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German Pages 220 [222] Year 2009
mimesis Romanische Literaturen der Welt herausgegeben von Ottmar Ette
María Teresa Quirós Fernández
Stereophonie der Autobiographie Autobiographisches Schreiben von Paaren am Beispiel von María Teresa León und Rafael Alberti
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2009
Für meinen Vater, Francisco Quirós Fernández (1939–1979)
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
ISBN 978-3-484-55048-3
ISSN 0178-7489
© Max Niemeyer Verlag Tübingen 2009 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz: Johanna Boy, Brennberg Gesamtherstellung: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten
Inhaltsverzeichnis
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Méthodos: Von der Theorie zur Stereophonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Leben(s)formen und Lebenswissen in Autobiographien . . . . . . . . . 1.1.1. Überlegungen zum Verhältnis von Wissen, Form(en) und Leben in Autobiographien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2. Relationalität im Kontext der Autobiographieforschung . . . 1.2. Autobiographien von Paaren: Textuelle und ethische Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1. Bi-Textualität als Voraussetzung der Analyse autobiographischen Schreibens in Paarbeziehungen . . . . . . 1.2.2. Ethische Implikationen autobiographischen Schreibens . . . 1.3. Stereophonie der Autobiographie: Begriff und Vorgehensweise . . 1.3.1. Der Begriff der Stereophonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2. Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Annäherungen: Zwei TextLeben begegnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Zu den (Auto)Biographien von María Teresa León und Rafael Alberti . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1. (Myth)Making of María Teresa León und Rafael Alberti . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2. Die Rezeption von Memoria de la melancolía und La arboleda perdida . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Voraussetzungen für die Analyse der Stereophonie der Autobiographie am Beispiel von Memoria de la melancolía und La arboleda perdida . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1. Entstehungskontexte von Memoria de la melancolía und La arboleda perdida . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2. Kontextuelle Bestimmung der Analysekategorien . . . . . . .
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3. Berührungen: Choreographie eines Discursus der Liebe in Memoria de la melancolía und La arboleda perdida . . . . . . . . . . . . . 47 3.1. Bewegungsfiguren I: Von der Berührung zur Verwicklung der TextLeben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 3.1.1. La arboleda perdida I und II: Einladung zum Tanz. Ankündigung und Erscheinung der Geliebten/Venus/ María Teresa León. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
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3.1.2. Memoria de la melancolía: Promenade und Appell mit Damensolo. Die Dynamisierung (gem)einsamer LiebesLäufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2. Bewegungsfigur II: Von der Verwicklung zur Trennung der TextLeben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1. La arboleda perdida III und IV: Chassé Capa. Die Unausweichlichkeit der Memoria de la melancolía . . 3.2.2. La arboleda perdida V: Trennung. Der Tod der Geliebten. Abschied und literarische Wiederbelebungsversuche. Anakreons (heimliche) Sprache der Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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4. Paarbildungen: Leben(s)formen|Lebenswissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 4.1. DesMemoria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 4.1.1. Leben(s)formen: Erinnern und Vergessen . . . . . . . . . . . . . . 71 4.1.1.1. Der verlorene Hain: Memoria en movimiento Ein in die Lüfte geschriebener Lebensbaum . . . . 71 4.1.1.2. Das Gedächtnis der Melancholie: Geschlossener Garten zwischen Gedächtnis und Imagination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 4.1.2. Textuelle Generierung und Speicherung verdrängten Wissens und seine Revitalisierung in der Sprache . . . . . . 87 4.1.2.1. Tra(n)smemoria de la melancolía: Vom individuellen zum kollektiven Wissen vom Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 4.1.2.2. La arboleda perdida: Gedächtnis lebendiger Literaturgeschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 4.2. Stimm(ung)en . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 4.2.1 Leben(s)formen: Reden und Schweigen . . . . . . . . . . . . . . . . 114 4.2.1.1. La arboleda perdida: Geburt der Sprache und Stimmfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 4.2.1.2. Memoria de la melancolía: Stimm(ung)en erzeugende Verluste. In the mood for melancholy oder die gestalterische Kraft der Melancholie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 4.2.2. ZwischenLebenswissen: Wunden öffnen/schließen . . . . . . 132 4.2.2.1. Memoria de la melancolía: Die Spuren einer verletzenden/verletzten Schrift . . . . . . . . . . . . . . . 132 4.2.2.2. La arboleda perdida: Der bewegte/bewegende Gesang der Nostalgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 4.3. Bewegungs(t)räume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 4.3.1. Leben(s)formen: Heimat und Exil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 4.3.1.1. La arboleda perdida: Leben(s)formen im Transit. ÜberQuerungen und ÜberBlendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 VI
4.3.1.2. Memoria de la melancolía: Lost in Translation. Wandeln im TextRaum. Heimat(losigkeit) oder die (Un)Möglichkeit in der Sprache zu wohnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 4.3.2. ÜberLebenswissen: Vermittlung. Lebendige Wissensträger zwischen den Welten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 4.3.2.1. Memoria de la melancolía: Wissen übertragen. FortLeben zwischen den Welten . . . . . . . . . . . . . 158 4.3.2.2. La arboleda perdida: Wandelnde Wissensträger. Der Dichter in der Straße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 4.4. TextKörper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 4.4.1. Leben(s)formen: Körper und Schreiben . . . . . . . . . . . . . . . 170 4.4.1.1. La arboleda perdida: SinnenSpiele und WortGefechte eines bewegten TextKörpers . . . . . 170 4.4.1.2. Memoria de la melancolía: Einverleibungen und figuratio. Materia mater formarum . . . . . . . 173 4.4.2. ÜberLebenswissen: Von der Performanz zur Resonanz des TextKörpers. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 4.4.2.1. Memoria de la melancolía: Secretos del corazón. Geheimes Körperwissen . . . . . . . . . . . . 180 4.4.2.2. La arboleda perdida: Begehren über den Tod hinaus. Die Asche des Dichters im Schoß der Sirene, unsterbliches Lebenselexier einer körperlichen Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 5. Vereinigung: Stereophonie der Autobiographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Anhang: Interview mit Aitana Alberti . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Bibliographie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205
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Einführung
[...] Doch alles, was uns anrührt dich und mich, nimmt uns zusammen wie ein Bogenstrich, der aus zwei Saiten eine Stimme zieht. Auf welches Instrument sind wir gespannt? Und welcher Geiger hat uns in der Hand? O süßes Lied. (Rainer Maria Rilke, Liebes-Lied)
«Geschichten von der Liebe» als «Passion» und «Fragmente eines Diskurses»1 derselben finden wir wohl nirgends in solcher Komplexität wie in der Betrachtung von Paaren, die uns in der Geschichte und der Literatur und insbesondere in den von ihnen selbst geschriebenen Geschichten und Literaturen begegnen. In dem literarischen und literarisierten In-Beziehung-Treten zum/zur Anderen können sich die Partner entwerfen und auf eigentümliche Weise begegnen. Dabei sind, um bei dem Bild des Violinenspiels zu bleiben, die einzelnen zwei Saiten, die eine Stimme, die aus diesen zwei Saiten gezogen wird, sowie das Sie-ErklingenLassen selbst von besonderem Interesse. Letzteres zu erreichen erfordert eine große Fingerfertigkeit. In dieser Studie werden zwei Texte besonderer Art, die Autobiographien Memoria de la melancolía (MM), «Das Gedächtnis der Melancholie» der Schriftstellerin María Teresa León (1903–1988) und La arboleda perdida (AP), «Der verlorene Hain» des Dichters Rafael Alberti (1902–1999) und ihr Zusammenspiel betrachtet.2 Die Autobiographien Leóns und Albertis gehören ohne Zweifel zu den herausragenden Erinnerungstexten einer Generation von SchriftstellerInnen,3
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Ich beziehe mich hier auf drei Titel über die Liebe von Julia Kristeva: Histoires d’amour. Paris: Editions Denöel 1983; Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982 und Roland Barthes: Fragments d’un discours amoureux. Paris Seuil 1977, die sich aus psychoanalytischer, systemtheoretischer und strukturalistischer Perspektive diesem Phänomen widmen. In den folgenden Kapiteln werden die Zitate aus María Teresa León: Memoria de la melancolía. Buenos Aires: Losada 1970 und Rafael Alberti: La arboleda perdida (I, II, III). Madrid: Alianza Editorial 2002 entnommen und mit den hier aufgeführten Siglen und den entsprechenden Seitenzahlen versehen. Im Falle Albertis wird zudem in römischen Ziffern darauf verwiesen, um welches der fünf Bücher seiner Autobiographie es sich handelt. Ein Zitat der Seite zehn aus dem zweiten Buch von La arboleda perdida würde demnach z.B. AP II, 10 abgekürzt werden. Als Beispiele wären Francisco Ayala: Recuerdos y olvidos. Madrid: Alianza 1982; Corpus Barga: Los pasos contados. Una vida española a caballo entre dos siglos (1887–1957). Madrid: Alianza 1979; Luis Buñuel: Mon derniere soupir [in Kooperation mit Jean-
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die sich nicht zuletzt dadurch auszeichnete, dass sie nach dem Ende des Bürgerkrieges – in alle vier Himmelsrichtungen zerstreut – intensiv über, aber nicht innerhalb von Spanien schrieb. Das Schriftstellerpaar lebte als aktiver Gegner der von Franco errichteten Diktatur bis 1977 im Exil. Es trug mit seinem vielfältigen politischen und kulturellen Engagement aktiv zur Kulturpolitik der Zweiten Republik und des Spanischen Bürgerkrieges sowie zur republikanischen Kultur- und Widerstandsarbeit im Exil bei. Während es wie viele andere Intellektuelle über Jahrzehnte von den offiziellen kulturellen und literarischen Diskursen innerhalb Spaniens ausgeschlossen war, avancierte es bald zu einem der international politisch und literarisch bekanntesten spanischen Paare des 20. Jahrhunderts. Aus dem Spannungsfeld der Zweiten Republik und des Spanischen Bürgerkrieges heraus erwachsen, entstand ein großer Teil des autobiographischen Schreibens des Paares zwischen Heimat und Exil. Beide Autoren suchten mit dieser Literaturform einen Weg, um den erlebten traumatischen Erfahrungen des Krieges und des Lebens im Exil zu begegnen, auf den Verlust lebensweltlicher Bezugspunkte zu reagieren und politische Vorstellungen in Abgrenzung zu offiziellen nationalen Diskursen des Heimatlandes Spanien zu übermitteln. Das daraus im Verlauf ihrer Leben und aus dem Leben heraus gewonnene Wissen, das im Prozess des autobiographischen Schreibens in ein literarisiertes Wissen vom Leben transformiert wurde, ist dabei untrennbar mit der Paarbeziehung und der von Alberti und León gewählten Lebensweise verbunden. Letztere ließe sich am ehesten in Anlehnung an Ette als ein Leben zwischen den Welten und ohne festen Wohnsitz charakterisieren, das bei beiden Autoren entsprechende Formen des ZwischenWeltenSchreibens und -Wissens einer Literatur in Bewegung zutage förderte.4 Der Kompositionsprozess der autobiographischen Texte entwickelte sich somit entlang einer biographisch und literarisch äußerst komplexen Paarbeziehung und eines Lebens zwischen den Welten. Beides wirkte auf den Prozess des autobiographischen Schreibens direkt und im Verborgenen ein und prägte beide Texte wesentlich. Lässt sich autobiographisches Schreiben unter diesen Voraussetzungen als ein «self life writing»5 verstehen? Oder muss es nicht vielmehr als Medium betrachtet werden, das es León und Alberti ermöglichte, die getrennt und ge-
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Claude Carrière]. Paris: Laffont 1982; Zenobia Camprubí: Diarios: traducción, introducción y notas de Graciela Palau de Nemes. Madrid: Alianza 1991; Rosa Chacel: Desde el amanecer: autobiografía de mis primeros diez años. Madrid: Revista de Occidente 1972; María Zambrano: Delirio y destino. (Los veinte años de una española). Madrid: Mondadori 1989 zu nennen. Ottmar Ette: Literatur in Bewegung. Raum und Dynamik grenzüberschreitenden Schreibens in Europa und Amerika. Göttingen: Velbrück 2001 und ders.: ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz. Berlin: Kadmos 2005. «In Greek, autos signifies ‹self›, bios ‹life›, and graphe ‹writing›. Taken together in this order, the words denote ‹self life writing›, a brief definition of ‹autobiography›». Sidonie Smith und Julia Watson: Reading Autobiography: a guide for interpreting life narratives. Minneapolis/London: University of Minnesota Press 2001, S. 1.
meinsam erlebten vergangenen und gegenwärtigen Erfahrungen und Erinnerungen durch wechselseitige Bezüge und mit Blick auf die zeitgenössischen politischen und kulturellen Diskurse, die im Vollzug des Lebens und Schreibens beider mit aufgenommen wurden, literarisch hervorzubringen und zu übermitteln? Zwischen den Texten entstand ein weit verzweigtes Netz. Ihm soll nachgespürt werden, um das narrative Formen, Speichern und Übermitteln eines Wissens vom Leben im Schreiben dieses Paares zu untersuchen. Welche Formen und Funktionen der vergangenen und gegenwärtigen, inner- und außertextuellen Befindlichkeit, Absenz und Präsenz des Partners/der Partnerin lassen sich bei der Generierung, Speicherung und Übermittlung von Lebenswissen6 im Prozess des Leben Schreibens des Paares erkennen? Anders als in Einzelstudien wird eine notwendige Perspektiverweiterung angestrebt, da sich diese Autobiographien im Speziellen und die Texte von Paaren im Allgemeinen nur unzureichend ohne die Einbeziehung der Texte und des Lebens des/der jeweils Anderen erschließen lassen. Die Studie nimmt deshalb beide Texte in den Blick, um ein grundlegendes Analysemodell zur Untersuchung und Beschreibung des (autobiographischen) Schreibens von Paaren zu entwickeln. Zu diesem Zweck wird der Begriff der Stereophonie im ersten Kapitel eingeführt. Seine terminologische Bestimmung wird dazu dienen, (a) Beziehungen in und zwischen den Autobiographien, (b) ihre jeweilige Erscheinungsform und (c) den Effekt einer gezielten Zusammenschau der Autobiographien differenziert untersuchen zu können und somit der Komplexität aufeinander bezogenen autobiographischen Schreibens von Paaren Rechnung zu tragen. Indem die vorliegende Studie dann eine entsprechende Analyse der Autobiographien Leóns und Albertis unternimmt, wird eine grundlegende Methode nicht nur vorgestellt, sondern auch beispielhaft angewandt. Durch die Rezeption beider Texte können Ebenen (z.B. ethische Implikationen autobiographischen Schreibens) in die Analyse miteinbezogen werden, die in vorangegangenen Einzelstudien zu den hier vorliegenden Autobiographien bisher unberücksichtigt geblieben sind. Der Begriff der Stereophonie und das aus ihm heraus entwickelte Analysemodell sind somit ein grundlegender Baustein und ein notwendiges Werkzeug für einen kritischeren Umgang mit Texten aus Paarbeziehungen, um über die herkömmlichen Einzelanalysen von Autobiographien hinauszuweisen.
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Mit seinem Vortrag vom 20.4.2002 im Rahmen des Symposiums «Romanistik zwischen Tradition und Entgrenzung» am Institut für Romanische Sprachen und Literaturen der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main zum Thema «Erich Auerbach oder Die Aufgabe der Philologie» leuchtet Ottmar Ette das Verhältnis von Leben, Wissen und Wissenschaft aus und lässt in seinem Artikel Das verdoppelte Leben. Hannah Arendts «Rahel Varnhagen». In: Hanspeter Plocher/Till R. Kuhnle/Bernadette Malinowski (Hgg.): Esprit civique und Engagement. Festschrift für Henning Krauß zum 60. Geburtstag. Tübingen: Stauffenburg Verlag 2003, S. 125–143 den LebenswissensBegriff erstmals im Kontext der Philologien fruchtbar werden.
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Das hier Ausgeführte entwickelte sich aus der eigenen Forschungstätigkeit, die sich zunächst allein der Autobiographie und Biographie María Teresa Leóns widmete und in eine Untersuchung zur narrativen Identitätskonstruktion in Memoria de la melancolía mündete. Dabei zeigten sich die Grenzen einer Analyse, die sich allein auf Leóns Autobiographie konzentrierte und die Albertis weitestgehend unberücksichtigt ließ. Eine eingehende Lektüre von La arboleda perdida und Memoria de la melancolía lässt erkennen, wie sehr beide Autobiographien von den wechselseitigen ‹Berührungen› mit dem anderen Text und Leben geprägt sind. Selbst in einer nur oberflächlichen Zusammenschau beider autobiographischer Texte deutet sich das komplexe Beziehungsgeflecht an, das sich nicht nur auf einem gemeinsam gelebten Leben gründet, sondern auch im Schreiben gemeinsam generiert, ausgehandelt, vermittelt oder verdeckt wurde. Die verschiedenen kulturellen, historischen und gesellschaftlichen Realitäten, wie sie erlebt und in diesen umfangreichen Texten neu in Beziehung gesetzt, literarisch re- und dekonstruiert und immer wieder neu verhandelt wurden, zeugen von einem bewegten Leben im Dialog, dessen Dynamik sich in den Texten des Paares León-Alberti fortsetzt. Dem autobiographischen Schreiben dieses Paares lässt sich deshalb kaum innerhalb statischer Länder- und Fächergrenzen gerecht werden, auch weil es im wahrsten Sinne des Wortes zwischen den Welten, auf dem Weg und auf einer Vielzahl von Reisen sowie in der Auseinandersetzung mit Politik, Kunst und Literatur sowohl des Heimatlandes Spanien als auch der das Paar aufnehmenden Länder. Das Wissen vom Leben, das diese Autobiographien bereithalten, ist trans-, multi- und interkulturell/-disziplinär. Um es zu erschließen, gilt es Länder- und Fächergrenzen zu überschreiten. Im Kontext der spezifischen Erfahrungen, als Paar im Exil zu leben, zu schreiben und nicht zuletzt immer wieder neue und andere Identitäten zu konstituieren, erhielt die Niederschrift der Autobiographien eine Dimension, die die Grenzen des individuellen Lebensberichtes verschwimmen lassen. Durch das komplexe Netz intertextueller und interpersoneller Bezüge, das zwischen den Autobiographien entwickelt wurden, wird der/die Andere in den eigenen Text mit aufgenommen und eingeladen, im Schreiben auf das literarisierte Leben des/der Anderen einzuwirken, es weiter zu schreiben oder zu ergänzen. Erfahrungen wie die Alzheimererkrankung der Schriftstellerin María Teresa León waren dabei für die literarische Produktion beider Autoren in vielerlei Hinsicht relevant. Signifikant waren und sind sie zum Teil noch, wo eine Gesellschaft an einem kollektiven ‹Gedächtnisverlust› litt und bewusst bemüht war, die Spuren eines Bürgerkrieges während einer Diktatur und darüber hinaus zu verdecken und zu vergessen. So wurde das Anschreiben gegen den eigenen Verlust von Erinnerungen bei León zu einer beispielhaften individuellen Anstrengung, sich gegen das in Spanien vom Exil aus zu beobachtende institutionalisierte Vergessen zu wehren, ein Bemühen, das Alberti mit Blick auf die bereits verstummte Partnerin weiterführte, auch um León seinerseits einem solchen zu entreißen. Die im Kontext dieser Paarkonstellation entstandenen Autobiographien stereophon zu betrachten, wird bisherige Interpretationen weiterführen, kritisch hinterfragen und neue Perspektiven in diesem spezifischen Fall und allgemein eröffnen. 4
Sich ausgehend von den Autobiographien diesem weit verzweigten Netzwerk zu widmen bedeutet, eine bisher in dieser Form nicht geleistete Arbeit vorzunehmen und Aspekte von Paarbeziehungen herauszustellen, die die Geschlechterforschung ebenso betreffen wie sie bisherige Überlegungen zum autobiographischen Schreiben von Männern und Frauen in ein neues Licht stellen und damit nicht zuletzt die eng umrissenen Grenzen eines literarischen Genres in Frage stellen. Im ersten Kapitel Méthodos: Von der Theorie zur Stereophonie wird das theoretische Feld abgesteckt, in dem sich die Analyse der Autobiographien bewegen soll. Hierbei wird das autobiographische Schreiben auch als Kooperations- und Dialogform betrachtet und das Konzept der Relationalität im Kontext der Autobiographieforschung aufgegriffen, um Autobiographie als einsames und gemeinsames Projekt auch in Hinblick auf ethische Implikationen eines solchen Schreibens verstehen und diskutieren zu können. Verknüpft wird dies mit der Konkretisierung der Begriffe Leben(s)formen und Lebenswissen. Das Theoriekapitel schließt mit Überlegungen zur Stereophonie, um einen vorläufigen Arbeitsbegriff zu formulieren und die Grundlagen des Analysemodells zu schaffen. Das zweite Kapitel Annäherungen: Zwei TextLeben begegnen dient einer kritischen Würdigung der bisherigen Rezeption der (Auto)Biographien dieses literarischen Paares. Der Darstellung der Rezeption und des Entstehungskontextes der Autobiographien folgt ausgehend von der beiden Autoren auferlegten Lebensform des ZwischenWeltenLebens die Bestimmung biformer Kategorien. Anhand derer werden Dimensionen des narrativen Leben Formens aufgezeigt und Formen eines ZwischenWeltenSchreibens mit Blick auf das autobiographische Schreiben des Paares und die entstandenen Identitätsentwürfe untersucht. Neben dem theoretischen schafft das zweite Kapitel somit die inhaltlichen Voraussetzungen für die folgenden Textanalysen im dritten und vierten Kapitel. Im dritten Kapitel Berührungen: Choreographie eines Discursus der Liebe in Memoria de la melancolía und La arboleda perdida wird zunächst die literarisch inszenierte Liebesbeziehung in und die Bewegungen zwischen den Texten zu ermitteln. Zur Beschreibung der wechselnden Momente der jeweiligen LiebesLäufe dienen Bewegungsfiguren, denen der in Fragments d’un discourse d’amoureux von Barthes erscheinende Discursus-Begriff zugrunde liegt, der hier aufgenommen, dynamisiert und für die wechselseitigen Bewegungen zwischen den Text und Leben genutzt wird.7 Das vierte Kapitel Paarbildungen: Leben(s)formen|Lebenswissen ist – ausgehend von den im zweiten Kapitel bestimmten Kategorien – dem Prozess der narrativen Formung von Leben und dem auf diese Weise generierten und vermittelten (individuellen und kollektiven) Lebenswissen gewidmet. Im Schlusskapitel Vereinigung: Stereophonie der Autobiographie werden schließlich die Untersuchungsergebnisse zusammengefasst. Dieses abschließende Kapitel widmet sich dem literarischen Effekt einer Stereophonie der Autobiogra-
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Vgl. hierzu Roland Barthes: Fragments d’un discours amoureux. Paris: Seuil 1977, S. 7.
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phie und schließt somit den Kreis, den die Studie hier beginnt, um die komplexe, gemeinsam geleistete Erinnerungsarbeit eines der bekanntesten spanischen Schriftstellerpaare zu würdigen, das aus dem Exil heraus literarisch Einfluss auf politisch und historisch etablierte ‹Wahrheiten› der spanischen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts nahm. Die vorliegende Studie führt somit in die Leben und Texte Leóns und Albertis hinein, um aus ihnen heraus nicht zuletzt die Mechanismen einer spanischen Literatur, Kultur und Geschichte in Bewegung aufzuzeigen, die sich zwischen den Welten herausbildeten und für ein Verständnis spanischer Literaturen, Kulturen und Geschichten der Gegenwart wesentlich sind. Mit der Einführung eines neuen Begriffs und Modells zur Analyse der Autobiographien von Paaren leistet sie jedoch vor allem einen notwendigen Beitrag zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit Texten aus Paarbeziehungen, gleich welcher Art.
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1.
Méthodos: Von der Theorie zur Stereophonie
Pensamos para vivir, he dicho; pero acaso fuera más acertado decir que pensamos porque vivimos, y que la forma de nuestro pensamiento responde a la de nuestra vida. (Unamuno, Del sentimiento trágico de la vida)
1.1.
Leben(s)formen und Lebenswissen in Autobiographien
1.1.1. Überlegungen zum Verhältnis von Wissen, Form(en) und Leben in Autobiographien Tengo miedo de que me pregunten: Abuela ¿qué es la vida? y tenerles que contestar: No lo sé. Luego, con las mismas rabias mías, con las que sentí yo cuando arranqué la toca a la monja de mi colegio, me volverán la espalda casi con lastima, tomándome apenas por un trasto inútil que permanece. (MM, 328; Hervorhebungen hinzugefügt)
Eine solche Frage und Antwort, wie sie in dem zitierten Ausschnitt aus Memoria de la melancolía formuliert werden, sind im Kontext einer Autobiographie signifikant. Vor allem dann, wenn sie zu ihrem Ende hin erscheinen. Es stellt sich im Anschluss hieran eine weitere Frage nach dem Leben in oder gar der Autobiographie, das sich im Partikel bios zeigt und auf ein literarisiertes Wissen vom Leben, auf den Prozess der Formung von Leben im Schreiben und die Autobiographie als Lebensform beziehen ließe. Diese drei Dimensionen: Wissen, Formung und Form sind für eine Annäherung an die Frage nach dem Leben in/ der Autobiographien relevant. Der Begriff der Form lässt sich mit Blick auf das literarische Kunstwerk mit Gero von Wilpert als äußere Gestalt oder Erscheinungsform eines sprachl. Kunstwerks als Summe vieler Einzelkomponenten (Sprache, Stil, Rhythmus, Metrum, Vers, Strophe, Reim, Klang, Bild, Struktur, Aufbau, Gliederung, Gattung, Zeitgestaltung, Perspektive u. a. m.)1
begreifen. Diese «Einzelkomponenten» sind Bausteine der sprachlichen Lebensgestaltung und Voraussetzung für einen sprachlichen Weltbezug, der sich im Prozess des Formgebens erkennen lässt und der nicht nur ein Wissen vom Leben, sondern auch über dessen Literarisierungsmöglichkeiten anzeigt. Mit der narrativen Formung und Organisation von Erfahrungen und Erlebnissen wird
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Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart: Metzler 1989, S. 303.
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ein Wissen vom Leben zunächst einmal generiert. Die narrative Gestaltung von Leben führt dazu, dass [e]ventually the culturally shaped cognitive and linguistic processes that guide the selftelling of life narratives achieve the power to structure perceptual experience, to organize memory, to segment and purpose-build the very «events» of life. In the end, we become the autobiographical narratives by which we «tell about» our lives.2
Jedes «self-telling» wird von diesen kognitiven und linguistischen Prozessen gesteuert. Es ist auf spezifische Lebensformen und -erfahrungen bezogen, so wie im Erzählen oder Schreiben über Leben diesen erst eine konkrete Form verliehen wird. Diese Form der autobiographischen Darstellung ist ihre Medialität, die «materialisierte Grenze und eben darin die produktive Matrix des Übergangs von Leben in Schrift»3. Durch sie wird ein spezifischer Welt- und Lebensbezug erkennbar.4 Der Zusammenhang eines in Autobiographien dargestellten Lebens ist ein narrativer. Die «Einheit» eines menschlichen Lebens innerhalb von Autobiographien entspricht in ihren Strukturen und Organisationsprinzipien der Einheit einer erzählten oder erzählbaren Geschichte, weshalb folglich auch die in diesem Prozess konstituierte Identität eine narrative5 ist. Die «Einheit» eines Lebens wird, so Ricoeur, «unaufhörlich refiguriert durch all die wahren oder fiktiven Geschichten, die ein Subjekt über sich erzählt.»6 Diese Geschichten kann ein Subjekt jedoch nicht gänzlich unabhängig von dem Vollzug seines Lebens und immer nur aus diesem heraus erzählen, denn es bleibt untrennbar mit Körper und Geist an ihn gebunden. Des Weiteren kann Literatur im Sinne Ettes als «ein sich wandelndes und zugleich interaktives Speichermedium von Lebenswissen»7 vorgestellt werden, wobei im Prozess des autobiographischen Schreibens einem Subjekt und seinem Wissen vom Leben eine spezifische Form verliehen wird, aus dem wiederum erst ein Wissen über Leben hervorgehen kann. «Wissen vom Leben», so Ette, «kann dabei ebenso in Schrifttexten (im Roman oder einer philosophischen Lebenslehre, in Biographien oder Autobiographien, in philologischen Reflexionen oder moralistischen Maximen) wie in Bildtexten, in der Inszenierung und Performanz des
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Jerome Bruner: Life as Narrative. In: Social research 71, 3 (Herbst 2004), S. 691. Martina Wagner-Egelhaaf: Autobiographie. Stuttgart; Weimar: Metzler 2000, S. 53. Martin Seel: Ästhetik des Erscheinens. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 208. Paul Ricoeur: Zeit und Erzählung. Bd. 3: Die erzählte Zeit. München 1991, S. 395. Vgl. hierzu auch Antony Paul Kerby: Narrative and Self. Blommington/Indianapolis: Indiana University Press 1991, S. 33 und David Carr: Time and History. Blommington/ Indianapolis: Indiana University Press 1986, S. 73. Ricoeur: Zeit und Erzählung. Bd. 3, S. 396. Zu den drei Darstellungsstufen (Präfiguration, Konfiguration und Refiguration) in Ricoeurs Mimesis Modell, siehe auch Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar: Metzler 2005, S.149f. Bei Carr heisst es: «We are composing and constantly reviewing our autobiographies as we go along». Carr: Time, Narrative, and History, S. 76. Ottmar Ette: ÜberLebenswissen. Die Aufgabe der Philologie. Berlin: Kadmos 2004, S. 13.
Körperleibes wie in der Befragung und (künstlerischen oder wissenschaftlichen) Repräsentation von Körperwissen hergestellt, dargestellt und gedeutet werden.»8 Ette stellt in seinen Ausführungen die Beziehung zwischen Leben und Wissen her und führt die Dimensionen seines Kompositums vor, die auf «ein Wissen über das Leben», «ein Wissen des Lebens von sich selbst», «ein Wissen als wesentlicher Bestandteil des Lebens (und Überlebens)» sowie auf «eine fundamentale Eigenschaft von Leben» und schließlich «ein Wissen zum Leben wie ein Wissen im Leben» abzielen.9 Hinsichtlich des hier betrachteten Falles, der Autobiographien von Paaren, ist darüber hinaus entscheidend, dass Paare gemeinsame Lebenserfahrungen und Lebensformen im autobiographischen Schreiben transformieren und Lebenswissen von ihnen «als ein je spezifischer Modus von Lebensführung und Lebenspraxis»10 (gem)einsam vorgestellt, angeeignet und ausgehandelt wird. Dabei ist es erforderlich, gender als Kategorie im Kontext der Betrachtung von Paaren und darüber hinaus in der von Ette geprägten Definition von Lebenswissen mit zu berücksichtigen, um auf diese Weise auch Aspekte eines gendered Lebenswissens, das nicht zuletzt in den unterschiedlichen Erfahrungsmöglichkeiten aufgrund bereits vorstrukturierter sozialer Rahmenbedingungen von Männern und Frauen begründet liegt, aufdecken zu können. Hinsichtlich der Betrachtung der narrativen Formung von Leben kann die Kategorie des Geschlechts ausgehend von der Ausführungen in Erzähltextanalyse und Gender Studies als relevant angesehen werden.11 Dem Zusammenspiel von Wissen, Form(en) und Leben wird innerhalb der Analyse eine besondere Aufmerksamkeit zuteil, wobei weitere Spezifizierungen von Leben(s)formen und Lebenswissen im Laufe der Untersuchung der vorliegenden Autobiographien erfolgen. Zunächst gilt es jedoch, das Bisherige um eine entscheidende Dimension zu erweitern: die der Relationalität. Sie ist für Autobiographien von Paaren tragend und ebnet den Weg hin zu einer Stereophonie der Autobiographie. 1.1.2. Relationalität im Kontext der Autobiographieforschung Wenn wir zu Autobiographien greifen, dann meist in der Erwartung, uns mittels der literarisierten, individuellen Lebensgeschichte ein spezifisches Wissen über eine konkrete Person und ihr Leben zu erschließen. Es wird im Sinne Lejeunes «pacte autobiographique» die Identität von Autor, Erzähler und Protagonist und ein «récit rétrospectif en prose qu’ une personne réelle fait de sa propre existence, lorsqu’elle met l’accent sur sa vie individuelle, en particulier sur l’histoire de
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Ebd., S. 18. Ebd., S. 12. Ebd. Vera Nünning und Ansgar Nünning (Hgg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies. Stuttgart: Metzler 2004.
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sa personnalité»12 erwartet. Wie steht es jedoch mit dieser Aussage, wenn Autobiographien als Produkt eines umfassenderen Begegnungs- und Kommunikationsprozesses wahrgenommen werden und das in ihnen in Erscheinung tretende Subjekt nicht ohne weiteres zu bestimmen ist, da es nicht unabhängig von einem signifikanten Anderen zu verstehen ist? In Memoria de la melancolía heißt es an einer Stelle: Nos traemos adentro una carga inquietante de gustos y de gestos ajenos que se nos van quedando enganchados. Y es que pasamos, pasamos constantemente sin detenernos entre cosas y gentes que nos cruzan y tampoco se detienen porque van de camino y seguimos andando y apenas nos dejan la manera de sonreír, la frase hecha, la superstición, la manía, el gesto de la mano... A veces así recogemos cosas tontas, basuras, cristales, aqua o maravillas. (MM, 62)
Auf konkrete Art und Weise werden in diesem Abschnitt Dimensionen der Relationalität des Subjekts beschrieben, das nicht unabhängig von anderen, die es berühren und prägen, gedacht werden kann. Das autobiographische Ich mischt sich in die erste Person Plural und führt darin vor, was auf der Inhaltsebene beschrieben wird: Das Subjekt, das auf dem Weg durchs Leben anderer Wege kreuzt und Worte, die Weise zu lächeln und vieles mehr übernimmt oder selber weitergibt, wird als Empfänger, Träger und Übermittler einer Vielfalt von fremden Geschmäckern und Gesten entlarvt. Wie ein Sammler liest es – bewusst oder unbewusst – Verschiedenes auf, wird von Anderem, ihm Fremdem, durchdrungen. Die Autorin, die entlang der Autobiographie in verschiedene (Wort-)Kostüme schlüpft, von sich in der dritten Person Singular schreibt oder sich im «Wir» verbirgt und auf diese Weise Übergänge von der Autobiographie zur Biographie und umgekehrt anzeigt, legt eine Spur, denn wenn das Ich schon immer von Anderem durchdrungen ist, kann eine Autobiographie ohne die Biographie in vielerlei Hinsicht nicht sein. Das auf sich selbst bezogene autobiographische Schreiben erfährt sodann eine weitere Dynamisierung, die auf das immer schon Andere im Eigenen ausgerichtet ist. In der weiteren Folge dieses Ausschnitts aus Memoria de la melancolía wird schließlich die Illusion von der eigenen Existenz als einem gänzlich autonomen, von anderen unabhängigen Subjekten zum Ausdruck gebracht, um zu zeigen, wie sich in den vielfältigen Berührungsmomenten mit dem/den Anderen und im Verlauf des Lebens das Ich als ein vom Anderen Durchdrungenes herausbildet: Somos el producto de lo que los otros han irradiado de sí o perdido, pero creemos que somos nosotros. ¡Qué equivocados vamos hacia la muerte! Yo siento que me hice del roce de tanta gente: de la monjita, de la amiga de buen gusto, del tío abuelo casi emparedado, del chico de los pájaros, del beso, de la caricia, del insulto, del amigo que nos insinuó, del que nos empujó, del que nos advirtió, del que callado apretó los dientes y sentimos aún la mordedura…Todos, todos. Somos lo que nos han hecho, lentamente, al correr tantos años. Cuando estamos definitivamente seguros de ser nosotros, nos morimos. ¡Qué lección de humildad! (MM, 62)
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Philippe Lejeune: Le Pacte autobiographique. Paris: Seuil 1975, S. 14.
Das Irren über die eigene Identität scheint in einem engen Zusammenhang mit dem zu stehen, was bei Cixous per definitionem das Subjekt ist, nämlich «a non-closed mix of self/s and others.»13 Diese Unabgeschlossenheit der Identität impliziert die des Lebens und sensibilisiert für die vielfältigen Begegnungsformen im TextLeben, von TextLeben und des TextLebens mit sich selbst in einem spezifischen (hier) autobiographischen Raum, der sich hin zu den Texten und Leben anderer öffnet. Das spanische Wort «roce» kann Reibung, Streifen und in einer figurativen Dimension (häufiger) Umgang oder Verkehr bedeuten. In dieser Zwischensphäre, «del roce», finden Begegnungen mit dem/den Anderen statt, die die eigene Identität zur Disposition stellen, sie herausfordern und prägen. Personen («la monjita»), aber auch Elemente des Lust- («beso», «caricia») und Schmerzvollen («mordedura») bringen das Ich hervor und gestalten es durch das «lo que nos han hecho, lentamente.» Was sich zwischen den Menschen im Verlauf der Jahre in einer langsamen Bewegung, etwa im Küssen, ereignet, hinterlässt (Erinnerungs-)Spuren. Der Schnelligkeit des Fortlaufs der Zeit stellt León die Langsamkeit des Tuns, durch die der Mensch seine Prägung erfährt und sich herausbildet, entgegen und spinnt ein «Netz von Relationen, wo es Knotenpunkte, Anschlussstellen und Verbindungswege gibt, aber keine Zentralstation.»14 Die Unruhe über das oft unmerklich übernommene Fremde und die damit einhergehende Unwissenheit über sich selbst, mit der sich der Mensch in den Tod bewegt, werden in diesem Ausschnitt mit der (Wunsch-)Vorstellung von einer im Augenblick des Todes aufleuchtenden Wahrheit verbunden. Unruhe und Unwissenheit werden jedoch als die die Autobiographie von Beginn an kennzeichnenden Momente bis zum Ende wirksam bleiben. Es ist dem autobiographischen Subjekt im Prozess nicht möglich zu wissen, ob es am Ende seines Lebensweges einen Ort der Ruhe gibt.15 In der Autobiographie, im Schreiben, findet es ihn nicht, sondern eröffnet allenfalls einen Weg, den es schreibend zu beschreiten gilt und der sich erst im Schreiben formt. Dass León den möglichen Irrtum über ihre Identität in ihrer Autobiographie integriert, stellt traditionelle Auffassungen der Autobiographie als «die Beschreibung (graphia) des Lebens (bios) eines Einzelnen durch sich selbst (auto)»16 in Frage und lässt autobiographisches Schreiben als Moment einer umfassenden (gem)einsamen menschlichen Praxis, mittels derer sich das Subjekt in der Be-
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Hélène Cixous: Preface. In: Susan Sellers (Hg.): The Hélène Cixous Reader. London: Routledge 1994, S. 15–22, S. 17. Bernhard Waldenfels: Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden; Bd. 3. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S. 9. Vgl. zum Thema der Autonomie im Kontext der Erfahrung von Literatur Richard Rorty: «Der Roman als Mittel zur Erlösung aus der Selbstbezogenheit». In: Joachim Küpper und Christoph Menke (Hgg.): Dimensionen ästhetischer Erfahrung. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 49–66, S. 53. Georg Misch: Begriff und Ursprung der Autobiographie. In: Günter Niggel (Hg.): Die Autobiographie. Zur Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Darmstadt: Wiss. Buchg 1997, S. 33–54, S. 38.
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gegnung mit den/dem Anderen ununterbrochen neu (er-)findet und (er-)finden muss, erscheinen. Das Memoria de la melancolía entnommene Textfragment trifft damit einen Kern aktueller im Kontext der Autobiographieforschung geführter Diskussionen über Identität, die relationale Momente der Identitätskonstitution ins Zentrum des Interesses rücken. Es nimmt poststrukturalistische Subjektkonzepte vorweg, wie sie etwa bei Cixous formuliert werden: A subject is at least a thousand people. This is why I never ask myself ‹who am I?› (qui-suis-je?) I ask myself ‹who are I?› (qui sont je?) – an untranslatable phrase. Who can say who I are, how many I are, which I is the most I of my I’s ? Of course we each have a solid social identity, all the more solid and stable as all our other phases of identity are unstable, surprising. At the same time we are all the ages, those we have been, those we will be, those we will not be, we journey through ourselves (Joyce, Shakespeare remind us) as the child who goes snivelling to school and as the broken old man.17
In aktuellen psychologischen Studien wird zwischen individuellem, relationalem und kollektivem Selbst unterschieden und die Beziehungen zwischen diesen untersucht, um das Verhältnis des Individuums zu dem/den Anderen zu beschreiben.18 Diese Studien sind insbesondere hinsichtlich der Analyse kreativen Schaffens von Bedeutung, da sie mit traditionellen Vorstellungen von der Ausschließlichkeit desselben brechen und den Blick auch auf die relationale Dimension der Produktivität lenken. Dies wirft auch die Frage nach dem in solchen Prozessen entstehenden Wissen auf. In ÜberLebenswissen ist es nicht zuletzt Ettes Anliegen, auf diese komplexen Dimensionen des Zusammenlebens und einem Wissen von demselben abzuzielen. Damit geht die Überwindung allzu enger Subjektauffassungen und die Anerkennung des Fremden im Eigenen gerade auch mit Blick auf Lebenswissen einher, durch die interrelationale Momente allen Lebens anerkannt werden. Dies bedeutet ohne Zweifel die Notwendigkeit von Aufbrüchen auch und gerade hinsichtlich verschiedener Kooperationsformen kreativen Schaffens, das – solange es der Ausschließlichkeit eines isolationistischen Paradigmas verpflichtet ist – den Anteil Anderer verdrängt und den Blick auf die vielfältigen Verbindungswege zwischen Texten und Leben sowie ihre soziale, historische und politische Wirkkraft gerade im Zusammenleben und gemeinsamen Gestalten der Lebenswelt verstellt. Studien wie Author-ity and Textuality. Current views of collaborative writing öffnen die vornehmlich isolationistische Perspektive hinsichtlich der literarischen Produktion hin zu seiner kollaborativen Dimension. Sie sehen in dem Widerstand gegenüber dieser über das Individuum hinausgehenden Dimension «[...] our generalized contemporary uneasiness with the complications of cultural (and
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Cixous: Preface, S. 15–22, S. 17. Constantine Sedikides und Marilynn B. Brewer (Hgg.): Individual Self, Relational Self, Collective Self. Philadelphia: Psychology Press 2002.
cross-cultural) convention/conviction (or in literary terms, intertextuality) as high court of appeals.»19 Paul John Eakin legt in How our lives become stories: making selves seine Vorstellung über eine relationale Identität und Autobiographie dar.20 Ausgehend von der Bedeutung von Intersubjektivität für die Ausbildung von Identität in der Entwicklung von Kindern, wie es Jessica Benjamin in The Bonds of Love: Psychoanalysis, Feminism and the Problem of Domination darlegt, weitet Eakin seinen Autobiographiebegriff aus.21 Das Konzept der Relationalität hat den Vorteil, dass es verschiedene Dichotomien zu transzendieren vermag wie etwa die von Subjekt/Objekt im Kontext der Autobiographien. Ausgehend von Nancy Chodorows Konzept der relationalen Identität von Frauen wurde Relationalität zunächst als Kennzeichen für Texte von Frauen herausgestellt.22 Im Kontext der feministischen Autobiographieforschung,23 auf die sich Eakin in seiner Studie bezieht, führte Susan Stanford Friedman den Begriff der «relational autobiography» ein und stellte diesen Georges Gusdorfs Vorstellung eines autonomen Individuums entgegen.24 Diesem normativ verwendeten Relationalitätsbegriff der feminitischen Identitätspolitik wird bei Eakin ein analytischer Gebrauch desselben vorgezogen.25 In How our lives become stories: making selves diskutiert Eakin Machtbeziehungen im Kontext von autobiographischem Schreiben und Geschlecht. Dabei erörtert er zunächst die Beziehung, die zwischen autonomen und relationalen Perspektiven hinsichtlich des autobiographischen Ichs entsteht [b]ecause autobiography creates the illusion of self-determination: I write my story; I say who I am; I create my self. The myth of autonomy dies hard, and autobiography
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James S. Leonard und Christine E. Wharton: Breaking the Silence: Collaboration and Isolationist Paradigm. In: Author-ity and Textuality. Current Views of Collaborative Writing. West Cornwall: Locus Hill Press 1994, S. 25–40, S. 37. Paul John Eakin: How our lives become stories: making selves. Ithaca/New York: Cornell University Press 1999. Jessica Benjamin: The Bonds of Love: Psychoanalysis, Feminism and the Problem of Domination. New York: Pantheon 1988. Nancy Chodorow: The Reproduction of Mothering: Psychoanalysis and the Sociology of Gender. Berkeley: University of California Press 1978; Carol Gilligan: In a Different Voice: Psychological Theory and Women’s Development. Cambridge: Harvard University Press 1982. Vgl. hierzu: Mary G. Mason: The Other Voice. Autobiographies of Women Writers. In: James Olney: Autobiography: essays theoretical and critical. Princeton: Princeton University Press 1980, S. 207–235; Sidonie Smith: A Poetic of Women’s Autobiography: Marginality and the Fictions of Self-Representation. Bloomington/Indianapolis 1987; Sidonie Smith und Julia Watson (Hgg.): De/Colonizing the Subject. The Politics of Gender in Women’s Autobiography. Minneapolis: University of Minnesota Press 1992; Susan Stanford Friedman: Women’s Autobiographical Selves. Theory and Practice. In: Shari Benstock (Hg.): The Private Self: theory and practice on women’s autobiographical writing. Chapel Hill: University of North Carolina Press 1988, S. 34–62. Eakin: lives, S. 47. Ebd.
