a) Inadäquität von "Überzeugung" als dem für die Tatsachenfeststellung maßgeblichen Topos 134 b) Die Grenzen der freien richterlichen Beweis Würdigung
136
aa) Kritik des herkömmlichen Verständnisses
136
bb) Bedeutung der Erfahrungssätze im Strafrecht
138
2. Ergebnis
140
VI. Argument, daß der Anscheinsbeweis unzulässigerweise das materielle Recht umgestalte 142 1. Normentheoretische Betrachtung
143
a) Verhaltensnormen
143
b) Sanktionsnormen
145
c) Entscheidungsnormen
145
2. Relativität des Anscheinsbeweises - das Verhältnis von materiellem Recht und Prozeßrecht 146
14
Inhaltsverzeichnis 3. Ergebnis
148
VII. Zwischenergebnis für den Anscheinsbeweis § 6 Abgrenzung des Anscheinsbeweises zum Indizienbeweis
149 150
I. Klärung beweisrechtlicher Begriffe
150
1. Direkter und indirekter Beweis
150
2. Verhältnis von Anscheins- und Indizienbeweis zum indirekten Beweis 152 3. Indizienkette und Indizienring
153
II. Ablehnung der vorgebrachten Abgrenzungsmerkmale von Anscheinsbeweis und Indizienbeweis 154 1. Kein logischer Unterschied
154
2. Kein Unterschied von Anzahl oder Stärke der jeweils verwendeten Erfahrungssätze 155 a) Gesichtspunkt der Anzahl der verwendeten Erfahrungssätze
155
b) Gesichtspunkt der Stärke der verwendeten Erfahrungssätze
156
c) Begriff des Erfahrungsgrundsatzes
156
d) Ergebnis
157
3. Kein Unterschied in der Typizität des Sachverhalts
158
4. Kein Unterschied in der Sachverhaltsaufklärung
159
III. Ergebnis: Anscheins- und Indizienbeweis nur ein Scheingegensatz
160
IV. Ergebnis des Ersten Teils und Folgerungen für die Anwendbarkeit des Anscheinsbeweises 161
Zweiter Teil Ausgestaltung des Anscheinsbeweises im Strafprozeß
§ 7 Normative Konzeption des Anscheinsbeweises I. Abgrenzungsfragen
163 163
1. Keine Bedeutung der revisionsrichterlichen Perspektive
163
2. Bedeutung der Subjektivität
165
3. Abgrenzung der für die richterliche Tatsachenfeststellung relevanten Zweifel 167
Inhaltsverzeichnis a) Die grundsätzlich für unbeachtlich zu erklärenden Zweifel
167
b) Abgrenzung nach "nicht ganz fernliegenden" und "sich gerade noch nicht aufdrängenden" Zweifeln 169 c) Unterscheidung in "fallbezogene" und "abstrakte" Zweifel
171
d) Die zur Objektivierung der freien richterlichen Beweiswürdigung verwendeten Kriterien 172 aa) Intersubjektivität
172
bb) Nachvollziehbarkeit
174
cc) Plausibilität
174
dd) Evidenz
174
II. Materiale Leitlinien des Anscheinsbeweises
175
1. Legitimation des Urteils
175
2. Einwand gegen eine Legitimationskonzeption und Gegenkritik
177
3. Ausrichtung der Legitimation am Zweck des Strafrechts und des Strafprozesses 178 a) Keine erkenntnisstiftende Funktion der zumeist formulierten Prozeßziele "Wahrheit" und "Gerechtigkeit" 178 b) Funktion des Strafrechts
179
aa) Rechtsgüterschutz
180
bb) Normstabilisierung
181
4. Struktur des Anscheinsbeweises und vergleichbare Ansätze
182
a) Die Regelannahmen
182
b) Normallfallanahmen bei Dencker
184
c) Vergleichbarer Ansatz von Marxen
185
d) Alternativenausschluß im konkreten Fall als zweite Komponente des Anscheinsbeweises 186 § 8 Anforderungen an die beim Anscheinsbeweis verwendeten Erfahrungssätze am Beispiel der generellen Kausalität 188 I. Grundsätzliche Zulässigkeit auch bloß statistischer Erfahrungssätze
189
II. Benennung und Relevanz
190
1. Benennung
190
2. Relevanz
192
Inhaltsverzeichnis
16 3. Bewährung
192
IE. Stützung
193
IV. Erheblichkeit der Stützung
194
1. Keine besonderen Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit der Erfahrungssätze 195 2. Akzeptanz des Erfahrungssatzes
196
a) Bedeutung des Kriteriums "Akzeptanz"
196
b) Frage der Entscheidungskompetenz
196
c) Konkretisierung des Kriteriums "Akzeptanz"
198
§ 9 Anscheinsbeweis bei besonderen Regelannahmen
201
I. Regelannahmen für die Feststellung bestimmter Dispositionsprädikate 201 1. Feststellung der Fahruntüchtigkeit
202
a) Fahruntüchtigkeit als Dispositionsprädikat
202
b) Ausgestaltung der Regelannahme Fahruntüchtigkeit
203
c) Sog. absolute Fahruntüchtigkeit
205
d) Frage der Entscheidungskompetenz
206
e) Frage der Einordnung der Fahruntüchtigkeit
206
f) Verhältnis zwischen Empirie und Normativität
207
2. Feststellung der Schuldfähigkeit
208
3. Feststellung der Verbotskenntnis
210
4. Feststellung des sog. Pflichtwidrigkeitszusammenhangs
211
5. Feststellung der psychischen Kausalität
214
II. Feststellung des NichtVorliegens von Rechtfertigungs- bzw. Entschuldigungsgründen 215 III. Anscheinsbeweis im Vorverfahren?
217
§ 10 Alternativenausschluß beim Anscheinsbeweis im konkreten Fall
219
I. Umfang der Beweisaufnahme beim Anscheinsbeweis
219
1. Bedeutung der Aufklärungspflicht für den Anscheinsbeweis
220
2. Reichweite der Aufklärungspflicht
221
a) Möglichkeit und Zulässigkeit der Beweisaufnahme
221
Inhaltsverzeichnis b) Verhältnismäßigkeit der Beweisaufnahme
222
aa) Geeignetheit und Erforderlichkeit weiterer Aufklärung zur Normstabilisierung 223 bb) Angemessenheit weiterer Aufklärung als Entscheidung für das überwiegende Interesse 223 II. Angemessenheit der Ausdehnung der Beweisaufnahme und Ergebnis für den Anscheinsbeweis 224 1. Falls tatsächliche Anhaltspunkte für eine Geschehensalternative vorliegen 224 2. Falls keine tatsächlichen Anhaltspunkte für eine Geschehensalternative vorliegen, aber etwas für ihr Vorliegen vorgebracht wird 225 a) Irrelevanz, wer die Alternativen vorbringt
225
b) Widerlegung der vorgebrachten Alternativen
226
3. Falls keine tatsächlichen Anhaltspunkte für eine Geschehensalternative vorliegen und auch nichts für ihr Vorliegen vorgebracht wird 227 a) Interesse des Angeklagten
228
b) Interesse der Allgemeinheit - Prozeßökonomie als "Kosten" des Verfahrens im weitesten Sinne 230 c) Berücksichtigung schutzwürdiger Interessen Dritter
231
d) Interessenausgleich
232
e) Einzustellende Kriterien für den Interessenausgleich
233
aa) Vorliegen eines Geständnisses
233
bb) Bedeutung der Sache
234
(1) Allgemein zur Bedeutung der Sache
235
(2) Vergleich mit dem Strafbefehlsverfahren
236
(3) Weitere Fälle der Funktionalisierung von Wahrheit
236
(4) Gesichtspunkt der Prozeßökonomie
237
(5) Zweifelsregelung
239
III. Gesamtergebnis des Zweiten Teils
2 Müller
239
Schrifttumsverzeichnis
241
Sachverzeichnis
25 8
Abkürzungsverzeichnis Abs.
Absatz
AcP
Archiv für die civilistische Praxis
Anh.
Anhang
Anm.
Anmerkung
ARSP
Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie
AT
Allgemeiner Teil
BGBl.
Bundesgesetzblatt
ders.
derselbe
DRiZ
Deutsche Richterzeitung
EG
Einführungsgesetz
Einl.
Einleitung
Fn.
Fußnote
FS
Festschrift
GA
Goltdammer's Archiv für Strafrecht
GS
Gedächtnisschrift
h.M.
herrschende Meinung
JR
Juristische Rundschau
Jura
Juristische Ausbildung
JuS
Juristische Schulung
JZ
Juristenzeitung
MDR
Monatsschrift für Deutsches Recht
NJW
Neue Juristische Wochenschrift
NStZ
Neue Zeitschrift für Strafrecht
NZV
Neue Zeitschrift für Verkehrsrecht
Rn.
Randnummer
S.
Seite
st. Rspr.
ständige Rechtsprechung
VersR
Versicherungsrecht
zit.
zitiert
ZStW
Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft
ZUR
Zeitschrift für Umweltrecht
ZZP
Zeitschrift für Zivilprozeß
Einleitung Die Themenstellung dieser Arbeit "Anscheinsbeweis im Strafprozeß" wirkt auf den ersten Blick ungewöhnlich. Denn der Anscheinsbeweis ist im Zivilund im Verwaltungsprozeß anerkannt, für den Strafprozeß wird er jedoch fast einhellig abgelehnt. Der Begriff "Anscheinsbeweis" klingt für den Strafprozeß zunächst nach einer ungerechtfertigten Verdachtsstrafe; es umweht ihn das Odium des Beliebigen. Unter Anscheinsbeweis wird im Zivilprozeß eine Beweisart verstanden, die aufgrund eines typischen Geschehensablaufs geführt wird, wenn zudem keine ernsthaften Möglichkeiten bestehen, die für einen atypischen Verlauf sprechen1. Im Strafprozeß scheint es zwingend, für eine Verurteilung, die ja in höchstem Maße in Grundrechte des Angeklagten eingreift, einen "richtigen" Beweis ohne irgendwelche Einschränkungen zu verlangen. Dies - so könnte man denken - schließe einen bloßen Anscheinsbeweis aus. Vor allem bedeute seine Anwendung einen Verstoß gegen den für den Strafprozeß fundamentalen Grundsatz der Unschuldsvermutung und sei schon deshalb untragbar 2. Die Ablehnung des Anscheinsbeweises im Strafprozeß wird als so selbstverständlich angesehen, daß entweder auf den Anscheinsbeweis gar nicht erst eingegangen wird oder gegen ihn sprechende Gründe nur recht pauschal und apodiktisch vorgebracht werden. Eine Diskussion des Themas innerhalb des Strafrechts findet so gut wie nicht statt3. Diese dogmatische Zurückhaltung ist aber angesichts der mit dem Anscheinsbeweis verbundenen zahlreichen Unklarheiten aus zwei Gründen problematisch. Erstens kann davon, welche der zum Anscheinsbeweis im Zivilprozeß vertretenen Theorien man für richtig hält, auch seine Zulässigkeit im Strafprozeß abhängen. Zweitens spricht viel dafür, daß von der strafrechtlichen Rechtsprechung in manchen Fällen eine Art Anscheinsbeweis - wenn auch unausgesprochen — verwendet wird. Entgegen gegenteiliger Beteuerungen existieren dem Anscheinsbeweis verblüffend ähnliche Strukturen und Überlegungen in der tatsächlichen Handhabung bestimmter Beweisfragen. Die tatrichterliche Rechtsprechung begnügt sich in zahlreichen Fällen entgegen 1 2 3
2*
Siehe unten § 1. Dazu und zu weiteren Argumenten näher unten § 5. Zu Ansätzen einer Diskussion unten § 2 I.
20
Einleitung
dem eigentlich erhobenen Anspruch, einen Vollbeweis zu fuhren, mit Feststellungen, die einem Anscheinsbeweis zumindest nahekommen. So werden mitunter widerlegbare Beweisregeln formuliert, die strukturell genau denen entsprechen, die im Zivilrecht beim Anscheinsbeweis Verwendung finden. Verbrämt wird diese Vorgehensweise mit dem Hinweis auf die freie richterliche Überzeugungsbildung. Zudem kann sich der Anscheinsbeweis wegen der mangelnden theoretischen Durchdringung im Strafrecht unkontrolliert entfalten und eine Rolle spielen, die ihm nach allgemeiner Meinung gerade nicht zukommen soll. Wenn der Anscheinsbeweis im Strafprozeß gar nicht erst für diskussionswürdig befunden wird, muß zwangsläufig im Unklaren bleiben, ob eine Anwendung nicht doch denkbar und wie eine Grenzziehung dann vorzunehmen wäre. Es ist eine bislang offene Frage, ob die Struktur der Urteilsfindung in bestimmten Fällen Regeln gehorcht oder vielleicht sogar gehorchen muß, in denen sich Grundgedanken des Anscheinsbeweises wiederfinden - mag es auch das Rechtsinstitut "Anscheinsbeweis" als solches im Strafprozeß nicht geben. Die im Umfeld dieser Beweisform liegenden Fragen verdienen es jedenfalls, ans Tageslicht gebracht zu werden. Diese Arbeit versucht daher der Denkform des Anscheinsbeweises im Strafrecht Orientierung und Konturen zu verleihen. Es wird im Fortgang der Untersuchung sichtbar werden, daß die auf die Situation im Strafprozeßrecht gemünzte Bemerkung, die Aussagen zu den Anforderungen an einen rechtsgenügenden Beweis ließen erheblich zu wünschen übrig 4, seine Berechtigung hat. Diese Abhandlung soll mit dazu beitragen, diesem im einzelnen noch aufzuzeigenden Mangel abzuhelfen. Die Lösung des Problems des Anscheinsbeweises ist im Kontext der gesetzlichen Regelungen der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 261 StPO5), des Prinzips der Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2) und der Anforderungen an die Urteilsfeststellungen (§ 267) zu suchen6. Es wird sich dabei zeigen, daß diese Normbereiche, die meist nur getrennt betrachtet werden, miteinander zusammen- und voneinander abhängen. Die Arbeit ist in zwei Hauptteile gegliedert. Im ersten Hauptteil geht es um das logisch vorrangige "Ob" des Anscheinsbeweises. Struktur und dogmati4
Freund , GA 1995, 4 (17 Fn. 35); ähnl.ders., GA 1993, 49 (65). Demgegenüber findet sich z.B. bei Prittwitz, S. 87, die Äußerung, das Entscheidungsverfahren vor den Strafgerichten sei "vergleichsweise gut strukturiert", wobei er allerdings selbst die Vagheit der dabei verwendeten Begriffe einräumt. 5 Im folgenden sind alle Paragraphen ohne Gesetzesbezeichnung solche der Strafprozeßordnung (StPO) in der Fassung vom 07.04.1987 (BGBl. I S. 1074, ber. S. 1319), zuletzt geändert am 19.07.1996 (BGBl. I S. 1014). 6 So Volk, GA 1973, 161 (166).
Einleitung
sehe Erklärungsversuche des Anscheinsbeweises werden vom Zivilrecht ausgehend dargestellt (§1). Denn zum einen liegen die Wurzeln des Anscheinsbeweises im Zivilrecht und zum anderen ist wegen der fehlenden Diskussion im Strafrecht naturgemäß auch keine eigenständige strafrechtliche Dogmatik vorhanden. In § 2 wird der Meinungsstand zum Anscheinsbeweis im Strafprozeß angeführt und ein Verfahren vorgestellt, das nach der hier vertretenen Auffassung jeder Beweisführung zugrundeliegt, das Alternativenausschluß verfahren. Sodann wird, um zu verdeutlichen, von welchen Fallkonstellationen und Problemfeldern in dieser Arbeit die Rede sein soll, erörtert, ob ein Anscheinsbeweis im Strafprozeß bereits — wenn auch stillschweigend - praktiziert wird (§ 3). Es geht also vorerst um die Feststellung von Strukturen, die in praxi bereits vorhanden sind. In § 4 wird vom Blickwinkel der Wissenschaftstheorie aus der Frage nach dem allgemeinen Bezugspunkt der Tatsachenfeststellung und dem damit jeweilig richtigen Ansatzpunkt für die Lösung nachgegangen. Danach erfolgt in § 5 die Auseinandersetzung mit den verschiedenen, einen Anscheinsbeweis im Strafprozeß ablehnenden Argumenten. Aufschlußreich ist es u.a. zu ergründen, wieso der Anscheinsbeweis im Verwaltungsprozeß allgemein akzeptiert ist, für das Strafrecht aber ganz abzulehnen sein soll, obwohl hier wie dort der Untersuchungsgrundsatz herrscht. Die Argumente spiegeln zugleich wider, welche Grundsatzfragen hinter der Gesamtproblematik des Beweises stecken. Dabei wird sich zeigen, daß sich hinter der Thematik "Anscheinsbeweis" insbesondere die normativ zu lösende Frage nach einer adäquaten Tatsachenfeststellung verbirgt. Den ersten Teil abschließend wird in § 6 der dem Anscheinsbeweis stark ähnelnde und strukturell nahestehende, gleichwohl aber im Strafprozeß anerkannte Indizienbeweis untersucht. Der zweite Hauptteil behandelt das "Wie" des Anscheinsbeweises, das heißt seine mögliche Ausgestaltung und seine Grenzen im Strafprozeß. Auch das Beweisverfahren des Anscheinsbeweises wird als ein Alternativenausschlußverfahren verstanden, das auf einem Anschein beruht, dem keine empirischen Anhaltspunkte widersprechen (§7). Die Begriffe "Anschein", "Vermutung" und "Verdacht" hören sich zwar nach einer ungesicherten Unterstellung an und werden daher gewöhnlich gerade als Abgrenzungsbegriffe zu einem für eine Verurteilung ausreichenden Beweis verwendet. M.E. können sie jedoch auch im Zusammenhang mit einem rechtsrichtigen Beweis sachlich korrekt gebraucht werden, wenn - und das ist entscheidend - die Legitimationskriterien für eine Verurteilung im Strafprozeß eingehalten worden sind. Sind sie das nicht, kann mit gleichem Recht der Begriff "Verdacht" etc. benutzt werden, nur kommt es darauf nicht an: Entscheidend ist nicht die Verwendung dieser Begriffe, sondern die Struktur einer akzeptablen Beweisführung. Ein Anschein bzw. ein Verdacht leitet die Beweisaufnahme ein und führt durch den ganzen Prozeß hindurch, ist aber andererseits ständig möglichen Widerle-
22
Einleitung
gungen ausgesetzt. Freilich darf am Ende nur ein solcher "Verdacht" stehen, der auch wohlbegründet, legitimierbar und überzeugend genug ist, eine Verurteilung rechtfertigen zu können. Erst dann ist es angezeigt, nicht mehr von "Verdacht" zu sprechen, sondern von einem Voll-Beweis. Dies ändert jedoch nichts daran, daß die Grundlage eines jeden Urteils nur eine mehr oder weniger gut bestätigte Hypothese ist 7 , die aus bestimmten Gründen für erhärtet betrachtet wird - und dies, obwohl in der Regel noch rationale Zweifel bestehen bleiben. Nach der Grundlegung des eigenen Verständnisses wird das favorisierte Modell anhand des Legitimationsaspekts weitergeführt (§ 8). Es wird aufgezeigt, welche Leitlinien dafür bestimmend sind. Davon ausgehend wird ein Kriterium für die Überprüfung der beim Anscheinsbeweis Verwendung findenden Erfahrungssätze anhand der Feststellung der generellen Kausalität erarbeitet. In § 9 werden sodann weitere sog. "Regelannahmen" dargestellt, die der Feststellung strafrechtlich relevanter Fähigkeiten bzw. Eigenschaften dienen. Auch sie werden auf ihre Legitimierbarkeit hin überprüft. § 10 behandelt schließlich den möglichen Ausschluß der Erfahrungssätze bzw. der Regelannahmen im konkreten Fall. Es wird versucht, Regeln für die Behandlung der bei der Tatsachenfeststellung verbleibenden Zweifel aufzustellen. Hierbei sind im Ergebnis die widerstreitenden Interessen der Beteiligten zum Ausgleich zu bringen. In dieser Untersuchung können schon aus Platzgründen nicht alle möglichen Anwendungsfälle eines Anscheinsbeweises betrachtet werden. Die Arbeit beschränkt sich daher - ohne daß dadurch das grundsätzliche Verständnis von Struktur und Legitimation eines Anscheinsbeweises im Strafrecht verloren ginge - im wesentlichen auf die Anwendungsfälle der Kausalität, der Fahruntüchtigkeit und des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs. Insbesondere bleiben Feststellungsfragen im Bereich des subjektiven Tatbestands ausgeklammert, worüber eingehende Untersuchungen bereits vorliegen8.
7
Käßer , S. 4; Kindhäuser , Jura 1988, 290 (290). Hruschka , Über Schwierigkeiten mit dem Beweis des Vorsatzes, Festschrift für Theodor Kleinknecht, 1985, S. 191 ff.; Vest , Vorsatznachweis und materielles Strafrecht, 1986 und insbesondere Freund , Normative Probleme der 'Tatsachenfeststellung". Eine Untersuchung zum tolerierten Risiko einer Fehlverurteilung im Bereich subjektiver Deliktsmerkmale, 1987. Ebenso gibt es schon eine Untersuchung zum Anscheinsbeweis bei der Fahrlässigkeit, Volk , GA 1973, 161 (161 ff.). 8
Erster Teil
Anwendbarkeit des Anscheinsbeweises im Strafprozeß § 1 Der Anscheinsbeweis im Zivilprozeß I. Vorbemerkung Bei der Untersuchung der Frage, ob und wie der Anscheinsbeweis im Strafprozeß anwendbar sein könnte, stellt sich das Problem, daß der Anscheinsbeweis meist aus einem rein zivilprozessualen Blickwinkel betrachtet wird. Man könnte etwa auf den Gedanken kommen, daß der Anscheinsbeweis das Streitmodell des Zivilrechts mit Kläger und Beklagtem voraussetze und ausschließlich dafür maßgeschneidert sei. An einer solchen Betrachtungsweise ist zwar durchaus richtig, daß die Thematik Anscheinsbeweis in engem Zusammenhang mit dem Zivilprozeß steht, weil der Anscheinsbeweis nun einmal dorther stammt. Es kann daher auch nicht verwundern, daß er gewissermaßen phänotypisch den dort gegebenen prozessualen Bedürfnissen angepaßt ist. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, daß diese dem Zivilprozeß verpflichtete Perspektive für eine strafprozessuale Betrachtung des Anscheinsbeweises die Gefahr einer Verzerrung birgt. Insbesondere dann, wenn die mit Sicherheit bestehenden Eigenständigkeiten und Besonderheiten des Strafprozesses nicht genügend Beachtung fanden. Andererseits stehen die verschiedenen Prozeßordnungen beweisrechtlich aber auch nicht völlig isoliert nebeneinander, sondern haben ähnliche, z.B. erkenntnistheoretische, Probleme mit durchaus vergleichbaren Mitteln zu lösen. Wegen der engen Verzahnung der Problematik mit dem Zivilrecht ist die Abklärung zwangsläufig auch mit den Streitigkeiten aus der zivilrechtlichen Diskussion belastet. Denn im Zivilrecht sind die mit dem Anscheinsbeweis zusammenhängenden Fragen noch keineswegs abschließend geklärt; es bestehen in vielen Punkten grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten. Dazu trägt bei, daß der Anscheinsbeweis nicht gesetzlich geregelt, sondern ein Produkt der Praxis ist. Die zivilprozessuale Rechtsprechung enthält sich jedoch einer genauen dogmatischen Klärung und die Lehre ist sich in der Bewertung uneins.
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§ 1 Der Anscheinsbeweis im Zivilprozeß
II. Entwicklung des Anscheinsbeweises durch die zivilrechtliche Rechtsprechung 1. Grundsätze des Anscheinsbeweises
Im Zivilprozeß ist der Anscheinsbeweis in auffälligem Gegensatz zum Strafprozeß eine praktisch außerordentlich bedeutsame Erscheinung1. Der Begriff "prima-facie-Beweis" taucht in der Rechtsprechung des Reichsgerichts zum ersten Mal in einem Urteil des Jahres 1888 auf 2. Bei dem "prima-facieBeweis" handelte es sich allerdings nicht um etwas in der Sache völlig Neuartiges, sondern um die Übernahme von Beweislastregeln, die — durch Art. 14 Abs. 2 Satz 3 EGZPO eigentlich abgeschafft - im Rechtsleben fortwirkten und weiterhin von der Rechtsprechung angewendet wurden3. Diese tatsächlichen Vermutungen (Präsumtionen) des gemeinen Rechts fanden zuerst in Schiffskollisionsfällen Gebrauch, bei denen die Beweislage naturgemäß schwierig ist 4 . Man ging deshalb von der Vermutung aus, daß das Verschulden in der Regel das fahrende und nicht das ruhende Schiff treffe. Darin wurde eine Beweislastregel gesehen, deren Besonderheit darin lag, daß die Beweislast zunächst auf den Prozeßgegner überging und nur dann, wenn dieser etwas für das Vorliegen eines atypischen Vorgangs vorbringen konnte, wiederum auf den ursprünglich Beweisbelasteten zurückfiel. Von solchen und ähnlichen Fällen ausgehend wurden diese Regeln dann allmählich zum Rechtsinstitut des Anscheinsbeweises verfestigt 5. Erst ab etwa 1931 wurde der prima-facie-Beweis von der Rechtsprechung nicht mehr als Beweislastregel, sondern als der Beweiswürdigung zugehörig aufgefaßt, da er keine Veränderung der grundsätzlichen Beweislastverteilung bewirke6.
1 Zöller-Greger, Rn. 29 vor § 284 ZPO; Baumbach/Lauterbach-i/örtmtfAM, Anh. § 286 ZPO Rn. 15 ff.; Stein/Jonas-Le ipold, § 286 ZPO Rn. 87 ff.; MünchKommPrütting § 286 ZPO Rn. 47; Schneider, Rn. 323. 2 RGZ 21, 104 (109 f.). 3 Vgl. RGZ 21, 104 (109). Zur Entstehungsgeschichte des Anscheinsbeweises im einzelnen Ehrlicher, S. 7 ff.; Kollhosser, Anscheinsbeweis, S. 15 ff., 26, 51 ff.; Greger, VersR 1980, 1091 (1097 f.); Stuck, JuS 1996, 153 (153 ff.). 4 Greger, VersR 1980, 1091 (1101), führt das komplizierte Zusammenwirken verschiedener Kräfte sowie das Fehlen von Spuren und unbeteiligten Zeugen - die Besatzung log meist zugunsten ihres Schiffes - als Gründe an. 5 RGZ 120, 259 (263 f.); 130, 357 (359). 6 RGZ 134, 237 (241); 157, 83 (87 f.); 159, 235 (239); 159, 283 (290); dazu Kollhosser, Anscheinsbeweis, S. 48 ff.
II.
t i c u n g des Anscheinsbeweises
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Nach den von der Rechtsprechung aufgestellten Grundsätzen setzt die Anwendung des Anscheinsbeweises zunächst einmal einen typischen Geschehensablauf voraus, d.h. einen Sachverhalt, bei dem eine ohne weiteres naheliegende Erklärung nach der allgemeinen Lebenserfahrung zu finden ist und angesichts des typischen Charakters des Geschehensablaufs die konkreten Umstände des Einzelfalls für die tatsächliche Beurteilung ohne Belang sind7. Auf das Vorliegen einer unbekannten Tatsache wird mit Hilfe von Erfahrungssätzen geschlossen. Wenn die Typizität eines nicht voll aufgeklärten Geschehensablaufs Grund zu der Annahme gibt, daß sich das Geschehen so wie vermutet auch wirklich abgespielt hat, ist derjenige, der sich auf den Anscheinsbeweis stützt, nicht weiter beweisführungspflichtig. Vielmehr muß jetzt dessen Gegner die ernsthafte Möglichkeit einer anderen, eben atypischen, Sachverhaltsgestaltung darlegen und beweisen. Gelingt ihm dies, ist wiederum ersterer beweispflichtig. "Ernsthaft" wird dabei verstanden als nicht nur vage, aber auch nicht notwendig wahrscheinlich8. Man spricht hier von einem indirekten Gegenbeweis 9, weil er sich nicht auf die Ausgangstatsachen der richterlichen Schlußfolgerung, sondern auf die Schlußfolgerung selbst bezieht; der Gegenbeweis ist dabei vom Beweis des Gegenteils, der in Fällen einer echten Beweislastumkehr eingreift, zu unterscheiden10. Beim Beweis des Gegenteils müssen die Tatsachen, die für das Gegenteil der behaupteten Tatsachen sprechen, voll bewiesen werden. Der Beweis des Gegenteils ist erforderlich, die widerleglichen gesetzlichen Vermutungen gem. § 292 ZPO zu entkräften. In Abgrenzung zu den gesetzlichen Vermutungen handelt es sich bei dem Anscheinsbeweis um eine tatsächliche Vermutung, d.h., man geht nicht von im Gesetz ausgesprochenen, normativ motivierten, sondern von in der Realität durch Erfahrungssätze begründeten Vermutungen aus. Es ist leicht ersichtlich, daß es sich bei dem Anscheinsbeweis um eine Beweiserleichterung handelt11. Diese Beweiserleichterung trägt zwei Gesichts7
BGHZ 2, 1 (5); 2, 82, (85); 100, 31 (33 f.); BGH NJW 1951, 360 (360); BGH VersR 1953, 69 (69); 1954, 401 (402); 1956, 696 (697); 1957, 234 (234); 1964, 263 (264); 1976, 543 (544); BGH LM § 286 (C) ZPO Nr. 20, 29, 53; BGH NJW 1978, 2032 (2033); 1982, 2668 (2668); 1991, 195 (196). Dazu auch Lepa, NZV 1992, 129 (130). 8 Baumbach/Lauterbach-//a/?maAm, Anh. § 286 Rn. 18 f.; Stein/Jonas-Leipold, § 286 ZPO Rn. 97 f.; Thomas/Putzo, § 286 ZPO Rn. 13. 9 Siehe zum Gegenbeweis Baumbach/Lauterbach-Ha/tma/w, Einf. § 284 ZPO Rn. 12; Stein/Jonas-Le/po/tf, § 284 ZPO Rn. 7; § 286 ZPO Rn. 97; § 292 ZPO Rn. 15; Thomas/Putzo, Rn. 8 vor § 284 ZPO. 10 Siehe Rosenberg/Schwab/Gottwald, § 112 II4. 11 Leipold, Beweismafl, S. 11 ff.; Nell, S. 97 ff.; Schneider,. Rn. 322; Walter, Beweiswiirdigung, S. 205 ff.
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§ 1 Der Anscheinsbeweis im Zivilprozeß
punkten Rechnung: Zum einen ist es in Fällen der bezeichneten Art schwierig, den genauen Geschehensablauf zu rekonstruieren, und zum anderen spricht für den geltend gemachten Geschehensablauf die Typizität des Geschehens. Daß etwas anderes, Atypisches vorlag, ist zwar durchaus möglich, aber für den durch den Anscheinsbeweis Begünstigten nur schwer darstellbar. Wegen der Typizität des Geschehens reicht es aus, daß z.B. Verschulden oder Kausalität nur "irgendwie" vorliegen, es sich aber nicht nachweisen läßt, worauf sich diese Annahme genau stützt.
2. Anwendungsbereich
Der Anscheinsbeweis wird nicht in allen irgendwie unklaren Beweissituationen angewendet, sondern meist nur beim Nachweis der Kausalität und des Verschuldens in Form der Fahrlässigkeit. Es handelt sich um die Anwendungsbereiche, bei denen von jeher auf das Übliche und Gewöhnliche verwiesen wurde 12. Denn Verkehrsanschauung und Lebenserfahrung haben dort erhebliche Bedeutung13. Daß insbesondere die Kausalität einen bevorzugten Anwendungsbereich für den Anscheinsbeweis darstellt, ist darauf zurückzuführen, daß die Heranziehung von Erfahrungssätzen in Ursache-WirkungsZusammenhängen einen Schwerpunkt bildet 14 . Die von der Rechtsprechung aufgestellten Erfahrungssätze zeigen deutlich den Ursprung des Anscheinsbeweises aus der Praxis: So sind die entschiedenen Fälle vornehmlich im Bereich des Straßenverkehrs bzw. bei Kausalverläufen medizinischer, chemischer oder physikalischer Art angesiedelt15. Zur Fahrlässigkeit im Straßenverkehr existiert beispielsweise der Erfahrungssatz, wonach denjenigen, der auf ein anderes Fahrzeug auffahrt, Verschulden trifft 16 . Aus dem Bereich der Kausalität ist der Satz zu nennen, daß, falls mehrere Ursachen möglich sind, aber für nur eine Ursache konkrete Anhalts12
Etwa schon 1893 von Friedrich Stein, S. 41. Rosenberg/Schwab/Gottwald, § 115 III 2. 14 So Herbergerl Simon, S. 342; Schneider, Rn. 325. Teilweise wird die Berechtigung, den Anscheinsbeweis der Kausalität von dem der Fahrlässigkeit zu unterscheiden, angezweifelt, weil auch der Anscheinsbeweis der Fahrlässigkeit in erster Linie den Ursachenzusammenhang betreffe; so Streibel, S. 96 f., der den Anscheinsbeweis nur zum Beweis von Tatsachen heranziehen möchte, die weiteren Fragen aber - etwa bei der Fahrlässigkeit - dem Bereich der Würdigung des festgestellten Sachverhalts zuschreibt. 15 Vgl. etwa die Zusammenstellungen der für einen Anscheinsbeweis tauglichen Erfahrungssätze bei Greger, in: Zöller, Rn. 30 vor § 284 ZPO; ders., VersR 1980, 1091 (1092); Schneider, Rn. 401 ff.; Streibel, S. 99. 16 BGH VersR 1964, 263 (264); 1969, 859 (860); NZV 1989, 105 (105 f.). 13
III. Dogmatische Einordnung des Anscheinsbeweises
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punkte bestehen, die Erfahrung für diese Ursache spricht, mag auch die eingetretene Folge nicht typisch sein17. Nicht anwendbar sei der Anscheinsbeweis hingegen, wenn von mehreren tatsächlichen Möglichkeiten eine lediglich die wahrscheinlichere ist 18 . Anwendungsfälle außerhalb der genannten Bereiche werden zwar von der Rechtsprechung als grundsätzlich möglich bezeichnet, finden sich aber konkret so gut wie nie 19 . Dies ist nicht etwa deswegen so, weil der Anscheinsbeweis dort grundsätzlich ausgeschlossen wäre, sondern weil in anderen Bereichen entsprechend aussagekräftige Erfahrungssätze nicht existieren 20. Von der Rechtsprechung ausdrücklich ausgenommen werden hingegen insbesondere die Frage des Vorsatznachweises und andere Fälle individueller Willensentschlüsse, weil sich diese einer Typisierung entzögen21. Die Rechtsprechung des BGH zum Anscheinsbeweis läßt zwar die Grundsätze der Anwendung des Anscheinsbeweises deutlich werden, sie sieht sich aber zu Recht dem Vorwurf ausgesetzt, daß sie eine genügende Auseinandersetzung mit den dogmatischen Erklärungsversuchen der Literatur zum Anscheinsbeweis vermissen lasse22. Im Hinblick auf die BGH-Judikatur werden vor allem Kasuistik, Uneinheitlichkeit und Konzeptionslosigkeit beklagt23.
III. Dogmatische Einordnung des Anscheinsbeweises Das zivilprozessuale Schrifttum hat sein wissenschaftliches Interesse dem Anscheinsbeweis, nachdem es nach einer regen Phase insbesondere in den 60er Jahren24 etwas abgeflaut war, in neuerer Zeit wieder vermehrt zuge17
BGHZ 11, 227 (229 ff.). BGH NJW-RR 1988, 789 (790). 19 Vgl. Greger, VersR 1980, 1091 (1092); Lepa, NZV 1992, 129 (130). 20 So auch Schneider, Rn. 401. 21 BGH NJW 1988, 2040 (2041 m.w.N.). Für eine Anwendung des Anscheinsbeweises auf alle erheblichen Tatsachen Kegel, Kronstein-FG 1967, S. 322; dagegen Hainmüller, S. 31, 87, 149, 161. 22 Greger, NJW 1992, 1149 (1149), der mit Blick auf die Rechtsprechung äußert, der Anscheinsbeweis entbehre einer dogmatischen Grundlage völlig; ähnlich auch ders., in: Zöller, Rn. 28 und 35 vor § 284 ZPO; ebenso Gudrun Engels, S. 3. 23 Greger, VersR 1980, 1091 (1100). 24 Exemplarisch genannt seien Wassermeyer, Der prima facie Beweis und die benachbarten Erscheinungen, 1954; Fleck, Der Beweis des ersten Anscheins in der Rechtsprechung des BGH, VersR 1956, 329; Weyreuther, Die höchstrichterliche Rechtsprechung zum Anscheinsbeweis, DRiZ 1957, 55; Henke, Individualität und Anscheinsbeweis, JR 1961, 48; Ekelöf , Beweiswürdigung, Beweislast und Beweis des ersten Anscheins, ZZP 75 (1962), 289; Kollhosser, Der Anscheinsbeweis in der 18
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§ 1 Der Anscheinsbeweis im Zivilprozeß
wendet25. Die Veröffentlichungen befassen sich vor allem mit der Frage, wie der Anscheinsbeweis dogmatisch richtig zu verstehen sei und versuchen davon ausgehend, allgemeine Regeln für seine Anwendung aufzustellen sowie seine Stellung im Beweisrecht zu erarbeiten. Der Anscheinsbeweis wird zwar dogmatisch unterschiedlich erklärt, über seine grundsätzliche Berechtigung besteht jedoch weitgehend Einigkeit 26 . Zur dogmatischen Einordnung des Anscheinsbeweises werden im Prinzip vier verschiedene Ansätze vertreten 27. Der erste geht dahin, den Anscheinsbeweis als Frage der Beweis/asrverteilung zu begreifen. Der zweite Ansatz sieht die Berechtigung des Anscheinsbeweises in einer Beweismaßreduzierung, die generell im Beweisrecht oder auch nur im Fall des Anscheinsbeweises eingreife. Drittens fassen die herrschende Meinung in der Literatur und auch die Rechtsprechung den Anscheinsbeweis als Frage der BeweisWürdigung auf; er sei zwar nicht Vollbeweis, aber doch voller Beweis. Schließlich wird viertens versucht, den Anscheinsbeweis als materiell-rechtliche Ausformung zu sehen; er beeinflusse materiell-rechtliche Normen. Allen Theorien zur dogmatischen Einordnung des Anscheinsbeweises ist gemeinsam, daß sie als seine Grundlage das Vorliegen eines Erfahrungssatzes ansehen28. Ein Erfahrungssatz ermöglicht dem Urteilenden einen Schluß von etwas sicher Gewußtem auf das Vorliegen einer Tatsache, die erst bewiesen höchstrichterlichen Rechtsprechung - Entwicklung und aktuelle Bedeutung - ; ders., Anscheinsbeweis und freie richterliche Beweiswürdigung, AcP 165 (1965), 46; Hainmüller, Der Anscheinsbeweis und die Fahrlässigkeit im heutigen deutschen Schadensersatzprozeß, 1966; Erna Pawlowski, Der prima-facie-Beweis bei Schadensersatzansprüchen aus Delikt und Vertrag, 1966; Diederichsen, Zur Rechtsnatur und systematischen Stellung von Beweislast und Anscheinsbeweis, VersR 1966, 211; ders., Fortschritte im dogmatischen Verständnis des Anscheinsbeweises, ZZP 81 (1968), 45; Kegel, Der Individualanscheinsbeweis und die Verteilung der Beweislast nach überwiegender Wahrscheinlichkeit, Festgabe für Kronstein, 1967, S. 321; weitere Nachweise bei Romme, Anscheinsbeweis, S. 46 f. Fn. 194. 25 Walter, Der Anwendungsbereich des Anscheinsbeweises, ZZP 90 (1977), 270; Greger, Praxis und Dogmatik des Anscheinsbeweises, VersR 1980, 1091; Romme, Der Anscheinsbeweis im Gefüge von Beweis Würdigung, Beweismaß und Beweislast, 1989; Deutsch, Beweis und Beweiserleichterung des Kausalzusammenhangs im deutschen Recht, Hermann Lange-FS 1992, S. 433; Gudrun Engels, Der Anscheinsbeweis der Kausalität, 1994. 26 Teilweise wurde allerdings versucht zu zeigen, daß der Anscheinsbeweis keine besondere Rolle im Beweisrecht beanspruchen könne und eigentlich entbehrlich sei, Gottwald, Schadenszurechnung, S. 202, 204, 208 f., 212; Greger, Beweis, S. 183; Musielakl Stadler, Rn. 177; Walter, Beweis Würdigung, S. 214 und 258. 27 Siehe dazu Stein/Jonas-Leipold, § 286 ZPO Rn. 87 ff. 28 Romme, Anscheinsbeweis, S. 1. Siehe zu den Erfahrungssätzen unten §§ 4 I und 7.