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criticism has not yet fully addressed the extent to which the self is defined by – and lives in terms of – its relations with others.26
Eakin weitet den Begriff der Relationalität für die Interpretation von Autobiographien in der Weise aus, dass er ihm hilft, Autobiographie als eine Form zu konzeptualisieren, die binäre Oppositionen, die erst im Kontext der Diskussionen um männliche und weibliche Autobiographien entstanden sind, zu hinterfragen.27 Er gibt zu bedenken, dass hier ein binäres System männliche und weibliche Autobiographien trennt, um festzustellen, in welchem Rahmen sie zu deuten sind oder wie sie geschrieben wurden. Polarisierungen in diesem Feld führen dabei dazu, dass eine Differenz erst ensteht. Eakin entwickelt daraus einen Gedanken, der es ihm erlaubt, auch den Mythos eines autonomen, individuellen, universellen und einheitlich Männlichen als relational zu enttarnen und neu zu interpretieren und zeigt, dass «like women, men also are constructed by patriarchal ideology.»28 Diesen Gedanken entspringen eine Vielzahl von Fragen, die Smith in ihren Strategien zur Lektüre von Autobiographien wie folgt zusammenfasst und die in meine Lektüre von Memoria de la melancolía und La arboleda perdida einfließen werden: What others inhabit the text? Is there a significant other posited in the text through whom, to whom, or about whom the life narrative is narrated? Who or what is that other – a family member, friend, mentor, lover, or even a divine force? To what extent is the knowledge of that relation made apparent to the reader? Do we hear the voices of this other (or these others) explicitly in the text, or implicitly? When do the voices of the other emerge?29
Wenn sich, wie im Falle von León und Alberti, Identität relational denken und darüber hinaus ein «signifikanter Anderer» feststellen lässt und die Autobiographie und Biographie des Einen ohne die des Anderen kaum zu verstehen ist, bietet es sich an, den Terminus Auto/biographie zu wählen. Der Schrägstrich markiert nicht nur die fließenden Übergänge von Autobiographie und Biographie und verweist auf die Beziehungen beider Genres, sondern bezeichnet auch eine autobiographische Form, die Biographien in eine Autobiographie mit einflicht und umgekehrt.30 Wie Smith und Watson herausstellen, wählen zeitgenössische Autoren häufig Formen, die autobiographisches und biographisches Erzählen zu einer relationalen Geschichte vermischen.31 Dies liegt auch bei León und Alberti vor, denn die Konstituierung des Subjekts, das als Ich seine Geschichte schreibt, das sagt, wer es ist, sich im Schreiben hervorbringt und damit die Illusion einer Selbstbestimmtheit schafft, entwickelt sich nicht nur entlang einer Geschichte
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Ebd., S. 43. Ebd., S. 48. Ebd., S. 49. Sidonie Smith und Julia Watson: Reading autobiography: a guide for interpreting life narratives. Minneapolis/London: Univ. of Minnesota Press 2001, S. 176. Ebd., S. 184. Ebd.
vielfältiger Begegnungen (mit Menschen, Büchern, Orten), die das Ich begleiten, prägen, durchdringen und Momente offenbaren, die die autobiographische Subjektkonstitution unterlaufen, bestätigen, ergänzen, maskieren, sondern vor allem entlang einer über Jahrzehnte dauernden Paarbeziehung, die im Schreiben beider Autoren ihre Spuren hinterließ. Schließlich sei mit Eakin vermerkt, dass das geschriebene Leben in vielen Fällen am Ende eines lebenslangen Prozesses der Identitätsbildung steht, während dessen bereits eine Vielzahl von Darstellungen von einem selbst oder von Anderen herausgebildet worden sind und sich vielleicht sogar miteinander im Widerstreit befinden. Eakin empfiehlt daher von «registers of self and self-experience» zu sprechen und führt insoweit aus: «[...] for there are many stories of self to tell, and more than one self to tell them.»32 Das autobiographische Schreiben verleiht als Bestandteil eines umfassenden narrativen Prozesses diesem in einem konkreten Moment Ausdruck und erzählt eine mögliche Geschichte des Lebens, die das Subjekt und seine Erfahrungen nicht als «given, monolithic, and invariant, but dynamic, changing, and plural»33 erscheinen lässt. Wie bereits angedeutet, liegt ein besonderer Fall von Relationalität vor, wenn das auto/biographische Schreiben von Paaren betrachtet wird, das sich in zwei unterschiedlichen Texträumen entwickelt. Relationale Momente gestalten den autobiographischen Text und das in ihm in Erscheinung tretende Subjekt entscheidend, und obgleich eine Autonomie auf übergeordneter Ebene mit der Materialität der Autobiographie als Buch und als eigenem Textraum (versehen mit Namen und Titel) eingefordert wird, bedeutet dies eben nicht, dass dieser eigene Textraum nicht in einem transgressionalen auto/biographischen Schreiben überschritten werden kann oder sich hin zu anderen Text- und Lebensräumen öffnet. Diese Überlegungen sind für die weitere Annäherung an die Analyse der Stereophonie wesentlich, die es erlauben soll, Autobiographien von Paaren wie Memoria de la melancolía und La arboldeda perdida in ihrer Erscheinung als voneinander getrennte Texträume und in Beziehung stehend wahrzunehmen, um eben dieses Verhältnis gewinnbringend auszuloten. Zu diesem Zweck ist es sinnvoll, nun den Begriff der Bi-Textualität einzuführen, um die Relationalität in literarischen Paarbeziehungen mit ihrem komplexen Verhältnis von personellen und textuellen Bezügen noch konkreter fassen zu können.
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Eakin: lives, S. xi. Ebd.
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1.2.
Autobiographien von Paaren: Textuelle und ethische Implikationen
1.2.1. Bi-Textualität als Voraussetzung der Analyse autobiographischen Schreibens in Paarbeziehungen Ernst Leisi untersucht in seiner 1978 erschienenen soziolinguistischen Studie Paar und Sprache die Bedeutung von Sprache in Paarbeziehungen, die «ohne Zweifel zu den wichtigsten Beziehungen, deren der Mensch fähig ist»34 gehören. Neben seinen Ausführungen zum Privatcode von Paaren ist das Kapitel «Lieben nach Texten» im Rahmen dieser Arbeit von Interesse.35 Hierin beschreibt er die Wirkkraft der Literatur mit ihren «Formen von Identifikation» und darin den Bezug von Literatur und Leben, den er am ehesten als dialektisches oder zirkuläres Verhältnis versteht.36 Unzählig sind die Paarbeziehungen, die wir in Romanen dargestellt finden. Sie auf ihr spezifisches LiebesLebenswissen hin zu befragen, wäre eine herausfordernde Analyse. In dieser Studie werden jedoch die Paare ins Zentrum gerückt, die sich aus dem Vollzug des eigenen Lebens heraus in ihren autobiographischen Texten zeigen. Allgemein lässt sich die Beziehung von «schreibenden Paaren» 37 mit den Worten Annegret Heitmanns in der Weise beschreiben, dass sich diese über Texte und in Texten [konstruieren]. Bezogen auf die besondere Art der Schreibposition von Paaren umschreibt Bi-Textualität das Problem einer doppelten, auf ein Gegenüber bezogene Autorschaft, die auf vielfältige Weise dialogisch, komplementär, konkurrierend, kongenial, korrespondierend, spiegelbildlich, symbiotisch und synthetisierend angelegt sein kann.38
Autobiographien von Paaren stellen einen spezifischen Fall dieser Bi-Textualität dar. Paare sind in besonderer Weise herausgefordert, sowohl den eigenen Autonomiebestrebungen als auch einer oftmals tiefen literarischen und personellen Verbundenheit im autobiographischen Schreiben gerecht zu werden und nicht
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Ernst Leisi: Paar und Sprache: linguistische Aspekte der Zweierbeziehung. Heidelberg: Quelle und Meyer 1978, S. 7. Ebd., S. 74–109. Ebd., S. 77. Gerda Marko: Schreibende Paare. Liebe, Freundschaft, Konkurrenz. Zürich/Düsseldorf: Artemis und Winkler 1995, S. 11. Bei diesem Buch, aus dem ich die Bezeichnung «schreibende Paare» übernommen habe, handelt es sich um eine der wenigen aber umfassenden Studien zu diesem Phänomen. Annegret Heitmann u.a.(Hg.): Bi-Textualität. Inszenierung des Paares. Berlin: Erich Schmidt 2001, S. 15. Relevant sind in diesem Kontext vor allem auch Gislinde Seybert (Hg.): Das literarische Paar – Le couple littéraire. Intertextualität der Geschlechterdiskurse/Intertextualité et discours des sexes. Bielefeld: Aisthesis Verl. 2003 und die Ausführungen von Arthur Aron und Tracy MyLaughlin-Volpe: Including Others in the Self. Extensions to Own and Partner’s Group Memberships. In: Sedikides und Brewer: Individual Self, Relational Self, Collective Self, S. 89–108.
zuletzt «in der verschlingenden Ausschließlichkeit des Schreibens Raum zu lassen für die Liebe.»39 Damit sind sie nicht nur für die aktuellen Diskussionen um die relationale und kollaborative Dimension autobiographischen Schreibens von Interesse, sondern auch hinsichtlich eines spezifischen Zusammenlebenswissens innerhalb der Paarbeziehung und des Paares mit seiner es umgebenden Lebenswelt. Und dies vor allem dann, wenn es sich wie bei der Paarkonstellation León und Alberti um eine Paarbeziehung handelt, die sich im Kontext von Krieg und Exil herausbildete und ein komplexes textuelles Beziehungsgeflecht entstehen ließ. Da beide ihre jeweiligen Lebensentwürfe in getrennten Texträumen ausgestalteten, geht es zunächst um die Klärung der Frage, wie diese (räumliche) Getrenntheit – es hätte auch ein gemeinsamer Textraum gewählt werden können –, die Vielfalt an Vernetzungsmöglichkeiten mit dem jeweils anderen Textraum sowie eine Zusammenschau der Texte beschrieben und analysiert werden können, d.h. um die Erarbeitung eines Analysemodells. Denn weder traditionelle Auffassungen von Autobiographie als Beschreibung des Lebens eines Einzelnen durch sich selbst, die an ein autonomes Subjekt gebunden sind, noch Aussagen, die allein relationale Momente von Autobiographien betonen, reichen aus, um dieses Phänomen zu beschreiben. In dieser Analyse sollen deshalb die drei oben genannten Dimensionen (Analyse der jeweiligen Texträume, Vernetzungsmöglichkeiten und Zusammenschau) berücksichtigt werden. Damit wendet sich die Studie von punktuellen Vergleichen einzelner gemeinsam verarbeiteter Anekdoten ab, geht vielmehr hierüber hinaus und fragt nach den Dynamiken innerhalb und zwischen den Texten, die (a) entlang der Autobiographien erkennbar sind und (b) neben den jeweiligen Lebensformen und dem jeweiligen Leben Formen (Leben(s)formen) Momente der literarischen Interaktion deutlich werden lassen. Konstruktivistische und lebensweltliche Aspekte werden auf diese Weise gleichermaßen berücksichtigt und sowohl das konstruierende als auch das konstruierte Subjekt/Paar in Augenschein genommen. Bevor die zu diesem Zweck entwickelte Methode eingehender beschrieben wird, gilt es auf einen ethischen Aspekt einzugehen, den der Begriff der Bi-Textualität berührt, der hier «als Klammer für all das, was die Konstellation schreibender Paare im Spannungsfeld von Lebenswelt und textueller Verfaßtheit ausmacht»40, verwendet wird. 1.2.2. Ethische Implikationen autobiographischen Schreibens Als León und Alberti im April 1977 aus dem Exil nach Spanien zurückkehrten, waren die Anzeichen der Alzheimererkrankung Leóns bereits deutlich erkennbar. Der Austausch des Paares war durch die gesundheitliche Situation Leóns, aber auch durch eine emotionale Entfremdung beider eingeschränkt. Eakin weist in
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Gerda Marko: Schreibende Paare, S. 11. Heitmann: Bi-Textualität, S. 15.
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Breaking the Rules auf die Allgegenwärtigkeit von «narrative identity disorders» hin, die mit Blick auf Autobiographien deutlich werden lassen, dass a narrowly conceived literary approach to autobiography failed to engage much of the most important work it performs in the world. Autobiography is, to be sure, a literary discourse, a discourse of fact and a discourse of fiction, but even more fundamentally, I’ve been urging, it is a discourse of identity.41
Was bedeutet es vor dem Hintergrund Eakins Aussage, wenn jemand zu einer self narration nicht mehr fähig ist oder sie abbricht?42 Im Falle Leóns, die ihre Autobiographie mehrbändig angelegt hatte, riss dieser Identitätsdiskurs ab und damit die Möglichkeit, ihren Entwurf über ihr Leben fortzuführen. Damit war eine Asymmetrie im Verhältnis zu Alberti vorprogrammiert, die sich – und das ist für den Kontext dieser Arbeit entscheidend – auch im Schreiben niederschlug, denn während León verstummte, schrieb und publizierte Alberti noch drei weitere Bücher seiner Autobiographie. Die Verletzlichkeit des Subjekts durch Krankheit fasst Thomas Couser in dem Ausdruck «vulnerable subjects» zusammen.43 Die Möglichkeit, dieser Verletzlichkeit im Schreiben zu begegnen, wird von ihm wie folgt dargestellt: The other is that many conditions – among them Tourette’s syndrome, obsessive compulsive disorder, autism, amyotrophic lateral sclerosis, and even Alzheimer’s disease – have generated small numbers of narratives. Those who represent their own experiences with disability are often consciously countering ignorance about or stigmatization of their conditions. In any case, insofar as they initiate and control their own representation, they become less vulnerable subjects. Indeed, their narratives may seek to reduce their vulnerability to preinscribed narrative.44
León war mit der von ihr verfassten Autobiographie sicher «less vulnerable» doch ihre gesundheitliche Situation verhinderte, dass sie sich weiter im Schreiben auszudrücken vermochte, während die ihr nahestehenden Personen in diesem freigewordenen Raum mit ihr und für sie zu sprechen begannen. Die daraus resultierenden Konflikte sollen hier mit den Worten Cousers zusammengefasst werden und in die weitere Analyse der Arbeit einfließen: Such representation poses ethical problems, especially when the conditions in question render the subjects unable to represent themselves or even to collaborate in an informed way with others who undertake to represent them. Individuals with disabilities that preclude or interfere with self-representation are thus doubly vulnerable subjects. Often, narratives about them are produced by people in preexisting intimate relations with them:
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Paul John Eakin: Breaking Rules: The consequences of self-narration. In: Biography 24, 1 (Winter 2001), S. 113–127. Ebd., S. 124. Vgl. G. Thomas Couser: Vulnerable Subjects. Ethics and Life Writing. Ithaca/London: Cornell University 2004. G. Thomas Couser: Paradigm’s Cost: Representing vulnerable subjects. In: Literature and Medicine 24, 1 (Frühling 2005), S. 19–30, S. 20.
parents, siblings, spouses, and now, with the advent of Alzheimer’s narratives, adult children. [...] All such narratives involve great risk of invasion of privacy.45
In The Ethics of Life Writing wird dieser Aspekt mit Blick auf die Frage nach der ethischen und moralischen Dimension von Leben Schreiben46 diskutiert und die Funktionen von Leben Schreiben als ein «forum for the individual’s claims to freedom and dignity» und damit verbunden als «testimony» herausgestellt, whether addressing programmatic totalitarian assaults on those values – during the periods of the Holocaust, for example, the Soviet gulags, the Chinese Cultural Revolution – or more personal threats to the integrity of the person, such as illness and disability.47
In diesem Kontext fragt Eakin, ob man eine Geschichte [story] haben müsse, um eine Person zu sein und antwortet selbst darauf: The question isn’t as odd as it sounds, for in countries with aging populations, more than a few individuals, suffering Alzheimer’s disease and other forms of senile dementia and memory loss, reach a point where they can no longer tell their stories. [...].48
Die Ausführungen Eakins sind auch auf übergeordneter Ebene relevant, so etwa wenn Gemeinschaften und Staaten – symbolisch gesprochen – an Formen des Gedächtnisverlustes leiden und Geschichte(n) verdrängen, vergessen oder ausgrenzen und mit ihnen Individuen oder ganze Gruppen zum Schweigen verurteilen. Das Leben Schreiben kann in der Hinsicht einen «Akt des Widerstandes» darstellen, indem es individuelle und kollektive «Gegengeschichten» generiert und vermittelt.49 Das (gem)einsame Literarisieren, Aneignen und Vermitteln von LebensGeschichte(n) im Schreiben – ob auf individueller oder kollektiver Ebene – ist ein ernsthaftes Spiel, das in dem Moment zur Disposition steht, wenn einer der Beteiligten nicht mehr selbst seine/ihre Version des Geschehenen zu verhandeln vermag. Es ist unmöglich, die eigene Geschichte ohne den/die Andere(n) zu erzählen, denn «autobiography is necessarily heterobiography as well because one can rarely if ever represent one’s self without representing others.»50 Dieses allgemein formulierte relationale Moment von Autobiographien impliziert Fragen, die in Analysen berücksichtigt und fruchtbar gemacht werden sollten. Das autobiographische Schreiben von Paaren stellt einen besonderen Untersuchungsgegenstand dar und verpflichtet diesen, ästhetischen, ethischen und politischen Fragen im
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Ebd., S. 20. Leben Schreiben wird hier in Anlehnung an den englischen Begriff Life writing verwendet «[a]n overarching term used for a variety of nonfictional modes of writing that claim to engage the shaping of someone’s life.» Smith/Watson: Reading autobiography, S. 197. Paul John Eakin: The Ethics of Life Writing. New York: Cornell University Press 2004, S. 5f. Ebd. Ebd., S. 11ff. Couser: Vulnerable Subjects, S. x.
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Rahmen einer konkreten bi-textuellen Beziehung Aufmerksamkeit zu schenken, um die herausfordernden Momente narrativer Formung von Leben sichtbar werden zu lassen, die sich in einer Analyse der Vernetzung, ‹Zweikanaligkeit› und Zusammenschau von Autobiographien zeigen.
1.3.
Stereophonie der Autobiographie: Begriff und Vorgehensweise
1.3.1. Der Begriff der Stereophonie Mit der Stereophonie wird in der Akustik ein spezifischer Effekt erreicht, der mittels einer konkreten Aufnahme- und Übertragungstechnik mit Hilfe von zwei oder mehr Schallquellen einen spezifischen räumlichen Klangeindruck erzeugt: Stereophonie (griech.: Raumklang), Abk.: Stereo. Die Übertragung, Speicherung und Wiedergabe von Klangsignalen auf zwei getrennten Kanälen, die im Gegensatz zur Monophonie einen Eindruck von der räumlichen Verteilungen der Klangquellen (nämlich mindestens ihrer Verteilung zwischen rechts und links) vermitteln. Bei der Stereophonie werden alle Übertragungsglieder (Mikrophon, Tonspur, Verstärker, Lautsprecher usw.) doppelt benötigt.51
In anderen Einträgen wird der differenziertere Klangeindruck, der durch die Verwendung von zwei Kanälen gegenüber der Monophonie erreicht wird, so beschrieben, dass ein «höheres Maß an Transparenz, Plastizität und klangl. Differenziertheit erreicht wird.»52 Im Folgenden soll geprüft werden, auf welche Weise sich der Begriff der Stereophonie zur Beschreibung des Verhältnisses zwischen zwei Autobiographien anwenden lässt. In Le pacte autobiographique betrachtet Lejeune die Autobiographien von Gide und Mauriac im Kontext ihrer Romane und beschreibt diese unterschiedlichen (hinsichtlich ihrer Materialität und Literaturform) Texträume in ihrer Beziehung zueinander. Indem sich die Autoren zweier Genres (Roman und Autobiographie) gleichermaßen bedienen, können sie eine «vision double» oder «écriture double» als Effekte einer «stéréographie» schaffen. Das heißt, dass eine Genre wird genutzt, «par rapport à l’autre.»53 Wie gestaltet sich die Situation, wenn es nicht allein um den Bezug zum eigenen Schreiben geht und – wie in den von Leujene angeführten Fällen – die Autobiographie nicht nur als Echoraum des eigenen Werkes, z.B. als Gedächtnis der eigenen Literatur, fungiert? Wenn also eine «Stereographie» praktiziert wird, um sich auf einen ‹fremden› Textraum zu beziehen und der Textraum eines Autors in Richtung des Textraumes eines anderen überschritten wird? Die Autoren können dann – in Anlehnung an Lejeunes stéréographie-Begriff – im autobiographischen Schreiben die Grenzen hin zu einem anderen Text überschreiten, mit
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Gerhard Dietel: Wörterbuch der Musik. München: Bärenreiter-Verlag 2000, S. 290. Hans Heinrich Eggebrecht (Hg.): Meyers Taschen-Lexikon Musik: in 3 Bänden. Bd. 3. Mannheim/Wien/Zürich: Bibliographisches Institut 1984, S. 208. Lejeune: Le pacte autobiographique, S. 42.
diesem anderen Text in Beziehung zu treten und darauf gegründet à deux voix in zwei getrennten Texträumen (gem)einsam Leben schreiben. Drei wesentliche Momente lassen sich daran anknüpfend und mit Blick auf die hier im Zentrum des Interesses stehende Stereophonie hervorheben: (a) die intertextuellen und -personellen Beziehungen in und zwischen den jeweiligen Autobiographien, (b) die individuelle Ausgestaltung der jeweiligen Autobiographie in Rückbindung an für beide relevante Themen und schließlich (c) der Effekt einer gezielten Zusammenschau des inhaltlichen und formalen Zusammenspiels zweier Autobiographien. Die Stereophonie der Autobiographie kann in diesem Sinne als umfassende literarische Erscheinung wahrgenommen und beschrieben werden, die sich auf eine – vermittels zweier getrennter, aber zusammen spielender Kanäle – (gem)einsam geleistete sprachliche Speicherung, Übertragung und Wiedergabe von Leben gründet. Diese Form des literarischen ZusammenSpielens führt zu einer differenzierteren Ausgestaltung von (gem)einsamen Erfahrungen. Die gilt es ebenso differenziert wahrzunehmen wie die daraus resultierenden Effekte (gem)einsam (trans)formierten Lebens, die nicht zuletzt die Lesenden subtil dazu auffordern, die jeweiligen Autobiographien mit «schielendem» Blick auf das Leben und den Text des/der Anderen zu lesen und den Weg für eine umfassende Begegnung mit relationalen Autobiographien aus Paarbeziehungen zu ebnen. 1.3.2. Vorgehensweise Wenn Autobiographien von Paaren und ihre Beziehung zueinander als materiell getrenntes, aber textuell räumlich ausgedehntes und ineinandergreifendes Schreiben untersucht werden sollen, muss über das Vorangegangene hinaus davon ausgegangen werden, dass sich beide Beteiligten nicht nur auf gemeinsam erlebte Ereignisse beziehen, sondern wechselseitig den Text und die Stimme des/ der Anderen aufgreifen, um das eigene literarisierte Leben zu kontrastieren, zu bestätigen und zu erweitern. León verweist in Memoria de la melancolía auf die Tatsache, dass sie ihre Geschichten immer wieder erzähle. Bevor Memoria de la melancolía entstand, wurden also in einer Vielzahl von Gesprächen mit der Familie und Freunden Entwürfe der Lebensgeschichte vorgeprägt. Dieser Gedanke geht auf die eingangs bereits angedeutete soziale Dimension jeden Erzählens und Schreibens zurück, denn [o]f course, with writers, this kind of thing happens all the time in a very casual, informal way. We nearly always discuss our writing with others, and frequently something they say or something we say as a result of something they say leads us to a new insight.54
Ich folge den Ausführungen Harris’, die am Ende ihres Artikels darauf verweist, dass, wenn man einmal diese kollaborative Dimension anerkannt habe, man sich den viel wichtigeren Fragen nach dem Ergebnis kollaborativen Schreibens zu-
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Ebd., S. 81.
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wenden könne.55 Eine politische Konnotation, die dem Begriff der Kollaboration zugeschrieben werden kann, ist hinsichtlich der politischen Dimension des Schreibens bei León und Alberti dabei durchaus passend. Wenn man Literatur allgemein «als ein sich wandelndes und zugleich interaktives Speichermedium von Lebenswissen»56 versteht, so ist es unabdingbar, die damit einhergehenden relationalen Momente mit zu berücksichtigen und die Frage nach den in den Autobiographien, die aus einer konkreten (literarischen) Beziehung heraus entstanden sind, erkennbaren Leben(s)formen und Lebenswissen zu stellen und zu beantworten. Der Begriff der Stereophonie lässt sich unter Einbeziehung von Leben(s)formen und Lebenswissen und mit Blick auf die Autobiographien von Paaren nun weiter präzisieren, wobei bei seiner Entwicklung und Anwendung Mieke Bals Verständnis von Begriffen57 und ihrer Funktion im Allgemeinen gefolgt wird. Im Zusammenhang mit den Autobiographien von Paaren kann somit der Begriff der Stereophonie fruchtbar gemacht werden, um in zwei voneinander getrennten, aber aufeinander bezogenen und beziehbaren Texträumen das interaktiv, im Verlauf eines gemeinsamen Lebens und ausgehend von konkreten Lebensformen im Schreiben generierte, gespeicherte und übertragene Lebenswissen zu erfassen. Das Ergebnis einer sich an diese Definition anschließende Analysepraxis, die darüber hinaus auf die Zusammenschau zweier unterschiedlicher Texträume ausgerichtet ist und Aspekte des gemeinsamen Erscheinens in den Vordergrund rücken will, wird ferner einen Stereophonieeffekt von Autobiographien einkalkulieren müssen, der – intendiert oder nicht – hervortreten und seine Wirkkraft entfalten kann. In Orientierung und Anknüpfung an diese Definition des Begriffs der Stereophonie wird eine analytische Vorgehensweise zur Betrachtung der hier vorliegenden Autobiographien vorgeschlagen, die sich in zwei Schritten vollzieht: In einem ersten Schritt wird die Beziehung, wie sie in den jeweiligen Autobiographien zum Text und Leben des/der Anderen geknüpft wird und im Zusammenhang mit der jeweiligen Darstellung der Liebesbeziehung erscheint, betrachtet (Kapitel 3. Berührungen: Choreographie eines Discursus der Liebe in Memoria de la melancolía und La arboleda perdida). Auf diese Weise sollen Versionen einer (gem)einsamen Choreographie der LiebesLäufe deutlich gemacht werden.
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«Once we have accepted collaboration as a legitimate form of authorship for all types of discourse, we can turn our attention to even more interesting questions about the result of collaborative writing – a subject that has only begun to be explored.» Jeanette Harris: Toward a Working Definition of Collaborative Writing. In: Leonard: Author-ity and Textuality, S. 77–84, S. 84. Ette:Überlebenswissen, S. 13. «Begriffe sind allerdings nichts ein für allemal Feststehendes. Sie wandern: zwischen den Fächern, zwischen einzelnen Wissenschaftlern sowie zwischen historischen Perioden und geographisch verstreuten akademischen Gemeinschaften.» Mieke Bal: Kulturanalyse. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, S. 7–27. Mir scheint jedoch, dass Begriffe auch in den einzelnen Studien zu wandern beginnen, wo sie sich nach und nach entfalten. So jedenfalls betrachte ich das Wandern und Wachsen meines Begriffs der Stereophonie entlang meiner Analysen, die neue Aspekte des Begriffs hervorbringen.
Dies ist notwendig, um zunächst die von dem Paar selbst intendierten Schnittstellen zwischen den Autobiographien sichtbar werden zu lassen und zu analysieren. Bestandteil der Analyse ist es festzustellen, wo sich beide Leben berühren, verwickeln, wegstoßen oder vereinen, um relationale Dimensionen im Leben und Schreiben des Paares wahrzunehmen und hinsichtlich ihrer gestalterischen Wirkweisen zu erkennen. Diese erste Stufe meiner Untersuchung bezeichne ich als choreographische Analyse. Dem schließt sich der zweite Analyseschritt an, bei dem die ausführliche Untersuchung der jeweiligen Autobiographien im Zentrum des Interesses steht (Kapitel 4. Paarbildungen: Leben(s)formen|Lebenswissen). Diese wird sich ausgehend von für die Autobiographien beider Autoren relevanten Kategorien mit Blick auf Leben(s)formen und Lebenswissen entfalten. Das Vorgehen gestaltet sich dabei in der Weise, dass jede Kategorie als Lebensform und -formung und Lebenswissen jeweils innerhalb von La arboleda perdida und Memoria de la melancolía untersucht wird. Eine Besonderheit ist, dass nicht das Schema: Leben(s) formen: AP MM/Lebenswissen: AP MM gewählt wird, sondern der zweite Strang zum Lebenswissen zunächst an die vorangegangenen Ausführungen zu Memoria de la melancolía anknüpft und somit bei dem Text Leóns verweilt, um dann erst wieder zu La arboleda perdida zurückzukehren, woraus sich das folgende Schema Leben(s)formen: AP MM/Lebenswissen: MM AP ergibt. Die zweite Kategorie beginnt dann mit La arboleda perdida und schließt somit an den letzten Abschnitt der vorangegangenen Kategorie zum Lebenswissen an. Spiralförmig werden somit die verschiedenen Stränge betrachtet und dabei Übergänge zwischen den einzelnen Kategorien, Leben(s)formen und Lebenswissen und den beiden Texten geschaffen. Darüber hinaus wird mit diesem Schema ein zu häufiges Springen zwischen den Texten vermieden und der Wechsel für die Lesenden sanfter gestaltet. Diesen Teil der Gesamtanalyse bezeichne ich als bifilare, das heißt zwei Untersuchungssträngen folgende Analyse. Am Ende der Studie werden die Ergebnisse der choreographischen und bifilaren Analyse in den Schlussbemerkungen in einer Zusammenschau gebündelt, um erschließen zu können, welche spezifischen Effekte im Kontext der Stereophonie der Autobiographie erkennbar werden. Dieses Ergebnis ist insofern von Bedeutung, als es die Wahrnehmung und Lektüre der Texte – etwa als sich komplementär ergänzende – zum Teil unbewusst prägte und prägen kann. Die im Kontext dieser Paarkonstellation entstandenen Autobiographien auf die hier beschriebene Weise zu untersuchen wird bisherige Interpretationen weiterführen, kritisch hinterfragen und neue Perspektiven in diesem spezifischen Fall – aber auch allgemein – eröffnen und das Leben über Leben, das gedoppelte Leben, sichtbar werden lassen, das als Überlebensform Überlebenswissen bereitzustellen vermag.58 Méthodos: Von der Theorie zur Stereophonie markiert somit einen Raum, der in dieser Studie durchschritten wird und die sich von der hier vollzogenen
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Ette: ÜberLebenswissen, S. 171.
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theoretischen Reflexion des Begriffes Stereophonie hin zu seiner praktischen Anwendung und zu dem zu beschreibenden durch ihn ablesbaren Effekt bei der Lektüre zweier aus einer Paarbeziehung heraus entstandener Autobiographien erstreckt.
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2. Annäherungen: Zwei TextLeben begegnen
2.1.
Zu den (Auto)Biographien von María Teresa León und Rafael Alberti
Unter den vielen Photographien, die von Rafael Alberti und María Teresa León existieren, sind es die Aufnahmen von Carles Fontseré aus dem Jahr 1971, die eine eigentümliche und schwer zu greifende Atmosphäre verbreiten.1 Beide scheinen Fontseré in seiner Tätigkeit des Photographierens kaum wahrzunehmen und folgen vertieft den von ihnen ausgeführten Handlungen. Dabei erwecken die Bilder den Eindruck, dass es zwischen den beiden selbst still geworden ist, umso mehr fällt der Gleichklang und die Einheitlichkeit in dem Ausgeführten auf. Die Distanz in der Nähe, die in den parallel wirkenden Handlungen zum Ausdruck kommt, ist es vielleicht, die irritiert und die offensichtliche Vertrautheit im (gem)einsamen Agieren befremdlich macht. Einen ähnlichen Eindruck hinterlässt die Lektüre der autobiographischen Texte des Paares, ohne dass dieser sogleich näher beschreibbar wäre. Die Bilder scheinen mit dem einherzugehen, was Alberti in La arboleda perdida für die Texte formuliert: die Parallelität der Autobiographien, die in der Erzählung von gewissen Momenten, Anekdoten und Episoden des gemeinsamen Lebens begründet zu liegen scheint (AP II, 65). Dieses harmonisierende Bild des Gleichklangs, der Parallelität und Einheit, wie es von beiden Autoren mitgeprägt wurde und sich etwa in Bildern von Fontseré fortsetzt, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich auch die literarisierte LebensFührung nicht allein auf die Parallelität – weder der Lebenswege noch der Texte – reduzieren lässt. Doch gerade in der Differenz oder vielmehr in der Vielfalt der Verarbeitung (gem)einsam erfahrenen Lebens, wie sie sich in den aus dieser Paarbeziehung entstandenen Autobiographien zeigt, kann ein besonderer Erkenntnisgewinn liegen, wenn man die Texte auf das in ihnen, mit ihnen und durch sie generierte und vermittelte Lebenswissen hin befragt. Dieses Wissen vom Leben, das aus dem Vollzug des Lebens und Schreibens gewonnen wurde, ist auch ein Wissen über dessen vielfältige narrative Ausgestaltungsmöglichkeiten, derer sich beide bedienten, um es jeweils zur Darstellung zu bringen.2 Die Herausforderung bei
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Die Bilder, auf die ich mich hier beziehe, sind in dem folgenden Buch abgedruckt: Olga Álvarez de Armas (Hg.): María Teresa León. Memoria de la hermosura. Madrid: Fundación autor 2005, S. 148–160. Bei der von Álvarez de Armas koordinierten Sammlung von Bildern und Essays über León handelt es sich um die anschaulichste Darstellung des Lebens der Schriftstellerin, die darin umfassend und vielstimmig gewürdigt wird. Ette verweist auf diesen Aspekt, denn «[d]ie ästhetische Dimension des Schreibens meint nichts Ornamentales, sondern ist gerade in der Unabschließbarkeit der von ihr
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der Lektüre liegt darin, das Bild des Paares als Einheit (etwa im Kampf gegen den Faschismus) und seine übrigen Facetten, der Differenzen oder Ambivalenzen, zu lesen, da sich letzteres wie zu zeigen sein wird nicht ohne Weiteres in das für den politischen Diskurs des Paares geformte Bild einfügt, woraus meines Erachtens die Spannung bei der Betrachtung von Bildern und Texten resultiert. Gina Herrmann weist darauf hin, dass Alberti und León hinsichtlich ihrer Erinnerungstexte angeklagt werden könnten, Erinnerung zu politischen Zwecken manipuliert zu haben.3 Bei der Lektüre der Autobiographien des Schriftstellerpaares besteht allerdings in keinem Moment ein Zweifel über ihre politische Motivation etwa für die SpanierInnen im Exil zu schreiben, weshalb es die Frage ist, inwieweit von einer «Manipulation», das heißt von einer «verborgenen» Einflussnahme, der Erinnerung gesprochen werden kann. Deshalb ist es bedeutsam, nicht nur die Spannungen, die sich aus der Betrachtung des Paares ergeben, sondern auch die (Re-)Inszenierungstendenzen offen zu legen, die mit Blick auf die Rezeption der (Auto)Biographien Leóns und Albertis die Dominanz des einen oder anderen Paarentwurfes deutlich werden lassen. Dieses dient zugleich meiner eigenen Positionierung zu den beiden TextLeben, die der Analyse zugrunde liegen wird und für die Lesenden soweit wie möglich sichtbar gemacht werden soll. 2.1.1. (Myth)Making of María Teresa León und Rafael Alberti In politischer und gesellschaftlicher Hinsicht bewegten sich León und Alberti zeit ihrer Leben innerhalb eines auf binären Oppositionen basierenden und operierenden Systems, das seine Bevölkerung in Gewinner und Verlierer aufteilte und über die Grenzen Spaniens hinaus wirksam war. Die Spanien Verlassenden waren herausgefordert, sofern sie die Flucht überlebten, auf neue Lebensbedingungen zu reagieren und aus diesen heraus die verschiedenen Formen von Identitätsarbeit zu erproben, die einer Identitätsstiftung im Exil dienten, wie es sich unter anderem anhand der Autobiographien Leóns und Albertis nachvollziehen lässt. Doch bevor dies in dem hier vorliegendem Fall geschah, entfalteten sich von Burgos im Jahre 1903 und El Puerto de Santa María im Jahre 1902 aus zwei LebensLäufe, die sich in den 20er Jahren in Madrid begegnen sollten.4
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in Gang gesetzten oder noch in Gang zu setzenden Bedeutungsprozesse selbst Wissen vom Leben in narrativer Form.» Ette: ÜberLebenswissen, S. 12. Gina Herrmann: Nostralgia: María Teresa León, Rafael Alberti, and the Memory of Absence. In: Revista Hispánica Moderna 54, 2 (Dezember 2001), S. 327–347, S. 340. Es liegen bereits einige Kataloge vor, die sich allein und ausführlich Leóns und Albertis Leben in Bild und Text widmen. Dazu gehören vor allem: Rafael Alberti. Un siglo de creación viva. Catálogo exposición permanente. Fundación Rafael Alberti 2000; Rafael Alberti en su siglo – Madrid, centro di Arte Reina Sofia. Entre el clavel y la espada. Catálogo. Madrid/Sevilla 2003/04; Olga Álvarez de Armas: María Teresa León. Memoria de la hermosura. Madrid: fundación Autor 2005; María Teresa León. Memoria de un compromiso 1903–2003. Burgos: Fundación Instituto Castellano y Leonés de la lengua 2004.
Die für ihre Schönheit gepriesene Tochter aus gutem Hause des Oberst Ángel León Lores und Oliva Goyri de la Llera, María Teresa León Goyri, die zugleich die Nichte des berühmten spanischen Philologen Ramón Menéndez Pidal und María Goyri war, traf in Madrid den jungen Dichter aus Andalusien, Rafael Alberti Merello, der mit Marinero en tierra seinen ersten dichterischen Erfolg feierte und bereits zum aktiven Teil der sog. 27er Generation5 geworden war. Die Tochter des Oberst, die am 31. Oktober 1903 in Logroño geboren wurde, verbrachte ihre Kindheit zusammen mit ihrem Bruder Ángel in Madrid und ihre Jugend in Burgos. León, die bereits mit 17 Jahren verheiratet wurde und aus jener ersten Ehe zwei Söhne hatte, war zum Zeitpunkt ihrer Begegnung mit Alberti selbst bereits eine bekannte literarische Persönlichkeit, die sich zunächst unter dem Pseudonym einer Heldin D’Annunzios, Isabel Inghirami6, als Journalistin und mit ihren Cuentos para soñar (1928) und La Bella del mal amor. Cuentos castellanos (1930) als Schriftstellerin hervorgetan hatte.7 Darüber hinaus hatte sie zu diesem Zeitpunkt bereits an zahlreichen Konferenzen teilgenommen, in denen sie über «das Kind in der Literatur» oder wie bei einer Konferenz in Argentinien über «die Frau im Haus und im Leben» sprach.8 Alberti hingegen verbrachte zunächst seine Kindheit in Andalusien in dem kleinen Städtchen El Puerto de Santa María. Die gaditanische Bucht und das Meer prägten den späteren Dichter entscheidend. Als er 1917 mit seiner Familie nach Madrid ziehen musste, litt er sehr an der Aufgabe seines Heimatortes. In Madrid entdeckte er seine Leidenschaft für die Farben und das Prado Museum mit seinen Kunstschätzen wird zum Zufluchtsort des jungen Mannes, der in Madrid erst zum Maler und dann zum «Dichter der Straße» avancierte. Seine dichterische Stimme, die sich bald im Kontakt mit den poetischen Strömungen seiner Zeit umfassend entwickelte, fand Alberti im Angesicht des Todes seines Vaters. Seine Verbundenheit mit der Resi9 und der aus ihr hervorkommenden Generation von Dichtern prägte ihn bis zum Ende des Spanischen Bürgerkrieges und über diesen hinaus. Alberti fügte sich bald in den Rhythmus der Stadt ein, entwickelte sich zu einem Autodidakten, der sich in der Malerei und Dichtung hervortat und mit Marinero en tierra den Premio Nacional de Literatura gewann, dessen Jury unter anderem Antonio Machado, Gabriel Miro, Ramón Menéndez Pidal, Carlos Arniches angehörten. Skandalträchtig waren seine Auftritte wie der
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Zu den Dichtern der 27er Generation vgl. Antología comentada de la generación del 27. Madrid: Espasa Calpe 1998. Bei Isabella Inghirami handelt es sich um die Protagonistin aus dem Roman D’Annunzios Forse che sì, forse che no (1910). Vgl. hierzu z.B. Álvarez de Armas: María Teresa León, S. 15f. Vgl. hierzu María Teresa León. Memoria de un compromiso 1903–2003, S. 25ff. Bei der Resi handelt es sich um die noch heute bestehende Residencia de Estudiantes, die 1910 von der Junta para Ampliación de Estudios gegründet wurde und den Ideen der Institución Libre de Enseñanza verpflichtet war.
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am 10. November 1929 im Lyceum Club femenino10 und die von ihm in den 30er Jahren initiierten Aufführungen seiner Theaterstücke wie El hombre deshabitado oder Fermín Galán.11 León und Alberti gingen schließlich 1933 eine zivilrechtliche Ehe ein. Ein Jahr später erschien Rosa-fría, patinadora de la luna mit einer Sammlung surrealistischer Erzählungen Leóns im Espasa-Calpe Verlag.12 Die Erzählungen stellen intertextuelle Bezüge zu Gedichten aus Marinero en tierra und El Alba del Alhelí Albertis her und sind begleitet von den Zeichnungen dieses jungen Dichters, der erst kurz zuvor von seiner frühen Leidenschaft, der Malerei, zur Dichtung gewechselt war. León entfaltet in den Erzählungen eine surreale Welt, die entgegen den Gesetzen der Logik funktioniert. Die literarischen Ambitionen beider trafen sich und mündeten in Erzählungen wie die von «Rosa-Fría», die an Geschwindigkeit kaum zu überbieten, auf ihren Skiern durch das Weltall saust und den Auftakt des Büchleins bildet.13 Beider Leben waren selbst zu diesem Zeitpunkt längst in Bewegung geraten. Das Paar wurde bald innerhalb der spanischen Avantgardebewegung, die nicht nur in der Dichtung der 27er Generation, sondern auch in vielen Texten der häufig noch unbeachteten escritoras del 27 ihren literarischen Ausdruck fand,14 zu einer politisch treibenden Kraft. Bereits 1933, noch am Vorabend der Revolution der Bergarbeiter in Asturien, gründeten beide gemeinsam die Zeitschrift Octubre. Órgano de los Escritores y Artistas Revolucionarios. Im Zuge der Aufstände der asturianischen Bergarbeiter bereiste das Paar die Amerikas. León veröffentlichte Artikel in der New York Post, um auf die Notlage der Arbeiter aufmerksam zu machen, und verarbeitete die dramatischen Ereignisse in Erzählungen, die der Verteidigung der unterdrückten Arbeiter dienen sollten.15 Wo sie ein Land betraten, nahmen sie an Kongressen teil. Die Begegnung von León und Alberti ging mit einer immer stärker werdenden Politisierung des Paares einher, die sich bei Alberti in 13 bandas y 48 estrellas deutlich erkennen lässt. Er stellte seine Dichtung zunehmend in den Dienst sozialer und politischer Fragen. Im Auftrag der jungen spanischen Republik unter-
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Bei dem Lyceum Club handelte es sich um eine von María de Maeztu, der Schwester von Ramiro de Maeztu, begründeten feministisch ausgerichteten Einrichtung, die sich kulturellen und politischen Fragen widmete. Rafael Alberti hielt dort seinen surrealen Vortrag Palomita y Galápago (no más artríticos). Vgl. hierzu Gregorio Torres Nebrera: La arboleda perdida de Rafael Alberti: Construcción y contenido. (Introducción a su lectura). In: Manuel José Ramos Ortega und José Jurado Morales (Hgg.): Rafael Alberti libro a libro: el poeta en su centenario (1902–2002). Cádiz: Universidad de Cádiz. Servicio de Publicaciones 2003, S. 539–562, S. 553. María Teresa León: Rosa-Fría, patinadora de la luna. Madrid: Espasa-Calpe 1934. Ebd., S. 7–15. Janet Pérez: Vanguardism, Modernism and Spanish Women Writers in the Years Between the Wars. In: Siglo XX/20th Century 6, 1–2 (1988–1989), S. 40–47. Zu den geschichtlichen Hintergründen bieten Walther Bernecker und Horst Pietschmann: Geschichte Spaniens. Stuttgart, Berlin, Köln: Kohlhammer 19972 einen geeigneten Überblick.
nahmen León und Alberti im Jahr 1932 zahlreiche Reisen, die einer Studie zur Entwicklung des europäischen Theaters dienten. Dieses Vorhaben führte sie unter anderem nach Berlin, wo sie Zeugen des beginnenden nationalsozialistischen Terrors wurden, was sie tief bewegte. Im Kontext des Spanischen Bürgerkrieges verpflichteten sich León und Alberti schließlich ganz ihren politischen Zielen als Kommunisten. León wurde bald zu einer der herausragenden Frauengestalten des Spanischen Bürgerkrieges, die bis 1939 großen Einfluss auf die Kulturarbeit des umkämpften Madrid ausübte und wesentlich an der Rettung der Kunstschätze des Prados beteiligt gewesen war, von der sie in ihrem Buch La historia tiene la palabra von 1944 erinnernd Zeugnis ablegte.16 Leóns große Liebe galt jedoch dem Theater, in dem sie ein wichtiges Propagandamedium sah.17 Während des Krieges leitete sie im Auftrag der Regierung unter anderem Las Guerrillas del Teatro, die La Barraca Lorcas gleich eine breite Masse mit ihren Theaterstücken zu erreichen versuchte. Im Rahmen der Alianza de Escritores Antifascistas para la Defensa de la Cultura, deren Sekretärin León war, wurde die Zeitschrift El Mono Azul gegründet, in der León 1936 ausgehend von dem kastilischen romance18 «La doncella guerrera» über die Aufgaben der modernen «doncella guerrera» schrieb.19 Gesellschaftliche Verantwortung und literarischer Ausdruck sind weder bei León noch bei Alberti – der seine Dichtung zur Zeit des Bürgerkrieges ganz in den Dienst der Republik stellte – zu trennen, weshalb die Texte beider Autoren oftmals Formen literarischer Handlungen darstellen, die explizit einen politischen Anspruch erheben.20 Sie folgten darin dem Prinzip einer Rehumanisierung der Kunst, die es sich gegen Ende der 20er Jahre als Reaktion auf das Konzept der «L’art pour l’art» zum Ziel setzte, Stellung zu beziehen, sich zu engagieren und schließlich soziale Veränderungen voranzutreiben und herbeizuführen. Als Zugehörige zur Gruppe der sog. Verlierer des Spanischen Bürgerkrieges und Gegner der von Franco errichteten Diktatur war das Paar schließlich ge-
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María Teresa León: La historia tiene la palabra. Buenos Aires: Patronato HispanoArgentino de Cultura 1944. Manuel Aznar Soler: María Teresa León y el teatro español durante la guerra civil. In: Anthropos 148 (1993), S. 23–24 und Manuel Aznar Soler: Introducción. In: María Teresa León: Teatro. Sevilla: Biblioteca del Exilio 2003, S. 9–101. Zur allgemeinen Beschreibung der romances siehe Ramón Menéndez Pidal: Flor nueva de romances viejos. Madrid Espasa Calpe 1938 oder Mercedes Díaz Roig (Hg.): El romancero viejo. Madrid: Cátedra 1976. María Teresa León: A las mujeres españolas. In: El Mono Azul 13 (19. November 1936). Hervorzuheben wären hier die Gedichtbände El poeta en la calle von 1935, die Versos de Agitación, die 1935 im mexikanischen Verlag Defensa Roja erschienen und 13 Bandas y 48 Estrellas. Poema del Mar Caribe, die die Politisierung des Dichters in jenen Jahren deutlich hervortreten lassen. Zu Alberti als politischer Dichter siehe die Ausführungen zu demselben von Concha Zardoya: El Poeta Político. (En torno a España). In: Cuadernos Americanos 3 (Mai-Juni 1976), S. 188–212.