III. Dogmatische Einordnung des Anscheinsbeweises
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werden soll. Das ist der Ausgangspunkt und der gemeinsame Nenner. Jenseits dieses Konsenses beginnt der Streit. Um einem möglichen Mißverständnis vorzubeugen, sei darauf hingewiesen, daß es nicht etwa um eine Übernahme des originär zivilprozessualen Rechtsinstituts "Anscheinsbeweis" in das Strafprozeßrecht geht 29 . Eine solche Sichtweise würde schon vom Ansatz her die unstreitig bestehenden unterschiedlichen Zwecke und Zielsetzungen beider Prozeßarten außer acht lassen und daher zu keinen für das Strafrecht brauchbaren Ergebnissen führen können. Es ist daher auch keine Entscheidung für eine der zivilrechtlichen dogmatischen Erklärungsversuche angebracht. Notwendig würde eine solche Entscheidung allenfalls dann, wenn aufgrund einer dieser Erklärungen die Anwendung des Anscheinsbeweises im Strafprozeß schon aus grundsätzlichen Erwägungen ausscheiden würde. Aus diesem Grund werden die einzelnen Theorien an dieser Stelle nur skizziert und die dahinter stehenden speziellen inhaltlichen Fragen unten in § 5 näher ausgeführt.
1. Beweislasttheorie
Zuerst genannt sei die ursprünglich favorisierte Beweislasttheorie30. Sie geht davon aus, daß der Anscheinsbeweis die Beweislast verlagere. Wenn ein für einen Anscheinsbeweis tauglicher Erfahrungssatz anwendbar sei, gehe die Beweislast auf den Gegner über, es komme zu einer echten Beweislastumkehr. Heute wird die Beweislasttheorie, wie sie früher entsprechend der damaligen Reichsgerichtsauffassung 31 vertreten wurde, fast einhellig abgelehnt32. Dabei wird oft etwas verkürzt formuliert 33, der Anscheinsbeweis wolle eine Beweislastentscheidung und als deren Voraussetzung ein non-liquet gerade vermeiden. Damit ist gemeint, daß der Anscheinsbeweis keine Auswirkung auf die Beweislast hat, wenn man ihn folgendermaßen versteht: Mißlingt der Entkräftungsbeweis, so führt dies zur Überzeugung des Richters vom primafacie-Verlauf; gelingt er, führt er nicht von vornherein zu einem für den 29
Zu Recht ablehnend gegen eine solche Sichtweise auch Volk, GA 1973, 161 (174 ff.) und im Anschluß daran Kuhlen, Produkthaftung, S. 45 f., 48 f. 30 Vertreten z.B. von Rabel, RheinZ 1923, 428 (434 ff., 441, 442); w. Nachw. bei Greger, Beweis, S. 171 Fn. 235 und Musielak, S. 84 Fn. 164; vgl. auch Diederichsen, VersR 1966, 211 (214 ff.); ders., ZZP 81 (1968), 45 (bes. 63 ff.); Ekelöf,, ZZP 75 (1962), 289 (300); Wassermeyer, S. 2 ff. 31 Siehe oben § 1 Anm. 2 und 5. 32 Vgl. nur Prutting, S. 95, 97 ff.; ders., in: MünchKomm, § 286 ZPO Rn. 50. 33 So z.B. von Harenberg, DStR 1990, 236 (237 Fn. 26); Kuhlen, Produkthaftung, S. 41; Stück, JuS 1996, 153 (154).
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§ 1 Der Anscheinsbeweis im Zivilprozeß
durch den Anscheinsbeweis Begünstigten negativen Ergebnis, sondern zum Eingreifen der auch sonst geltenden Beweislastregeln. Es kommt also im ersten Fall schon nicht zum Eingreifen des non-liquet, und im zweiten Fall gilt jedenfalls nichts Besonderes. Von den Kritikern der Beweislasttheorie wird lediglich das Zugeständnis gemacht, daß der Anscheinsbeweis mittelbare Auswirkung auf die Beweislast habe. Es wird gesagt, letztlich falle faktisch demjenigen die Last des nonliquet zu, gegen dessen Behauptung die größere Wahrscheinlichkeit spreche, so daß ein praktischer Unterschied zwischen Anscheinsbeweis und Beweislastumkehr oft nicht bestehe34.
2. Beweismaßtheorie
Vertreter der Beweismaßtheorie sind der Ansicht, beim Anscheinsbeweis sei das Beweismaß reduziert; nicht die volle richterliche Überzeugung von der Wahrheit einer Tatsache werde verlangt, sondern nur eine Wahrscheinlichkeit von bestimmter Größe 35. Die Vertreter dieser Auffassung können in zwei Gruppen eingeteilt werden: in eine, die diese Auffassung im Beweisrecht generell und eine andere, die sie nur für den Sonderfall Anscheinsbeweis vertritt. Für die Autoren, die generell als Beweismaß eine reduzierte Wahrscheinlichkeit genügen lassen36, dürfte der Anscheinsbeweis keine Besonderheit, sondern müßte geradezu Prototyp des Beweises sein. Die Vertreter der Theorie der speziellen Beweismaßreduzierung sehen hingegen nur im Fall des Anscheinsbeweises einen Verzicht auf das Merkmal der Überzeugung37, weil hier die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit der Tatsachenfeststellung gemindert seien38.
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So z.B. Greger, VersR 1980, 1091 (1099); Kollhosser, Anscheinsbeweis, S. 129 ff.; Volk, GA 1973, 161 (162 f.). 35 Siehe dazu Gudrun Engels, S. 72 ff. 36 So Cuypers, S. 86 Fn. 137 unter Berufung auf Ekelöf, ZZP 75 (1962), 289 (296 ff.); Kegel, Kronstein-FG 1967, S. 333 f.; Maassen, S. 66, 102 u. öfter; Schneider, Rn. 69 ff.; w. Nachw. bei Prutting, S. 96 Fn. 17 und Romme, Anscheinsbeweis, S. 47 Fn. 194. 37 Lepa, DRiZ 1966, 112 (114); Musielak, S. 120 ff.; MusielaklStadler, Rn. 177; Neil, S. 70, 97 ff.; Walter, Beweiswürdigung, S. 183 f., 206 ff.; ders., ZZP 90 (1977), 270 (283). 38 Eine weitere variierende Auffassung, die zwar ebenfalls das Beweismaß als gemindert, aber zugleich als der richterlichen Freiheit unterliegend ansieht, so Gottwald, Schadenszurechnung, S. 202, 212, 243 f., hat speziell mit dem Anscheins-
ID. Dogmatische Einordnung des Anscheinsbeweises
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Spezieller wie genereller Beweismaßtheorie ist gemeinsam, daß beide für die Beantwortung der Frage nach dem richtigen Beweismaß Wahrscheinlichkeitserwägungen für entscheidend halten. Der Wahrscheinlichkeitsbegriff ist nun nicht so eindeutig, wie sein undifferenzierter Gebrauch suggerieren mag. Insbesondere ist es nicht gerechtfertigt, davon auszugehen, es sei, wenn von Wahrscheinlichkeit die Rede ist, immer die objektive Wahrscheinlichkeit gemeint, mag dies auch für den Gebrauch in der Jurisprudenz statistisch zutreffend sein 39 .
3. Beweiswürdigungstheorie
Nicht nur die Rechtsprechung40, sondern auch die herrschende Lehre 41 sehen den Anscheinsbeweis als einen Fall der freien richterlichen Beweiswürdigung an. Danach verlangt das Vorliegen einer Anscheinsbeweiskonstellation vom Richter, die durch Erfahrungssätze begründete Wahrscheinlichkeit bei seiner Überzeugungsbildung zu beachten. Mißlingt der Gegenbeweis, bedeutet das zugleich, daß der Beweis erbracht ist. Dabei muß aber die volle Überzeugung des Richters - insoweit gilt im Vergleich zum allgemeinen Beweis nichts Besonderes - vom dargelegten Geschehensablauf vorliegen. Der Anscheinsbeweis wird dementsprechend als ebenfalls "voller Beweis" bezeichnet. Nach dieser Auffassung handelt es sich somit lediglich um die Anwendung von Erfahrungssätzen im Rahmen der Beweiswürdigung42, also um immanente Grenzen der Beweis Würdigung, die der Richter ohnehin gem. § 286 ZPO 43 , der die freie richterliche Beweis Würdigung normiert, zu beachten hat. Die einzelnen Erfahrungssätze wirken also als Beweis Würdigungsregeln. beweis keine Schwierigkeiten: Quasi vorgelagert entscheidet der Richter auch hier nach seiner freien Überzeugung. 39 Die Bedeutung der Wahrscheinlichkeit für die Wissenschaftstheorie wie für das Beweismaß im allgemeinen wird unten in § 4 II 3 b bzw. § 5 IV überprüft. 40 Ständige Rechtsprechung von RG und BGH, siehe oben § 1 Anm. 6 und 7. 41 Hainmüller, S. 35 f.; Baumbach/Lauterbach-i/arima/z/z, Anh. § 286 ZPO, Rn. 15; Heescher, S. 127 ff.; Stein/Jonas-Lezpo/tf, § 286 Rn. 99; MünchKommPrütting, § 286 ZPO Rn. 47 ff., insbes. 54; Rocke, S. 108; Schneider, Beweis, Rn. 323 und Rn. 329 ff. Siehe auch Rosenberg! Schwab!Gottwald, §1151112 mit zahlreichen Rechtsprechungshinweisen sowie G. Engels, S. 67 ff. 42 Rosenberg! Schwab!Gottwald, §1151113; MünchKomm-Prutting, § 286 ZPO Rn. 47 ff. 43 § 286 Abs. 1 S. 1 ZPO: "Das Gericht hat unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder
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§ 1 Der Anscheinsbeweis im Zivilprozeß
Wenn die Erfahrungssätze als immanente Grenzen der Beweiswürdigung anzusehen sind, versteht sich deren Beachtung von selbst und stellt so gesehen nichts Besonderes dar. Die Merkmale des Anscheinsbeweises wären dann nicht konstitutiver, sondern deskriptiver Natui 44 . In praxi entfiele der Zwang, die Beweisarten voneinander zu scheiden und sie so oder so zu bezeichnen, zu beachten wären nur die Grenzen des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung 45 . Dann würde sich aber sogleich die Frage stellen, wieso der Anscheinsbeweis nicht auch im Strafprozeß nur eine Beschränkung der Beweiswürdigung (§261) darstellt und daher ebenfalls Anwendung finden kann oder sogar finden muß 46 . Andernfalls hätte ja das Prinzip der freien richterlichen Überzeugungsbildung im Zivilprozeßrecht einen anderen Inhalt als im Strafprozeßrecht 47. Der Beweiswürdigungstheorie wird entgegengehalten, sie nehme zwar zu Recht eine Bindung der Beweiswürdigung an Erfahrungsge$£fze, also zwingende Erfahrungssätze, an, eine Ausweitung auf beliebige Erfahrungssätze aber führe zu einer uferlosen und daher nicht zu rechtfertigenden Weite des Anwendungsbereiches. Dann sei der Beweis nicht mehr an die persönliche Überzeugung des Richters, sondern nur noch an Wahrscheinlichkeiten aufgrund von Erfahrungssätzen gebunden48.
4. Materiell-rechtliche Theorie
Es ist schließlich versucht worden, den Anscheinsbeweis als Besonderheit des materiellen Rechts zu deuten49. Der Anscheinsbeweis ist danach im Grunde materiell-rechtlicher Natur. Werde nämlich ein Erfahrungssatz konstituiert, der zur Anwendung des Anscheinsbeweises führt, bedeute dies eine Herabsetzung schon der Anforderungen an den Bezugspunkt der Feststellung. In allen Fällen des Anscheinsbeweises sind die Anforderungen an die festzustellenden Merkmale modifiziert, so daß der Anscheinsbeweis im Ergebnis zu einer anderen Definition von Kausalität und Fahrlässigkeit führt. Es wird an-
für nicht wahr zu erachten sei." Ebenso §§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO, 96 Abs. 1 FGO und 128 SGG. 44 Kollhosser, AcP 165 (1965), 46 (49). 45 Kollhosser, AcP 165 (1965), 46 (51). 46 Volk, GA 1973, 161 (174 ff.), zielt in eben diese Richtung, wobei er es allerdings ablehnt, dem Strafrichter bestimmte Schlüsse vorzuschreiben. 47 Dies verneinend Volk, GA 1973, 161 (174). Ausführlich dazu in § 5 V. 48 So Greger, VersR 1980, 1091 (1102). 49 So Diederichsen, VersR 1966, 211 (217 ff.) und ZZP 81 (1968), 63 ff. (64 ff.); Greger, Beweis, S. 174 ff., 179 ff.; ders., in: Zöller, Rn. 30 a.E. vor § 284 ZPO,
III. Dogmatische Einordnung des Anscheinsbeweises
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genommen, daß dort, wo vom Richten das Vorliegen eines typischen Geschehensablaufs geprüft wird, für den Bereich der Fahrlässigkeit etwa die Pflichtwidrigkeit eines Verhaltens geprüft und Normen erarbeitet würden. Grund für den Anscheinsbeweis sei damit eine materielle Risikoabwägung, wie sie ja auch bei der Verteilung der Beweislast vorliege 50. Zum Nachweis der Kausalität wird als Vorteil eines materiell-rechtlichen Verständnisses des Anscheinsbeweises ins Feld geführt, daß die vielfältigen Versuche, den schwierigen Nachweis eines Ursachenzusammenhangs zu erleichtern, entbehrlich würden, wenn akzeptiert würde, daß das Gesetz überall dort, wo es einen Kausalzusammenhang verlangt, analog §§ 119 Abs. 1, 2087 Abs. 1 BGB nur die nach der Lebenserfahrung anzunehmende Ursächlichkeit meint 51 . Trotz des materiell-rechtlichen Bezugspunktes wird allerdings meist die dogmatische Zuordnung zum Prozeßrecht aufrechterhalten 52. Nach Walter 53 wird die materiell-rechtliche Risikoabwägung nur als Rechtfertigung einer Beweismaßreduzierung im Einzelfall verstanden. Wegen der Schwierigkeit der Aufklärung sei bei bestimmten Tatbestandsmerkmalen eine Herabsetzung der Beweisanforderungen zu legitimieren. Gegen die materiell-rechtliche Theorie spricht insbesondere, daß Erfahrungssätze auch in anderen Fällen Anwendung finden, sie dort aber nicht materiell-rechtlich eingeordnet werden 54. Problematisch ist außerdem, daß der Tatbestand mit Beweisbarkeitsüberlegungen belastet wird, die vom jeweiligen Einzelfall abhängen und daher nicht generell materiell-rechtlich geregelt sein können55. Der Überblick über die im Zivilprozeßrecht zum Anscheinsbeweis vertretenen Theorien hat gezeigt, daß je nach dem grundsätzlichen Verständnis des Beweisrechts verschiedene Positionen eingenommen werden. Diese Positionen werden bei der eingehenden Diskussion der Ablehnung des Anscheinsbeweises im Strafprozeß in § 5 wieder auftauchen. Zuvor muß jedoch näher dargestellt werden, wie ein Anscheinsbeweis im Strafprozeß überhaupt aussehen könnte und welche Auffassungen dazu grundsätzlich vertreten werden.
§ 286 ZPO Rn. 20; ders., VersR 1980, 1091 (1102); Erna Pawlowski, 14 ff., 21, 37, 57, 67, 70, 104 und passim. 50 Greger, VersR 1980, 1091 (1099). 51 Zöller-Greger, Rn. 35 vor § 284 ZPO. 52 Anders nur Greger, Beweis, S. 179 ff. 53 So Walter, Beweiswürdigung, S. 206 ff.; ähnlich auch Leipold, Beweismaß, S. 16 f. 54 Stück, JuS 1996, 153 (154). 55 Siehe dazu Gudrun Engels, S. 66 f. 3 Müller
§ 2 Anscheinsbeweis und Strafprozeß I . Bestandsaufnahme der grundsätzlichen Auffassungen zum Anscheinsbeweis im Strafprozeß Während in den 50er und 60er Jahren die Frage nach einer Schuld- oder Vorsatzvermutung im Strafprozeß noch bisweilen thematisiert wurde 1 , wird die Unzulässigkeit eines so verstandenen Anscheinsbeweises im Strafprozeß heute meist nicht näher problematisiert. V o l k 2 konnte 1973 in seinem Aufsatz über "Anscheinsbeweis und Fahrlässigkeit im Strafprozeß" die fast einmütige Auffassung konstatieren, daß der Anscheinsbeweis für den Strafprozeß ausscheide3. Volk selbst äußerte sich vorsichtig ablehnend, allerdings mit mancher Differenzierung 4 ; jüngst hat er sich deutlich für die Existenz des
1
Im Rahmen der Frage nach einer Schuldvermutung im Verkehrsstrafrecht ablehnend etwa Baumann, NJW 1959, 2293 (2293); befürwortend Bockelmann, NJW 1960, 1277 (1284). Eine Art Anscheinsbeweis wurde auch im Zusammenhang mit der gesetzlichen Regelung in § 259 StGB a.F. diskutiert, die den Passus enthielt: "von denen er weiß oder den Umständen nach annehmen muß". Man sah darin eine Vorsatzvermutung, für deren dogmatische Erklärung der Anscheinsbeweis herangezogen wurde. Siehe dazu Bockelmann, NJW 1954, 1745 (1746 ff.); Schröder, NJW 1959, 1903 (1904). Nach der Streichung dieses Passus und der Neufassung des § 259 StGB durch das EGStGB von 1974 ist die Diskussion praktisch verstummt. Zur früheren Rechtslage LK-Ruß, 9. Aufl. 1974, § 259 StGB Rn. 26: Schönkt-Schröder, 17. Aufl. 1974, § 259 StGB Rn. 49 f.; siehe ferner Baumann, MDR 1960, 355 (356 m.w.N.). 2 Volk, GA 1973, 161 (161 ff.). 3 Volk, GA 1976, 161 (161). Siehe die dort (S. 161 Fn. 2) zitierten Autoren Hainmüller, S. 42; Henkel, Eb. Schmidt-FS 1961, S. 589 f.; Louven, MDR 1970, 295 (295 f.); E. Pawlowski, S. 55; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 15/16 und Schneider, Beweis, Rn. 366 ff.; außer diesen Beulke/Bachmann, JuS 1992, 737 (738 Fn. 8); Hassemer, Produktverantwortung, S. 47; Herzberg, NJW 1987, 1461 (1461 Fn. 1); Löffeler, JA 1987, 77 (79); Löwe/Rosenberg-GW/wteer, §261 Rn. 107 f.; Otto, JuS 1974, 702 (708); Tiedemann, NJW 1990, 2051 (2052); ders., in: Immenga/Mestmäcker, GWB-Komm., § 81 Rn. 63. Nach KK-Senge, § 71 OWiG Rn. 79, sind Beweisregeln oder Beweisvermutungen unzulässig, die die Pflicht des Richters zu umfassender Beweiswürdigung einschränken oder dem Betroffenen eine Beweislast aufbürden. 4 Volk, GA 1973, 161 (insbes. 176 f.).
I. Auffassungen zum Anscheinsbeweis im Strafprozeß
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Anscheinsbeweises im Strafprozeß ausgesprochen, er sei weder systemfremd noch aufsehenerregend 5. Seit einiger Zeit ist man wieder auf die Thematik aufmerksam geworden. Der BGH hat 1990 im "Lederspray-Fall" 6 für den Nachweis der Kausalität zwischen der Verwendung eines Ledersprays und bei einigen Verbrauchern aufgetretenen Vergiftungserscheinungen ausdrücklich eine Art Alternativenausschlußverfahren angewendet und dadurch dazu beigetragen, eine Diskussion um den Anscheinsbeweis im Strafverfahren anzuregen. Kuhlen hat 1989 in seiner Monographie zur Produkthaftung im Strafrecht 7, ausdrücklich auf Volk aufbauend 8, das Verständnis des Anscheinsbeweises weitergeführt und als Anwendungsfall zumindest die Bereiche Fahrlässigkeit und Kausalität im Rahmen der Produkthaftung aufgezeigt 9. Danach ist ein Anscheinsbeweis im Strafverfahren nicht nur zulässig, sondern in bestimmten Fällen sogar geboten. Auch Dencker hat den Gedanken eines, von ihm umfassend verstandenen, Anscheinsbeweises aufgegriffen und fortgeführt 10. Er schreibt: "Man kann diese Notwendigkeit, mit Normalfallannahmen zu arbeiten, in das Bild fassen, daß jeder Beweis genau die Struktur hat, die Juristen vom (freilich seinerseits heftig umstrittenen) prima-facie-Beweis her geläufig ist." 11 Schon früher haben sich auch andere Autoren für ein Alternativenausschlußverfahren ausgesprochen12. Es wird von diesen als allgemeingültiges Modell der Tatsachenfeststellung angesehen, freilich mit manchen für einzelne Bereiche zu berücksichtigenden Besonderheiten. Der Begriff "Anscheinsbeweis" wird aber von ihnen - wohl wegen der damit verbundenen negativen Konnotationen — vermieden. Vereinzelt finden sich
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Volk , NStZ 1996, 105 (106). BGHSt 37, 106 (106 ff.). Siehe dazu genauer unten § 3 11 c. 7 Kuhlen , Produkthaftung, S. 40 ff. 8 Kuhlen , Produkthaftung, S. 44 Fn. 60. 9 Kuhlen , Produkthaftung, S. 52. 10 Dencker , ZStW 102 (1990), 51 (69 ff., insbes. 72 ff.). 11 Dencker , ZStW 102 (1990), 51 (72). 12 Freund , Tatsachenfeststellung, S. 22 ff. und passim; ergänzend ders ., JR 1988, 116 (117) und StV 1991, 23 (25); J. Kühl , S. 23 f., 148 ff. Beide beziehen sich für die Grundlage ihres Beweismodells auf die Untersuchung zur logischen Struktur der Tatsachenfeststellung im Strafjprozeß von Engisch , Logische Studien, S. 60 ff. Der Auffassung von Freund , aaO., zustimmend Frisch , Meyer-GS 1990, S. 554 ff.; Kaiser , S. 71 f. Fn. 110. Vgl. auch Fezer, StV 1995, 95 (98): Gesamtwürdigung des Beweises ist fortwährendes Erwägen und Verwerfen von Alternativen; Löwe/Rosenberg-Gollwitzer, § 261 Rn. 49, aber auch Rn. 107. 6
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36
§
Anscheinsbeweis
rozeß
allerdings auch Stimmen, die einen Anscheinsbeweis ausdrücklich in Erwägung ziehen13. Den genannten Autoren ist jedoch überwiegend nicht beigepflichtet worden 14 , sondern es ist im Gegenteil vor einer Beweiskonzeption, die "faktisch die Anerkennung einer Form des Anscheinsbeweises eröffne", gemeint ist die vom BGH im "Lederspray-Fall" angewendete Beweiskonzeption des Alternativenausschluß Verfahrens, ausdrücklich gewarnt worden 15. Daß die strafprozessuale Rechtsprechung den Anscheinsbeweis ablehnt, ergibt sich indirekt daraus, daß sie ihn - jedenfalls der Bezeichnung nach nicht anwendet. Die Ablehnung geschieht meist nicht ausdrücklich und daher auch nicht mit einer Begründung16. Der Grund für diesen Begründungs verzieht könnte entweder sein, daß die Ablehnung des Anscheinsbeweises für so selbstverständlich gehalten wird, daß sie nicht mehr erörterungsbedürftig erscheint, oder daß der Anscheinsbeweis, weil er zumindest auf den ersten Blick nicht in das strafrechtliche Konzept zu passen scheint, schlicht ignoriert wird. Wenn der Anscheinsbeweis - sofern er überhaupt angesprochen wird - von der Lehre im Tenor übereinstimmend abgelehnt wird, wird diese Ablehnung
13
So Schröder, NJW 1959, 1903 (1904). Hamm, StV 1997, 159 (162), der jedoch vorschlägt, statt von Anscheinsbeweis von "evidenter Kausalität" zu sprechen. Heine, JZ 1995, 651 (653): Ein Anscheinsbeweis sei bei Kausalitätsproblemen bei Körperverletzungen mit atypischen Fallgestaltungen erwägenswert. Mit gewissen Vorbehalten, aber grundsätzlich nicht ablehnend auch Kühne, Strafjprozeßlehre, Rn. 428 ff.; anders aber ders., NJW 1979, 617 (620). Nach Berg, S. 101, können die gleichen Erfahrungssätze wie beim Anscheinsbeweis des Zivilrechts auch im Strafprozeß wirken, wenn die Wirkungsweise den Bedingungen des jeweiligen Verfahrens angepaßt wird. 14 Siehe etwa Tiedemann in einer Besprechung der Monographie von Kuhlen, NJW 1990, 2051 (2052), und ders., in: Immenga/Mestmäcker, § 81 GWB Rn. 63, der es mit der Begründung, im Strafverfahren gälten zur Widerlegung einer Beweisvermutung bereits geringere Anzeichen und Besonderheiten des Einzelfalles als im Zivilprozeß, für richtiger hält, den Anscheinsbeweis im Strafverfahren als unzulässig zu bezeichnen. Tiedemann!Tiedemann, Schmitt-FS 1992, S. 148: Der Anscheinsbeweis ist auf den Strafprozeß nicht oder jedenfalls nicht uneingeschränkt übertragbar. L. Schulz, Kausalität, S. 64 ff., inbes. S. 66 Fn. 100, versteht den Anscheinsbeweis als einen Indizienbeweis und lehnt ihn wegen des Begriffes ab, der eine Zurücknahme der strengen Beweisanforderungen im Strafprozeß suggeriere. 15 Hassemer, Produktverantwortung, S. 47. 16 Eine ausdrückliche Ablehnung findet sich soweit ersichtlich nur bei älteren Urteilen in der Form, daß eine Umkehr der Beweislast für das Strafrecht abgelehnt wird: z.B. OLG Hamburg MDR 1953, 121 (121); KG VRS 13 (1957), 53 (54); LG Heidelberg NJW 1959, 1932 (1932); OLG Celle VRS 37 (1969), 293 (294).
II. Das Alternativenausschlußverfahren
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unterschiedlich begründet, je nachdem welcher der dogmatischen Auffassungen über die Einordnung des zivilrechtlichen Anscheinsbeweis man folgt 17 . Bevor zum besseren Verständnis einige praktische Anwendungsfälle des Anscheinsbeweises aufgezeigt werden, ist es an dieser Stelle - als theoretische Grundlage - angebracht, das - schon erwähnte - jeden Beweis strukturierende Alternativenausschlußverfahren näher zu beleuchten.
II. Das Alternativenausschlußverfahren Jede Beweisführung besteht im Prinzip im Ausschluß möglicher anderer Alternativen zum Tatgeschehen18. Beim Alternativenausschlußverfahren werden ausgehend von einer Geschehenshypothese19, die das gesuchte Beweisergebnis umfaßt, verschiedene andere mit dem hypothetischen Geschehensablauf konkurrierende Möglichkeiten verglichen. Grundlage jedes Beweises ist die Aufstellung einer Beweishypothese, die besagt, daß es so oder so tatsächlich gewesen sein könnte20. Diese Arbeitshypothese ergibt sich im Vorfeld eines Prozesses aus dem vorgebrachten Geschehen: einer Anzeige, den Vorermittlungen etc. Sie ist schon deshalb Ausgangspunkt für jeden Prozeß, weil "hinreichender Tatverdacht", der auf einer wahrscheinlichen Hypothese beruht, Voraussetzung jeder Anklage und damit jedes Hauptverfahrens ist (§ 170 Abs. I ) 2 1 . 17
Siehe dazu oben § 1 II und unten § 5. Siehe oben § 2 Anm. 12. Anders wohl L. Schulz, Kausalität, S. 69, wonach es zwar nicht zu begründen wäre, das Alternativenausschlußverfahren grundsätzlich für den strafrechtlichen Beweis auszuschließen, das Verfahren jedoch für den Fall mangelnder positiver Kenntnis eine Abschwächung von Beweisanforderungen bedeute, weil es sich statt mit der Feststellung mit der Zuschreibung von Kausalität begnüge (S. 73 f.). 19 Zu griech. hypöthesis, eigtl. "Untersetzen, Unterlage", dann "Unterstellung, Grundlage". In der Wissenschaftstheorie bezeichnet man einen Satz als Hypothese, von dem nicht feststeht, ob er wahr ist oder nicht, aber vorläufig als wahr betrachtet wird. Er darf selbst keinen Widerspruch enthalten und auch nicht zu anerkannten Tatsachen in Widerspruch stehen (Meyers kleines Lexikon Philosophie, 1987, S. 188 f.). Allgemein zur Hypothesenbildung Kraft, S. 241 ff.; Kasper, S. 32 ff. B. Schürte mann, GA 1978, 161 (178): Beweis Würdigung als Vorgehen mittels Hypothesen. Schlüchter, Spendel-FS 1992, S. 751: Zur Konstruktion des Sachverhalt filtere der Richter eine schlüssige Sachverhaltsbeschreibung heraus und gebe daher mit dem Urteilssachverhalt regelmäßig einen Ausschnitt aus dem Gesamtgeschehen wieder. 21 Hinreichender Tatverdacht liegt vor, wenn nach dem Ergebnis der Ermittlungen davon ausgegangen werden kann, daß dem Beschuldigten in einer künftigen Hauptverhandlung die Tat mit Wahrscheinlichkeit nachzuweisen und seine Verurteilung zu 18
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§
Anscheinsbeweis
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Die Arbeitshypothese nimmt, empirisch zunächst nur durch die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsergebnisse gestützt, das Handlungsprogramm für den Richter auf. Diese mit der Anklage zum Ausdruck gebrachte Verurteilungshypothese des Staatsanwalts muß sich der Richter im Zwischenverfahren allerdings noch nicht zu eigen machen, er prüft vielmehr zunächst seinerseits, ob eine Verurteilung wahrscheinlich wäre (§ 203). Wenn die Hypothese aufgestellt ist, muß zunächst gefragt werden, ob sie durch mögliche Alternativverläufe entkräftet werden kann, ob also noch andere hypothetische Verläufe in Betracht kommen, die das Geschehen ebenfalls erklären. Die miteinander rivalisierenden Alternativhypothesen werden miteinander daraufhin verglichen, welche am besten "paßt", d.h., bei welcher die geringsten Friktionen mit anderen Gegebenheiten auftreten. Die Beweishypothese muß daraufhin überprüft werden, wie sie sich in den Zusammenhang der Begebenheiten einordnen läßt, ob sie "wie ein Schlüssel paßt" 22 . Es schält sich dann heraus, welche Alternative verworfen und welche berücksichtigt werden muß. Zur Überprüfung der Gegenindizien müssen wiederum Indizien gesucht werden, die das Vorliegen der Gegenindizien ausschließen, usw. Die Beweishypothese stellt nicht etwa eine Vorwegnahme des Ergebnisses der Beweiswürdigung dar, was nach allgemeiner Meinung unzulässig wäre. Denn die Hypothese ist falsifikationsfähig und -bedürftig. Wichtig in Abgrenzung zum für einen strafrechtlichen Beweis unzureichenden Vorurteil ist daher, sich stets der Vorläufigkeit des Ermittlungsstandes bzw. der Beweisaufnahme bewußt zu sein23. Dies ist m.E. nicht nur der tragende Gedanke des Verbots der Beweisantizipation, sondern - nebenbei bemerkt - auch Hintergrund der Regelungen des Rechts des Angeklagten auf das letzte Wort, des Verbots, das Urteil vor Verkündung abzufassen, sowie des Unmittelbarkeitsprinzips für das Beibringen der Beweismittel. Jede Hypothese ist damit eine zunächst nur möglicherweise wahre Aussage, eine unbestätigte Unterstellung, und damit möglicherweise nicht legitimiert. Damit die Hypothese allerdings nicht auch defizitär bleibt, muß ein Korrektiv eingeschaltet werden. Welcher Art wird noch zu klären sein24.
erwarten ist, Kleinknecht/Meyer-Goßner, § 170 Rn. 1 f., § 203 Rn. 2; KMR-Paulus, § 203 Rn. 13. 22 Engisch, Logische Studien, S. 77. 23 Dencker, ZStW 102 (1990), 51 (71), weist zu Recht daraufhin, daß "die beiden Elemente des Beweises, Wahrnehmung und Erfahrung, Vor-Urteile genereller Art notwendig enthalten". 24 Siehe unten § 5 und im Zweiten Teil.
II. Das Alternativenausschluß verfahren
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Ein spezifisches Problem ist dabei, \auf welche Weise von den theoretisch unendlich vielen unterschiedlichen Alternativverläufen überhaupt Kenntnis genommen wird bzw. werden kann; ob, und wenn ja, welche Abweichungen für eine Alternativbetrachtung eventuell schon von vornherein irrelevant sind 25 . In diesem Zusammenhang sind auch die Anforderungen an die Aufklärungspflicht des Richters bedeutsam26. Es wird sich zeigen, daß es nicht pauschal darum geht, ein Geschehen möglichst genau aufzuklären, sondern, daß es sehr wohl zulässig sein kann, sich mit der durch bestimmte, aber eben wohlbegründete Auslassungen entstandenen Unvollständigkeit zufriedenzugeben. Diese Auslassung nun entspricht genau der Struktur des Anscheinsbeweises. Denn auch dort steht das Ergebnis nur "irgendwie" fest. Gleichwohl ist unter bestimmten Kautelen, insbesondere wenn der typische Erfahrungssatz nicht durch gegenläufige Indizien zu entkräften ist, der Beweis letztlich geführt.
25 26
Siehe dazu unten § 7. Siehe unten § 10.
§ 3 Fallkonstellationen für die Anwendung eines Anscheinsbeweises im Strafprozeß Zur Illustrierung der These, daß der Anscheinsbeweis im Strafprozeß Anwendung findet, werden im folgenden einige Fälle besprochen. Wenden wir uns zunächst dem Feld der Kausalität zu.
I. Anscheinsbeweis bei der Kausalitätsfeststellung Der Topos der Kausalität begegnet im Strafrecht an mehreren Stellen. Erstens wird das Erfordernis der Kausalität zwischen Handlung und Erfolg ganz überwiegend als Mindestbedingung aller Erfolgsdelikte verstanden1. Kausalität bedeutet in diesem Kontext, daß Handlung und Erfolg naturwissenschaftlich miteinander verknüpft sind2. Die Kausalität wird üblicherweise im Gegensatz zur objektiven Zurechnung empirisch aufgefaßt 3. Davon unabhängig ist der Streit, ob und in welchem Umfang die Lehre von der objektiven Zurechnung darüber hinaus Bedeutung hat. Die Lehre von der objektiven Zurechnung berührt das Erfordernis der Kausalität nicht, ihre Kriterien begrenzen vielmehr ein als kausal erkanntes Verhalten4.
1
Jescheck/Weigend, S. 277 ff.; Schönke/Schröder-Lenckner Rn. 71 ff. vor § 13 StGB; MaurachlZipf, AT 1, § 18/36; SK-Rudolphi Rn. 38 vor § 1 StGB. Weil im Besonderen Teil des Strafrechts ungleich mehr Erfolgs- als Tätigkeitsdelikte existieren, ist der Anwendungsbereich der Kausalität im Strafrecht quantitativ sehr bedeutend. 2 Siehe Koriath, Zurechnung, S. 404 ff.; Maiwald, S. 8 ff. 3 Ganz vereinzelt wird die Kausalität nicht unbefangen naturalistisch verstanden, sondern es wird sogleich die wertende Frage nach einer Risikoerhöhung gestellt, so Stratenwerth, Gallas-FS 1973, S. 237 ff.; wohl auch Otto, NJW 1980, 417 (420, 423 für den Bereich der Erfolgsdelikte im Strafrecht); aber als Mißverständnis richtigstellend ders., Jura 1992, 90 (90 ff., insbes. 90 Fn. 2); siehe auch Lampe, ZStW 101 (1989), 3 (9). 4 Zur Lehre von der objektiven Zurechnung z.B. Roxin, Honig-FS 1970, S. 133 ff. Die Adäquanztheorie wird allgemein ebenfalls nur als Einschränkung einer bereits bestehenden Kausalität verstanden; dazu MaurachlZipf \ AT 1, § 18/30 ff.
I. Anscheinsbeweis bei der Kausalitätsfeststellung
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Auch wenn psychische Gegebenheiten des menschlichen Verhaltens, etwa bei der Anstiftung, zueinander Bezug haben sollen, wird der Begriff Kausalität verwendet5. Schließlich wird noch bei der Unterlassung von "Kausalität" der unterlassenen Handlung für den Erfolg gesprochen. Die Kausalität durch Unterlassen wird in dieser Arbeit nicht behandelt, da dabei zahlreiche Spezialprobleme auftauchen, die einer gesonderten Betrachtung bedürfen 6.
1. Feststellung der physischen Kausalität
a) "Schuß-Fall" und "Doppelschuß-Fall" Bei der Kausalitätsprüfung ist m.E. ein Anscheinsbeweis darin zu sehen, daß der Tatrichter in jedem Einzelfall die sog. überholende Kausalität ausschließen muß. Es muß geklärt sein, ob nicht eine andere bisher unbekannte Ursache den Erfolg ausgelöst hat, so daß das zunächst als Ursache in Betracht gezogene Verhalten nicht oder nur zu spät wirksam werden konnte. Dies läßt sich beispielsweise am "Schuß-Fall" verdeutlichen7: A zielt mit einer Pistole auf B und drückt ab. B fällt daraufhin tot zu Boden. Später kann durch Sachverständige nicht geklärt werden, ob das den Tod verursachende Projektil aus der Waffe des A stammte, weil die Waffe des A nicht mehr auffindbar ist.
Trotz dieses feststehenden Tatgeschehens, in dem die Kausalität im Ergebnis wohl nicht verneint werden dürfte, ist die Möglichkeit nicht von der Hand zu weisen, daß ein unbekannter Dritter auf B geschossen und seinen Tod verursacht haben könnte, auch wenn dafür nach dem Sachverhalt zunächst einmal nichts spricht. Zur Abgrenzung diene der hier sog. "Doppelschuß-Fall"8: A und B schießen nahezu gleichzeitig, aber ohne voneinander zu wissen, auf C. Der eine Schuß trifft ihn in den Kopf, der andere ins Herz. Es läßt sich nicht klären, wer zuerst geschossen hat. Jeder Schuß wäre sofort tödlich gewesen.