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zwungen, Spanien 1939 zu verlassen und verbrachte zunächst ein Jahr in Paris21 und dann nahezu vierzig Jahre im argentinischen und italienischen Exil. Im Exil trieb es seine schriftstellerische, dichterische und filmische Tätigkeit sowie sein ungebrochenes politisches Engagement, das ein Leben lang untrennbar mit der kommunistischen Partei verbunden blieb, weiter intensiv voran und wurde regelrecht zu einer Institution der SpanierInnen im Exil.22 Für das Paar stellten die Jahre im argentinischen Exil eine äußerst fruchtbare Zeit dar. León eroberte sich ihre Räume im Radio, Kino und schrieb unermüdlich an Büchern und Theaterstücken. Alberti widmete sich intensiv der Dichtung und seiner Malerei, die schließlich in seine liricografías, einer Symbiose aus Bild und Text, die ihm erlaubte seine Leidenschaft für Farbe und Wort zusammenzuführen, mündete.23 Doch das Regime Peróns stand dem Paar zunehmend feindlich gegenüber, weshalb es sich dazu entschied, von Argentinien nach Italien zu ziehen, von wo aus es 1977 nach Spanien zurückkehrte. Diese Ausführungen, die hier auf die literarischen und politischen Entwicklungen beider Autoren ausgerichtet sind, ließen sich – wie es bereits in den Katalogen, die sich mit dem Leben der Autoren beschäftigen, umfassend geschehen ist – in dieser oder ähnlicher Art beliebig ausdifferenzieren, um zu versuchen, dem komplexen Leben beider habhaft und doch nie gerecht zu werden. Zu bemerken ist, dass auf eben diese beschreibende Weise ein Wissen über das Leben der Autoren generiert und verhandelbar wird, das – je nach Sympathie und wissenschaftlicher Ausrichtung – León oder Alberti ins Zentrum der Ausführungen setzt, ein Bild der Einheit oder des Konflikts andeutet und ihre oder seine Vorreiterschaft innerhalb der literarischen Paarbeziehung zu fundieren versucht. Die Variationen sind vielfältig. Einig sind sie im Bestreben, die Besonderheit des Engagements dieser Paarkonstellation hervorzuheben, wodurch – gewollt
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Ein eindringliches Zeugnis jener Zeit, in der Alberti sein Leben zwischen den Welten beginnt, legen die Gedichte aus Vida Bilingüe de un Refugiado Español en Francia ab, die auch die Überfahrt nach «América» auf der «Mendoza» und den dort zu lebenden Neubeginn reflektieren und die sich eingehend hinsichtlich eines ZwischenWeltenSchreibens untersuchen ließen. Vgl. hierzu Rafael Alberti: De un Momento a otro (Drama de una familia española). Cantata de los Héroes y la fraternidad de los pueblos. Vida Bilingüe de un Refugiado Español en Francia. Buenos Aires: Ed. Bajel 1942, S. 207–232 und Francisco Javier Pérez Bazo: La poesía sociopolítica de Alberti en su primer exilio: Vida bilingüe de un refugiado español en Francia. In: Julio Neira (Hg.): Rafael Alberti y María Teresa León cumplen cien años. Santander: Caja Cantabria, Obra Social 2004, S. 107–124. Zur Situation der ExilspanierInnen in Argentinien vgl. die einschlägige Studie von Dora Schwarz: Entre Franco y Perón, Memoria e identidad del exilio republicano español en Argentina. Barcelona: Crítica 2001. Einige Stellen sind darin der Ankunft Albertis und Leóns im Exil (S. 99f.) sowie ihrer kulturellen und politischen Aktivität im Exil (S. 154) gewidmet. Auch besteht kein Zweifel über die Anziehungskraft, die von beiden ausging und die bewirkte, dass regelmäßig Versammlungen und Treffen in ihren Häusern stattfanden. Die 1955 publizierten Liricografías können unter http://cvc.cervantes.es/actcult/alberti/ antologia/ pinturas00.htm (Stand: 09.02.2009) eingesehen werden.
oder ungewollt – eine Mythomotorik24 zu María Teresa León und Rafael Alberti in Gang gesetzt wird. Wo die Erinnerungen einst «heiß» waren, weil sie etwa noch von León und Alberti aktiv erinnert und ausgehandelt wurden und «eine identitätsfundierende, handlungsleitende und gegenwartserklärende Energie» mit einschlossen, münden diese mehr und mehr in «kalte» Erinnerungen (etwa durch die Rezeption), die der Ordnung und Bewertung der Vergangenheit dienen.25 Dabei wird die Liebesbeziehung von dem Paar selbst und von außen für verschiedene Zwecke als Einheit in Szene gesetzt.26 In dieser Hinsicht wirken die oben eingangs erwähnten Bilder von Fontseré zwar zurückhaltend, doch scheinen sie nicht minder auf eben diese Einheit abzuzielen. Über die innere Befindlichkeit erlauben die Photographien für räumlich und zeitlich entfernte Betrachter nur Spekulationen. Aufmerksamkeit erregen sie in der Kombination mit Leóns Eintragungen in ihren Notizbüchern aus jenen Jahren.27 Diese scheinen den wirbelnden Gedanken und Konzeptionen von Texten Raum zu bieten, aber eben auch ihrem Unmut über eine für sie immer unerträglicher werdende Situation, in der ihr die Kontrolle über ihr Leben mehr und mehr aus den Händen gleitet. Einige Aussagen artikulieren deutlich ihr widerstreben, lediglich den Platz einer alten Dame einzunehmen, die das Leben des Dichters aufopferungsbereit und treu begleitet. Aber, so León, sie sei zu «erschöpft» für ihre Position zu kämpfen.28 Eben dies hat sie noch wenige Jahre zuvor mit ihrer Autobiographie Memoria de la melancolía versucht, in der sie ihre Beteiligung an dem Geschehenen, dem was sie sah, fühlte und hörte, hinterlassen will (MM, 69) und sich einen eigenen Platz in der Geschichte zu erschreiben beginnt. Die Spannung, die durch die Betrachtung der Lebenswege, der harmonisierenden Bilder der letzten Jahre im Exil und der Lektüre der Fragmente in den Notizbüchern entsteht, ist mein Ausgangspunkt, um nun den vorgegebenen Pfad biographischer Aufbereitungen von einem Wissen über León und Alberti zu verlassen und die Autobiographien der Autoren selbst in die Hand zu nehmen, um die Formen narrativer Lebensentwürfe auch auf die eben berührten Ambivalenzen hin zu lesen und damit der Komplexität der Paarbeziehung, die sich (geografisch, historisch und politisch) zwischen den Welten entwickelt, Raum zu geben. Ein Blick auf die Rezeption dieser Autobiographien wird dem vor-
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Vgl. hierzu die Einleitung zu Jan Assmann von Wiebke Hoheisel in: Wilfried Barner (Hg.): Texte zur modernen Mythentheorie. Stuttgart: Reclam 2003, S. 277f. Ebd., S. 278. Der Schriftsteller Benjamín Prado beginnt sehr viel später das bewegte Liebesleben Albertis in Ansätzen zu kommentieren und die daraus resultierenden Spannungen in der Paarbeziehung León-Alberti anzudeuten. Vgl. hierzu Benjamín Prado: María Teresa León, la mujer inventada. In: Los nombres de Antígona. Madrid: Aguilar 2001, S. 195–314 und ders.: A la sombra del ángel. 13 años con Alberti. Madrid Aguilar 2002, S. 105–124 und S. 149- 162. Ich beziehe mich hierbei auf die in der Fundación Rafael Alberti befindlichen Notizbücher, die ich dort im September 2005 einsah. Vgl. hierzu María Teresa León: Notizbuch A 767. Fundación Rafael Alberti.
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angestellt, um zu prüfen, ob und inwieweit eine vergleichende Analyse beider Texte bereits gediehen ist. 2.1.2. Die Rezeption von Memoria de la melancolía und La arboleda perdida Als Angehöriger der 27er Generation hat Rafael Albertis viel gerühmte und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnete Dichtung bereits eine umfassende kritische Würdigung erfahren.29 Anders verhält es sich mit wissenschaftlichen Studien, die das autobiographische Schreiben Albertis in den Blick nehmen. Nur eine begrenzte Zahl an Artikeln, von denen hier einige hervorgehoben werden sollen, widmen sich La arboleda perdida, das nicht selten als Informationslieferant zur Analyse der Dichtung zu dienen scheint. In Ekphrasis and Autobiography: The Case of Rafael Alberti wendet sich Bernardo Antonio González den Jahren zwischen dem Erscheinen des ersten und zweiten Buches der Autobiographie Albertis und damit dem Gedichtband A la pintura zu. Die Analyse ermöglicht es ihm Bezüge zwischen den Gedichten und den Ausführungen im zweiten Buch zum werdenden Künstler Alberti herzustellen.30 Der zwei Jahre später erschienene Artikel Beatriz Urracas nähert sich hingegen von einem dekonstruktivistischen Standpunkt aus der Autobiographie und hebt das Fragmentarische in der Darstellungsweise hervor.31 Ihre Ausführungen stellen einen wesentlichen Schritt dar, um den Schwerpunkt der Lektüre seiner Autobiographie von einer biographischen Lesart hin zu textanalytischen Untersuchungen zu verlagern. In seinem kurzen Artikel La arboleda perdida, 1942–1996 liefert Brian J. Dendle eine knappe, vor allem auf den Inhalt ausgerichtete Beschreibung der fünf Bücher von La arboleda perdida und stellt einen bei der Besprechung der Autobiographie Albertis oft übersehenen Aspekt heraus, nämlich: «[l]a arboleda perdida, escrita en distintas épocas, es muy desigual en interés literario y autobiográfico»32. Dendle kritisiert die späteren Texte als oberflächlich: «artículos sueltos de periódico, ausencia de plan coherente, repeticiones – las frecuentes referencias a una época heroica [...]» und sieht die letzten drei Bücher schließlich als «memorias lite, tributo al esfuerzo de un respetado poeta octogenario y nonagenario pero con poco verdadero contenido.»33 In einem weiteren Artikel kritisiert Dendle stereotype politische Äußerungen Albertis und, wie schon
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Einen umfassenden Überblick zu Studien und Werken Rafael Albertis bietet die umfangreiche bibliographische Sammlung des Instituto Cervantes in Neapel. Bernardo Antonio González: Ekphrasis and Autobiography: The Case of Rafael Alberti. In: ALEC 15 (1990), S. 29–49. Beatriz Urraca: Autobiography completes no pictures: Fragmentation in Rafael Alberti’s La arboleda perdida. In: Hispanic Journal 13, 1 (Frühling 1992), S. 51–68. Brian J. Dendel: La arboleda perdida, 1942–1996. In: Pedro Guerrero Ruiz (Hg.): Rafael Alberti. Alicante: Aguaclara 2002, S. 71–77, S. 76. Ebd., S. 77.
Herrmann vor ihm, das Fehlen von Kommentaren seitens Albertis zu seinen politischen Aktivitäten während des Spanischen Bürgerkrieges.34 Zumindest bei Dendle treten erzähltheoretische Analysen ganz hinter eine biographische Lesart zurück. Ein Umstand, der generell für die Forschung zu diesen Autobiographien zu vermerken ist und nicht zuletzt die Erwartungshaltung der Lesenden ausdrückt, die damit Gefahr laufen, aufgrund des politischen Interesses den Dichter und Schriftsteller gänzlich aus dem Blick zu verlieren. Erst 2003 erscheint der Artikel von Gregorio Torres Nebrera, der als Einführung konzipiert einen Überblick über die Entstehung von La arboleda perdida anbietet.35 Das biographische Interesse stand auch in der Forschung zu María Teresa León lange Zeit im Vordergrund. Die ersten Beiträge, die sich eingehender mit Leóns Leben und Werk beschäftigten, erschienen 1987 versammelt in einem Band.36 In den 90er Jahren lag der Schwerpunkt der Betrachtungen auf ihrem gesamten literarischen Werk. Hier wären vor allem die Studien von Juan Carlos Estébanez Gil und von Gregorio Torres Nebrera zu nennen, die eine grundlegende Arbeit darstellen und weitere Spezifizierung überhaupt erst möglich machen.37 In einer zweiten 2003 erschienenen Monographie über María Teresa León nähert sich Estébanez Gil dem Leben der Schriftstellerin anhand der von ihr publizierten Texte mit dem Ziel: «a reconstruir, apoyándose en sus propios escritos así como en la documentación literaria e histórica, una imagen lo más fiel y verdadera posible de María Teresa León y de su obra literaria.»38 Obgleich ihn der Wunsch angetrieben hat, ein möglichst «getreues» und «wahrhaftiges» Bild der Autorin zu rekonstruieren, verliert er doch die dabei auftretenden Komplikationen durch das Ineinandergreifen von Wahrheit und Fiktion nicht ganz aus dem Blick und versucht mit seiner umfassenden Studie auch an einer Demythisierung bestimmter Aspekte zu arbeiten. Texte und Leben werden von Estébanez Gil miteinander verbunden, um eine detaillierte Aufarbeitung aller ihm zur Verfügung stehender Biographeme entlang ihrer Texte zu entfalten und diese auch ausführlich zu wür-
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Brian J. Dendle: Politics and Religion in La arboleda perdida. In: Letras Peninsulares (Frühling 2002), S. 81–94, S. 92 und Herrmann: Nostralgia: María Teresa León, Rafael Alberti, and the Memory of Absence, S. 340. Torres Nebrera: La arboleda perdida de Rafael Alberti: Construcción y contenido, S. 539–562. María Teresa León. Junta de Castilla 1987. 1989 folgten die Beiträge in der Homenaje a María Teresa León der Universidad Complutense de Madrid 1990. Die Studien von Juan Carlos Estébanez Gil: Ma. Teresa León. Estudio de su obra literaria. Burgos: La Olmeda 1995 und von Gregorio Torres Nebrera: Los espacios de la memoria. La obra literaria de María Teresa León. Madrid: Ediciones de la Torre 1996, bieten einen ersten Überblick über und Analyseansätze für das literarische Werk der Autorin. Die Studie Estébanez Gils löst sich dabei zugunsten formaler Erscheinungen der Texte Leóns stärker von der Biographie der Autorin, die Torres Nebreras Lesart ihrer Texte entscheidend prägt. Juan Carlos Estébanez Gil: María Teresa León. Escritura, compromiso y memoria, Burgos: Fundación Instituto Castellano y Leonés de la Lengua 2003, S. 32.
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digen, weshalb seine Studie grundlegend für die Beschäftigung mit dem Leben und Schreiben der Autorin ist. In der Anfangsphase der Beschäftigungen mit der Autobiographie Leóns zeigte sich noch die Wirkmacht des langen Schattens Albertis, der Wissenschaftler dazu bewegte, die Bedeutung von Text und Person Leóns über den Umweg einer Bezugnahme zu Alberti herauszustellen. Auf diese Weise wurde eine Asymmetrie, die sich aufgrund persönlicher und gesellschaftlicher Gegebenheiten bereits zuvor begann herauszubilden, nicht kritisch reflektiert, sondern in gewisser Weise (re-) produziert: Su unión sentimental al poeta Rafael Alberti tal vez dejó en un segundo plano – y probablemente así lo quiso la propia María Teresa – su personalidad y su importancia como escritora. Es más, María Teresa procuró – desde muy pronto – que muchos de sus textos fueron un amoroso reflejo de hallazgos previos de Rafael (glosó, en cuentos y en novelas, poemas previos del autor de Marinero en tierra). Pero eso no fue obstáculo para que su libro de memorias ... esté a la altura de la excelente Arboleda perdida albertiana, y aun más, que Memoria de la melancolía sea, con seguridad, uno de los textos de mayor calidad entre los abundantes memorias del Veintisiete.39
In den letzten Jahren sind mehrere Artikel erschienen, die sich eingehend mit der Autobiographie Leóns beschäftigen oder ihre Beziehung zu Alberti kritischer beleuchten. Letzteres tut Benjamín Prado in seinen María Teresa León gewidmeten Ausführungen in Los nombres de Antigona.40 Die bereits erwähnten Eintragungen Leóns aus den beginnenden 70er Jahren zeugen von der zunehmenden Entfremdung des Paares. Bitterkeit liegt in den geschriebenen Worten Leóns über ihren Gefährten. Besondere Aufmerksamkeit verdienen einige Bemerkungen, in denen León sich kritisch über ihre Position als Frau Albertis äußert und die Aussagen wie die eben zitierten Torres Nebreras, über die bereitwillige Zurücknahme Leóns ihrer selbst, in einem anderen Licht erscheinen lassen. Helena López nutzt das eben angeführte Zitat Torres Nebreras, um eine aufschlußreiche, feministische Lesart von Memoria de la melancolía zu entwickeln und Torres Nebreras Äußerungen in Frage zu stellen.41 Die Tatsache, dass oft aus dem Verhältnis Leóns zu ihrem Mann ihr schriftstellerisches Schaffen über diesen definiert wird, um dann selbstverständlich festzustellen, dass dies jedoch kein Hindernis gewesen sei, das Niveau dessen Autobiographie zu erreichen oder gar generell einen der herausragenden Erinnerungstexte ihrer Generation geschrieben zu haben,42 steht solchen Bemühungen im Weg. Umgekehrt scheint diese Frage für die Analyse der Texte Albertis keinerlei Bedeutung zu haben.
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Vgl. hierzu die Einführung Torres Nebreras der Ausgabe von Memoria de la melancolía von 1998, S. 7. Prado: María Teresa León, la mujer inventada, S. 195–314. Helena López: Algunas claves para una lectura feminista de Memoria de la melancolía, de María Teresa León. In: Jounal of Iberian and Latin American Studies 10, 2 (Dezember 2004), S. 147–167. Vgl. hierzu den weiter oben zitierten Ausschnitt aus Nebreras Einführung.
In den Artikeln der letzten Jahre wird in Einzelanalysen dazu beigetragen, das Augenmerk gezielt und in Abgrenzung zu Alberti auf das autobiographische Schreiben der Autorin zu legen, was nicht zuletzt dazu führte, das es mittlerweile entschieden mehr fundierte Analysen zum autobiographischen Schreiben Leóns als zu dem Albertis gibt.43 In meiner Untersuchung der narrativen Identitätskonstruktion in Memoria de la melancolía zeigte sich, dass eine Analyse, die Leóns Text für sich genommen und gänzlich unabhängig von La arboleda perdida würdigte, an ihre Grenzen stieß und dass eine Zusammenschau dieser Autobiographien, die aus einer komplexen Paarbeziehung heraus entstanden waren, versprach, neue Perspektiven hinsichtlich der ethischen und ästhetischen Beziehung von Leben und Texten zu eröffnen. Dass bisher allgemein noch nicht versucht wurde, das Verhältnis der Texte zueinander eingehend zu betrachten, dürfte auch daran liegen, dass Analysemodelle fehlen, um dies in einem größeren Umfang leisten zu können. Und so wird die Nähe der Autobiographien zueinander vermerkt und an einigen wenigen Beispielen vorgeführt, nicht aber eingehend hinsichtlich ästhetischer und ethischer Implikationen für die autobiographische Schreibpraxis dieses Paares hin untersucht und geprüft.44
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Siehe hierzu z.B. Milagros Arizmendi: El extrañamiento del yo: Memoria de la melancolía. In: Maya Altolaguirre (Hg.): Recuerdo de un olvido. María Teresa León en su centeneario. Madrid: Sociedad Estatal de Conmemoraciones Culturales 2003, S. 63–68; Alda Blanco: ‹Las voces perdidas›: silencio y recuerdo en Memoria de la melancolía de María Teresa León. In: Anthropos 125 (Oktober 1991), S. 45–49; Ofelia Ferrán: Memoria de la melancolía by María Teresa León: The Performativity and Desindentification of Excilic Memories. In: Journal of Spanish Cultural Studies 6,1 (März 2005), S. 59–78; Angel Loureiro: The ethics of autobiography: replacing the subject in modern Spain. Nashville: Vanderbilt University Press 2000, S. 64–99; Mercedes Mazquiarán de Rodriguez: Protagonismo y testimonio en dos «docu-memorias» de María Teresa León». In: Letras Peninsulares (Winter 1998–99), S. 805–821; Melissa A. Stewart: Poet Wives María Teresa León and Anna Murià tell their Stories in Alternative Texts. In: Letras Peninsulares (Frühling 1998), S. 223–237; Michael Ugarte: Women and Exile. The Civil War Autobiographies of Constancia de la Mora and María Teresa León. In: Letras peninsulares (Frühling 1998), S. 207–221; Carmen Wurm: [...] los del paraíso perdido. Spaniensehnsucht in María Teresa Leóns Memoria de la melancolía. In: Thomas Bremer und Jochen Heymann (Hgg.): Sehnsuchtsorte: Festschrift zum 60. Geburtstag von Titus Heydenreich. Tübingen: Stauffenburg-Verlag 1999, S. 249–263 und die im Internet zugängliche Dissertation von María del Mar Inestrillas: Exilio, memoria y autorrepresentación: La escritura autobiográfica de María Zambrano, María Teresa León y Rosa Chacel. Diss. The Ohio State University 2002: www. ohiolink.edu/etd/send-pdf. cgi?acc_num=osu1039017903 (Stand: 09.02.2009). Auf dem Klappentext der im Castalia Verlag erschienenen Ausgabe von 1998 von Memoria de la melancolía heißt es etwa: «Memoria de la melancolía supone la culminación de la trayectoria literaria de María Teresa León (1903–1988) al tiempo que viene a ser uno de los más emotivos e interesantes libros dentro del género «autobiografías y memorias», tan abundante en la literatura del exilio y un fundamental complemento a la serie albertiana de La arboleda perdida» (Hervorhebungen hinzugefügt).
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Entscheidende und prägende Momente der Bi-Textualität bleiben unbeachtet. Dabei weist Aitana Alberti, die Tochter Leóns und Albertis, selbst in einer in der Casa de las Américas (Havanna) 2005 gehaltenen Rede auf diesen Aspekt eindringlich hin, denn «[l]a memoria de ella [León] se entrelaza con la poesía y la prosa de Rafael Alberti, historia contada a dos voces, cada una en su espacio, pero fluyendo la una hacia la otra, mezclándose, acariciándose» [Hervorhebungen hinzugefügt] und es heißt weiter: «Niebla, tú no comprendes. Lo cantan tus orejas, el tabaco inocente, tonto, de tu mirada…» Cuentos que parten de un poema albertiano: Rosa fría, patinadora de la luna. O la mítica fundación de El Puerto de Santa María, lugar de nacimiento del poeta, recreada en la novela Menesteos, marinero de abril. Ofrendas de amor de una mujer excepcional, capaz de escribir sin temblarle la mano, que ella era «la cola del cometa». Aun siendo muy diferentes, La arboleda perdida y Memoria de la melancolía dialogan entre sí, citándose mutuamente, saludándose desde una absoluta complicidad. Vida compartida, visión política común, senderos que no se bifurcan sino que se penetran, se hacen uno solo, facilitando el tránsito en ambas direcciones.45
Diese Gedanken dienen mir dazu, um mit Blick auf den von mir definierten Begriff der Stereophonie nochmal zu meiner Annäherung an beide Autoren zurückzukehren, die von dem Eindruck des (inszenierten) Gleichklanges und einer (beidseitigen) Distanz in der Nähe geleitet war und den die Betrachtung von Photographien ausgelöst hatte. Im autobiographischen Schreiben des Paares werden wir auf beides stoßen, entscheidend ist jedoch, dass die Literarisierung der jeweiligen Lebenserfahrungen, die bei beiden Autoren mit verschiedenen gesellschaftlichen, historischen und geschlechterspezifischen Diskursen verwoben wird, weit über einen individuellen Lebensbericht hinausgeht. Die Autobiographien leisten einen wertvollen Beitrag zu einer dialogischen Herausbildung eines kulturellen Gedächtnisses und einer kollektiven Identität der das Exil erfahrenen SpanierInnen. Albertis umfangreiche Autobiographie La arboleda perdida, die im Laufe von sechs Jahrzehnten entstand und am Ende drei Bände umfasste, weist Bezüge zu Memoria de la melancolía auf, die seinem Text eine besondere Prägung verleihen und die Rezeption von Memoria de la melancolía nachhaltig beeinflussten: Y por supuesto las tres entregas de La arboleda perdida de Rafael Alberti, que tan de la mano – sobre todo a partir del libro tercero – transitan con esta Memoria de la Melancolía, hasta complementarse mutua y frecuentísimamente […].46
Es erstaunt, dass unter diesen Umständen kaum Untersuchungen vorliegen, die sich mit dieser textuellen Beziehung innerhalb der Autobiographien auseinandersetzen. Randolph Pope und Gina Herrmann gehören zu den wenigen, die sich
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Aitana Alberti: María Teresa León: La memoria ante el espejo. Casa de las Americas. Havanna, 10. Februar 2005. Gregorio Torres Nebrera: Introducción. In: María Teresa León: Memoria de la melancolía. Madrid Castalia 1998, S. 48.
in ihren Artikeln explizit einer vergleichenden Analyse beider Autobiographien zuwenden.47 Die kurze Betrachtung Popes im Kontext der von Naharro herausgebrachten Exilstudien liest La arboleda perdida als klassische Autobiographie, die, so Pope, einer rationalen, chronologischen Logik folge, während die von León verfasste Autobiographie einer «logica interior del sentimiento» gehorche. Sie endet mit der Frage, welche der Autobiographien besser das Leben repräsentiere,48 oder ob sie zwei komplementäre Spiegel seien, in denen wir uns wieder erkennen und wieder finden. Pope scheint traditionelle Vorstellungen über das Schreiben von Männern und Frauen zu übernehmen, ohne sie am Beispiel der Texte genauer zu belegen. Es entsteht der Eindruck, dass das Geschlecht der Autoren die Lesart Popes in diesem Fall entschieden beeinflusste, als Kategorie im Kontext seines Artikels jedoch nicht wahrgenommen und diesbezüglich kritisch reflektiert wurde. Ausgehend von der auffallenden Präsenz von Hunden in La arboleda perdida und Memoria de la melancolía vergleicht Gina Herrmann in ihrem Artikel auf der Grundlage eines close readings bestimmte Textauszüge beide Texte miteinander und liest sie im Kontext des Melancholiediskurses.49 Herrmann diskutiert den Umgang mit traumatischen Lebenserfahrungen, wie er sich am Beispiel des in beiden Autobiographien aufgegriffenen Thema des Hundes manifestiert, arbeitet Unterschiede im Umgang mit solchen Erfahrungen im Kontext etwa von Krieg heraus und lässt Differenzen in der Wahrnehmung und Gestaltung gemeinsamer Erlebnisse deutlich werden. In der Konzentration darauf, dem Differenzgedanken der Geschlechterforschung zu folgen, geht der Artikel dabei nicht auf die intertextuellen Bezüge ein, die in diesen Sequenzen auftauchen und eine Zweistimmigkeit in der Beschreibung der Ereignisse erzeugen, die es dem Paar erlaubte, gerade die Differenzen in der individuellen Erfahrung zusammenklingen zu lassen. Worin sich die Differenzen im Einzelnen zeigen und inwiefern sie für eine geschlechterspezifische Betrachtung fruchtbar gemacht werden können, wird ebenfalls nicht weiter reflektiert. Hervorzuheben wäre noch der Artikel Salgados von 1976, da er zu einer Zeit entstanden ist, als die Memoria de la melancolía folgenden Bände La arboleda perdidas noch nicht existierten und beide Autoren noch nicht nach Spanien zurückgekehrt waren.50 In dieser Zeit – unmittelbar nach dem Tod Francos – ist die Wahrnehmung der Texte, wie sie hier zum Ausdruck kommt, von Interesse,
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Randolph D. Pope: La autobiografía del exilio: el ser previamente preocupado de Rafael Alberti y María Teresa León. In: J.M. Naharro (Hg.): El exilio de las Españas de 1939. Barcelona: Anthropos 1991, S. 369–378 und Gina Herrmann: The dogs of War: Melancholy and the infinite Sadness of Rafael Alberti and María Teresa León. In: ALEC 27.2 (2002), S. 155–177. Ebd., S. 377f. Herrmann: The dogs of War, S. 155–177. Agustín Salgado: De la Arboleda perdida a Memoria de la melancolía. In: Aproximación a Rafael Alberti y a María Teresa León. Barcelona: La mano en el cajón 1976, S. 25–30.
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da sie ihre kollektive, identitätsstiftende Wirkung anzeigt und diese noch ganz in den soziopolitischen Rahmen der Auswirkungen des Francoregimes stellt: La arboleda perdida, de Alberti, Memoria de la melancolía, de María Teresa León. Historia que hay que contar. Tenemos derecho a saberla. Es nuestra, de todos. Uno, después de leer ambos libros, piensa que mientras haya un sólo español que no sepa dónde va a morir, mientras haya un sólo español con el corazón cansado de nostalgias de su tierra, mientras haya uno solo que sublica una patria pequeña, «como una grieta en un muro muy sólido»... a todos, a todos, nos tiene que doler España.51
Sowohl Alberti als auch León wählten das Genre der Autobiographie, um ihrem (gem)einsamen Leben eine bestimmte, von ihnen gegebene ästhetische Form zu verleihen. Diese einfache Tatsache ist Grund genug, um auch zu fragen, welches (gem)einsame Wissen von einem Leben diese Texte generieren und übermitteln? Am Anfang der Beschäftigung mit schreibenden Paaren stehen oftmals für den Rezipienten das Ende der Paarbeziehung und sein Wissen über das im biologischen Sinne bereits abgeschlossene Leben der Beteiligten. Studien die sich mit den (Auto)Biographien von Paaren beschäftigen, können in ihrem Vorwort mit dem Tod oder einem knappen generellen Überblick über deren Leben beginnen, um dann der Chronologie folgend eine Art literarisch inszenierte Wiedergeburt stattfinden zu lassen, die selbst vorführt, wozu Literatur im Stande ist: Verlorenes zu bergen, neu zu inszenieren und zu präsentieren. Die bisher kaum berücksichtigte Frage bleibt dabei jedoch, wie diese Aspekte hinsichtlich zweier in Beziehung stehender (Auto)Biographien gedacht und Formen der Relationalität und – über diese hinaus – auch der Autonomie, wie sie sich entwickelt haben, untersucht und nutzbar gemacht werden können? Dies zu untersuchen ist deshalb ausgesprochen gewinnbringend, da gerade in Autobiographien von Paaren beobachtbar ist, wie Genre- und Subjektgrenzen überschritten werden und sich die Texte als kommunikative Selbstentwürfe im Prozess befinden, die modellhaft die Wandelbarkeit von Leben(s)formen und Lebenswissen vorführen.
2.2.
Voraussetzungen für die Analyse der Stereophonie der Autobiographie am Beispiel von Memoria de la melancolía und La arboleda perdida
Ausgehend von den bisherigen Überlegungen zu den Biographien Leóns und Albertis und der Rezeption ihrer Autobiographien sollen nun zunächst mit Blick auf das dritte, nachfolgende Kapitel, in dem die LiebesLäufe innerhalb und die Vernetzung zwischen den Autobiographien untersucht werden, die Entstehungskontexte dargestellt werden, denn die aus den Entstehungsprozessen der Texte entstandenen Berührungsmomente geben erste Hinweise für ein Verständnis der
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Bedeutung, des Einbeziehens und Ausschließens des/der Anderen bei dem jeweiligen Transformationsprozess, in dem Leben in Schrift gewandelt wird. Es werden dann im Abschnitt 2.2.2. die Kategorien, die für beide (Auto)Biographien prägend sind und sich als Bezugspunkte der bifilaren Analyse eignen, ermittelt, anhand derer im vierten Kapitel die jeweilige Gestaltung der Texte untersucht wird. 2.2.1. Entstehungskontexte von Memoria de la melancolía und La arboleda perdida Voraussetzung für die choreographische Analyse der LiebesLäufe und damit einhergehend der Vernetzungen zwischen den Autobiographien ist die chronologische Abfolge der Texte, da es ein Unterschied ist, ob die zu betrachtenden Texte zeitgleich/synchron, kooperativ oder kontrapunktisch verfasst wurden. Daraus erwachsen jeweils verschiedene Formen der Bezugsmöglichkeit, die überdies wesentlich an die sich entlang der Lebensläufe ändernden Lebensbedingungen geknüpft sind. Die Entwicklung der Autobiographien soll mit dem Ziel dargestellt werden, die verschiedenen Entwicklungsstufen und Motivationen sichtbar zu machen und im Falle Albertis zunächst zu begründen, warum eine einheitliche Aussage zum Text schwierig ist und von verschiedenen ihn prägenden Lebensformen und Formungen durch Alberti ausgegangen werden muss. Zum anderen sollen bereits verschiedene Stufen der Paarbeziehung angedeutet werden, um sie später als Voraussetzung einer spezifischen Bi-Textualität mitdenken und ausdifferenzieren zu können, da sie die veränderte Kommunikationssituation zwischen dem Paar anzeigen. Es soll auf diese Weise ein Ausgangspunkt für die spätere Betrachtung der Autobiographien erarbeitet werden. Eine Grundbedingung für die autobiographische Produktion beider Autoren ist das ZwischenWeltenSchreiben, das beide Autobiographien gleichermaßen prägte. Ein entscheidender Aspekt bleibt bei vielen Untersuchungen unberücksichtigt, nämlich der, dass es sich bei La arboleda perdida um fünf Bücher handelt, die im Laufe von mehreren Jahrzehnten verfasst wurden und von ihrer Konzeption und Motivation her sehr unterschiedlich sind. Schreibanlässe, Orte und Publikationsweisen divergieren hier jeweils entscheidend. Wenn «[d]er Vorgang der Erinnerung der jeder autobiographischen Reflexion zugrunde liegende Akt [ist]» und dieser überdies immer auch «über Gegenwärtiges spricht, nämlich über die gegenwärtige Situation des sprechenden und sich erinnernden Subjekts der Äußerung»52, dann sollte dieser Aspekt nicht einfach übergangen, sondern für die Untersuchung nutzbar gemacht werden.
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Wagner-Egelhaaf: Autobiographie, S. 12.
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So entsteht das erste Buch am Ende des Bürgerkrieges auf der Flucht aus Spanien 1939 ins französische Exil und beim Übergang nach Argentinien.53 Das letzte Buch verfasst Alberti mehrere Jahre nach seiner Rückkehr aus dem Exil in Spanien, wobei die einzelnen Sequenzen zunächst in El País erscheinen. Das erste Buch entsteht aus einer gravierenden lebensweltlichen Veränderung heraus, im Schatten des Kriegsendes und des daraus resultierenden Heimatverlustes. Das zweite Buch markiert den Aufbruch ins Exil und den Aufbau eines ‹neuen› Lebens in Argentinien, während die letzten Bücher im Kontext der Heimkehr nach Spanien geschrieben werden. Schon von daher ist eine vorschnelle Charakterisierung, die auf den Gesamttext bezogen ist, problematisch. Der sich über mehrere Jahrzehnte erstreckende Schreibprozess mit seinen veränderten Bedingungen wird in den Autobiographien reflektiert, was dazu führt, dass sich verschiedene ‹mobile Dynamiken› herausbilden. Die eine setzt mit der verlorenen Kindheit in El Puerto de Santa María ein, die andere mit der Reflexion über die Gegenwart in Paris, also der zukünftigen Vergangenheit der späteren Bücher. Sie ist eine wesentliche Voraussetzung für die von Alberti und wie sich zeigen wird auf etwas andere Art für die von León verfassten autobiographischen Texte und lässt sich mit Ettes Begriff der Vektorisierung54 erfassen. Am 1. Januar 1929 erscheint in La Gaceta Literaria ein «autobiographischer Artikel» des jungen Dichters Rafael Alberti, der sich bereits mit der Publikation seines Gedichtbandes Marinero en tierra hervorgetan hat.55 Bei diesem «autobiographischen Artikel» steht die ästhetische Verortung seines dichterischen und malerischen Schaffens im Vordergrund und er präsentiert sich in provokativer und verspielter Art. Zehn Jahre später, am Ende des Spanischen Bürgerkrieges, wird Alberti das erste Buch seiner Autobiographie La arboleda perdida beginnen. Von dem ungestümen Dichter ist nun nichts mehr zu spüren. Die Flucht aus Spanien hat literarische Spuren hinterlassen, die einen neuen Lebensabschnitt für León und Alberti im Exil markieren. Fragmente dieses beginnenden, nun literarisch neu entstehenden Hains werden bereits 1940 in der Zeitschrift Sur publiziert.56 Der
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Zur Entstehung der Autobiographie siehe auch Julio Neira: Rafael Alberti en prosa: los senderos de la nostalgia. In: Neira: Rafael Alberti y María Teresa León cumplen cien años, S. 83–106, S. 104. «Die Vektorisierung, diese Speicherung alter (und selbst künftiger) Bewegungsmuster, die in aktuellen Bewegungen aufscheinen und von neuem erfahrbar werden, greift weit über das je individuelle Erfahrene und lebensweltlich Erfahrbare hinaus: Vektorisierung erfasst auch den Bereich der kollektiven Geschichte, deren Bewegungsmuster sie im diskontinuierlichen, vielfach gebrochenen post-euklidischen Vektorenfeld künftiger Dynamiken speichert. Unter den gegenwärtigen Bewegungen – und hierauf zielt der Begriff der Vektorisierung – werden die alten Bewegungen wieder spürbar, vergegenwärtigt: Sie sind als Bewegungen im Wissen der Literatur aufgehoben.» Ottmar Ette: ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz. Berlin: Kadmos 2005, S. 11. Vgl. hierzu Torres Nebrera: La arboleda perdida de Rafael Alberti: Construcción y contenido, S. 544. Rafael Alberti: La arboleda perdida (fragmento de un libro de memorias). In: Sur 10, 67 (1940), S. 16–38.
Dichter, von dem es heißt, dass es schwierig und fast unmöglich scheint «[...] encontrar composiciones suyas desligadas de la realidad que le tocó vivir, algo que lo convierte en uno de los escritores más autobiográficos de su generación»57, wählt zu diesem Zeitpunkt das Genre der Autobiographie, um des Geschehenen habhaft zu werden. In einem Interview äußert sich Alberti zu diesem Thema: En realidad, toda mi poesía es como una serie de fragmentos de la memoria, episodios de mi vida. Yo, además, amo la prosa como la poesía, cuando está bien escrita, cuando tiene su pulso y su ritmo. Yo no sé si uno empieza a escribir sus memorias por nostalgia, porque cree que lo que tiene que contar puede ser interesante para alguien, porque desea fijar sus recuerdos antes de que se escapen... En mi caso, la redacción de La arboleda perdida creo que se me impuso, en un momento determinado, como una necesidad literaria. Me atraía muchísimo escribir en prosa, dibujar escenas de mi ya entonces agitada historia, trazar los perfiles de tanta gente que había conocido. ¿Por qué prosa y no poesía? No sé, ya digo que se me impuso por sí misma la prosa.58
Das Verhältnis von Gedächtnis, Schrift und Leben ist hier insofern aufschlussreich, da Poesie und Prosa jeweils unterschiedliche Verarbeitungsmöglichkeiten und -techniken des Vergangenen darstellen. Während sich für Alberti die Dichtung dadurch auszeichnet, dass sie Fragmente des Gedächtnisses darbietet und in gewisser Weise aus Episoden des Lebens erwächst, wird die Prosa bei ihm zum Medium, das in komplexer Weise Leben zur Darstellung bringt. Vergleichbar einem Bild kommt ihr somit die Funktion des Fixierens der ansonsten flüchtigen Erinnerungen zu. Das Bedürfnis oder der Versuch des Festmachens von Erinnerung in diesem Moment scheint mir über ein sich einfaches Aufdrängen der Prosa als literarische Notwendigkeit und Ergebnis der jahrelangen Beschäftigung mit der Poesie zumindest in diesem existentiellen Moment des Übergangs hinauszugehen. Des Weiteren bezieht sich Alberti in seiner Aussage auf seine früheren Prosatexte wie Imagen primera de…59 und Prosas encontradas60, die zum Teil in La arboleda perdida mitverarbeitet wurden und für ein Verständnis seiner Prosa relevant sind. Die Autobiographie setzt sich somit aus Texten zusammen, die auf dem Weg entstanden sind und denen, wie im Falle der Imagen primera de..., eine spezifische Ästhetik des literarischen Erscheinenlassens ihm begegnender und bewegender Persönlichkeiten eigen sind.61 In die Entstehungszeit des ersten Buches von La arboleda perdida fällt 1941 die Geburt ihrer «hija americana», Aitana Alberti. 1942 erscheint dann das in Madrid, Paris und Buenos Aires entstandene erste Buch von La arboleda perdida zusammen mit «otras prosas» im mexikanischen Verlag Seneca in der Edición
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Un siglo de creación viva, S. 11. Rafael Alberti: Premio Miguel Cervantes 1983. Barcelona: Anthropos; Madrid: Ministerio de Cultura 1989, S. 97. Rafael Alberti: Imagen primera de... (1940–1944). Buenos Aires: Ed. Losada, S.A. 1945. Rafael Alberti: Prosas encontradas. Nueva edición muy aumentada. Recopilación y prólogo de Robert Marrast, Barcelona: Seix Barral 2000. Vgl. hierzu Torres Nebrera: La arboleda perdida de Rafael Alberti: Construcción y contenido, S. 544
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del Arbol.62 Die letzte Seite dieser Ausgabe, die über die bereits in diesem Verlag publizierten Texte Albertis informiert und die zu diesem Zeitpunkt bereits erschienenen Gedichtbände auflistet, gibt uns ferner darüber Auskunft, dass das zweite Buch in Bearbeitung ist. In dieser ersten Ausgabe von 1942, die den Text in einen Prólogo und zwei Kapitel einteilt, sind die folgenden anderen Prosastücke aufgenommen: Una historia de Ibiza, La miliciana del Tajo, Las palmeras se hielan. Der erste Teil der Autobiographie steht somit im Kontext von Texten, die den Spanischen Bürgerkrieg betreffen und wird zu einem Zeitpunkt publiziert, als der Zweite Weltkrieg Europa erschüttert, der sich auch auf die Produktion des Buches auswirkt. In einem Brief von José Bergamín, der sich in der Ausstellung der Fundación Rafael Alberti befindet, wird dies deutlich. Der Brief von Bergamín aus Mexico D.F. vom 27. März 1942 bezieht sich auf die gerade erschienene Ausgabe. Er ist auf Papier des Verlags Seneca geschrieben (oben links: Editorial Seneca/ S.A. de Publicaciones/ Varsovia 35.A/Mexico D.F.). In seinem Brief informiert Bergamín Alberti über die Publikation: ’La arboleda perdida’ espero que esté ya en tu poder cuando recibas esta carta, pues hace cerca de un mes que salió para allá. Ya me dirás lo que te parece. Yo siento que el papel no haya podido ser mejor, pues estamos padiciendo ya aquí grave crisis en su producción. El tipo Bodoni y la composición que ha dirigido Emilio creo que si te parecerá bien. (An: Sr. D. Rafael Alberti/ Tucumán 677, 7°C Buenos Aires)
Neben der Schwierigkeit, qualitativ hochwertiges Papier für den Druck zur Verfügung zu stellen, erschweren die Kriege und später die Francodiktatur die Verbreitung des Buches. Robert Marrast, damals ein junger Forscher und heute Alberti-Spezialist, ist davon konkret betroffen. Ein Brief vom 12. April 1953 von Alberti an Marrast, der ebenfalls in der Ausstellung der Fundación Rafael Alberti einzusehen ist, verweist auf die Schwierigkeit, Albertis Autobiographie innerhalb Spaniens zu konsultieren: Desgraciadamente el único ejemplar de «La arboleda perdida» que yo tenía lo devolví no hace mucho a la persona que me lo había prestado. Lo siento de verdad. Sé quien tiene en España un ejemplar, el joven poeta, hoy buen amigo mío, Rafael Montesinos. Tal vez él se lo prestará se se lo pide usted de mi parte. Vive en Madrid: General Pardiñas 72. Es un gran muchacho.
Das zweite Buch beginnt Alberti am 18. November 1954 und schließt es 1958 ab, in einer Phase, in der sich bereits ein Abschied von Argentinien aufgrund der dortigen politischen Situation abzeichnet. Es wird zusammen mit dem ersten Buch 1959 in Buenos Aires in der Compañía General Fabril Editora publiziert. Auch
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Eine ausführliche Darstellung der Entwicklung von La arboleda perdida ist mit der Publikation des Prosabandes der Obras Completas Albertis zu erwarten, die bei Seix Barral in acht Bänden herausgegeben werden. In der Ankündigung zum Prosaband heißt es: «Las ediciones definitivas, y también las variantes de todas las ediciones anteriores, de los diversos vólumenes de memorias que constituyen La arboleda perdida.»
in ihm greift Alberti bereits verfasste Prosatexte wie El poeta en la España de 1931 auf.63 Erst nach dem Tode Francos können La arboleda perdida I und II 1975 im Verlag Seix Barral publiziert werden.64 Es folgen 1987 die Bücher III und IV im selben Verlag. Das fünfte Buch erscheint 1996 bei Anaya & Mario Muchnik/Grupo Anaya S.A., Madrid sowie 1997 die Bücher III und IV. Der Muchnik/Anaya Ausgaben folgt schließlich die vorerst erste und letzte – noch zu Lebzeiten Albertis – publizierte Ausgabe aller Bücher in der Biblioteca Alberti von Alianza Editorial. In der Zeit zwischen 1959 bis 1987, also bevor das dritte und vierte Buch Albertis publiziert werden und die zusammen den zweiten Band bilden, erscheint Memoria de la melancolía. Zu vermerken ist, dass Leóns Autobiographie offensichtlich mehrbändig angelegt und ähnlich wie La arboleda perdida im Prozess begriffen ist. Die Situation, aus der heraus León ihre Autobiographie zu verfassen beginnt, stellt eine Schwellenphase dar.65 León verfasst ihre Autobiographie, nachdem sie mit ihrer Familie in den 60er Jahren von Argentinien nach Italien gezogen ist und damit nach den Aufenthalten in Paris und Buenos Aires in Rom eine dritte Etappe eines Lebens im Exil beginnt. Wieder muss ein zur Heimat gewordenes Land zurückgelassen werden, und die daraus erwachsenen Empfindungen scheinen eine neue Dimension erreicht zu haben, die eine eigene literarische Ausdrucksweise erforderlich werden lässt, um der stets dringlicher werdenden Frage – auch und gerade im Angesicht des zunehmenden Alters und des zukünftigen Todes – nach dem eigenen Ich im Kontext der Verlusterfahrungen gerecht zu werden. Im Exil erkennt die Autorin immer wieder die Fülle an Begegnungen und Hilfen und deren Vergänglichkeit, aber vor allem die in Vergessenheit geratenen Anstrengungen der Frauen, die schließlich und letztendlich ins Leere zu gehen scheinen. 1968 beendet León ihre Niederschrift von Memoria de la Melancolía im römischen Exil.66 Zu dieser Zeit hat sie zusammen mit ihrem Mann Rafael Alberti bereits 30 Jahre außerhalb ihres Heimatlandes verbracht und erste Anzeichen der Alzheimerkrankheit kündigen sich an. 1970 erscheint ihre Autobiographie im
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Vgl. Torres Nebrera: La arboleda perdida de Rafael Alberti: Construcción y contenido, S. 546. Rafael Alberti: La arboleda perdida. Barcelona: Seix Barral 1975 und 1987. Bernhard Waldenfels: Sinnesschwellen, S. 9: «Im Überschreiten der Schwelle befindet man sich nicht mehr hier und nicht mehr dort, Ort und Zeit berühren sich. Betrachten wir das Fremde als ein Anderswo, das Eigenes markiert, indem es sich diesem entzieht, so erscheint die Schwelle als ein Ort des Fremden par excellence. Sie erweist sich zugleich als ein Ort der Schwebe [...] Schwellen tauchen überall dort auf, wo wir von einem Erfahrungsraum oder Lebensbereich in den anderen überwechseln, so im Falle von Einschlafen und Aufwachen, Erkranken und Genesen, Heranwachsen und Altern, Ankommen und Fortgehen, Begrüßen und Abschied, Geburt und Tod. Immer gibt es ein Drinnen, das vom Draußen geschieden bleibt.» Für einen kurzen Überblick zur Entstehungsgeschichte von Memoria de la melancolía siehe Wurm: Spaniensehnsucht, S. 251f.
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argentinischen Losada Verlag und sieben Jahre später erfolgt die erste Publikation von Memoria de la melancolía in Spanien im Laia Verlag. Alberti beginnt nach der Rückkehr nach Spanien mit der Arbeit an dem dritten und vierten Buch und widmet sich somit einer Lebensphase, die zunehmend von der Abwesenheit Leóns geprägt ist und über die sie selbst nicht mehr zu berichten vermag. Darüber hinaus zeigen die Ausführungen, dass die geographische Rückkehr nach Spanien die innere Distanz zu seinem Heimatland nicht gänzlich einzuholen und zu überwinden vermag. Noch dramatischer gestaltet sich die Situation für León: Ihr vielzitierter Wunsch, auf einem weißen Pferd durch die Puerta de Alcalá nach Madrid Einzug zu halten, wird nicht nur nie in Erfüllung gehen. Sie wird nicht einmal mehr in Gänze die Rückkehr nach Spanien wahrnehmen können, da sie aufgrund der Alzheimererkrankung neue Stufen der inneren Ort- und Orientierungslosigkeit erreicht. Gerade im Falle Leóns muss daher der Verlust des früheren Heimatlandes in gewisser Weise als endgültig angesehen werden. Ihr ZwischenWeltenLeben und -Schreiben erfährt damit durch die Alzheimererkrankung eine dramatische Dynamisierung. Das dritte und vierte Buch Albertis setzt sich aus einzelnen Artikeln für die Zeitung El País zusammen. Dort erscheinen sie wöchentlich und werden erst 1987 mit dem bei Seix Barral publizierten zweiten Band zusammengefasst.67 Dieser Band zeichnet sich dadurch aus, dass Alberti mit der Linearität der Erzählung bricht und die einzelnen Kapitel, ihrem Erscheinen in der Zeitung angepasst, nur wenige Seiten umfassen. Das fünfte Buch, das allein und mit seiner Kürze den dritten Band darstellt, erscheint 1996. In ihm wird noch stärker als im vierten Buch der Schwerpunkt auf die gegenwärtige Lebenssituation des Dichters gelegt. Doch «a pesar de ser un clarísimo testimonio de la literatura senectute albertiana, no faltan momentos de intensidad máxima, en los que la prosa del poeta alcanza niveles de poeticidad considerables.»68 2.2.2. Kontextuelle Bestimmung der Analysekategorien Am Anfang des literarischen Streifzugs durch ein Jahrhundert, den Alberti mit dem ersten Buch seiner Autobiographie beginnt, stehen ein Bürgerkrieg und die einschneidende Erfahrung des Verlustes der Heimat 1939. Aus diesem Verlust erwachsen für beide Autoren die Notwendigkeit des Gedenkens und eine leidenschaftliche Beschäftigung mit dem Gedächtnis. Es bildet sich im Spannungsfeld von Heimat und Exil heraus und stellt mit seinen zwei Dimensionen als DesMemoria den Schlüssel zum Verständnis von La arboleda perdida und von Memoria de la melancolía dar, weshalb es als biforme Analysekategorie am Beginn der Untersuchung der Autobiographien stehen wird.
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Torres Nebrera: La arboleda perdida de Rafael Alberti: Construcción y contenido, S. 555. Ebd., S. 561.
Aus einem Leben, das sich zwischen Heimat und Exil in den verschiedensten geographischen Räumen bewegt, bleibt das Verlorengegangene unereichbar und ist nur in imaginierten (T)Räumen zugänglich. Aus dem Verlust erwachsen die TextLeben auszeichnende Stimm(ung)en, die Melancholie und die Nostalgie. Sie prägen das Leben und Schreiben beider Autoren und wirken noch auf die in den Autobiographien erkennbaren Perspektivstrukturen ein. Komplexe Verstrebungen zwischen Leben und Schreiben sind erkennbar und lassen die Form der autobiographischen Darstellungen selbst zu einer Grenze des Übergangs vom Leben zur Schrift werden und als TextKörper hervortreten, der sich immer auch entzieht und rätselhaft bleibt. Die biformen, das heißt doppelgestaltigen und damit zwei Dimensionen aufzeigenden Kategorien werden gewählt, um komplexe Dynamiken, Prozesse und Bezugsfelder darstellen zu können. Das ZwischenWeltenLeben und -Schreiben der Autoren erfordert ‹mobile› Kategorien, um die unterschiedlichen Relationen im und zwischen Leben und Schreiben verstehen und darstellen zu können. Gleichzeitig eignen sie sich als Anschlussstelle inhaltlicher Reflexionen, um den Begriff der Stereophonie hinsichtlich der Autobiographien auch semantisch aufzuladen: Das Gedächtnis, das als DesMemoria einer Speicherung und Vermittlung von Wissensinhalten zum Nutzen gereicht, erschließt sich nicht ohne die Dimension des Vergessens, das den Verlust von Wissen und Gedächtnis impliziert, aber auch gestalterisch am Werk ist. Die hervorgebrachten psychoakustisch inszenierten Stimm(ung)en bewegen sich beredt und schweigend durch Räume hindurch, über Räume hinweg und in Räumen. Diese Bewegungs(t)räume, führen schließlich weiter zu einer körperlichen Dimension, die ebenso im stereos der Stereophonie begründet liegt. Die TextKörper als Träger des Wissens, aber auch Bewegendes, entfalten sich vor den Augen der RezipientInnen, die ihnen lesend lauschen, um wesentliche Momente eines ZwischenWeltenSchriebens, das dem ZwischenWeltenLeben beider Autoren verpflichtet ist und aus dessen spezifischen Erfahrungen heraus entsteht, nicht zuletzt auch als «stéréophonie de la chair profonde: l’articulation du corps, de la langue, non celle du sens, du langage»69 nachzuspüren. Die Stereophonie der Autobiographie ist somit Begriff sowie ein aus ihm heraus entwickeltes Analysemodell und dient durchaus auch inhaltlich der Orientierung. Damit sind die für die nun folgenden Analysen notwendigen Voraussetzungen geschaffen.
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Roland Barthes: Le plaisir du texte. Paris: Seuil 1982, S. 105.
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3.
Berührungen: Choreographie eines Discursus der Liebe in Memoria de la melancolía und La arboleda perdida
Dis-cursus, c’est, originellement l’action de courir çà est là, ce sont des allées et venues des «démarches», des «intrigues». (Roland Barthes, Fragments d’un discourse amoureux)
In dem vorangegangenen Kapitel wurden in einer ersten Annäherung die TextLeben Albertis und Leóns auf der Grundlage der bisherigen Rezeption und der Entstehungskontexte der Autobiographien vorgestellt. Dabei wurde aus dem bereits bestehenden Fundus biographischer Aussagen von WissenschaftlerInnen und Familienangehörigen, Photos und Ausstellungen geschöpft, um thematische Schwerpunkte für eine weiterführende Analyse der Autobiographien dieses Paares zu erarbeiten. Der Blick wird nun auf die Texte selbst gelegt, um in diesem Analyseschritt zunächst die Choreographie der Beziehung in den Autobiographien des Paares aufzudecken. Es werden zunächst Teile des intertextuellen und interpersonellen Netzes, wie es zwischen La arboleda perdida und Memoria de la melancolía gewoben wurde, betrachtet.1 Dieses Netzwerk lässt sich in diesem Fall am sinnvollsten entlang der in den jeweiligen Autobiographien (re)präsentierten Momenten der Paarbeziehung nachzeichnen und verstehen, weshalb die Darstellung der LiebesLäufe genauer betrachtet wird. Zu diesem Zweck wird der discursus-Begriff, wie er in Fragments d’un discourse d’amoureux von Barthes erscheint, aufgegriffen und erweitert, um die Bewegungen, das Hin- und HerLaufen, zwischen den Texten beschreiben zu können.2 Konkret bedeutet dies, dass die Dynamik der LiebesLäufe ausgehend von Tanzfiguren, wie Promenade und Hook turn, beschrieben wird. Auf diese Weise werden interpersonelle und
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Intertextualität wird von mir als Teil der Bi-Textualität verstanden. In diesem Sinne wird Intertextualität ferner in ihrer bedeutungskonstituierenden Funktion von Texten begriffen, die nicht zuletzt «an die Stelle der Lektüre eines Textes die Lektüre der Differenz von zwei -oder mehr- Texten» treten lässt. Vgl. hierzu Klaus W. Hempfer: Intertextualität, Systemreferenz und Strukturwandel: die Pluralisierung des erotischen Diskurses in der italienischen und französischen Renaissance-Lyrik (Ariost, Bembo, Du Bellay, Ronsard). In: Michael Titzmann (Hg.): Modelle des literarischen Strukturwandels. Tübingen: Niemeyer 1991, S. 7–43. Der analytischere Gebrauch des Intertextualitätsbegriffes, wie er von Pfister entwickelt wurde, wird hier dem weiter gefassten Begriff Kristevas vorgezogen. Vgl. hierzu Manfred Pfister/Ulrich Broich: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Tübingen: Niemeyer 1985. Barthes: Fragments, S. 7.
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intertextuelle Beziehungen, die bei Paaren eng miteinander verwoben sind und eigene Dynamiken entfalten, auch als Bewegungen zwischen den TextLeben wahrgenommen und zusammengedacht. Welche Formen der Vernetzung werden gewählt und welche Funktionen kommen ihnen innerhalb der jeweiligen Autobiographie zu? Dienen sie dazu, den jeweils anderen in die eigene Autobiographie mit aufzunehmen und einzuweben oder sich von ihm abzugrenzen? Welche sprachlichen Strategien, wie etwa Gedicht-Zitate, Reflexionen über diese oder zweistimmige Worte im Sinne Bachtins, werden genutzt, um sich in das TextLeben des Anderen einzuschreiben oder es um- und weiterzuschreiben? Dieser literarisch ‹getanzte› Paso Doble bildet die Grundlage zur Analyse des jeweiligen Leben(s)formens und Lebenswissens im vierten Kapitel. Die Analyse der auf den anderen ausgerichteten sprachlichen Bewegungen innerhalb und zwischen den Texten ist darüber hinaus notwendiger Bestandteil der späteren Zusammenschau der Autobiographien, die – gemeinsam und getrennt voneinander entwickelt – Erkenntnis gewinnend aufeinander bezogen werden können. Die gegenseitige Aufnahme des Anderen ist ein wesentliches Moment der literarischen Paarbeziehung und somit ein entscheidender Baustein auf dem Weg hin zu einer Stereophonie der Autobiographie am Beispiel von Memoria de la melancolía und La arboleda perdida. Bei der Analyse dieses dynamischen Verhältnisses zwischen den beiden (Auto)Biographien fließen teils explizit, teils implizit Termini und Theorien der literaturwissenschaftlichen und historischen Frauen- und Geschlechterforschung mit in die Lektüre ein, wo es gilt Asymmetrien, patriarchale Symbolisierungsprozesse und subtile Aus- und Einschlussverfahren (bewusst oder unbewusst) im Verhältnis beider und im Kontext gesellschaftlicher Festlegungen aufzudecken. López stellt in ihrem Artikel ausgehend von Memoria de la melancolía eine «feliz acomodación» Leóns in der Paarbeziehung in Frage, «con el propósito de evidenciar las estrategias de construcción/dominación» und «posibilidades de resistencia y transgresión.»3 Diese Perspektive gilt es nun unter Berücksichtigung von La arboleda perdida zu erweitern, da erst dadurch das Hin- und Her der autobiographischen Liebes- und LebensLäufe sowie die beidseitigen Möglichkeiten des Widerstandes und der Transgression deutlich gemacht werden können. Anders als in der später folgenden bifilaren Analyse werden hier die Bücher in chronologischer Ordnung analysiert, um den Bezügen zwischen den Texten, die zum Teil erst durch die Abfolge möglich wurden, besser nachgehen zu können.
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López: claves, S. 148.
3.1.
Bewegungsfiguren I: Von der Berührung zur Verwicklung der TextLeben
3.1.1. La arboleda perdida I und II: Einladung zum Tanz. Ankündigung und Erscheinung der Geliebten/Venus/María Teresa León In dem ersten Buch von La arboleda perdida besticht León durch ihre Abwesenheit. Ihre Zeit in der Lebensgeschichte, die Rafael Alberti zu entwickeln beginnt, ist noch nicht gekommen. Und doch werden Spuren ihrer – Alberti umgebenden – Präsenz deutlich, wenn ihr Name, «María Teresa», in der ersten (kursiv gedruckten) Reflexion aktueller Ereignisse, aus denen heraus die Autobiographie verfasst wird, plötzlich und doch mit völliger Selbstverständlichkeit zusammen mit dem erinnerten Ich erscheint (AP I, 52). Entlang des zweiten Buches folgen dieser ersten Nennung unzählige, weitere «María Teresa y yo». Immer wieder gleitet dann der Erzähler vom Ich der Kursivtexte in ein Wir über, das auch in der konjugierten Verbform der ersten Person Plural repräsentiert wird (AP I, 81f.). Die Kenntnis von María Teresa León als Partnerin des Dichters und das Wissen um die Anwesenheit der Abwesenden setzt Alberti damit bei seinem Lesepublikum voraus. León ist die Gefährtin und Mitstreiterin Albertis in den Wirren des Übergangs von Spanien ins Exil, ein Ereignis, auf das Alberti zu Beginn seines dritten Buches ausführlich eingehen wird. Die kurze Erwähnung in diesem Kontext markiert das Selbstverständnis des Paares und sein Zusammengehörigkeitsgefühl in dieser Lebens- und Schreibphase. Ähnliche Formen, um den Anderen in die eigene Autobiographie miteinzuschließen finden sich, dann in umgekehrter Weise, auch bei León. Spezifisch für Alberti ist es, dass er León nicht nur in ein politisches, sondern auch in ein für ihn relevantes künstlerisches und poetisches Feld ‹einspinnt›, das der Venus. Damit schreibt er sie zunächst einmal in einen von ihm explizit erotisch konnotierten Raum innerhalb seiner Autobiographie ein. Der «notorische Venus-Spezialist» (AP II, 125), als den er sich selbst ironisch bezeichnet, taucht zu Beginn des zweiten Buches auf, wenn Alberti die intermediale Verknüpfung zu seinem frühen in Madrid beginnenden künstlerischen Schaffen herstellt (AP II, 114ff. und 125). Diese Passagen, die stellvertretend für viele weitere gelesen werden können, in denen die für Alberti so typischen intermedialen Verknüpfungen von Bild und Text praktiziert werden, die sein dichterisches und künstlerisches Schaffen kennzeichnen und die in La arboleda perdida im Kontext des Leben Formens eine besondere Zusammenführung erfahren, sind signifikant: Die ersten Begegnungen mit dem Museo de Prado werden als erinnerte ästhetische Erfahrung im Eingangskapitel des zweiten Buches von La arboleda perdida literarisiert. Am Anfang dieses zweiten Buches wird die Trauer über den Fortgang aus El Puerto de Santa María mit dem Aufbruch als junger Künstler verwoben, der im Begriff ist, sich eine neue Stadt malend und schreibend anzueignen. Begleitet ist dies von der ihm neue Welten eröffnenden ästhetischen Erfahrung in Anbetracht der Bilder Rubens und Tizians:
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Se inauguraba para mis ojos cándidos, no sin provocarme cierto vago rubor el primer día, los nácares esplendorosos de las carnes de Rubens, aquellas Gracias fuertes, Pomonas derramadas, Ninfas corridas por los bosques, Dianas ornamentadas de perros y olifantes, altas Venus de ceñidores desprendidos, desnudas diosas que pasarías a inundar, inquietándomelas, mis desveladas noches adolescentes. Poco sabía yo entonces de sátiros, faunos, centauros, tritones y demás personajes silvestres o marinos, enrojecidas las pupilas, tensos todos los músculos en amor a las deidades hechas de rosas y jazmines por el pincel de Rubens. Si aquel tropel de fuerzas arrebatada del pintor flamenco despertó en mí el sentimiento de todo lo frutal, codiciable, desatado, que puede alguna vez ofrecernos la vida, la claridad dorada de Tiziano, el macizo reposo de sus Venus enamoradas de la música, su sonrisa apacible y juegos venturosos bajo «el manso viento» gracilaseco de los árboles, metieron en mi sangre para siempre el anhelo de una perpetua juventud, de una ilimitada, luminosa armonía. (AP II, 115)
Die Bilder Rubens’ und Tizians werden zu Vermittlern verborgenen Begehrens, das bei dem jugendlichen Betrachter ausgelöst wird. Mit dem «Erröten» wird auf den noch unschuldigen Blick verwiesen, dem sich die Nacktheit der dargestellten Göttinnen offenbart, und das nicht etwa in einem verborgenem, sondern in einem öffentlichen Raum, der für Alberti zum ganz persönlichen Tempel der Musen avanciert. Dieser erfährt nicht zuletzt in seiner Dichtung eine Öffnung, durch die all jene delikaten Inhalte ihren Weg in die Straßen finden und mit den dort gewonnenen Eindrücken verwoben die frühe Dichtung Albertis kennzeichnen, in der sich barocke Formen mit surrealistischen Elementen mischen, wie es etwa in dem Gedicht Venus en ascensor in der Gedichtsammlung Cal y canto von 1927 geschieht. Die in den Bildern des Prados dargestellte Lebendigkeit erfährt eine Realisierung im Augenblick des Betrachtens, wenn der Körper, der auf das Betrachtete reagiert, als Erfahrungsraum mit ins Spiel kommt. Diese Berührung durch die Kunst als Jugendlicher in einer ihm noch fremden Stadt gibt dem LebensLauf eine neue Dynamik. Er ereignet sich nun vor allem in den Straßen der Stadt, worauf zu einem späteren Zeitpunkt in der Arbeit noch eingegangen werden wird.4 Alberti schließt diesen am Anfang des Buches begonnenen Kreis am Ende des zweiten Buches mit dem Erscheinen María Teresa Leóns in La arboleda perdida, womit die lange begehrten Motive der Gemälde im Kontext der Autobiographie verlebendigt werden: León erfährt die poetische Aufnahme in Albertis TextLeben im achten Kapitel des zweiten Buches, das mit dem Gedicht Cuando tu aparecistes beginnt, in dem das Motiv der Venus entfaltet wird. Das Gedicht entstammt dem Gedichtband Retornos de lo vivo lejano von 1956 und bildet den Auftakt zu der folgenden Beschreibung der ersten Begegnung der Geliebten, die an einem unbestimmten Ort, «[e]n la casa de alguien», stattfindet, an den er mitgenommen wird «no recuerdo hoy por quien» (AP II, 330). Dort «taucht» die Geliebte auf, die er mit den Attributen: «rubia, hermosa, sólida, levantada» beschreibt und die «como la ola que un mar imprevista me arrojara de un golpe contra el pecho» (AP II, 330) dem Meer entsteigt. Von Beginn an stattet Alberti sie mit Qualitäten aus, die Halt und Sicherheit symbolisieren und
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Vgl. hierzu im 4. Kapitel: Bewegungs(t)räume die Abschnitte 4.3.1.1. und 4.3.2.2.
ihm als Stütze in einer Zeit dienen, in der ihn noch die Ausklänge einer anderen Liebe, der zu der Künstlerin Maruja Malló, die hier jedoch unerwähnt bleibt, quälen. Alberti wird nicht müde, León in dieser Hinsicht zu glorifizieren: «Pero, ¡ah, Dios mío!, ahora era la belleza, el hombro alzado de Diana, la clara flor maciza, áurea y fuerte de Venus, como tan sólo yo había visto en los campos de Rubens o en las alcobas de Tiziano» (AP II, 330). Von sich selbst zeichnet er das Bild eines Mannes, der zwar begeistert von der Erscheinung seiner zukünftigen Partnerin ist, sich aber schließlich nur mit sich ringend und nahezu widerstrebend, fast passiv, in ihre Arme begibt, denn «[...] sin embargo, forcejeé, grité, lloré, me arrastré por los suelos... para dejarme al fin, después de tanta lucha, raptar gustosamente y amanecer una mañana en las playas de Sóller, frente al Mediterráneo balear, azul y único» (AP II, 331). Am Strand Sollers also erwacht schließlich der «entführte» Dichter im Angesicht des einzigartigen blauen balearischen Mittelmeeres, wo das verliebte Paar bald von dem Echo «bösartiger» Stimmen aus Madrid eingeholt wird. Der Aufenthalt auf Ibiza war für beide Autoren relevant. Er markiert nicht nur den Übergang vom Frieden zum Krieg. Ihre Begegnung und der Aufenthalt auf der Baleareninsel wurden in der zeitgenössischen Presse kommentiert, die argwöhnisch das junge Paar betrachtete. Alberti zitiert einen der Kommentare: «El poeta Rafael Alberti repite el episodio mallorquín de Chopin con una bella Jorge Sand de Burgos» (AP II, 331). Der Vergleich mit der berühmten und eigenwilligen französischen Schriftstellerin und dem von ihr geförderten Musiker verweist nicht nur auf das öffentliche Interesse, das beiden zuteil wurde, sondern auch darauf, dass ihre Unternehmungen Aufsehen provozierten. León hatte zu dieser Zeit bereits zwei Bücher mit Erzählungen publiziert und war mit ihrem ersten Mann nach Argentinien gereist, wo sie zahlreiche Konferenzen abhielt und Umfragen zur Diktatur von Primo de Rivera initiierte. Als León Alberti begegnete, war sie noch nicht geschieden und Mutter zweier Kinder. Alberti weist auf diesen Umstand hin, ohne dass er dies weiter ausführt. Er verharrt in der Romantisierung der Situation, obgleich sich die aufmerksam Lesenden unmittelbar nach den Konsequenzen fragen, die diese Situation für León innerhalb der damaligen Gesellschaft haben muss, auch wenn zu diesem Zeitpunkt die Zweite Republik erste Reformversuche unternimmt. Signifikant ist der Vergleich mit Chopin und Sand auch, weil es sich bei diesem Paar um die Konstellation einer ausgesprochen starken Frauengestalt und eines eher kränklichen und leidenden Künstler handelt. Zeitungsartikel und spätere Stimmen bedienen das stereotype Bild der zu fürchtenden, weil sich gesellschaftlichen Konventionen widersetzenden Frau. Neben der Stärke ist es hier die Schönheit Leóns, die immer wieder betont wird und hinter die die Bewertung ihres kreativen Schaffens durch andere immer wieder zurückfällt. Das von Robert Capa gepriesene «couple de la poésie et de la beauté»5 erweckte wohl nicht zuletzt deshalb Bewunderung und Missgunst gleichermaßen.
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Álvarez de Armas: María Teresa León, S. 81.
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Der öffentlichen Beachtung des Paares wird in La arboleda perdida die kleine ‹paradiesische› Welt der Liebenden gegenübergestellt, die sich, fast wie ein Motiv der in La arboleda perdida zitierten Bilder inszeniert, fernab von allem ereignet: Nosotros, mientras, nos reíamos, ufanos de que nuestros nombres fueran traídos y llevados por gentes tan distantes de nuestra dicha, de nuestra juventud descalza por las rocas, bajo los pinos parasol o en el reposo de las barcas. (AP II, 331)
Der Rückflug von Ibiza wird begleitet von einem schweren Sturm, der die Liebenden schließlich zwingt, in Daroca, einer aragonesischen Stadt mit römischen Mauern, zu landen, die «aislada y dura como un verso caído del Poema del Cid» daliegt. Zum ersten Mal erscheinen hier das spanische Sprachdenkmal schlechthin, das Poema de Mio Cid, und León in einem Zusammenhang: «Era la primera vez que yo volaba, María Teresa no. Aquellos atrevidos volantines no nos asustaron. Ella era muy valiente, como si su apellido – León – la defendiera, dándole más arrestos» (AP II, 331). León wird als die ihrem Namen gerecht werdende unerschütterliche Frau, als Löwin in Szene gesetzt. Rafael Alberti nutzt diese kurze Reisebeschreibung, um den Mut seiner Gefährtin zu betonen. Später wird León Ähnliches tun, wenn sie ihre Reisebeschreibungen nutzt, um ein spezifisches Bild der Stärke von sich und Alberti zu übermitteln. Die Verbindung zum Cid wird hier wieder bedient, um León zu charakterisieren, die sich in ihrem Leben intensiv mit dieser legendären Gestalt und der seiner Frau, Doña Jimena, beschäftigen und letztere mit ihrem Buch Doña Jimena Díaz de Vivar, gran señora de todos los deberes aus dem Schatten des Cids treten lassen wird.6 So dient die Beschreibung dieser Reise Alberti dazu, vor allem den Mut Leóns, die ihrem Namen alle Ehre macht, einmal mehr hervorzuheben (AP II, 331). Der «paradiesische» Zustand der auf Ibiza verlebten Momente wird von beiden Autoren in der Erinnerung herausgehoben und ihm wohnt ein identitätsstiftendes Moment für die Paarbeziehung inne.7 Der Urzustand, in dem sich das junge Paar auf Ibiza bewegte, wird schließlich dem ‹anderen› Spanien gegenübergestellt und politisch und ideologisch instrumentalisiert, wenn Alberti schreibt: «Definitivamente, tanto ella como yo empezarímos una nueva vida, libre de prejuicios, sin importarnos el qué dirán, aquel temido qué dirán de la España gazmoña que odiábamos» (AP II, 332). Dem schließen sich weitere Ausführungen zur politischen Situation und der Rolle des sich zunehmend politisierenden Schriftstellers an:
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María Teresa León: Doña Jimena Díaz de Vivar, gran señora de todos los deberes. Buenos Aires: Biblioteca Contemporánea 1960. Vgl. hierzu die ausführliche Darstellung von Antonio Colinos: Rafael Alberti en Ibiza. Seis semanas del verano de 1936. Barcelona: Tusquets 1995. In Una historia de Ibiza bereitet Alberti die auf Ibiza verlebten Ereignisse zunächst zu politischen Zwecken auf. In dieser Beschreibung wird die Anwesenheit Leóns mit keinem Wort erwähnt. Vgl. Alberti: Prosas encontradas, S. 215–245.
Fue una mañana de diciembre. María Teresa y yo, como todo Madrid, mirábamos al cielo frío, esperando que las alas conjuradas de Cuatro Vientos decidieran. Pero las alas, sintiéndose enfiladas por fusiles, se vieron impelidas a remontar el vuelo, rumbo a Lisboa. ..... dos Españas en vuelo, que habían de separarse definitivamente. (AP II, 333)
Das junge Paar, das Alberti zeichnet, wird nun ganz in diesem politisch aufgeladenen Kontext verortet. Vergegenwärtigen wir uns, dass sich León und Alberti 1930 begegnet waren, nicht lange bevor 1931 die Zweite Republik in Spanien ausgerufen wurde. Die Zusammenarbeit beider entwickelte sich schnell und León war es, die Alberti etwa mit der Schauspielerin María Teresa Montoya zusammenführte, die sie bereits auf ihrer ersten Reise nach Argentinien kennengelernt hatte. Aus dieser Begegnung entwickelte sich El hombre deshabitado und dessen provokante Aufführung, die das Publikum in Aufruhr brachte (AP, II, 334). Diesem ‹dramatischen› Akt folgt die Proklamation der Zweiten Republik, die vom Paar bei einem Aufenthalt in Rota freudig begrüßt wird. Zum Ausklang des zweiten Buches von La arboleda perdida wird diese politische Aufbruchsstimmung vergegenwärtigt, die mit dem Beginn der Paarbeziehung zusammenfällt, die Alberti somit in der Erinnerung nicht nur kunsthistorisch, sondern vor allem auch – in Verbindung mit dem zeithistorischen Kontext – politisch auflädt. Signifikanterweise endet der erste Band von La arboleda perdida mit einem weiteren Neubeginn in den Wäldern von Castelar, wo León und Alberti neunzehn Jahre nach ihrer Ankunft im argentinischen Exil gemeinsam ein Haus bauen, das den Namen «La arboleda perdida» trägt. Doch wenn auch beide gemeinsam an diesem neuen «verlorenen Hain» arbeiten und schließlich zum Himmel schauen, um zu sehen, ob es regnet – der letzte Satz ist Albertis individueller «Arboleda» gewidmet, die nur von ihm bewohnbar ist: Miramos a lo alto. No llueve. Fulge el cielo un azul casi gaditano. Sobre mi Arboleda argentina, pasa, tranquilo, el sol, con el que envío un saludo ideal a aquélla otra tan lejana y perdida de mi niñez. (AP II, 354.)
3.1.2. Memoria de la melancolía: Promenade und Appell mit Damensolo. Die Dynamisierung (gem)einsamer LiebesLäufe León schrieb Memoria de la melancolía an einem Ort, an dem Alberti die Arbeit an La arboleda perdida ruhen ließ: in Italien. In dieser Zeit erlebte sie die ihr entgegengebrachte Aufmerksamkeit durch das gesellschaftliche und familiäre Umfeld als eingeschränkt.8 Das Schreiben bot ihr in dieser Situation die Möglichkeit sich
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In einem der Notizbücher schreibt León, dass es traurig sei, die Zeitschriften oder Zeitungen des Heimatlandes zu öffnen und nie den eigenen Namen darin zu lesen. An dem Namen Albertis fehle es nicht, so die Autorin, aber der von ... (Auslassung im Orginaltext) nie. Und sie schließt: «Sería mal ejemplo. Necesitamos las mujeres cariñosa, poco leidas, nada escribidas (escribidas ist doppelt unterstrichen), las de casa para adentro sin política ni cuentos para afuera.» María Teresa León: Notizbuch. A 632. Fundación Rafael Alberti.
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in vergangene, gegenwärtige und zukünftige geographische, literarische und gefühlte Welten, die ihr in der Gegenwart (noch) verschlossen waren, einzuschreiben. Memoria de la melancolía enthält vieles, was Alberti in den ersten beiden Büchern zwar ankündigt, aber noch nicht erzählt hat. Auf diese Weise schreibt sich León in seinen Diskurs ein, schafft eine Version des von ihm noch zu Erzählenden und quert seinen LebensLauf im Prozess. So nimmt sie zuvor in La arboleda perdida Erwähntes und die gemeinsame Geschichte Betreffendes (so etwa die Begegnung beider und die Ereignisse im Kontext der Zweiten Republik) auf, knüpft mit den gemeinsamen Erlebnissen im Spanischen Bürgerkrieg daran an und geht mit Ausschnitten aus ihrem Leben im argentinischen und italienischen Exil weit darüber hinaus. Die Aufnahme Rafael Albertis in Memoria de la melancolía beginnt mit einer subtilen und zugleich eindringlichen Geste, im Kontext der Beschreibung der Gefühle des autobiographischen Ichs in Anbetracht dessen, was ihm durch den Ausgang des Bürgerkrieges genommen worden ist. Das kurze Gedankenspiel mit dem Wunsch der Wiedergewinnung des Verlorenen wird schnell unterbrochen und mündet in die Aussage des Ichs: «Dejé en el suelo mis canciones y me senté. ¡Una patria! Agarré al mano siempre amada. Templaba un poco. Nos quedamos mirándonos. Y nada más...» (MM, 17). Die «geliebte» Hand wird ergriffen und Blicke werden ausgetauscht. «Und nichts weiter...» im Angesicht des Verlustes und der Aufgabe des Heimatlandes, die mit der typischen Stigmatisierung als «Rotspanier» einhergeht, die für viele ExilspanierInnen zum Dreh- und Angelpunkt einer Identitätsarbeit im Exil wurde. León greift ebenso wie Alberti diesen für das Selbstverständnis des politisch aktiven Paares wesentlichen Aspekt auf, wenn sie schreibt, dass sie als «gente marcada», gezeichnet wie die Schafe, die Mendoza bestiegen, um sich zunächst in El Totoral (Córdoba) niederzulassen. Es folgt eine Positionierung in und Identifizierung mit dem Ausgestoßen-Sein (MM, 27) und ein sich an diese Erfahrung anschließender Dialog zwischen einer an die erste und zweite Person Plural gebundene Gruppe. Das Wir repräsentiert die León einschließende Gruppe der «desterrados de España», «los que buscamos la sombra, la silueta, el ruido de los pasos del silencio, las voces perdidas»(MM, 30). In dem Wir wendet sich das autobiographische Ich an die «jóvenes sin éxodo y sin llanto» mit der Botschaft, dass von den Ruinen ausgehend eine neue Stadt mit neuen Gesetzen geschaffen werden müsse. In der nächsten Sequenz wird der Blick zurück gerichtet auf die Zeit kurz vor dem Ausbruch des Bürgerkrieges, in der – und hier taucht der Name «Rafael» erstmals auf – «Rafael» Todesdrohungen bekam. Von nun an erscheint Rafael in viele Momenten «junto a ella» und geht im Wir auf, wobei unaufhörlich zwischen einem Wir, das allein das Paar umfasst und eines, das sich auf die Gruppe der «desterrados» bezieht, gewechselt wird. Die wechselseitige Nennung des Namens in Erscheinung mit dem jeweiligen autobiographischen Ich wird von beiden Autoren gleichermaßen gepflegt, um auf die begleitende Präsenz des/der Anderen hinzuweisen. Darüber hinaus dient die alleinige Nennung des Namens der Beschreibung konkreter Erfahrungen des/der Anderen oder der direkten Ansprache innerhalb der eigenen Autobiographie. Der Effekt ist eine Parallelisierung der jeweiligen LebensLäufe, denn: 54
[…] cada autor nombre constantemente al otro en su respectivo libro de memorias. En Memoria de la melancolía se reiterará el «Recuerdas Rafael?»; y a menudo será sujeto de enunciación «Rafael y yo» o el «nosotros» que señala a ambos. En La arboleda perdida encontramos, a cada paso, «María Teresa y yo», «con María Teresa», «ya María Teresa ha contado», «lo anunció María Teresa», etc.9
Die weitere choreographische Analyse des LiebesLaufes in Memoria de la melancolía entfaltet sich am Beispiel zweier textueller Bewegungsfiguren: Die erste ist die des Sich-Vereinens, die zweite, die des Sich-Lösens. Das von Pochat Herausgestellte kann im Kontext der Figur des Sich-Vereinens, die vor allem dem jeweiligen Bild und Selbstverständnis des Paares im Kontext seines politischen Engagements geschuldet ist, gelesen werden. Sie scheint eng mit dem kommunistischen Verständnis der Paarbeziehung, wie es etwa Alexandra Kollontai in ihren Studien zur freien Liebe oder zur Familie im kommunistischen Staat beschreibt, verbunden und damit an ein Bild der Paarbeziehung als eine die «Ketten der Ehe» sprengende «Kameradschaft» angelehnt zu sein. Dieses Bild wird vor allem im Kontext der Narration politischer Aktivitäten wirksam und steht somit nicht zuletzt im Zusammenhang mit der von León mit Memoria de la melancolía aus dem Exil heraus praktizierten Sinnstiftung, die um die Überlieferung und Erzählbarkeit von individuellen und kollektiven Erfahrungen und Ereignissen ringt, die dem Vergessen anheimzufallen drohen. Die (Re-)Inszenierung der (früheren) Einheit des ‹politischen› Paares wird in Memoria de la melancolía in der literarischen Wiederbelebung Albertis als «Stimme Madrids» und «Herz Spaniens» in Barcelona deutlich (MM, 35).10 Dieser narrativ ausgestaltete performative Akt findet wenige Seiten später sein Pendant in der von León zitierten Cantata de los Héroes y la Fraternidad de los Pueblos, die Alberti für die Verabschiedung der Internationalen Brigaden verfasst. León repräsentiert «Spanien» und erhebt als dieses ihrerseits ihre Stimme, mit der sie die Worte Albertis übermittelt. Sie erscheint als Sprachrohr seiner Dichtung, die sie ‹verkörpert›. Die Repräsentation der Verbindung Spaniens mit seinem «Herzen» Madrid durch dieses Paar mündet in eine Identifikation und der von León zitierte Vers beginnt mit «Yo soy España» (MM, 42). Einmal mehr wird die literarische ‹Kollaboration› zu Kriegszwecken hervorgehoben und der Protagonismus beider in Memoria de la melancolía betont. Die narrative Darstellung des Spanischen Bürgerkrieges nimmt in Memoria de la melancolía zweifellos den größten Raum ein. Für León gilt diese Zeit als eine ihrer glücklichsten an der Seite Albertis. Das autobiographische Ich geht entlang der Erzählung der kriegerischen Ereignisse viele Male im Wir auf. Verstärkt wird diese Fusion des Ichs mit dem Anderen im Wir, die sich meist auf Alberti bezieht, aber eben auch zur Identifikationsgrundlage mit dem Kollektiv der antifaschistischen SpanierInnen
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María Teresa Pochat: María Teresa León, memoria del recuerdo en el exilio. In: Cuadernos Hispanoamericanos 473–74 (November-Dezember 1989), S. 134–142, S. 138. León spielt hier auf das berühmt gewordene Gedicht Madrid, corazón de España von Alberti an, das im Kontext der Verteidigung der beiden entscheidenden Städte im Bürgerkrieg, Barcelona und Madrid, verfasst wurde.
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im Krieg und im Exil wird, durch die Polyphonie des Textes, die im Kontext des vierten Kapitels noch eingehend beschrieben wird. Ein weiteres wesentliches Merkmal der ‹Darbietungsform› ihrer autobiographischen Erzählung ist die oft in Memoria de la melancolía verwendete szenische Darstellung der Ereignisse, die vor allem durch die Formen der autonomen direkten Rede den Eindruck der Unmittelbarkeit erweckt. León nähert sich darin einer dramatischen Präsentation des Geschehenen an, die ihr durch das Theater vertraut ist. Durch sie scheint sie am ehesten der Komplexität des von ihr Durchlebten gerecht werden zu können. Ferner bietet sie ihr eine Möglichkeit, an die in Memoria de la melancolía beschworene orale Tradition und der sie umgebenden Stimmen, auch der verschiedenen eigenen, anzuknüpfen und diese dem Schreiben anzuverwandeln.11 Vor allem aber erlaubt ihr der gewählte dramatische Modus – und das ist im Kontext dieses Kapitels von Bedeutung – der Stimme Albertis, die in ihrem Klang von ihr erinnert wird und vermittels des Zitierens von Versen und Strophen seiner Gedichte Eingang in ihren Text findet, Raum zu geben. So wird die Vereinigung des Paares getragen von den intertextuellen Bezügen in Memoria de la melancolía zur Dichtung Albertis, die zitiert und kommentiert und subtil in den eigenen TextKörper integriert wird: Ahora cuando me veo junto a Rafael, me hace gracia pensar que entró en mí por tradición oral, en forma de estribillo, apoyándome en él sin conocerlo, sin saber que había escrito Marinero en Tierra, [...] y mucho menos, que hace hoy treinta y siete años que nuestras huellas por el mundo van paralelas. (MM, 57)
Der späteren Parallelität der gemeinsamen Spuren über den Erdball wird hier das Eindringen der «Ströphchen» Albertis vorangestellt. Diese in der oralen Tradition vermittelte Dichtung des Unbekannten, diese Einverleibung der poetischen Materie, auf die sich das autobiographische Ich «stützt», geht der späteren Vereinigung voraus, welche sich schließlich in dem Bild der parallel verlaufenden Spuren in der Welt ausdrückt. Die «empfangende» Haltung bezüglich der Worte und ihrer «befruchtenden» Wirkung werden bereits früh erfahren und zum Ausdruck gebracht: […] una vez alcanzó [la niña] a subir a un escenario y dijo versos. Toda poesía es una nevada, una lluvia fertilizante. Se sintió satisfecha hasta el borde y siguió diciendo versos, declamando lo que deseaba vivir y que ya estaba escrito. En la poesía iba encontrando todo lo que tan insistentemente le había negado la vida. Cerraba los ojos, inundada de sensaciones nuevas hasta colmarse. Era su estado de gracia. Había encontrado aquella muchacha un seguro asilo. Dejaba la pequeñez de su vida tirada a sus pies como un montón de olvidos y decía, casi sollozando, los versos que ella no sabía escribir. (MM, 40)
Die Dichtung verkörpert ein lustvolles Element, mittels dessen sie das auszudrücken vermag, was ihr das Leben verwehrt hat, und durch das sie einen beseelten
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Auf diesen für das Verständnis des autobiographischen Schreibens Leóns wichtigen Aspekt werde ich im Kapitel 4 unter Abschnitt 4.1.2.1. noch ausführlich eingehen.
und glücklichen Zustand erreicht, wenn auch nur für einige Augenblicke. Im Rezitieren wird sie zur Mittlerin zwischen dem geschriebenen und dem gesprochenen Wort. Sie selbst vermag nicht die befriedigenden Verse zu verfassen, doch ist es ihr Körper, in den sie eindringen und der sie schließlich zum Klingen bringt12: Por eso, cuando la niña ahora lee Marinero en Tierra, los versos le parecen suyos porque ha sorbido por contacto de sus venas los esteros y las salinas, la bahía y los puertos. Y se siente inundada de una calma extraña como si pudieran vivirse dos vidas paralelas, dos vidas que corriesen, mirándose, saludándose, sonriéndose. (MM, 76)
Mit der Einverleibung der für die Dichtung Albertis kennzeichnenden Worte findet eine Aneignung seiner Text- und Lebenswelt statt, in die sich León hier auf verschiedenen Ebenen einschreibt. Für Memoria de la melancolía gilt, was das autobiographische Ich in Hinblick auf die Identität eines Menschen aussagt, nämlich, dass sie «el producto de lo que los otros han irradiado de sí o perdido» (MM, 62) seien. Eigenes und Fremdes sind unauflöslich miteinander verwoben und bedingen gemeinsam das im Prozess und Wandel befindliche Sein. León ist nicht ohne Alberti und dieser nicht ohne sie zu denken und ebenso wenig ihre Worte ohne die seinen. Die inhaltlich besungene Parallelität beider Leben wird durch das Einschreiben des vielleicht bekanntesten Titels Albertis, Marinero en tierra, und die Verweise auf dessen Motive noch unterstrichen, weil sie im Text am Beispiel des «Wortmaterials» gleichzeitig vorgeführt werden. Von der Anverwandlung wechselt sie hin zu einer poetischen Beschreibung, in der das Mädchen von Wasser und Salz, die mit Alberti assoziierten Elemente, bedeckt wird. Diese von ihr inszenierte Vereinnahmung ihrer selbst durch Elemente der Dichtung Albertis mündet in eine Berührung, denn «[s]e ve [la niña] cubierta de agua, de sal. Se ve de sirena, alga. Siente los peinecillos entre las trenzas. Los labios andaluces sobre los suyos de Castilla» (MM, 76), und die Berührung in eine Vereinigung der geographisch markierten Lippen. Seine Dichtung wird nachträglich zum «seguro asilo» des Mädchens erklärt und zum Zufluchtsort einer Frau, die immer wieder erlebt, dass sie unerwartet aus ihren Lebenszusammenhängen gerissen wird. So besteht sie darauf: Sí, abuela me voy, sigo el viaje. He regresado para decírtelo: Rafael y yo no desuniremos nuestras manos jamás. Ya sé, ya sé. Adiós, abuela, adiós madre. Ya no estoy sola, ya no me contesta el eco cuando hablo en voz alta. Empiezo, empiezo por mi cuenta y riesgo la vida. Nos vamos a Francia. Él es poeta. Le conoces? Abuela, me recibirás cuando regrese? Y mi abuela Rosario contestó: Vuelve. Tu eres mi nieta. Esta es tu casa. Nada más. (MM, 76 und 101; Hervorhebung hinzugefügt)
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Rosa Chacel stellt in einem Artikel über María Teresa León den unermüdlichen Arbeitseifer der Autorin und ihre Fähigkeit, sich auch in der Welt der Dichtung «como el pez en el agua» zu bewegen, heraus und betont darin die Produktivität dieser Schriftstellerin, die sich hier in einer reproduzierenden Funktion beschreibt. Vgl. hierzu Rosa Chacel: María Teresa. In: Insula 557 (Mai 1993), S. 15–16, S. 16.
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Diese Textstelle steht in Memoria de la melancolía zweimal mit unverändertem Wortlaut geschrieben. Ihre Bedeutung wird durch das wiederholte Aufgreifen des Abschnitts unterstrichen, der von Abschied und Rückkehr zeugt. In beiden Fällen steht der Abschnitt isoliert im Text und unterhöhlt den Ausspruch «ya no me contesta el eco cuando hablo». Wenn es auch nicht mehr das gesprochene Wort des Ichs ist, das einer Echostruktur folgt, das bereits geschriebene Wort hallt im Schreiben immer wieder nach. León verankert sich in der Dichtung Albertis, was durch das Bild des nebeneinander Hand in Hand gehenden Paares noch unterstrichen wird. Das gemeinsame parallele Vorwärtsschreiten wird nicht zuletzt in den politischen Bildern beider aus Zeitungen der dreißiger Jahre versinnbildlicht. Der gemeinsame Aktionismus und die zum Teil starke Einbeziehung Albertis in die Autobiographie Leóns führen immer wieder zur Überschreitung der Autobiographie Leóns hin zur Biographie Albertis, dessen Aufstieg als Dichter und politisch engagiertem Intellektuellen sie begleitete. Die Aufnahme seines Lebens in ihren Text scheint sich vor allem in der Beschreibung des Spanischen Bürgerkrieges, aber auch von Reisen und Bewegungs(t)räumen zu ereignen, wenn Memoria de la melancolía Albertis TextLeben kreuzt und aufnimmt: Era el momento en que nuestros viajes estaban en su apogeo. Después de aquel poema que Rafael escribió junto a mí – «el que no pudo nunca hablar de sus viajes...» cambió el signo y fueron mares, caminos y carreteras. (MM, 106)
Die Ruhelosigkeit beider, die sie von einem Ort zum nächsten treibt, wird bei León ausführlich dargestellt und findet hinsichtlich ihrer Verbindung neben einer poetischen eine astrologische Erklärung: Tal vez la unión del marinero en tierra con la mujer de tierra adentro, la conjunción de Scorpio y Sagitario, haya dado a nuestras vidas muchos kilómetros de caminos, unos, voluntarios, y otros, impuestos. (MM, 115)
Sie werden auf diese Weise als «peregrinos» schlechthin inszeniert und damit zu einer starken und wirksamen Identifikations- und Integrationsfigur für alle, die dasselbe Schicksal ereilt. Der Verschränkung und Parallelisierung folgt schließlich die suggerierte Verschmelzung: «El efecto del amor es tranformar a los amantes y hacerlos parecerse al objeto amado, dice el Petrarca. Si eso fuese así yo sería Rafael Alberti» (MM, 263). Zu beachten ist hier jedoch der im subjuntivo stehende zweite Satz, der die Identifikation mit dem Liebesobjekt suggeriert und zugleich unmöglich werden lässt. Der Strategie der Vereinigung ist eine weitere entgegengesetzt, die eine gänzlich andere Dimension sichtbar werden lässt und weiter oben als Figur der Trennung und Anverwandlung bezeichnet wird. María Teresa León, die in La arboleda perdida als stilisierte Venus erscheint, schreibt sich in die von Rafael inszenierte Begegnung beider ein und verleiht ihr eine neue Dimension. In ihrer Darstellung wird die poetisierte Darstellung Albertis einer Art Realitätsprüfung unterzogen, die sich der Vereinnahmung als starke Venus zu widersetzen scheint: In Memoria de la melancolía kommen Frustrationen, Unsicherheiten und Ängste angesichts der neu entstehenden Beziehung zum Ausdruck, die in Albertis Stili58
sierung keinen Platz finden (MM, 31). Mehr noch: in Memoria de la melancolía scheint gar ihre Vergangenheit mit Alberti auf dem Spiel zu stehen. Das von ihm Besungene wird wachgerufen und liest sich wie ein Versuch der Erinnerung an eine vergangene Liebe im Sinne Cernudas, der über die Liebe schreibt: «¿Qué queda de las alegrías y penas del amor cuando éste desaparece? Nada, o peor que nada; queda el recuerdo de un olvido.»13 Sí cree que la besaron en los hombros o puede que fuera en los labios o en los ojos... Hundieron juntos las manos en el agua helada de la sierra y él se las secó en el pelo de la muchacha, tendido sobre el césped. (MM, 24)
Dem «Sí cree» kommt dann eine besondere Bedeutung zu, wenn man sich Ausführungen der Autorin in ihren Notizbüchern vergegenwärtigt, in denen sie das Fehlen von zärtlicher Zuneigung – im Speziellen von Küssen – von Seiten Albertis beklagt: ¿Mira que si no fuese verdad estos versillos, estas canciones pequeñitas, estos peinecillos sonoros que estoy escuchando? Se le clavaron para siempre. Aquellas manos que la reclamaban se juntaron a su espalda y jamás supieron separarse de su cuerpo. (MM, 34)
Die von Alberti an sie gerichteten Verse und Lieder sind nicht vergessen. Im Gegenteil scheint das Vergessen (in) der Liebe mit der deutlichen Aussage, dass die Verse für immer in sie eingemeißelt seien, Alberti wie eine Mahnung zugeschrieben zu werden. Die Bedeutung von «clavarse» als Eindringen schließt in seiner figurativen Form die des Sich-Täuschens und Irrens ein. Die Hände, die sie begehren und nach ihr verlangen, werden zusammen mit den Versen zum verbindenden Moment. Dieser Zweifel lässt sich mit einem weiteren Strang verbinden, der sich in den Ausführungen zu anderen bekannten Paaren wie Elsa Triolet und Louise Aragon (MM, 39) zeigt. Es seien die Frauen, so María Teresa León, die die Fragen des Lebens lösten und dies vor allem im Leben der Dichter. Dass dies eben nicht mit einer stillen Opferbereitschaft Leóns geschah, weil sie Alberti uneingeschränkt bewundert und geliebt hat, davon legen Memoria de la melancolía und die Notizbücher Leóns Zeugnis ab. Oft werden bei der Lektüre von Memoria de la melancolía kritische Untertöne überhört oder wegen des wirksamen «Bildes der Einheit des Paares», das vor allem auch von beiden selbst zu politischen Zwecken gefördert wurde, übersehen. Deshalb ist eine differenzierte Betrachtung des Paares und seiner Bilder, wie sie innerhalb und außerhalb der Texte konstituiert werden, für die Analyse der Autobiographien und der darin entwickelten Identitätskonstruktionen von großer Bedeutung. Am Beispiel der Zenobia Camprubí de Jiménez, der Frau von Juan Ramón Jiménez, stellt León die Rolle heraus, die Frauen im Leben der Dichter spielen. Dennoch bleiben sie im Hintergrund, ohne eine Ehrung zu erhalten. María Teresa León durchbricht diese Sichtweise, indem sie Zenobia in Memoria de la melancolía zur Empfängerin des Nobelpreises erklärt:
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Luis Cernuda: La realidad y el deseo (1924–1962). Madrid: Alianza 2000, S. 93.