Faßt man den Fall auf diese Weise, liegt die Lösung auf der Hand. Wenn der Fall nicht weiter aufgeklärt werden kann als eben nur soweit, daß zwei 5 6
Siehe dazu noch unten § 3 I 2 und § 4 III 3. Siehe zur Kausalität beim Unterlassen z.B. SK-Rudolphi,
Rn. 15 vor § 13
StGB. 7
Dazu etwa bei J. Schulz, Lackner-FS 1987, S. 41 ff.; Eser!Burkhardt, 4/21 f. 8 Dazu auch Arthur Kaufmann, Eb. Schmidt-FS 1961, S. 211.
siehe
auch
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§ 3 Fallkonstellationen für die Anwendung eines Anscheinsbeweises
Möglichkeiten vorliegen, die beide ursächlich gewesen sein können, ist diese non-liquet-Situation über den Grundsatz "in dubio pro reo" zu lösen9. Wenn, und so ist der Fall meist gefaßt, keine gegenseitige Zurechnung über die Regeln der Mittäterschaft möglich ist, sind A und B nicht wegen eines (vollendeten) Tötungsdelikts zu verurteilen. Dann liegt ein echter Tatsachenzweifel vor, der nach dem Grundsatz in dubio pro reo so aufzulösen ist, daß für beide die jeweils günstigste Sachverhaltsgestaltung unterstellt wird. Danach ist für jeden davon auszugehen, daß in Wirklichkeit der andere den tödlichen Schuß abgegeben hat. Ob diese Lösung über den in dubio pro reo-Grundsatz dagegen auch im "Schuß-Fall" gilt, ist fraglich. Wenn keine Anhaltspunkte für den recht unwahrscheinlich anmutenden anderen Verlauf vorliegen, spricht nichts dafür, daß es nicht so gewesen sein sollte, wie es den ersten Anschein hatte. Gleichwohl muß geklärt werden, wie der Richter weiter vorgehen bzw. entscheiden soll, wenn z.B. der Angeklagte eine entlastende Behauptung aufstellt. Nach der herrschenden Meinung muß sich der Richter nicht mehr als eine Überzeugung bilden, die frei von Denkfehlern und dem Verstoß gegen allgemeine Erfahrungssätze ist 10 . Vor der Erörterung dieser prozessualen Fragen soll zunächst die materiell-rechtliche Seite der Kausalität betrachtet werden.
aa) Die materiell-rechtlichen Kausalitätsformeln Die Kausalität wird materiell-rechtlich heute üblicherweise nach zwei Formeln bestimmt: nach der conditio sine qua non-Formel bzw. nach der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung. Die conditio-Formel wird häufig auch nur als "Test" im Rahmen der Äquivalenztheorie verstanden.
(1) Conditio sine qua non-Formel Die Rechtsprechung11 geht seit RGSt 1, 373 von der conditio sine qua nonFormel aus und fordert für die Feststellung einer Bedingung als ursächlich, daß die Bedingung nicht hinweggedacht werden könne, ohne daß der (konkrete) Erfolg entfiele.
9
Zu beiden Termini unten § 5 II 1. Siehe dazu im einzelnen unten § 5 V. 11 St. Rspr.: RGSt 1, 373 (374); 44, 230 (244); 75, 371 (374); 77, 17 (18); BGHSt 1, 332 (333); 2, 20 (22, 24); 7, 112 (114); 31, 96 (98). 10
I. Anscheinsbeweis bei der Kausalitätsfeststellung
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In der Literatur wird die conditio sine qua non-Formel, seit Engisch12 dies klargestellt hat 13 , sehr verbreitet nur noch als heuristisches Prinzip, d.h. als eine gedankliche Stütze ohne eigenständigen Erkenntniswert betrachtet14. Es wird insbesondere moniert, die Formel basiere auf einem Zirkelschluß: sie setze das zu Zeigende bereits stillschweigend voraus 15. Bei einmaligen Ereignissen und bei der psychischen Kausalität biete sie nur einen Scheinvorzug, weil man keine Rechenschaft darüber ablege, wie man dazu komme, daß der Erfolg entfällt 16. Außerdem führe sie sogar zu falschen Ergebnissen, falls sie nicht in bestimmten Fällen modifiziert werde. Denn Kausalität kann durch das Hinwegdenkverfahren ohne zugleich bestehende naturwissenschaftliche Kenntnisse über kausale Zusammenhänge nicht erkannt werden. Der Ausgangspunkt der Kausalitätsprüfung, also der zugrundeliegende naturwissenschaftliche Satz bzw. der Satz der Lebenserfahrung, der hinter der Annahme der konkreten Kausalität steckt, wird ohne Berücksichtigung irgendeiner Formel bereits gewußt und durch den Hinweis auf die conditio sine qua nonFormel lediglich scheinbar gestützt. Oft wird eine Gesetzmäßigkeit auch nur stillschweigend vorausgesetzt, insbesondere in den Fällen, in denen die Formulierung einer solchen Gesetzmäßigkeit nach naturwissenschaftlichen Gesichtspunkten schwerfällt. Da die Kritik an der conditio-Formel allgemein als berechtigt angesehen wird 17 , drängt sich die Frage auf, wieso sich die conditio sine qua non-Formel - insbesondere in der praktischen Anwendung durch die Rechtsprechung - nach wie vor solcher Beliebtheit erfreut. Der Grund für ihre fortdauernde Anwendung liegt m.E. gerade in ihrer heuristischen Funktion. Sie erinnert nämlich daran, daß möglicherweise noch andere Ursachen in Betracht kommen, die Kausalität also in concreto ausgeschlossen sein könnte. Andere 12
Engisch, Kausalität, S. 21 ff.; ders., Weltbild, S. 110 ff., 130 Fn. 88. Erkannt schon von Krückmann, ZStW 37 (1916), 353 (357, 359, 360). 14 Erb, JuS 1994, 449 (450 ff.); Jakobs, AT, §7/12 ff.; Jescheck/Weigend, S. 283; Armin Kaufmann, JZ 1971, 569 (574); Arthur Kaufmann, Eb. Schmidt-FS 1961, S. 207 ff.; K. Kühl, JR 1983, 32 (33); Schönke/Schröder-Lenckner, Rn. 74 f. vor §§ 13 ff. StGB; Maurach/Zipf AT 1, § 18/40 und 45; Puppe, ZStW 92 (1980), 863 (874 ff.); ZStW 99 (1987), 595 (599); SchwZStr 107 (1990), 141 (143 Fn. 2, 149 ff.); in: NK, Rn. 87 vor § 13 StGB; Roxin, AT, § 11/14; SK-Rudolphi, Rn. 41 vor § 1 StGB m.w.N.; Samson, Kausalverläufe, S. 31 ff.; L. Schulz, Kausalität, S. 55; Vogel, Norm, S. 148 ff.; Welzel, S. 43 f. 15 Vgl. zur Kritik die in voranstehender Anmerkung zitierten Autoren. Die conditio sine qua non-Formel befürwortend dagegen Maurach/Zipf, AT 1, § 18/17 ff., 37 ff., 44 f.; Spendel, Kausalitätsformel, S. 38, 91; Toepel, S. 52 ff.; Tröndle, Rn. 16 und 18 vor § 13 StGB. 16 Puppe, SchwZStr 1990, 141 (149 Fn. 10). 17 Man kann die Erkenntnisse dieser Kritik wohl schon als "juristisches Allgemeingut" bezeichnen, so Maiwald, S.5Fn. lOm.w.N. 13
§ 3 Fallkonstellationen für die Anwendung eines Anscheinsbeweises
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Alternativen sollen nicht übersehen werden, bevor Kausalität angenommen werden kann 18 .
(2) Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung Nach der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung19 ist gefordert, daß der Erfolg mit der Handlung in einem durch Naturgesetze vermittelten Zusammenhang steht. Diese Lehre betont die Notwendigkeit, das Spezifische des Zusammenhangs zwischen zwei Ereignissen aufzuzeigen, die nicht nur rein zeitlich im Wege der Abfolge ("post hoc"), sondern darüber hinaus durch eine besondere Beziehung, eben der Kausalität ("propter hoc") miteinander verknüpft sind 20 . Zwar vermag auch die Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung diese Beziehung nicht zu liefern, sie verweist aber immerhin darauf, daß eine solche notwendig ist. In diesem Vorteil der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung liegt aber zugleich ihr Nachteil begründet. Die Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung ist zwar vom theoretischen Standpunkt her gesehen korrekt formuliert. Sie versagt aber in all den Fällen, in denen eine exakte Kausalanalyse aus faktischen oder normativen Gründen nicht zu einem Ergebnis führen kann. Denn dann lassen sich die geforderten allgemeinen Erfahrungssätze nicht aufstellen, man steht vor einem offenen Problem. Angesichts der damit verbundenen, teilweise beträchtlichen forensischen Probleme erscheint es fraglich, ob auch für die tägliche Gerichtspraxis in jedem Strafrechtsfall eine gesetzmäßige Bedingung explizit anzugeben ist; zudem eine solche Bedingung, die, wie meist gefordert wird 2 1 , naturwissenschaftlichen Anforderungen genügen muß. Wenn etwa die Kausalität völlig offensichtlich, evident ist oder wenn es sich 18
Walder, SchwZStr 93 (1977), 113 (138). Siehe die in § 3 Anm. 14 angegebenen Autoren. 20 Krückmann, ZStW 37 (1916), 353 (356, 358, 362), weist daraufhin, daß das, was die Erfahrung lehre und was feststellbar sei, immer nur ein post hoc sei. Der als selbstverständlich erscheinende Zusammenhang werde fingiert (357 u.ö.). Beispielsweise ist der Schluß vom Atemgeruch eines Autofahrers auf Alkoholkonsum möglich, da ein - wenn auch nicht zwingender - Erfahrungssatz dieses Inhalts existiert (propter hoc). Ein Schluß darauf, daß ein Autofahrer, der am Ort einer Karnevalsveranstaltung gestoppt wird (post hoc), ein Karnevalsnarr ist, ist dagegen unzulässig. Im letzteren Fall besteht ausschließlich eine statistische ("anläßliche") Beziehung, aber kein innerer Zusammenhang. Gleichwohl können beide Fälle denselben Wahrscheinlichkeitsgrad aufweisen. 21 Bernsmann, ARSP 1982, 536 (536); Engisch, Logische Studien, S.21, 25; Arthur Kaufmann, Eb. Schmidt-FS 1961, S. 207 ff.; Schönke/Schröder-L^ctor, Rn. 75 vor § 13 StGB; SK-Rudolphi, Rn. 41 vor § 1 StGB; Samson, Kausalverläufe, S. 31. 19
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um die Feststellung der psychischen Kausalität handelt, seien Zweifel angemeldet; denn dann könnte die theoretisch zwar wohlbegründete, praktisch aber umständliche bzw. unmögliche Bestimmung dieser Gesetzmäßigkeiten im Einzelfall entbehrlich sein. Dies sind nun genau die Fälle, für deren Lösung üblicherweise auf die Vorteile der conditio sine qua non-Formel verwiesen wird, und wohl auch der Normalfall in der juristischen Praxis.
(3) Bedeutung beider Formeln Daß beide Formeln Vor-, aber auch Nachteile besitzen, hängt mit der Frage der Feststellung der Kausalität zusammen. Beide Formeln betonen nur vom jeweils anderen Ausgangspunkt her zwei Seiten des Kausalitätsbeweises, die mehr oder weniger ausgeprägt bei jeder Kausalitätsprüfung bestehen. Diese Einsicht, daß beide Formeln ihre Berechtigung haben, spiegelt sich in der Auffassung wider, die das Bestehen eines echten Gegensatzes zwischen beiden Lehren verneint und eine kombinierte Anwendung empfiehlt, um die Vorteile beider Auffassungen fruchtbar zu machen22. Beide Formeln sind m.E. Ausprägungen desselben Prinzips. Sie treffen sich im Typischen des Anscheinsbeweises: Ein (genereller) Erfahrungssatz spricht ßr die Kausalität, und eine andere ernsthafte (konkrete) Alternative nicht dagegen. Das ist die Struktur des Anscheinsbeweises, wie sie in § 1 dargestellt wurde. Die Kausalität ist nicht von ungefähr der typische Anwendungsfall des Anscheinsbeweises im Zivilrecht. Es wäre verwunderlich, wenn diese Struktur im Strafrecht völlig anders sein sollte, nur weil der Strafprozeß anderen Prinzipien unterliegt. Es läßt sich daher vermuten, daß es nicht strukturelle Gründe sind, die für oder gegen den Anscheinsbeweis sprechen, sondern allenfalls normative Gründe. Dieser These wird noch nachzugehen sein. Es bleibt als entscheidende Frage zu beantworten, unter welchen Voraussetzungen Kausalität als im Rechtssinne gegeben angenommen werden kann. Beide Kausalitäts-"Formeln" können zur letztlich entscheidenden Feststellung der Kausalität wenig beitragen. Sie weisen nur auf die Methode der Feststellung hin 2 3 .
22 Walder, SchwZStr 93 (1977), 113 (140); Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 522 f.; J. Schulz, Lackner-FS 1987, S. 42 f. 23 Siehe zu weiteren Kausalitätstheorien unten § 4 III 1.
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3 Fallkonstellationen für die Anwendung eines Anscheinsbeweises
bb) Prozessuale Feststellung der Kausalität Der "Doppelschuß-Fall" hat schon deutlich gemacht, daß es auf eine möglichst genaue Beweisaufnahme ankommt24. Verwirklicht sich eine Ursache später als die andere, ist nur die erste ursächlich. Die zweite "Ursache" kann sich nicht mehr auswirken, wenn bereits die erste Ursache tödlich war, denn sie trifft nicht mehr auf ein taugliches Tatobjekt. Läßt sich nicht mehr genau aufklären, welche Ursache die erste ist, kommt nur eine in dubio pro reo-Entscheidung in Frage. Der "Doppel-Schuß"-Fall ist jedoch für die praktische Feststellung von Kausalität nicht typisch, sondern ein konstruierter Lehrbuchfall. Er ist nur deswegen gut auf empirischem Wege aufzulösen, weil er so gefaßt ist, daß ersichtlich nur zwei mögliche Kausal Verläufe in Frage kommen, die noch dazu auf derselben Ebene des Konkretisierungsgrades bzw. der Wahrscheinlichkeit angeordnet sind. Bei einer solchen Fallgestaltung kann es nicht verwundern, daß die Lösung in einer möglichst exakten Kausalanalyse gesucht wird und, wenn diese nicht zu einem eindeutigen Ergebnis führt, nur die Lösung über den in dubio pro reo-Grundsatz verbleibt. Meist handelt es sich bei den Fällen, die im Umfeld der Kausalität diskutiert werden, um in der Tat evidente Fälle, die wenig Probleme aufwerfen 25. Es darf aber nicht übersehen werden, daß die beweisrechtlich eindeutige Formulierung eines Sachverhalts - wie sie ja meist in der theoretischen Diskussion vorliegt - dazu verleiten kann, Probleme im Bereich der Feststellung zu unterschätzen26. Man beschäftigt sich in der Theorie fast ausschließlich mit Problemen der Rechtsanwendung, wenngleich in der Praxis die Feststellung des Sachverhalts weitaus größere Probleme bereitet 27. So ist im "Schuß-Fall" z.B. die Kausalitätsfeststellung um einiges unklarer. Dort geht es um das Problem, die - ja prinzipiell stets mögliche - überholende Kausalität im konkreten Einzelfall auszuschließen, um Kausalität bejahen zu können. "Schuß-Fall" und "Doppelschuß-Fall" repräsentieren damit zwei Extreme: Im "Doppelschuß-Fall" erscheint es richtiger bzw. plausibler, keine vollendete Tötung anzunehmen, da das mögliche Verhalten von A und B auf derselben Ebene liegt. Im "Schuß-Fall" handelt es sich demgegenüber um einen nur gedanklichen Zweifel, der unschädlich sein dürfte 28. Nicht so einfach sind je24
So auch Samson, Strafrecht, S. 20 f. der weniger ein materiell-rechtlich als vielmehr empirisch zu lösendes Feststellungsproblem für gegeben hält. 25 Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 53 Fn. 201 ff. 26 So auch Koch/Rüßmann, S. 271 f. 27 Hamm, S. 10; für den Zivilprozeß Arens/Lüke, Rn. 1; Schneider, Rn. 1 ff. 28 Erb, JuS 1994, 449 (452), verweist darauf, daß eine unbekannte Zwischenursache nicht mit letzter theoretischer Sicherheit ausgeschlossen werden kann; ebenso Stodolkowitz, VersR 1994, 11 (12, 14). Dennoch muß bei ganz typischen Abläufen
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doch alle dazwischenliegenden Fälle zu entscheiden, die sich solch intuitiv einleuchtenden Lösungen entziehen. M.E. kann der Ausschluß der überholenden Kausalität trotz bestehender Unklarheit im empirischen Sinne auf der Basis zweier Prämissen erfolgen, die — zusammengenommen - einem Anscheinsbeweis gleichkommen. Man benötigt erstens eine Regel, die besagt, daß - durch einen Erfahrungssatz gestützt - generelle Kausalität angenommen werden kann und zweitens muß geklärt sein, wann der Fall der überholenden Kausalität konkret ausgeschlossen werden kann. Dies kann etwa dann geschehen, wenn sich dafür keine Anhaltspunkte aus dem bekannten Sachverhalt ergeben.
b) "Contergan-Fall" Es sind auch Fälle denkbar, in denen schon die generelle Kausalität nicht feststeht. Der "Contergan-Fall" des Landgerichts Aachen29 macht diese Fallgestaltung anschaulich: Eine Reihe von Frauen benutzte während der Schwangerschaft das den Wirkstoff Thalidomid enthaltende Schlafmittel Contergan. Bei einem Teil der Frauen traten nach einiger Zeit Nervenschäden auf; außerdem war ein Teil der von diesen Müttern geborenen Kinder nicht lebensfähig bzw. kam mit Mißbildungen zur Welt. Im Strafverfahren gegen die für die Entwicklung bzw. den Vertrieb des Mittels Verantwortlichen lautete die zwischen den naturwissenschaftlichen Experten umstrittenste Frage, ob Thalidomid für die Nervenschäden, Totgeburten bzw. Geburten nicht lebensfähiger oder mißgebildeter Kinder verantwortlich sei. Die eine Hälfte der befragten Sachverständigen bejahte die Frage, die andere Hälfte verneinte sie.
aa) Das Feststellungsproblem Umstritten war im "Contergan-Fall" die der Feststellung der konkreten Kausalität vorgelagerte Frage nach dem Bestehen eines Erfahrungssatzes, der den Wirkstoff Thalidomid - abgesehen von den möglicherweise bestehenden Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalls - als für die erwähnten Schädigunohne eine ersichtliche andere Ursache die theoretische Möglichkeit der überholenden Kausalität als unbeachtlich übergangen werden; Erb, JuS 1994, 449 (452, unter Verweis auf Krümpelmann, Jescheck-FS 1985, S. 316). 29 LG Aachen JZ 1971, 507 ff. (Beschluß v. 18.12.1970, 4 KMs 1/68, 15115/67); siehe auch die Stellungnahme der Staatsanwaltschaft zum "Contergan-Fall", DRiZ 1971, 45 (45 ff.).
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3 Fallkonstellationen für die Anwendung eines Anscheinsbeweises
gen generell ursächlich ausweisen konnte. Zu dieser Problemstellung fuhren wie aufgezeigt - letztlich auch beide Kausalitätsformeln: die Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung bereits unmittelbar durch ihre Fragestellung, die conditio sine qua non-Formel im zweiten Schritt. Denn auch für sie muß ein gesetzmäßiger Zusammenhang vorausgesetzt sein, der nur nicht eigens formuliert wird. Wenn allerdings offensichtlich ist, daß ein solcher Zusammenhang fehlt oder umstritten ist und daher nicht ohne weiteres angenommen werden kann, kann der Frage nach seinem Vorliegen nicht mehr ausgewichen werden. Bezeichnenderweise wurde das Problem in der Literatur vor dem "Contergan-Fall" kaum näher analysiert30. Man fand sich in der Theorie recht unvermittelt mit einem Problem konfrontiert, das sich erstmals in der Rechtsanwendung gestellt hatte. Das Problem der sog. "generellen Kausalität" ist wie zu sehen sein wird - im Grunde jedoch kein Spezialproblem des materiellen Rechts, es steht vielmehr stellvertretend für das Problem der Feststellung von Tatbestandsmerkmalen überhaupt. Das Besondere dieser Konstellation ist nur, daß die allgemeinen Probleme hier in aller Deutlichkeit sichtbar werden.
bb) Ansicht von Armin Kaufmann Armin Kaufmann 31 nimmt an, daß das materiell-rechtlich vorgegebene Merkmal Kausalität die jeweiligen empirischen Kausalgesetze schon enthalte. Die Kausalgesetze müßten für die prozessuale Feststellung feststehen. Sie könnten nicht der - mehr oder weniger willkürlichen - tatrichterlichen Beweiswürdigung unterliegen, sondern seien rechtlich überprüfbar. Vor der Frage der Anwendung der Kausalgesetze sei ihr Bestehen zu prüfen. Erst wenn die Kausalität generell feststehe, könne man die Frage nach der konkreten Kausalität stellen32. 30 Siehe aber Engisch, Kausalität, S. 20 ff.; Armin Kaufmann, JZ 1971, 569 (569 ff.). 31 Armin Kaufmann, JZ 1971, 569 (569 ff. insbes. 572 ff.). Seine Stellungnahme steht nach der hier vertretenen Auffassung stellvertretend für das Unbehagen an der Anerkennung eines - durch die Rechtsprechung unkontrolliert angewandten Anscheinsbeweises im Strafprozeß. Siehe auch Jakobs, AT, § 7/12 Fn. 14; Schönke/Schröder-Lenckner, Rn. 75 vor § 13 StGB; SK-Rudolphi, Rn. 42 vor § 1 StGB; Stratenwerth, AT, Rn. 216; L. Schulz, Kausalität, S. 63 ff. 32 Gegen die Zuordnung zum materiellen Recht L. Schulz, Kausalität, S. 63, da Kausalgesetze als Aussagen über die Wirklichkeit nicht zu den Rechtsfragen gehörten. Gegen Armin Kaufmann auch Maiwald, S. 109, mit dem Argument, im Zweifelsfall dürfe, um die Rechtsfriedensfunktion des Prozesses zu wahren, das
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Geht man - wie Armin Kaufmann -r von der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung aus, fehlt es im "Contergan-Fall" an einem generellen Naturgesetz; die Kausalität läßt sich also nicht feststellen. Fordert man nämlich einen naturwissenschaftlich stichhaltigen Nachweis des in Frage stehenden Naturgesetzes und daher eine Herbeiführung der Schäden durch ein klinisch kontrolliertes Experiment unter genau bezeichneten Versuchsbedingungen, läßt sich dieser Nachweis nicht führen. Denn schon bei einem bloßen Verdacht schwerer Nebenwirkungen des untersuchten Wirkstoffs für die Probanden bestehen ethische und strafrechtliche Bedenken gegen ein solches Experiment 33.. Ein derartiges Experiment wird aber in Übereinstimmung mit der klinischen Pharmakologie für einen naturwissenschaftlichen Nachweis als erforderlich erachtet. Daß ein solcher Nachweis nicht vorlag bzw. nicht zu erbringen war, war daher für einen Teil der Sachverständigen Grund dafür, die Kausalität zu verneinen. Die zweite entscheidende Rechtsfrage des "Contergan-Falls" sieht Armin Kaufmann in der Frage der Kompetenzverteilung zwischen Richter und Sachverständigem. Denn an das Bestehen oder Nichtbestehen eines Erfahrungssatzes sei das Gericht gebunden und könne sich nicht darüber hinwegsetzen. Der Richter müsse und dürfe nur solche Erfahrungssätze seiner Entscheidung zugrundelegen, die allgemein anerkannt sind 34 . Er dürfe sich in empirischen Fragen keine größere Beurteilungskompetenz anmaßen als die Vertreter der einschlägigen empirischen Disziplinen.
cc) Ansicht des LG Aachen Das LG Aachen hat sich dagegen dem Teil der Sachverständigen angeschlossen, die die Ursächlichkeit bejaht hatten35. Es wurde unter anderem Gericht nicht gegen intersubjektive Evidenz verstoßen. Siehe auch Beulke!Bachmann, JuS 1992, 737 (739) und Hassemer, Produkthaftung, S. 45. 33 LG Aachen, aaO., S. 511. 34 Armin Kaufmann, JZ 1971, 569 (572); ebenso Bruns, Maurach-FS 1972, S. 478 ff.; Dencker, ZStW 102 (1990), 51 (71); Hassemer, Produktverantwortung, S. 38 ff.; Hoyer, ZStW 105 (1993), 523 (524 f., 529 ff., 542 ff.); Schönke/SchröderLenckner, Rn. 75 vor § 13 StGB; Ranft, Strafprozeßrecht, § 60 G II; SK-Rudolphi, Rn. 42 vor § 1 StGB; BGH NStZ 1995, 590 (592). A.A. Kuhlen, Produkthaftung, S. 65 ff.; ihm zustimmend Puppe, JZ 1994, 1147, (1151); dies, in: NK, Rn. 86 vor § 13 StGB. 35 Daß sich der Richter damit immerhin im Einklang mit einem Teil der Sachverständigen befand und sich keiner Außenseitermeinung angeschlossen hat, betont Kuhlen, Produkthaftung, S. 69. Nach dems., JZ 1994, 1142 (1147), besteht aus heutiger Sicht kein vernünftiger Zweifel mehr an der Kausalität. L. Schulz, Kausalität, 4 Müller
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geltend gemacht, daß es nicht von Bedeutung sei, daß der genaue Wirkmechanismus von Thalidomid nicht bekannt sei 36 . Die Tatsache, daß das Medikament nicht in allen Fällen zu einer Schädigung geführt habe, also auch eine besondere Konstitution des einzelnen eine Rolle gespielt habe (sog. Pathogenese), ändere nichts an diesem Ergebnis. Dies führt als sog. Mitursächlichkeit nicht zur Verneinung der Kausalität37. Die Verteidigung berief sich dagegen darauf, daß Thalidomid auch die Wirkung habe könne, bereits vorgeschädigte Embryonen - die normalerweise vorzeitig abgegangen wären - am Leben zu erhalten und damit ihre weitere Entwicklung erst zu ermöglichen38. Die Argumentation des LG Aachen zur Feststellung der generellen Kausalität beruht auf wahrscheinlich erscheinenden Verdachtsgründen gegen Contergan sowie dem gleichzeitigen Ausscheiden anderer ebenfalls plausibler Erklärungsalternativen. Andere Ursachen kommen nach Lage der Dinge entweder nicht in Betracht oder können ausgeschlossen werden. Weitere Feststellungen sind nicht möglich. Die naturwissenschaftlichen Sachverständigen sind sich jedoch über die Wirksamkeit uneins. Wenn unter diesen Voraussetzungen ein für die Kausalität sprechender Erfahrungssatz trotz bestehender Zweifel und Unklarheiten herangezogen wird, also kein Vollbeweis vorliegt, die Zweifel aber als unerheblich deklariert werden, entspricht diese Beweisführung einem Anscheinsbeweis. Das LG Aachen39 ist jedoch vom Vorliegen eines Vollbeweises ausgegangen und vertrat folgende Auffassung zur Frage des Beweismaßes: Es sei darunter "keine naturwissenschaftliche, mathematische, jede Möglichkeit des Gegenteils ausschließende Gewißheit, kein absolut sicheres Wissen zu verstehen". Es komme "nicht auf eine objektive, sondern nur auf eine subjektive S. 67, zufolge ist der biochemische Wirkmechanismus, nämlich eine bestimmte Drehrichtung der Moleküle, mittlerweile bekannt. 36 LG Aachen, aaO. S. 511 ff: Auch negative Ergebnisse in Tierversuchen bzgl. der Nervenschädigungen - bzgl. der Mißbildungen konnten dagegen in zahlreichen Fällen ähnliche Schädigungen wie die in Frage stehenden beobachtet werden - könnten nicht zu einer Verneinung der Kausalität führen. Das beobachtete Mißbildungssyndrom sei in seiner Ausprägung charakteristisch, vergleichbare Syndrome seien in der Medizin zwar auch schon, aber extrem selten beobachtet worden. 37 Zur Mitursächlichkeit etwa LK-Roxin y § 26 StGB Rn. 17. 38 LG Aachen, aaO. S. 510. Das LG führte hierzu aus, daß die Beweisaufnahme hierfür keine Anhaltspunkte geliefert habe. Dagegen sprächen zum einen Tierversuche mit dem gegenteiligen Ergebnis und zum anderen die Tatsache, daß vor und nach der Verwendung von Thalidomid gerade nicht vermehrte Aborte mit den typischen Fehlbildungen aufgetreten seien. 39 LG Aachen JZ 1971, 507 (510 unter Hinweis auf BGH VRS 39, 103 ff.).
I. Anscheinsbeweis bei der Kausalitätsfeststellung
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Gewißheit an"; das Gericht müsse "nur voll überzeugt sein, und dies, gemäß der Eigenart geisteswissenschaftlichen Erkennens, nicht auf der Grundlage unmittelbar einsichtigen Denkens, sondern auf dem Gewicht eines die Gründe abwägenden Urteils über den Gesamtzusammenhang des Geschehens"; "nur ein realer, nicht aber abstrakter, theoretischer Zweifel des Tatrichters" könne "den Beweis im Rechtssinne ausschließen".
c) "Lederspray-Fall" Im schon erwähnten "Lederspray-Fall" hatte sich der BGH - neben anderen grundlegenden Fragen zur Produkthaftung - mit einer ähnlichen Problemstellung wie im "Contergan-Fall" zu befassen 40: Die W.u.M.GmbH stellt u.a. Sprays zum Imprägnieren oder Färben von Leder her. In bei ihr eingehenden Schadensmeldungen wurde berichtet, daß Personen nach dem Gebrauch des Ledersprays gesundheitliche Beeinträchtigungen erlitten hatten, die nicht selten lebensbedrohlich waren. Befunde ergaben regelmäßig Flüssigkeitsansammlungen in der Lunge (Lungenödem). Die Meldungen führten zu firmeninternen Untersuchungen, bei denen sich keine Fabrikationsfehler ergaben. Fachgespräche mit Toxikologen und einem beratenden Arzt brachten keine Klärung. Trotz Produktionsumstellungen setzten sich die Schadensmeldungen fort. Auch bei weiteren Untersuchungen gelang eine Identifizierung einer bestimmten Substanz als schadensauslösend nicht. Die Strafkammer — und (mit Ausnahme bezüglich eines Angeklagten) bestätigend auch der BGH — bejahte eine Strafbarkeit nach §§ 230 und 223 a StGB (in der Form einer das Leben gefährdenden Behandlung).
aa) Ansicht des BGH Nach Ansicht des BGH ist die Kausalität im Sinne des Strafrechts, hier also der Ursachenzusammenhang zwischen der Beschaffenheit eines Produkts und Gesundheitsbeeinträchtigungen seiner Verbraucher, auch dann rechtsfehlerfrei festgestellt, wenn offenbleibt, welche Substanz den Schaden ausgelöst hat, aber andere in Betracht kommende Schadensursachen ausgeschlossen werden können41. Die Kausalität wurde schon in der Vorinstanz vom LG Mainz ohne Trennung der Fragen nach der generellen und nach der konkreten Kausalität
40 41 4*
BGHSt 37, 106 (Urt. v. 06.07.1990, 2 StR 549/89). BGHSt 37, 106 (107).
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§ 3 Fallkonstellationen für die Anwendung eines Anscheinsbeweises
geprüft und bis auf einen Fall auch bejaht42. Die dazu vorgenommene Feststellung des LG Mainz 43 , daß die Ursache der Vorfälle "nur in etwaigen toxikologischen Wirkungsmechanismen einzelner Rohstoffe allein oder zumindest in der Kombination mit anderen Rohstoffen liegen konnte und mithin gelegen hat", sieht der BGH als für sich bindende Tatfrage an. Die Beweislage sei als für die Überzeugungsbildung des Tatgerichts genügend anzusehen44. Daran ändere nichts, daß es bis heute nicht möglich gewesen sei, diejenige Substanz oder Kombination von Substanzen naturwissenschaftlich exakt zu identifizieren, die den Produkten ihre spezifische Eignung zur Verursachung gesundheitlicher Schäden verleihe. Es reiche die Feststellung aus, daß die - wenn auch nicht näher aufzuklärende - inhaltliche (stoffliche) Beschaffenheit des Produkts schadensursächlich war, ohne daß es auf die Feststellung ankomme, warum diese Beschaffenheit schadensursächlich werden konnte45. Während das LG Aachen für die Begründung seiner Entscheidung im "Contergan-Fall" vornehmlich auf die subjektive Überzeugung abgestellt hat 46 , argumentiert der BGH wie auch das LG Mainz mit dem Alternativenausschluß verfahren. Der BGH verlangt, daß alle anderen in Betracht kommenden Schadensursachen - wenn auch mit sachverständiger Hilfe - aufgrund einer rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung ausgeschlossen werden müssen. Das LG Mainz hat beispielsweise auch den von den Beschwerdeführern vorgebrachten Verdacht erörtert, der einzige Zusammenhang zwischen Produktbenutzung und Schadenseintritt sei der eines bloßen zeitlichen Nacheinander gewesen. Für die Bejahung einer über eine bloße zeitliche Korrelation hinausgehenden Kausalitätsbeziehung wurde in diesem Zusammenhang als maßgeblich angeführt, daß innerhalb der einzelnen Schadensfälle eine signifikante Übereinstimmung von Krankheits- und Heilungsverlauf bestand. Das LG sah darin ein gewichtiges Indiz für das Wirksamwerden zumindest einund derselben Ursache47. Ein genaueres Eingehen auf das NichtVorliegen ei42
LG Mainz, (Urt. v. 28.04.1989, 8 Js 3708/84 W - 5 Kls), S. 136 ff. Ein Sachverständiger hatte dagegen in einem zivilrechtlichen Schadensersatzprozeß auch in diesem Fall die Ursächlichkeit bejaht. 43 LG Mainz, S. 157 ff. 44 BGHSt 37, 106 (112 f.). 45 BGHSt 37, 106 (106). Wenn der schadensursächliche Stoff feststeht, ist eine Bejahung der Ursächlichkeit naturgemäß einfacher zu treffen. Aber auch in diesem Fall muß wiederum nicht feststehen, wie der chemische, physikalische oder biologische Prozeß genau abläuft. 46 Zu der Frage, ob die freie richterliche Überzeugung als Argumentationstopos ausreichen kann, siehe unten § 5 V. 47 Die verzeichneten Abweichungen werden als unwesentlich gewertet. Tierversuche mit den Rezepturen der Ledersprays ergaben Lungenschädigungen vergleichbarer
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nes bloßen zeitlichen Nacheinander bzw. zufälligen Zusammentreffens habe angesichts der Vielzahl gleichartiger Schadensfalle keiner besonderen Darlegung bedurft; dies sei eine bloß theoretische Denkmöglichkeit gewesen48. Daß sich der BGH mit der Begründung des LG Mainz begnügt, ohne die Diskussion weiterer Möglichkeiten zu verlangen, entspricht m.E. in der Sache der Billigung eines tatrichterlichen Anscheinsbeweises. Denn die Ursächlichkeit steht ja allenfalls "irgendwie" fest. Der Hinweis auf die nur theoretische Denkmöglichkeit mag als das Ergebnis aufnehmender Begriff dienen, den Weg zu diesem Ergebnis kann er aber nicht liefern. Wenn, wie der BGH betont, das, "was nach naturwissenschaftlicher Analyse und Erkenntnis letztlich der Grund war", offenbleiben kann, bleibt gleichwohl die Frage zu beantworten, was nicht offenbleiben kann, was also festzustellen ist. Für die Fallösung maßgeblich ist also, ob nicht letztlich nur der wenn auch begründete Verdacht der Kausalität vorgelegen hat 49 .
bb) Stellungnahmen aus der Literatur (1) Allgemeines Stimmungsbild Die BGH-Entscheidung zum "Lederspray-Fall" wurde, da sie einige recht grundsätzliche Fragen betrifft, in der Literatur vielfach besprochen. Nicht alle Autoren gehen indes auf die Frage der generellen Kausalität ein. Teilweise wird die Entscheidung diesen Gesichtspunkt betreffend in der Begründung und im Ergebnis gutgeheißen50, in einigen Fällen auch nur im Ergebnis Art (LG Mainz, S. 82 ff.). Die Zeugen waren bis dahin beschwerdefrei gewesen (LG Mainz, S. 157). Als nicht widersprüchlich wurde die im Verhältnis zur Gesamtproduktion relativ geringe Zahl von Schadensfällen angesehen und die Tatsache, daß es angesichts der schon längeren Produktions- und Vertriebszeit bisher noch zu keinen entsprechenden Beschwerden gekommen war. 4 8 Zum Begriff der "bloß theoretischen Denkmöglichkeit" noch unten § 7 I 3 a. 49 So Beulke/Bachmann, JuS 1992, 737 (739), die die Entscheidung des BGH zwar als rechtspolitisch begrüßenswerten Schritt ansehen, aber bezweifeln, ob nicht "dem Sachverhalt Gewalt angetan" worden sei. 50 Erb, JuS 1994, 449 (449 f., 453): Es komme wegen der Häufigkeit und Gleichartigkeit der Beschwerden keine andere Ursache in Betracht; Jescheck/Weigend, S. 283; Kuhlen, NStZ 1990, 566 (566, 567); ders., JZ 1994, 1142 (1145 f.), hält Ergebnis und Begründung der Entscheidung für sachlich angemessen und fair; Meier, NJW 1992, 3193 (3194), der die Frage der Kausalität lediglich mit dem Hinweis streift, es sei ausreichend, wenn feststehe, daß von irgendeiner Substanz des Sprays Gefahren ausgingen; Otto, AT, S. 58 f.; ders., Jura 1992, 90 (94); Ranft, Strafprozeßrecht, S. 370 f.; Roxin, AT, § 11/15; SK-Rudolphi, Rn. 15 vor § 13 StGB; Vogel, Norm, S. 152 f.
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gebilligt 5 1 , mitunter auch ausdrücklich abgelehnt 52 . Die hier vertretene Auffassung, daß der Beweiskonzeption des BGH ein Anscheinsbeweis zugrundeliege, wird nur von wenigen der Autoren, die sich mit der in der Entscheidung vorgenommenen Kausalitätsfeststellung ausführlich befaßt haben, geteilt 5 3 .
(2) Die Auffassung von Samson Kritisch hat sich insbesondere Samson mit der Entscheidung des BGH auseinandergesetzt. Stehe die Kausalität des Sprays naturgesetzlich nicht eindeutig positiv fest, lasse sie sich negativ nur dann zwingend feststellen, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschlossen würden 54 . Bei möglicherweise noch unbekannten anderen Möglichkeiten könne man daher nie sicher sein, wirklich alle Möglichkeiten überprüft zu haben, man komme daher strenggenommen nie zum Z i e l 5 5 . Vom Standpunkt der Logik her gesehen ist es zwar durchaus richtig, daß bei einem negativen Ausschlußverfahren alle anderen Möglichkeiten ausgeschlossen werden müssen. Dagegen ist aber einzuwenden, daß ein solches Vorgehen nicht praktikabel wäre, da es für die Kausalitätsfeststellung schon 51
Brammsen, Jura 1991, 533 (534 ff., 538). Zweifelnd Beulke/Bachmann, JuS 1992, 737 (737 ff., insbes. 739) im Hinblick darauf, daß der BGH den Streitstand zur generellen Kausalität nicht erwähnt hat. 52 Braum, KritV 1994, 179 (182 ff.); Hassemer, in JuS 1991, 253 (254) noch zweifelnd unter Verweis auf die "anspruchsvollen Anforderungen der Bedingungsdogmatik an den Kausalitätsnachweis" ("wirklicher Geschehensablauf, konkreter Erfolg"); jetzt ganz ablehnend ders., Produktverantwortung, S. 42, S. 33: "rechtsstaatlich nicht zu verantwortende black-box-Konstruktion". Er moniert die unreflektierte Verlagerung der Kausalitätsprüfung in das Prozeßrecht wegen der dort herrschenden diffusen richterlichen Beweiswürdigung; krit. zu ihm Besprechung von Hilgendorf\ GA 1995, 143 (144 f.) und ders., Produzentenhaftung, S. 121 ff.; die BGH-Entscheidung ablehnend weiter Puppe, JR 1992, 30 (31); dies., in: NK, Rn. 86 vor § 13 StGB; JZ 1994, 1147 (1149); Samson, StV 1991, 182, (182 ff.). 53 Ausdrücklich nur Hassemer, Produktverantwortung, S. 47. BeulkeIBachmann, JuS 1992, 737 (744), sehen in der Entscheidung des BGH zwar eine "nicht unerhebliche Beweiserleichterung", erkennen aber nicht die Struktur des Anscheinsbeweises. Nach Hirte, JZ 1992, 257 (257), führt die Entscheidung zu einer Annäherung an die liberalere Überzeugungsbildung der Zivilgerichte und damit zu einer Haftungsverschärfung. Puppe, JR 1992, 30 (31); dies., JZ 1994, 1147 (1150) und dies, in: NK, Rn. 86 vor § 13 StGB, tituliert den von der Rechtsprechung akzeptierten Beweis als "indirekten Indizienbeweis"; ebenso L. Schulz, Kausalität, S. 66. 54 Samson, StV 1991, 182 (183), der deshalb konsequenterweise eine umfassende und abschließende Feststellung fordert. 55 So auch von Savigny, Argumentation, S. 134.
I. Anscheinsbeweis bei der Kausalitätsfeststellung
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grundsätzlich nicht erreichbar ist 56 . Auch über die Verwendung des Korrektivs, andere Möglichkeiten müßten "ernsthaft" in Betracht kommen, findet keine Annäherung der beiden Positionen statt, denn Samson hält einen Zweifel bereits im Fall eines ganz unbekannten Stoffes für ernsthaft 57. Grundsätzlich bestehen also zwei Möglichkeiten, die Dinge zu sehen: Entweder hält man die von Samson aufgestellten strengen Anforderungen - für jeden Kausalitätsnachweis oder aber nur für die nicht intuitiv lösbaren Fälle für berechtigt, oder man gibt sich mit dem BGH im Lederspray-Fall, eventuell wegen der grundsätzlich erfahrungssatzgegründeten Natur der Kausalitätsfeststellung, mit einem eingeschränkten Erfordernis zufrieden.
(3) Die Auffassung von Puppe Puppe, die der BGH-Entscheidung ebenfalls kritisch gegenübersteht, betont, daß in dem Fall allenfalls eine statistische Korrelation bestanden habe; denn es waren Schäden nicht bei allen, sondern nur bei einem statistisch relativ geringen Teil der Benutzer des Sprays aufgetreten 58. Puppe macht deutlich, daß für die Annahme eines deterministischen Gesetzes genau bezeichnete Randbedingungen fehlen. Für ein solches Erfahrungsgesetz müßte angegeben werden, wieso das Spray seine krankmachende Wirkung nicht in allen Fällen entfaltet hat. Es ist daher zu klären, ob für die Kausalitätsfeststellung die Angabe eines nur statistischen Erfahrungssatzes ausreicht, der den Bereich der Randbedingungen zu einem solchen Grade offenläßt, daß keine deterministische Erklärung jedes einzelnen Falles - auch der nicht krankmachenden - möglich ist. Bei Bejahung dieser Frage wäre weiter zu klären, welche Bedingungen für eine Mindestfeststellung erforderlich, aber auch ausreichend sind 59 .
cc) Ergebnis zur Unterscheidung zwischen "Contergan-" und "Lederspray-Fall" In bezug auf den Streitpunkt generelles Naturgesetz ist zwischen "Lederspray-Fall" und "Contergan-Fall" letztlich kein Unterschied auszu56
Hilgendorf, Produzentenhaftung, S. 124; Armin Kaufmann, JZ 1971, 569 (573); L. Schulz, Kausalität, S. 69: "Mehr als 'bestätigte' oder 'bewährte' Hypothesen kann es nicht geben". 57 Samson, StV 1991, 182 (183). 58 Puppe, JZ 1994, 1147 (1147 ff.). 59 Dazu unten § 8 I.
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§ 3 Fallkonstellationen für die Anwendung eines Anscheinsbeweises
machen. Zwar war im "Contergan-Fall" der möglicherweise kausale Wirkstoff bekannt, beim "Lederspray-Fall" hingegen nur die möglicherweise kausale Substanz (das Lederspray) bekannt, der genaue Wirkstoff (im Sinne eines bestimmten Moleküls) aber gerade unbekannt. Beiden Fällen gemeinsam ist aber, daß kein anerkanntes naturwissenschaftliches Kausalgesetz existiert bzw. bekannt ist. In beiden Fällen wurden allerdings unterschiedliche Verteidigungsstrategien eingenommen: Im "Contergan-Fall" war die Frage der generellen Ursächlichkeit zwischen den beiden Gruppen von Sachverständigen stark umstritten. Im "Lederspray-Fall" hingegen, in dem die Ursächlichkeit des Sprays nicht streitig war, stützte die Verteidigung ihr Vorbringen einer unzureichenden Annahme von Kausalität nur darauf, daß der genaue Wirkstoff nicht bekannt sei. Bei der vergleichsweise geringen Zeitspanne zwischen Kontakt und Wirkung von einigen Minuten60 wäre es aussichtslos gewesen, trotz der Unkenntnis über den genauen Wirkzusammenhang einen intuitiv einleuchtenden Kausalzusammenhang zu bestreiten61. Das LG Mainz sieht die zeitliche Komponente wohl sogar als Definitionsmerkmal von Kausalität an, wenn es Kausalität als "engen zeitlichen und sachlichen Zusammenhang"62 bezeichnet. Dementsprechend verneint es in Fällen, in denen Beschwerden erst nach einem Tag auftraten, die Kausalität mit der Begründung, infolge der langen Zeitspanne könne sie nicht mit der erforderlichen Sicherheit festgestellt werden 63. Wäre dieses Verständnis von Kausalität zutreffend, ergäbe sich daraus in der Tat ein deutliches Unterscheidungsmerkmal zum "Contergan-Fall". Denn dort lagen weitaus größere Zeitspannen zwischen der Einnahme des Medikaments und dem Auftreten der Schädigungen vor als nur ein einziger Tag 64 . Es mag zwar sein, daß es eine taugliche Alltagstheorie darstellt, Kausalität in einem solchen Sinne zu verstehen, das heißt aber noch nicht, daß für die Kausalität ein solcher Zusammenhang ausreicht oder erforderlich ist. Die Zeitkomponente ist bei der Kausalität nur in dem Sinne relevant, daß als Ursache ausscheidet, was zeitlich nach dem 60
Im "Lederspray-Fall" waren in engem zeitlichen Abstand (im Zeitraum von knapp einer Viertel- bis etwa zwei Stunden) nach dem - unstreitigen - Kontakt mit dem Lederspray bestimmte körperliche Reaktionen aufgetreten. 61 Allgemein "zur strafrechtlichen Relevanz der Nicht-Unmittelbarkeit des Erfolgseintritts" Silva-Sanchez, GA 1990, 207 (207 ff.). Er untersucht u.a. die Fallgruppe einer langen Zeitspanne bis zum direkten Erfolgseintritt. Dabei geht er aber nur von dem - für die hier interessierende Fragestellung gerade nicht relevanten Fall aus, daß "das Bestehen eines Kausalzusammenhangs unbezweifelbar ist, auch wenn aufgrund des langen bis zum Erfolgseintritts verstrichenen Zeitraums gewiß in vielen Fällen bedeutende Beweisschwierigkeiten auftreten". 62 LG Mainz, S. 164. 63 LG Mainz, S. 120. 64 Im "Contergan-Fall" wurde das Schlafmittel irgendwann innerhalb der sog. pathogenen Phase der Schwangerschaft eingenommen.
I. Anscheinsbeweis bei der Kausalitätsfeststellung
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Erfolg stattfindet. Eine Beschränkung auf eine zeitliche Nahwirkung ist jedenfalls vom naturwissenschaftlichen Verständnis der Kausalität unstatthaft 65. Bedeutung für die Kausalitätsfeststellung im Prozeß hat die Zeitspanne allenfalls indirekt insofern, als bei einer größeren Zeitspanne weitaus mehr auszuschließende Alternativen in Betracht kommen. Damit mag eine tatsächliche Erschwerung der Feststellung im Einzelfall verbunden sein, ein strukturelles Unterscheidungsmerkmal läßt sich darin nicht erkennen.
d) "Speiseöl-Fall" Die gleiche Problemstellung wie im "Lederspray-Fall" lag auch dem sog. "Speiseöl-Fall" des Spanischen Obersten Gerichtshofes 66 zugrunde. Auch hier ging es darum, Kriterien für eine strafprozessual legitimierte Feststellung der Kausalität zu finden, wenn es um einen nur in statistisch signifikanter Weise vermittelten Zusammenhang von Ursache und Wirkung geht. In diesem Fall war mit Anilin vergälltes Rapsöl in den Verdacht geraten, Krankheiten und etliche Todesfälle herbeigeführt zu haben. Der Zusammenhang konnte zwar nicht wissenschaftlich rekonstruiert werden, es lagen aber Umstände vor, die die starke Vermutung nahelegten, daß nur das Rapsöl für die Erkrankungen und die Todesfälle verantwortlich gewesen sein konnte.
Die Argumentation des Spanischen Obersten Gerichtshofes entspricht der des BGH im "Lederspray-Fall". Danach sei es zur Bestimmung der strafrechtlichen Kausalität nicht notwendig, den genauen Mechanismus der Erfolgsherbeiführung zu kennen, solange eine Korrelation zwischen den relevanten Ereignissen festgestellt werden kann und andere Ursachen der Erfolgsherbeiführung in einer sehr bedeutenden Anzahl von ähnlichen Fällen ausgeschlossen werden können67. Es ist also nicht erforderlich, daß der genaue naturwissenschaftliche Kausalmechanismus (z.B. das genaue Molekül) herausgefunden wird oder experimentell reproduzierbar ist. Die Verteidigung hatte demgegenüber geltend gemacht, wissenschaftlich sei die Kausalität insbesondere nicht experimentell nachzuweisen gewesen. Ein bloßer Zusammenhang, welcher Stärke auch immer, genüge nicht. Eine mögliche andere Ursachenquelle sei in dem erhöhten Verzehr von Salaten zu sehen, denn auch ein solcher Zusammenhang war festgestellt worden. 65
Siehe zur Kausalität unten § 4 III 1. Urteil des Spanischen Obersten Gerichtshofs vom 23.04.1992, Kassationsverfahren 3654/90, NStZ 1994, 37 ff., (Original in: Cuadernos del Consejo General del Poder Judicial [Sonderband], S. 69 ff., Madrid 1992). 67 Span. Oberster Gerichtshof NStZ 1994, 37 (37). 66
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§ 3 Fallkonstellationen für die Anwendung eines Anscheinsbeweises
e) "Holzschutzmittel-Fall" Im "Holzschutzmittel-Fall" hatte sich der BGH mit der Frage zu befassen, ob bestimmte in Innenräumen verwendete Holzschutzmittel kausal für Gesundheitsschäden der Bewohner gewesen waren 68. Der BGH hat im "Holzschutzmittel-Fall" im Vergleich zum "LedersprayFall" die Anforderungen an den Kausalitätsnachweis geändert. Ohne allerdings die Kritik der Literatur an der Lederspray-Entscheidung zu referieren, fordert der BGH nicht mehr, alle in Betracht kommenden Ursachen auszuscheiden, sondern er formuliert, daß ein Ausschluß anderer Ursachen auch dadurch erfolgen könne, daß "nach einer Gesamtbewertung der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und anderer Indiztatsachen die zumindest Mitverursachung des Holzschutzmittels zweifelsfrei festgestellt wird" 6 9 . Damit wird die im "Lederspray-Fall" aufgestellte Anforderung an das Alternativenausschluß verfahren zumindest sprachlich relativiert. Gegen die Formulierung "Mitursache" läßt sich einwenden, daß eine Mitverursachung immer vorliegen muß, denn die einzige Bedingung kann die körperliche Aufnahme der in den Holzschutzmitteln verwendeten Stoffe nicht gewesen sein 70 . Es spielen stets mehrere Bedingungen eine Rolle, da eine Ursache nicht in Isolation auftritt, sondern in das Gesamtgeschehen eingebettet ist. Die Krankheitserscheinungen waren eben längst nicht bei allen Verbrauchern aufgetreten. Die Redeweise von der Mitursache erklärt damit nichts71. Der BGH hat hier wohl nur die selbstverständlich bestehende theo68
BGH NStZ 1995, 590 (Urt. v. 02.08.1995 - 2 StR 221/94). Dazu Hamm, StV 1997, 159 (159 ff.); Hoyer, GA 1996, 160 (160 ff.); Puppe, JZ 1996, 318 (318 ff.); Schmidt-Salzer, NJW 1996, 1 (5 ff.); Volk, NStZ 1996, 105 (105 ff.). Siehe dazu auch die vorinstanzliche Entscheidung des LG Frankfurt a.M (Urt. v. 25.05.1993, 5/26 Kls 65 Js 8793/84), auszugsweise mitgeteilt in ZUR 1994, 33 ff.; ablehnend L. Schulz, ZUR 1994, 26 (29, insbes. 31), bei einem dringenden Verdacht könne nicht davon ausgegangen werden, daß jeder vernünftige Zweifel am Bestehen des kausalen Zusammenhangs im Sinne einer conditio sine qua non ausgeräumt ist; ders., Kausalität, S. 47 ff., 70 ff.; ablehnend auch noch der Nichtannahmebeschluß des LG Frankfurt, NStZ 1990, 592 (593); Braum, KritV 1994, 179 (179 ff.). 69 BGH NStZ 1995, 590 (592). Vgl. auch Urteil des LG Frankfurt a.M., S. 322, zitiert bei L. Schulz, ZUR 1994, 26 (30): "Die Feststellung von Kausalität ist immer Zuschreibung durch die wissenschaftliche Gemeinschaft"; dazu ders. y Kausalität, S. 73. 70 Siehe auch unten §4 DI 1. 71 Mit der These, daß damit eine Änderung des materiellen Rechts verbunden sei, da der BGH hier eine Relativierung der Voraussetzungen der Kausalitätsfeststellung im Auge gehabt habe, Volk, NStZ 1996, 105 (108 f.). Die Kritik von Volk, daß als Ursache im "Holzschutzmittel-Fall" auch Zahnfüllungen aus Amalgam der Betroffenen in Betracht kommen könnten und wegen das Bestehens jeweils nur einer Wahr-
I. Anscheinsbeweis bei der Kausalitätsfeststellung
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retische Einschränkung formuliert, daß die kausale Ursache immer nur eine Teilursache ist 72 . Wie der BGH weiter ausführt, verstößt der Tatrichter weder gegen anerkannte wissenschaftliche Erfahrungssätze noch entscheidet er an Stelle der berufenen Fachkreise über die Existenz eines zeitlosen Naturgesetzes, wenn er die Kausalität im "Holzschutzmittel-Fall" bejaht73. Der BGH muß sich allerdings vorhalten lassen, daß der Richter nicht unter Absehung des in den Naturwissenschaften bestehenden Streits eine Überzeugung gewinnen kann, ohne damit zumindest implizit die Gültigkeit eines Kausalgesetzes zu bejahen 74 . Jedenfalls wäre eine solche Entscheidungsfindung nur schwer zu legitimieren. Ob die Begründung über die Überzeugungskomponente der richterlichen Entscheidung hier als entscheidender Topos ausreichen kann, ist zweifelhaft 75.
2. Feststellung der psychischen Kausalität
Insbesondere die psychische Kausalität stellt einen - möglicherweise - aus prinzipiellen Gründen nicht vollständig determinierten 76 Bereich dar und wirft deshalb besondere Probleme auf. Unter psychischer Kausalität versteht man die Konstellation, daß für die Verbindung von Handlung und Erfolg Willensentscheidungen ursächlich sind 77 . Psychische Kausalität spielt im Strafrecht in hauptsächlich drei Fällen eine Rolle: bei der Anstiftung (§ 26 StGB),
scheinlichkeitsbeziehung beide Möglichkeiten gleich plausibel und daher letztlich nicht entscheidbar seien, ist nicht stichhaltig. Im Fall waren auch Personen betroffen, die - was anzunehmen ist - keine Amalgamfiillung besaßen, so insbesondere Kinder zwischen 2 und 8 Jahren, siehe BGH NStZ 1995, 590 (591). 72 Für die Bestimmung einer Ursache werden zwei Existenzbehauptungen aufgestellt, nämlich sowohl über die allgemeinen Gesetze als auch über die geeigneten weiteren Bedingungen zur konkreten Bestimmung der Ursache, so daß präziser nur von einer Teilursache zu sprechen ist, Stegmüller, Probleme I, S. 167 und 510. Dabei ist das, was als (Teil-)Ursache betrachtet werden soll, auch abhängig vom jeweiligen Interesse des Fragenden, Stegmüller, Probleme I, S. 508 ff. 73 BGH NStZ 1995, 590 (592). 74 Dies betont Puppe, JZ 1996, 318 (318 f.). 75 Dazu noch unten § 5 V. 76 Zumindest nicht determinierbaren Bereichen. Gleichwohl, ob eine deterministische oder eine indeterministische Position vorzuziehen ist, es bleibt das Problem bestehen, entsprechende Erfahrungssätze aufzufinden, so auch J. Schulz, Lackner-FS 1987, S. 45 Fn. 23. Siehe auch unten § 4 II 3 b cc. 77 Dazu Bernsmann, ARSP 1982, 536 (536 ff.); Engisch, Kausalität, S. 74 f.; ders., von Weber-FS 1963, S. 247 ff.; Puppe, ZStW 92 (1980), 863 (863 ff.); dies.,
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§ 3 Fallkonstellationen für die Anwendung eines Anscheinsbeweises
bei der psychischen Beihilfe (§ 27 StGB) und beim Zusammenhang zwischen Täuschung und Irrtum und der daraus folgenden Vermögensverfügung beim Betrug (§ 263 StGB)78. Nach herrschender Meinung wird jeweils eine Kausalitätsbeziehung verlangt, die psychisch vermittelt ist 7 9 . Nach § 26 StGB z.B. muß der Anstifter den Haupttäter zur Tat "bestimmt" haben, er muß für die Tat ursächlich gewesen sein 80 . Im sog. "Referendar-Fall" 81 hatte ein Referendar den Eindruck erweckt, Richter zu sein, und sich von einem Zeugen ein Darlehen geben lassen. In dem daraufhin eingeleiteten Betrugsverfahren ließ sich der Zeuge dahingehend ein, daß er dem Referendar in jedem Fall das Geld gegeben hätte, auch wenn er gewußt hätte, daß dieser kein Richter sei. Dessen ungeachtet hat der BGH in diesem Fall Kausalität zwischen Irrtum und Vermögensverfügung bejaht und den Referendar wegen Betrugs verurteilt.
Auch hinter der Argumentation des BGH in diesem Fall steckt m.E. eine Anscheinsbeweiskonstruktion. Denn es existieren ersichtlich keine Erfahrungssätze, wie sich Betrugsopfer in einem solchen Fall verhalten würden. Es ist lediglich einigermaßen plausibel, daß sich der Zeuge zumindest auch aufgrund der Vorstellung, es handele sich bei dem Referendar um einen Richter, bereit erklärt hat, diesem ein Darlehen zu geben. Die Möglichkeit auszuschließen, daß der Zeuge in jedem Fall ein Darlehen gegeben hätte, daß diese Vermögensverfügung also gerade nicht auf dem Irrtum beruht hat, ist das eigentliche Problem des Falles82. Es geht also darum, daß der Anschein schon das Bestehen eines nicht formulierten generellen Kausalsatzes betrifft und letztlich auf die konkrete Fallbeurteilung durchschlägt.
ZStW 95 (1983), 287 (293 ff.); dies., GA 1984, 101 (101 ff.); Samson, Kausalverläufe, S. 182; J. Schulz, Lackner-FS 1987, S. 45 ff.; Vogel, Norm, S. 82 ff. 78 Vgl. Engisch, von Weber-FS 1963, S. 247; außerdem noch bei der Feststellung der motivierenden Kraft der Drohung (§§ 177, 240, 249, 253 und 255 StGB). 79 Siehe dazu z.B. Schönke/Schröder-Cramer, § 263 StGB Rn. 77; Lackner, Rn. 10 vor § 13 StGB und § 263 StGB Rn. 54; ders., in: LK, § 263 StGB Rn. 8, 71 und 243 f., 254; Lampe, Armin Kaufmann-GS 1989, S. 189 (190 Fn. 3); SK-Samson, § 263 StGB Rn. 6 und 62 ff.; § 26 StGB Rn. 1, 5; Tröndle, § 263 StGB Rn. 19 und 23 zur Kausalität zwischen Irrtum und Vermögensverfügung. 80 Ein anderer Ansatz verzichtet auf das Erfordernis der Kausalität und stellt darauf ab, daß ein sog. Unrechtspakt geschlossen worden sein muß, so Puppe, GA 1984, 101 (108 ff.); dagegen LK-Roxin, § 26 StGB Rn. 9 ff. 81 BGHSt 13, 13 (13 ff.); siehe dazu Tröndle, § 263 StGB Rn. 23 m.w.N.; Vogel, Norm, S. 83 f. 82 Die genauere Analyse der psychischen Kausalität erfolgt unter Zusammenfassung juristischer und wissenschaftstheoretischer Überlegungen unten § 4 III 3.
n. Anscheinsbeweis bei eine "Fähigkeit" implizierenden Rechtsbegriffen
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II. Anscheinsbeweis bei der Feststellung von Rechtsbegriffen, die eine "Fähigkeit" implizieren 1. Fahruntüchtigkeit
In den §§ 315 a Abs. 1 Nr. 1, 315 c Abs. 1 Nr. 1 a sowie 316 Abs. 1 StGB83 ist als Tatbestandsmerkmal u.a. vorausgesetzt, daß der Täter "ein Fahrzeug führt, obwohl er infolge des Genusses alkoholischer Getränke nicht in der Lage ist, das Fahrzeug sicher zu führen." Dieses Tatbestandsmerkmal wird üblicherweise mit dem Begriff "Fahruntüchtigkeit" umschrieben84. Für die Bestimmung der Fahruntüchtigkeit wegen Alkoholeinflusses wird im Strafrecht zwischen relativer und absoluter Fahruntüchtigkeit unterschieden. Im Fall der relativen Fahruntüchtigkeit ist nach der Rechtsprechung eine Bestimmung im Einzelfall vorzunehmen. Dafür müssen zusätzlich zu einer Blutalkoholkonzentration (BÄK) ab etwa 0,3 Promille noch weitere Indizien für Fahruntüchtigkeit vorliegen, so etwa bestimmte alkoholtypische Fahrfehler 85 . Im Fall der absoluten Fahruntüchtigkeit wird das Vorliegen von Fahruntüchtigkeit unwiderleglich vermutet. Der Einzelfall wird schon per definitionem nicht berücksichtigt, denn nach der h.M. sind hier keinerlei Gegenindizien zugelassen. Der BGH greift hier auf einen Erfahrungssatz zurück, wonach ab einem Blutalkoholwert von 1,0 Promille 86 bei jedermann das Tatbestandsmerkmal der "Fahruntüchtigkeit" gegeben sei 87 . 83 Zur Abkürzung wird im folgenden stellvertretend nur § 316 StGB zitiert. Außerdem soll unter Ausklammerung anderer Verkehrsteilnehmer nur von der Fahruntüchtigkeit von Kraftfahrern die Rede sein. 84 Auch bei der Frage nach der Kausalität von Fahruntüchtigkeit und der Gefährdung von Leib oder Leben bzw. bedeutenden Sachwerten liegt ein Anscheinsbeweis nahe. Dieser normative Zusammenhang ist hingegen der Fallgruppe des sog. "Pflichtwidrigkeitszusammenhangs" zuzurechnen, der unten in § 3 II 4 behandelt wird. 85 Siehe BGHSt 13, 83 (89 f.); 31, 42 (44 f.). 86 Absolute Fahruntüchtigkeit ist nach der neueren Rechtsprechung, BGHSt 21, 157 (159); BGHSt 37, 89 (92 ff.), schon bei einer BÄK von 1,0 Promille anzunehmen. Der rechtlich entscheidende Wert von 1,1 Promille ergibt sich aus dem Sicherheitszuschlag für etwaige Meßungenauigkeiten (der seinerseits eigentlich nur 0,05 Promille beträgt). Siehe dazu auch BVerfG NJW 1990, 3140 (3140) und Schönke/Schröder-Cramer, § 316 StGB Rn. 4 ff. Der Fahruntüchtigkeitswert wurde von der Rechtsprechung von 1,5 über 1,3 auf 1,1 Promille, der Sicherheitszuschlag von 0,5 über 0,2 auf heute 0,1 Promille gesenkt. 87 Siehe dazu BVerfG NJW 1995, 125 (125 f.). Der Beschwerdeführer in diesem Fall hatte geltend gemacht, daß es nicht richtig sein könne, keine Ausnahmen im Ein-
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3 Fallkonstellationen für die Anwendung eines Anscheinsbeweises
Diese Rechtsprechung verdient Billigung, wenn es sich bei dem genannten Erfahrungssatz wirklich um einen deterministischen Erfahrungssatz handelt. Hieran seien aber Zweifel angemeldet88. M.E. wird bei der Feststellung der Fahruntüchtigkeit zu Unrecht von einem rein empirisch-naturwissenschaftlichen Standpunkt aus argumentiert, ohne die normative Dimension der Feststellung in genügendem Maße zu beachten89. Mit einer rein empirisch geführten Diskussion läßt sich der entscheidende Schritt zur Feststellung der Fahruntüchtigkeit nicht vornehmen. Fahruntüchtigkeit ist zwar empirisch gesehen graduell, denn die Fahrtüchtigkeit wird mit zunehmendem Alkoholkonsum schrittweise immer mehr eingeschränkt, bis sie ab einem — empirisch nicht präzise zu bestimmenden - Promillewert in Fahruntüchtigkeit umschlägt. Daß bei allen Kraftfahrern dieser Wert (spätestens) bei 1,0 Promille BÄK erreicht sein soll, ist aber unplausibel90. Man könnte sogar auf den Gedanken kommen, daß trinkgewohnte und vielfahrende Verkehrsteilnehmer bei einer solchen Blutalkoholkonzentration bessere Reaktionszeiten aufweisen könnten als nüchterne, aber ungeübte Fahrer. Bei trinkgewohnten Fahrern könnten umgekehrt gerade im nüchternen Zustand Ausfallerscheinungen auftreten, die bei einer gewissen Alkoholisierung nicht vorhanden sind 91 . Auch bei der Feststellung der relativen Fahruntüchtigkeit kommt es auf eine rechtlich wertende Zuschreibung an: Auch in diesem Fall ist es adäquater, Fahruntüchtigkeit zumindest auch normativ zu verstehen. Es geht dann nicht so sehr darum, ob der Fahrer wirklich fahruntüchtig ist, sondern u.a. darum, ob er eine bestimmte unerlaubte Blutalkoholkonzentration aufweist. Daß zelfall zu berücksichtigen, und hatte daher Verfassungsbeschwerde eingelegt. Die Verfassungsmäßigkeit einer auf diesen Grundsätzen basierenden Beweiswürdigung wurde vom BVerfG, aaO., aber bestätigt. 88 Siehe auch A. Schmidt, S. 68 f., die zwar verneint, daß in den Fällen der absoluten Fahruntüchtigkeit eine "schlechthin zwingende Folgerung" vorliege, die damit verbundene unwiderlegliche richterliche Vermutung aber als Ausnahmefall akzeptiert, ohne deren Berechtigung zu hinterfragen. 89 Schweling, ZStW 83 (1971), 435 (442 Fn. 27), gibt zu bedenken, daß die Erfahrung, ein Blutalkoholgehalt von [seil, damals geltenden] 1,3 Promille mache einen Kraftfahrer fahruntüchtig, nur innerhalb der BRD allgemeingültig sei. Im schweizerischen Strafrecht wird nach West, ZStW 103 (1991), 584 (586 Fn. 10), demgegenüber anerkannt, daß durch den Wert von 0,8 Promillen eine Beweis wertgrenze gegen Schutzbehauptungen etabliert wurde; siehe Rehberg, SchwZStr 86 (1970), 113 (118). Krit. auch Hqffke, JuS 1972, 448 (449 Fn. 19 m.w.N.): nur sehr hohe Wahrscheinlichkeit; Naucke, Bockelmann-FS 1979, S. 708 f.; siehe auch Tröndle, § 316 Rn. 6 b: Gegenbeweis sei unzulässig. 90 Siehe auch Arbab-Zadeh, NJW 1967, 273 (275), der auf eine Untersuchung verweist, bei der 4 von 100 000 Personen bei einer Blutalkoholkonzentration von 2 Promillen keine Ausfallerscheinungen zeigten. 91 Ablehnend aber BGHSt 37, 89 (95).
n. Anscheinsbeweis bei eine "Fähigkeit" implizierenden Rechtsbegriffen
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maßgeblich auf das empirische Datum der Blutalkoholkonzentration abgestellt wird, heißt noch nicht, daß es für das Merkmal der Fahruntüchtigkeit auch schon hinreichend sein soll 92 . Dieses empirisch aufweisbare Datum wird aber als Indiz für die Fahruntüchtigkeit herangezogen. Daneben bestehende Anhaltspunkte wie etwaige Fahrfehler können als solche auch nüchternen Fahrern unterlaufen und sind daher umgekehrt als einzige Anhaltspunkte ohne eine gleichzeitig vorliegende Alkoholisierung nicht ausreichend, Fahruntüchtigkeit zu begründen. Für die Bestimmung der absoluten Fahruntüchtigkeit über einen feststehenden Promillewert wird es als problematisch angesehen, daß in den entsprechenden Tatbeständen die Strafbarkeit gerade nicht an eine bestimmte Promillegrenze geknüpft ist, sondern an die auf Alkoholgenuß beruhende Unfähigkeit, ein Fahrzeug im Verkehr sicher zu führen. Der herrschenden Auffassung wird aus diesem Grund vorgeworfen, sie statuiere unberechtigterweise unwiderlegbare Vermutungen93. Wenn der Beweis aber empirisch nicht zu führen ist, handelt es sich um einen Anscheinsbeweis, der nur auf einem — wenn auch bestätigten - Verdacht der Fahruntüchtigkeit beruht. Dann ist die eigentliche Frage, wann dieser Verdacht als normativ richtig bestätigt gelten kann. Aber nicht nur bei der Feststellung der Fahruntüchtigkeit im speziellen, sondern in weitaus größerem Umfange wird bei der Feststellung von Tatsachen zunächst von bestimmten Verläufen ausgegangen, ohne daß diese im Einzelfall überprüft werden oder gar ein Sachverständiger zur Überprüfung eingeschaltet wird. Beispielsweise werden bei der Feststellung der Blutalkoholkonzentration empirisch durchaus vorkommende Fälle eines Fehlers bei der Messung oder einer Vertauschung der Blutproben nicht berücksichtigt. Jedes Gericht geht z.B. vom Normalfall der Ordnungsgemäßheit der Blutprobe und von der Identität von entnommener und analysierter Blutprobe aus, solange keine Gegenindizien gegen diese Annahme sprechen94. Auch dieses Vorgehen entspricht m.E. einem Anscheinsbeweis. Weiter gedacht verfahrt jedes Gericht in jedem Fall so, in dem ein ihm vorliegendes Beweismittel nicht weiter überprüft wird.
92
Eine solche Konzeption findet sich als Ordnungswidrigkeit in der 0,8 PromilleGrenze des § 24 a StVG. 93 So ist wohl das AG Höxter StV 1990, 268 (268) zu verstehen. Dazu unten §911. 94 Ein solches Vorgehen ist Dencker, ZStW 102 (1990), 51 (71), zufolge im Prinzip jedenfalls unumgänglich.
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§ 3 Fallkonstellationen für die Anwendung eines Anscheinsbeweises 2. Schuldfähigkeit
Wie sich aus § 20 StGB ergibt, ist die Schuldfähigkeit Voraussetzung jeder Strafbarkeit. Ihr Vorliegen wird jedoch nicht in jedem Einzelfall geprüft. Auf ihr - grundsätzlich ja immer mögliches - Fehlen im Prozeß wird nur dann ausführlich eingegangen, wenn sich aus dem Sachverhalt bestimmte Anhaltspunkte ergeben oder sich der Angeklagte dahingehend verteidigt. Es handelt sich von der Konstruktion her um eine gesetzliche widerlegbare Vermutung für das Vorliegen der Schuldfähigkeit im Regelfall 95. In einem Fall des OLG Celle 96 ging es um die Frage, ob das Tatgericht die Frage der Schuldfähigkeit zu Recht unerörtert gelassen hatte. Die Verteidigung hatte eine Erörterung für erforderlich gehalten, weil der Angeklagte drogenabhängig war. Nach Ansicht des Gerichts ergibt sich wegen bloßer Drogenabhängigkeit jedoch noch keine tatrichterliche Erörterungspflicht der Schuldfähigkeit. Die Frage der Schuldfahigkeit könne höchstens in besonders gelagerten Einzelfällen erörterungspflichtig sein. Wenn die relevanten Tatsachen, aus denen sich ein Anhaltspunkt für oder gegen die Schuldfähigkeit ergeben könnte, im Regelfall nicht erörtert werden 97 , erscheint diese Konstruktion auf den ersten Blick auch gerechtfertigt; zumindest dann, wenn man davon ausgeht, daß Schuldfahigkeit die normale, spezifisch menschliche Fähigkeit ist. Dann ist ihre Zugrundelegung eine Selbstverständlichkeit auf die jeder Angeklagte zunächst einmal sogar einen Anspruch hat 98 . Gleichwohl muß man sehen, daß auch im Fall der Schuldfähigkeit strukturell ein Anscheinsbeweis vorliegt. Es ist daher nicht die Frage, ob diese Vermutung besteht, sondern nur, ob sie zu Recht angenommen werden kann oder ob gefordert werden müßte, daß in jedem Einzelfall auf die Schuldfähigkeit eingegangen werden muß 99 .
95
Lackner, § 20 StGB Rn. 13, 19, 23; Schönke/Schröder-Lenckner,
§ 20 StGB
Rn. 1. 96
OLG Celle NStE Nr. 4 zu § 20 StGB. Anders z.B. im Fall BGH StV 1988, 198 (198) bei über 10-jährigem Haschischkonsum. 97 Es sind dies Tatsachen für die in § 20 StGB vorgesehenen besonderen biologischen Zustände, die sich in bestimmter Weise auf die Psyche des Täters auswirken; siehe z.B. Lackner, § 20 StGB Rn. 1 m.w.N. 98 Siehe dazu Roxin, Bockelmann-FS 1979, S. 290 ff. 99 Dagegen schon F. Stein, S. 37.
II. Anscheinsbeweis bei eine "Fähigkeit" implizierenden Rechtsbegriffen
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3. Vermeidbarkeit der Verbotsunkenntnis
Auch das (potentielle) Unrechtsbewußtsein ist Voraussetzung der Strafbarkeit 1 0 0 . Wenn sich der Angeklagte im Verfahren auf das Fehlen des Unrechtsbewußtseins beruft, stellt sich die Frage, ob sein Irrtum vermeidbar war. Zur Beantwortung dieser Frage greifen die Gerichte auf eine Vermutung zurück, die für die Vermeidbarkeit des Irrtums streitet und nur in seltenen Ausnahmefällen entkräftet werden kann. Die Erklärung dafür liegt auf der Hand: Eine Konzeption, die das tatsächliche Vorliegen des Unrechtsbewußtseins fordern würde, stieße schnell auf erhebliche Beweisschwierigkeiten. Denn wie soll festgestellt werden, ob dem Angeklagten tatsächlich das Unrechtsbewußtsein gefehlt hat? Man könnte eine Behauptung des Angeklagten, mit der er sich auf diesen Irrtum beruft, zwar als Schutzbehauptung abtun, d.h. dem Angeklagten nicht glauben. Dies wäre aber problematisch. Wenn es immerhin möglich ist, daß die Einlassung des Angeklagten zutrifft, muß dargetan werden, aus welchem Grund die Behauptung nicht beachtet werden soll 1 0 1 . Der Vorteil der Vermeidbarkeitstheorie liegt nun ersichtlich gerade darin, daß es nach § 17 StGB nicht auf das tatsächliche, sondern nur auf das potentielle Unrechtsbewußtsein ankommt102. Ob aber ein möglicherweise vorliegendes Unrechtsbewußtsein vermeidbar war, kann nur über bestimmte Vermutungen für den Regelfall bestimmt werden. Eine solche Konstruktion entspricht einem Anscheinsbeweis und bedarf daher einer genaueren Überprüfung.
4. Feststellung der hypothetischen Kausalität beim sog. Pflichtwidrigkeitszusammenhang
Eine hypothetische Kausalitätsfeststellung ist verlangt, wenn es um die Feststellung des sog. Pflichtwidrigkeitszusammenhangs 103 geht. Es stellt sich die Frage, ob auch im Fall des rechtmäßigen Alternativverhaltens der Erfolg
100
Gemäß § 17 Satz 1 StGB handelt der Täter ohne Schuld, wenn ihm bei Begehen der Tat die Einsicht, Unrecht zu tun, fehlte und er diesen Irrtum nicht vermeiden konnte. 101 So auch Freund, Tatsachenfeststellung, S. 31; ders., StV 1991, 23 (25 f.). m L o o s , S. 263. 103 Im strengen Sinne ist es unrichtig, von einer "Kausalität" der Pflichtwidrigkeit für den Erfolg zu sprechen, weil es nicht um ein empirisches Kausalitätsurteil, sondern um ein normatives Urteil geht. 5 Müller
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§ 3 Fallkonstellationen für die Anwendung eines Anscheinsbeweises
eingetreten, ob er also vermeidbar gewesen wäre. Als Beispielsfall diene der viel besprochene "Radfahrer-Fall" 104: Ein Radfahrer war unter einen ihn überholenden LKW geraten und getötet worden. Der LKW-Fahrer hatte mit einem vorschriftswidrigen Abstand von nur 75 cm überholt. Eine der Leiche später entnommene Blutprobe ergab einen Blutalkoholgehalt von 1,96 Promille. Es war fraglich, ob der Unfall auf dem zu geringen Abstand beruhte oder ob der Radfahrer wegen seiner Trunkenheit nicht auch bei Einhaltung des vorgeschriebenen Überholabstandes getötet worden wäre.