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Zenobia Camprubí acababa de recibir el premio Nobel. Me diréis: no, estás confundida, el premio Nobel fue para Juan Ramón. Pero yo contestaré: ¿Y sin Zenobia, hubiera habido Premio? […] En su fuerza segura se trenzaba la existencia diaria de Juan Ramón. (MM, 310)
Nur so kann sich, ohne dass dies jemand bemerkt habe, das «milagro de Juan Ramón» (MM, 312) entwickeln. Sie lässt es an kritischen Worten nicht fehlen, denn «[l]os poetas comen, duermen, se agitan y desean como cualquier hombre. Bueno, no, peor, son más difíciles que qualquier hombre» (MM, 310).14 In diesem Zusammenhang wird auch die Fortschrittlichkeit des Lyceum Club im Madrid der 30er Jahre gewürdigt, der Frauen ein eigenes kulturelles Zentrum für einen intensiven literarischen Austausch und (MM, 311) keine Versammlung für Frauen «de abanico y baile» war. Dieser «Aufstand der Röcke» rief Unmut in der Gesellschaft hervor und wurde heftig attackiert (MM, 311). Die Fortschrittlichkeit dieser Institution überfordert die gesellschaftlichen Gegebenheiten, die die Rolle der Frauen vor allem noch als unterstützende Kraft, als «perfecte casada», verstehen. Frauen wie Zenobia Camprubí (oder sie selbst) bleibt als Gehilfinnen das Schattendasein und die Melancholie der Vögel «que al cantar en la tarde creen haber ayudado al sol» (MM, 312), die traurig möglicherweise auch auf das blicken, was durch ihre Unterstützung des Anderen von ihnen selbst nicht geschrieben wird. León lässt keinen Zweifel an der Bedeutung, die die Dichter als Männer im Leben der Frauen einnehmen und folgt scheinbar darin dem traditionellen Bild der sich voller Hingabe und Aufopferungsbereitschaft der Unterstützung des Mannes widmenden Frau. Doch sie kritisiert es und stellt die Leistungen der Frauen darin heraus. Wenn sie am Ende diese Opferbereitschaft als «decisión hermosísima: vivir al lado del fuego y ser la sombra» (MM, 312) wertet und die eigenen literarischen Leistungen scheinbar zugunsten des bekannten und angesehenen Dichters zurückstellt, so müssen diese Äußerungen mit Vorsicht gelesen werden, zumal sich León ihrer gesellschaftlichen Position an der Seite Albertis im Italien der 60er Jahre und der Wahrnehmung dieser durch das Außen – davon zeugen die Eintragungen in den Notizbüchern – bewusst gewesen ist. Jede deutlichere Form einer Positionierung ihrerseits gegenüber Alberti hätte sie sehr wahrscheinlich in den Augen der Öffentlichkeit diskreditiert. In dieser Hinsicht sollte Memoria de la melancolía auch mit Blick auf eine ihrem Text eigene Zweistimmigkeit gelesen werden, die von einer literarischen Praxis zeugt, die Normen und Konventionen zum Teil scheinbar bestätigt, jedoch nicht aufhört sich an ihnen zu reiben und sie nicht zuletzt subtil zu untergraben.
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«Siendo la mayor admiradora y la más abnegada colaboradora, su trabajo queda relegado a un segundo plano, absorbida totalmente por el autor de Marinero de tierra, al que da todo su apoyo y todo su aliento, convencida del extraordinario poeta. ¿Merecía todo ese sacrificio?» fragt Huerga auf provokante Weise in einem ähnlichen Zusammenhang. Florentino Huerga: Una patría, Señor. María Teresa León. In: Quimera 123 (1994), S. 23–33, S. 23.
3.2.
Bewegungsfigur II: Von der Verwicklung zur Trennung der TextLeben
3.2.1. La arboleda perdida III und IV: Chassé Capa. Die Unausweichlichkeit der Memoria de la melancolía Zum Zeitpunkt der Entstehung des dritten Buches von La arboleda perdida, also nach der Rückkehr des Paares aus dem Exil nach Spanien, kündigte sich ein relatives Ende der Paarbeziehung an, das zahlreiche Auseinandersetzungen mit sich brachte.15 Die Krankheit Leóns und die Schwierigkeiten, die Alberti im Umgang damit zu haben schien, führten zu eingeschränkten Kontakten zwischen beiden. Die Herausforderungen, die eine Alzheimererkrankung für alle Beteiligten bedeutet, schienen vor allem für den Dichter, der es gewohnt war, sich auf die von ihm so stark gezeichnete Frau zu stützen, ein Problem darzustellen. Zur Zeit der Niederschrift des dritten Buches ist damit die Lebenswelt und Beziehung des Paares eine gänzlich andere geworden. Nicht nur dem veränderten Spanien war zu begegnen, sondern auch den eigenen Veränderungen an Leib und Seele, die mehr und mehr vor allem auf eines verwiesen: auf die zukünftige Abwesenheit beider. Bei der Betrachtung des Zweiten Bandes von La arboleda perdida sind in diesem Kontext drei Faktoren relevant: die Tatsache, dass La arboleda perdida III und IV vor dem Hintergrund der Autobiographie Leóns entstand, was zu neuen, quasi unausweichlichen, Bezügen zu Leóns TextLeben führte, die Krankheit Leóns und die Rückkehr nach Spanien. Auffällig ist zunächst, dass mit dem dritten Buch die Unordnung (chronologisch gesehen) zum stilprägenden Prinzip erhoben wird und sich Alberti in dieser Hinsicht stärker an Leóns Prinzip einer «memoire involontaire» anzulehnen scheint, wo die «retazos, según el viento me los vaya trayendo, de mi Arboleda Perdida» zugeweht werden. Besonders deutlich wird die Anlehnung an Leóns «jardín cerrado»16, wenn er schreibt: Pues bien: yo quiero, desearía contar ahora la guerra civil española desde mi «campo de coles» ese que yo solamente pude ver, sin recurrir hoy a historias posteriores o documentales, atendiendo tan sólo tuve ante mí, a lo que sé, tantas veces a medias, lleno con toda seguridad de errores, de nombres y fechas equivocados. (AP III, 11f.)
Gerade in der Betonung der Singularität des Erfahrenen, die sich auf keine nachträglichen Geschichtsdarstellungen bezieht, erfolgt eine Übernahme der von León zum Auftakt ihres Buches gewählten Strategie.17 Alsbald wird dann die Prome-
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16 17
Vgl. hierzu die Ausführungen von Prado: María Teresa León, la mujer inventada, S. 307f. Er ist es auch der «cinco carpetas con manuscritos y cuadernos» Leóns erwähnt, auf die ihn Alberti in seiner Wohnung zeigend verwies. Ebd., S. 200. Vgl. hierzu Kapitel 4. Abschnitt 4.1.1.2. Prado berichtet, dass ihn Alberti um seine Ausgabe von Memoria de la melancolía bat, als er am zweiten Band von La arboleda perdida (also am dritten und vierten Buch) arbeitete. Prado: María Teresa León, la mujer inventada, S. 199.
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nade mit den vielfältig auftauchenden Wir-Formen mit León eröffnet und dieses dritte Buch mit den Erinnerungen an die gemeinsam erlebte Flucht von 1939, die im ersten Buch den Rahmen der Erzählung bildete, eröffnet. So beginnt signifikanter Weise die eigentliche autobiographische Erzählung mit einer WirForm, «Estábamos», die auf den nächsten Seiten weitestgehend beibehalten wird, wenn über die gemeinsame Flucht berichtet wird: «Con María Teresa me eché a andar entonces por un camino, pensando huir hacia Granada...» (AP III, 15). Der Flucht nach Oran folgt ein Flashback in die frühen dreißiger Jahre und die gemeinsamen Reisen zur Betrachtung des europäischen Theaters Ende 1932, die beide zuerst nach Berlin führte: «A finales de 1932 me encontraba en Berlín con María Teresa pensionado por la Junta de Ampliación de Estudios para estudiar los movimientos teatrales europeos.» (AP III, 26). Diese Reise führte das Paar weiter nach Warschau, Moskau und in anderen Städten. Das politisierte Paar macht sich schließlich nach Mexiko auf, allerdings, so Alberti «sin levantar la cruz y mucho menos la espada», denn beide seien «[d]os escritores españoles, pacíficos – no dos odiados, por aún colonialistas, gachupines –, dispuestos a que los mexicanos ayudasen a unos cuantos miles de mineros, sublevados y encarcelados en Asturias por el gobierno de Gil Robles» (AP III, 64) gewesen. Ohne Eroberungsabsicht, sondern sich vielmehr sogleich unterwerfend (AP III, 64), wird Mexiko mit keinem Geringeren – in Form eines Buches versteht sich und nicht leibhaftig – als Bernal Díaz del Castillo bereist, dessen politischen und geographischen Spuren das Paar folgt. Im folgenden Kapitel schließlich vollzieht Alberti einen textuellen hook turn und macht Aussagen über die Parallelität der Texte: Mucho mejor que yo los pueda hoy contar, ciertos momentos anécdotas o episodios de nuestra vida los relata María Teresa en su Memoria de la melancolía, tal vez con su novela Juego limpio, su obra más viva y original, paralela a esta mi Arboleda perdida. (AP III, 65)
Diese wird anschließend durch die Einbettung von Textausschnitten aus Memoria de la melancolía durch ihn selbst inszeniert, indem er seinerseits explizit den Abschnitt aus Memoria de la melancolía, der sich ebenfalls auf diese Reise bezieht, aufgreift, ihn in seine Ausführungen einwebt und weiterführt. Eine dramatische Dimension erhält die Auseinandersetzung in La arboleda perdida III hinsichtlich der spezifischen Krankheitserfahrung Leóns. Das NochSchreiben-und-Erinnern-Können wurde unter diesen Bedingungen zu einer besonderen Form der Existenz- und Identitätsbestätigung und der autobiographische Text einmal mehr zum entscheidenden Kommunikationsmedium, um sich der zukünftigen von León ausgehenden Stille und Sprachlosigkeit zu erwehren und eigene Erfahrungen für nachfolgende Generationen festzuhalten. In diesem Zusammenhang etwa kommt den intertextuellen Bezügen zwischen Albertis und Leóns Autobiographien eine eigene Funktion zu: Dort, wo die Partnerin schweigt, ist es das von ihr Geschriebene, das auf Alberti antwortet und auf das er sich noch beziehen kann. In Albertis drittem Buch seiner Autobiographie werden auch im Kontext der Erzählung vom Aufenthalt des Paares auf Ibiza Auszüge aus Memoria 62
de la melancolía in die Gestaltung der eigenen Lebenserfahrung miteingewoben, diesmal um das von León Begonnene zu «ergänzen» und weiterzuschreiben. Zunächst wird in der ersten Person Plural von dem Vorhaben des Paares berichtet, nach Galicien zu reisen, was durch ein tragisches Zugunglück verhindert wird und ihren «rumbo geográfico» in Richtung Ibiza ändert. Hier beeindruckt vor allem die Sierra Aitana das Paar, der die spätere Tochter ihren Namen verdankt. In dem darauf folgenden Kapitel greift Alberti wieder zu einem direkten Bezug zu Memoria de la melancolía, das mit der Aussage beginnt: En su memoria de la melancolía, libro de María Teresa León que enlaza tantas veces y enmaraña sus ramas con las de mi Arboleda perdida, aquel momento, tan bella y peligrosamente vivido en la isla de Ibiza, se me ocurre ahora ampliarlo, completando el capítulo en el que relataba algo de lo que nos pasó en aquella brillante y cegadora ínsula balear. Allí estábamos juntos. (AP III, 84)
Alberti verweist hier explizit auf die Verzweigungen zwischen beiden Büchern, obgleich durch das von ihm Geschriebene suggeriert wird, dass die verwebenden Bewegungen von Leóns Buch aus hin zu seinem unternommen werden und nicht umgekehrt. Darüber hinaus verspürt er den plötzlichen Drang, einiges, was sie über diesen gemeinsam verlebten Lebensabschnitt erzählt hat, zu ergänzen und zu erweitern. Mehr noch: A ti, María Teresa, que andas ahora, a tus ochenta y tres años, perdida y olvidada de quién eres, como una blanca sombra por una selva shakesperiana, te quiero recordar, separando las ramas que nos confunden, aquello que no se nos fue de la memoria y permanece aún como el primer día de nuestra entrada en la guerra aquella que iniciaron los militares sublevados el 18 de julio de 1936. ¿Me puedes atender? (AP III, 84)
Alberti richtet in dieser Textsequenz seine Worte direkt an León, die zu diesem Zeitpunkt bereits schwer an Alzheimer leidet und nicht mehr weiß, wer sie ist. Alberti spielt auf einen Wald à la Shakespeare an, durch den sie sich bewegt, und wir denken etwa an den magischen und verwirrenden Wald des Elfenkönigs Oberon im Sommernachtstraum, in dem sich die sonderbarsten Dinge zutragen, die für den Menschen unverständlich bleiben. Alberti schickt sich an einen Weg durch das Dickicht dieses Waldes zu schlagen, um – wie es scheint – die von León beschriebenen Geschehnisse zu ordnen. Er greift damit einmal mehr in das von León Geschriebene ein und Memoria de la melancolía wird als Prätext in eine neue Sinnkonstitution miteinbezogen. Dies sind, wenn auch poetisch verkleidet, Momente der literarischen Paarbeziehung, durch die Formen der Asymmetrie entstehen, denn León vermag nicht mehr zu antworten, auch wenn Alberti in seinem Text einen Dialog mit ihr inszeniert. Ihre Stimme ist verstummt.18 Schließlich will Alberti in seiner an sie gerichteten Rede sie und das, was sie selbst einmal schrieb und was sie nun
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Vgl. hierzu die Ausführungen des Abschnitts 1.2.2. Ethische Implikationen auto/biographischen Schreibens des 2. Kapitels.
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nicht mehr weiß, erinnern und in gewisser Weise ihre vergessen(d)e Stimme dem Verlorengehen entreißen. Obgleich: Yo no sé si podré ahora – o repetir ahora –, María Teresa, todo lo que fuiste, todo lo que diste en tanto tiempo: durante aquellos treinta y tres meses de guerra y luego allá, en Buenos Aires: libros, conferencias, artículos, radio, televisión, películas, alguna de prestigio internacional, como La dama duende... y, sobre todo esto, la voz nueva de Aitana, hija de los ríos argentinos... (AP III, 88)
Er vermag es kaum, dem Leben seiner Frau außerhalb des gemeinsam Gelebten, das sich nicht zuletzt immer wieder in der ersten Person Plural manifestiert, gerecht zu werden. Es wird auf wenige Stichworte beschränkt, wenngleich diese die Komplexität ihrer vielfältigen Aktivitäten aufscheinen lassen. Schließlich ist er bestrebt, andere, die durch León und im Kontext von Memoria de la melancolía erinnert wurden, an die «Memoria – sin memoria – de la melancolía» zu erinnern. Ein Erinnern an das von ihr Erinnerte und nun Vergessene: ¡Adiós, Pau! ¡Adiós Escandell! ¿En dónde estáis ahora? Una memoria llena de vosotros se pasea vagando sin memoria por jardines que no conoce, en blanco aquella hermosa cabeza, aquel bellísimo rostro que sonríe como una memoria – sin memoria – de la melancolía. (AP III, 88)
Die Episode in Ibiza wird als erste Berührung des Paares mit dem ausbrechenden Krieg inszeniert (AP III, 95), das dort von den plötzlichen Ereignissen überrascht wird. Vor allem dient die Erinnerung an diese, eingebettet in La arboleda perdida, wie es scheint der Abschiednahme, endet doch die Erzählung dieser Episode: «¡Adiós, Pau! ¡Adiós, Escandell! ¡Adiós, capital de la gloria, paraíso de nuestra vida a la sombra de las espadas! ¡Adiós!» (AP III, 95). Der Kreis schließt sich in dem Augenblick, da Alberti im hohen Alter nach Ibiza zurückkehrt. Nochmals ruft er, diesmal in einem die gegenwärtigen Ereignisse markierenden Kursivtext, die Geschehnisse auf Ibiza wach und damit auch León, deren Namen er damals zusammen mit dem seinen in einen Feigenbaum einzuritzen gedachte, der ihnen beim Erscheinen der Guardia Civil als Versteck diente. Die Namen bleiben, so ließe sich mit Alberti sagen, gedacht und in die Lüfte geschrieben, denn der Feigenbaum wurde gefällt. Es bleibt eine Leerstelle, die sich auf den Rest des dritten Buches zu erstrecken scheint, denn, wenn auch María Teresa León als Parallele zum autobiographischen Ich erscheint und den von Alberti gelegten gemeinsamen Spuren folgt und zu folgen hat, so bleibt sie doch unsichtbar. Und da sie verstummt ist, äußert sich Alberti nicht nur über seine Beziehung zu Maruja Mallo (AP III, 37f.), sondern auch über sein Verhältnis zu Beatriz Amposta (AP III, 226), das in die letzten Jahre des italienischen Exils fällt.19 Signifikant ist die Bewertung der Jahre in Anticoli «como los más felices y fecundos de mi larguísimo exilio» (AP III, 227). Zeitlich vebindet er
19
64
Zu Albertis Schweigen über Maruja Mallo in den ersten Büchern von La arboleda perdida siehe Robert Havard: The crucified Mind. Rafael Alberti and the Surrealist Ethos in Spain. London: Tamesis 2001, S. 96.
seine damaligen Unsicherheiten vor allem mit dem Jahr 1969 (AP III, 227). Es scheint, dass die Phase der sich ankündigenden (räumlichen) Trennung des Paares aus den vielfältigsten Gründen heraus – und dies ist für ein Verständnis von Memoria de la melancolía wesentlich – eben mit der Verfertigung dieses vielleicht wichtigsten Textes Leóns zusammenfällt, in dem sie nicht zuletzt ihre Liebe zu Alberti dokumentiert. In Hinblick darauf ist auch die vielzitierte Aussage Leóns: «Ahora yo soy la cola del cometa» (MM, 114) mit Vorsicht und nicht zuletzt mit einer auf das «Jetzt» gelegten Betonung zu lesen. Ungenauigkeiten oder fehlende Informationen in Leóns Text werden von Alberti genutzt, um interaktiv auf diese zu reagieren und sie aus seinem Erfahrungshorizont heraus weiterzuschreiben. Damit stellt er nicht nur neue Bezüge zwischen seinem und ihrem Lebenstext her, sondern schafft gleichzeitig einen neuen Entwurf eines gemeinsamen Lebenswissens. In dieser Hinsicht antwortet die Textproduktion Albertis nicht nur auf konkrete gemeinsame gegenwärtige und vergangene lebensweltliche Erfahrungen und nimmt sie in sich auf, sie modelliert nachträglich – wenn auch in einem anderen literarischen Raum – das bereits bestehende literarisierte Lebenswissen Leóns. Auf diese Weise übte Alberti nicht zuletzt auch einen entscheidenden Einfluss auf die Rezeption von Leóns Autobiographie aus. Das vierte Buch besticht durch die Abwesenheit Leóns. Die große Rückkehr des politischen Paares nach Jahrzehnten verhallt: «Y me presenté en el aeropuerto de Madrid el día 27 de abril de aquel mismo año de 1977. Viajaban conmigo María Teresa, nuestra hija y también Chico [...]» (AP IV, 252). Von nun an bleibt es den Lesenden überlassen, den vielfältigen «Rückkünften», vor allem Albertis, seinen Pirouetten, die León nicht mehr einschließen und über die sie schweigen muss, zu folgen. Es ist ein weitestgehend einsamer Tanz, in dem sich die Spuren Leóns, die 1988 verstarb, verflüchtigen und sich die María Asunción Mateos ankündigen. 3.2.2. La arboleda perdida V: Trennung. Der Tod der Geliebten. Abschied und literarische Wiederbelebungsversuche. Anakreons (heimliche) Sprache der Liebe Mit dem dritten Band von La arboleda perdida, der das kurze fünfte Buch (1988–1996) umfasst, schließt Alberti einen 1939 begonnenen Kreis. Er kehrt in seinem Prolog an die Anfänge des ersten Buches zurück, um den Faden seiner «Arboleda perdida, nunca olvidada» (AP V, 11) noch einmal aufzunehmen und sie zu vollenden. In dieser denkwürdigen und – wie bei seiner Geburt vor genau 93 Jahren – stürmischen Nacht des 16. Dezembers 1995 schreibt er diese Seiten in seinem Haus Ora Marítima in El Puerto de Santa María und gedenkt zum Auftakt María Teresa León und dann María Asunción Mateo, die ihn als Ehefrauen begleiteten: En esta larga y casi milagrosa travesía hacia mi río del olvido [...] me han acompañado, en momentos muy distintos de mi vida, María Teresa y María Asunción. Ellas, con esa
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sabia entereza que sólo poseen las mujeres, han sido los auténticos ángeles en momentos muy distinos de mi vida, los pilares más firmes y sólidos que han alentado mi desánimo, que han sabido convertir en cálidos muchos momentos difíciles, impulsando con serena inteligencia mis proyectos y manteniendo siempre a babor el timón de la, tantas veces, insegura vida cotidiana de este pobre poeta con sueños marineros, eternamente inútil para enfrentarse a los avatares en tierra firme. (AP V, 12)
María Teresa León und María Asunción Mateo werden als «wahrhaftige Engel» im Leben Albertis beschrieben, womit nicht zuletzt das traditionelle Frauenbild des angel del hogar wachgerufen wird. Er schreibt ihnen beiden, die als «auténticos ángeles» die starken und soliden Säulen für ihn waren, ihren Zweck in der Unterstützung seines Lebens erfüllend, wie allen Frauen, «sabia entereza» zu. In dieser als Lobeshymne gedachten Zuschreibung tritt jede Form der Unterscheidung der beiden Lebensgefährtinnen und von Frauen im Allgemeinen in den Hintergrund. Die (scheinbare) Erhebung der Frauen basiert nicht zuletzt auf der eigenen, um die alles kreist. In erster Linie erscheinen beide Lebensgefährtinnen als seine Erfüllungsgehilfinnen, die ihn, wenn nötig, antrieben und ihr Leben in den Dienst seines kreativen Schaffens stellten und stellen. Alberti zeichnet von sich das stereotype Bild des für das praktische Leben untauglichen Dichters und richtet sich darin ein, um sich sogleich wieder auf sein Leben im Schreiben zurückzuziehen «con la islusión y tal vez vana esperanza de que el paso del tiempo no borre mis huellas de tantos caminos recorridos.» (AP V, 13). 1995 beendet er das fünfte Buch, das mit dem Ereignis beginnt, das im vierten Buch befremdend ungenannt bleibt, dem Tod Leóns, die 1988 verstarb. Mit dem ersten Kapitel lässt Alberti León im Text wieder auferstehen, um in einem fingierten Dialog mit ihr zu kommunizieren und sie kämpferisch und kraftvoll als «miliciana» bezeichnet, die Spanien in seiner Cantata de los héroes repräsentierte. Die Leerstelle, die durch Krankheit oder Tod des geliebten Menschen entsteht, wird zur Bedingung für ein neues, textuelles Bezugssystem zwischen den Liebenden. Im Textraum versucht Alberti, dem Verlust schreibend zu begegnen, León zu neuem Leben zu erwecken und die unmöglich gewordene Kommunikation weiterzuführen. Die Autobiographie entwickelt sich zu einem neuen literarischen und fingierten Begegnungsraum, in dem sich beide durch die Schrift Albertis verjüngen und wieder begegnen können, denn zu vieles blieb, darauf verweist Alberti, zwischen beiden unausgesprochen und «[a]sí iré encontrando episodios de la memoria, de los que nunca he hablado. Ven tú ahora, cuando yo me creí que me ibas a engañar, y era lo cierto que era yo quien pensaba engañarte a ti. ¡Cuántas cosas que no nos hemos contado!» (AP V, 17). Die ‹alterslose› Schrift dient Alberti dazu, sein Alter und die leiblichen Verfallserscheinungen zu verbergen, gar die Uhr zurückzudrehen und dem Tod in gewisser Weise zu entkommen. Die Schrift wird darüber hinaus zum Ersatz für das Unerreichbare, so wie es die verstorbene Geliebte und die vergangenen Erfahrungen sind. In ihr wird verwahrt, was sonst dem Vergessen anheimfallen würde, obgleich Alberti «discursos solemnes» nicht mag, vor allem nach dem Tod, wenn einer nicht mehr protestieren kann (AP V, 18). Dennoch «[d]ejaremos vacía esa 66
caja, ese nicho en el que por ahora estás» (AP V, 18), um wieder die vergangenen Tage wachzurufen. Und so endet das erste Kapitel des letzten Buches: «Van a cerrar el cementerio. Ya es de noche. Salgamos.» (AP V, 19). Das Vorangegangene liest sich zudem wie eine Antwort auf Ausführungen Leóns, in denen sie ihr Alter beklagt und dass man ihr die Rolle einer Alten zugeteilt hat. Alberti scheint ihr hier entgegenzukommen und schreibt eben diese Ausführungen neu, in dem er sie in La arboleda perdida – nach ihrem Tod – wieder als junge Frau erscheinen lässt. Er ist in dieser Hinsicht nicht zuletzt bestrebt, aktiv auf das Bild seiner Frau einzuwirken und wendet sich entschieden gegen die Möglichkeit des Erscheinens eines wissenschaftlichen Buches, das «encubrirá la morbosa intención de mostrar la crueldad del tiempo sobre María Teresa y, sobre todo ‹desvelar posibles secretos› de mi intimidad que con seguridad, querrán propagar que compartieron» (AP V, 85). Wenn León den Nobelpreis an Zenobia reichen will, so scheint Alberti diesen Gedanken Leóns aufzugreifen; als er den Mariano de Cavia Preis für einen Artikel erhält, den er ihr zu Ehren geschrieben hat, versäumt er es nicht, sie in diesem Kontext erscheinen zu lassen und an sie zu erinnern (AP V, 55 und AP V, 104). Legt sich in der Erinnerung die Gegenwart über die Vergangenheit, so geschieht dies nicht zuletzt mit Blick auf die gemeinsam hinterlassenen Spuren. Wie vielfältig diese ausgeprägt sind, zeigt das Beispiel der Flucht auf der Mendoza, wie sie bei Alberti beschrieben wird. Die gefährliche Überfahrt wird von Delfinen begleitet, die als «companía misteriosa y musical» das Schiff begleiten. Während sie geschmeidig durch das Wasser gleiten, verteidigt «María Teresa» ihr blaues Kopftuch gegen den Wind (AP V, 142). Und zu unsterblichen Wesen werden sie erhoben, wenn das autobiographische Ich sie nach fünfzig Jahren wieder zu erspähen meint. Wieder begleiten sie ihn und rufen in ihm das Gefühl einer neuen Trennung wach, doch «[v]enían, jugueteando, a través de las ondas del Mediterráneo fundidas a las del Atlántico, haciendo las delicias del paseo.» (AP V, 142). Das Fahren auf der einstigen Spur wird zum auslösenden Moment für das damalige Gefühl, das dann als vergangen entlarvt wird. Die Bewegung der Delfine wird mit der des Meeres verwoben, das in der Meerenge von Gibraltar vom Mittelmeer zum Atlantik übergeht, was zugleich als Übergang von der Vergangenheit zur Gegenwart verstanden werden kann. Alberti lässt die Sprünge und Töne der Delfine zu inspirierenden Momenten der Erinnerung werden, die ihn schließlich zu einem Treffen mit Dámaso Alsono zurückkehren lässt, bei dem ihm der spanische Philologe die «Gesetze der Phonetik» erklärt. Die erinnerte, von Erinnerungen begleitete Rückkehr und damit einhergehend das Wieder-Beschreiten vergangener Pfade in der Gegenwart sowie das Bestreben, Fragmente der Lebenserinnerungen Leóns in die eigene Autobiographie zu integrieren, um das von ihr verfasste Lebenswissen zu ergänzen und zu erinnern, führen dazu, dass sich der autobiographische Text Albertis, aber auch der Leóns, immer mehr als eine von mehreren möglichen Versionen im komplexen Prozess des (gem)einsamen Leben Schreibens liest. Alberti übernimmt die Funktion des Gedächtnisses Leóns, das er partiell weiterträgt, wenn er an Ontañon gerichtet 67
schreibt: «María Teresa nunca pudo olvidarte. Ella, que vivía en un verdadero golfo de sombras, en una carta que te envió desde Buenos Aires el año 1959 te decía: ‹Ontañón, ¿no podrás envejecer un poco?› Tal era el recuerdo que tenía de tu vitalidad.» (AP V, 60). Und tatsächlich scheint Alberti auf diese Weise das Vergessen der im «wahrhaftigen Golf des Schattens Lebenden» bezwingen zu wollen. Die Paradoxie, die in der Aussage über die an Alzheimer erkrankte «María Teresa» liegt, die Ontañón nie vergessen konnte und doch vergaß, offenbart die Unmöglichkeit dieser Unternehmung. Als moderner Anakreon beschließt Alberti in den 90er Jahren seinen autobiographischen Streifzug durch das 20. Jahrhundert. Zum Ende des fünften Buches von La arboleda perdida erhebt sich Alberti gegenüber all denen, die in ihm bereits einen «árbol centenario» (AP V, 221) sehen, dessen vertrocknete Zweige zu brechen beginnen. Das Alter des griechischen Liebe und Wein besingenden Dichters Anakreon (5. Jh. v. Chr.) kommt ihm in den Sinn (AP V, 221) und beider Leben treffen sich in einem besonderem Punkt. Nicht nur, dass der antike Dichter, zur Emigration genötigt, vor den Persern in das thrakische Abdera floh und damit wie Alberti seine Heimat zurücklassen musste. Die Lebensführung des erst in hohem Alter verstorbenen Dichters der Antike scheint Alberti nicht fremd und die Legende um seinen Tod dürfte ihn, der eine große Liebe für das Skurrile und Groteske hatte, amüsiert haben. Eine Gemeinsamkeit liegt aber vor allem in der Liebe, der beide noch im hohen Alter huldigten. Alberti wird nicht müde sich ihrer zu bedienen und aus ihr sein Lebenselexier zu schöpfen. Seinen Liebesgesang widmet er schließlich und letztendlich denen, durch die seine Liebe fruchtbar wurde, den Frauen (AP V, 221).
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4.
Paarbildungen: Leben(s)formen|Lebenswissen
Nun zwei, [...] wandelnd zugleich wollen wir einer den anderen beraten was wir sagen wollen. (Platon, Das Gastmahl)
In dem vorangegangenen Kapitel wurden die LiebesLäufe in den jeweiligen Autobiographien, die chronologisch durchschritten wurden, herausgestellt und die sich wandelnden Momente der Berührung, Verwicklung und Trennung zwischen den Texten betrachtet. Der Blick wird nun von den Verstrebungen zwischen den Texten ab- und Leben(s)formen und Lebenswissen in den jeweiligen Texten zugewandt. Alberti und León wählten das Genre der Autobiographie, um ihr Leben – im Spannungsfeld von Erinnern und Vergessen, Stimm(ung)en, Heimat und Exil, Körper und Schrift – schreibend zu (re-)konstruieren und zu organisieren. Allgemein lässt sich in Anlehnung an Bruner sagen, dass mit der narrativen (Re-) Konstruktion und Organisation von Erfahrungen immer auch eine jeweils spezifische Form entsteht.1 Die in Abschnitt 2.2. des zweiten Kapitels entwickelten biformen Kategorien DesMemoria, Stimm(ung)en, Bewegungs(t)räume, TextKörper werden nun ins Zentrum gerückt, um der narrativen Hervorbringung dieser Form nachzuspüren und das im Prozess des Schreibens (gem)einsam generierte, gespeicherte und vermittelte Lebenswissen zu untersuchen. Die Annahme ist, dass in beiden Autobiographien über ein individualisiertes Wissen vom Leben hinaus auch Lebenswissen erkennbar wird, das in anderen geographischen, politischen und sozialen Kontexten verdrängt wurde und unerwünscht war. Die Autobiographien (re-) produzieren somit gemeinsam ein Lebenswissen, das auf ein spezifisches Kollektiv, nämlich das der SpanierInnen im Exil, ausgerichtet ist und es vermag einen Ausblick auf andere künftig mögliche, an das Heimatland Spanien gebundene Lebenswelten zu eröffnen. Dem schließt sich die weitere Annahme an, dass sich die Texte in Form und Wissen auf vielfältige Weise ergänzen und in dieser Qualität nicht nur jeweils ein spezifisch narrativ gestaltetes Wissen vom Leben generieren und übermitteln, sondern auch die Komplexität und Vielfalt von Leben vermittels einer gemeinsam geleisteten Erinnerungsarbeit vorführen, die sie interaktiv aushandeln, verändern und bereitstellen. Die einzelnen Kategorien sind inhaltlich miteinander vewoben. So werden die Ausführungen über die DesMemoria durch jene zu den Stimm(ung)en fortgeführt.
1
Jerome Bruner: The Narrative Construction of Reality. In: Critical Inquiry 18 (1991), S. 1–21, S. 4.
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Gleichzeitig kommt diesen eine eigene Funktion zu und sie erfahren im Anschluss eine entsprechende Präzisierung, da sich Melancholie und Nostalgie nicht ohne die aufoktroyierte Bewegungen etwa des Fortgehens erschließen lassen. Letzteres steht wiederum in einem engen Verhältnis mit dem TextKörper, der gleichsam Leben und Schrift ist und hervorbringt. Diese hier nur beispielhaft begonnene Kette ließe sich ebenso in eine andere Richtung gestalten, ohne den Inhalt zu verändern. Die Einzelanalysen stehen somit nicht getrennt nebeneinander, sondern werden überdies durch das gewählte Schema zur Betrachtung der Autobiographien in der bifilaren Analyse spiralfömig miteinander verbunden. Im Vordergrund steht die Relationalität von Leben(s) formen und Lebenswissen und – auf übergeordneter Ebene – schließlich die von Überleben(s)formen und Überlebenswissen beider Autobiographien in der Zusammenschau, die anhand der biformen Kategorien beispielhaft erarbeitet und aufgezeigt werden kann.
4.1.
DesMemoria
Die Autobiographie bewegt sich als Genre des Übergangs auf der Grenze zwischen Literatur und Geschichte. Sie oszilliert zwischen Wirklichkeit und Fiktion, um konkrete lebensgeschichtliche Erfahrungen in eine FormSprache zu überführen oder darin erst hervorzubringen. Autobiographien bieten daher eine herausragende Möglichkeit, das Verhältnis von Narration und (individueller) Geschichte zu untersuchen. Die Brücke bildet dabei das Gedächtnis. Zum Auftakt der Analyse von Leben(s)formen und Lebenswissen wird deshalb gefragt: Wie wird das Gedächtnis in den Autobiographien dargestellt? Welche Gedächtnismodelle kommen darin zum Vorschein? Die nachstehenden Ausführungen folgen somit zunächst den Spuren eines Gedächtnisses in den Autobiographien.2 Es soll gezeigt werden, wie es als wandelbarer (in sich transformierbarer), wandernder (in Bewegung seiender) und wachsender (als sich entfaltender und im Werden begriffener) Speicher im Schreiben konstituiert wird und selbst als gestalterische Kraft wirkt. Das Augenmerk liegt dann in einem zweiten Schritt auf der Verknüpfung von individuellem Erinnern und einem kollektiven, historisch werdenden oder bereits gewordenen Wissen vom Leben. Dem schließen sich die folgenden Fragen an: In welchem Verhältnis steht das Gedächtnis zum autobiographischen Schreiben als Akt der (re-)konstruktiven Generierung eines literatur-historischen Wissens vom Leben? Welche Funktion kommt den Texten als Medium der Vermittlung dieses literatur-historischen Wissens zu? Wie wandelt sich diese Funktion in dem Moment, wenn das ihn zuvor produzierende Subjekt wie im Falle Leóns verstummt?
2
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Vgl. hierzu Astrid Erll und Ansgar Nünning (Hgg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Berlin/New York: Walter de Gruyter 2005, S. 2ff.
Welche Bedeutung kommt dann der Autobiographie als Äußerungsform oder Dialogmöglichkeit eines Gedächtnisses más allá de la muerte zu? Das Spannungsfeld zwischen Erinnern, Vergessen und auch Irren und seine Auswirkungen auf das (gem)einsame Leben Formen sind relevant. Das Verhältnis von Vergessen und Imagination spielt dabei eine besondere Rolle und es ist zu fragen, in welcher Hinsicht von einem ‹ästhetischen Vergessen› gesprochen werden kann, das dem dokumentierenden Erinnerungsprozess komplementär gegenübersteht und eine autobiographische Fiktion vorantreibt, die das Vergessen, aus diesem selbst heraus, zu bannen versucht? Autobiographien vermögen es, Fragmente einer Gegengeschichte und eines Gegenkanons, die – entsprechend der zeithistorischen und politischen Gegebenheiten – eine spezifische Weise des Aufzeichnens und des Tradierens implizieren, anzubieten und nachfolgende Generationen dazu zu ermutigen, nach einer anderen Tradition als der, die sie unmittelbar vorfinden, zu fragen. Literarisiertes Wissen vom Leben, das Kritik an bestehenden Wissensinhalten übt und zugleich andere erschließt, kann darüber hinaus wie in dem hier vorliegenden Fall gerade wegen seiner geschichtlichen und geographischen Verflechtungen einen Beitrag zu einer Histoire croisée liefern, die über nationale Perspektiven der Geschichtsbetrachtung hinauswächst.3 4.1.1.
Leben(s)formen: Erinnern und Vergessen Esos relámpagos y flores, esas centellas desasidas que en derramados resplandores lucen ganadas o perdidas. (Rafael Alberti, Canción a la juventud)
4.1.1.1. Der verlorene Hain: Memoria en movimiento. Ein in die Lüfte geschriebener Lebensbaum [...] Sólo un árbol me llama, nivelador de vientos sobre el jardín.... sus ramas (Emilio Prados, árboles)
Der verlorene Hain Albertis wird mit einem Motto eröffnet, bei dem es sich um eine Aussage Miguel de Unamunos handelt, die einem Artikel des Buches Andanzas y visiones españolas von 1922, De vuelta de la cumbre, entstammt: «No
3
Michael Werner und Bénédicte Zimmermann: Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen. In: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 607–636.
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sé como puede vivir quien no lleve a flor del alma los recuerdos de su niñez.» In Unamunos Artikel heißt es: ¡Oh, estas sumersiones en la remota infancia! No sé como puede vivir quien no lleve a flor del alma los recuerdos de su niñez. Trece volúmenes llevo ya publicados, pero de todos ellos no pienso volver a leer sino uno, el de mis Recuerdos de niñez y de mocedad, donde en días de serenidad ya algo lejana, traté de fijar no mi alma de niño, sino el alma de la niñez.4
Die Kindheitserinnerungen werden als lebensnotwendig erachtet, wobei es darum geht, die Seele der Kindheit, nicht etwa die des Kindes, festzuhalten. Der Zugang zur Kindheit wird als Schlüssel für das Verständnis jeder weiteren Entwicklung, gar für das Leben selbst, hervorgehoben, den es zu finden gilt. Was die Seele der Kindheit ausmacht und wie sie wiedergefunden werden kann, beschreibt Unamuno selbst, der gegenwärtige Landschaftserfahrung nutzt, um wieder in die Kindheit «einzutauchen»: [y] en estas correrías por campos y montes, ¡qué alivio, qué hondo sentimiento de libertad radical cuando dejando todo decoro se pone uno a hacer y decir chiquilladas! [...], se chapuza uno en la infancia.5
Dieser Zugang ist nicht selbstverständlich, wie ein rascher Blick auf die Berliner Kindheit eines aus einer altberliner jüdischen Familie stammenden Autors verdeutlicht: Wenige Jahre bevor das Paar León-Alberti eine entscheidende Episode seines LiebesLebens auf Ibiza verbringen sollte, war es Walter Benjamin, der diesen Ort aufsuchte, um in seinem Exil Teile seiner Kindheit zu beschreiben und der in ihm aufsteigenden Bilder, «in denen die Erfahrung der Großstadt in einem Kinde der Bürgerklasse sich niederschlägt», habhaft zu werden, denn «[i] ch halte es für möglich, daß solchen Bildern ein eigenes Schicksal vorbehalten ist. Ihrer harren noch keine geprägten Formen, wie sie im Naturgefühl seit Jahrhunderten den Erinnerungen an eine auf dem Land verbrachte Kindheit zu Gebote stehen.»6 Während Benjamin von Ibiza aus seine großstädtischen Erfahrungen reflektiert und «geprägte Formen» für die damit verbundenen Gefühle nicht findet, kann Alberti auf eben solche zurückgreifen, allerdings nicht, wie bei Unamuno, ausgelöst durch eine konkrete Naturerfahrung. Das erleichternde Gefühl der Freiheit durch Wanderungen übers Land, bei denen alles Überflüssige abfällt und einer wieder Kindereien sagt und Streiche macht, um in die Kindheit einzutauchen, ist dem Dichter Rafael Alberti im Moment der Niederschrift seines ersten Buches der Autobiographie verwehrt. Während der Nächte bei Radio mondial in Paris ruft er sich im Geiste die Bilder des (verlorenen) Landschaftsraumes wach, in
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Miguel de Unamuno: Obras Completas. Bd. 6. Hrsg. von Ricardo Senabre. Madrid: Fundación José Antonio Castro 2004, S. 387–393, S. 390. Ebd. Walter Benjamin: Berliner Kindheit um neunzehnhundert. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, S. 9.