Der Lkw-Fahrer hat unstreitig pflichtwidrig gehandelt, weil er den erforderlichen Mindestabstand von etwa 1 m nicht eingehalten hat 1 0 5 . Entgegen dem BGH, der die hier interessierende Frage unter dem Etikett der Kausalität geprüft hatte 106 , ist damit aber nicht schon die Kausalität, sondern erst der Pflichtwidrigkeitszusammenhang zweifelhaft. Die materiell-rechtliche Lösung des Problems wird von der h.M. in der Weise vorgenommen, daß sie verlangt, es müsse mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit anzunehmen sein, daß der Erfolg im Fall des rechtmäßigen Verhaltens vermieden worden wäre 107 . Eventuell vorhandene Zweifel hierüber wirken sich zugunsten des Angeklagten aus. Da sich im "RadfahrerFall" die Feststellung, daß der Radfahrer bei Einhaltung des Sicherheitsabstandes überfahren worden wäre, nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit treffen ließ, war der Lkw-Fahrer im Ergebnis freizusprechen gewesen. Eine andere Lösung für diese Frage verfechten die Vertreter der sog. Risikoerhöhungslehre, nach der schon ausreicht, daß durch das Verhalten des Angeklagten das Risiko für das Opfer erhöht worden ist 1 0 8 . Danach wirken sich Zweifel im Ergebnis zuungunsten des Angeklagten aus. Wenn tatbestandlich von der Risikoerhöhungslehre ausgegangen wird, basiert die Verurteilung zwar gerade nicht auf einer Sachverhaltsunterstellung zu Lasten 104
BGHSt 11, 1 (7). BGHSt 11, 1 (5). 106 BGHSt 11, 1 (2 ff.). 107 BGHSt 11,1 (7); 30, 228 (230); MDR 1985, 157 (157); GA 1988, 184 (184); Schönke/Schröder-Cramer § 15 StGB Rn. 171 ff.; Arthur Kaufmann, Jescheck-FS 1985, S. 273 ff.; Krümpelmann, GA 1984, 491 (491 ff.); krit. Küper, Lackner-FS 1987, S. 268; Lampe, ZStW 101 (1989), 3 (47). 108 Ebert, Jura 1979, 572 (572 ff.); Erb, Alternativ verhalten, S. 120 Fn. 179 m.w.N.; Jescheck/Weigend, S. 584 ff.; Kelnhofer, S. 22 ff., 42; Lackner, § 15 StGB Rn. 44; Ranft, NJW 1984, 1425 (1429); Roxin, Honig-FS 1970, S. 133 ff.; ders., ZStW 74 (1962), 411 (430 ff.); ders., ZStW 78 (1966), 214 (217 ff.); ders., AT 1, § 11/72 ff.; SK-Rudolphi, Rn. 66 ff. vor § 1 StGB; Stratenwerth, AT, Rn. 209; ders., Gallas-FS 1973, S. 227 ff. 105
II. Anscheinsbeweis bei eine "Fähigkeit" implizierenden Rechtsbegriffen
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des Angeklagten, im Ergebnis läuft es jedoch genau darauf hinaus: Das erkennt man, wenn man materielles Recht und Prozeßrecht in ihrem Zusammenspiel betrachtet 109. Der Risikoerhöhungslehre werden wegen dieses angeblich bestehenden Verstoßes gegen den in dubio pro reo-Grundsatz verfassungsrechtliche Bedenken entgegengebracht, wonach sie den Angeklagten unangemessen benachteilige 1 1 0 . Im Rahmen dieser Arbeit kann nicht auf alle Aspekte des umfangreichen Themenkreises " Pflichtwidrigkeitszusammenhang" eingegangen werden 111 . Für diese Untersuchung bedeutsam ist allein, daß die Risikoerhöhungslehre in einem engen Zusammenhang mit dem Anscheinsbeweis steht 112 . Es ist kein Zufall, daß dieselben Bedenken, die gegen die Risikoerhöhungslehre vorgebracht werden, auch dem Anscheinsbeweis entgegenschallen113. Hier wie dort wird moniert, es handele sich letztlich um ein reines Wahrscheinlichkeitsurteil, es liege ein Verstoß gegen den Zweifelssatz vor bzw. die mit beiden verbundenen Anforderungen an den Beweis im Strafprozeß seien zu gering gehalten. Es erscheint aber m.E. an der Risikoerhöhungslehre darüber hinaus problematisch, daß sie es nicht vermag, den im Einzelfall bestehenden konkreten Zweifeln gerecht zu werden. So ist es nicht ohne weiteres einsichtig, daß der Fall, in dem der Radfahrer alkoholisiert ist, gleich zu behandeln ist wie der, in dem die Konstitution des Radfahrers keine Besonderheiten aufweist 114. Die h.M. muß sich demgegenüber praktischen Einwänden stellen: Zum einen muß sie sich fragen lassen, wie sie feststellen will, ob der Erfolg wirk109
Siehe unten § 5 VI. Zur Kritik gegen die Risikoerhöhungslehre BGHSt 37, 106 (127); BGH NStZ 1986, 217 (218); Schönke/Schröder-Cramer, § 15 Rn. 173; Fincke, Arzneimittelprüfung, S. 49 ff.; Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 537 ff.; SK-Samson, § 16 StGB Rn. 26 ff., 27 a; ders., Kausalverläufe, S. 47, 152; LK-Schroeder, § 16 StGB Rn. 189. 111 Beispielsweise beschäftigen sich mit dem materiell-rechtlichen Aspekt des Themas in neuerer Zeit Erb, Alternativverhalten, passim; Kahlo, Das Problem des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs bei den unechten Unterlassungsdelikten, insbes. S. 37 ff.; Arthur Kaufmann, Jescheck-FS 1985, S. 273 ff.; Krümpelmann, Schutzzweck und Schutzreflex der Sorgfaltspflicht, Bockelmann-FS 1979, S. 443 ff.; ders., Die normative Korrespondenz zwischen Verhalten und Erfolg bei den fahrlässigen Verletzungsdelikten, Jescheck-FS 1985, S. 313 ff.; Toepel, insbes. S. 96 ff. 112 So auch Brammsen, Jura 1991, 533 (533, 536), der Anscheinsbeweis entspreche einer Anwendung des materiell-rechtlichen Prinzips der Risikoerhöhungslehre im Prozeßrecht. 113 Zu den Kritikpunkten im einzelnen unten § 5. 114 Dazu unten § 914. 110
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3 Fallkonstellationen für die Anwendung eines Anscheinsbeweises
lieh mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vermieden worden wäre, ob dies nicht bloße Rhetorik darstellt, und zum anderen, ob sie nicht inkonsequenterweise nur hier eine Ausnahme macht, indem sie Zweifel berücksichtigt, die ansonsten im Wege der Titulierung als bloß abstrakt-theoretische Zweifel problemlos übergangen werden. Der Rechtsprechung hilft dabei das Konzept der "freien Überzeugung", sich unter Berufung hierauf über bestehende Zweifel hinwegzusetzen. Das Modell des Anscheinsbeweises könnte aber dafür, den Nachweis der hypothetischen Kausalität adäquat abzubilden, geeignet sein.
III. Anscheinsbeweis bei der Feststellung des Nichtbestehens von Rechtfertigungs- bzw. Entschuldigungsgründen Eine Frage, die sich in jedem Prozeß zumindest prinzipiell im Anschluß an die Feststellung des Tatbestandes i.e.S. stellt, ist die nach dem theoretisch immer möglichen Vorliegen von Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen, also die Frage, in welchem Fall auf eine möglicherweise vorliegende Rechtfertigung bzw. Entschuldigung eingegangen wird und in welchem Fall nicht 115 . Im Prinzip existieren zwei Fallkonstellationen: Entweder ergeben sich schon von vornherein aus dem Tatsachenmaterial, so z.B. aus Zeugenaussagen, Anhaltspunkte für das Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes, oder der Angeklagte ist gehalten, Anhaltspunkte dafür zu liefern, weil sie sonst nicht zur Kenntnis des Gerichts gelangen können. Problematisch ist im zweiten Fall aber, daß das Vorbringen für den Angeklagten insofern unzumutbar sein könnte, als er damit inzident die Tatbegehung zugeben müßte. Eine positive Prüfung aller möglicher Rechtfertigungsgründe wäre nun kaum praktikabel 116. Man wird daher bei Verwirklichung des Tatbestandes i.e.S. die rechtswidrige und schuldhafte Verwirklichung als Regel verstehen müssen, die durch die negative Prüfung der Rechtfertigungsgründe widerlegt werden kann 117 . Für die Feststellung des Tatbestandes i.w.S. gilt also, daß 115 Das mögliche Vorliegen auch von Entschuldigungsgründen wird im folgenden nicht mehr eigens erwähnt. Strukturell gilt hier dasselbe wie für Rechtfertigungsgründe. 116 Marxen, S. 350: zumindest für das Ermittlungsverfahren. 117 Stree, S. 25, betont dagegen, daß im Zweifel keinesfalls vom NichtVorliegen von Zurechnungsunfähigkeit, Notwehr bzw. Verbotsirrtum auszugehen sei. M.E. ist es zwar richtig, daß keine Norm existiert, nach der im Zweifel gegen den Angeklagten zu entscheiden wäre. Die Frage ist aber gerade, wann Zweifel in diesem Sinne anzunehmen sind. Wenn, wie es Stree, S. 37, handhabt, die Zweifel der subjektiven
IV. Zwischenresümee
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die Verwirklichung des Tatbestandes i.e.S. schon für sich allein genügt, einen "ersten Anschein" der Strafbarkeit hervorzurufen. Dieser Umstand wird z.B. durch die Wendungen ausgedrückt, der Tatbestand indiziere die Rechtswidrigkeit, oder es handele sich bei den Tatbeständen um vertyptes Unrecht 118 . In der Rechtsprechung wird zwar einerseits gefordert, daß möglicherweise bestehende Ausnahmegründe nicht außer acht gelassen werden dürfen, weil der Angeklagte schweige und es ihm nicht zumutbar sei, eine Tatbeteiligung zuzugeben119. Andererseits steht außer Frage, daß den Tatbestand i.e.S. ausschließende Gründe immer denkbar sind, deswegen aber nicht in jedem Fall ein Freispruch erfolgen kann. Denn sonst wäre eine Verurteilung nicht mehr möglich. Beide Forderungen sind nur schwer miteinander zu vereinbaren. Die Praxis bedarf daher der dogmatischen Hilfestellung. Diese könnte durch eine Anscheinsbeweis-Konstruktion erfolgen, nach der nur in bestimmten Fällen auf Zweifel einzugehen wäre.
IV. Zwischenresümee Vorläufig betrachtet ist den hier angeführten Fällen gemeinsam, daß es um Erfahrungssätze bzw. tatsächliche oder gesetzliche Vermutungen geht, die aus unterschiedlichen Gründen zunächst für einen bestimmten Regelsachverhalt sprechen und durch Ausnahmen widerlegbar sind. Strukturell entspricht dieses Verhältnis von Regel und Ausnahme dem aus dem Zivilrecht bekannten Anscheinsbeweis. Der Anscheinsbeweis dient der Feststellung bestimmter Verläufe (Wirkzusammenhänge) bzw. zur Zuschreibung bestimmter Eigenschaften. In diesen Fällen wird von bestimmten "sichtbaren" - d.h. allgemeiner: wahrnehmbaren - Gegebenheiten auf "unsichtbare", d.h. nicht direkt wahrnehmbare, auf physische und insbesondere psychische Kausalität, auf Fahrtuntüchtigkeit und Schuldfähigkeit etc. geschlossen.
Überzeugung des Richters überantwortet werden, ist ebenfalls nicht gewährleistet, daß sich der Richter nur davon überzeugt zeigt, daß keine Ausschlußgründe vorliegen und deswegen noch vor Anwendung des in dubio pro reo-Grundsatzes gegen den Angeklagten entscheidet. Dazu, daß hier generalisiert werden muß, auch Stree, S. 40 f. 118 Dazu Jescheck/Weigend, S. 244 ff.; Schönke/Schiöder-Lenckner, Rn. 15 ff. vor § 13 StGB; Roxin, AT, § 10/13 ff., 23 Fn. 46 m.w.N. und Marxen, S. 349 Fn. 5 m.w.N., der Tatbestand könne nicht als Leitbild fungieren, wenn er eine vollständige Regelung der Ausnahmegründe enthalte. 119 So im Fall BGH StV 1986, 421 (422): Der Angekl. müsse sich niemals entlasten; er sei nicht verpflichtet, das Gericht durch die Angabe entlastender Umstände bei seiner Pflicht die Wahrheit zu erforschen zu unterstützen.
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3 Fallkonstellationen für die Anwendung eines Anscheinsbeweises
Wenn man bereit ist anzuerkennen, daß den angesprochenen Problemfallen ein Regel-Ausnahme-Verhältnis von der Struktur eines Anscheinsbeweises zugrundeliegt, ist der Weg für eine Diskussion dieser Fälle freigemacht. Dann kann ein die widerstreitenden Interessen berücksichtigender interessengerechter Ausgleich gefunden werden, der zu einer kontrollierbaren Anwendung des Anscheinsbeweises führen und damit zur Rechtssicherheit beitragen würde. Bevor nun auf die gegen den Anscheinsbeweis im Strafprozeß erhobenen Einwände im einzelnen eingegangen wird (§ 5), werden im folgenden § 4 die Zusammenhänge von (strafrechtlicher) Tatsachenfeststellung und Wissenschaftstheorie dargelegt.
§ 4 Wissenschaftstheorie und juristische Tatsachenfeststellung Bei dem Thema "Anscheinsbeweis im Strafprozeß" geht es im Grunde um Fragen der Tatsachenfeststellung. Dieses Gebiet ist natürlich nicht nur rein strafprozessualer Natur, sondern - über allgemein prozessuale Aspekte hinaus - insbesondere Gegenstand der Wissenschaftstheorie. Denn mit der Frage, wie Tatsachen festzustellen sind, haben sich auch andere Wissenschaften zu befassen. Speziell die historische Forschung ist mit der Feststellung und Erklärung vergangener Geschehnisse beschäftigt; die philosophische Disziplin der Erkenntnistheorie behandelt allgemeine Fragen der Wahrnehmung und Verarbeitung von Informationen. Man könnte vielleicht versucht sein einzuwenden, die Wissenschaftstheorie bringe letztlich für ein Thema wie dieses nichts ein, für die gerichtliche Tatsachenfeststellung genüge das Alltagswissen1. In dieser Untersuchung sollen jedoch auch Erkenntnisse der Wissenschaftstheorie herangezogen werden2. Die in der Wissenschaftstheorie erarbeiteten Modelle für Erklärungen können auch für die Jurisprudenz - gerade im hier interessierenden Rahmen des Beweisrechts - von Interesse sein. Zu beachten ist allerdings, daß die Wissenschaftstheorie zwar zur Analyse eines Problems beitragen kann, nicht jedoch gleichermaßen von Bedeutung für das juristisch umsetzbare Ergebnis ist. Denn sobald es darum geht, auf die Analyse aufbauend spezifische Rechtsfragen zu lösen, leistet die Wissenschaftstheorie nur noch einen geringen Beitrag: Da die Konzeption von Recht normativ erfolgt, kann die Wissenschaftstheorie nichts über die genaue inhaltliche Ausgestaltung des Rechts besagen3. Zunächst werden nun die Erfahrungssätze und ihre Bedeutung näher betrachtet (I), danach verschiedene in der Wissenschaftstheorie vertretene Erklä1 So J. Schulz, Lackner-FS 1987, S. 49. Maiwald, S. 13 ff., der sich im Rahmen seiner Untersuchung der Kausalität auch mit Relativitäts- und Quantentheorie auseinandersetzt, resümiert, der Jurist "möge es bei der Rechtsanwendung ruhig nach wie vor mit der Alltagsvorstellung von Kausalität bewenden lassen" (S. 1). 2 Der Stellenwert, der der Wissenschaftstheorie eingeräumt wird, hängt insbesondere vom jeweiligen Erkenntnisinteresse ab. Kritisch zur verbreiteten Praxis, Fragestellungen der Wissenschaftstheorie auszuklammern, Arthur Kaufmann, Bockelmann-FS 1979, S. 68 ff.; ebenso Neumann, S. 427 f. 3 Für ein solches Verständnis des Verhältnisses von Wissenschaftstheorie und Strafrechtsdogmatik auch Volk, Bockelmann-FS 1979, 75 (87).
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§ 4 Wissenschaftstheorie und juristische Tatsachenfeststellung
rungsmodelle im allgemeinen vorgestellt (II) und schließlich im speziellen Aussagen der Wissenschaftstheorie zur physischen Kausalität, zu den Dispositionsprädikaten und zur Motivationskausalität überprüft (III).
I. Feststellung von Tatsachen mittels Erfahrungssätzen 1. Herleitung der Erfahrungssätze
Die feststehende wissenschaftstheoretische Einsicht, daß man die Richtigkeit eines Satzes nur entweder direkt einsehen oder erschließen kann4, gilt auch für die Tatsachenfeststellung. Für sie heißt dies, daß sie nur entweder über unmittelbare Einsicht (Intuition) oder über Erfahrungssätze erfolgt 5. Erfahrungssätze basieren zunächst auf der Erfahrung. Die Erfahrung 6 beruht ihrerseits auf der Beobachtung oder Wahrnehmung von Tatsachen, denn sie ist Wissen, das nicht durch reines Denken vermittelt wird 7 . Jede Wahrnehmung von Tatsachen ist indessen beeinflußt durch die Vorstellungen, die wir uns von der Welt machen8. Z.B. nehmen wir gewöhnlich nur das bewußt wahr, was wir kennen und benennen können, wovon wir uns einen "Begriff" machen können. Die Wahrnehmung ist täuschungsanfällig, oft revidierungsbedürftig und damit nicht völlig verläßlich. Eine Wahrnehmung von "Tatsachen an sich" gibt es nicht. Denn eine Tatsache ist immer neben ihrer empirischen Komponente auch an eine Wertung gebunden, Wahrnehmung ist individuelle Wertung des Beobachteten. Deswegen bezieht sich auch die Frage der Beweisbarkeit stets nur auf TatsachenM/TezVe, d.h. auf Behauptungen über Tatsachen9. Tatsachen sind damit zwar grundsätzlich von Aussagen abhängig, aber nicht auch von bestimmten Aussagen, denn dieselben Tatsachen können durch verschiedene Aussagen dargestellt werden. Beobachtung und Wahrnehmung reichen aber für sich gesehen noch nicht dafür aus, einen Erfahrungssatz annehmen zu können, dazu muß noch die Gesetzlichkeit der Erfahrung treten. Die empirische Forschung hat zur Aufgabe, das durch Beobachtung gewonnene Anschauungsmaterial zu sichten und zu ordnen. Eine Vielzahl ähnlicher Fälle, die in der Vergangenheit beobachtet 4
Koch/Rüßmann, S. 274 ff. Berg, S. 97. 6 "Erfahrung" bedeutet Beobachtung, Wahrnehmung oder Anschauung. 7 Schweling, ZStW 83 (1971), 435 (436 ff.); Rebmann, S. 9 ff. 8 H.-W. Schünemann, JuS 1976, 560 (561). 9 Siehe dazu Rosenberg/Schwab/Gottwald, §113 12; F.Stein, S. 8; Paulus, Spendel-FS 1992, S. 705 ff., zur Unterscheidung zwischen Tat- und Rechtsfrage bei der Revisibilität. 5
I. Feststellung von Tatsachen mittels Erfahrungssätzen
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wurden, führt zunächst zur Annahme bestimmter Regularitäten und festigt dadurch diese Annahme. Die Regel ist von den einzelnen Beobachtungsfallen abstrahiert. Aus der Erfahrung läßt sich die Erwartung ableiten, daß sich bestimmte Folgeerscheinungen unter bestimmten noch genauer zu definierenden Bedingungen wiederholen10. Man erwartet, daß künftige gleichgelagerte Fälle auch gleich verlaufen, denn gleiche Ursachen führen zu gleichen Wirkungen 11 . Die Erfahrung verfestigt sich also allmählich zu einem Erfahrungssatz. Es spielt dafür keine Rolle, wie viele Beobachtungsfälle es gibt und welchem Lebensgebiet der Erfahrungssatz angehört12. Jedoch sind zwei Beobachtungsfälle die Mindestvoraussetzung. Bei der Verwendung von Erfahrungssätzen bleibt der Einzelfall außer Betracht; die konkreten Einzelumstände sind für den Erfahrungssatz unerheblich 13 . Der Erfahrungssatz bildet damit einen "Zwischentypus"; er ist weder Tatsache noch Norm 14 . Mit Hilfe des Erfahrungssatzes ist es möglich, bestimmte Verläufe und Zustände zu benennen, die sich erfahrungsgemäß auf dieselbe Weise ereignen. Es ist nicht möglich, aber auch nicht notwendig, alle Besonderheiten des Einzelfalls in den Erfahrungssatz aufzunehmen oder auch nur zu beachten. Der begrenzte Verzicht auf die detaillierte Klärung des Einzelfalls ist auch ein Gebot der Denkökonomie, denn das Erfahrungsgesetz soll wegen der besseren Handhabbarkeit möglichst einfach gehalten sein15. Je einfacher der Erfahrungssatz gefaßt ist, auf umso mehr Fälle ist er anwendbar. Bei der Aufstellung typisierender Erfahrungsregeln muß somit nur dasjenige berücksichtigt werden, das die jeweils in Frage stehenden Wirkungen erwarten läßt, und zwar möglichst vollständig und zugleich möglichst einfach 16.
2. Deterministische und probabilistische Erfahrungssätze
Erfahrungssätze können in deterministische und probabilistische Erfahrungssätze unterteilt werden 17. Deterministische Erfahrungssätze sind solche, die ausnahmslos gelten; sie werden auch als "Erfahrungsgesetze" bezeichnet 18 . Wenn alle antecedens-Bedingungen geklärt sind, kann zwingend auf 10 11 12 13 14 15 16 17 18
Schweling, ZStW 83 (1971), 435 (436); F. Stein , S. 19. Stegmüller , Probleme I, S. 516 f.; F. Stein , S. 20. F. Stein , S. 20 f. F. Stein , S. 20 f. Schweling , ZStW 83 (1971), 435 (438 Fn. 10 m.w.N.). Zippelius , Engisch-FS 1969, S. 239 ff. Zippelius , Engisch-FS 1969, S. 239 f. Stegmüller , Probleme I, S. 525 ff. Dazu Koch/Rüßmann , S. 285 f.; Schweling , ZStW 83 (1971), 435 (447 f.).
74
§ 4 Wissenschaftstheorie und juristische Tatsachenfeststellung
das Ergebnis geschlossen werden 19. Der Begriff der "Erfahrungsgesetze" ist gleichbedeutend mit dem der Naturgesetze. Zum einen sind dies Gesetze, die im Recht praktisch keine Rolle spielen, wie z.B. das Gravitationsgesetz20, zum anderen aber auch Gesetze mit juristischem Hintergrund, so z.B. das Gesetz, daß sich niemand an zwei Orten zugleich aufhalten kann, das beim Alibi-Beweis bedeutsam ist. Probabilistische Erfahrungssätze sind demgegenüber alle diejenigen, bei denen noch andere Möglichkeiten existieren und die daher nur auf einer bloßen Wahrscheinlichkeitsaussage beruhen; sie werden auch als relative oder statistische Erfahrungssätze bezeichnet21. Die meisten Erfahrungssätze sind statistischer, oder besser gesagt hypothetischer Natur 22 .
3. Das Induktionsproblem
Die durch die Erfahrungssätze ausgedrückte Erwartung, daß etwas so geschehen werde, wie es der mutmaßlich bemerkten Regularität entspricht, soll aus Zweckmäßigkeitsgründen natürlich möglichst zutreffend formuliert sein. Jedoch bereitet die Überprüfung der Erfahrungssätze Schwierigkeiten. Die Aufstellung von Erfahrungsgesetzen wie von statistischen Erfahrungssätzen beruht nämlich auf einem Induktionsschluß: Man schließt vom Besonderen auf das Allgemeine23. Induktionsschlüsse werfen das Problem auf, wie es gerechtfertigt werden kann, vom Wissen über Beobachtetes zum angeblichen Wissen über nicht Beobachtetes zu kommen24. Dafür müßten sog. wahrheitskonservierende Erweiterungsschlüsse zur Verfügung stehen. Da diese aber nur deduktiv möglich sind und deduktive Schlüsse in der conclusio nicht mehr als die Prämissen 19
Nach Schweling, ZStW 83 (1971), 435 (450 f.), kann ein zwingender Erfahrungssatz durchaus in seinem Geltungsbereich eingeschränkt werden, also nur für bestimmte Zeit, Ort oder Umstände gelten. Äußerste Grenze sei nur, daß er auf ein nur einmaliges Geschehen zugeschnitten und dann nicht mehr wiederholbar sei. 20 Obwohl das Gravitationsgesetz nie thematisiert wird, wird es doch etwa bei jedem Schuß auf ein Opfer stillschweigend vorausgesetzt. 21 Dazu Koch/Rüßmann, S. 87 ff.; Schweling, ZStW 83 (1971), 435 (448). 22 F. Stein, S. 19. 23 Herdegen, StV 1992, 527 (529); Koch/Rüßmann, S. 330 f.; Schweling, ZStW 83 (1971), 435 (450); H.-W. Schünemann, JuS 1976, 560 (563); Stegmüller, Probleme IV 1, S. 299; F. Stein, S. 19. Als derjenige, der in einer Untersuchung über die Beziehung von Ursache und Wirkung das Induktionsproblem als erster beschrieben hat, gilt David Hume (1711-76). 24 Stegmüller, Probleme IV 1, S. 76 m.N. Fn. 67. Dazu auch Koch/Rüßmann, S. 326 ff.
I. Feststellung von Tatsachen mittels Erfahrungssätzen
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enthalten, sind Induktionsschlüsse gerade nicht erweiternd 25. Alle Erfahrungssätze sind demnach wie alle Induktionsschlüsse nur Annäherungswerte an die Wahrheit und gelten nur, solange sie nicht durch neue Erfahrungen widerlegt werden 26. Weil aber nicht ausgeschlossen werden kann, daß neue Erfahrungen den bisher gemachten Erfahrungen widersprechen, bleibt die endgültige und unumstößliche Verifikation eines Erfahrungssatzes und auch eines Naturgesetzes ausgeschlossen27. Im Gegensatz zur Deduktion ist bei der Induktion die Forderung aufzustellen, daß als Beurteilungsgrundlage das gesamte verfügbare Erfahrungswissen zu verwenden ist 28 . Verfügbares Wissen darf nur dann unberücksichtigt bleiben, wenn es für die Beurteilung der fraglichen Hypothese irrelevant ist 29 . Hier liegt das eigentliche Problem, denn was relevant ist und was nicht, ist erst im Nachhinein bekannt. Man muß also entscheiden, was zur Beurteilung einer Tatsache berücksichtigt werden soll. Lange hat man nach einem Weg gesucht, dem Problem der Induktion logisch beizukommen. Einen solchen Weg gibt es aber wohl nicht 30 . Es ist daher für die Wissenschaftstheorie gesagt worden, das Problem sei gegenstandslos geworden31. Es ist zwecklos, nach einer positiven Lösung des Problems zu suchen. Wenn auch das Problem der Induktion als solches nicht gelöst werden kann, hat es doch sog. Nachfolgerprobleme hinterlassen. Unter anderem sind damit die beiden Fragen gemeint32, wie eine Hypothese gestützt (bewährt, bestätigt) werden kann und wie man die Adäquatheit der entsprechenden Regeln recht25
Stegmüller, Probleme IV 1, S. 77. F. Stein, S. 29 f. Dazu auch Stegmüller, Probleme IV 2, S. 48 ff. 27 Von Savigny, Argumentation, S. 127 ff. Diese grundlegende Einsicht wird gelegentlich als unbefriedigend empfunden, da der Mensch nach Absolutheit in der Erkenntnis strebt. Dieses Streben sei zwar, so Stegmüller, Probleme I, S. 151 f., 153, menschlich verständlich, aber logisch nicht zu rechtfertigen. 28 Sog. Forderung des Gesamtdatums, CarnaplStegmüller, S. 83 f.: Um ein induktives Argument auf eine gegebene Situation anwenden zu können, muß alles relevante Tatsachenwissen herangezogen werden, da der Grad, in dem eine Annahme bestätigt ist, mit diesem Wissen variiert; dazu Stegmüller, Probleme I, S. 431, 809 ff. Zusätzliches Wissen kann den Bestätigungsgrad einer Hypothese erhöhen oder vermindern. 29 Dazu, in welchen Situationen dieses Wissen als normativ irrelevant zu gelten hat, siehe unten § 10. Stegmüller, Probleme I, S. 814, weist daraufhin, daß die vom wissenschaftstheoretischen Standpunkt aus strenggenommen aufzustellende Forderung, alles Relevante einzubeziehen, äußerst unhandlich ist ("nur heuristische Maxime"); ebenso Kindhäuser, Jura 1988, 290 (294 Fn. 34); Puppe, ZStW 95 (1983), 287 (308). 30 Dazu ausführlich Stegmüller, Probleme IV 1, S. 81 f. und IV 2, S. 17 ff. 31 Stegmüller, Probleme IV 1, S. 81 f. und IV 2, S. 17 ff. 32 Stegmüller, Probleme IV 1, S. 82 und 538 f. 26
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§ 4 Wissenschaftstheorie und juristische Tatsachenfeststellung
fertigt 33 . Diese Probleme stellen sich aus folgender Überlegung insbesondere bei den statistischen Erfahrungssätzen: Für die Überprüfung beider Arten von Erfahrungssätzen bleibt wegen der Unmöglichkeit einer endgültigen Verifizierung nur die umgekehrte Methode übrig. Man anerkennt Erfahrungssätze nur so lange, wie sie noch nicht falsifiziert wurden. Erfahrungsgesetze stehen stets unter einem Falsifizierungsvorbehalt 34. Man kann davon ausgehen, daß bislang nicht falsifizierte Erfahrungsgesetze mit guten Gründen für akzeptabel gehalten werden können. Aus grundsätzlichen Gründen kommt diese Methode jedoch nur für echte Erfahrungsgesetze in Betracht, denn ein statistischer Erfahrungssatz wird durch die Nichterfüllung der Erwartung im Einzelfall nicht im strengen Sinne falsifiziert 35, sondern es wird nur bestätigt, daß es für ihn - voraussetzungsgemäß eben - Ausnahmen gibt. Aus diesem Grund spricht man bei statistischen Erfahrungssätzen nicht von Falsifizierung, sondern von "Verwerfung". Daß Erfahrungssätze verworfen werden, beruht dann darauf, daß sie bestimmten - vorher festgelegten - Kriterien nicht genügen. Meist werden sie entweder keine ausreichende Stützung in den empirischen Wissenschaften haben, oder sie sind der Kategorie der bloßen Alltagstheorien zuzurechnen und erscheinen, da empirisch ungesichert, als nicht plausibel genug. Es kommt hier auf die genaue Ausgestaltung der Kriterien für eine adäquate Stützung der Hypothesen an 36 . Es ist allerdings bei der Verwerfung von statistischen Erfahrungssätzen prinzipiell zu beachten, daß die Verwerfung relativ zu den empirischen Daten niemals endgültig, sondern immer nur provisorisch ist; sie muß möglicherweise beim Hinzutreten neuer Daten rückgängig gemacht werden 37. Damit besteht also im Gegensatz zu den deterministischen Gesetzen auch die Gefahr, Wahres zu Unrecht zu verwerfen 38. Im Strafrecht wäre eine solche Entscheidung zugunsten des Angeklagten aber weitaus weniger problematisch als der umgekehrte Fall. Ein "umgekehrtes" Fehlurteil, nach dem der wahre Täter 33 Stegmüller, Probleme IV 2, S. 17, spricht dabei von "Stützung", um auch nur terminologische Anklänge an bereits bestehende Bestätigungs- oder Bewährungstheorien zu vermeiden. Zum wissenschaftstheoretischen Aspekt der Überprüfung statistischer Hypothesen Stegmüller, Probleme IV 2, S. 55 und 142. 34 Koch/Rüßmann, S. 332 ff.; von Savigny, Argumentation, S. 130 ff.; H.-W. Schünemann, JuS 1976, 560 (563); Stegmüller, Probleme IV 2, S. 49. Siehe dazu auch Popper, Logik der Forschung, unten Anm. 45 und § 8 Anm. 19 und 30. 35 L. Schulz, Kausalität, S. 70 Fn. 108; Stegmüller, Probleme IV 1, S. 299 Fn. 6; ders., Probleme IV 2, S. 29 und 77. 36 Siehe dazu unten § 8. 37 Stegmüller, Probleme IV 2, S. 50 ff. 38 Stegmüller, Probleme IV 2, S. 53 f.
. Erklärungsmodelle in der Wissenschaftstheorie
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seiner Strafe entgeht, kann eher hingenommen werden, weil faktisch sowieso nicht alle Taten aller Täter aufgeklärt werden, sondern die Gerichte immer nur einen kleinen Ausschnitt aus dem Kreis der wirklichen Taten aburteilen.
II. Erklärungsmodelle in der Wissenschaftstheorie In der Wissenschaftstheorie existieren mehrere Modelle dafür, wie Sachverhalte zu erklären sind. Die strafrechtliche Tatsachenfeststellung soll in Bezug zu diesen Modellen gesetzt werden, denn im Rahmen der juristischen Tatsachenfeststellung geht es um das Problem der Erklärung, wenn etwa die Hypothese über eine bestimmte Täterschaft als Erklärung für das real festgestellte Ereignis, z.B. den Tod eines Menschen, aufgestellt wird.
1. Erklärung und Prognose
Vorangestellt sei zunächst, daß der Begriff der Erklärung, also der rückschauenden Betrachtung von Sachverhalten (Retrospektive) im Zusammenhang mit einer weiteren Feststellung steht, in dem eine Entscheidung unter Ungewißheit getroffen wird, nämlich der Feststellung von in der Zukunft liegenden Ereignissen (Prognose). Bei der Prognose39 tauchen nun ganz ähnliche Probleme wie bei der vergangene Ereignisse erklärenden Retrospektive auf. Denn auch wenn es um die Feststellung von zukünftigen Ereignissen aufgrund des gegenwärtigen Wissens geht, wird aus einer bekannten Tatsache und einem bekannten Gesetz eine unbekannte Tatsache abgeleitet. Auch bei einer Prognose bleibt es unsicher, ob die Wahrheit erreicht wird. Es wird deswegen die Ansicht vertreten, Prognose und Retrospektive unterschieden sich nicht, sondern sie folgten demselben logischen Schema, beruhten auf der gleichen Wissenssituation und unterlägen daher den gleichen Unsicherheiten40. Die Gegenansicht hebt hervor, daß die Retrospektive anders als die Prognose zu behandeln sei, weil sich die Retrospektive auch auf Seinsgründe, die Prognose aber nur auf Vernunftgründe 41 stützen könne und die 39
Siehe zur Behandlung von Prognosen im Recht Frisch, Prognoseentscheidungen 1983, passim; ders. y in: Frisch/Vogt, Prognoseentscheidungen 1994, S. 55 ff. 40 Koch/Rüßmann, S. 284; Kühne, NJW 1979, 617 (619); Neumann, S. 432. Um zu verdeutlichen, daß die gleiche Ausgangssituation für die Beurteilung einer Wahrscheinlichkeit sowohl bei einem in der Vergangenheit liegenden Ereignis als auch bei der eigentlichen Prognose vorliegt, spricht man auch von einer "retrospektiven Prognose". 41 Dazu sogleich unten 2 c.
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§ 4 Wissenschaftstheorie und juristische Tatsachenfeststellung
Retrospektive daher schon vom Ansatz her zu besseren, weil wirklichkeitsnäheren Ergebnissen komme42. Im juristischen Sinne würde man bei der Prognose zwar nicht von "Tatsachen" sprechen43, daß diese Diskussion aber überhaupt geführt wird, erhellt, daß die vergangenheitsbezogene Tatsachenfeststellung mit durchaus ähnlichen Problemen befaßt ist, wie sie bei der Prognose vorkommen. M.E. ist die Situation bei Retrospektive und Prognose zwar strukturell dieselbe, doch können die Anforderungen an das für den Schluß verwendete "bekannte Gesetz" durchaus unterschiedlich sein. Völlig gleich ist die Lösung beider Wissenssituationen wohl nicht einmal für den Fall eines deterministischen Gesetzes44. Jedenfalls ist eine Betrachtung der Prognose im Rahmen dieser Arbeit entbehrlich, weil die hier interessierende richterliche Sachverhaltsfeststellung nur in der Vergangenheit liegende Tatsachen betrifft.
2. Deduktiv-nomologische Erklärung
a) Modell der deduktiv-nomologischen
Erklärung
Das gängige Feststellungsmodell in der Wissenschaftstheorie ist das "DNModell" oder "HO-Schema"45. Es wird oft als das "allgemeine Schema der wissenschaftlichen Erklärung" angesehen46. Es ist deduktiv-nomologischer Natur, beruht also auf Schlüssen (Ableitungen) aus allgemeinen Gesetzmäßigkeiten. Im Prinzip entspricht es dem schon von Aristoteles aufgestellten Schlußschema der Deduktion: Aus einem Antecedensdatum wird mittels einer Gesetzesaussage das Explanandum abgeleitet.
42
Stegmüller, Probleme I, S. 122 f. und insbes. S. 191 ff., bezweifelt, ob Erklärung und Prognose strukturell identisch seien, hält dies allerdings für "prima facie sehr plausibel"; siehe auch J. Schulz, Lackner-FS 1987, S. 42 ff. 43 So auch Puppe, ZStW 95 (1983), 287 (295). Als Tatsachen sind juristisch nur Zustände oder Geschehnisse der Vergangenheit oder Gegenwart anzusehen; z.B. Tröndle, § 263 Rn. 2 ff. 44 Stegmüller, Probleme I, S. 259 ff.; a.A. Puppe, ZStW 95 (1983), 287 (295). 45 Das "HO-Schema" ist nach Hempel und Oppenheim benannt; siehe dazu Herbergerl Simon, S. 354 ff.; Koch/Rüßmann, S. 283 f.; Stegmüller, Probleme I, S. 113 ff., insbes. 120 ff., 858 ff.; von Wright, S. 23 ff. Nach Bernsmann, ARSP 1982, 536 (540 Fn. 21), sollte besser von Popper/Hempel-Schtmz gesprochen werden, da dieses Schema in Wahrheit Popper, Logik der Forschung, S. 31 ff., zuerst entwickelt habe. 46 So z.B. von Meurer, Tröndle-FS 1989, S. 545 f.
II. Erklärungsmodelle in der Wissenschaftstheorie
79
Nun ist das DN-Modell aber ein stark idealisiertes Modell 47 , das in den empirischen Wissenschaften und vor allem in der Jurisprudenz nicht uneingeschränkt oder zumindest nur in seltenen Idealfällen verwendet werden kann. Man ist überwiegend der Auffassung, daß im strengen Sinn deduktive Ableitungen auch nur bei Zugrundelegung deterministischer Gesetze möglich sind 48 . Denn nur beim Arbeiten mit gültigen deterministischen Erfahrungssätzen entscheiden allein die Regeln der formalen Logik darüber, ob aus einem festgestellten Indiz eine eindeutige Stellungnahme zu einer Sachverhaltsannahme möglich ist. Sobald statistische Erfahrungssätze mit herein spielen, existiert ein so einfaches System nicht mehr 49. Die faktischen Erklärungen im vorwissenschaftlichen wie im wissenschaftlichen Alltag weichen daher vom DN-Modell mehr oder weniger stark ab 50 . Stegmüller weist darauf hin, daß für die Arbeitsweise des Historikers beispielsweise nicht zu hohe Anforderungen an eine ausreichende Erklärung gestellt werden könnten. Selbst in idealen Fällen könne von einer wirklich logischen Deduktion kaum einmal die Rede sein, die benützten Regelmäßigkeiten und Theorien hätten meist nur statistischen Charakter 51. Der Historiker sei auf indirekte Methoden angewiesen, die ihm den Rückschluß auf die Vergangenheit ermöglichen52; vergangene Ereignisse sind nun einmal nicht direkt beobachtbar. Auf diese Begrenztheit der Erkenntnismöglichkeiten in bezug auf die Wahrnehmung von Vergangenem wird auch Bezug genommen, wenn zuweilen darauf aufmerksam gemacht wird, daß sich der Tatsachen feststellende Jurist in derselben oder zumindest sehr ähnlichen Lage wie der Historiker befinde 53. Auch der oben behandelten Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung für die juristische Kausalitätsfeststellung 54 entspricht das DN-Modell der Wissenschaftstheorie. Mit den für diese Lehre bereits aufgezeigten Nachteilen ist demzufolge auch das DN-Modell behaftet. So ist nach dem DN-Modell ein Ereignis deduktiv-nomologisch erklärbar, wenn alle Antecedensdaten bekannt sind 55 . Wird jedoch nur ein Teil der Bedingungen einbezogen, versagt das DN-Modell, da dann bei der Verwendung noch so vieler Gesetze kein logi47
Koch/Rüßmann, S. 287; Stegmüller, Probleme I, S. 143 f. Stegmüller, Probleme I, S. 121 m.w.N. 49 Koch/Rüßmann, S. 286 f. 50 Stegmüller, Probleme I, S. 144. 51 Stegmüller, Probleme I, S. 402 f. 52 Stegmüller, Probleme I, S. 399. 53 Engisch, Logische Studien, S. 39 ff.; Käßer, S. 68 ff.; Meurer, Tröndle-FS 1989, S. 547; Müller-Dietz, Zs. f. evang. Ethik 15 (1971), 257 (257); Rödig, S. 151 ff., 248; Spendet, JuS 1964, 465 (465 ff.). 54 Herberger/Simon, S. 364; L. Schulz, Kausalität, S. 54; siehe oben § 3 11 a aa. 55 Stegmüller, Probleme I, S. 506 f. 48
80
§ 4 Wissenschaftstheorie und juristische Tatsachenfeststellung
scher Schluß im strengen Sinne vorgenommen werden kann 56 . Alle Bedingungen können aber, wie bei der Diskussion der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung gezeigt wurde, zumeist nicht angegeben werden.
b) Typen rudimentärer
Erklärungen
Bisweilen wird dennoch der Eindruck erweckt, eine Erklärung müsse, um überhaupt akzeptabel zu sein, vollständig und abgeschlossen sein 57 . Vollständig ist eine Erklärung dann, wenn sie nichts unerklärt läßt; abgeschlossen, wenn sie aus sich heraus verständlich ist und nicht auf außerhalb von ihr liegende Gegebenheiten zurückgreifen muß. Beide Forderungen sind jedoch streng genommen nicht erfüllbar.
aa) Grundsätzliche Unvollständigkeit und Unabgeschlossenheit von Erklärungen Eine im strengen Sinne vollständige Erklärung kann nicht erreicht werden 58 , weil die Anzahl der Sätze, die einen Sachverhalt beschreiben, begrenzt ist. Die Sätze erklären ein Ereignis nicht in seiner Totalität, sondern sie erklären immer nur gewisse Aspekte des Ereignisses59. Eine wirklich vollständige Beschreibung müßte letztlich "die ganze Welt erklären" 60. Eine exaktere Erklärung ist aber auch nicht in allen Fällen notwendig, sondern nur dann, wenn eine andere Erklärungsmöglichkeit überhaupt in Betracht kommt 61 . Wenn dies nicht der Fall ist, ist es nicht sinnvoll, die bisherige Erklärung weiter voranzutreiben. Auch eine abgeschlossene Erklärung ist nicht erreichbar, weil sie zu einem unendlichen Regreß führen würde 62. Denn alle Antecedensdaten müßten ja ihrerseits wiederum erklärt werden 63. Um einen unendlichen Regreß zu vermeiden, müssen daher als Ausgangspunkt von Schlüssen bestimmte Annahmen (Vermutungen) akzeptiert werden, deren Richtigkeit man direkt einsehen 56
Stegmüller, Probleme I, S. 405. So z.B. Samson, StV 1991, 182 (183). 58 Herbergerl Simon, S. 365; Puppe, bei Perron, ZStW 99 (1987), 637 (655 f.); Stegmüller, Probleme I, S. 151. 59 Sogar im "Extrem"-Fall eines Satzes mit naturgesetzlicher Qualität sind die Bedingungen, die vorliegen müssen, weder alle noch dazu präzise anzugeben. 60 Puppe, SchwZStr 1990, 141 (146 Fn. 6 m.N.). 61 Puppe, ZStW 95 (1983), 287 (300). 62 Koch/Rüßmann, S. 277 f. 63 Stegmüller, Probleme I, S. 151. 57
II. Erklärungsmodelle in der Wissenschaftstheorie
81
kann 64 . Hierin liegt die Bedeutung den Intuition 65 . Es ist einsichtig, daß diese Ausnahmen einem möglichst breiten Allgemeinkonsens unterliegen sollten, lim dem hier immer naheliegenden Vorwurf der Irrationalität zu entgehen. Wenn also eine Erklärung notwendigerweise unvollständig und unabgeschlossen ist, muß auch für eine juristische Erklärung bestimmt werden, was alles zu erklären ist und insbesondere, an welcher Stelle die Erklärung abgebrochen werden darf, ohne daß die Erklärung dadurch für den Strafjuristen inakzeptabel wird.
bb) Erklärungsskizze, Pseudoerklärung und Erklärbarkeitsbehauptung Mit dem Aspekt rudimentärer, also auf irgendeine Weise unvollständig bleibender Erklärungen setzt sich auch die Wissenschaftstheorie auseinander. Es gibt verschiedene Arten rudimentärer Erklärungen; vor allem sind ihnen die alltäglichen Kausalerklärungen zuzurechnen66. Dabei werden die relevanten Daten nur sehr unvollständig wiedergegeben und die benötigten Gesetze, weil als selbstverständlich vorausgesetzt, nicht angegeben67. Als Arten rudimentärer Erklärungen werden Erklärungsskizze, elliptisch formulierte Erklärung, Pseudoerklärung und bloße Erklärbarkeitsbehauptung genannt68. Eine Erklärungsskizze ist der Normalfall für den Historiker, Juristen oder Psychologen69. Von einer Erklärungsskizze kann man immer dann sprechen, wenn die Antecedensbedingungen bzw. die zu einem Schluß verwendeten Gesetze nicht genau und vollständig angegeben werden 70. Diese Kennzeichnung weist aber auch die elliptische, d.h. auslassende, Erklärung auf. Es ist daher nicht recht klar, wie sich diese von einer Erklärungsskizze trennen läßt. Beiden gemeinsam ist jedenfalls, daß sie, obwohl sie keine im strengen Sinne vollständige Erklärung zu liefern vermögen, dennoch als Erklärungen akzeptiert werden sollen. Im Gegensatz dazu steht die Pseudoerklärung. So werden all diejenigen unvollständigen Erklärungen bezeichnet, die nicht mehr als Erklärungen aner64
Koch/Rüßmann, S. 277 f. Dazu, daß sie als letzte Grundlage nicht zu entbehren ist, auch Kraft, S. 193. 66 Stegmüller, Probleme I, S. 145 f. 67 Stegmüller, Probleme I, S. 145. Das juristische Beispiel hierfür wäre die alltägliche Anwendung der conditio sine qua non-Formel in unproblematischen, weil evidenten Fällen. 68 Stegmüller, Probleme I, S. 145. 69 Stegmüller, Probleme I, S. 145. 7 0 Stegmüller, Probleme I, S. 145 und 148 f. 65
6 Müller
82
§ 4 Wissenschaftstheorie und juristische Tatsachenfeststellung
kannt werden sollen. Wodurch sich eine Pseudoerklärung aber inhaltlich von den beiden anderen Typen unterscheiden läßt, bleibt offen. Eine Erklärbarkeitsbehauptung schließlich enthält demgegenüber nur die Behauptung, daß es die relevanten Gesetze gebe und eine Erklärung geliefert werden könne71. Die Begriffe sind unscharf und eine Abgrenzung ist schwierig, wenn nicht unmöglich. Fest steht nur, daß gewisse Erklärungen — unter noch genauer zu eruierenden Voraussetzungen - nicht mehr hinreichend sind und ggf. als Pseudoerklärungen zu bezeichnen wären 72. Da sich eine Unterscheidung der verschiedenen unvollständigen Erklärungen der Wissenschaftstheorie begrifflich nicht durchführen läßt, muß für die strafrechtliche Tatsachenfeststellung darauf verwiesen werden, daß spezifisch strafrechtliche Bedingungen für eine gerade noch ausreichende rudimentäre Erklärung zu suchen sind.
cc) Unterscheidung von Stegmüller In der Wissenschaftstheorie findet sich ein weiterer Erklärungsansatz, der ohne die genannten Begrifflichkeiten eine Differenzierung versucht und auch für die Tatsachenfeststellung im Recht von Bedeutung sein könnte: Um die Art der Unvollständigkeit näher danach zu charakterisieren, ob und wie eine Vervollständigung möglich ist, unterscheidet Stegmüller vier Fälle 73 . Erstens können die Gesetze in der Erklärung schon implizit enthalten sein. Dies ist etwa bei Erklärungen mittels Dispositionsprädikaten der Fall. Zweitens können die Gesetze stillschweigend als zu selbstverständlich betrachtet werden, als daß sie ausdrücklich erwähnt werden; der Erklärende ist aber selbst in der Lage, die Erklärung adäquat zu vervollständigen. Drittens ist der Fall denkbar, daß dem Erklärenden selbst zwar keine Erklärung gelingt, diese aber mühelos vervollständigt werden könnte, indem auf die Hilfe von Experten zurückgegriffen wird. Viertens schließlich kann es zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch unmöglich sein, eine durch das verfügbare Erfahrungsmaterial gut bestätigte generelle Hypothese, auf die sich die Erklärung gründet, präzise zu formulieren. Man hat entweder nur eine ungefähre Vorstellung von der zugrundeliegenden Regularität oder kann die Gesetzmäßigkeit infolge ihrer Komplexität nicht angeben. So wird es etwa vor allem im Bereich der Psychologie nicht möglich sein, Aussagen, in denen Individuen psychische Dis-
71
Stegmüller, Probleme I, S. 166 f., 507 und 536. Stegmüller, Probleme I, S. 148: stärkste Abweichung vom idealen Modell; zur "Pseudoerklärung" auch ders., S. 402 ff. 73 Stegmüller, Probleme I, S. 400 f. 72
H. Erklärungsmodelle in der Wissenschaftstheorie
83
Positionen zugeschrieben werden, allgemeinen Gesetzen zuzuordnen74, weil diese Gesetze nicht bekannt sind. Die erstgenannten drei Fälle kann man unter dem Gesichtspunkt zusammenfassen, daß bei ihnen aus Gründen der Einfachheit Details der Erklärung weggelassen wurden, diese aber prinzipiell zur Verfügung stehen. Dieser Fall ist dem vierten gegenüberzustellen, in dem die Details vorläufig unbekannt sind und die Gesetze deswegen noch nicht in der benötigten Form artikuliert werden können. Ein echtes Abgrenzungsproblem stellt sich Stegmüller zufolge nur für diesen Fall 75 . Diese vier Fallgruppen finden sich auch in der strafrechtlichen Tatsachenfeststellung; insbesondere die vierte Fallgruppe erfordert die Aufstellung von Kriterien, wie mit ihr zu verfahren ist 76 .
c) Erklärung
und Begründung
In der Wissenschaftstheorie unterscheidet man zwischen Erklärungen und Begründungen. Bei ersteren werden Seinsgründe ("rationes essendi") verwendet, bei letzteren Vernunftgründe ("rationes cognoscendi"). Im Idealfall lassen sich beide Bereiche streng voneinander trennen. In vielen Fällen überlappen sie sich jedoch, wie schon bei der Diskussion des DN-Schemas zu sehen war. Denn in der Weise, wie Erklärungen mittels Seinsgründen unvollständig bleiben, müssen die Begründungselemente, die an die Vernunft appellieren, zunehmen. Wenn oben festgestellt wurde, daß sowieso meist nur unvollständige Erklärungen vorliegen, kann schon deswegen auf Begründungselemente nicht verzichtet werden. Für Vernunftgründe kommen dabei sämtliche Informationen in Betracht, die die Erwartung eines nicht bekannten Ereignisses als rational erscheinen lassen77. Es ist daher bei Zugrundelegung eines nicht deduktiven Erklärungsmodells eigentlich nicht sinnvoll, überhaupt von "Erklärungen" zu sprechen78. Denn induktive Argumente liefern stets nur Erkenntnisgründe (Vernunftgründe) und keine Realgründe (Seinsgründe, Ursachen)79. Man sollte daher streng wissenschaftstheoretisch gesehen nicht von Erklärungen, sondern nur von Begründungen sprechen. Unter dem Vorbehalt,
7 4
Stegmüller, Probleme I, S. 160. Stegmüller, Probleme I, S. 402. 76 Siehe dazu unten § 8 I. 77 Koch/Rüßmann y S. 284. 78 Stegmüller, Probleme I, S. 851 f. 7 9 Stegmüller, Probleme I, S. 852; dazu auch Koch/Rüßmann, S. 284; siehe zum Problem der Induktion oben §413. 75
6*
84
§ 4 Wissenschaftstheorie und juristische Tatsachenfeststellung
daß, soweit erforderlich, auch Vernunftgründe Berücksichtigung finden, wird hier der Begriff der Erklärung beibehalten80.
3. Induktiv-statistische Erklärung
a) Modell der induktiv-statistischen
Erklärung
Das induktiv-statistische Modell (IS-Modell) verwendet als Obersatz statt deterministischer statistische Erfahrungssätze 81. Bei bloß statistischen Gesetzesannahmen kann der Schluß von Antecedensbedingungen auf das Explanandum aber - im Gegensatz zum DN-Modell - nicht mit logischer Notwendigkeit, sondern nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit erfolgen 82. Das IS-Modell arbeitet daher mit Wahrscheinlichkeitshypothesen83.
b) Bedeutung der Wahrscheinlichkeit
für die Tatsachenfeststellung
Mit Wahrscheinlichkeit ist ein weitgespanntes Thema angesprochen, insbesondere wenn man auch alle damit verbundenen mathematischen und wissenschaftstheoretischen Aspekte berücksichtigen wollte. In dieser Arbeit wird die Wahrscheinlichkeit nur insoweit untersucht, als sie auch im Zusammenhang mit der strafrichterlichen Tatsachenfeststellung von Bedeutung ist. Zunächst einmal ist der Begriff der "Wahrscheinlichkeit" nicht so eindeutig, wie man es vielleicht aus einem unbefangen alltagssprachlichen Blickwinkel heraus vermuten könnte. In der Wissenschaftstheorie existieren verschiedene Theorien zur Erklärung der Wahrscheinlichkeit. So unterscheidet man die klassische Wahrscheinlichkeitstheorie, die Grenzwerttheorie, die subjektive und die logische Wahrscheinlichkeitstheorie 84. Man kann die einzelnen Theorien zur Wahrscheinlichkeit aber auch sortieren nach der Verwendung von quantifizierenden, qualifizierenden und komparativen Begriffen. Dem ent80
Gegen die Scheidbarkeit von empirischer und normativer Basis der Entscheidungsfindung Engisch, Logische Studien, S. 102 ff., 113; a.A. Paeffgen, PetersFG 1984, 61 (74 m.w.N.). 81 Dazu Herbergerl Simon, S. 358 ff.; von Wright, S. 25 ff. 82 Stegmüller, Probleme I, S. 121. 83 Nebenbei bemerkt kann man die Verwendung von Wahrscheinlichkeitsbegriffen als einen Versuch verstehen, das Induktionsproblem zu lösen, Stegmüller, Probleme IV 1, S. 77 f. Zur wohl bestehenden Unlösbarkeit dieses Problems schon oben §413. 84 Siehe zu den vertretenen Wahrscheinlichkeitstheorien sogleich genauer.
. Erklärungsmodelle in der Wissenschaftstheorie
85
spricht die etwas gröbere Einteilung in numerische (quantifizierende) und nicht-numerische (qualitative) Größen 85. Die Einteilungsmöglichkeiten sind nicht deckungsgleich. Die zuerst genannten Auffassungen in der Wahrscheinlichkeitstheorie können jeweils als quantitative oder auch als qualitative Varianten aufgefaßt werden, je nachdem ob für die Angabe der Wahrscheinlichkeit Zahlenwerte oder qualitative Begriffe verwendet werden 86. Der umgangssprachliche Begriff von Wahrscheinlichkeit entspricht wohl der subjektiven Wahrscheinlichkeitsauffassung in der Wissenschaftstheorie 87. Im Alltagsverständnis wird aber auch mit dem im mathematischen Sinne verwendeten Begriff "Wahrscheinlichkeit" unbeschadet der verschiedenen Begriffe in der Wissenschaftstheorie oft nur der "klassische" Wahrscheinlichkeitsbegriff assoziiert88. Auch die Jurisprudenz schlüsselt die Verwendung des Begriffs "Wahrscheinlichkeit" meist nicht entsprechend den verschiedenen vertretenen Wahrscheinlichkeitstheorien auf 89 . Eine Einteilung erfolgt nur danach, ob die Wahrscheinlichkeit numerisch oder nicht-numerisch angegeben wird. Letzteres ist häufiger der Fall. Quantifiziert wird der Wahrscheinlichkeitsbegriff hingegen nur selten90, weil "harte", d.h. in Zahlen verfügbare Ausgangsdaten, in den meisten Fällen für die zur Berechnung eines Wahrscheinlichkeitswertes erforderliche Ursprungswahrscheinlichkeit nicht zur Verfügung ste85 Zu dieser Unterscheidung Bohne, S. 12 ff.; Cuypers, S. 86 Fn. 137; Kindhäuser, Jura 1988, 290 (292), z.B. teilt dementsprechend in eine Auffassung ein, derzufolge eine "bestimmte Größe" angegeben wird und in eine, die den Wahrscheinlichkeitstermen nur eine "argumentative Funktion zuschreibt". 86 Die Einführung eines komparativen Wahrscheinlichkeitsbegriffs wird meist vernachlässigt. Zur Wahrscheinlichkeit Evers, S. 42 ff., insbes. 48 ff.; Fincke, GA 1973, 266 (266 ff.); Greger, Beweis, S. 38 ff.; Käßer, S. 44 ff.; Neil, S. 18 ff.; J. Schulz, Sachverhaltsfeststellung, S. 295 ff. 87 Greger, Beweis, S. 38 f.; Koch/Rüßmann, S. 289. Nach Kindhäuser, Jura 1988, 290 (294 f.), komme dem Alltagsgebrauch die "funktionale Wahrscheinlichkeitstheorie" am nächsten. Danach müssen einleuchtende Gründe für die Richtigkeit einer Aussage sprechen, ohne daß dafür zugleich eine Gewähr übernommen wird, weil die Gründe nicht zweifelsfrei feststehen und damit nicht voll und ganz begründet sind. Nach A. Schmidt, S. 120, stellt auch dies eine Form der subjektiven Wahrscheinlichkeit dar. 88 Stegmüller, Probleme I, S. 775. 89 Dies monieren auch Kühne, NJW 1979, 617 (618) und A. Schmidt, S. 111. Paulus, Spendel-FS 1992, S. 692 ff., etwa stellt - objektiv verstandene "Wahrscheinlichkeit" in einen Gegensatz zur - subjektiv verstandenen - "Gewißheit". 90 So etwa von Kegel, Kronstein-FG 1967, S. 321 ff.; Maassen, Beweismaßprobleme, S. 153 ff.
86
§ 4 Wissenschaftstheorie und juristische Tatsachenfeststellung
hen 91 . Nur ausnahmsweise kann die Wahrscheinlichkeit quantifiziert werden, wenn die "harten" Ausgangsdaten, etwa bei der Vaterschaftsfeststellung, bekannt sind 92 . Der Versuch, Wahrscheinlichkeit zu quantifizieren, findet sich bei der klassischen Wahrscheinlichkeitstheorie.
aa) Klassische Wahrscheinlichkeit Die "klassische" (numerische) Wahrscheinlichkeitstheorie geht zurück auf die Mathematiker Bernouilli und Laplace93. Danach bedeutet Wahrscheinlichkeit das Verhältnis der für ein Ereignis günstigen Fälle zu den möglichen Fällen94. Bei einem Würfel etwa gibt es für den Fall, eine 6 zu würfeln, 6 mögliche Fälle und einen günstigen Fall; die Wahrscheinlichkeit beträgt damit 1/6. Die Anwendung der klassischen Wahrscheinlichkeitslehre setzt allerdings einen empirisch einfach gelagerten Fall voraus, wie etwa der eines Würfels mit 6 Seiten oder das Ziehen von verschiedenfarbigen Kugeln aus Urnen. Die Schwäche der klassischen Wahrscheinlichkeitstheorie liegt darin, daß für ihre korrekte Anwendung Ausgangswahrscheinlichkeiten bekannt bzw. vorausgesetzt sein müssen. Im Beispiel muß vorausgesetzt werden, daß es sich um einen "idealen" Würfel handelt, bei dem die Wahrscheinlichkeit die verschiedenen Zahlen zu würfeln genau gleich groß ist, und nicht etwa durch irgendwelche Unebenheiten verfälscht wird. Ohne Kenntnis der Ausgangsdaten kann strenggenommen keine Berechnung einer Wahrscheinlichkeit erfolgen. Wenn trotzdem eine Quantifizierung versucht wird, ist der Einwand berechtigt, daß sie bloße Fiktion ohne zureichende Begründung sei 95 , denn was offen bleibe, sei die Frage, wie und woran die Wahrscheinlichkeit zu messen sei. Deswegen wird der Wahrscheinlichkeitsbegriff meist nur graduell verstanden, d.h., die Wahrscheinlichkeitswerte werden, ohne sich auf präzis angeb-
91
Koch/Rüßmann, S. 320 ff. G. Engels, S. 33 Fn. 142, S. 35 f. Vgl. BGHSt 6, 70 (72). 93 Nachweise bei Neil, S. 19. 94 Koch/Rüßmann, S. 289 f.; A. Schmidt, S. 111 Fn. 3 m.w.N. 95 Freund, Tatsachenfeststellung, S. 18 ff.; ders., JR 1988, 116 (117 f.); Kindhäuser, Jura 1988, 290 (293 f.). Kühne, NJW 1979, 617 (619), betont, daß eine mathematisierende Erfassung von Wahrscheinlichkeit wegen notwendig vorhandener Mängel (individuelle Unterschiede beim menschlichen Wahrnehmungssystem, jedenfalls insbesonere in den Randzonen intersubjektiver Übereinstimmung) nicht möglich sei. Paulus, Spendel-FS 1992, S. 692 f., verneint ebenfalls die Tauglichkeit eines 92
II. Erklärungsmodelle in der Wissenschaftstheorie
87
bare Fixpunkte eines bestimmten Maßsystems festzulegen, qualitativ angegeben 96 . Autoren, die mit den unterschiedlichen Wahrscheinlichkeitsgraden arbeiten, "schätzen" die Ursprungswahrscheinlichkeiten ab und ordnen sie dann ungefähr in ihr Gradsystem ein. Tatsächlich können dabei unter Umständen trotz sehr "kulant", d.h. mit einem vergleichsweise großen Sicherheitszuschlag geschätzter Ausgangsdaten rechnerisch (z.B. mit Hilfe des Bayesschen Theorems97) zahlenmäßig durchaus recht hohe (fast 100-prozentige) Wahrscheinlichkeiten herauskommen98. Die Crux dieses Verfahrens ist jedoch gerade die Schätzung der Ursprungswahrscheinlichkeiten, denn offen bleibt,, wie eine solche Schätzung ohne tatsächliche Grundlage legitimiert werden sollte. Man könnte deswegen auf die naheliegende Idee kommen, eine sog. Gleichwahrscheinlichkeit zu postulieren, d.h., das Vorliegen der gesuchten Tatsache für ebenso wahrscheinlich wie deren NichtVorliegen zu halten. In dem Würfelbeispiel müßte angenommen werden, daß alle Augen stets mit der gleichen Wahrscheinlichkeit geworfen werden, daß die möglichen Fälle also gleich wahrscheinlich sein müssen. Gegen eine solche Normierung der Ursprungswahrscheinlichkeiten auf Gleichwahrscheinlichkeit, die ja auch bei einer Anwendung dieser Theorie in der Jurisprudenz erforderlich wäre, sind jedoch Bedenken zu erheben. Teilweise wird geltend gemacht, eine solche Annahme widerspreche der Unschuldsvermutung, weil diese durch die Voraussetzung von Gleichwahrscheinlichkeit ausgeschaltet werde; man müsse eher annehmen, daß das Vorliegen von Unschuld wahrscheinlicher sei 99 . Aber schon ohne Rekurs auf dieses spezifisch strafprozessuale Argument ergeben sich generelle theoretische Einwände gegen eine solche Annahme. Ausschlaggebend ist, daß in allen Fällen, in denen exakte Zahlen nicht zur Verfügung stehen, eine Schätzung eine unzulässige Fiktion darstellen würde. Eine Ursprungswahrscheinlichkeit - auch im Sinne der Annahme von Gleichwahrscheinlichkeit - kann deswegen nur dann festgelegt werden, wenn sie durch das bisher bekannte Beweismaterial gestützt ist 1 0 0 . Diese Anforderung wird allerdings in der Pra(quantifizierenden) Wahrscheinlichkeitsbegriffs, wobei er vom Begriff der Wahrheit aus argumentiert (siehe dazu unten § 5 in 1 a). 96 So z.B. das System von Bender, Baur-FS 1981, S. 258: Überzeugung von Wahrheit (über 99,8 %); hohe (75 %), überwiegende (über 50 %) und geringe (25 %) Wahrscheinlichkeit. Dazu auch G. Engels, S. 36 ff. 97 Dazu Koch/Rüßmann, S. 318 ff. 98 Dazu Hagenloch, DRiZ 1990, 392 (392 ff.). Ein Beispiel aus der Rechtsprechung stellt die vom BGH NJW 1989, 3161 (3161 f.) mit der Begründung aufgehobene Entscheidung dar, die Festlegung von Prozentsätzen und eine Berechnung sei ohne gesicherte Daten nicht zu fordern. Dazu G. Engels, S. 32 f. Fn. 141 m.w.N. 99 Koch/Rüßmann, S. 321 f. 100 Koch/Rüßmann, S. 322.
88
§ 4 Wissenschaftstheorie und juristische Tatsachenfeststellung
xis in den seltensten Fällen zu erfüllen sein. Demzufolge ist die klassische Definition zirkulär 101 .
bb) Grenzwertdefinition Um dem Einwand der Zirkularität zu entgehen, wurde die sog. Grenzwertdefinition erdacht (von Mieses, Reichenbach)102, die Wahrscheinlichkeit als Grenzwert der relativen Häufigkeiten definiert, mit der ein bestimmter Umstand innerhalb einer unendlichen Abfolge typisierter Situationen vorkommt 103 . Die Grenzwertdefinition geht davon aus, daß gerade keine Gleichwahrscheinlichkeit gesetzt werden soll, von der man ja nicht weiß, ob sie tatsächlich vorliegt, sondern in einer - theoretisch unbegrenzten - Versuchsreihe ein Grenzwert erst gefunden wird, der dann näherungsweise die gesuchte Wahrscheinlichkeit angibt. Gegen diese Definition wurden Einwände erhoben 104, etwa der, daß sie zu keinen praktischen Ergebnissen führe und damit unentscheidbar sei. Insbesondere tauge sie nicht für die Bestimmung der Wahrscheinlichkeit von Einzelereignissen; man könne nämlich nie sicher sein, den "wirklichen" Wahrscheinlichkeitswert zu erreichen, weil eine zufällig vorliegende Ungleichverteilung nicht erkannt werden kann. Die Grenzwertdefinition verwechsle praktische Sicherheit mit logischer Notwendigkeit, denn der erzielte Wert sei nur ein praktisch, aber kein logisch sicherer Wert 105 . Dieser Einwand mag in der Jurisprudenz kein großes Gewicht haben, da hier praktische Sicherheiten ausreichen müssen und wissenschaftstheoretisch interessierende Letztbegründungen nicht zum Stillstand der Rechtspflege führen dürfen 106 . Aber schon aus einem einfacheren Grund hilft die Grenzwerttheorie der Wahrscheinlichkeit nicht weiter: Im gerichtlichen Beweisverfahren sind nämlich Untersuchungen dieser Art ausgeschlossen107. Dies verdeutlicht der "Pilz"-Fall, in dem ein Kind gestorben war, das kurz zuvor eine von sei101
Stegmüller, Probleme IV 1, S. 412 ff. Von Mieses, S. 12 ff.; Reichenbach, Wahrscheinlichkeitslehre, 2. Aufl. 1994, S. 444 ff.; dazu Popper, Logik der Forschung, S. 123 ff.; Carnap/Stegmüller, S. 21; A. Schmidt, S. 112 Fn. 4 m.w.N. 103 Dazu Greger, Beweis, S. 40; Käßer, S. 45 ff.; Koch/Rüßmann, S. 290 f.; Neil, S. 21 ff.; Stegmüller, Probleme IV 2, S. 29 ff. 104 Dazu im einzelnen Stegmüller, Probleme IV 2, S. 32 ff. 105 Stegmüller, Probleme IV 1, S. 502 Fn. 40 und IV 2, S. 37 ff. und 60 f. 106 Zur vergleichbaren Fragestellung nach der Bedeutung des philosophischen Zweifels im Recht unten § 7 I 3 a. 107 Kindhäuser, Jura 1988, 290 (293). 102
II. Erklärungsmodelle in der Wissenschaftstheorie
89
nem Vater mit selbstgesammelten Pilzen zubereitete Mahlzeit zu sich genommen hatte 108 . Hier spricht zwar vieles dafür, daß eine überholende Kausalität - man denke an einen unbekannten Dritten, der gekommen ist und das Kind vergiftet hat - nicht vorgelegen hat. Es kann aber nicht kurzerhand gedanklich angenommen werden, in einem von 1000 Fällen könne ein unbekannter Dritter gekommen sein, was vernachlässigenswert unwahrscheinlich sei. Mit einer solchen Annahme würde man sich in falscher Sicherheit wiegen: Man hielte den damit gefundenen Wahrscheinlichkeitswert (99,9 %) für ein eine Verurteilung fundierendes Ergebnis und schlösse deswegen die Möglichkeit des Vorliegens eines Ausnahmefalles aus. Ein solches Vorgehen ist unzulässig. Eine Hypothese, die ein Einzelereignis betrifft, läßt sich nicht numerisch bestätigen109, sondern eben nur schätzen. Es mag ja dahinterstecken, daß der Fall auch gefühlsmäßig so und nicht anders gelöst werden würde. Dies allein gibt aber noch keine Berechtigung dazu, auch in einer Hauptverhandlung so zu verfahren. Die Grenzwerttheorie scheidet also für die Bestimmung der Wahrscheinlichkeit von Einzelereignissen - und nur die sind im Strafrecht letztlich von Interesse - aus.
cc) Subjektive oder personelle Wahrscheinlichkeit Die subjektive oder personelle Wahrscheinlichkeitstheorie versteht Wahrscheinlichkeit als subjektiven, an eine Person gebundenen Grad der Überzeugung oder des Glaubens an einen Sachverhalt110. Um diesen - ersichtlich schwer zu fassenden - Wert handhabbar zu machen, wird versucht, über den Gedanken des "rationalen Wettens" eine Quantifizierung zu erreichen. Die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses wird dafür mit dem höchsten Wettquotienten gleichgesetzt, zu dem eine Person bereit ist, auf ein Ereignis zu wetten 111 . Wissenschaftstheoretisch gesehen ergibt sich ein gewichtiger Einwand gegen die subjektive Wahrscheinlichkeitsauffassung daraus, daß eine solche Position mit einem Bekenntnis zum Determinismus verbunden ist: Der konse108
Kindhäuser, Jura 1988, 290 (293). Baader, S. 33 ff.; Kindhäuser, Jura 1988, 290 (293); A. Schmidt, S. 113. 110 Vertreter sind Savage , The Foundations of Statistics, 1954; de Finetti, in: Kyburg/Smokler (Hg.), Studies in Subjective Probability, 1964, S. 93 ff. Dazu Käßer, S. 49 ff.; Koch/Rüßmann, S. 291; Nell, S. 32 ff.; Stegmüller, Probleme IV 1, S. 66 f., 129 ff.; ders., Probleme IV 2, S. 220 ff. Innerhalb der subjektiven Auffassung kann unterschieden werden zwischen einem normativen Wahrscheinlichkeitsbegriff, d.h. dem Grad der Überzeugung, den eine Person haben sollte, und der subjektiven Wahrscheinlichkeit im empirisch-deskriptiven Sinn, Stegmüller, Probleme IV 1, S. 131 ff. 111 Stegmüller, Probleme IV 1, S. 66 Fn. 49; ders., Probleme IV 2, S. 226 ff. 109
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§ 4 Wissenschaftstheorie und juristische Tatsachenfeststellung
quente Subjektivist akzeptiert nur diejenige Ungewißheit, die auf mangelnde Information zurückzuführen ist, und nicht auch eine Ungewißheit, die aus prinzipiellen Gründen besteht. Physikalischer Indeterminismus und Determinismus unterscheiden sich nun darin, daß nach ersterem auch Ungewißheiten existieren, die prinzipiell nicht behoben werden können, nach letzterem aber nur solche, die auf mangelnder Information beruhen und daher, wenn auch nicht zur Zeit, so doch jedenfalls prinzipiell behoben werden können. Erkenntnissen der neueren Physik zufolge, wonach die Quantentheorie akzeptiert ist, nach der das Verhalten kleinster Teilchen generell nur statistisch beschreibbar ist, muß man aber auch Ungewißheiten einbeziehen, die prinzipiell nicht determinierbar sind 112 . Dies macht jedoch nur dann Sinn, wenn Ungewißheiten, die nicht auf mangelndes Wissen zurückführbar sind, auf objektiven Wahrscheinlichkeiten beruhen. Dies anzunehmen sind die Subjektivisten aber gerade nicht bereit 113 . Damit gerät die subjektive Theorie in ein unlösbares Dilemma. Diese Argumentation ist für die juristische Tatsachenfeststellung gleichwohl von eher geringer Bedeutung, weil sich die Frage, ob eine Ungewißheit nur auf mangelnder Information beruht oder schon prinzipiell nicht behebbar ist, letztlich nicht klären läßt. So kann der auch in der Wissenschaftstheorie offene Determinismusstreit für die alltägliche juristische Tatsachenfeststellung außer Betracht bleiben. Dort spricht gegen die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie in ihrer quantifizierten Fassung vordergründig das Argument, daß Richter in einer Hauptverhandlung nicht wetten. Dies kann die subjektive Theorie jedoch nicht diskreditieren, denn durch die Formalisierung über das "Wetten" wird die subjektive Theorie nur quantifizierbar gemacht. Wenn man die subjektive Theorie nicht quantifizierend, sondern qualifizierend versteht, verfangt diese Kritik nicht mehr ohne weiteres. Die subjektive Wahrscheinlichkeitstheorie weist dann eine frappierende Ähnlichkeit mit der subjektiven Theorie der h.M. zur Tatsachenfeststellung auf, wonach die richterliche Überzeugung für die Beweiswürdigung ausschlaggebend sein soll. In der Tat kann man die Konzeption der freien richterlichen Beweiswürdigung als Ausformung der in der Wissenschaftstheorie vertretenen subjektiven Wahrscheinlichkeitstheorie ansehen114.
112
Zur Erkenntnissen der neueren Physik in diesem Zusammenhang Maiwald, S. 20 ff.; NK-Puppe, Rn. 111 vor § 13 StGB. 113 Dazu Stegmüller, Probleme IV 1, S. 66 f.; ders., Probleme IV 2, S. 249 ff. 114 So auch Meurer, Tröndle-FS 1989, S. 539. Der Frage nach der freien richterlichen Beweis Würdigung wird unten in § 5 V nachgegangen.
. Erklärungsmodelle in der Wissenschaftstheorie
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dd) Wahrscheinlichkeit als theoretische Größe (logische Wahrscheinlichkeit) Die Definition der Wahrscheinlichkeit als theoretischer Begriff 115 geht zurück auf Braithwaite (ähnlich auch Popper, Carnap und Stegmüller 116). Die Wahrscheinlichkeit wird hier verstanden als der Grad der Bestätigung, die einer Hypothese durch Information verliehen wurde. Der Grad der Wahrscheinlichkeit ist dabei relativ zu den Informationen. "Theoretisch" meint also, den Begriff der Wahrscheinlichkeit nicht unter Bezugnahme auf bereits verfügbare logische und empirische Begriffe zu definieren, sondern abhängig von bestimmten Informationen im Einzelfall. Für das Strafverfahren würde die Wahrscheinlichkeit die logische Beziehung ausdrücken zwischen der in einem Beweissatz ausgedrückten Informationsaussage und der dadurch bestätigten Hypothese, daß der Angeklagte die Tat begangen habe. Der entscheidende wissenschaftstheoretische Einwand gegen diese Theorie lautet, daß sie Wahrscheinlichkeit nicht genau erklärt, sondern unendlich vieldeutig macht 117 . Wenn der Wahrscheinlichkeitswert relativ zu mehr oder weniger beliebigen Informationen sei, könne damit nicht gearbeitet und auch keine eindeutigen Ergebnisse erzielt werden. Dieses Argument ist jedenfalls für die Wissenschaftstheorie nicht von der Hand zu weisen, weil keine quantifizierten Werte erzielt werden können. Der theoretische Wahrscheinlichkeitsbegriff kann, wenn er so verstanden wird, daß er handhabbare Wahrscheinlichkeitswerte erbringen sollte, nicht verwendet werden. Für die strafrechtliche Betrachtung ist diese Einzelfallabhängigkeit aber sogar ein Vorteil, weil es im Strafrecht gerade darum geht, Hypothesen über den Einzelfall zu untersuchen. Abstrakte Wahrscheinlichkeitswerte, die für jeden Fall passen, werden im Strafrecht im Gegensatz zur Wissenschaftstheorie gar nicht erstrebt. Hoyer hat allerdings in seiner Konzeption zur Beweismaßfrage, die er als Fall der theoretischen Wahrscheinlichkeit versteht, versucht, einen allgemeinen Bestätigungsgrad für die gefunden Informationen anzugeben118. Er führt dazu aus, daß für eine Verurteilung ein Wahrscheinlichkeitswert von 95,74 % vorliegen müsse, der für eine Verurteilung genüge119. Eine solche dezisionistische Setzung ist aber wegen des willkürlich gewählten Ausgangspunktes 115 Dazu Käßer, S. 48 f.; Neil, S. 27 ff.; A. Schmidt, S. 113 ff.; Stegmüller, Probleme IV 2, S. 41 ff. m.w.N. 116 Stegmüller, Probleme IV 2, S. 58 f., S. 62 ff.: statistische Wahrscheinlichkeit als Chance. 117 Stegmüller, Probleme IV 2, S. 47 f. Zu den theoretischen Begriffen Stegmüller, Probleme IV 1, S. 69 ff. 118 Hoyer, ZStW 105 (1993), 523 (546 ff.). 119 Zur genauen Herleitung des Wertes Hoyer, ZStW 105 (1993), 523 (539 ff.).
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§ 4 Wissenschaftstheorie und juristische Tatsachenfeststellung
der Berechnung problematisch. Außerdem spricht gegen ein solches Vorgehen schon die oben geltend gemachte Kritik an jeder Art der Quantifizierung 120. Auch die rechnerische "Ableitung" aus dem Gesetz und die - Genauigkeit nur vortäuschende - Angabe einer Zahl können diesen Einwand nicht entkräften. Schließlich wird - und das ist entscheidend - mit keinem Wort erwähnt, wie denn ein solcher Wert in der Praxis konkret ermittelt werden soll. Wie schon gesagt, kann ein numerischer Wert immer nur so genau sein wie das Ausgangsmaterial, aus dem er errechnet wird. Was für die Vaterschaftsfeststellung oder ein DNA-Gutachten121 noch angehen mag, scheidet für den Normalfall der täglichen Rechtsfälle aus.
ee) Ergebnis Die Wahrscheinlichkeitstheorien und insbesondere deren numerische Varianten spiegeln eine Genauigkeit durch die Verwendung von Zahlen lediglich vor. Eine Genauigkeit, die im täglichen Leben praktisch so gut wie nie besteht, zudem nicht angebbar und daher letztlich irreführend ist, ist inadäquat für ein Modell der tatrichterlichen Wahrheitserforschung 122. Diese Aussage bedeutet zwar nicht notwendigerweise, daß die Wahrscheinlichkeit für die Tatsachenfeststellung überhaupt keine Bedeutung habe. Nur sagt die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses bzw. einer festzustellenden Tatsache nichts darüber aus, ob dieses Ereignis im konkreten Fall auch tatsächlich vorgelegen hat oder nicht 123 . Die Aussage, daß sich der Einzelfall einer statistischen, wahrscheinlichkeitsgeprägten Betrachtung per se entzieht, da genau dieser der betrachtete - Fall eben in der abstrakten Regel nicht berücksichtigt ist, gilt dabei unabhängig davon, ob ein numerischer oder ein quasi-numerischer Begriff als die Wahrscheinlichkeit korrekt abbildend betrachtet wird. Wird z.B. ein Fingerabdruck des Verdächtigen am Tatort gefunden, spricht diese Tatsache zwar dafür, daß der Verdächtige am Tatort war, nicht aber zugleich dafür, daß er die Tat auch begangen hat. Es könnte eine Erklärung dafür gefunden werden, wie dieser Fingerabdruck an den Tatort gekommen ist, ohne daß Verdächtiger und Tat miteinander in Verbindung gebracht werden können 124 . Ersichtlich kommt es dabei nicht auf irgendwelche Wahr120
Ablehnend auch U. Stein, Rudolphi-FS 1995, S. 254 f. Auch hohe Wahrscheinlichkeiten sagen selbstverständlich noch nichts darüber aus, wie mit diesem Wert für den Einzelfall verfahren werden soll. 122 Im praktischen Leben besteht allerdings, weil in der Regel die Mittel fehlen, um die Wahrscheinlichkeit im Einzelfall messen zu können, im Ergebnis kein Unterschied zwischen den einzelnen Auffassungen, Rosenberg/Schwab/Gottwald, § 115 HI 2. 123 Evers, S. 147; Freund, Tatsachenfeststellung, S. 19 ff.; Kraft, S. 355. 124 Walder, SchwZStr 107 (1991), 299 (307). 121
. Erklärungsmodelle in der Wissenschaftstheorie
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scheinlichkeitsrechnungen an. Man muß in keinem Fall ermitteln, in welchem Maße Fingerabdrücke am Tatort für das Begehen dieser Tat sprechen. Es kommt nur darauf an, ob eine Erklärung für die Alternativen im Sinne eines Gegenindizes gefunden werden kann, die mindestens ebenso gut mit den übrigen Tatsachen und dem Erfahrungswissen zu vereinbaren ist wie die Aüsgangshypothese125. Dementsprechend hat der BGH in einem Verfahren, in dem es um die Frage der Zulässigkeit des DNA-Verfahrens zur Täterfeststellung ging, eine Gesamtwürdigung des Falles verlangt, da eine noch so hohe Wahrscheinlichkeit keine Gewähr dafür biete, daß der jeweilige Einzelfall nicht doch anders gelegen hat 1 2 6 ; dies, obwohl die mit diesem Verfahren rechnerisch erzielte Wahrscheinlichkeit fast 99,9 % betrug. Der Tatrichter ist trotz dieser außerordentlich hohen Wahrscheinlichkeit nicht berechtigt, eine Entscheidung im Sinne dieses Wertes für zwingend zu halten. Gleichwohl wird im Regelfall zu verurteilen sein, wenn eine andere Hypothese als die, die für eine Täterschaft des Angeklagten spricht, nicht vorhanden ist. Man darf nicht übersehen, daß in den allermeisten Fällen der Praxis eine weitaus geringere Wahrscheinlichkeit, die in diesen Fällen nur nicht als Zahl vorliegt, als für die richterliche Überzeugung ausreichend angesehen wird 1 2 7 . Im Ergebnis hat die Untersuchung des Wahrscheinlichkeitsbegriffs gezeigt, daß die quantifizierenden (numerischen) Spielarten nicht verwendet werden können. Entweder scheitert eine genaue Angabe schon am Mangel an "harten" Daten oder es bleibt selbst bei einer hohen Wahrscheinlichkeit offen, wie diese zu einer legitimierbaren Entscheidung führen soll. Die qualifizierend verstandene subjektive Wahrscheinlichkeitsauffassung ist noch zu überprüfen 128 . Eine qualifizierend verstandene theoretische Auffassung enthält ebenfalls, abhängig von der genauen Ausgestaltung, berücksichtigenswerte Grundgedanken129.