dem er sich als Kind bewegte: Die ersten Seiten des Buches, mit denen die Erinnerungen eröffnet werden, führen an einen «traumhaft» erscheinenden Naturort der Kindheit. Diese ersten Seiten, die eine Art Prolog darstellen, ohne als solcher ausgewiesen zu sein, sollen detailliert betrachtet werden, da von ihnen aus ein weitverzweigter Lebensbaum literarisch zu ‹wachsen› beginnt, den Alberti in den folgenden Büchern auf verschiedenen Ebenen entfaltet. An ihm lässt sich das in La arboleda perdida entlang der fünf Bücher entwickelte Gedächtnismodell gewinnbringend nachzeichnen und Türen hin zu den in der Folge betrachteten Aspekten öffnen: En la ciudad gaditana de El Puerto de Santa María, a la derecha de un camino, bordeado de chumberas, que caminaban hasta salir al mar, llevando a cuestas el nombre de un viejo matador de toros – Mazzantini –, había un melancólico lugar de retamas blancas y amarillas llamado La arboleda perdida. (AP I, 11)
Der «Prolog» zu La arboleda perdida I führt mit einer Wegbeschreibung zu dem Ort, der in El Puerto de Santa María zu finden war und von Alberti als «ein melancholischer Ort» wahrgenommen und in der Rückschau als eben solcher ausgestaltet wird. La arboleda perdida I führt den Lesenden auf diese Weise mit dem ersten Satz und Abschnitt unmittelbar zu der Stelle, der das Buch seinen Titel verdankt: La arboleda perdida. Dieser von Ginster bewachsene «verlorene Hain» wird als persönlicher Erinnerungsort auserwählt und nach und nach symbolisch aufgeladen, wobei sich der ‹reale› Erinnerungsort von dem textuell entworfenen mehr und mehr ablöst, der den Erinnerungsort beschreibt und schließlich selbst zum (literarisierten) Ort der Erinnerung wird: Todo era allí como un recuerdo: los pájaros rondando alrededor de árboles ya idos, furiosos por cantar sobre ramas pretéritas; el viento, trajinando de una retama a otra, pidiendo largamente copas verdes y altas que agitar para sentirse sonoro; las bocas, las manos y las frentes, buscándo dónde sombrearse de frescura, de amoroso descanso. Todo sonaba allí a pasado, a viejo bosque sucedido. Hasta la luz caía como una memoria de la luz, y nuestros juegos infantiles, durante las rabonas escolares, también sonaban a perdidos en aquella arboleda. (AP I,11)
Der Hain wird als Ort des Abwesenden literarisch inszeniert, der wie ein Gedächtnis (Erinnerungs-)Spuren des Gewesenen trägt. Das einst dort Gelebte wird in der Erinnerung im Schatten vergangener Bäume imaginiert, wobei ihm in der Beschreibung Albertis bereits «damals» etwas Verlorenes zugeschrieben und so die eigene zukünftige Abwesenheit schon in der Vergangenheit angekündigt wird. Der bestehende Hain wird in der Erinnerung durch einen imaginierten vergangenen Wald, einen «viejo bosque sucedido», ergänzt. Mit dessen Beschreibung entsteht ein Bild, in dem eine Überblendung von Vergangenheit(en) stattfindet und zwei Räume zugleich entfaltet werden. Der «verlorene Hain» wird somit auch als imaginierter, geradezu mythischer Ort inszeniert, der jedoch erst im Schreiben entsteht und eine Art Eigenleben entwickelt, das sich entlang des Textes als Schrift manifestiert. Das Spiel mit dem Titel der Autobiographie im «Prolog» bietet Alberti die Möglichkeit, den von ihm als herausragend wahrgenommenen Ort seiner Kindheit 73
in den autobiographischen Text einzuführen, ihn im/in Text zu transformieren und auf diese Weise symbolisch Leben in Schrift zu überführen. «Todo sonaba allí a pasado, a viejo bosque sucedido.» (AP I, 11) Alles «klang» dort nach Vergangenem: Alberti bringt subtil die Vergangenheit im Imperfekt von «sonar» tatsächlich zum Klingen, wie er es auf der Inhaltsebene thematisiert und fortführt, wenn es heißt: «Hasta la luz caía como una memoria de la luz, y nuestros juegos infantiles, durante las rabonas escolares, también sonaban a perdidos en aquella arboleda.» (AP I, 11) Der nächste Abschnitt führt mit «Ahora» wieder in die Gegenwart, jedoch lediglich, um sogleich wieder einen Weg zurück, diesmal nach innen, einzuschlagen, der gleichzeitig in die Zukunft weist: Ahora, según me voy adentro, haciéndome cada vez más chico, más alejado punto por esa vía que va a dar al final, a ese «golfo de sombra» que me espera tan sólo para cerrarse, oigo detrás de mí los pasos, el avance callado, la inflexible invasión de aquella como recordada Arboleda perdida de mis años. (AP I, 11)
Im «Jetzt» wird der Weg zurück in die Kindheit angetreten, um sich so weit wie möglich von dem zukünftigen Endpunkt, dem «golfo de sombra», fortzubewegen, während ihn jener eigene «verlorene Hain» schweigend und schreibend einzuholen beginnt. Zwischen diesen beiden Extremen, dem Anfangs- und Endpunkt, bewegt sich das autobiographische Ich wie ein gejagtes, das irgendwann von dem «verlorenen Hain» oder seinem Text eingeholt werden wird. Im autobiographischen Schreiben wandelt sich der «verlorene Hain» zu einem Gedächtnis- und Lebensbaum, der sich entlang der fünf Bände als Organisches und Sprachliches ausbreitet. Diesem florierenden und wachsenden Baum werden immer wieder «trockene Blätter» (AP I, 14) und «tote Zweige» (AP I, 15) als Teile einer sich zersetzenden Geschichte, etwa der seiner reaktionären Verwandten, gegenübergestellt. Es sind «versehrte Erinnerungen», die er schließlich im Exil zu «ordnen» versucht (AP I, 83). Die Reise in die Vergangenheit kann dabei bei Alberti nicht ohne das Voranschreiten in der Gegenwart, dem Ende entgegen, gedacht werden. Diese Gleichzeitigkeit ist verwirrend und führt zu Sinnesverschiebungen surrealistischer Art: «Entonces es cuando escucho con los ojos, miro con los oídos, dándome vuelta al corazón con la cabeza, sin romper la obediente marcha» (AP I, 12). Die Augen übernehmen die Funktion der Ohren, und Kopf und Herz werden verbunden und scheinen keine Opposition mehr darzustellen. Der «Marsch» wird dabei nicht unterbrochen, ist nicht unterbrechbar. Der Lauf des Lebens, in welche Richtung er sich auch vollzieht, führt unaufhaltsam zum Ende, indem sie sich nähert, die arboleda perdida des eigenen Lebens, die Spuren des Fliehenden einholend, um im endgültigen Verschwinden eins zu werden. Oder es eröffnet sich ein neuer Weg, wie der damalige, der zum Meer führte, an dem sich das Ich niederlegt, um sich zu erinnern, «a ser ya todo yo la total Arboleda perdida de mi sangre» (AP I, 12). Diese Verbindung von gehen (hin zum Meer) und sich niederlegen (unter weißen und gelben Zweigen), um zu erinnern und selbst in eine Art «totalen» verlorenen Hains «de mi sangre» zu werden, steht 74
in einem irritierenden Verhältnis zu dem Resultat all dieser Handlungen: «Y una larga memoria, de la que nunca nadie podrá tener noticia, errará escrita por los aires, definitivamente extraviada, definitivamente perdida» (AP I, 12). Das autobiographische Ich vollzieht somit gleich zu Beginn eine Wandlung, die dem übrigen Text vorangestellt ist und von der Bewegung zum Stillstand hin zur Verschmelzung mit dem Gedächtnis führt: In aller Kürze wird somit eine Bewegung vorweggenommen, die den Gesamttext kennzeichnet und erst mit seinem endgültigen Abschluss nach über fünfzig Jahren endet und möglicherweise einen neuen Weg, der jedoch ebenso zum Meer führen wird, entstehen lässt. Erst im Ruhen wird das Gedächtnis hervorgebracht und kann sich ausbreiten. Wie verselbständigt wird es dann in den Lüften, an keinen Ort gebunden und endgültig verloren, umherirren. Die Schwierigkeit des Erinnerns, die eine besondere Schärfung der Sinne erfordert, erwächst aus der Versehrtheit und der Unordnung des Erinnerten, die entstanden sind aus dem Verlust der Heimat und daraus, dass zu jenem Augenblick, da Alberti sein erstes Buch verfasst, in Europa der Zweite Weltkrieg seine volle destruktive Kraft entfaltet und von Alberti besuchte Orte und Menschen zerstört werden: «Ahora se me enredan en los troncos y retamas de esta perdida arboleda mía complicadas lianas sanguinolentas, recientes» (AP I, 95), die sich mit seinen Erlebnissen und Eindrücken vermischen. Der verlorene, aber dennoch wachsende Hain, der sich aus dem speist, was dem Jungen Alberti angesichts seiner Wahrnehmungen aus den «Augen» erwächst (etwa Verse), steht somit vor allem den Zerstörungen durch Kriege entgegen und antwortet in poetischer und kreativer Weise auf diese. Auch oder gerade weil der von ihm geschaffene Baum in die Luft geschrieben wird (AP I, 11) und ihm die Möglichkeit der «Erdung» im Verlauf des Exils versagt bleibt, scheint Alberti der Gefährdung seines Lebensbaumes, der wegen der fehlenden Verwurzelung zu «verwelken» und «auszutrocknen» droht, dadurch zu begegnen, dass er ihn im Schreiben symbolisch an den eigenen Körper zurückbindet (AP II, 109). Deutlich wird, dass diese Kreation die Gefahr birgt, sich in ihr zu verlieren (AP II, 215) und der Lebenstext darin eine Art Verselbständigung erfährt. Obgleich also Versuche einer Lokalisierung in der Imagination des Kindheitsortes und durch die Rückbindung an den eigenen Körper, aus dem die Erinnerungen entspringen, stattfinden, lässt sich das Gedächtnis an keinem Ort verwurzeln, sondern bloß textuell in Gang setzen, um sich doch am Ende zu verlieren und zu (ver-)irren und vor allen Dingen nie zum Abschluss zu gelangen (AP II, 349). Dieser komplexe, von Alberti gewählte Einstieg in seinen Gedächtnistext, der in gewisser Hinsicht dessen potenzielle Eigenständigkeit propagiert, wird von einer weiteren Ebene begleitet, die mit dem ersten, den eigentlichen Erinnerungen gewidmeten, Kapitel eröffnet wird: Am Anfang des ersten Kapitels seiner Autobiographie steht eine Jahreszahl, die im folgenden Satz historisch (mit der Revolution von Landarbeitern) angereichert wird, um dann den Tag der eigenen Geburt folgen zu lassen. Am Ende dieses ersten Abschnitts, der die «große Geschichte» mit der eigenen Lebensgeschichte verknüpft und somit sowohl sozialgeschichtlich als auch bezüglich der eigenen Geschichte (mit der Geburt) einen Anfangspunkt 75
setzt, wird überdies ein mythischer Bezug hergestellt: denn in einer stürmischen Nacht, so seine Mutter, sei er in einem der Häfen der «vollkommenen gaditanischen Bucht» in El Puerto de Santa María, dem antiken Hafen des Menesteos an der Mündung des Guadalete, dem Fluss des Vergessens, geboren worden. Zu Beginn dieses Buches, das seine Erinnerungen enthält, werden auf diese Weise zwei weitere Dimensionen des Gedächtnisses fein miteinander verwoben: eine erinnernde, speichernde und im historischen Sinne Ereignisse dokumentierende und eine mit dem hier eingeflochtenen Bezug auf den Fluss Guadalete wachgerufene des Vergessens. Der Verweis auf den Fluss eröffnet verschiedene Ebenen: eine geographische, eine historische/mythologische und eine semantische.7 Der Lethestrom, der Fluss der Lethe, der der Mnemosyne entgegengesetzt und vor allen Dingen Name eines Unterweltflusses ist, spendet in der griechischen Mythologie den Seelen der Verstorbenen Vergessen. In diesem Bild und Bildfeld ist das Vergessen ganz in das flüssige Element des Wassers eingetaucht. Es liegt ein tiefer Sinn in der Symbolik dieses magischen Wassers. In seinem weichen Fließen lösen sich die harten Konturen der Wirklichkeits-Erinnerung auf und werden so liquidiert.8
Dem Lethestrom kommt als «Jenseits-Fluss» eine besondere Funktion zu, und er ist dort ein «belebender» Quell.9 Er hat eine die Wirklichkeit verändernde Kraft, die nicht nur negativ bestimmbar ist, denn das Vergessen ist nicht nur eine destruktive Kraft hinsichtlich einer Auslöschung des Gewesenen, sondern vor allem auch eine immer schon vorhandene Gegebenheit, die jedoch zu einer ästhetischen Produktivkraft gewandelt werden kann. Das Vergessen oder die Möglichkeit des Verlustes von Gedächtnisinhalten treibt den Autor an, bestimmte Aspekte seines Lebens zu erinnern und in der Schrift zu fixieren. Zugleich geschieht dies mit dem Bewusstsein, dass das Vergessen immer auch als transformierende Kraft und unabdingbarer Teil des Gedächtnisses mit bei der Arbeit ist und wie ein ‹Weichzeichner› die erinnernde Tätigkeit begleitet, die eine Auswahl trifft und diese ausgestaltet, wie im folgenden Fall besonders deutlich wird: De mi infancia en aquel colegio de monjas, recuerdo más que nada un jardín enchinado en el que había un retrete diminuto lugar conocido por el «cuartito»- adonde la preciosa hermana Jacoba y la finísima hermana Visitación llevaban a los niños más chicos, volviendo ambas muchas veces a la clase rociados de pis los feos zapatos. Aquel jardín con sus cuatro muros de cal, cubierto solamente por un nutridísimo báncigo, a ciertas horas con más gorriones que flores, guarda seguramente el eco de mis primeros juegos, de esos primeros gritos y cantos, ya claros y preciosos en el nacimiento de mi memoria. (AP I, 20; Hervorhebungen hinzugefügt).
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Der Name des Flusses ist an Lethe angelehnt (spanisch: Lete), der Fluss des Vergessens aus der griechischen Mythologie s.o. Bei dem am Guadalete gelegenen Hafen des Menesteo, den nicht nur Alberti in Gedichten besang, sondern der auch von León in Anlehnung an Alberti, in Menesteo, marinero de abril, aufgegriffen wurde, handelt es sich um das heutige El Puerto de Santa María, Albertis Heimatstädtchen. Harald Weinrich: Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens. München: Beck 1997, S. 19. Ebd., S. 20.
Das «kleine Zimmer», der Garten der Schule, wird selbst als Erinnerungsfragment ausgewählt und gespeichert und dann seinerseits als Speicher- und Echoraum inszeniert, der die verklungene Kinderstimme des späteren Dichters verwahrt. Nachträglich werden einem konkreten Raum in El Puerto de Santa María Spuren des Dichters eingeschrieben. Die in diesem so bewahrten ersten Rufe und Gesänge werden mit der «Geburt des Gedächtnisses» hervorgehoben und sogleich in den Text eingeflochten, der den Vers eines solchen Liedes zitiert. Gedächtnis, Erinnern, Vergessen und Poesie werden auf den ersten Seiten von La arboleda perdida miteinander in Beziehung gesetzt und zu Grundpfeilern der auf ihnen aufbauenden Autobiographie. In einem Interview mit Benjamín Prado sagt Alberti: Yo creo en la memoria, siempre digo que mucho de lo que pueda tener un poeta viene de su capacidad para recordar. En realidad, toda mi poesía es como una serie de fragmentos de la memoria, episodios de mi vida.10
Das Gedächtnis erscheint als Grundvoraussetzung der Künste, denn «[w]ithout memory no one could enjoy what her daughters [der Mutter Mnemosyne] produced: each sound would fade away without ever being included in a melody, every word in a poem would disappear before the rhyming word was heard.»11 Wie das eben angeführte Beispiel von der Geburt des Gedächtnisses zeigt, kommt der Autobiographie die Funktion zu, disparate Fragmente des Erinnerten, Episoden des Lebens, zusammenzufügen und zu organisieren. Um dies leisten zu können, bedarf es eines besonderen Mediums. Denn wenn mit dem Gedächtnis, das im weitesten Sinne Echoraum und Quell der Inspiration ist, die Speichermöglichkeit geschaffen ist, bedarf es der Schrift, um diese zu ordnen und auch zu fixieren. Dass diese nicht selbstverständlich gegeben ist, sondern sich – wie auch sein Gedächtnis –, erst in einer konkreten Umgebung, «[e]ntre azules de delantales, blusas marineras, cielos, río, bahía, isla, barcas, aires» (AP I, 20) entwickelt, ist für den Dichter von großer Bedeutung und identifikatorischer Kraft. Und so verwundert es nicht, dass Alberti in diesem Kontext auch sein erwachendes Bewusstsein für die Sprache einflicht, denn zwischen Himmel, Fluss, Bucht, Insel, Booten und Lüften öffnet er seine Augen und lernt zu lesen (AP I, 20). Das «Öffnen der Augen» und das Lesenlernen können hier als ein Lesen von Zeichen im weitesten Sinne verstanden werden. Alberti liest die ihn umgebende Welt. Diese sehend eröffnet sich der Zugang zur Welt der gesprochenen und geschriebenen Worte. Der Weg dahin führt über das Formen der Wörter, über die Enthüllung ihrer Bedeutung, den Spracherwerb (AP I, 20). Die Verbindung der Geburt des Gedächtnisses mit dem Erwerb der Sprache und den vorangegangenen Ausführungen zu La arboleda perdida führen wesentliche, die Autobiographie konstituierende Aspekte vor: die frühe Lebenswelt des Dichters, das Gedächtnis und die Sprache, die ihren vorrangigen Ausdruck in der
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Rafael Alberti: Premio Miguel de Cervantes 1983, S. 97. Douwe Draaisma: Metaphors of Memory. A history of ideas about the mind. Cambridge: Cambridge University Press 2000, S. 5.
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Dichtung gefunden haben, die ihrerseits als Träger von Fragmenten erinnerten Lebens die Basis der Gedächtnis(re-)konstruktionen in La arboleda perdida bilden. Daraus lässt sich eine erste Funktion der Autobiographie im Kontext des dichterischen Schaffens Alberti ableiten, denn »[o]nce rescued from the abyss of memory into a fixed linguistic form, Alberti’s life becomes La arboleda perdida.»12 In dieser Hinsicht ist La arboleda perdida eine Überlebensform. Obgleich die endgültige Form in ihrem schließlich 1996 erreichten Gesamtaufbau in einen chronologischen Rahmen gekleidet erscheint, kann dies doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass La arboleda perdida im Prozess der Verfertigung aus einer Vielfalt disparater Erinnerungsstücke (re-)konstruiert wurde. Diese Fragmente sind in Bewegung, und auch der spielerische Umgang mit ihnen wird von Alberti entsprechend in Szene gesetzt: De otros textos, aun de los más lejanos e infantiles, también me bailan en la memoria líneas y páginas enteras, que hasta yo mismo, solo, me las repito para divertirme. (AP I, 57; Hervorhebung hinzugefügt)
Oder wenn er Juanito und sein «Cuentecillo» zitiert: De todas las frasecillas que andan rabeando por mi cabeza, esta última es la preferida y, sobre todo, su delicioso diminutivo: picaruelo. (AP I, 58; Hervorhebung hinzugefügt)
Im Exil, in einem Garten in Buenos Aires, erfährt die Arbeit an der Autobiographie eine neue Dimension. Mauern und Bäume schützen ihn und dienen als «una buena espada para abrirme los tupidos senderos de la memoria» (AP II, 131). In der ersten Phase seines autobiographischen Schreibens kommt dem Erinnern eine die Existenz bestätigende Funktion zu, um die gerade erlebte und nur knapp überlebte Flucht aus Spanien zu bewältigen. Nach dem Übergang ins argentinische Exil scheint der Name des realen Ortes nicht nur zum Emblem einer Gedächtnisarbeit zu werden «que afirma la identidad del desterrado al volver a los paisajes de la bahía gaditana y al ambiente familiar [...]»13, sondern sich zunehmend entlang der Bücher zu entfalten, um sich von einem verlorenen Hain zum geschriebenen Lebensbaum zu wandeln. Vergleicht man dies mit traditionellen Gedächtnismodellen (Wachstafel und Magazin), die vor allem auf die Funktion des Speicherns abheben, lassen sich ausgehend von der hier vorgefundenen Metapher weitere Funktionen des Gedächtnisses in La arboleda perdida erschließen. Es handelt sich um ein organisches Gedächtnismodell, das sich ausgehend von dem Bild des verlorenen Hains entfaltet und damit auch den Textraum strukturiert. In dieser Hinsicht fungiert das Gedächtnis als Textmodell, das einen Zugang zur Lektüre der Texte offeriert und sich auf einer Semantisierung der «textuellen Architektur» gründet.14
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Urraca: Autobiography completes no pictures, S. 53. Antonio Jiménez Millán: Poesía, Luz de la memoria. De La arboleda perdida a Memoria de la melancolía. In: Concienciactiva 21, 2 (Oktober 2003), S. 175–192, S. 176. Martina Wagner-Egelhaaf: Autobiographie. Stuttgart/Weimar: Metzler 2000, S. 14.
Es ist also konstitutiver Bestandteil der literarisierten Lebensform, die sich textuell vor den Augen der Lesenden ausbreitet und sich von einem verlorenen Hain hin zu einem neuen literarischen Lebensraum entwickelt. Nicht zufällig stellt dabei die Natur den Ausgangspunkt dar, die als Symbol des Lebendigen für Alberti eine besondere transformatorische und schöpferische Kraft aufweist und zum Gegenpol des Bürgerkrieges, des Exils und der ihnen innewohnenden Leere und Destruktion wird. Auf diese Weise entsteht nach und nach eine Parallelwelt, die ihren Anfang mit dem Aufbruch in das Exil nimmt und zunächst von den äußeren Gegebenheiten weg zurück in die Kindheit führt, um einen lange zuvor aufgegebenen Ort aufzuspüren, der zur Linderung des durch Krieg und Exil erfahrenen Schmerzes (re-)konstruiert wird. Ob allerdings im Schreiben die Wunden des Gedächtnisses Heilung finden, ist kaum abschließend zu klären.15 Wie das Memorieren von Dichtung vermag es allerdings einen entscheidenden, sogar existenziellen Beitrag zur zwischenmenschlichen Kommunikation zu leisten und dem menschlichen Befinden Ausdruck zu verleihen, selbst dann noch, wenn die widrigsten Umstände herrschen.16 Der Trost, der in den verschiedenen Formen des sprachlichen Ausdrucks liegt, kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es unmöglich ist, die Komplexität eines Lebens und seiner Spuren festzuhalten. Ebensowenig wie die Dichtung vermag es die Autobiographie, sich über den Tod eines Individuums hinaus weiterzuschreiben, um alle hinterlassenen Spuren zu sichern. Zu Beginn seines letzten Buches nimmt Alberti diese Tatsache an: y poco a poco, me voy adentro, esta vez definitiva e irremediablemente, en ese golfo de sombras que entonces anuncié, con la ilusionada y tal vez vana esperanza de que el paso del tiempo no borre mis huellas de tantos caminos recorridos. Sobre todo, aquellas apresuradas y menudas que, casi al amanecer, me llevaban cada día con los ojos todavía entornados por el sueño hacia mi colegio de los jesuitas de San Luis Gonzaga... (AP V, S.13)
Und auch der Lebensbaum, dessen scheinbar endloses Wachstum Alberti den Augen der Lesenden im Verlauf seiner Autobiographie vorführt, muss schließlich seine letzten durch ihn beschriebenen Blätter fallen oder loslassen (AP V, 217), um in einer letzten Elegie Abschied von dem noch «entzündeten Garten» (AP V, 221) zu nehmen.
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Weinrich: Lethe, S. 243. Ein eindringliches Beispiel führt Weinrich an, wenn er von Jorge Semprún schreibt, der den im Konzentrationslager im Sterben liegenden Maurice Halbwachs, dank seines poetischen Wissens, mit Gedichten Baudelaires zu begleiten vermag. Vgl. ebd., S. 242.
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4.1.1.2. Das Gedächtnis der Melancholie: Geschlossener Garten zwischen Gedächtnis und Imagination No importa que las palabras que oigamos abran la puerta de la verdad. Basta que sealadelaesperanza. (María Teresa León, Notizbuch)
Als die erste Auflage von Memoria de la melancolía 1970 im argentinischen Losada Verlag erschien, war der Buchdeckel jener Ausgabe mit einem Druck des Künstlers Silvio Baldessari gestaltet. Das Bild zeigt einen Raum, in dessen Zentrum eine magentarotfarbene Figur in einer Türöffnung – in Form einer rechteckigen weißen Fläche angedeutet – steht. Links und rechts von der Tür sind die Oberkörper zweier weiterer Figuren in weißflächigen Rechtecken angeordnet, die verschiedene Deutungsmöglichkeiten (Fenster, Gemälde oder Spiegel) zulassen. Die Darstellung ist abstrakt und spielt mit dem magentarot-weiß Kontrast. Klare weiße Linien betonen die Perspektive. Die geometrische Struktur des Bildes wird durch die weichen und geschwungenen Silhouetten von Gestalten aufgelockert, bei denen es sich aufgrund der ähnlichen Formen um drei Variationen derselben Figur zu handeln scheint. Durch die geöffnete «Tür» fallen Lichtstrahlen in den dargestellten Raum, und die zentrale Figur scheint im Begriff zu sein, die Tür zu durchschreiten. Obwohl die Gestalten eher androgyn wirken, lassen die angedeuteten Körperformen auf Abbilder einer Frau schließen. Darüber hinaus scheint die mittlere Gestalt ein Kleid zu tragen. Zusammen mit dem Titel des Buches und dem Namen der Autorin führt die Gestaltung des Buchdeckels unmittelbar in das «Gedächtnis der Melancholie» hinein, in das durch eine geöffnete Tür Lichtstrahlen in den nahezu abgeschlossenen (Gedächtnis- und Erinnerungs-) Raum fallen und ihn «erleuchten». Die ersten Memoria de la melancolía einleitenden Sätze lassen erahnen, was die transitorische Figur in der Tür, die weder nur im Raum befindlich, noch in Bewegung, bei sich selbst oder außer sich ist, erfährt: Todos son palabras y colores dentro de mí que ya no sé muy bien qué representan. Me asusta pensar que invento y no fue así, y lo que descubro, el día de mi muerte lo veré de otro modo, justo en el instante de desvanecerme. (MM, 7)
Auf drei für eine Autobiographie nicht unproblematische Momente wird somit gleich zu Beginn von Memoria de la melancolía verwiesen: 1. Erinnerungsfragmente, die als disparate Worte und Farben kein klares Bild ergeben, 2. die daraus resultierende Möglichkeit zu erfinden und sich über das Vergangene zu irren und 3. die Hoffnung auf eine sich am Lebensende im Angesicht des Todes offenbarende Wahrheit. Die Grenzen des Gedächtnisses werden aufgezeigt und auf den literarischen Akt, der mit der Verbalisierung autobiographischen Erinnerns einhergeht, hingedeutet.17
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Zum «defizitären Erinnerungsvermögen» und seinen Konsequenzen fürs autobiographische Erinnern allgemein siehe Wagner-Egelhaaf: Autobiographie, S. 42f.
Diesen Herausforderungen begegnet die Autographie sogleich mit den nächsten Sätzen, denn: Puede que esté inventando o que pinte sin saberlo y con ansia un muro, como hacen los niños de las calles de Roma donde dejan manos sueltas o bocas o caras espantadas o mensajes de amor entre estrellas. Lo cierto es que todo lo que estoy escribiendo no tiene ni deseo de perfección ni de verdad. Lo que vi es el jardín cerrado de lo que sentí. (MM, 7)
Durchschreiten wir mit Alberti einen organisch ausgestalteten Gedächtnisraum, der sich ausgehend von dem Bild des Hains wie ein Baum nach und nach im Schreiben entfaltet, greift León in Memoria de la melancolía das Bild des geschlossenen Gartens auf und damit das eines abgesteckten Raumes. Die Metapher des geschlossenen Gartens weckt die Vorstellung von einem biblischen Garten, dem Hortus conclusus, wie er im Hohen Lied mit Blick auf die Jungfrau Maria gepriesen wird. Der geschlossene Garten Leóns ist jedoch weit davon entfernt, im biblischen Sinne Garten der Reinheit, der Liebe, der Intimität, des Schutzes und der Geborgenheit oder ein «lieu plaisant» wie im Roman de la rose zu sein. Zwar führt León indirekt das diese Gärten auszeichnende Element, die Mauer, mit auf, die sogar wie die Mauer in Guilleaume de Lorris’ berühmtem Roman bemalt wird, doch ist ihr Garten kaum als irdisches Paradies zu lesen. Ihr Garten setzt sich nach und nach aus Erinnerungsfragmenten zusammen und wird neu geschaffen, um das wieder wachrufen zu können, was innerhalb Spaniens in den 60er Jahren mehr und mehr in Vergessenheit geraten ist: Nada tenemos que ver nosotros con las imágenes que nos muestran de España ni el cuento nuevo que nos cuentan. Podéis quedaros con todo lo que pusisteis encima. Nosotros somos los desterrados de España, los que buscamos la sombra, la silueta, el ruido de los pasos del silencio, las voces perdidas. Nuestro paraíso no es de árboles ni de flores permanente coloreadas. Dejadnos las ruinas. Debemos comenzar desde las ruinas. (MM, 30)
Der «geschlossene Garten» Leóns ist wie der «verlorene Hain» Albertis ein Ort, an dem die Anwesenheit des Abwesenden spürbar wird und die Vergänglichkeit allen Seins zum Gestaltungsprinzip gehört. In ihr liegt die Wandelbarkeit und die Chance eines Neuanfangs, der sich auf die Ruinen des Gewesenen, aber auch auf die vielfältigen Erfahrungen, die León auf zahlreichen Reisen sammelt, gründet. Die am Anfang ihrer Autobiographie suggerierte Intimität des Erfahrenen erfährt eine Öffnung hin zu denen, die ihr Schicksal teilen und hin zu den Regionen, die sie bereiste oder in denen sie lebte. Der «geschlossene Garten» wird nach und nach mit den verschiedensten Empfindungen, Geräuschen, Stimmen und Bildern gefüllt. Er wird zum Ausgangspunkt für die Ausgestaltung der vergangenen Lebenswelt, die in einen neuen, diesmal textuellen Raum überführt wird, um die individuelle mit der kollektiven Erfahrung der SpanierInnen im Exil zu verweben. Dennoch wählt León nicht «Memorias», sondern die «Memoria», um ihre Autobiographie zu schreiben. Diese wird der Melancholie zugeordnet, die zur Hüterin dieses Gedächtnisses wird. Wie bei Alberti wird dem Gedächtnis eine Form der Verselbständigung zugeschrieben. Auch 81
wenn León versucht, sich im Schreiben wieder «aufzubauen» – «como hacen los niños con sus juegos de piececitas de madera» (MM, 40) – gelingt es ihr doch nicht; das Geschriebene entgleitet ihr und an einer anderen Stelle scheinen die Hefte, in die sie schreibt, gar mit ihr zu spielen: Estas cuartillas que voy escribiendo se me han volado todas dispersándose, jugando a la mala pasada de huirme. Voy hacia ellas, amerillas o verdosas aún. Cómo se han reído siempre delante de mis pasos todos los otoños. Se las lleva el viento, los vientos que nos soplan en los oídos las medias palabras. No sé ya qué me cuentan. Sé que silabean corriendo, juntando puntas de palabras, hasta palabras, hasta palabras caminando pequeñas, persuasivas, enhebrando una verdad que jamás comprendemos. Vuelas, vuelas bien, memoria, memoria de la melancolía... . (MM, 231)
Ihr geschlossener Garten mit seinen individuellen Erinnerungen ist so geschlossen nicht, weder in ästhetischer Hinsicht, da der Text die Grenzen etwa zur Fiktion hin überschreitet, noch im Hinblick auf das im Text erscheinende Subjekt, das sich hinsichtlich seiner Erfahrungen mit dem Kollektiv der SpanierInnen im Exil verbindet und eine Trans-memoria in der Hinsicht ist, dass sie als solche auch in anderen Zusammenhängen erscheinen könnte und sich durch eine Art der Universalität der geschilderten Erfahrungen auszeichnet. La reconstrucción de la memoria es el medio de combatir el olvido. Para Ma. Teresa León la memoria opera, en su sentido bergsoniano, como una experiencia individual y subjetiva: pero también como una experiencia colectiva y plural.18
Memoria de la melancolía wird in diesem kollektiven Sinne bei Gil als symbolischer Erinnerungsort verstanden. León versuche, so Gil, eine historische Kontinuität, die von Krieg und Exil unterbrochen wurde, fortzusetzen. Sie böte ihren Lesern einen Erinnerungsort an, der als Schablone des kollektiven und historischen Gedächtnisses funktioniere.19 Zu diesem Zweck muss sie eine angemessene Form entwickeln, die sowohl zu der Konstituierung eines solchen Gedächtnisses beitragen kann als auch individuelle Unsicherheiten und Widersprüche in sich aufzunehmen vermag. Der entscheidende Aspekt, der wie erwähnt sogleich zu Beginn des Textes formuliert wird, kennzeichnet einen markanten Unterschied zwischen Memoria de la melancolía und La arboleda perdida hinsichtlich der (Er-)Öffnung des Textes: Der Anfang von La arboleda perdida führt zunächst an einen realen Ort der Kindheit, der dann literarisch ausgestaltet und tranformiert wird. Memoria de la melancolía beginnt mit der Formulierung eines Zweifels und einer Beschreibung der Funktionsweise ihres Gedächtnisses: Worte und Farben trägt das erinnernde Ich in sich, doch weiß es nicht genau, was diese repräsentieren. Sie fügen sich zu keinen klaren Bildern zusammen und es wird die Angst des erinnernden Ichs ausgedrückt, dass es erfinde und dass das, was es schildert, nicht so gewesen sei.
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Estebanez Gil: Ma. Teresa León, S. 36f. Ebd., S. 37.
Am Beginn von Leóns Autobiographie steht somit die Möglichkeit des Irrens, das verbunden ist mit der Unvermeidbarkeit des Vergessens und bei ihr dem Erinnern des Lebens inhärent ist. Beide, der Irrtum und das Vergessen, eröffnen den Raum für die Imagination, die die Autorin zunächst zu fürchten scheint, da sie der Richtigkeit ihrer Äußerungen im Wege stehen könnte, um sie dann aber sogleich zu einer produktiven Kraft dessen werden zu lassen, was ihren «geschlossenen Garten» entlang der Autobiographie öffnen und ausgestalten wird. León nimmt damit Gedanken vorweg, die in neuesten Studien zu einer «postmemory»20 formuliert oder in Romanen wie Pawels Briefe von Monika Maron21 heute thematisiert werden und die Frage nach dem Umgang mit individuellen und kollektiven Gedächtnislücken stellen. Sie distanziert sich damit gleich zu Beginn ihrer Autobiographie von einem allein auf Fakten basierenden Wahrheitsanspruch. Ihre Äußerung erscheint wie eine Strategie, um sich zukünftiger Kritik zu erwehren, die auf die Unvollständigkeit und Ungenauigkeit des Beschriebenen hinweisen könnte. Die Möglichkeit des Erfindens wird in Erwägung gezogen, wo eine Abbildung der Wirklichkeit durch Sprache und Bilder in Frage gestellt ist. Auch sind es nicht Perfektion und Wahrheit, die sie im Schreiben sucht, sondern vielmehr der Ausdruck einer persönlichen und gefühlten Sicht auf die Dinge, die sie mit dem Bild des geschlossenen Gartens umschreibt und die ihre innere Wahrheit ans Licht bringen wird. Das Gedächtnis, wie es in Memoria de la melancolía in Erscheinung tritt, bewegt sich im Widerstreit von Erinnern und Vergessen. Die Gedächtnisinhalte haben keinen festen Wohnsitz, weder physiologisch noch ästhetisch. Sie verändern sich ständig und spiegeln nicht das getreue Abbild längst vergangener Tage, sondern sind eine Erscheinung, die sich dem gegenwärtigen Moment des Schreibens verdankt, in dem Erinnertes/Vergessenes und dessen Gestaltung zu einem TextLeben zusammenfließen. Fiktion ist dabei ein wesentlicher Bestandteil der Wahrheit, «an ineluctable fact of the life of consciousness»22 und es gilt auch für León, was Eakin an anderer Stelle allgemein für die Autobiographen des 20. Jahrhunderts formuliert, wenn er schreibt, dass diese nicht länger annehmen, dass [...] autobiography can offer a faithful and unmediated reconstruction of historically verifiable past; instead, it expresses the play of the autobiographical act itself, in which the materials of the past are shaped by memory and imagination to serve the needs of present consciousness. Autobiography in our time is increasingly understood as both an art of memory and an art of the imagination; indeed, memory and imagination become so intimately complementary in the autobiographical act that it is usually impossible for autobiographers and their readers to distinguish between them in practice.23
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Zum Konzept der «postmemory» vgl. Marianne Hirsch: Family frames: photography, narrative and postmemory. Cambridge: Harvard University Press 1997. Monika Maron: Pawels Briefe. Frankurt am Main: Fischer 1999. Paul John Eakin: Fictions in Autobiography: Studies in the Art of Self-Invention. Princeton: Princeton University Press 1985, S. 7. Ebd.
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León beginnt ihre Lebensgeschichte in der Kindheit – nicht mit der Geburt – und bewegt sich bald schnell zwischen den Orten und Zeiten, die zahlreiche Reflexionen ihrer gegenwärtigen Situation und Umstände, während sie ihre Autobiographie schreibt, mitenthalten. Sie stellt nicht die chronologische Ordnung ihres Seins in den Vordergrund. Vielmehr werden die aufkommenden Erinnerungsfragmente wie «Bauklötze» zusammengesetzt und prägen die Form der Autobiographie, die in Sektionen unterschiedlicher Länge unterteilt ist, die nur durch Leerräume voneinander getrennt sind und «the flux of memory, with its jumps and pauses» im Text einfangen.24 Vor allem Letztere, die Pausen oder besser die «Lücken» des Gedächtnisses, gewinnen eine große Bedeutung im Schreiben Leóns, denn su autora intuía que pronto iba a verse deshabitada de ella [la memoria], desahuciada de todos los recuerdos, vuelta al punto inicial e irrellenable del vacío. Quiso andar en la palabra y con la palabra el camino último antes de sentarse a esperar la llegada del invierno final [...].25
Es ist neben dem Verlust der Heimat vor allem das Vergessen, das nicht nur die Struktur, sondern auch ästhetisch den Text prägt. Das «Gedächtnis der Melancholie» ist von Erinnerungen und Leerstellen gleichermaßen gekennzeichnet. Diesbezüglich bekommt eine Aussage wie die Drongs im Falle dieser Schriftstellerin eine besondere Gültigkeit: «As a result, memory in autobiography is a figure of absence: it purports to anchor the textual self in the past but in fact founds it upon the vacuum of oblivion.»26 Vielleicht gerade weil León dieses Vakuum so bewusst ist und sie es am eigenen Leibe erfährt, scheint sie bemüht, es aufzufüllen, etwa indem sie ihr individuelles Gedächtnis mit dem Leben anderer verwebt, es sich mit der großen Geschichte kreuzen lässt, um diese wiederum mit Mythen, Gesängen und Legenden, die sie mit aufnimmt und aktualisiert, zu unterlaufen und nicht zuletzt die Grenzen von Zeit und Raum des eigenen Lebens zu überschreiten und sie in einen überindividuellen zeitlosen Raum der Sprache zu transportieren. Doch diese Grundlage der narrativen Verfertigung in Memoria de la melancolía, die Bemühung um Fülle, wo sich das Verstummen abzuzeichnen beginnt, scheint das unwiderrufliche (eigene) Vergessen am Ende des Weges zu unterstreichen, wenn auch mit der Möglichkeit, mittels der literarischen Über-Setzung der Inhalte ein beredes «recuerdo de un olvido» zurückzulassen.27 León beschreibt das Erinnern von Beginn an als einen unkontrollierbaren Prozess, der auch Verwirrendes und Unklares hervorbringt. Die durch das Vergessen entstehenden Lücken und Brüche werden dabei zur Grundvoraussetzung der autobiographischen Fiktion. Die Schrift übersetzt die Erinnerung oder ihr Fehlen,
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Gina Herrmann: The dogs of War, S. 171. Vgl. die Einführung von Torres Nebrera in: María Teresa León: Memoria de la melancolía. Madrid: Castalia 1998, S. 45. Leszek Drong: Masks and icons: subjectivity in Post-Nietzschean autobiography. Frankfurt am Main: Lang 2001, S. 64. Vgl. hierzu das Gedicht Donde habite el olvido. In: Cernuda: La realidad y el deseo, S. 93.
verändert beide oder bringt sie erst hervor, und selbst die niedergeschriebenen Fakten sind nicht weniger trügerisch: «Estos datos estan escritas en una libreta vieja y rota conservada por mi. No sé si son exactos.» (MM, 125). Ihre Geschichte wird aus den verschiedensten Versatzstücken zusammengefügt und neu konstruiert: Gedichte unterschiedlicher Herkunft, Briefe, Bildbeschreibungen, einzelne zitierte Sätze, Dialogfetzen, Worte und Wendungen der Umgangssprache werden hier unvermittelt nebeneinander gestellt und der häufige Gebrauch von Ausrufe- und Fragesätzen ist auffällig. Die Ausrufesätze treten in Form von Interjektionen mit vorangestellten Pronomina: «¡Qué delicia!» (MM, 25); «¡Qué poca imaginación, Farias!» (MM, 43); «¡Ah, horas sin retorno!» (MM, 40), mit bekräftigenden Wörter:«¡Pero, no!» (MM, 58), «¡Ah!» (MM, 44), «¡Ay!» (MM, 38) auf, die den Gefühlsausdruck verstärken. Sie werden unverbunden in die Rede eingefügt, wobei ihre Bedeutung erst durch die Sprechsituation im Kontext festgelegt wird. Es ist ein Sprechen aus Affekt, das den Text kennzeichnet und das dem in der Vergangenheit Erlebten den Charakter der Unmittelbarkeit verleiht. Viele der in Memoria de la melancolía gestellten Fragen erfahren keine Antwort und erzeugen im Text eine besondere Spannung oder treiben ihn voran. Die zahlreichen Wechsel der Satzarten verleihen dem Text eine gewisse Unruhe und Bewegung. Häufig werden Gedanken und Sätze noch vor der eigentlichen Aussage abgebrochen. Die Aposiopesen prägen von Beginn an das Textbild. Die Weglassungen, Brüche, Gedankensprünge und Widersprüche, die inhaltlich und formal zum Ausdruck kommen, unterminieren den Text. Hierin zeigen sich ein ausgeprägtes Spiel mit der Sprache und das geschärfte Bewusstsein der Autorin für die Sprache. Sie erzählt eine fragmentierte Geschichte, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt und sich zu fiktiven Momenten bekennt, die das Wahrheitsgebot transformieren, an dessen Stelle ein Authentizitätsanspruch tritt, der mit der Fiktionalisierung verknüpft wird und die Aufmerksamkeit auf die rhetorischen, ästhetischen und poetologischen Erzählmuster lenkt, die oft die Darstellungsund Wahrnehmungsschemata auch und vor allem der Historiker als Interpreten der Geschichte prägen.28 Die Autorin grenzt sich von der Geschichtsauffassung ihrer Zeit ab und entwickelt aufgrund der von ihr gelebten Erfahrungen eine für ihre Zeit eigenwillige Geschichtsvorstellung, die mitten in die gegenwärtige Diskussion der Geschichtstheorie führt, worauf im folgenden Abschnitt noch näher eingegangen wird.29
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Zur Literarisierung und Fiktionalisierung siehe Holdenried: Autobiographie, S. 14, die dazu ausführt, dass Literarisierung eine Übernahme, Variation und analogische Nachbildung fiktionaler Darstellungstechniken meine, die darin eine Überschreitung der Autobiographie als Zweckform hin zur Kunstform bewirke. V.a. Roland Barthes, Michel Foucault, Hayden White haben mit ihren Schriften innerhalb der Geschichtswissenschaft Diskussionen angeregt und traditionelle Denkmuster radikal in Frage gestellt. Aussagen wie die Hayden Whites zur Doppelgesichtigkeit der Geschichtswissenschaft, die versuchten, auch auf die «artistische» Seite dieser Disziplin
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In einem ihrer Notizbücher, in denen León einige der Kapitel Memoria de la melancolía niederschrieb, versah sie diese zunächst mit dem Titel Memoria del olvido, den sie dann durchstrich und in den aktuellen Titel änderte.30 Das in Memoria de la melancolía dargestellte Gedächtnis, das sich zwischen und mit den Prozessen des Erinnerns und Vergessens bewegt, stellt somit selbst eine Art Zwischenreich dar, das «a medio apagar» (MM, 51), immer auch eine memoria del olvido und daher «melancólica» ist, in der sich Bilder übereinanderlegen und sich Geräusche, wie Stimmen, Worte, Murmeln, Akzente und Musik, ansammeln, die zunehmend verschwimmen. Das Vergessen spielt in ihrer Gedächtniskonzeption eine herausragende Rolle. Nicht nur weil sie an ihm leiden wird und an verschiedenen Stellen den Konflikt etwa zwischen Vergessen-Wollen, weil die Erinnerungen zu schmerzvoll sind, und Nicht-mehr-erinnern-Können formuliert. Wie oben bereits angedeutet, öffnet ihr die literarisch inszenierte Vergesslichkeit die Türen hin zur autobiographischen Fiktion und damit zur Möglichkeit, den Anspruch auf Vollständigkeit oder Wahrheit des Lebenstextes wenn auch nicht aufzugeben, so doch zu entkräften. Auf diese Weise räumt sie der «kreativen Funktion»31 des Gedächtnisses einen Spielraum ein. Vor allem aber öffnet sie auch Türen hin zu einem Dialog und Austausch über das von ihr Dargestellte, in den vor allem Alberti aufgenommen wird und bietet einen Alternative zu monologisch vermittelten (historischen) Inhalten. Auf diese Weise erfährt die Autobiographie eine an den eigenen Bedürfnissen ausgerichtete Ausformung, die ihr somit einen textuellen Raum eröffnet, in dem sie sich «grenzenlos», in einer Vielzahl von Bewegungen zwischen realen und fiktiven Zeiten und Räumen, aber eben auch zwischen Erinnern und Vergessen, Subjekt und Lebensgeschichte bewegen kann und die ihr erlaubt, zwischen Realem und Imaginärem, Individuellem und Kollektivem zu vermitteln. Memoria de la melancolía ist vor allem aber einer spezifischen Situation als Frau innerhalb einer patriarchalen Gesellschaftsordnung geschuldet, aus der heraus sie mit Krieg und Exil konfrontiert wird und innerhalb derer sie auch ihre Beziehung zu Alberti (er-)lebt. In dieser Hinsicht eröffnet Memoria de la melancolía in den ausgehenden 60er Jahren einen Diskurs, der diejenigen in die Geschichte einzuschreiben beginnt, die bis zu diesem Zeitpunkt vor allem durch ihre Abwesenheit bestachen. In dieser Hinsicht ist Memoria de la melancolía kein Zeugnis der Verteidigung und des Widerstandes eines Exilierten. León ist sich der Marginalisierung von
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aufmerksam zu machen, forderten dazu heraus, alte Denksysteme aufzubrechen und Untersuchungsmethoden zu entwickeln. Inwieweit die Vergangenheit ein «Ort der Fantasie» ist, deren Effekte sich nicht empirisch studieren lassen usw. bleibt zu diskutieren. Vgl. hierzu Hayden White: Interview: Hayden White: The Image of Self-Presentation. Mit Ewa Domanska; Hans Kellner; Hayden White. In: Diacritics 24, 1. (Frühling 1994), S. 91–100, S. 99. Vgl. hierzu das María Teresa León: Notizbuch A774. Fundación Rafael Alberti. Vgl. hierzu Wagner-Egelhaaf: Autobiographie, S. 46.
Frauen und den daraus resultierenden spezifischen Schwierigkeiten der Identitätsbildung von Frauen im Exil bewusst, für die eine geeignete Form gefunden und ein Wissen über diese Problematik überhaupt erst einmal hervorgebracht und bereitgestellt werden muss. In der von ihr gewählten autobiographischen Form mit ihren Brüchen und Lücken und der Distanznahme zum eigenen erinnerten Ich liegt somit bereits ein entscheidender bedeutungskonstituierender Gehalt, der die Sinnorientierung anzeigt. Gerade deshalb ist Memoria de la melancolía zunächst einmal das Zeugnis von einer Exilierten, in dem vermittels Form und Inhalt ein spezifisches, oftmals verdrängtes Wissen vom Leben generiert und vermittelt wird, denn schließlich ist vielleicht die geschriebene Erinnerung das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können. 4.1.2.
Textuelle Generierung und Speicherung verdrängten Wissens und seine Revitalisierung in der Sprache
4.1.2.1. Tra(n)smemoria de la melancolía: Vom individuellen zum kollektiven Wissen vom Leben En esta trasmemoria hundo hoy para contarte los atrapados sueños de mis recuerdos. (María Teresa León)32
León verfasste ihre Autobiographie in einer für sie in vielerlei Hinsicht als Übergangsphase zu beschreibenden Zeit, die parallel – mit Blick auf die jüngste Geschichte Spaniens – zur Herausbildung eines «kommunikativen Gedächtnisses» verlief. Ein wesentliches Moment des kommunikativen Gedächtnisses ist es, dass es von mündlichen Überlieferungen und Interaktion begleitet, ausgehandelt wird.33 Die Texte zeugen von dieser Phase: Die zu verhandelnde(n) Geschichte(n) ist/sind bei León und Alberti noch nicht historisch, sondern präsent. Sie lebt/ leben mit an die Gegenwart geknüpften Hoffnungen und Wünschen weiter und wird/werden als Aufgabe den folgenden Generationen angeboten, um das noch Unvollendete fortzuführen. Beide Autobiographien sind TextRäume, in denen subjektive Erfahrungen und historische Fakten mit einem umfassenden Prozess des Gedächtnis- und Geschichte-Machens verflochten werden, um nicht zuletzt in rhetorischen Akten Dimensionen einer Gegengeschichte aufzuzeigen und zur Darstellung zu bringen, denn:
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Zit.n. Aitana Alberti: Inquilinos de la soledad. Havanna: Ediciones Unión 2006, S. 24. Zum Begriff des kollektiven Gedächtnisses und der mit ihm einhergehenden Unterteilung in ein kommunikatives und kulturelles Gedächtnis siehe die einschlägigen Studien von Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis. Frankfurt am Main: Fischer 1985; Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart/ Weimar: Metzler 2005; Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: Beck 1992.