125
Zum Alternativenausschlußverfahren bereits oben § 2 II. BGHSt 37, 157 (159 f.); BGHSt 38, 320 (322 ff.). 127 Es könnte sich um ein Akzeptanzproblem handeln, weil die Rechtsgemeinschaft mit der DNA-Analyse noch nicht hinlänglich vertraut ist. Wer macht sich denn demgegenüber noch über die Wahrscheinlichkeit von Fingerabdruckvergleichen Gedanken? 128 Zur Überprüfung der subjektiven Beweistheorie der h.M. unten in § 5 V. 129 Dazu unten in § 5 VI. 126
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§ 4 Wissenschaftstheorie und juristische Tatsachenfeststellung 4. Modell der pragmatischen Erklärung
Neben dem deduktiven und dem statistischen Modell ist schließlich noch das Modell der pragmatischen Erklärung zu betrachten 130. Eine Erklärung im Sinne dieses Modells soll verständlich, adäquat und korrekt sein. Verständlichkeit bedeutet hier, daß sich die Erklärung auf eine bekannte Verknüpfung stützen muß. Das ist nicht zuletzt auch eine Sicht der Gewohnheit131. Für die Verständlichkeit genügt es, daß Bedingungen angegeben werden, die das Explanandum-Ereignis bisweilen hervorrufen. Adäquat wird die Erklärung, wenn sie auch unter den konkreten Umständen als hinreichend erachtet werden kann. Beispielsweise ist die Erklärung, daß jemand wegen einer Grippe gestorben ist, zwar verständlich, die Erklärung kann aber inadäquat sein, weil nicht jeder an Grippe Erkrankte stirbt. Sollten aber keine besonderen Gründe bestehen, die Adäquatheit zu bezweifeln, kann sie als vorliegend angenommen werden. In unserem Beispiel können die Umstände also im Detail mehr oder weniger genau geschildert sein; die Erklärungen müssen insbesondere nicht im strengen Sinne hinreichend sein. Niemand kann alle Umstände, unter welchen jemand an Grippe stirbt, genau angeben132. Bei Zugrundelegung eines pragmatischen Erklärungsbegriffs können nach Stegmüller zwei Klassen von Sätzen unterschieden werden 133 : zum einen eine Klasse von Sätzen, die beim Stand der Wissenschaft entweder unmittelbare Beobachtungsbefunde beschreiben oder durch solche Befunde als hinreichend gesichert gelten, so daß bezüglich ihrer Richtigkeit "praktisch kein Zweifel aufkommt", und zum anderen eine Klasse von Sätzen, die nicht nur akzeptiert, sondern zugleich als keiner Erklärung bedürftig angesehen werden. Unübersehbar sind die Ähnlichkeiten dieser Fallgruppen des pragmatischen Erklärungsbegriffs mit den Fallgruppen, die oben bei den unvollständigen Erklärungen angeführt wurden. Denn auch eine pragmatische Erklärung ist in diesem Sinne unvollständig. Das pragmatische Modell ist das für die juristische Tatsachenfeststellung im Prinzip wohl angemessenste Modell 134 . Es muß allerdings, um für das Strafrecht verwendbar zu sein, zugleich dessen spezifischen Anforderungen genü130
Stegmüller, Probleme I, S. 178 ff. m.w.N. Stegmüller, Probleme I, S. 179: "Im Mittelalter hatte man sich daran gewöhnt, an Hexerei als Erklärungsgrund zu appellieren; wir dagegen 'haben uns an Viren und Bakterien gewöhnt', weil wir so oft davon gehört haben." 132 Stegmüller, Probleme I, S. 180. 133 Stegmüller, Probleme I, S. 918 ff., insbes. S. 920 mit weiteren Annahmen, die hier aber keine Bedeutung erlangen. 134 So auch Stegmüller, Probleme I, S. 181. 131
I. Besondere Bezugspunkte strafrechtlicher Tatsachenfeststellung95
gen. Insbesondere müssen die genauen Kriterien angegeben werden, wann eine Erklärung "adäquat" im Sinne des Strafrechts ist. Der Ansatz des pragmatischen Modells ist jedenfalls für das Strafrecht verwertbar und für eine Ausgestaltung offen.
m . Wissenschaftstheoretische Auffassungen zu besonderen Bezugspunkten strafrechtlicher Tatsachenfeststellung Im folgenden werden nun die speziellen Themenkreise, die im Zusammenhang mit einem Anscheinsbeweis oben in § 3 angesprochen wurden, von einem wissenschaftstheoretischen Blickwinkel aus betrachtet.
1. Kausalität
Zusammenhänge zwischen Ursache und Wirkung werden auch in der Wissenschaftstheorie diskutiert. Man spricht meist von "kausaler Erklärung". Die im Strafrecht wie auch im Alltag verwendeten Aussagen über Wirkungszusammenhänge sind zunächst nicht generelle Gesetze, sondern Aussagen über den Einzelfall, gleichviel, ob es um die Bestimmung der Kausalität oder um der anderer Topoi geht. Generelle Gesetze werden nur inzident gebraucht, wenn es an der Evidenz der Einzelaussage fehlt 135 . Für die Begründung eines einzelnen Kausalsatzes müssen über den Einzelfall hinausgehend dann die generellen Gesetze aufgedeckt werden 136 . In der Wissenschaftstheorie existieren verschiedene Auffassungen über die Kausalität. Hier sollen diejenigen untersucht werden, die Bezug zu den juristischen Kausalitätstheorien haben: erstens diejenigen, welche Kausalität als logisch notwendige Bedingimg versteht (unten a), zweitens diejenige, welche Kausalität über irreale Konditionalsätze bestimmt (b), und drittens die, die Kausalität über eine sog. Inus-Bedingung beschreibt (c).
a) Notwendige Bedingung Nimmt man die Ursächlichkeit eines Verhaltens an, geht man von einer zwischen Verhalten und Erfolg bestehenden kausalen Gesetzmäßigkeit aus 135
Zu den singulären Kausalsätzen Stegmüller,
513.
136
Stegmüller, Probleme I, S. 513.
Probleme I, S. 167, 503 f. und
96
§ 4 Wissenschaftstheorie und juristische Tatsachenfeststellung
und zwar in dem Sinne, daß das spätere Ereignis seinen Grund in dem früheren hat 1 3 7 . Diese Erkenntnis wird in der Rechtswissenschaft bei der Ermittlung der Kausalität durch die conditio sine qua non-Formel ausgedrückt138. Diese wird teilweise als Formel verstanden, die eine notwendige Bedingung angibt 139 . Dies ist jedoch zweifelhaft; denn würde die conditio sine qua nonFormel wirklich eine notwendige Bedingung als Ursache verlangen, könnte man einfach vom Erfolg auf die Ursache schließen140. Wie aber oben in § 3 gezeigt wurde, muß die conditio sine qua non-Formel auf das Erfahrungswissen zumindest implizit bezugnehmen141. Aus diesem Grund kann nicht angenommen werden, daß die conditio-Formel eine Notwendigkeitsbeziehung im logischen Sinne aufstelle. Das frühere Verhalten zieht das spätere nicht notwendigerweise nach sich.
b) Irreale Konditionalsätze Eine andere logische Erklärung für die Kausalität ist die, daß es sich dabei um die Anwendung irrealer Konditionalsätze handele. Irreale Konditionalsätze sind Sätze, die konjunktivisch formuliert eine Wenn-dann-Beziehung angeben; also etwa der Art: "Wenn es nicht geregnet hätte, wäre ich ins Freibad gegangen."142 Dem Juristen sind solche Formulierungen von der conditio sine qua non-Formel her vertraut. Man könnte in dieser Formel daher einen irrealen Konditionalsatz sehen. Das Problem dabei aber ist, die extensionalen Wahrheitsbedingungen für solche Sätze anzugeben143. Eine logische, wahrheitsfunktionelle Erklärung ist ausgeschlossen, weil das 137
Teilweise herrscht in bezug auf die Kausalität die Vorstellung von einer "wirkenden Kraft" vor, die zwar nicht unmittelbar wahrnehmbar, in den Dingen aber trotzdem vorhanden sei. Die vermeintlich "sichtbaren" Kräfte können jedoch nicht wirklich beobachtet werden: Beim Lauf einer Billardkugel beispielsweise ist nicht ohne weiteres erkennbar, ob der Spieler nicht nur so getan hat, als ob er mit dem Queue stoßen würde, gleichzeitig aber ein Elektromagnet eingeschaltet wurde, der die (magnetische) Kugel anzog. Der Frage, was Kausalität in einem metaphysischen Sinne eigentlich "ist", soll hier nicht weiter nachgegangen werden. 138 Siehe oben § 3 11 a aa (1). 139 Dazu Herberger ¡Simon, S. 362 m.N. 140 So auch Puppe, SchwZStr 1990, 141 (148). 141 Herbergerl Simon, S. 363. 142 Siehe bei Stegmüller, Probleme I, S. 329 ff. Dieses Konditional deckt sich nicht mit der aussagenlogischen Implikation' also der notwendigen Bedingung. Siehe Puppe, ZStW 92 (1980), 863 (866); L.Schulz, Kausalität, S. 58 Fn. 61; Toepel, S. 52 ff. 143 Nach Stegmüller, Probleme I, S. 329, sind die Wahrheitsbedingungen Minimalvoraussetzung für eine Bedeutungsanalyse.
I . Besondere Bezugspunkte strafrechtlicher Tatsachenfeststellung97
Definiens keinen Satz der (extensional^n) Beobachtungssprache, sondern eben einen irrealen Satz darstellt. Im umgekehrten Fall aber, in dem der Aussagende Unrecht hätte, das Antecedens also richtig wäre (es hätte tatsächlich nicht geregnet), wäre die Aussage gegenstandslos, denn es soll ja vom Aussagenden gerade zum Ausdruck gebracht werden, daß das Antecedens nicht vorlag 144 .
c) Inus-Bedingung Eine weitere Konzeption der Kausalität ist die der sog. "Inus-Bedingung". Darunter wird - nach den Anfangsbuchstaben der englischen Begriffe - eine Ursache verstanden, die ein nicht hinreichender (insufficient), aber notwendiger (necessary) Teil einer komplexen Bedingung ist, welche selbst als ganzes nicht notwendig (unnecessary), aber hinreichend (sufficient) ist; kurz: eine hinreichende Mindestbedingung145. Problematisch an dieser Formel ist aber, daß jedenfalls für nicht-determinierte Bereiche nie alle Bedingungen angegeben werden können, die zu der Folge führen. Wie schon oben bei der Betrachtung der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung gesagt, lassen sich in den allermeisten Fällen entweder keine Gesetze aufstellen, oder wenn, läßt sich nicht empirisch nachweisen, daß auch der konkrete Fall ein Anwendungsfall des allgemeinen Gesetzes ist 1 4 6 . Wirkzusammenhänge scheinen mit einiger Genauigkeit beschreibbar zu sein; meist versagt die Tatsachenanalyse aber in praxi schon aus grundsätzlichen Erwägungen 147. So sind sowohl im physikalischen und chemischen als auch im biologischen und erst recht im psychi144
Stegmüller, Probleme I, S. 329 ff. In den Worten des "Entdeckers" der Inus-Formel Mackie, S. 62 ff.: "insufficient, nonredundant element of an unnecessary, but sufficient set"; dazu Stegmüller, Probleme I, S. 591 ff. Von den juristischen Autoren vertreten eine entsprechende Konzeption z.B. Puppe, ZStW 92 (1980), 863 (875 ff.); dies., SchwZStr 1990, 141 (151, insbes. Fn. 12 f.); dies., GA 1994, 297 (299 ff.); dies., JZ 1994, 1147 (1149). Zustimmend mit etwas abweichenden Formulierungen Kindhäuser, GA 1982, 477 (486); ders., Gefährdung, S. 83 ff.; Koriath, Kausalität, S. 32 ff.; Kuhlen, Produkthaftung, S. 63 Fn. 150; Vogel, Norm, S. 148 ff. Siehe auch Roxin, AT, § 11/18; wohl so zu verstehen auch Otto, Jura 1992, 90 (95). 146 Kritisch zur Tauglichkeit der in der Jurisprudenz vertretenen Spielarten der Inus-Theorie auchL. Schulz, Kausalität, S. 58 ff. 147 7. Schulz, Lackner-FS 1987, S. 41 Fn. 10, gegen die Auffassung von Puppe, ZStW 92 (1986), 863 (894 f., 898), die die Kausalität über sog. Nahwirkungsgesetze bestimmen möchte. Nach L. Schulz, Kausalität, S. 59 Fn. 65, setzt dies gerade weitere Bezugspunkte voraus. Diese Bezugspunkte müßten nicht mit einer naturwissenschaftlichen Erklärung übereinstimmen, dürften allerdings auch nicht willkürlich gewählt werden. 145
7 Müller
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§ 4 Wissenschaftstheorie und juristische Tatsachenfeststellung
sehen148 Bereich Wirkzusammenhänge nicht erforscht oder nur schwer zu erforschen. Der genaue "input" läßt sich womöglich nur im Experiment bestimmen. Im "freien Feld" spielen so viele Faktoren oder individuelle Konstitutionen eine Rolle, daß sich ein genaues Bild entweder nur für relativ einfach erfaßbare naturgesetzliche Vorgänge, wie z.B. das Gravitationsgesetz, bestimmen läßt oder diese Bestimmung allenfalls theoretisch möglich ist 1 4 9 . Es ist deswegen ungeeignet, eine hinreichende Mindestbedingung zu fordern; solche Anforderungen an einen Kausalitätsnachweis wären nie zu erbringen 150 . Die Lösung über die Inus-Bedingung stellt m.E. zu strenge Anforderungen auf 151 . Auch in der Praxis wird auf die genaue Darstellung der hinreichenden Bedingung verzichtet. Dieses sog. kausale Feld, das aber den meist weitaus umfangreicheren Teil ausmacht, wird stillschweigend vorausgesetzt. Man erhöht - wie z.B. im "Lederspray-Fall" - die Anforderungen an die juristische Kausalitätsfeststellung nur, wenn man sich im rein naturwissenschaftlichen Rahmen bewegt. In anderen Fällen begnügt man sich mit schwächeren Erfahrungssätzen. Die Definition der Inus-Bedingung ist zwar von der logischen Analyse des Kausalitätsproblems her korrekt, führt aber, wenn die hinreichende Gesamtbedingung nicht mit dem Wirken von Naturgesetzen erklärt werden kann, im Grunde zur Fragestellung der conditio sine qua non-Formel zurück, weil geklärt werden muß, ob die Bedingung im konkreten Fall notwendig war. Wenn man für die Anwendung dieser Formel im Sinne einer genetischen Kausalerklärung auf zahlreiche Nahwirkungsgesetze zurückgreift 152, um den genauen Ablauf zu erklären, führt sie auf die Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung zurück 153 . Auch in der Wissenschaftstheorie scheidet eine rein logische Erklärung eines vergangenen Ereignisses aus; man kommt nicht umhin, Naturgesetze heranzuziehen154. Von der logischen Analyse der Kausalität hängt 148
Dazu sogleich unten HI 3. Jedoch spielen in nur wenigen juristischen Fällen so einfache - und unumstrittene Naturgesetze - eine Rolle; ebenso Köck, S. 10 Fn. 14. 150 So ausdrücklich auch Hilgendorf\ Produzentenhaftung, S. 124, unter Kritik an Samson, StV 1991, 182 (183), der solche Anforderungen für den Kausalitätsnachweis im Lederspray-Fall aber aufstellt; siehe oben § 3 I 1 c bb. 151 So auch Beulke/Bachmann, JuS 1992, 737 (739), die die Forderung nach einem naturwissenschaftlich nachweisbaren Kausalzusammenhang zutreffend als insoweit über das Ziel hinausschießend bezeichnen. Zu Recht, denn es geht doch - hier für den "Lederspray-Fall" - nicht um irgendwelche Naturgesetze über die Schädlichkeit (Wirksamkeit) eines Sprays, sondern darum, einen Einzelfall in seiner realen Tragweite aufzuklären. 152 Siehe oben Anm. 147. 153 Erb, JuS 1994,449 (451). 154 Stegmüller, Probleme I, S. 399. 149
HI. Besondere Bezugspunkte strafrechtlicher Tatsachenfeststellung
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damit praktisch nichts ab; die rechtlichen Probleme liegen an einer anderen Stelle.
d) Naturgesetze Auch die Erklärung der Kausalität mittels Naturgesetzen sieht sich Fragen ausgesetzt. Zum einen ist - wie sich beim DN-Modell gezeigt hat - ein Schluß von geprüften auf ungeprüfte Fälle eigentlich nur dann berechtigt, wenn es sich bei den zugrundeliegenden Aussagen um deterministische Naturgesetze handelt 155 . Zum anderen ist fraglich, wie die nicht gerade wenigen Problemfälle, in denen kein Gesetz zur Verfügung steht, zu lösen sind. Hier tritt ein weiteres grundlegendes Problem der Wissenschaftstheorie zutage. Es ist nämlich wissenschaftstheoretisch nicht geklärt, was die Gesetzesartigkeit einer Aussage überhaupt ausmacht156. Stegmüller 157 zufolge erweisen sich alle zunächst naheliegenden Möglichkeiten der Abgrenzung als untauglich: Man könnte auf eine vage intuitive Vorstellung von Gesetzesartigkeit zurückgreifen 158, was aber von einem wissenschaftstheoretischen Standpunkt aus unbefriedigend ist. Wenn man hingegen auf die Unterscheidung zwischen gesetzesartigen und ihrem Gegenteil, den akzidentellen Aussagen verzichtet, führt das zu logischen Widersprüchen. Nach dem Autor, der dies aufgezeigt hat, wird dieser Sachverhalt als "Goodmansches Paradoxon" bezeichnet159. Unstreitiges Elemente eines Gesetzes ist, daß es sich um eine Allaussage handeln muß. Dieses Element ist jedoch nicht hinreichend, weil durch eine solch rein syntaktische Definition auch "Gesetze" formuliert werden könnten, die ersichtlich keine sind. Beispiel: "Alle gotischen Dome haben eine Mindesthöhe von 60 Meter." 160
155
So auch das Verständnis der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung durch Armin Kaufmann, JZ 1971, 569 (575), der zwar auch unvollkommene Gesetze heranziehen will, nicht aber Gesetze, die nur eine statistische Korrelation enthalten; dabei bleibt aber unklar, worin genau der Unterschied bestehen soll. Siehe auch Kindhäuser, Jura 1988, 290 (296 Fn. 57); Puppe, ZStW 95 (1983), 287 (293). 156 Stegmüller, Probleme I, S. 298 f. und insbes. 319 ff.; ders., Probleme IV 1, S. 507 ff. 157 Nach Stegmüller, Probleme I, S. 320, ist dieses Problem eines der grundlegendsten und schwierigsten der Erfahrungserkennntis. 158 Stegmüller, Probleme I, S. 323 f. 159 Vgl. näher Stegmüller, Probleme I, S. 324 ff. Zur Diskussion des Problems im Zusammenhang mit irrealen Konditionalsätzen Stegmüller, Probleme I, S. 334 ff. 160 Stegmüller, Probleme I, S. 320 ff., insbes. 346 ff. 7*
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§ 4 Wissenschaftstheorie und juristische Tatsachenfeststellung
Als weitere Voraussetzung wird diskutiert, daß sich eine gesetzesartige Aussage nicht auf bestimmte Individuen oder Raum-Zeit-Stellen beziehen dürfe bzw. nicht nur endlich viele Anwendungsfälle besitzen dürfe. Aber auch hier lassen sich Beispiele anführen, die diesen Bedingungen genügen, aber doch keine Gesetze sind 161 . Eine rein extensionale Betrachtung führt zu keinem Ergebnis. Deswegen könnten intensionale Begriffe verwendet werden. Bei intensionalen Begriffen müssen aus der Kenntnis der Bedeutung der in dem Gesetz vorkommenden Ausdrücke folgen, daß das Gesetz sich weder auf spezielle Objekte oder Raum-Zeit-Stellen bezieht, noch daß sein Anwendungsbereich endlich ist 1 6 2 . Damit könnte man wenigstens zu einer Annäherung an die Gesetzesartigkeit kommen. Auch dieser Versuch ist letztlich nicht erfolgreich, weil die Bedeutung nicht hinreichend definiert werden kann. Folglich können nur gewisse Minimalbedingungen für Gesetze angegeben werden oder intuitive Plausibilitätsbetrachtungen angestellt werden 163. Damit ist entgegen weitverbreiteter Ansicht auch die naturwissenschaftliche Kausalitätsfeststellung eine normative Angelegenheit164 und eben keine rein empirische. Bei der naturwissenschaftlichen Kausalitätsfeststellung geht es somit um die Frage, welche Mindestfeststellungen erforderlich sind, um eine wiederholte zeitliche Abfolge von ähnlichen Tatsachen als ein natürliches Kausalgesetz zu bezeichnen. Kausalität ist immer nur als Regel aufweisbar, und Naturgesetze sind nur Grenzfälle durch zahlreiche intersubjektive Erfahrungen gut gestützter und nicht falsifizierter Erfahrungssätze. In den Naturwissenschaften ist es nicht etwa so, daß Naturgesetze stets als solche erkennbar, eindeutig und wahr wären. Daß man sich wenig Gedanken über diese Mindestbedingungen macht, liegt allein daran, daß die Kausalitätsfeststellung in den meisten Fällen trivial ist und daher intuitiv geschehen kann 165 . Nur in wirklich schwierigen Fällen, wie z.B. beim Fehlen eines Gesetzes oder wenn das Gesetz nicht erkennbar ist, wird das Problem offenbar. Wie in diesem Fall zu verfahren ist, ist für das Strafrecht im Zweiten Teil zu beantworten.
161
Stegmüller, Probleme I, S. 348 ff. und 350 ff. Stegmüller, Probleme I, S. 353 ff., 361 ff. und 364 ff. 163 Stegmüller, Probleme I, S. 360 ff. 164 Dies erkennt richtig z.B. der Spanische Oberste Gerichtshof NStZ 1994, 37 (37); Kuhlen, Produkthaftung, S. 69 f.; ders., JZ 1994, 1142 (1145); Röh, S. 203. 165 So z.B. auch Puppe, JZ 1994, 1147 (1147). 162
I . Besondere Bezugspunkte strafrechtlicher Tatsachenfeststellung
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2. Dispositionsprädikate
a) Die Problemstellung bei den Dispositionsprädikaten Unter einer Disposition versteht man die Neigung oder die Fähigkeit, unter bestimmten Umständen in bestimmter Weise zu reagieren. Dispositionsprädikate sind Prädikate, die nicht direkt beobachtbare Eigenschaften, Fähigkeiten, Tendenzen, Gewohnheiten, Reaktions- und Verhaltensweisen beschreiben166. Die Dispositionsprädikate werfen in der Wissenschaftstheorie besondere Probleme auf 1 6 7 . Sie wurden von Carnap bei dem Versuch, ein axiomatisches System von Begriffen zu entwickeln, als Problemfall "entdeckt"168. Bei einem axiomatischen System soll jeder Begriff wieder aus einem anderen ableitbar sein. Carnap fand nun, daß sich Dispositionsprädikate nicht explizit definieren lassen. Unter einer expliziten, d.h. ausdrücklichen169, Definition ist eine Definition zu verstehen, deren beide Teile, Definiendum und Definiens, äquivalent, d.h. durch eine hinreichende und zugleich notwendige Bedingung verknüpft sind 170 . Sprachlich wird dieser Sachverhalt durch die Wendung "stets dann und nur dann, wenn" ausgedrückt. Dispositionsprädikate sind nicht unmittelbar wahrnehmbar, sondern zeigen sich nur, wenn ein Gegenstand einem sog. "Stimulus" ausgesetzt wird. Beispiele für Dispositionsprädikate in der Jurisprudenz sind die Fahruntüchtigkeit oder die Schuldfähigkeit 171. Typisch fflr sie ist, daß es sich bei der Beziehung von Stimulus und Reaktion nicht nur um eine rein deterministische Beziehung handeln muß, sondern auch um eine statistische handeln kann, die lediglich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit den Eintritt eines bestimmten Ereignisses vorauszusagen vermag 172. 166
von Kutschern, Wissenschaftstheorie H, S. 264: Opp, S. 203 ff.; Volk, Bockelmann-FS 1979, S. 75 ff.; ders., Salger-FS 1995, S. 414. 167 Siehe dazu Stegmüller, Probleme H S. 213 ff. 168 Dazu Stegmüller, Hauptströmungen, S. 275. 169 Herberger ¡Simon, S. 328; andernfalls spricht man von einer partiellen (impliziten bzw. bedingten) Definition. Siehe zur Definition im wissenschaftstheoretischen Sinne Herberger ¡Simon, S. 307 ff. 170 Das Erfordernis der Äquivalenz ergibt sich daraus, daß vollständige Eliminierbarkeit verlangt ist; das Definiendum muß in jedem Zusammenhang durch das Definiens ersetzbar sein. Denn der Zweck des Definiens ist es, das Definiendum vollständig zu erläutern. Definiendum und Definiens nehmen unter dieser Bedingung jeweils den gleichen Wahrheitswert an. Das zweite Erfordernis an Definitionen ist das der NichtKreativität, d.h., es dürfen nicht aus der Definition Aussagen abgeleitet werden können, die ohne die Definition nicht ableitbar wären. 171 Schroth, S. 367. 172 Stegmüller, Probleme I, S. 162.
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§ 4 Wissenschaftstheorie und juristische Tatsachenfeststellung
b) Erklärungsversuche In der Wissenschaftstheorie wird z.B. der Fall "Zucker ist wasserlöslich" diskutiert. Wer sagt, daß Zucker "wasserlöslich" sei, behauptet damit, daß Zucker sich unter bestimmten Umständen, nämlich wenn er in Wasser gegeben wird, auflöst 173 . Ob Zucker sich wirklich in Wasser löst, kann nur durch ein Experiment herausgefunden werden, in dem Zucker dem Stimulus Wasser ausgesetzt wird.
aa) Definitionsversuch mittels einer Implikation Da sich Dispositionsprädikate auf die Anlage eines Gegenstandes beziehen, bei Eintreten besonderer Umstände eine bestimmte Verhaltensweise an den Tag zu legen, sähe ein naheliegender Definitionsversuch wie folgt aus: 1) Dx(Sx->Rx), d.h., x hat die Disposition D genau dann, wenn x auf einen Stimulus S die Reaktion R zeigt 174 . Es gilt zwar: l ' ) D x - * (S x R x), die Umkehrung: 1") (S x R x) D x, gilt aber nicht. Dies liegt daran, daß die Implikation (hinreichende Bedingung) so definiert ist, daß "A B" (immer wenn A, dann B) in einer Wahrscheinlichkeitstabelle den Wert "wahr" annimmt, wenn A falsch ist. Dann wäre aber keine sichere Angabe über die Definition möglich und damit ein Kriterium für die Definitionsäquivalenz, das der vollständigen Eliminierbarkeit, nicht erfüllt. Denn dann müßte logisch auch allen Gegenständen, die dem Stimulus nicht ausgesetzt würden, die fragliche Disposition zugesprochen werden 175. Im Beispiel wären also alle nicht ins Wasser gegebenen Dinge als wasserlöslich zu bezeichnen, was ersichtlich nicht sinnvoll ist.
bb) Definitionsversuch mittels f,wenn-dann"-Beziehung Eine andere Möglichkeit zu definieren wäre, daß x genau dann wasserlöslich ist, wenn gilt: Immer wenn man x in Wasser geben würde, würde x sich auflösen. Diese Definition ist zwar korrekt, das umgangssprachliche "wenndann", das hier in der konjunktivischen Form verwendet wird, läßt sich aber nicht mit rein logischen Mitteln definieren. Es ist dasselbe Problem, das schon oben bei den irrealen Konditionalsätzen aufgetaucht ist 1 7 6 . 173 174 175 176
von Savigny, Analytische Philosophie, S. 79. Siehe zur Prädikatenlogik Herberger ¡Simon, S. 89 ff. Der Definitionsteil Sx Rx wäre auch für den Fall "nicht Sx" wahr. Siehe oben § 4 m 1 b.
I . Besondere Bezugspunkte strafrechtlicher Tatsachenfeststellung
103
cc) Andere Defjnitionsversuche Auch alle übrigen Defmitionsversuche führten nicht zum Ziel 1 7 7 . Insbesondere die Bestimmung von Dispositionsprädikaten durch die Angabe von Naturgesetzen, die notwendige oder hinreichende Bedingungen dafür enthalten, stößt auf die schon oben aufgezeigten Schwierigkeiten, Bedingungen für die Gesetzesartigkeit anzugeben. Es wird daher übereinstimmend vermutet, daß eine explizite Definition von Dispositionsprädikaten durch Beobachtungsprädikate nicht möglich ist 1 7 8 .
dd) Lösung von Carnap mittels sog. Reduktionssätze Carnap hat deswegen zur Interpretation von Dispositionsprädikaten sog. Reduktionssätze eingeführt 179. Ein Reduktionssatz stellt eine bedingte Definition dar, durch die das Dispositionsprädikat nur für solche Dinge definiert wird, die dem Stimulus auch tatsächlich ausgesetzt werden 180. Eine solche Definition wird auch implizit genannt, weil sie dem Prädikat nicht für alle Anwendungsfälle eine bestimmte Bedeutung zuordnet. Damit bleibt also gerade das für uns relevante Problem ungelöst, Bedingungen für die Anwendung von D auch für solche Dinge anzugeben, die S nicht ausgesetzt werden bzw. bei der - allgemeiner gesprochen - die Aussetzung nicht oder nicht mehr beobachtbar ist. Dispositionsprädikate werden nun aber so gebraucht, als wären sie für alle Anwendungsfälle definiert, obwohl sie nicht explizit durch Beobachtungssätze definierbar sind. Wir schreiben D auch Gegenständen zu, die nicht dem Stimulus S ausgesetzt werden. Andernfalls könnte "D x" immer im Sinne von "S x und R x" verwendet werden. In der weiteren Anwendung liegt aber gerade der Nutzen der Dispositionsprädikate.
ee) Dispositionsprädikate als theoretische Begriffe Wenn gesagt wird, "zerbrechlich" bedeute, daß unter bestimmten Bedingungen eine Sache unabhängig von der tatsächlichen Realisierung zerbrechen 177
Siehe dazu von Kutschern, S. 266 f.; Stegmüller, Probleme n, S. 221 ff. Von Savigny, Analytische Philosophie, S. 80. 179 Carnap, Philosophy of Science, Bd. 3, 1936, S. 440 ff.; dazu Stegmüller, Probleme n, S. 226 ff. 180 Stegmüller, Probleme I, S. 160 und allgemein dazu ders., Probleme n, S. 213 ff., 217 ff. In der Schreibweise der Prädikatenlogik: S x (D x R x). 178
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§ 4 Wissenschaftstheorie und juristische Tatsachenfeststellung
würde, ist eine hypothetische Aussage enthalten181. Es ist daher sinnvoll, Dispositionsprädikate als theoretische Begriffe zu verstehen. Theoretische Begriffe zeichnen sich dadurch aus, daß sie nicht vollständig auf Beobachtbares reduziert werden können, sondern nur partiell mit empirischem Gehalt gefüllt sind 182 . Man muß dafür zwei Sprachebenen unterscheiden: die Beobachtungssprache, die über das Beobachtete spricht, sowie die theoretische Sprache, in der die Theorie formuliert ist. Ein juristisches Beispiel dafür ist die Verknüpfung des BAK-Werts (Beobachtungssprache) mit dem Rechtsbegriff der Fahruntüchtigkeit 183. Daraus, daß Dispositionsprädikate nicht direkt beobachtbar sind, folgt, daß Dispositionsprädikate gerade nicht die empirischen Folgerungen erlauben, die von der h.M. rechtlich daraus abgeleitet werden 184 . Deswegen ist eine weitere Rechtfertigung erforderlich. Zu fragen ist, wie das Vorliegen der Dispositionsprädikate feststellbar ist und wodurch ihre Anwendung legitimiert ist. Die benötigten Kriterien müssen aus strafrechtlichen Grundlagenerwägungen hergeleitet werden. An dieser Stelle muß das Ergebnis genügen, daß "etwas hinzukommen muß". Volk weist daraufhin, daß die Rechtsdogmatik andere Zuordnungsregeln, sog. Korrespondenzregeln, verwenden darf als die jeweilige empirische Disziplin. Die Lösung muß daher in einem funktionalen Sinne gefunden werden: Man muß entscheiden, in welchen Fällen sich eine Verurteilung legitimieren läßt. Die Antwort auf diese Frage hängt vom Zusammenspiel verschiedener Interessen ab. Diese Frage kann erst im Zweiten Teil abschließend beantwortet werden, und zwar ausschließlich für das Strafprozeßrecht. Die Wissenschaftstheorie vermag keine verbindlichen Direktiven zu liefern, welche Korrespondenzregeln zulässig und sachgerecht sind.
3. Motivationskausalität
In § 3 wurde die Feststellung der psychischen Kausalität als möglicher Anwendungsfall eines Anscheinsbeweises genannt. Die psychische Kausalität ist noch schwieriger festzustellen als die ohnehin schon Schwierigkeiten aufweisende physische Kausalität. Die Feststellung der psychischen Kausalität ist mit allen Problemen der Feststellung fremdpsychischer Sachverhalte be181
Stegmüller, Probleme I, S. 332. Volk, Bockelmann-FS 1979, 75 (76 ff.), der ein Modell mit Zuordnungsregeln aufstellt, die wegen des nur partiell empirischen Gehalts der theoretischen Begriffe Verwendung finden. Es kommt danach nur auf die Begründung dieser Zuordnungsregeln an (S. 82). 183 Volk, Bockelmann-FS 1979, S. 78. Ein weiteres - hier nicht behandeltes - Dispositionsprädikat ist die Freiwilligkeit des Rücktritts bei § 24 StGB. 184 Siehe schon oben zur Fahruntüchtigkeit, § 3 II 1. 182
III. Besondere Bezugspunkte strafrechtlicher Tatsachenfeststellung
105
lastet 185 . Während es bei der physischen Kausalität um objektive Zusammenhänge geht, bleibt die psychische Kausalität in der Psyche eines anderen Menschen verborgen. Sie ist einer direkten Beobachtung entzogen, so daß man allenfalls vermuten kann, daß die in Frage stehende Psyche so "funktioniert", wie die meisten Psychen in der Regel "funktionieren".
a) Kausale Erklärung In der Jurisprudenz wird die psychische Kausalität dessen ungeachtet überwiegend wie die physische Kausalität behandelt186. Auch für die Bestimmung der psychischen Kausalität wird auf die Aufstellung allgemeiner naturgesetzlicher Zusammenhänge zwischen Veranlasser und Handelndem verwiesen. Man wendet in der Form der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung ein im Prinzip ebenfalls kausales, deterministisch verstandenes Erklärungsmodell an. Daran wird moniert, es sei problematisch, Kausalität zu verlangen 187. In der Tat stößt man bei einem solchen Vorgehen schnell auf Schwierigkeiten 188: Erstens widerspricht der Annahme von Kausalität im psychischen Bereich das Postulat der Willensfreiheit 189. Dieses Postulat liegt aber ansonsten der Konzeption des geltenden Strafrechts zugrunde, wie das Abstellen auf die Schuld als letztlich entscheidende Voraussetzung zeigt 190 . Der Vorwurf, daß sich der Täter nicht habe ausreichend von den Normen motivieren lassen, kann aber nur dann in einer Strafe legitimierenden Weise erhoben werden, wenn der Täter im Handlungszeitpunkt als frei verstanden wird, die Handlung vorzunehmen oder sie zu unterlassen191. Zumindest würde eine Begründung dafür schwerfallen, wieso bei einer ansonsten bestehenden Indeterminiertheit menschlichen Handelns im Rahmen der psychischen Kausalität von einer vom Täter über die Psyche seines Gegenübers in Gang gesetzten Kausalreihe ausgegangen wird 1 9 2 . 185
Siehe dazu Freund, Tatsachenfeststellung, S. 3 ff., 26 ff. Graul, S. 34. 187 Puppe, ZStW 95 (1983), 287 (297). 188 Vgl. Bernsmann, ARSP 1982, 536 (536 ff.), der die Probleme analysiert, die eine Anwendung der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung bei der Bestimmung der psychischen Kausalität aufwirft. 189 Bernsmann, ARSP 1982, 536 (543 f., insbesondere Fn. 39). 190 Z u r Schuldbindung des Strafrechts im engeren Sinne Roxin, AT, § 19/1 ff.; Schmidhäuser, Lehrbuch, S. 27 ff. 191 Es könnte ja auch so sein, daß der Täter in keinem Fall anders "kann" als die Tat auszuführen. Eine Tat wäre dann immer determiniert und die Kategorie der Schuld, verstanden als Vorwerfbarkeit, obsolet. 192 Bernsmann, ARSP 1982, 536 (543 f.). 186
106
§ 4 Wissenschaftstheorie und juristische Tatsachenfeststellung
Zweitens verfallt die Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung hier demselben Zirkel wie die conditio sine qua non-Formel 193, denn in praktisch allen Fällen stehen allgemeine Erfahrungssätze, die für die psychische Kausalität aussagekräftig wären, nicht zur Verfügung; streng deterministische Erfahrungssätze existieren in diesem Bereich nicht 194 . Solche Gesetze aufstellen zu wollen, erscheint jedoch auch deswegen problematisch, weil die Art und Weise der Reaktionen menschlicher Individuen in gegebenen Situationen eine Funktion der gesamten Geschichte der Individuen darstellt 195. Im Strafrecht stellt sich das Problem folgendermaßen dar: Eine angenommene Kausalitätsbeziehung ist zunächst einmal nichts weiter als eine Unterstellung. Ob jemand, dem bei der Anstiftung beispielsweise eine Straftat angesonnen wurde und der diese Tat daraufhin ausführt, auch wirklich, also nach psychologischen Gesetzmäßigkeiten nachweisbar, dazu bestimmt wurde, läßt sich nicht sagen. Behauptet der Haupttäter selbst, vom Veranlassenden bestimmt worden zu sein, ist das zumindest ein belastendes Indiz für den Veranlassenden. Meist wird der Haupttäter aber selbst auch nicht wissen, was ihn letztlich zu seiner Tat gebracht hat, mag auch eine gewisse psychologische Determinierung vorgelegen haben. Die Gründe für menschliches Tun sind nun einmal mannigfaltig. Man wird zwar erwarten können, daß sich jemand auf ein Ansinnen so verhält, wie es für diese konkrete Person "üblich" ist. Es ist aber in diesen Fällen so gut wie unmöglich, eine genaue und vollständige Analyse aller determinierenden Faktoren zu liefern. Bernsmann konstatiert, daß in den meisten juristisch relevanten Fällen eine Befragung von Sachverständigen hierzu nicht praktiziert wird, sondern der Richter auf sein Alltagsverständnis zurückgreift 196. Dieser Gedanke leitet zum dritten Kritikpunkt über, wonach einer strikten Anwendung der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung der damit verbundene immense richterliche Feststellungsaufwand im Prozeß entgegensteht. Denn man müßte für eine umfassende Kausalanalyse u.a. fordern, daß sich die beeinflußten Personen psychologischen Tests zu unterwerfen hätten. Diese Ausforschung könnte möglicherweise Auskunft darüber geben, wie sich diese Person zu verhalten pflegt, und daher Rückschlüsse auf ihr Verhalten erlauben, das im konkreten Prozeß zur Debatte steht. Eine damit letztlich geforderte umfassende Persönlichkeitsausforschung sieht sich jedoch erheblichen
193 194 195 196
Bernsmann, ARSP 1982, 536 (546 Fn. 52). Köck, S. 20. Stegmüller, Probleme I, S. 405 f. Bernsmann, ARSP 1982, 536 (545 f.).
I. Besondere Bezugspunkte strafrechtlicher Tatsachenfeststellung107
Bedenken ausgesetzt, weil sie zur Überführung des Täters in Persönlichkeitsrechte Dritter eingreift 197 . Man kann damit der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung im Bereich der psychischen Kausalität eine nur geringe prozessuale Leistungsfähigkeit bescheinigen198. Das führt zu der Überlegung, ob sie hier durch etwas ganz anderes ersetzt werden muß oder ob eine Veränderung ihres Verständnisses, eventuell in Richtung eines Anscheinsbeweises, zweckdienlich wäre. Dabei wäre auch zu erwägen, ob die Rechtsprechung nicht schon längst unter der formalen Ägide der conditio sine qua non-Formel zu einer solchen Betrachtung übergegangen ist und daher der Schritt zu einem Anscheinsbeweis insgeheim bereits vollzogen ist.
b) Intentionale Erklärung Das Konzept der kausalen Erklärung ist aber nicht die einzig mögliche Betrachtungsweise der psychischen Kausalität. Ein anderes Konzept als der Kausalismus wird von den sog. Intentionalisten vertreten 199. Danach wird keine kausale, sondern eine logische Verknüpfung über einen Motivationszusammenhang200 verlangt; das Verhältnis sei nicht das von Ursache und Wirkung, sondern von Grund und Folge. Danach muß für die Anstiftung z.B. geprüft werden, ob der Veranlassende will, daß der Erfolg eintritt, und ob er glaubt, d.h. es für zweckrational hält, daß in einer bestimmten Situation die Handlung eine Bedingung für den Eintritt des Erfolgs ist und diese Situation besteht201. Für das Strafrecht ist nur bedeutsam, welche Unterschiede sich für die praktische Strafrechtsanwendung ergeben, wenn nun statt kausaler logische Gesetzmäßigkeiten angegeben werden müssen. M.E. sind die praktischen Unterschiede zwischen den beiden Konzeptionen vergleichsweise gering 202 . Richtig ist jedenfalls, daß es nicht nur um die Aufdeckung von Seinsgründen 197
Bernsmann, ARSP 1982, 536 (547). Bernsmann, ARSP 1982, 536 (544 f.); Toepel, S. 90 ff., 95 f. 199 D a z u Bernsmann, ARSP 1982, 536 (542 Fn. 30 m.w.N., 547 ff.); Koriath, Kausalität, S. 141 ff., insbes. 224 ff.; Searle, S. 146 ff.; Stegmüller, Probleme I, S. 484 ff.; von Wright, S. 83 ff. 200 Bernsmann, ARSP 1982, 536 (539 ff.). 201 Bernsmann, ARSP 1982, 536 (550); dort zu diesem sog. "praktischen Syllogismus". 202 So auch Bernsmann, ARSP 1982, 536 (550). Dies stellt eine Parallele zu den oben besprochenen Fällen der physischen Kausalität dar: Trotz der herausgestrichenen Unterschiede der beiden Kausalitätsformeln sind die praktischen Abweichungen gering. 198
108
§ 4 Wissenschaftstheorie und juristische Tatsachenfeststellung
für Erklärungen geht, sondern vielmehr auch um Begründungen für (intentionales) Handeln. Auch bei der Zuschreibung von Motiven handelt es sich damit um dispositionelle Erklärungen. Weil generelle Gesetze in der Erklärung nur implizit vorkommen 203, ist die psychische "Kausalität" dem Erklärungsmuster mit Dispositionsprädikaten zuzurechnen.
IV. Ergebnis Damit ergibt sich folgendes Bild: Von der Wissenschaftstheorie her spricht viel für ein pragmatisches Erklärungsmodell der physischen und psychischen Kausalität sowie der Dispositionsprädikate. Der damit verbundenen relativen Vagheit der Tatsachenfeststellung liegt ein Anscheinsbeweismodell näher, als üblicherweise angenommen wird. Aus der Reihe der untersuchten Wahrscheinlichkeitsmodelle bleibt das Modell theoretischer Wahrscheinlichkeit übrig, bei denen die Tatsachenfeststellung von bestimmten im Einzelfall zu erzielenden Informationen abhängt. Noch ist aber auch das - nach der hier vertretenen Ansicht dem Überzeugungsmodell der h.M. entsprechende - qualifizierend verstandene subjektive Wahrscheinlichkeitsmodell nicht widerlegt.
203
Stegmüller, Probleme I, S. 418 Fn. 28. Zu den dispositionellen Erklärungen ders., Probleme I, S. 158 ff.
§ 5 Argumente gegen die Zulässigkeit des Anscheinsbeweises im Strafprozeß Die Erklärungsversuche des Anscheinsbeweises, die im Zivilprozeßrecht vorgenommen werden, und die Beurteilung, die dem Anscheinsbeweis im Strafprozeß widerfährt, hängen eng miteinander zusammen. Es wird sich zeigen, daß sich die verschiedenen zivilprozessualen Theorien1 in den Argumenten widerspiegeln, die gegen die Anwendung eines Anscheinsbeweises im Strafprozeß angeführt werden. Diese Argumente werden nun überprüft.
I. Argument, daß der Anscheinsbeweis streitiges Verhandeln voraussetze Es wird erstens geltend gemacht, der im Strafprozeß herrschende Untersuchungsgrundsatz schließe die Anwendung des Anscheinsbeweises aus, bzw. umgekehrt formuliert, die Verhandlungsmaxime des Zivilprozesses stelle eine notwendige Voraussetzung für seine Anwendung dar 2.
1. Beibringungsgrundsatz versus Untersuchungsgrundsatz
Ein den Strafprozeß prägender Grundsatz ist der Untersuchungsgrundsatz3. Darunter versteht man die Pflicht, die Wahrheit von Amts wegen zu erforschen, wie es § 244 Abs. 2 statuiert. Im deutschen Strafprozeß streiten nicht zwei einander gleichberechtigt gegenüberstehende Parteien, sondern es ist Aufgabe des Staates, dem ja möglicherweise unschuldigen Angeklagten nachzuweisen, daß er die in Frage stehende Tat begangen hat. Konträr dazu sieht das Zivilprozeßrecht vor, daß die Parteien die zu würdigenden Tatsachen selbst in den Prozeß einbringen müssen (Beibringungs1
Siehe oben § 1 IL Dieses Argument findet sich z.B. bei Henkel, Eb. Schmidt-FS 1961, S. 589; Schneider, Rn. 366; Weyreuther, DRiZ 1957, 55 (59). Dagegen Louven, MDR 1970, 295 (296). 3 Auch Instruktionsmaxime, Inquisitionsmaxime, Ermittlungsgrundsatz, Wahrheitsermittlungspflicht oder Aufklärungspflicht genannt; siehe etwa Schroeder, Strafprozeßrecht, Rn. 237. 2
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§ 5 Argumente gegen die Zulässigkeit des Anscheinsbeweises
grundsatz)4. Im Zivilprozeß sind die Rollen zwischen Kläger und Beklagtem verteilt. Nach § 282 ZPO haben die Parteien - wenigstens im Grundsatz den Beweis anzutreten. Eine dem § 244 Abs. 2 grundsätzlich entsprechende Vorschrift gibt es in der Zivilprozeßordnung nicht. Es wird jedem der sich gleichberechtigt gegenüberstehenden Beteiligten zugemutet, die für ihn günstigen Tatsachen in den Prozeß einzuführen. Spricht der Anscheinsbeweis für den Kläger, hat dieser die Tatsachen vorzutragen, die dem typischen Geschehensablauf entsprechen und der Beklagte die etwaigen Gegenindikationen. Bei Nichtwahrnehmung dieser Obliegenheit hat der damit Belastete gewisse Nachteile zu tragen5. Schon aufgrund dieses Befundes, so scheint es, muß die Anwendung des Anscheinsbeweises im Strafprozeß scheitern. Dem Angeklagten eine dem Zivilprozeß ähnliche Beklagtenrolle zuzuweisen, widerspricht dem grundsätzlichen Verständnis des heutigen Strafjprozesses. Während im Zivilprozeß grundsätzlich private Interessen durchgesetzt werden, geht es im Strafprozeß um den Strafanspruch des Staates. So besteht im Zivilprozeß eine Bindung an Geständnisse, und es gilt generell das Prinzip der formellen Wahrheit. Andererseits ist im Zivilprozeß aber auch eine gewisse Relativierung des Beibringungsgrundsatzes unverkennbar6. So konfligieren die Vorschriften über das Geständnis im Zivilprozeß (§ 288 Abs. 1 ZPO) und über nicht bestrittene Behauptungen (§ 138 Abs. 3 ZPO) mit der Wahrheits- und Vollständigkeitspflicht nach § 138 Abs. 1 ZPO. Es wird zunehmend die Aufklärungspflicht des Richters gem. § 139 Abs. 1 ZPO betont, man nimmt von einem reinen Parteibetrieb Abstand. Damit wird der beschriebene strenge Gegensatz zwischen Zivil- und Strafprozeß etwas relativiert. Der Ausdruck "Führen eines Anscheinsbeweises" ist nun aber doppeldeutig. Im Zivilprozeß wird schon die Geltendmachung des Erfahrungssatzes, also das Vorliegen einer typischen Situation, als "Führung" des Anscheinsbeweises bezeichnet7. Es ist einsichtig, daß bei dieser Redeweise die subjektive Beweislast der Parteien im Vordergrund steht. Denn für den durch den Anscheinsbeweis Begünstigten ist der Beweis schon "geführt", wenn er einen typischen Geschehensablauf dargelegt hat. Die Darlegung der Ausnahmefalle obliegt dagegen der anderen Partei. Niemand geht aber davon aus, daß das Beweisverfahren als ganzes schon beendet sei, wenn die typische Situation vorgebracht worden ist. Beendet ist nur die Tätigkeit der jeweiligen Partei, 4
TxAXtx-Greger , Rn. 10 ff. vor § 128 ZPO. Zum Gesichtspunkt der damit zusammenhängenden Beweisfuhrungslast sogleich unten § 5 H. ° Arens/Lüke , Rn. 190 ff., insbes. 196; für den Verwaltungsprozeß Redeker/von Oertzen , § 86 VwGO Rn. 1. 7 So die zivilrechtliche Terminologie. 5
I. Argument der Voraussetzung streitigen Verhandeins
111
nicht aber die im Prozeß streitige Frage endgültig geklärt. Geführt im Sinne von "zum Abschluß gebracht" ist der Anscheinsbeweis erst dann, wenn der Gegner ihn nicht durch einen Gegenbeweis, also durch die Darlegung und den Beweis konkreter Tatsachen, die für einen untypischen Verlauf sprechen, entkräften kann. Gelingt dies, ist die "normale" Beweislage wiederhergestellt 8. Im Strafrecht müssen - gerade wegen der Geltung des Inquisitionsprinzips - beide Seiten des Anscheinsbeweises berücksichtigt werden: Zum einen ist der Angeklagte nicht beweisführungspflichtig und zum anderen hat das Gericht eine umfassende Aufklärungspflicht. Die reine Verdachtslage kann jedenfalls für ein zu legitimierendes Urteil keine Rolle spielen9. Die aufgeworfene Frage stellt daher für das Strafrecht ein rein terminologisches Problem dar 10 . Man kann sich nämlich die verteilten Rollen der Parteien im Gericht vereint denken, ohne daß dies am Mechanismus des Anscheinsbeweises etwas ändern würde 11. Die im Zivilprozeß von verschiedenen Parteien wahrgenommene "Interessenvertretung" fallt im Strafprozeß in der Person des Richters zusammen. Damit ist aber lediglich ein Strukturprinzip benannt, eine formale Ausrichtung des Beweisprogramms an entweder den Parteien oder dem Richter. Eine Vorentscheidung über die inhaltliche Berechtigung aber ist damit aber noch nicht getroffen 12. Man darf den Untersuchungsgrundsatz, wie es für alle Prinzipien gilt 1 3 , nicht isoliert betrachten. Das Zusammenspiel mit anderen Prinzipien des Strafprozesses ist bedeutsam, so insbesondere mit dem Prinzip der freien richterlichen Beweiswürdigung: Auch die h.M. muß dem Rechnung tragen und das Ziel der objektiven Wahrheitsermittlung (§ 244 Abs. 2) relativieren. 8 Löwe/Rosenberg-Gollwitzer § 261 Rn. 106 ff. Bezeichnenderweise spricht Gollwitzer nicht vom geßhrten Anscheinsbeweis, sondern davon, daß sich der Strafrichter nicht mit dem "ersten Anschein" eines Sachhergangs begnügen dürfe. Das ist allerdings unstreitig. 9 Freund, GA 1993, 49 (62): "Im Strafprozeß zählt nur die ordnungsgemäß beweisbare Täterschaft - alles andere ist bloßer Verdacht, der normativ gesehen für eine Verurteilung nicht ausreicht, weil insofern entgegenstehende Zweifel verbleiben." 10 Kuhlen, Produkthaftung, S. 46 Fn. 77, kennzeichnet die zivilrechtliche Terminologie zu Recht als unzweckmäßig. So ist wohl auch Schneider, Rn. 323, zu verstehen, der schreibt, es sei "richtiger, von der Beweiswürdigung auf Grund des ersten Anscheins zu sprechen". 11 Volk, GA 1973, 161 (164); ders., NStZ 1996, 105 (107 Fn. 10); so auch Berg, S. 105, für den Verwaltungsprozeß; Kuhlen, Produkthaftung, S. 46. 12 Die Prinzipien des Zivilprozesses wie des Strafprozesses seien nur verschiedene Gestaltungsprinzipien, die Wahrheit an den Tag zu bringen, Henckel, S. 144. 13 F. Stein, S. 94, bemerkt allgemein zu den Prozeßgrundsätzen, sie hätten nur insoweit wirkliche Existenz, als sie aus dem Recht abgeleitet werden können. Sie müßten insbesondere auch mit praktischen Zielen des Prozesses koordiniert werden.
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§ 5 Argumente gegen die Zulässigkeit des Anscheinsbeweises
Das geschieht durch den Verweis auf die "Freiheit" der richterlichen Überzeugung. Das "Spannungsverhältnis"14, das darin gesehen wird, ist nun gerade das Problem des Beweisrechts15.
2. Ergebnis
Im Ergebnis spricht somit die Tatsache, daß im Strafprozeß anders als im Zivilprozeß der Untersuchungsgrundsatz herrscht, nicht von vornherein gegen den Anscheinsbeweis. Daß die - obgleich bestehende - eigenständige Ausrichtung des Zivilprozesses absolut gesetzt wird, verursacht eine gedankliche Voreingenommenheit gegenüber dem Anscheinsbeweis. Die kritisierte Argumentation läßt sich mit einer - jedenfalls für den hier in Frage stehenden Strafprozeß — unbedachten Begriffs Verwendung von "Beweis des ersten Anscheins" bzw. einer unzureichenden Hinterfragung der strafprozessualen Grundsätze erklären. Das Argument liefert als solches und auch in der kritischen Auseinandersetzung keine inhaltlichen Aussagen, die eine bestimmte Problemsicht oder Lösung präjudizieren würden. Es gibt keinen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Anscheinsbeweis und Untersuchungsgrundsatz. Daß dieses Ergebnis zutreffend ist, soll ein Exkurs zur Rechtslage im Verwaltungsprozeß zeigen.
3. Exkurs: Vereinbarkeit von Anscheinsbeweis und Untersuchungsgrundsatz im Verwaltungsprozeß
Aufschlußreich für die Diskussion beider Grundsätze ist ein Blick auf den Verwaltungsprozeß. Obwohl dort wie auch im Strafrecht der Untersuchungsgrundsatz herrscht 16, ist der Anscheinsbeweis nämlich anerkannt17. Die Rechtsprechung zieht in Ausnahmefällen Vermutungen als Grundlage von 14 15
Maul, Peters-FG 1984, S. 49.
Es geht um die Beendigung der Urteilstätigkeit, den neuralgischen Punkt der Tatsachenfeststellung; dazu im Zweiten Teil. 16 Kopp, §86 VwGO Rn. 1 ff., §108 VwGO Rn. 11; Peschau, S. 14; Redekerlvon Oertzen, §86 VwGO Rn. 1 und 7 ff.; § 108 VwGO Rn. 11; Ule, § 50 I 2. Siehe außer § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO auch § 76 Abs. 1 FGO und § 103 SGG. Hier soll nur die allgemeine Verwaltungsgerichtsordnung betrachtet werden. 17 Siehe BVerwG 14, 181 (184, 187); 20, 229 (231 f.); Berg, S. 96 ff., 100 ff.; Buss, DRiZ 1966, 291 (293 f.); Ey ermannt Fr öhler, § 86 VwGO Rn. 10; Kopp, § 108 VwGO Rn. 18 m.w.N.; Redekerlvon Oertzen, § 108 VwGO Rn. 14; Redeker, NJW 1966, 1777 (1782); Ule, § 51 III: Anscheinsbeweis wirkt wie eine Umkehr der Beweislast.
I. Argument der Voraussetzung streitigen Verhandeins
113
Entscheidungen heran 18. Auch im Verwaltungsprozeß kann bei typischen Geschehensabläufen, wenn ein bestimmter Tatbestand feststeht, der nach der Lebenserfahrung auf eine bestimmte Ursache hinweist, grundsätzlich davon ausgegangen werden, daß dies auch tatsächlich die Ursache war. Wenn eine rechtsbegründende Tatsache typischerweise aus einer Vermutungsbasis folgt, spricht der erste Anschein eher für als gegen das Vorliegen dieser Tatsache. Das BVerwG fordert zudem, daß diese typische Geschehensabläufe "gleichsam mechanisch abrollen" 19. Darüber hinaus existiert im Verwaltungsprozeß der Begriff der "tatsächlichen Vermutung" 20. Tatsächliche Vermutungen beruhen nicht auf dem Gesetz, sondern auf der Lebenserfahrung 21. Sie haben aber nicht denselben Beweiswert wie ein Anscheinsbeweis, sondern sind nur als allgemeine Erfahrungssätze im Rahmen der Beweiswürdigung zu berücksichtigen22. Sie entbinden das Gericht nicht von der Verpflichtung zu sorgfältiger Ermittlung des Sachverhalts23. Es wird allerdings, abgesehen davon, daß beiden ein unterschiedlicher "Beweiswert" zugeschrieben wird, nicht recht klar, was Anscheinsbeweis und tatsächliche Vermutung genau unterscheiden soll. Daß sich aus der gleichzeitigen Anwendung von Untersuchungsgrundsatz und Anscheinsbeweis in derselben Prozeßordnung ein Problem ergeben könnte, wird im Verwaltungsprozeßrecht überhaupt nicht erörtert, weil betont wird, daß eben insbesondere eine Beweislaständerung durch den Anscheinsbeweis ja nicht eintrete. Es wird überwiegend vertreten, daß weder tatsächliche Vermutung noch Anscheinsbeweis zu einer Umkehr der (objektiven) Beweislast führen 24. Im Ergebnis ist die Rechtslage im Verwaltungsprozeß Indiz dafür, daß die rigide Ablehnung, die dem Anscheinsbeweis im Strafrecht entgegenschlägt, unberechtigt ist. Was von dem Argument zu halten ist, daß der Anscheinsbeweis die Beweislast umdrehe, soll nun überprüft werden.
18
Buss, DRiZ 1966, 291 (294). BVerwG NJW 1980, 252 (252); diese Auffassung wird als zu eng angesehen, Redeker/von Oertzen, § 108 VwGO Rn. 14. 20 Siehe dazu Kopp, § 108 VwGO Rn. 18 a.; Peschau, S. 51 ff.; Walter, Beweiswürdigung, S. 211 ff. 21 Buss, DRiZ 1966, 291 (294): Tatsächliche Vermutungen seien auf der Lebenserfahrung beruhende Schlüsse oder Beweisanzeichen, die einen weiteren Beweis überflüssig machen. Ihnen müsse kein typischer Geschehensablauf zugrunde liegen, deshalb hätten sie anders als der Anscheinsbeweis eine geringere Beweiskraft. 22 OLG Schleswig NVwZ-RR 1992, 379 (380). 23 Kopp, § 108 VwGO Rn. 18 a. 24 Kopp, § 108 VwGO Rn. 18 a; Peschau, S. 54 f.; Walter, S. 211 ff. 19
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§ 5 Argumente gegen die Zulässigkeit des Anscheinsbeweises
II. Argument, daß der Anscheinsbeweis zu einer unzulässigen Beweislastumkehr führe Zweitens findet sich die Äußerung, daß der Anscheinsbeweis deswegen für den Strafprozeß ausscheide, weil er zu einer Änderung der Beweislast führe, es eine solche Beweislast im Strafprozeß aber nicht gebe25. Ungeachtet der Aufgabe der dieser Begründung korrespondierenden Beweislasttheorie schon durch die reichsgerichtliche Rechtsprechung26 wird dieses Argument weiterhin verwendet27. Die Beweislast kann unter zwei Aspekten betrachtet werden. Die Zivilrechtslehre unterscheidet zwischen objektiver und subjektiver Beweislast28. Unter objektiver oder materieller Beweislast versteht man die Verteilung des Risikos der Nichtaufklärbarkeit einer relevanten Tatsache. Im Falle eines dann entstehenden "non-liquet"29 ist entweder der Kläger oder der Beklagte durch die Tatsache der Nichtaufklärbarkeit benachteiligt, je nachdem, zu wessen Lasten die Entscheidung ausgeht. Denn eine Entscheidung ist im Urteil immer gefordert. Das Spannungsverhältnis des Patts wird nicht etwa durch eine "fifty-fifty"-Verteilung, sondern stets zugunsten einer Partei aufgelöst. Der Begriff "subjektive" oder formelle Beweislast bezeichnet dagegen, wem es obliegt, Beweis für eine behauptete Tatsache zu erbringen. Im Bereich des im Zivilprozeß geltenden Verhandlungsgrundsatzes treten objektive und sub-
25 So Bach, MDR 1976, 19 (19), wenn er sich gegen im Strafrecht angeblich bestehende widerlegliche Vermutungen wendet; wohl auch Erb, Alternativverhalten, S. 97 Fn. 104; Hassemer, Produktverantwortung, S. 47, der für das Zivilrecht von einem "engen Zusammenhang mit der Beweislastumkehr zugunsten des Verletzten" spricht; Löffeler, JA 1987, 77 (79); wohl auch L. Schulz, Kausalität, S. 66, so zu verstehen: Damit trete der im Strafrecht maßgebliche Ausgangspunkt, daß die Rechnung mit Unbekannten nicht zu Lasten des Beschuldigten aufgelöst werden dürfe, zu stark zurück; Schmidt!Salzer, Produkthaftung I, S. 327 ff.: wegen Verstoßes gegen die Unschuldsvermutung . 26 Siehe oben § I I I . 27 Gollwitzer, in: Löwe/Rosenberg, § 261 Anm. 6 b Fn. 56, referierte noch in der 22. Aufl. 1973 die Beweislasttheorie des Zivilrechts als Argument gegen den Anscheinsbeweis. Ders. t § 261 Rn. 107 ff. (insbes. Fn. 344) stützt sich seit der 23. Aufl. 1978 auf die Untersuchung Volks, GA 1976, 161 zum Anscheinsbeweis, der aber seinerseits der im Zivilrecht herrschenden Beweiswürdigungstheorie folgt. Gollwitzer behandelt die Problematik allerdings nach wie vor im Rahmen der Beweislast. 28 Zöller-Greger, Rn. 18 vor § 284 ZPO. 29 "Es ist nicht klar, deutlich bzw. offenbar".
n. Argument der unzulässigen Beweislastumkehr
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jektive Beweislast nebeneinander auf; ihre Unterscheidung ist letztlich nur eine Frage der Sichtweise30, die keine allzu große praktische Bedeutung hat.
1. Objektive Beweislast und in dubio pro reo-Grundsatz
Mit dem Argument, der Anscheinsbeweis verändere die Beweislast, könnte die objektive Beweislast gemeint sein 31 . Diese ist im Strafrecht durch den Grundsatz "in dubio pro reo" geregelt 32. Der Anscheinsbeweis würde demnach gegen diesen Grundsatz verstoßen. Der in dubio pro reo-Grundsatz ist im deutschen Strafprozeß nicht ausdrücklich normiert. Er wird als evidentermaßen gerecht empfunden und besitzt über das Rechtsstaatsprinzip verfassungsrechtlichen Charakter. Seine Geltung wird meist auf Art. 20 Abs. 3 GG bzw. auf Art. 6 Abs. 2 MRK zurückgeführt 33. Der Grundsatz besagt, daß niemand verurteilt werden darf, dem die in Frage stehende Tat nicht zweifelsfrei als seine eigene nachgewiesen wurde. Danach wirkt sich ein Zweifel im Tatsächlichen immer zugunsten des Angeklagten aus. Wenn auch die prinzipielle Geltung dieses Grundsatzes unbestritten ist, ist beweisrechtlich doch entscheidend, in welchen Fällen ein "Zweifel" im Sinne dieses Grundsatzes anzunehmen ist. Denn es handelt sich um eine bloß formale Regel, die keine materialen Anhaltspunkte dafür enthält, wann der Regelanwendung vorgelagert ein Sachverhalt bezweifelt werden muß 34 . In dubio pro reo regelt, ob entweder die Normen, die Strafe vorsehen oder aber die diesen Normen korrespondierenden sog. negativen Ergänzungsnormen, 30 31
Zöller-Greger, Rn. 18 a.E. vor § 284 ZPO.
So Volk, GA 1973, 161 (162), gegen das Argument der Beweislasttheorie; ders., NStZ 1996, 105 (106 f.); Kuhlen, Produkthaftung, S. 44. 32 Siehe dazu Frisch, Henkel-FS 1974, S. 273 ff.; Günther, Verurteilungen,
S. 36 f.; Löffeler,
JA 1987, 77 (77 ff.); Michael, S. 1 ff.; Montenbruck,
S. 33 ff.;
Stree, insbes. S. 11 ff. 33 Stree, S. 7 ff. Fn. 24; für eine materiale Begründung Frisch, Henkel-FS 1974, S. 284 ff.: dem Rechtsstaatsprinzip immanentes Gerechtigkeitsprinzip. 34 Freund, Tatsachenfeststellung, S. 60 f.; Volk, Wahrheit, S. 10. Dies wird durch die Rechtslage beim Indizienbeweis verdeutlicht: Der in dubio pro reo-Grundsatz darf nach h.M., Grünwald, Honig-FS 1970, S. 59 und 64 ff.; ders. y Beweisrecht, S. 88 f.; Löffeler, JA 1987, 77 (79 m.w.N. in Fn. 30), nicht auf die einzelnen Indizien angewendet werden, da sie nur "vorgelagerte, unselbständige Bestandteile einer einheitlichen richterlichen Beweiswürdigung" seien. Es handelt sich dabei aber nicht um eine "Ausnahme des in dubio pro reo-Grundsatzes" (gegen Löffeler, JA 1987, 77 [79]), sondern nach der hier vertretenen Auffassung betrifft die Handhabung des Indizienbeweises das Vorfeld des Grundsatzes und kollidiert daher nicht mit ihm. 8*
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§ 5 Argumente gegen die Zulässigkeit des Anscheinsbeweises
die zu einem Freispruch führen, anzuwenden sind 35 . Der Grundsatz ist also keine Beweiswürdigungsregel 36, sondern eine Entscheidungsregel37. Er kommt erst zum Tragen, wenn das Stadium der freien Beweiswürdigung bereits verlassen ist, wenn das Gericht also selbst zu einem non-liquet gekommen ist. Mit der Nichterfüllung der Mindestbedingungen für die Annahme des Beweises ist zugleich der Anwendungsbereich des in dubio pro reo-Grundsatzes definiert. Bei der Frage des Anscheinsbeweises geht es dagegen darum, ob das Gericht bei einer bestimmten Sachlage, wenn sich auch keine für andere Alternativen sprechende Anhaltspunkte ergeben, vom Gegebensein dieser Sachlage ausgehen darf. Läßt man das zu - und das tut unter dem Aspekt der subjektiven Überzeugung auch die h.M. - so wird dadurch die Geltung des in dubio pro reo-Grundsatzes nicht angetastet. Wenn die Frage, in welchen Fällen relevante Zweifel vorliegen und in welchen nicht, einfach durch den pauschalen Verweis auf den Zweifelsgrundsatz ausgeklammert wird, kann es nicht verwundern, daß die h.M. das offen gebliebene Problem "löst", indem sie auf die subjektive Überzeugungskomponente38 verweist und auf diese Weise den Anwendungsbereich von in dubio pro reo im Ergebnis zu Recht wieder ausdünnt39.
2. Subjektive Beweislast und Unschuldsvermutung
Das Argument der mit einem Anscheinsbeweis einhergehenden Beweislastumkehr kann auch im Sinne der subjektiven Beweislast verstanden werden 40 . In der Beweisführung mittels Anscheinsbeweises läge dann ein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung, wenn der Richter schon bei Vorliegen eines 35
Zum Ganzen Frisch, Henkel-FS 1974, S. 280 ff. m.w.N. So Hoyer , ZStW 105 (1993), 523 (523 ff.); ausfuhrlicher Nachweis bei Graul , S. 268 f. Fn. 192. 37 Frisch , Henkel-FS 1974, S. 281 und 283; Löwe/Rosenberg-Go//w/fcer, § 261 Rn. 103 f.; Meurer , Oehler-FS 1985, S. 375 Fn. 54; Kleinknecht/Meyer-Goßner , § 261 Rn. 26; Nicki , S. 73 m.w.N. in Fn. 1; KMR-Paulus, § 244 Rn. 291; Ranft, Strafprozeßrecht, § 60 G II; Sarstedt , Hirsch-FS 1968, 171 (186); Stree , S. 56; Volk , Wahrheit, S. 32 Fn. 8; ders., NStZ 1996, 105 (106); weitere Nachweise bei Graul, S. 267 Fn. 190. 38 Dazu sogleich § 5 V. 39 Zum Verständnis des in dubio pro reo-Grundsatzes als Kehrseite des materiellrechtlichen Schuldprinzips Löffeler, JA 1987, 77 (77 m.w.N. in Fn. 8), und unten bei der Diskussion des materiell-rechtlichen Aspekts des Themas, § 5 VI. 40 So etwa das BayObLG JR 1972, 30 (31); dagegen Peters, JR 1972, 32 (32), da Art. 6 Abs. 2 MRK nur auf die ohnehin schon bestehenden Anforderungen verweise; so auch Hoyer, ZStW 105 (1993), 523 (538). 36
H. Argument der unzulässigen Beweislastumkehr
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bloßen Anscheins von der Schuld des Angeklagten ausgehen würde. Denn dem Angeklagten ist die Schuld nachzuweisen, er muß nicht etwa umgekehrt seine Unschuld beweisen41. Gemäß Art. 6 Abs. 2 MRK ist bis zum "gesetzlichen Beweis seiner Schuld" der Angeklagte als nicht schuldig zu behandeln42. Eine Umkehrung der Beweislast wäre verfassungswidrig, weil sie gegen das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 und 103 Abs. 2 GG) verstoßen würde 43 . Im Strafprozeß gibt es im Gegensatz zum Zivilprozeßrecht daher keine subjektive Beweislast44. Man könnte allenfalls davon sprechen, daß die subjektive Beweislast stets dem Gericht obliegt. Der Anscheinsbeweis im Zivilrecht verlagert nun aber seinerseits die Beweisführungslast gar nicht. Er verlangt keinen Beweis des Gegenteils, sondern nur den schwächeren Gegenbeweis; d.h., es obliegt dem durch den Anscheinsbeweis Benachteiligten, für ihn günstige Tatsachen vorzubringen, die plausibel erscheinen müssen. Die Beweislast selbst bleibt unberührt 45. Lediglich die oben genannte Beweislasttheorie46 kommt zu einem anderen Ergebnis. Sie ist aber für das Strafrecht nicht brauchbar, weil es eine Beweisführungslast nicht gibt. Es scheidet also nicht der Anscheinsbeweis aus, weil er die Beweislast umdreht, es aber eine Beweislast im Strafprozeß nicht gibt, sondern gerade umgekehrt ist die Beweislasttheorie bezüglich eines Anscheinsbeweises im Strafrecht von vornherein nicht anwendbar. Die Ablehnung des Anscheinsbeweises ist hier möglicherweise durch die leicht mißverständliche Terminologie motiviert. Die Argumente würden eventuell nicht vorgebracht, wenn man sich von vornherein gezielt der Frage zuwenden würde, was in einer bestimmten Gruppe von Fällen als ausreichender Beweis angesehen werden kann. Im Strafprozeß kommt dem Richter eine umfassende Aufklärungspflicht zu und er hat daher auch die den Angeklagten entlastenden Umstände zu berücksichtigen. Wesentlich sind deswegen der Umfang und die Grenzen der Aufklärungspflicht des Richters. Daß eine nicht mögliche Entlastung des Angeklagten zu seinen Gunsten ausfallen muß, ist durch eine entsprechende Ausge41
Kühne, Strafprozeßlehre, Rn. 429; Kleinknecht/Meyer-Goßner, Art. 6 MRK Rn. 12; KK-Pfeiffer, Einl. Rn. 320. 42 Der die Unschuldsvermutung ebenfalls betreffende Aspekt, daß ein bloßer Verdacht nicht für eine Verurteilung ausreichen würde, wird unten § 5 m 2 a bei der Frage nach dem "Vollbeweis" behandelt. 43 Z.B. BVerfGE 51, 324 (348 f.); allgemeine Ansicht, z.B. Tiedemann, NJW 1990, 2051 (2052); Löffeler, JA 1987, 77 (77 Fn. 9 und 10). 44 So z.B. Dencker, ZStW 102 (1990), 51 (72); F. Stein, S. 94; Wessels, JuS 1969, 1 (2). Aus der Rechtsprechung z.B. BGH StV 1986, 421 (422). 45 G. Engels, S. 58 ff.; dazu oben § 111. 46 Siehe oben § m l .
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§ 5 Argumente gegen die Zulässigkeit des Anscheinsbeweises
staltung des Anscheinsbeweises zu gewährleisten. Das Prinzip der Beweisführungslast als solches läßt demnach, denkt man sich den Richter als stets beweisbelastet, keine Antwort auf die mit einem Anscheinsbeweis zusammenhängenden Fragen zu. Daß ein Gegenbeweis offengelassen wird, gilt schließlich bei jedem Beweis, da die Möglichkeit eines Irrtums immer gegeben ist 47 . Ergänzend ist darauf hinzuweisen, daß auch für den Verwaltungsprozeß angenommen wird 4 8 , daß die Geltung des Untersuchungsgrundsatzes nicht zugleich eine Beweisführungslast zur Folge habe.
3. Ergebnis
Nach der Auseinandersetzung mit den beiden Aspekten des Beweislastarguments bleibt festzuhalten, daß der Anscheinsbeweis weder die objektive noch die subjektive Beweislast im Sinne einer etwaigen Beweislastverschiebung beeinflußt. Sowohl in dubio pro reo-Grundsatz als auch Untersuchungsgrundsatz bleiben als solche durch die hier vertretene Auffassung nicht nur unangetastet, sondern es werden die mit ihnen zusammenhängenden Vorfragen erst ausgefüllt. Der Angeklagte kann lediglich auf gewisse Weise faktisch belastet sein, wenn er an sich bestehenden Entlastungsmöglichkeiten nicht nachkommt, etwa bestimmte Alternativen nicht einbringt, auf die der Richter oder andere Prozeßbeteiligte nicht von sich aus kommen können und die auch der Sachverhalt nach dem bisherigen Ermittlungsstand nicht nahelegt. Diese Fälle einer faktischen Obliegenheit, in denen es dem Angeklagten letztlich zum Nachteil gereicht, wenn entlastende Umstände nicht bekannt sind, ergeben sich aber prinzipiell nach jeder Auffassung zu diesem Problem 49. Entscheidend ist es daher, hier einen gerechten Ausgleich zu erzielen. Denn daß es praktisch immer anders gewesen sein könnte, als das Urteil für Recht erklärt, steht außer Frage. Es wäre aber inadäquat, dies mittels eines pauschalen Verdikts gegen einen Anscheinsbeweis leugnen zu wollen.
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F. Stein , S. 36; von Overbeck , SchwZStr 33 (1920), 234 (242 f.). Buss, DRiZ 1966, 291 (293) und oben § 5 I 3. Siehe noch unten § 10 II 3 a.
. Argument fehlender Vollbeweiseigenschaft des Anscheinsbeweises
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m . Argument, daß der Anscheinsbeweis unzulässig sei, da er keinen "Vollbeweis" darstelle Es wird drittens gegen eine Anwendbarkeit des Anscheinsbeweises im Strafrecht vorgetragen, der Anscheinsbeweis stelle nun einmal keinen im Strafrecht erforderlichen Vollbeweis dar, sondern bleibe bei einem "Irgendwie" stehen 50 . Damit bleibe eine Ungewißheit, ein non-liquet hinsichtlich der Einzelumstände bestehen51. Weil man nicht genau positiv kläre, was geschehen ist, sondern entscheidend auf Erfahrungssätze abstelle, bestehe ein nur unzureichender Verdacht.
1. Die Redeweise vom "VollbeweisM ab Frage nach der Verfehlung der materiellen Wahrheit Beim Anscheinsbeweis könnte schon aus prinzipiellen Gründen die materielle Wahrheit verfehlt werden. Es wird gesagt, daß im Zivilrecht, in dem der Grundsatz der formellen Wahrheit gilt, ein "Irgendwie" in der Tatsachenfeststellung hingenommen werden könne, nicht aber im Strafrecht, in dem die materielle Wahrheit erforscht werden müsse52. Man könnte daher argumentieren, daß man bei einem Anscheinsbeweis nicht sicher sein könne, die Wahrheit auch wirklich getroffen zu haben. Im Strafrecht mit seinen für den Betroffenen einschneidenden Auswirkungen könne man sich nicht damit begnügen, eine nur ungefähre Vermutung über den wahren Sachverhalt zu besitzen. Dort müsse nicht nur ein voller Beweis, also ein solcher, der zur vollen Überzeugung des Gerichts geführt sei, sondern darüber hinaus eben auch ein Voll50
Stree , S. 41 ff.; aus zivilrechtlicher Sicht betont diesen Unterschied Lepa, NZV 1992, 129 (131); dagegen Kuhlen , Produkthaftung, S. 45. 51 Aus zivilrechtlicher Sicht Schneider , Rn. 366. 52 Für die Erforschung der materiellen Wahrheit als Ziel des Strafprozesses Geerds, Peters-FS 1974, S. 267; Löwe/Rosenberg-5cÄö/