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Aún hay una historia de la guerra española viva por el mundo. Luego... luego se eclipsará, vivirán un momento más los recuerdos de la tradición oral y luego los libros...¿Contarán las pequeñas historias?¿Las del amor, por ejemplo? (MM, 43)
Das Wissen um die Gefahr der Verdrängung historischer Erfahrung und ihres Vergessens steht im Raum und damit implizit die Frage nach Möglichkeiten ihrer Generierung, Speicherung und Vermittlung. Bereits 1937 widmete sich León der Problematik der selektiven Wahrnehmung politisch und historisch relevanter Geschehnisse und leistete ihren Beitrag zur Dokumentation des Spanischen Bürgerkrieges. Der Prolog des ersten Bandes der Crónica de la Guerra Civil, die von der Alianza de Intelectuales Antifascistas 1937 herausgebracht wurde, zeugt davon. Leóns Sammlung ist ganz dem Ziel verpflichtet «de ayudar la memoria, atareada continuamente en acontecimientos decisivos y trascendentales de nuestra lucha.»34 Anders als in ihrer dreiunddreißig Jahre später erscheinenden Autobiographie betont sie den Wert einer solchen Chronik: El valor de la crónica de estos momentos en que habla España es, precisamente, lo que éstas tienen de documento y no de invención, de anécdota humana o de reacción de algún gran escritor – Antonio Machado – ante el hecho histórico presente. No podemos presentarlas más que llenas de esa virtud de ser contemporáneas al suceso, de ser partículas de la historia grande, y por esto convinimos llamar a esta selección «Crónica general de la guerra civil».35 (Hervorhebungen hinzugefügt)
Inhalt und Medium sind der Situation angepasst. Hervorzuheben ist die Abgrenzung der Dokumentation von der Erfindung, die León hier unternimmt. Der Text ist getragen von der Notwendigkeit, in der Hitze der Gefechte wahrgenommen zu werden, Informationen bereitzustellen und – für León bereits zu jenem Zeitpunkt von besonderem Interesse – «[p]ara avivar la memoria.»36 Zuviel geschieht in jenen Tagen und die Ereignisse folgen dicht aufeinander, so dass die Gefahr groß ist, dass «Fakten», die – in diesem Fall – von den Milizsoldaten geschaffen werden, von denen vergessen werden, so León, «que duermen sobre las laureles ajenos.» Diese sollen sich der Anstrengung derer bewusst werden, «que convirtieron los grupos de guerrilleros antifascistas en un Ejército regular.»37 León agiert ganz im Sinne ihrer Rolle als Miliciana, als Milizsoldatin. Es handelt sich dabei um eine Momentaufnahme dessen, was sie später in ihrer Autobiographie aus einem entschieden größeren zeitlichen Abstand, aus gänzlich veränderten Lebensumständen und Notwendigkeiten heraus wieder aufgreifen und erinnern wird. Geschrieben wird der Prolog der Chronik, um zu dokumentieren und «Wahrheiten» zu schreiben.
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Vgl. hierzu den Prolog in María Teresa León und J. Miñana (Hgg.): Cronica general de la Guerra Civil. Bd.1. Madrid: Ediciones de la Alianza de intelectuales Antifascistas 1937. Ebd. Ebd. Ebd.
Mit ihrer Autobiographie wählt sie ohne Zweifel einen anderen Weg, um die Vergangenheit wieder zum Leben zu erwecken. Die Milizsoldatin hat sie weit hinter sich gelassen. Zum Zeitpunkt der Niederschrift von Memoria de la melancolía ‹agiert› sie als Schriftstellerin. Die einstige Milizsoldatin hinterlässt nur noch als Erinnerung ihren Spuren im Text. Der Erfindung und Imagination wird nun Raum zur Generierung des Gewesenen gegeben. Sie erzählt eine mögliche Geschichte ihres Lebens, die jedoch alles für sie Wesentliche der vergangenen Geschehnisse in sich trägt oder formt und der Wahrheitssuche dient. Vom Beginn ihrer journalistischen Tätigkeit in den 20er Jahren an war es León ein besonderes Anliegen, auf den von Frauen im Allgemeinen und dem von ihr im Speziellen geleisteten Beitrag an der Gestaltung der Geschichte aufmerksam zu machen.38 Sie erlebte aktiv die Zeit der Zweiten Republik mit, in der der liberale Diskurs über die «Neue Frau» zunächst neue Handlungsräume und Identifikationsmöglichkeiten eröffnete, die dann im Spanischen Bürgerkrieg eine zusätzliche Dynamisierung erfuhren.39 León war sich der dann wiedererstarkten politischen Marginalisierung von Frauen zur Zeit der Francodiktatur bewusst, die Frauen rechtlich für unmündig erklärte und ganz und gar in die Rolle der «perfecta casada» zurückdrängten. In einem Umfeld, wo eine Haltung der Hörigkeit und Unterordnung unter den Mann, die bereits von José Antonio Primo de Rivera gefordert und von seiner Schwester vorangetrieben wurden, hatten Erinnerungen an vorangegangene Emanzipationsbestrebungen keinen Platz.40 In diesem zeithistorischen Kontext und in Abgrenzung zu den repressiven nationalen Tendenzen stellt die Autobiographie Leóns ein nahezu revolutionäres Politikum dar. In ihr werden die individuellen Erfahrungen eines weibliche Sub-
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Zur kulturellen Aktivität Leóns im Spanischen Bürgerkrieg siehe Monforte Gutiez: La labor cultural de María Teresa León, S. 148–151 und María Teresa León: La Historia tiene la palabra. Buenos Aires: Patronato Hispano-Argentino de Cultura 1944. Die Situation der Frauen spiegelt die politische Situation Spaniens in dieser Zeit wider, die von demokratischen Reformbewegungen und dem Versuch der traditionellen Eliten, sich zu behaupten, geprägt war. In den letzten Jahren sind zahlreiche Studien erschienen, die sich eingehend mit der Stellung der Frauen zur Zeit der Zweiten Republik und des Spanischen Bürgerkrieges beschäftigen. Hervorzuheben wäre hier die Monographie Rojas. Las mujeres republicanas en la Guerra Civil von Mary Nash, die sich eingehend den Traditionen und Brüchen, Chancen und Rückschritten für Frauen im Spanien der 30er Jahre widmet und sich für eine zeithistorische sowie sozio-politische Kontextualisierung der in Memoria de la melancolía beschriebenen Erlebnisse und Erfahrungen im Spanischen Bürgerkrieg eignet. Mary Nash: Rojas. Las mujeres republicanas en la Guerra Civil. Madrid 1999. In Zusammenhang des Diskurses zur «Neuen Frau», der in jenen Jahren die Diskussionen bezüglich der Frauenfrage beherrschte, möchte ich auf einen Text Alexandra Kollontais verweisen, der das (kommunistische) Bild der «Neuen Frau» in Spanien wesentlich prägte und 1937 von María Teresa Andrade übersetzt im Ed. Marxista erschien. Alexandra Kollontai: La juventud comunista y la moral sexual. Barcelona 1937. Vgl. hierzu María Teresa Gallego Médnez: Mujer, Falange y Franquismo. Madrid: Taurus 1983, S. 186.
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jekts mit dem Kollektiv der «desterrados» im Allgemeinen und dem der Frauen in dieser Gruppe im Speziellen zusammengeführt, um ihre Geschichte(n) dem Vergessen, insbesondere dem institutionalisierten Vergessen, wie es von der damaligen «nationalen» Politik und Geschichtswissenschaft bewusst gepflegt wurde, zu entreißen.41 Das Genre der Autobiographie schien besonders geeignet, um sowohl der problematischen Situation einer spanischen intellektuellen und republikanischen Frau im Exil als auch einem spezifischen kollektiven, politischen, ideologischen und kulturellen Fühlen und Denken Ausdruck zu verleihen. In ihrer Eigenschaft, vielleicht eine der «demokratischsten Formen»42 des Schreibens zu sein und darüber hinaus in vielen anderen Genres zu erscheinen und sich aus ihnen zu speisen, zeichnet sich die Autobiographie dadurch aus, dass sich in sie formale Strategien beispielsweise des Dramas und der Dichtung integrieren lassen, um je nach Zielsetzung und Anspruch ihr eine besondere Form zu verleihen: to reflect on what it means to be human, to live in society, to be educated, to find a vocation, to develop principles and live accordingly. As such, while autobiography raises practical and theoretical questions about memory, identity, and truth, the form also dramatizes and perpertuates the universal human struggle to live an examined and meaningful life.43
Diese Möglichkeiten nutzt León, um in den 60er Jahren individuelle und kollektive Erfahrung geschickt miteinander zu verweben und im autobiographischen Schreiben den Marginalisierungstendenzen in der «nationalen» Geschichtsschreibung Spaniens zu begegnen. Im Folgenden soll dies eingehender beschrieben werden. Wenn León zu Beginn der Darstellung auf ihre «Schwächen» als «Historiker» (MM, 7) Bezug nimmt, bedeutet das im Falle dieser Autorin nicht, dass sie ihren Anspruch auf eine (eigene) Geschichte und deren Darstellung preisgibt, denn: «it is her attempt to write the epic woman’s history of the Spanish Civil War, while on the surface it is ‹only› a personal testimony.»44 Bei ihrer Geschichte handelt es sich um das, was man als Alltagsgeschichte bezeichnen könnte, die zu jenem Zeitpunkt kaum in Geschichtsbüchern zu finden war und León – einer «oral History» vorweggreifend – eng an mündliche Tradierungsformen heftet.45
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Blanco: Las voces perdidas, S. 45–49. Vgl. hierzu den Eintrag Autobiography von Bonnie J. Gunzenhauser in: Margaretta Jolly (Hg.): Encyclopedia of Life Writing. Autobiographical and Biographical Forms. Bd.1. London/Chicago: Fitzroy Dearborn Publishers 2001, S. 77. Ebd. Ugarte: Women and Exile, S. 210. Die Mündlichkeit, die in Memoria de la melancolía auf verschiedenste Weise thematisiert wird, verstärkt in diesem Zusammenhang als Sprache der Nähe im Gegensatz zu einer schriftlichen Sprache der Distanz die von ihr vorgenommene Unterscheidung einer trockenen, großen Geschichte und der «pequeñas historias». Immer wieder wird der Analphabetismus zur Sprache gebracht. Die Autorin inszeniert eine Art Oral History als Zugang zur Erfahrung derer, die nicht in der Lage waren, ihre Erlebnisse schriftlich zu
Die offizielle Geschichtsschreibung wird als statisch, körperlos, trocken, kalt und traurige Worte aussparend beschrieben: «las batallas se cuentan ya fríamente e igual sucede con las políticas. Se han evitado las palabras tristes en los libros para dejar las heróicas» (MM, 7). Dieser Zustand beunruhigt León, die überdies im Exil mit einem Desinteresse an den politischen Belangen Spaniens konfrontiert wird, das ihr bereits kurz nach dem Verlassen Spaniens von Seiten der Minister, Generäle und Professoren anderer Länder entgegenschlägt: «Las cuestiones de España no interesan, señora» (MM, 228). Diesem Desinteresse stellt sie ihr autobiographisches Schreiben entgegen, das sich nicht hinter einer vermeintlichen Objektivität verbirgt und sich bewusst trauriger Worte bedient. Für diese entschuldigt sie sich zwar zunächst formal und wertet sie als mögliches Symptom «de mi incapacidad como historiador» (MM, 7).46 Es wird jedoch bald deutlich, dass es gerade diese Worte sind, die für sie die erlebte Geschichte versinnbildlichen und es vermögen, die vergangenen Tode, Anstrengungen und Schmerzen nicht nutzlos werden zu lassen (MM, 231). In der Sprache der Trauer und des Leidens scheint sich die Autorin dabei in einem «dialogischen Zwischen»47 einzurichten. Der Aufforderung zum Erzählen der Traurigkeit stehen die vielen Verweise auf die Stille und Aufforderungen zum Schweigen im Text gegenüber. Worte und Tränen werden somit auch unterdrückt, dies geschieht jedoch in einer dies derart vorführenden Weise, so dass umso deutlicher wird, dass es die vergessenen sozialen Ereignisse in der Begegnung mit dem Anderen sind, die in der «Entzeitlichung der Existenz, Entleiblichung des Geistes und Monologisierung des Denkens durch die eine, universelle Vernunft»48 der abendländischen Gesellschaft verdrängt wurden und die es deshalb zu erinnern gilt, auch oder gerade wegen der Vorführung ihrer Unterdrückung. Die mit «Majuskeln» geschriebene Geschichte eines Stalins, «queda para los historiadores» (MM, 86) ebenso die der Paläste, von denen ein Hausarzt spricht (MM, 24). Die Geschichte der Ängste, die niemand zu hören wünscht und die deshalb eine Sprache finden muss, um erzählt und tradiert werden zu können, ist ihr Anliegen:
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fixieren. So entsteht mit Memoria de la melancolía eine Art Mischform in der Weise, dass ein mündlicher Stil im Sinne einer fingierten Mündlichkeit verwendet wird. Schreiben und Sprechen, Lesen und Hören gehen ineinander über und sind kaum voneinander zu trennen. Phyllis Zatlin sieht darin ein Charakteristikum der von Frauen verfassten Texte zum Spanischen Bürgerkrieg im Allgemeinen: «The women write not of the political figures, the battles, and the dates that constitute ‹history›, but rather of the common people and daily lives that from what Unamuno called ‹intrahistory›.» Phyllis Zatlin: The Civil War in the Spanish Novel: Female Perspectives. In: España Contemporánea 2–4 (Frühling 1989), S. 23–40, S. 27. Ludger Heidbrink (Hg.): Entzauberte Zeit. Der melancholische Geist der Moderne. München/Wien: Hanser 1997, S. 251. Ebd., S. 253.
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Contad vuestras angustias del destierro. No tengáis vergüenza. Todos las llevamos dentro. Puede que la fortuna os haya tendido la mano, pero ¿y hasta que eso sucedió? Contad vuestras noches sin sueño cuando ibais empujados, cercados, muertos de angustia. [...] Ha llegado el momento de no tener vergüenza de los piojos que sacábamos entre el pelo ni la sarna que nos comía la piel ni de la avitaminosis que nos obligaba a rascarnos vergonzosos en el cine. Éramos la España del vestido roto y la cabeza alta. … (MM, 237)
Das – wie noch zu sehen ist – ursprünglich «grünende» Spanien erscheint stolz in einem verschlissenen Gewand. Die hier zum Ausdruck kommende Idee der zwei Spanien, wie sie im Kontext der 98er Generation entwickelt wurde, wird entlang des Textes immer wieder aufgegriffen: «En mi mano derecha llevo dos lágrimas que ningún viento puede secar. Se llaman España.» (MM, 286). Schließlich zitiert sie ein Gedicht Unamunos49 und verbindet sein grünendes, fortschrittliches und hoffnungsvolles Spanien mit den ExilspanierInnen, «un grupo de la España verde desterrada» (MM, 316), denen sie eine Stimme verleiht, «para que las voces perdidas del exilio y de la mujer no desaparezcan en el olvido del horizonte cultural español.»50 Die Geschichten dieses grünen Spaniens, die zahlreiche Diffamierungen erfuhren und weder in den heroischen Geschichtsbetrachtungen ihrer Zeit noch in den Zeitungen zu finden sind, sollen weniger analysiert als materialisiert werden, um überhaupt erst einmal fortbestehen zu können: Sí, desterrados de España, contad, contad lo que nunca dijeron los periódicos, decid vuestras angustias y lo horrorosa que fue la suerte que os echaron encima. Que recuerden los que olvidaron. (MM, 238)
Der sozio-politische Kontext des Spanischen Bürgerkrieges und des Exils ist in Memoria de la melancolía stets relevant, weshalb das autobiographische Schreiben Leóns eine ästhetische und eine politische Herausforderung darstellt und «[s]ería de todo punto imposible valorar unilateralmente a María Teresa León como escritora, separándola de su vida, del continido profundo y revolucionario de su vida […].»51 Mittels dessen, was sich ihr zeigt, «el jardín cerrado de lo que sentí» (MM, 7), schreibt sie sich Wort für Wort in eine «große» (historische und politische) Erzählung ein. Sie entwirft eine neue Perspektive auf das Geschehene, das sie inhaltlich und formal mit dem Schicksal verschiedener marginalisierter Gruppen verknüpft. Auf diese Weise öffnet sich der «jardín cerrado de lo que yo sentí» (MM, 7), eine Erfahrungswelt, die eben nicht für sich allein steht, sondern mit anderen, die ein ähnliches Schicksal (das der Verlassenheit, Einsamkeit, der Unterdrückung und Scham) ereilte, geteilt wird. Elemente der eigenen Erfahrungswelt werden somit als Bestandteile des Erlebens
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«Dos espumas frente a frente,/una verde y otra negra./Lo que la verde pujaba,/ lo remitía la negra./La verde reverdecía./Rompe, furiosa, la negra./Dos Españas frente a frente./ Al tiempo de guerrear,/se perdió la verdadera. / Aquí yace media España./ Murió de la otra media» (MM, 316). Blanco: Las voces perdidas, S. 45–49. Marcos: María Teresa León, una mujer comprometida con su tiempo, S. 41.
anderer wahrgenommen und zu universellen Erfahrungen. Auf syntaktischer Ebene verknüpft sie ihre eigene Stimme bereits auf der ersten Seite mit einer kollektiven Stimme der Exilierten: Es mi pequeño ángulo visual de las cosas. Somos los que quedamos gentes devoradas por la pasión de la verdad. Sé que el mundo apenas se nos oye. Siempre habrá quedado el eco, pues el único camino que no hemos hecho los desterrados de España es el de la resignación. (MM, 8, Hervorhebungen hinzugefügt)
Dem eigenen «pequeño ángulo visual» folgt das kollektive Schicksal der Exilierten, und das in den ersten beiden Abschnitten der ersten Textseite erscheinende «Ich» wird mit dem «Wir» verknüpft: «Sé que ya en el mundo apenas se nos oye» (MM, 8). Die Autorin lässt in den folgenden Sätzen das Subjekt des autobiographischen Textes, das Ich, mit einem Wir verschmelzen. Besonders dann, wenn es um ihre politische Haltung, den Spanischen Bürgerkrieg und das Exil geht, wandelt sich das Ich zum Wir. Es ist «diese Tendenz der Exilautobiographie, die Erfahrungen einer ausgestoßenen und verfolgten Generation zu überliefern, und das eigene Schicksal in den Kontext der Geschichte zu stellen.»52 In dieser Hinsicht handelt es sich bei Memoria de la melancolía nicht nur um ein «testimonio individual, ya que el énfasis se pone constantemente en el protagonismo colectivo.»53 Die in Memoria de la melancolía deutlich werdende Darstellungsweise der individuellen und kollektiven Geschichte(n) ist eng mit einer spezifischen Geschichtsauffassung verknüpft:54 Aufgrund ihrer Erfahrungen entwickelt León eine konkrete Idee dessen, was in eine Geschichte des Spanischen Bürgerkrieges und auch in die des eigenen Lebens eingeschlossen werden soll. Diese Idee ist eng an das Intrahistoria-Konzept und das Spanienbild Unamunos55 angelehnt und zeigt wie dieses «die Beschäftigung mit den Prinzipien des historischen
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Gabriele Mittag: Erinnern, Schreiben, Überliefern. Über autobiographisches Schreiben deutscher und deutsch-jüdischer Frauen. In: Claus-Dieter Krohn u.a. (Hgg.): Frauen und Exil: Zwischen Anpassung und Selbstbehauptung. München: edition text + kritik 1993, S. 53–67, S. 65. Pochat: María Teresa León, S. 137. Bei Dilthey wird die Autobiographie wie selbstverständlich in den Kontext der Geschichtsschreibung gestellt. Das Einzelleben ist für ihn nichts anderes als die individuelle Ausschnittsvergrößerung der «großen» Geschichte, ähnlich der Auffassungen der französischen Theoretiker wie Baudrillard, Lyotard von einer Geschichte als «grand récit», einer großen geschichtlichen Erzählung aus zahlreichen und verschiedensten Einzelerzählungen. Vgl. hierzu die Ausführungen Holdenrieds: Autobiographie, S. 22. Vgl. z.B. Äußerungen wie: «Creo que hablé mucho entonces para estar tranquila, para que no se me notasen el temblor que sentía al ver dónde nos había precipitado el cainísmo español, como decía don Miguel de Unamuno, cuando los que quieren imponer sus dogmas desenvainan las espadas. Cuándo terminará esa horrible manera de tener razón? Ellos son los que durante siglos han negado al pueblo el derecho a enterarse de por qué y por quién se muere, sacando así provecho de su ignorancia, dejándolo envuelto en sus andrajos, para mejor despreciar lo que ignoran. España ha sido siempre como una plaza partida en sol y sombra.» (MM, 212).
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Materialismus und des proletarischen Internationalismus.»56 Gleichzeitig dürfte sie die Diskussionen zur Zeit der Niederschrift von Memoria de la melancolía beschäftigt haben, in denen nationale Geschichtsschreiber Darstellungen Exilierter diffamierten. 1964 veröffentlichte etwa José María Pemán einen Artikel in der ABC, in dem es heißt: En todo diálogo de español exiliado y español en España la obligación de serenidad y ecuanimidad hasta la inocencia está parte del que escribe desde España. Yo no sé si llegaría a la mentira, pero sí llegaría a la hipérbole y a la trampa si estando fuera, con ello creyera que podía aligerar el recobro de ese supremo privilegio que es vivir en su patria.57
Das literarische Schreiben über historische Themen und die Fiktionalisierung des eigenen Gedächtnis «es en el caso de María Teresa León un acto de ‹no resignación›, una urgencia de volver a explicar ciertos temas decisivos ante el manipulado público español de la dictadura y ante el desinterés de la opinión internacional.»58 Dabei ist sie dem Kulturmodell der Zweiten Republik verpflichtet und versuchte dies auch in ihre literarische und kulturelle Tätigkeit im Exil zu integrieren.59 Die Rückbesinnung auf Don Quijote in dieser Zeit im Allgemeinen und in Memoria de la melancolía im Speziellen fällt in diesen Zusammenhang und steht für eine Verbindung von Dichter und Volk und die von Epos und Geschichte.60 Hieraus erklärt sich auch die Bedeutung der Guerrillas de Teatro, denen die Autorin in besonderer Weise verpflichtet war und um die ihr 1959 in Buenos Aires publizierter Roman Juego Limpio kreist.61 Im Theater sah sie ein «vehículo de propaganda» und «el mejor instrumento de educación [...] con que cuentan los hombres».62 Als ideologisch geprägtes «Kunstwerk» stellt auch Memoria de la melancolía eine Botschaft dar, die sich an einen Empfänger, als Träger eines historischen Prozesses in Spanien seit dem Spanischen Bürgerkrieg richtet. Damit ist es unmittelbar verbreitete Literatur und Ideologie zugleich. Die Autorin begegnet der «nationalen» Geschichtsschreibung, die zumindest innerhalb Spaniens die Diskussionen über den Spanischen Bürgerkrieg prägt, indem
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Martin Franzbach: Die Hinwendung Spaniens zu Europa: die generación del 98. Darmstadt: Wiss. Buchges. 1988, S. 96. Vgl. hierzu auch Mazquiarán de Rodriguez: Protagonismo y testimonio en dos «docu-memorias», S. 807f. José María Pemán: La verdad de aquel día. In: ABC. Madrid (26 November 1964), S. 3. Luis García Montero: La pasión de la memoria. In: María Teresa León: Juego Limpio. Madrid: Visor libros 2000, S. 8. «La identificación de la cultura con los valores democráticos progresistas fue una de las claves ideológicas del bando republicano, que denunció el levantamiento de Franco como un primer capítulo del asalto a la razón de los movimientos totalitarios europeos.» Ebd., S. 9. Vgl. Manuel Tunón de Lara: Kultur und Kulturen. Ideologien und geistige Einstellungen. In: Manuel Tunón de Lara (Hg.): Der Spanische Bürgerkrieg. Eine Bestandsaufnahme. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987, S. 408–535, S. 468. María Teresa León: Juego Limpio. Buenos Aires: Goyanarte 1959. María Teresa León: El teatro y la Revolución. In: Muchachas 3 (1. Mai 1936).
sie sich in Memoria de la melancolía einen Raum schafft, um ihre politischen Vorstellungen dem vorherrschenden Diskurs entgegenzusetzen. Sie verwendet für die traditionelle Historiographie ihrer Zeit atypische formale und inhaltliche Elemente. Melissa A. Stewart schreibt hierzu mit Blick auf Hayden White: «León has a very specific idea about what should be included in a history of Civil War; she rejects what we have come to identify as a traditionally male focus on key battles and political or diplomatic events. Instead, [...] León laments the loss of songs, jokes, and stories that were a vital part of life then.»63 Ihre Geschichte entwickelt sich anders als die offizielle Geschichtsschreibung vorwiegend aus sprachlich vermittelten, körperlichen, emotionalen, sinnlichen wie sensitiven Erfahrungen, die sie den zukünftigen Generationen weiterzugeben wünscht. Die wenigen von ihr verwendeten Daten und Fakten werden durch Aussagen wie «[e]stos datos están escritos en una libreta vieja y rota conservada por mí. No sé si son exactos» (MM, 125) in Zweifel gezogen und verweisen zugleich auf die Manipulierbarkeit der Historie.64 Denn, «si alguien hubiese recogido todas las anécdotas, todos los inventos, verdades, mentiras y exageraciones de los que allí estuvieron, tendríamos un libro admirable» (MM, 190). Die (bewusst) verdrängten Geschichten durch die nationale Geschichtsschreibung, in der die «Verlierer» keinen Platz gefunden haben, sollen dem Vergessen entrissen und weitergetragen werden: La verdad es que guardo con cariño dentro de mí tantas cosas como me trasmitieron. Creo en esa cadena que nos enlaza. Creo en la canción que se teje con las canciones que llegan de tan lejos. Creo en la memoria ancestral. Me gusta la palabra creer. Es la afirmación más rotunda que usamos los mortales. No me gusta la palabra pensar. Hay que pensar. Piense usted. Se debe pensar bien todo…Nos hemos pasado siglos pensando… (MM, 88)
Verstärkt wird diese Haltung durch den Vorzug, der dem Wort creer vor dem Wort pensar gegeben wird. Zusammen mit den «canciones que llegan de tan lejos» ist es das kollektive Gedächtnis, das von den Vorfahren überliefert wurde, auf das sie sich stützt.65 In alle Teile der Welt verstreut, lässt es sich kaum noch zusammenfügen. Nur unter großen Anstrengungen vermag es León, einen Teil davon der herkömmlichen Geschichtsschreibung zu entreißen, den es wieder zu erzählen gilt, «para que los que escuchen sepan el precio que costó ese trozo de Historia inacabada aún en un momento de España» (MM, 227). Und zu diesem «trozo de Historia» gehören vor allem die vielen vergessenen Stimmen der Frauen, für die der Spanische Bürgerkrieg einst eine Chance für ein Aufbrechen alter Strukturen
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Melissa A. Stewart: Poet Wives. María Teresa León and Anna Murià tell their Stories in Alternative Texts. In: Letras Peninsulares (Frühling 1998), S. 223–237, S. 225. Ein Aspekt, dem Alberto Reig Tapia besondere Aufmerksamkeit schenkt. Alberto Reig Tapia: Memoria de la Guerra Civil. Los mitos de la tribu. Madrid: Alianza Editorial 1999. Zum kollektiven Gedächtnis vgl. die Ausführungen von Paul Ricoeur: Das Rätsel der Vergangenheit. Erinnern-Vergessen-Verzeihen. Göttingen: Wallenstein-Verlag 22000, S. 74–87.
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und für eine Befreiung der Frauen aus eben diesen darstellte. Deshalb verwundert es nicht, dass León die Kriegszeit als glückliche Zeit erinnert: Días felices. Felices los días de guerra? Está usted loca? Y yo anado, para evitar la agresión de los que no entienden: los mejores de nuestra vida. [...] Sí, era una maravilla de fraternidad, de comunicación, de paridad en los peligros. (MM, 222)
Loureiro erörtert in seinem Artikel diese Aussage und folgert daraus: «What seems to count the most in her representation of the war, what she heavily emphasizes, is the spirit of dogged resistance […]. Construed by León as an event that brings sense of purpose and fraternity, the Civil War is an emblem of provisonal unity […].»66 Eine Position, die im Gegensatz zu der erlebten Isolation durch das Auseinandergerissenwerden im Exil steht. Zu Betonen ist jedoch nochmals die individuelle und kollektive Erfahrung der Frauen als kollektiv handlungsfähige Subjekte, die dem Bürgerkrieg in diesem Kontext eine besondere Bedeutung verleihen. León lässt keinen Zweifel darüber offen, dass sie den Krieg als ein unmenschliches zerstörendes Moment, das Leid in die Welt bringt und eben nichts mit den in den Geschichtsbüchern glorifizierten Schlachten zu tun hat, entschieden ablehnt. Ein Blick auf die jüngsten geschichtswissenschaftlichen Darstellungen zu Frauen im Spanischen Bürgerkrieg, wie es unter anderem die mündlichen Zeugnisse noch lebender Milicianas sind, macht jedoch die Bedeutung, die der Krieg für die Situation der Frauen in Spanien hatte, deutlich. Besonders die chaotische Situation der ersten Kriegswochen eröffnete neue Handlungsmöglichkeiten und Identifikationsmodelle, die das vorherrschende stereotype Bild der Frau als «perfecta casada» oder als «angel del hogar» aufbrachen. Die massive Mobilisierung der Bevölkerung bedeutete «una ruptura del confinamiento tradicional de las mujeres en el hogar y les dio, por primera vez, una visibilidad pública colectiva.»67 Dabei waren es zum Beispiel die symbolischen Repräsentationen der Propagandaplakate, die neue Frauenbilder produzierten und verbreiteten. Das bedeutendste unter ihnen war sicherlich das der kämpfenden Miliciana, das sich bald zum Mythos und Symbol des republikanischen Widerstandes gegen den Faschismus wandelte. Die Darstellungen zeigten Frauen mit einem Mono Azul, die an der Seite von Milizsoldaten kämpften. Das Bild der Miliciana hatte jedoch nicht lange Bestand. Mit der Restrukturierung des republikanischen Heeres nach Art der Franco-Tuppen Ende 1936 wurden Frauen an die Heimatfront zurückgedrängt. «Hombres al frente. Mujeres a la retaguardia» war die Losung, die das mütterliche Bild der «madre combative» mit sich brachte.68 Die Entwicklung zeigt, wie sehr die Situation der Frauen durch den Kriegsverlauf und die daraus resultierenden Anforderungen, die durch die Regierung und das Heer an die Gesellschaft gestellt wurden, bestimmt war. Selbst wenn
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Loureiro: The ethics of autobiography, S. 77. Nash: Rojas, S. 92. Vgl. hierzu auch Mary Nash: Milicianas’ and Homefront Heroines: Images of Women in Revolutionary Spain (1936–1939). In: History of European Ideas 11 (1989), S. 235– 244.
Organisationen wie Mujeres Libres versuchten, die Errungenschaften der Zweiten Republik während der Kriegszeit voranzutreiben, so konnten sie sich in dieser Zeit kaum behaupten und wurden mit dem Sieg Francos vollständig zurückgenommen. In einem Artikel Leóns, der 1936 im Mono Azul erschien und in dem sie sich an die spanischen Frauen, in diesem Falle an die republikanischen Frauen in Madrid, wandte, rief sie dazu auf, alte Bindungen zu verlassen und sich an der Verteidigung Madrids zu beteiligen. Die madrilenischen Frauen sollten die Gunst der Stunde nutzen, um ein anderes, neues Kapitel in der Geschichte zu schreiben: La mujer popular se ha levantado sobre nuestros campos rotos con el prestigio de su derecho a intervenir en la Historia de España. [...] Si antes se decía que no había retarguardia sino que todos estábamos en el frente de nuestro deber ahora todo es línea de fuego, cada mujer madrileña esta consigo misma en la soledad, de su espera gloriosa, sabiendo lo que gana con las horas que van corriendo hacia la victoria. […] ¿No recordáis ya la desconsideración antigua de la mujer, la dificultad que tenía para ganar su pan, el horror de las noches hambrientas y las miradas despreciativas?69
Mir geht es hier darum, zum einen den Aspekt der Geschichtslosigkeit der Frauen und zum anderen die Notwendigkeit, sich in die Geschichte einzuschreiben, herauszustellen, ohne die kriegerische und propagandistische Rhetorik des Artikels näher zu erörtern. Der Artikel hebt die Notwendigkeit hervor, als Frau und «handelndes» Subjekt in die Geschichte Spaniens einzugreifen. Der Preis, der dafür gezahlt werden müsse, sei hoch, denn die Geschichte sei eine «narración de los hombres y mujeres sin miedo», wie es León in einem Artikel im Januar 1936 in Nueva Cultura, also noch vor Ausbruch des Krieges formulierte.70 Es wäre wünschenswert: haber conquistado defenitivamente el derecho a no tener valor militar, a no matar la flor de la inquietud, a vivir junto al miedo, fertilizándonos con su desconfianza. Sería preferible, por de pronto, que el indiferente dejase de serlo y que al encontrar el miedo por la hoja de otoño que cae, o la gota de lluvia, estuviese alerta al frío, a la guerra, a la muerte. La muerte de Europa sería por frío, por indiferencia […].71
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María Teresa León: A las mujeres españolas. In: El Mono Azul 13 (19. November 1936). Die Gewaltausübung, die damit auch von den Frauen ausgeht, wird hier nur indirekt berührt. Ich möchte an dieser Stelle darauf verweisen, dass dieses Thema von León, vor allem aber auch die im Kontext des Spanischen Bürgerkrieges möglicherweise durch sie selbst ausgeübten Formen von Gewalt kaum berührt werden. Richtungsweisend ist in dieser Hinsicht der Artikel von Tabea Alexa Linhard: A perpetual Trace of Violance: Gendered Narratives of Revolution and War. In: Discourse 25.3 (Herbst 2003), S. 30–47, der sich mit dem Thema der Gewalt in Nellie Campobellos Roman Cartucho und in Leóns Kurzgeschichten beschäftigt. Symbolisch verweist vor allem die kleine silberne Pistole Leóns, die mit fünf Kugeln geladen war (drei angeblich für die Angreifenden und zwei für Alberti und sie), auf diese Dimension ihres Lebens. Vgl. hierzu Almudena Grandes: Memoria de la hermosura. In: Álvarez de Armas: María Teresa León, S. 9–13, hier S. 11. María Teresa León: La mujer que perdió su miedo. In: Nueva Cultura (10. Januar 1936).
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Doch solange die Gefahr der Kälte und Indifferenz in Europa bestehe, daran lässt León keinen Zweifel, sei Aufmerksamkeit und Handeln erforderlich, um sich dem Tod und Krieg, die aus dieser Kälte und Indifferenz erfolgten, zu widersetzen. León will dem in ihrem Artikel entgegenwirken. Sie wird die hier beschriebene heroische Geschichtsdarstellung «sin miedo» später mit ihrer mit der kollektiven Stimme der SpanierInnen im Exil verwobenen Erzählung der «traurigen Worte» fortsetzen, denn: Yo sé que se han escrito muchos libros sobre los años irreconciliables de Espana. La guerra dejó su historia cruda y descarnada. Las batallas se cuentan ya fríamente e igual sucede con las diferencias políticas. Se han evitado las palabras tristes en los libros para dejar las heróicas. No sé si esta sequedad la encontraréis justa. Yo me siento aún colmada de angustia. (MM, 7)
León identifiziert sich mit der neuen Rolle der Miliciana: «[...] y yo....una miliciana» (MM, 211), die sie jedoch bei der Ankunft im französischen Exil zusammen mit ihrer Pistole ablegen muss: «Al aterrizar en el aeródromo militar de Orán, me señalaron la cintura: Señora su pistola. La entregué, con una pequeña melancolía, mordiéndo los labios» (MM, 211). Es bleibt die Möglichkeit, ihren Kampf nun mit Worten fortzuführen, bevor sie auch diese verliert: ¡Cuántas mujeres españolas se quedaron así una mañana cualquiera de su vida cuando los hombres se dispersaron! También Doña Jimena se quedó sin Rodrigo, un Rodrigo rebelde, un Rodrigo que nos representará a todos siempre cuando haya que respetar […] los derechos del pueblo de España. ¡Jimena en soledad! Jimena rehén encarcelado. Jimena dejando pasar noches y auroras sin gemir porque había que ser tan fuerte como el que en buen ora nació, el desterrado. Hasta que un día llegaba una carta. Venía de México, de la Argentina, de Chile…Ven. Ven, mujer, con los niños. Venid a recomenzar la existencia. (MM, 257)
1960 folgte der Biographie Don Rodrigo Díaz de Vivar, El Cid Campeador72 die erste Ausgabe des Buches Doña Jimena Díaz de Vivar, gran señora de todos los deberes (DJ), in dem die Autorin das Leben Jimenas, der Frau des Cid, in den Vordergrund stellte. In Memoria de la melancolía bezieht sich León auf das Epos, das ihre Kindheit prägte und dem sie im Haus ihrer Cousine begegnete: «[...] yo regresaba a mi infancia donde el cuento del Cid aparece siempre [...] por las horas de mi infancia pasadas en la casa de mi prima Jimena» (MM, 256). Drei Seiten widmet die Autorin auch in ihrer Autobiographie der Figur der Jimena, die für sie das Schicksal der spanischen Frauen, insbesondere der Frauen im Exil und somit ihr eigenes, verkörpert. Es sind die Frauen, die von ihren Männern zurückgelassen wurden, um ein «Königreich» zu erobern: Los desterrados españoles también a su manera, habían conquistado un reino y lo ofrecían a las mujeres que dejaron con los hijos en el anca o en el vientre, hijos que ellos hicieron crecer altos sólo con un poquito de pan y sus trabajos. (MM, 257)
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María Teresa León: Don Rodrigo Díaz de Vivar, El Cid Campeador. Buenos Aires: Peuser 1954.
Und «[p]or ellas, cuando fui escribiendo la vida de Doña Jimena Díaz de Vivar, sentí junto a mí a las mujeres de mi casta para que las escuchasen» (MM, 257). Hier verweist sie auf die Bedeutung der Frauen und ihre Teilhabe an vergangenen Ereignissen, die sie zusammen mit dem Schicksal Jimenas hervorhebt, um einmal mehr ihrem Konzept der Geschichte zu folgen. Fein werden die kollektiven mit den individuellen Erfahrungen verwoben und eingebettet in ein eigenes Cantar del destierro: En esta dispersión española le ha tocado a la mujer un pápel histórico y lo ha recitado bien y ha cumplido como cumplió doña Jimena, modesta y triste. Algún día se contarán o cantarán las pequeñas historias, las anécdotas menudas, esas que quedan en las cartas escritas, a veces, por otra mano, porque no todas las mujeres españolas saben escribir... Y se contará la pequeña epopeya diaria, el heroísmo minúsculo de los labios apretados de frío, del hambre, de los trabajos casi increíbles. (MM, 257)
Bescheidenheit und Traurigkeit sind die Charaktereigenschaften, die den Frauen in ihrer «historischen Rolle» zugedacht waren und die sie gut zu rezitieren wussten. Eine Rolle, die mit «zusammengepressten Lippen» schweigend gespielt wurde und deren kleine Geschichten und Anekdoten in Briefen, von fremder Feder verfasst, geschrieben stehen: Así crecí. Crecí con sabañones en los dedos que sólo el aliento de mi madre curaba. Cuando crecí, yo le leía las cartas de mi padre. Estaba lejos. Nos decía que ahorraba para nuestro viaje. [...] Así he ido escuchado las penas ajenas como propias y he salido a recibir a las mujeres que llegaban a Buenos Aires y encontraban al marido tan cambiado que les daba una inmensa vergüenza sus ropas pueblerinas. Se comían las lágrimas. (MM, 257)
Die fremden und die eigenen Erfahrungen vermischen sich hier zu einer kollektiven Geschichte der Scham. Die Geschichten, die das Ich erzählt, sind immer auch die Geschichten anderer und einmal mehr wird in diesem Kontext die Bedeutung der oralen Tradierung der «kleinen Geschichten» des «heroísmo minúsculo», deren Heldinnen oftmals des Lesens und Schreibens nicht mächtig waren, deutlich.73 León ist ihr Sprachrohr und nutzt ihre Fähigkeiten, um diese Geschichten in die «große Geschichte» einzuschreiben: «Yo he sentido vivir a la gente de mis libros junto a mi respiración. No me dejaban hasta que no escribía el cuentecillo. Otros, mi pueblo o sus gentes, me agarraban la mano: ‹Escribe›
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In den letzten Jahren hat die Methode der Oral History in der Geschichtswissenschaft an Bedeutsamkeit gewonnen, mit dem Ziel, denen eine Stimme zu verleihen, die aus den Betrachtungen der «Großen Geschichte» ausgeschlossen waren und vergessen wurden. Die Aktualität der Gedanken Leóns, die kleinen Geschichten des Alltags, von der Liebe in Kriegszeiten, Kindern und Soldaten im Feld etc. zu erzählen, zeigt sich, wenn man die jüngsten geschichtswissenschaftlichen Studien zur Hand nimmt. Vgl. z.B. Alfonso Bullón de Mendoza und Álvaro de Diego: Historias orales de la guerra civil. Barcelona: Ariel 2000. Zur Methode der Oral History im Bereich der Geschichte von Frauen in Spanien, siehe das Dossier Historia de las mujeres y fuentes orales der Zeitschrift Arenal. Revista de historia de las mujeres 4, 2 (Juli-Dezember 1997), S. 177–254.
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(MM, 256).74 Ihre Worte wurden etwa denen des Cid gegenüber gestellt. Die Worte des Cid, den León in Memoria de la melancolía auftreten und zu seiner Frau Jimena sprechen lässt, machen die Kluft, die zwischen seinen Worten und ihrer gelebten Erfahrung besteht, deutlich: No tengas miedo, mujer, tu estatura es más alta que la del hombre que te está esperando. Tú eres el fundamento, la fuerza, la madre. […] Ven a ver el mar que nunca has visto. Sí, ven a ver el mar y luego siéntate y vive. Qué fácil era decirlo, pero hacerlo! (MM, 258)
Als Fremde werden die Frauen in die neue Umgebung «geworfen», die sie stark verunsichert in ihrer «ärmlichen Kleidung» zurücklässt. Mehr noch als die traurigen Geschichten sind es die Geschichten unterdrückter Tränen. Ihre Außenseiterrolle ist ihnen auf den Leib geschrieben und lässt sich nicht allein mit Worten, sondern durch Handlung überwinden, die schließlich durch den Akt des Schreibens auch als Text und sprachliche Überlieferung produktiv gemacht werden. Auch für die Autorin ist dies der nahezu einzige Weg, die gelebten Erfahrungen zu verarbeiten. Im Wiedererzählen, Schreiben und Umschreiben der Exilerfahrungen – speziell auch als Frau – kann sie diese zu einer textuellen Form der Existenz wandeln, die ihren Ort in einem Dazwischen, einem NichtOrt, (er-)findet. Herausragende Themen sind dabei die erfahrene Einsamkeit und das Älterwerden im Exil (MM, 215), die auch in ihrem Text Doña Jimena Díaz de Vivar Ausdruck finden, der diesbezüglich Parallelen zu Memoria de la melancolía aufweist: ¡Qué rara fragancia hubo en esta melancolía de sobrevivir! Bien sabedes que ya non puedo más…La gran señora es una viejecita entornada, que no dejará su imagen en ningún lado, ni siquiera sobre el fondo de azur de una estampa. Cuando se desvanezca sólo brillará su nombre. (DJ, 210)
Das Leben ist zu einem Überleben geworden. Das Einzige, was bleibt, ist der Name, ob in einen Sattel eingraviert oder in einen Grabstein. Das Alter «n’est pas un fait statique; c’est l’aboutissement et le prolongement d’un processus».75 Im Verlauf dieses Prozesses zeigen sich Bilder und Geräusche ungeordnet im Gedächtnis: Todo sumergido en pequeños fragmentos que a veces no fraguaban bien. Únicamente los sonidos regresaban a ella: voces, palabras, murmullos, acentos, músicas. Cuánto ruido guarda la memoria. Más que imágenes. Las imágenes se le han desordenado, encimándose unas a otras. Cambia los nombres, lo acontecimientos, las fechas…no tiene juicio
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Mittag weist darauf hin, dass die von Frauen im Exil verfassten Autobiographien oftmals die Folge intensiver Begegnungen mit den Fragen anderer Menschen und anderer Impulse von außen sind. Vgl. Mittag: Erinnern, Schreiben, Überliefern, S. 55. Dass diese Tatsache nicht allein auf das autobiographische Schreiben von Frauen zu reduzieren ist, darauf wurde im 2. Kapitel der Arbeit unter Berücksichtigung von Eakin ausführlich hingewiesen. Simone de Beauvoir: La vieillesse. Paris: Gallimard 1970, S. 386.
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sobre nada de lo que ocurrió, solamente und gran piedad. No le gusta sentirla, ni que se le llenen los ojos de lágrimas…. (MM, 16)
Die Funktionsweise des Gedächtnisses ist gestört und trägt mehr zur Verwirrung als zur Klärung bei. Die Bilder unterliegen nicht ohne weiteres dem Identitätsprinzip. Beauvoir beschreibt in La vieillesse ein ähnliches Phänomen, das sich bei der Arbeit an ihren Memoiren einstellte: «Quand j’écrivais mes Mémoires, de revoir avec vivacité des scènes que, faut de coordonnées, il m’a été impossible d’intégrer à mon recit et que j’ai renoncé à raconter.»76 Das Erscheinen der Bilder und das Lautwerden der Stimmen des Gedächtnisses vollziehen sich bei León ohne das Dazutun des Ichs. Ihr Gedächtnis zeichnet sich durch die kreative Kraft der Erfindung aus, deren Grundlage das Vergessen ist: Les pertes, les altérations, les defaillances ne peuvent être compensées pas des montages, des automatismes, un savoir pratique et intellectuel. On ne parlera pas de vieillissement tant que les déficiences demeurent sporadiques et sont aisément palliées. Quand elles prennent de l’importance et qu’elles sont irrémédiables, alors le corps devient fragile et plus ou moins impotent: on peut dire sans équivoque qu’il décline.77
Gedächtnis und Imagination sind eng korreliert, denn gerade in der Imagination scheinen Kräfte zu ruhen, die es vermögen, Gedächtnislücken zu schließen. Es wird deshalb noch zu klären sein, inwieweit die Erinnerungsarbeit auch als eine Form der Trauerarbeit verstanden werden kann.78 Schließlich wird sowohl in Memoria de la melancolía als auch in Juego limpio (JL) die Geschichte Nieblas erzählt, der Hündin, die dem Dichterpaar in einer Nacht kurz vor Ausbruch des Bürgerkrieges von Pablo Neruda gebracht wird. Niebla wird sie getauft, denn «venía de la niebla de la noche y de la mano de un poeta [...]» (MM, 31) und «se quedó con tan poético nombre: Niebla» (JL, 175). Der Nebel ist eine im Zusammenhang mit der Melancholie häufig gebrauchte Metapher. Die Nebelmetapher zeigt, darauf verweist Friedrich, dass Melancholie auch angesichts der Verborgenheiten der Welt vor der menschlichen Erkenntnis entsteht: die Welt verschwindet im Nebel der Unsicherheit und Unsteuerbarkeit.79 Nicht zuletzt dürfte León deshalb sagen: «La historia de Niebla es como nuestra» (MM, 31). Die Geschichte der Hündin ist geprägt von der schmerzvollen Erfahrung des Verletzt- und Verlassenwerdens in einer Folge undurchsichtiger Ereignisse, die sie nicht zu verstehen vermag. Ihre Geschichte, wie sie in Memoria de la melancolía und Juego limpio beschrieben wird, ist eine des fortwährenden Getrenntwerdens, des immer wieder neuen Verlustes und des Kämpfens, die hier mit der Geschichte des «Spanischen Volkes» auf der Flucht verknüpft wird:
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Ebd., S. 386. Ebd., S. 18. Siehe hierzu die Ausführungen in 4.2. Stimm(ung)en der vorliegenden Studie. Volker Friedrich: Melancholie als Haltung. Berlin: Gatza 1991, S. 53.
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¡Resiste! ¡Cómo ayudarte si los niños se quedan abandonados y la madre grita que ha olvidado, con el miedo, al más chico en la cama! ¡Resiste! Todo huye, se lamenta y llora. Tú corres, jadeas…¡Resiste! Eso le pedían al pueblo español: ¡Resiste! ¿Cómo? No sé, Niebla en qué momento tus cuatro patitas se doblaron y te quedaste tendida en la cuneta, con la lengua de clavel fuera… ¡Cómo son los hombres!, pensarías oscuramente, y te envolviste en tu piel gris de plata, descorazonada de los hombres para siempre. (MM, 33) 80
Die Erfahrung der Verlorenheit in der Welt, aber auch die Trauer und Desillusionierung über die Nichterreichbarkeit des Begehrten wird hier eindrücklich am Beispiel des Hundes vorgeführt. Der Wille, nicht aufzugeben, der bereits auf den ersten zwei Seiten von Memoria de la melancolía formuliert und entlang des Textes immer wieder aufgegriffen wird, erreicht einen Höhepunkt in dem mehrmals wiederholten «resiste». Durch die dramatische Steigerung wird auch die Dynamik der beschriebenen Fluchtbewegung verstärkt. Es ist jedoch bezeichnend, dass der Hund zur Aufgabe gezwungen wird und ein «descorazonada de los hombres para siempre» am Ende des Abschnitts steht: «The use of animal protagonists may reflect ‹deshumanization’ or the vanguardist avoidance of sentiment.»81 Mit dem Bild des zusammengerollten Hundes, das als Ausdruck von Geschlossenheit und Niedergedrücktheit gelesen werden kann, greift die Autorin ein klassisches Element in der Darstellung der Melancholie auf.82 Die Einsamkeit, die mit dem Gefühl des Ausgestoßenseins einhergeht, wird in der Geschichte Nieblas, die allein zurückbleibt, aufgegriffen. Diese Einsamkeit des Verlassenen und vor allem des Ausgestoßenen wird lange Zeit nur von einer Gruppe verstanden, auf die in einem anderen Zusammenhang bereits zu Beginn von Memoria de la melancolía verwiesen wird: Durante años, únicamente sus amigos judíos comprendieron su soledad y hubo un momento en que creyó podría fabricarse un mundo de esperanza, teja a teja. Luego.… Luego, sintió que la expulsaban de la sociedad como un objeto maligno debajo de la piel de los muy bien sentados. (MM, 17)
Die Verbindung zum Judentum in diesem Kontext liegt nahe und ist eingebettet in eine Semantik des Exils und der Pilgerschaft, die Memoria de la melancolía durchzieht und in Opposition zu denen stellt, die «bien sentados» dieses Schicksal nicht teilen.83 Die «aventura-desaventura» (MM, 215) eines jeden Volkes «que echa a andar» (MM, 215) ist gekennzeichnet von einer Bewegung zwischen Ent-
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Es ließen sich hier zahlreiche Bezüge zu Unamunos «nivola» Niebla herstellen und die Darstellungsweise der Hunde Niebla und Orfeo miteinander vergleichen, denen beiden die Funktion eines «moralischen» Spiegels zuteil wird. Vgl. hierzu Miguel de Unamuno: Niebla. Madrid: Ed. Castalia 1995, Kapitel VII, S. 120: «Espejo de virtudes, amor limpio, ternura vigilante! Qué mal debes pensar tú de los hombres.» Pérez: Vanguardism, Modernism and Spanish women writers in the years between the Wars, S. 42. Vgl. Hartmut Böhme: Albrecht Dürer: Melancolia I: Im Labyrinth der Deutung. Frankfurt am Main: Fischer 1989, S. 15. Vgl. zum Thema der Pilgerschaft die entsprechenden Passagen bei Julia Kristeva: Étran-
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fremdung und Wiederfinden, womit sich dessen Wanderung nicht nur geographisch zwischen zwei Räumen, sondern auch «comme une division entre deux ordres psychiques à l’intérieur de sa propre impossible unité» ereignet.84 Seine Identität kann es nur im Hindurchgehen durch die erfahrenen Spaltungen wiederfinden. Tätigkeitsverben wie hier «fabricarse» werden häufig in Zusammenhang mit den «desterrados», «judíos», aber auch mit Künstlern und Schriftstellern mit Substantiven verbunden, die meist nicht Gegenständliches, konkret Seiendes – also Konkreta – sondern Gedachtes, gedanklich Seiendes – also Abstrakta wie in dem vorliegenden Zitat «mundo de esperanza» – benennen. Die Wiederholung der Abstrakta wie «esperanza», «libertad», «fraternidad», «fidelidad» proklamieren die weltanschaulichen Leitbegriffe im Text, deren illusionärer Charakter jedoch ebenso herausgestellt wird wie ihre Funktion als antreibende Kraft. Mit ihrer Autobiographie Memoria de la melancolía wählt León eine (Re-) Präsentationsform, die Narrativität und historisches Wissen engmaschig miteinander verwebt.85 In vielen Momenten berührt sie die Grenzen hin zur Fiktion und zur Geschichtsschreibung. Vielleicht oder gerade deshalb führt das autobiographische Schreiben Leóns eine Alternative vor, die oft geeigneter scheint, historische Erfahrung zu vermitteln. In Liberación y utopía von María Angeles Durán heißt es: Las mujeres han sido guerreras seculares en la lucha contra la muerte, trabajadores incansables en la producción de la vida. Pero las vidas humanas desaparecen dejando menos huellas que los arcos de triunfo, los tronos o capitulaciones. Habrá que reconstruir su historia esforzándose sobre las´base de tan débiles vestigios o será preferible la invención de una historia mítica y la aceptadamente legendaria? A fin de cuentas, el mito y la leyenda se han anticipado y han sobrevivido a las historias, y puesto que nadie puede contar otra cosa que sus propios relatos.... Puede proyectarse un cambio político sin una renovación de las interpretaciones sobre la Historia?86
León erhebt ihr Leben in einen Raum, der es ihr gestattet, das bereits Vergangene neu zu schreiben, zu formen und zu hinterfragen und zwischen einer «Geschichte als Erzählung» und einer «Geschichte als Problem» aus einer personalisierten Perspektive heraus zu vermitteln.87 Die Narration steht im Dienst, Geschichten der Geschichte zu schreiben. Im Vollzug der Erzählung findet das Leben mit seiner Vielzahl an Geschichten eine vorläufige Form, kommt zur Darstellung, nicht zum Abschluss. Diese Lebensgeschichte(n) wird/werden mit der «großen Geschichte» verwoben, um deren Schwachstellen aufzudecken und um neue Perspektiven und Interpretationsmöglichkeiten eben dieser aufzuzeigen.
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gers à nous-mêmes. Paris: Fayard 1988 und Waldenfels: Topographie des Fremden, S. 39f. Kristeva: Étrangers à nous-mêmes, S. 120. Zum Verhältnis von Narrativität und historischem Wissen vgl. Paul Ricoeur: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen. München: Fink 2004, S. 366ff. María Angeles Durán: Liberación y utopía: la mujer ante la ciencia. In: María Angeles Durán (Hg.): Liberación y utopía. Madrid: Akal 1982, S. 7–34, S. 21. Ricoeur: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, S. 366.
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Dabei zeigt sich auch, welche herausragende Rolle der vermittelnden Sprache zukommt. León ist nicht auf der Suche nach einer vollkommenen, aber universellen Sprache wie der des Lächelns, die unabhängig von jeder nationalen Grenze zu verstehen ist. Innerhalb ihres Textes bewegt sie sich leicht zwischen klaren politischen Aussagen, avantgardistischen Traumszenarien, spielerischen Reflexionen über die Sprache und bringt auf diese Weise nicht zuletzt Bewegung in eben diese, um ihr aus dem Vollzug des eigenen Lebens geschöpftes historisch werdende Wissen auf verschiedenen Ebenen vermitteln und für die nachfolgenden Generationen bereitstellen zu können. 4.1.2.2. La arboleda perdida: Gedächtnis lebendiger Literaturgeschichten Mit dem Bürgerkrieg erlebte die spanische Kulturlandschaft eine massive und geradezu gewaltvolle Umgestaltung, die mit der Ermordung Gracía Lorcas und der Verfemung Unamunos 1936 ihren Anfang nahm. Nach dem Krieg traten Nationalkatholizismus und Falange ihren Siegeszug an. Der Zurücknahme und Auslöschung früherer moderner Bestrebungen durch den Machtapparat und seine Zensurbehörde fiel auch die Resi als Symbol und Begegnungsstätte einer Künstler- und Dichtergeneration zum Opfer. In den ersten beiden Jahrzehnten der Francodiktatur wurde Spanien in eine kulturelle Stagnation geführt, während die Aktivität der SpanierInnen im Exil häufig ungebrochen war und sich in der Gründung zahlreicher Zeitschriften und Verlage niederschlug. Ihr Engagement ermöglichte einen fruchtbaren Austausch mit den sie aufnehmenden Ländern und den Landesgenossen innerhalb Spaniens, der vor allem nach 1975 Anknüpfungsmöglichkeiten an politische, philosophische und literarische Denktraditionen bot, auch wenn viele der republikanischen SpanierInnen im Exil den Weg in ihr verändertes Heimatland und zu seinen Bewohnern selbst nicht mehr zurückfanden. Der verlorene Hain und das Bild des aus ihm erwachsenden in die Lüfte geschriebenen Baumes versinnbildlichen den in Albertis Autobiographie aufgeschlagenen Gedächtnisraum, der sich zeitlich vor, während der von Franco errichteten Diktatur und schließlich über sie hinaus entwickelte. Er wächst durch unzählige intertextuelle und -personelle Bezüge zu Repräsentanten eben jener Avantgarde, deren Spuren man innerhalb Spaniens bemüht war zu verwischen, und reagiert damit auf das institutionalisierte Verdrängen und Vergessen kultureller Inhalte durch das Regime. Durch die Bezüge zu den Alberti in Madrid begegneten Menschen und Texten entsteht sein ‹Baum der Weisheit›, der den damaligen Reichtum ebenso wie den sich daran anschließenden Verlust, den die spanische Kulturlandschaft nach 1939 erfährt, erkennen lässt. Entlang der Autobiographie entfaltet sich somit ein literarischer Text- und Gedächtnisraum, der sich wie ein Gegenkanon zu den im Franco-Spanien propagierten Literaturen liest. Die von Alberti gewählte Art der Darstellung seiner Lebensgeschichte ist zum einen der eigenen Entwicklung zum Dichter, zum anderen dem kulturellen und politischen Beitrag seiner Generation geschuldet, deren Spuren, die sich mit den 104
eigenen verbinden, er im und aus dem Exil weiter verfolgt und reflektiert. Er erinnert an Anknüpfungspunkte und Verbindungslinien, die in Spanien offiziell negiert werden, und schreibt sich von außen in das entfernte Heimatland ein, um noch aus der Abwesenheit im Schreiben eigene Erinnerungsorte zu schaffen und zu besetzen. Nicht ohne Erfolg, wie sich nach seiner Rückkehr und noch heute zeigt. Alberti nutzt das Medium der Autobiographie, um ein spezifisches Verhältnis der ihn umgebenden Kultur zu seinen Texten und zu seinem Leben aufzuzeigen und in einen Dialog mit einer konkreten literarischen und künstlerischen Welt einzutreten, die einen lebendigen Ort in diesem Text findet. Lebendig, weil er Anschluss- und Vernetzungsmöglichkeiten und ästhetische Zugangsformen zu einem verdrängten kollektiven Gedächtnis mit hervorbringt und verhandelt. Es geht demgemäß um das Gedächtnis der Autobiographie Albertis und deren Dimensionen eines Erinnerns an Literatur, das mit seinem Leben verbunden war und wird.88 Der Prozess des Erinnerns an Literatur findet dabei als (re-)konstruktiver Akt statt, indem Alberti einen Entwurf der von ihm erfahrenen literarischen Vergangenheit (der eigenen als andalusischer Dichter und der kollektiven als Angehöriger der 27er Generation) mittels Selektion, Anordnung und Kreation hervorbringt.89 Zugleich findet damit eine kulturkritische Auseinandersetzung mit den ihn umgebenden Sinnsystemen statt.90 Die ersten zwei Bücher von La arboleda perdida entstanden zu einer Zeit, in der die katholische Kirche in Spanien zu einem der Pfeiler des Francoregimes avancierte und nicht nur dessen «cruzada» Gedanken als Legitimationsstrategie mittrug. Die nostalgische Rückschau auf die Freiheit in der Naturlandschaft seiner Kindheit wird mit einer scharfen Kritik der von ihm erlebten religiösen Praktiken verbunden, die die Macht und Einflussnahme der Kirche kritisch hinterfragt. Am Beispiel seiner Verwandten und Lehrer wird der ihn in jenen Jahren umgebende teilweise fanatische Katholizismus der 10er und 20er Jahre vorgeführt, den er schließlich zum machtvollen Element des Francoregimes aufsteigen sieht. Die Mutter sticht aus diesem Zusammenhang hervor. Sie vermittelt, oft selber von ihrem Umfeld nicht verstanden, dem Jungen Rafael ein reiches musikalisches Wissen, das sich aus Klavierstücken Schuberts ebenso nährt wie aus den lokalen Romances und wie die ihn umgebende Landschaft zu einem entscheidenden Element seiner Dichtung werden wird. Ihren «unschuldigen» und «volkstümlichen» Glauben hebt Alberti von den fanatischen religiösen Vorstellungen seiner
88
89 90
Ich stütze mich hierbei auf die von Erll und Nünning in ihrer Einführung zu Gedächtniskonzepten der Literaturwissenschaft unterschiedenen Grundrichtungen einer Beschäftigung mit Gedächtnis als Gedächtnis der Literatur, Gedächtnis in der Literatur und Literatur als Medium des Gedächtnisses. Vgl. hierzu Erll/Nünning: Gedächtniskonzepte, S. 2. Ebd., S. 3. Vgl. hierzu Stephen Greenblatt: Kultur. In: Moritz Baßler: New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. Frankfurt am Main: Fischer 1995, S. 48–59, hier S. 57.
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übrigen Verwandten ab (AP I, 22), denn er diente vor allem als Trost einer oft für lange Zeit von ihrem Mann einsam zurückgelassenen jungen Frau, der etwas Romantisches anhaftet. Die Verbindung zwischen Mutter und Sohn gründet sich nicht zuletzt auf eine Liebe zur Natur, die später immer wieder als eine Art Refugium für den Dichter dient und durch den Bezug zur Mutter eine besonders symbolische Kraft hat. Der Quell seiner Inspiration wird jedoch vor allem die von seiner Mutter weitergetragene, volkstümliche Tradition der Künste, die in sich eingespeicherte Modelle längst vergessener Autoren zu vermitteln vermag und sich – mit einem Ausdruck Albertis – als ein «Gedächtnis in Bewegung» beschreiben ließe.91 Als das verborgene aber lebendige Gedächtnis dieser Tradition besteht sie neben anderen kulturellen Ausdrucksformen, wie den Liedern Schuberts, im Leben seiner Mutter und geht schließlich im frühen poetischen Schreiben Albertis eine produktive Verbindung mit Ereignissen seiner Zeit ein. Die Dichtung ist bei Alberti Trägerin und Vermittlerin eines spezifischen ‹verdichteten› Wissens, deren besondere Eigenschaft darin liegt, dass sie nicht nur Momente des Lebens in poetischer Weise zu speichern, sondern sich zudem schnell von ihrem Ursprungsort, dem Papier und ihrem Autor, zu lösen vermag, um von Mund zu Mund schnell Informationen weiterzutragen. Im autobiographischen Schreiben überträgt Alberti diese zur Diffusion von Wissen geeignete Qualität der Dichtung auf die Autobiographie, der er immer wieder das Vermögen zuschreibt, sich von ihm zu lösen und als in die Lüfte geschriebenes Gedächtnis umherzuirren. In der Tat lassen sich Teile unbekümmert weitertragen, zur Diskussion stellen und mit anderen Informationen verbinden, wie es nicht zuletzt im Vollzug dieser Studie geschieht. Das bedeutet, dass über den autobiographischen Text Teile der in Spanien verdrängten und vergessenen Kultur, die er in seine Autobiographie aufgenommen hat, als ein «Gedächtnis in Bewegung» gespeichert, verhandelt, verändert oder bestätigt weitertransportiert werden können. So übersetzt Alberti in seinem Schreiben z.B. nicht nur Inhalte volkstümlicher Traditionen, wie die der Romances, sondern auch ein Wissen über ihre Wirkmechanismen und Funktionen, die er im Exil und nach seiner Rückkehr nach Spanien nutzen wird, um die spanische Bevölkerung zu erreichen. La arboleda perdida I markiert den Aufbruch einer in Bewegung geratenen spanischen Literatur, die von Ort zu Ort ziehen wird und dabei bereits eingespeichertes Wissen den immer wieder neuen Begebenheiten und Begegnungen anpasst, es bewegt und modelliert. So ruft Alberti die Romances seiner Mutter
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Alberti lehnt sich darin an Ramón Menéndez Pidals und María Goyris tiefes Verständnis der Romances als orale Tradition des Volkes, die vor allem von Frauen weitergegeben wird, an. Auch León war in besonderem Maße von den Forschungsarbeiten ihres Onkels und ihrer Tante geprägt. Vgl. hierzu María Goyri: Romances que deben buscarse en la tradición oral. Madrid: Junta para Ampliación de Estudios 1907. Zur Person dieser herausragenden Frauengestalt siehe Antonia Rodrigo: Mujeres para la Historia. La España silenciada del siglo XX. Barcelona: Ed. Carena 2002, S. 156–187.
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und die andalusische Landschaft, mit der er das Gefühl der Freiheit verknüpft, auf. Die Freiheit in den Dünen, die ihm als Refugium dienen, wird den harten Stunden der Mathematik und der zu betenden Rosenkränze gegenübergestellt und hervorgehoben: Unter großen Bäumen werden die Kleidung und die Bücher vergraben und zurückgelassen, um nackt, frei von «Theoremen und Gleichungen», zum Meer zu laufen (AP I, 53). Diese Erinnerungen, von denen er weiß, dass sie auch in den dunklen Stunden der Pariser Nächte wachgerufen werden können und ihre Funktion als (mentalen) Rückzugsort erfüllen, begleiten ihn ins Exil. La arboleda perdida I endet mit dem Auszug aus dem jugendlichen Paradies, mit dem Umzug von El Puerto de Santa María nach Madrid, und einem volkstümlichen Sprachspiel, der «adivinanza», das diesen Vorgang rhythmisch begleitet: Cuando tras las primeras norias de la huerta de tío Jesus aparició el esmaltado umbroso de una bosquecillo de naranjos, me brotó de los ojos una olvidada adivinanza oída a Federico: Muchas damas en un castillo y todas visten de amarillo. Y acompasando la solución del acertijo con el ritmo del tren que se abría paso, vega arriba del Guadalete, me fui repitiendo, mudo, hasta Jerez de la Frontera: – Las naranjas, las naranjas, las naranjas, las naranjas.... (AP I, 106)
Die Lösung des Rätsels wird dem Rhythmus des Zuges gleich von dem erinnerten Ich vor sich hingesprochen und öffnet die Tür hin zu einem nächsten Lebensabschnitt, der in der spanischen Hauptstadt und mit dem zweiten Buch Albertis beginnen wird. Gleichzeitig dokumentiert das Ende des ersten Buches mit dem Erzählen des bewegten Überganges von El Puerto de Santa María nach Madrid eine ähnliche Phase, wie sie Alberti im Moment der Niederschrift der Autobiographie zunächst bevorsteht und sich dann ereignet: Die Flucht aus Madrid nach Paris und weiter nach Argentinien. Die Autobiographie vollzieht hier eine Dopplung der Bewegung des Verlassens eines vertrauten Ortes mit, bei der in beiden Fällen Elemente des Zurückgelassenen über Räume und Zeiten hinweg literarisiert mitgetragen werden, um sie über regionale und nationale Grenzen hinaus weiterexistieren zu lassen. Das Wissen über seine regionalen und kulturellen Wurzeln wird als in die Lüfte geschriebener Baum aus dem Übergang ins Exil heraus geformt und gründet sich auf dem gerade erfahrenen Wissen, eben der Entwurzelung. Ver- und Entwurzelung bilden gleichermaßen Ausgangspunkte Albertis Lebens- und Literaturgeschichte, die ohne festen Wohnsitz im Schreiben einen Ort zu finden versucht. Mit dem zweiten Buch von La arboleda perdida verändert sich die Schreibsituation in der Weise, dass nun aus dem argentinischen Exil heraus erzählt wird. Beeindruckt von der Lektüre des Lebens Benvenuto Cellinis, im Garten der Las Heras Straße, umgeben von Blumenduft geschwängerter Luft widmet sich Alberti erneut seiner Vergangenheit, um mit seiner Ankunft in Madrid 1917 beginnend, eine intensive Zeit der Kreativität, im Frühling 1956 erinnernd zu (re-)konstruieren: 107
Releyendo estos días de primavera bonaerense la atolondrada, violenta, apasionante y con seguridad a veces muy mentirosa vida de Benventuo Cellini, me han sacudido unos incontenibles deseos de reanudar mi olvidada Arboleda perdida [...].(AP II, 109)
Vor dem Hintergrund seiner Gedichtbände Ora Marítima (1953) und Baladas y canciones del Paraná (1954) und im Kontext der Poemas de Punta del Este (1956) und den Retornos de lo vivo lejano (1956), die von Albertis Sehnen nach seiner Heimat ebenso durchtränkt sind wie von den Reflexionen seines Lebens in zwei Welten, nimmt er den Faden seines ersten Buches von La arboleda perdida auf, um den früheren Jahren «entgegenzufliegen» (AP II, 109f.). Die Erinnerungen an jene Zeit lassen den Text zu einem Knotenpunkt werden, indem die verschiedensten kulturellen und literarischen Erscheinungen in Madrid und Albertis Entwicklung zum Maler und Dichter mittels einer Vielfalt von intermedialen, intra- und intertextuellen Bezügen zusammenfließen. Den Auftakt der intratextuellen Bezüge stellt die Zitation einiger Verse jenes Gedichtes dar, das Alberti als sein eigentlich erstes Gedicht bewertet, das im Kontext der Beschreibung des Todes seines Vaters92 erscheint und aus eben jener existenziellen Erfahrung hervorging: ...tu cuerpo, largo y abultado como las estatuas del Renacimiento, y unas flores mustias de blancor enfermo. (AP II, 153)
Die Lebensgeschichte entpuppt sich mehr und mehr als eine personalisierte Literaturgeschichte, in der Alberti – aus dem Gefühl der Heimatlosigkeit und der Entwurzelung, wie er sie im Exil in den 50er Jahren erlebt – Anfangspunkte seines Schaffens setzt, Einflüsse, Lektüre- und Lebensgewohnheiten beschreibt und an einem Bild von sich und seiner Dichtng arbeitet, das in denjenigen Studien wirksam wird, die sich zu deren Beschreibung auf La arboleda perdida stützen. Alberti verwebt seine Lebensgeschichte mit einer kollektiven Literaturgeschichte. Ein Beispiel hierfür sind die Mar y tierra gewidmeten Ausführungen, in denen er die «Entstehungsgeschichte» kontextualisiert (AP II, 177), die jedoch nicht ohne Verweise auf sein Leben im Exil auskommen, die Dimensionen einer Literatur in Bewegung in der Vergangenheit und Gegenwart aufzeigen, die in der Literaturgeschichtsschreibung seiner Zeit kaum Eingang fanden. Alberti lässt die Vorteile des Weggangs aus El Puerto de Santa María, die sich dem zu einem jungen Mann heranwachsenden erinnerten Ich bei einer kurzen Rückkehr in sein Heimatstädtchen zeigen, deutlich werden und auch wie viel dieses erinnerte Ich bereits Madrid verdankte. Der angehende Dichter (AP II, 132) taucht ganz in das kulturelle Leben des Madrid der 20er Jahre ein. Das
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Zur Bedeutung des Vaters und dessen Tod im Leben Albertis siehe Salvador J. Fajardo: Art, Ideology, Poetry in Alberti’s La arboleda perdida. Revista Canadiense de Estudios Hispánicos 24, 1 (1999), S. 139–151.
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autobiographische Schreiben legt in einem Augenblick Zeugnis dieser intensiven Jahre ab, während er auf der anderen Seite des Atlantiks in der nun produzierten Dichtung der 50er Jahre ausruft: ¡Qué solo estoy a veces, o qué solo, y hasta qué pobre y triste y olvidado! Me gustaría así pedir limosna por mis playas natales y mis campos. Dad al que vuelve, ¡por amor!, un trozo de luz tranquila, un cielo sosegado. ¡Por caridad! Ya no me conocéis... No es mucho lo que pido...Dadme algo.93
Die Jahre in Madrid scheinen dem erinnerten Ich mehr als eine «limosna» gegeben zu haben. Dafür steht die Begegnung mit Salvador Rueda, mit dem Alberti über die «voz femenina» des Moderismo diskutiert (AP II, 136). Alberti beklagt die Rueda nicht zugetragenen Würden und nimmt ihn in seinen Kanon auf, nicht ohne sich in der Folge auf einer anderen Ebene von denen abzugrenzen, die mit ihren literaturwissenschaftlichen Begriffen Einfluss üben. Eine für ihn schreckliche Prüfung im Instituto Cardinal Cisneros, wo ihm eben diese literaturwissenschaftlichen Begriffe, die «angeblich» für einen guten Dichter elementar sind, zum Albtraum werden (AP II, 138), dient lediglich dazu, seinem todkranken Vater eine Freude zu bereiten. Alberti lässt keinen Zweifel an seinem Unbehagen gegenüber den literaturwissenschaftlichen Zähmungsversuchen, die der Lebendigkeit des kreativen Schaffensprozesses des Dichters nicht gerecht zu werden scheinen. Zu seinen Freunden in dieser Zeit zählen Espinosa und Gil Cala, die ihn in die Dichtung einführen und ihn mit Platero y yo vertraut machen: «la mágica elegía andaluza de Juan Ramón Jiménez, en una preciosa edición destinada a los niños. Aún quedan sobre mí, a través de los años, las primeras huellas de este libro.» (AP II, 138). Er liest «novellieri» aus Italien und die Griechen in den Editionen, die Prometeo veröffentlicht, ein Verlag, der von Blasco Ibánez geleitet wird. Mit der Abkehr von einem institutionalisierten Wissen tritt mehr und mehr der Autodidakt Alberti hervor, dessen Lehrer die Straßen und Museen sind (AP II, 142). Albertis Literaturgeschichten «dokumentieren» den Prozess der Kreation und die dynamischen Momente ihres Entstehens aus dem Leben heraus. Die Zeit seiner Krankheit bringt einen drastischen Lebenswandel mit sich und führt den jungen Mann von der Bewegung zum Stillstand, da sie ihn, der das Gehen in den Straßen obsessiv betreibt, ans Bett fesselt. Doch dadurch wird der
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Aus den Poemas de Punta del Este. León scheint an diese Verse zu denken, wenn sie über ein Jahrzehnt später in ihren Notizbüchern ihre Einsamkeit und die zunehmende Distanz Albertis zu ihr im italienischen Exil wie in Anlehnung an seine Worte ausdrückt und eine «limosna» allerdings «de amor» erbittet. Vgl. hierzu María Teresa León: Notizbuch A632. Fundación Rafael Alberti.
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Raum für die intensive Lektüre eröffnet, der Alberti verfällt und die zur Grundlage seines literarischen Wissens wird (AP II, 160). Neben Juan Ramón Jiménez und den Soledades y Galerías von Antonio Machado liest er vor allem die Bücher der Colleción Universal (Calpe), die in jenen Jahren erstmalig erscheinen.94 Seine Lektüre geht einher mit einer gesteigerten dichterischen Produktivität, während die Schwester den im Bett liegenden Bruder über die Ereignisse der Stadt auf dem Laufenden hält. Sie ist die Verbindung zur Straße, um ihn den Kontakt zu dieser nicht verlieren zu lassen, wo in jenen Tagen die Blätter der Zeitschrift Ultra der jungen Avantgardisten umherwirbeln (AP II, 160). In diese Zeit fällt auch eine gesteigerte Angst, kein Dichter zu sein (AP II, 161), gepaart mit der Anstrengung, sich von der Malerei ab- und der Dichtung zuzuwenden (AP II, 162). Die Reflexionen darüber vermitteln über die eigene Literaturgeschichte der Entstehung seines Werkes hinaus auch ein spezifisches Wissen über den Prozess der Aneignung von Dichtung und dem Erlernen des Dichtens selbst, das sich aus Inspirationen, aber auch aus großen Mühen und Zweifel heraus entwickelt. Das dritte Buch widmet sich ganz den dichterischen und politischen Ambitionen des sich allmählich profilierenden Dichters und seiner Generation, die nach dem Spanischen Bürgerkrieg vor allem außerhalb Spaniens ihre vielfältigen Aktivitäten fortführte. Aus der Perspektive des nach Spanien Zurückgekehrten scheint Alberti in den 80er Jahren vor allem darum bemüht – nun als vom König selbst rehabilitierter, anerkannter und berühmter Dichter –, an den kulturellen Beitrag seiner Generation innerhalb und außerhalb Spaniens zu erinnern, um sie mit sich zurückkehren zu lassen und Anschlussmöglichkeiten für die nachfolgenden Generationen zu schaffen. Hierin liegt vielleicht der in jenen Jahren wichtigste Beitrag, den Alberti für ein grenzübergreifendes Verständnis einer spanischen Literaturgeschichte vermittels seines erinnernden Schreibens leistete und der noch nicht ausreichend erforscht ist. Gerade die transnationalen Tendenzen, die sich in seinem Schreiben aufzeigen lassen und die gleichzeitig mit einer tiefen Verwurzelung in spanischen literarischen Traditionen einhergehen, bieten einen Ausgangspunkt für ein dynamisches Verständnis einer spanischen Literatur und Kultur in Bewegung. Durch die Gegenüberstellung von der Kultur unter Franco und der eines anderen Spaniens im Exil wird ein Innen und Außen geschaffen, das die gegenseitigen Abhängigkeiten oder Bewegungen der spanischen Literaturen übersieht. Bei Alberti ist es sicherlich die immer wieder in seinem Schreiben inszenierte Rückkehr zu dem Zurückgelassenen, durch die aus dem Exil heraus seine vordergründig nostalgische, vor allem aber auch komplexe, hybride Dichtung entsteht, die Eigenes und Fremdes verbindet und zu neuen poetischen Ausdrucksformen führt. Nach unzähligen sprachlich inszenierten «retornos» ist Alberti mit der realen Rückkehr in sein Heimatland konfrontiert. Diesmal trägt er die Erinnerungen
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Der Katalogsstand des Verlages von 1939 gibt einen Überblick über die Bandbreite der bis dahin erschienenen Publikationen und der Alberti zugänglichen Literatur jener Jahre.
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an und das Wissen über eine Literatur und Dichtung, die er über Spanien vor allem außerhalb Spaniens in für ihn neuen geographischen Räumen schrieb, mit sich. Von nun an ist es die Perspektive desjenigen, der die Heimkehr in seine ursprüngliche Heimat vollzogen hat, doch die Spuren dessen, was er bei seiner Flucht zurückließ, nur bedingt vorfindet, da sie in den Jahrzehnten der Abwesenheit verfallen oder zerstört worden sind. Er muss sie selbst neu auslegen und wiederum sprachliche Anhaltspunkte seines früheren Lebensraumes schaffen.95 Gleichzeitig beginnt nun auch die Erinnerung und Aufarbeitung der Erfahrungen im Exil und an die Stelle der Sehnsucht nach Spanien tritt die nach den amerikanischen und italienischen Lebenswelten. Die Autobiographie Albertis schreibt in dieser Hinsicht an einer eigenen und kollektiven Literaturgeschichte nach Franco mit und zeigt notwendige Dimensionen wie eine Vielzahl von Bewegungen und Kulturkontakten auf, die es diesbezüglich mit zu berücksichtigen gilt und ohne die diese Literaturgeschichte ebenso wie das Leben Albertis, der sich hinsichtlich seines Schaffens als «un chinoitalo-árabigo-andaluz» (AP III, 221) bezeichnete, kaum zu verstehen sein wird. In poetischer Weise führt Alberti das vergangene, erinnerte Leben und sein gegenwärtiges Ich in seiner Autobiographie über Länder und Meere hinweg zusammen. Aus dieser Verschmelzung scheint ein mobiles und wandelbares Gedächtnis hervorzugehen, das nicht nur der Selbstdarstellung dient, sondern vor allem auch einem Legitimationsbedürfnis des Ex-Exilierten und seiner Generation, die zu diesem Zeitpunkt bereits durch Alter und Tod zunehmend abwesend ist. Das Gedächtnis in der Autobiographie, das sich organisch als entwurzelter und wandelbarer Speicher entfaltet und zum Gedächtnis der Autobiographie wird und Trägerin eines Wissens über individuelle und kollektive Literaturgeschichte(n) in Bewegung ist, zeugt von der Zeit des Übergangs in den 70er und 80er Jahren, in der es seinen Platz im kollektiven Gedächtnis und in der nationalen Literaturgeschichtsschreibung innerhalb Spaniens noch nicht gefunden, aber zu suchen begonnen hatte. La arboleda perdida ließe sich daher am ehesten als Autobiographie «en procès» charakterisieren, die sich durch ein nicht minder mobiles Gedächtnis auszeichnet, das die immer wieder veränderten Lebensumstände, mit denen Alberti konfrontiert wurde, mitreflektiert. Während sich Alberti in den ersten Büchern auf die Rekonstruktion und Erzählung seiner Kindheit konzentriert, um die Dunkelheit der Pariser Nächte zu bewältigen, widmet sich der zweite Band vor allem der künstlerischen und dichterischen Entwicklung. Die Sicherheit, aber auch Sehnsucht im Exil scheinen dann der Motor zu sein, um die existenziellen Krisen, die Erfahrung von Tod und Krankheit und der Produktivität der frühen Madrider Jahre zu erinnern. Das Leben in Uruguay und Argentinien wird zur Voraussetzung des ausführlichen Erinnerns dieser Themen, die er zuvor nur in der Dichtung berührte. In ihr vermochte es der junge Dichter, unmittelbar auf die über ihn hereinbrechenden Ereignisse zu reagieren. Die Dichtung fungiert als
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Vgl. die genannten Funktionen in Erll/Nünning: Gedächtniskonzepte, S. 4.
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nicht minder mobiler und wandelbarer Speicher von Erfahrungen, um mit ihren ästhetischen Möglichkeiten der überwältigenden Momente habhaft werden zu können. Mit dem autobiographischen Schreiben werden rückblickend die Entstehung der poetischen «Gedächtnisfragmente» und die an sie gebundenen Erfahrungen verarbeitet und dokumentiert, die dem Autor eine umfassendere Darstellung und Beschreibung abverlangen. Dichtung und Autobiographie ereignen sich im Vollzug des Lebens, wobei die Dichtung als Wissen vom Leben im Vollzug Fragmente dessen herauslöst und verdichtet, die durch die Autobiographie wieder erinnert und in einen neuen Zusammenhang gestellt werden. In der Gesamtschau aller Bände wird jedoch auch der transitorische und transformatorische Charakter der Autobiographie sichtbar. Selbst an wechselnde Orte und Lebensumstände gebunden, dokumentiert sie die verschiedenen Phasen des Lebens des Dichters, die ihn immer wieder verändert auf sein zurückliegendes Leben blicken lassen. Als lebendiges Gedächtnis erinnert und produziert La arboleda perdida eine innerhalb Spaniens unerwünschte Literatur. Die Autobiographie Albertis ist alles andere als ein Ergänzungstext zum Verständnis seiner Dichtung. Sie ist als Literatur in Bewegung und bildet ein bewegtes Gedächtnis aus, das Kontextualisierungsversuche eines Lebens aus dem Prozess des Lebens heraus unternimmt. Vor allem verleiht sie, wie auch die Autobiographie Leóns, einer spezifischen Gruppe eine Stimme. Das Bestreben, dies zu tun, entfaltet sich vor dem Hintergrund des diesen Gruppen sowie León und Alberti selbst immer wieder drohenden Verstummens.
4.2.
Stimm(ung)en Es gibt keine Erinnerungen, die nicht von Tränen durchtränkt wären. (Aus dem Film «2046» von Wonk Kar Wai) Sprich, damit ich dich sehe! (Sokrates)
Sokrates scheint auf das zu verweisen, was bei Aristoteles «das in der Stimme Verlautende» ist und Auskünfte über die Befindlichkeit der Seele zu geben vermag.96 Im vorangegangenen Abschnitt wurden Gedächtnisdarstellungen und -wirkweisen betrachtet, wie sie im Kontext von Heimat und Exil von beiden Autoren herausgebildet wurden, und nach der mit ihnen verbundenen Generierung und Speicherung eines (verdrängten) literaturgeschichtlichen Wissens gefragt. Im
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Für weitere Ausführungen zu Aristoteles’ Aussage vgl. die Interpretation Jacques Derrida in: De la grammatologie. Paris: Minuit 1967, S. 21f.
112
Falle von Memoria de la melancolía wird die Verbindung von Gedächtnis und Melancholie bereits im Titel formuliert und in der Tat sind beide Autobiographien ohne die dem Verlust des Heimatlandes erwachsenen Stimmungen der Melancholie und Nostalgie kaum zu verstehen. Wie werden diese Stimmungen im Text dargestellt und in welcher Weise wirken sie auf die Gestaltung des Textes ein? Die nostalgischen und melancholischen Stimm(ung)en scheinen die Haltung zum Erzählten und das Erzählte selbst zu prägen und in dieser Hinsicht auf die Textstruktur einzuwirken. Gleichzeitig antworten sie auf das drohende Verstummen. Die Stimm(ung)en in La arboleda perdida und in Memoria de la melancolía zu betrachten ermöglicht es, die jeweils in den Texten getrennt voneinander literarisierten Wahrnehmungen und Erfahrungen des Verlustes zu untersuchen und Auskünfte über diese im Zentrum beider Leben stehende Erfahrung sowie über die verschiedenen Zugänge und Reflexionen darüber zu geben. Das Zusammenspiel von Stimmungen und Stimmen als Wirkkräfte im Prozess der Literarisierung dieser Erfahrung rückt ein Konzept der Stimme ins Zentrum, das mit den Kategorien der Erfahrung und des Subjekts verbunden ist und über die Betrachtung der Position der Erzählinstanz und der für Autobiographien typischen Redesituation hinausgeht.97 Es wird auch danach gefragt, wie die Stimmen im Text sprechen.98 Die folgenden Ausführungen schließen an die vorangegangenen an und rücken die Stimm(ung)en als ästhetisches und phänomenologisches Moment der narrativen Gestaltung und Übermittlung von Leben und Lebenswissen ins Zentrum des Interesses. Während ihres Lebens gebrauchten León und Alberti die unterschiedlichsten Formen, um sich und ihren Anliegen Gehör zu verschaffen. Ihre prägnanten Stimmen waren dabei in Radiosendungen und bei Kongressen von herausragender Bedeutung. Beide stellten sich in eine orale Tradition, deren Wirkung ihnen bewusst war und die sie zum Erreichen ihrer Ziele nutzten. Wo die Stimmen selbst jedoch zu verklingen drohten, war es der geschriebene Text, der Inhalte vor allem dort, wo eine physische Anwesenheit unmöglich war, weitertrug. Das Wissen über ungehörte, vergessene und verstummende Stimmen ließ sie neue Ausdrucksmöglichkeiten suchen. Die Stimmungen der Nostalgie (rückblickend) und Melancholie (Blick aus dem Zwischen) haben dabei spezifische und vielfältige Stimmen in beiden Autobiographien hervorgebracht, denn das Wissen um vergangene, gegenwärtige und zukünftige Verluste und das zwischen beiden befindliche Sein führte zu je unterschiedlichen Ausformungen der erinnerten und
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98
«Das Wort ›ich‹ in der Autobiographie steht in einer doppelten sprachlogischen Funktion; es ist prädikativ, d.h. es macht eine Aussage und markiert damit die Instanz, die spricht und schreibt, und es bezeichnet gleichzeitig eine zeitliche und räumliche von dieser sprechenden Instanz unterschiedene Position, das beschriebene Ich.» Wagner-Egelhaaf: Autobiographie, S. 11. Vgl. hierzu Andreas Blödorn/Daniela Langer/Michael Scheffel: Stimme(n) im Text. Narratologische Positionsbestimmungen. Berlin/New York: Walter de Gruyter 2006, S. 3f.
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erinnernden Stimmen im Text. Das «Gedächtnis der Melancholie» birgt daher andere Stimmen als das der Nostalgie. Auch wenn es Punkte gibt, in denen sie sich überschneiden, die daraus hervorgehenden Texte sind von unterschiedlichen Dynamiken geprägt, die im Schreiben rückblickend Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges zusammenführen oder aus dem Zwischen heraus den Bruch vor Augen führen, aus dem zwar der Wunsch nach Kontinuität und Vertrautheit wächst, der jedoch unerfüllt bleibt und damit den aus diesem Bruch resultierenden Schmerz einmal mehr betont. 4.2.1
Leben(s)formen: Reden und Schweigen
4.2.1.1. La arboleda perdida: Geburt der Sprache und Stimmfindung Die Nostalgie ist ohne Zweifel eines der bestimmenden Themen in Albertis Dichtung und auch La arboleda perdida ist ohne die nostalgische Dimension kaum zu verstehen.99 Der Begriff der Nostalgie ist ein Neologismus, der von dem Schweizer Arzt Johannes Hofer aus nostos (Rückkehr oder Heimkehr, aber auch Vergangenheit) und algos (Schmerz) als Schmerz über eine nicht zustandekommende Heimkehr gebildet wurde. Er bezeichnet ein Heimweh, das verbunden wird mit der unmöglich gewordenen Bewegung des Heimkehrens des in der Fremde Weilenden. Der klassischen Definition von Nostalgie folgend lassen sich zunächst zwei Dimensionen dieser Stimmung unterscheiden, die sich zeitlich entsprechend in Vergangenheit und Gegenwart verorten: ein in der Vergangenheit angesiedelter Sehnsuchtsort und ein in der Gegenwart empfundender Schmerz über dessen Verlust. Letzteres verweist auf zwei weitere entscheidende Aspekte: den Moment des Bruches, der die Trennung von dem später ersehnten Objekt auslöst, und der Blick auf das verlorene Objekt, der eng mit der einhergehenden Befindlichkeit verbunden ist und die Aufhebung dieses Bruches ersehnt. Davis schlägt deshalb vor, Nostalgie als eine Suche nach Kontinuität angesichts der Drohung von Diskontinuitäten zu betrachten.100 Nostalgie kann in dieser Hinsicht als Antriebskraft und Versuch verstanden werden, Kontinuitäten herzustellen, wo sie durch Trennung zum Verlust etwa von Familie und Heimatland geführt haben. In dem hier betrachteten Fall wird der Suche nach Anschlussmöglichkeiten im Medium der Sprache in Form der literarischen Kreation Ausdruck verliehen. Dadurch kommt es zu Transgressionen zwischen der semiotischen und der symbolischen Ordnung,101 indem symbolische Formen zur Externalisierung der Stim-
99
100 101
Vgl. hierzu Barbara Dale May: El dilema de la nostalgia en la poesía de Alberti. Las Vegas: Peter Lang 1978 und Julio Neira: Rafael Alberti en prosa: los senderos de la nostalgia. In: Neira: Rafael Alberti y María Teresa León cumplen cien años, S. 83–106. Fred Davis: Yearning for Yesterday: A Sociology of Nostalgia. New York: Free Press 1979, S. 35. Zur semiotischen und symbolischen Ordnung vgl. Julia Kristeva: La révolution du langage poétique. L’avant-garde a la fin du XIXe siècle: Lautréamont et Mallarmé. Paris: Seuil 1974, S. 22.
114
mung, die Kristeva als «presign and prelanguage»102 bezeichnet, führen und damit einem «unthought known»103 erst zugänglich und schließlich auch kontrollierbar werden lassen. Stimmungen stellen in dieser Eigenschaft auch eine rhetorische Praxis dar, die an eine spezifische Stimme geknüpft ist, deren materielle, tonale, inszenierte und orale Dimension etwa in La arboleda perdida inszeniert und an ein konkretes Subjekt und dessen Erfahrungswelt im Text zurückgebunden wird. In La arboleda perdida wird das Sprechenlernen und Finden einer eigenen Stimme rückblickend reflektiert und steht einem erinnernden Ich gegenüber, das im Schreiben einem gegenwärtigen (politischen) Stimmverlust entgegenwirkt. Die eigene vergangene, erinnerte Stimme wird dem Text eingeschrieben und lässt die autobiographische Schrift zum Gedächtnis jener frühen Stimme werden und auch andere vergangene Stimmen «de las que aún me reconzco retazos de sus voces y ademanes» (AP I, 33) innewerden.104 Am Anfang stehen jedoch die Geburt der eigenen Sprache und die Entwicklung der eigenen Stimme im Zentrum, deren Artikulation und Lektüre einzelner Worte sich in einem konkreten Umfeld ereignet. Yo no puedo precisar ahora en qué momento las letras se me juntan formando palabras, ni en qué instante estas palabras se asocian y encadenan revelándome un sentido. (AP I, 20)
Der Prozess des Sprechen- und Lesenlernens, des Zusammenfügens von Buchstaben zu Wörtern, die schließlich einen Sinn offenbaren, verläuft unmerklich und ist in der Rückschau zeitlich nicht mehr konkret festzulegen. Erinnert wird jedoch der schwierige Prozess, die Worte lesend hervorzubringen. Es bedarf eines geradezu körperlichen Wissens von der Sprache, um diese artikulieren zu können und geht mit Bestrafungen – beim Nichtgelingen der Lektüre – einher: ¡Cuántas oscuras penas y desvelos, cuántas lágrimas contra el rincón de los castigos, cuántas tristes comidas sin postre siento hoy con espanto que se agolpan en mí desde aquella borrosa mañana del p-a, pa, hasta ese difícil y extraordinario día en que los ojos, redondos ante un libro cualquiera, concentran todo el impulso de la sangre en la lengua, haciéndola expeler vertiginosamente, como si la desprendieran de un cable que la imposibilitara, un párrafo seguido [...]! (AP I, 20; Hervorhebungen hinzugefügt)
Das zunächst körperlich mühsam Erlernte – dessen akustische und rythmische Erscheinung mit Blick auf seine klangliche Qualität hier im narrativen Diskurs imitiert wird – ist schließlich eine Offenbarung, denn es verfügt über die Eigenschaft – und dies scheint eben in dem vorangegangenen Zitat auf subtile Weise auch vorgeführt zu werden – die Stille zum Sprechen zu bringen:
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Julia Kristeva: Black Sun. Depression and Melancholia. New York: Colombia University Press 1989, S. 21. Christopher Bollas: The Shadow of the Object. Psychoanalysis of the Unthought Known. New York: Colombia University Press 1987, S. 112. Renate Lachmann: Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, S. 194f.
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Día de asombro, hora de maravilla en que el silencio rompe a hablar, del viento salen sílabas, uniéndose en palabras que ruedan de los montes a los valles y, del mar, himnos que se deshacen en arenas y espumas! (AP I, 20; Hervorhebungen hinzugefügt)
Der schmerzhafte und sinnliche Weg von der ersten Artikulation eines Wortes hin zur Lektüre eines ersten Abschnittes, der die Stille und auch das Stillschweigen zu durchbrechen vermag, legt die Grundlagen, um die Silben, Worte und deren Sinn der ihn umgebenden Lebenswelt zu vernehmen und die Sprache von Wind, Bergen, Tälern und Meer als Hymnen erklingen und verklingen zu lassen. Am Anfang stehen das Wort und die Wortlosigkeit unlöslich in dem schwierigen körperlichen und sinnlichen Prozess des Erlernens der Sprache nebeneinander. Welche Bedeutung diesem Prozess beizumessen ist, zeigt sich in der Beschreibung der Albträume, wenn nachts die Buchstaben zu bedrohlichen Erscheinungen werden, die den Jungen verfolgen und ihn morgens im eingenässten Bett erwachen lassen (AP I, 20f.). Es findet in diesem Abschnitt einer der bei Alberti seltenen Wechsel in die dritte Person statt, aus der heraus er von dem Albtraum, dem Bettnässen und den sich daran anschließenden Bestrafungen und Androhungen durch die Mutter erzählt. Mit dem Erlernen der Sprache, und dem damit einhergehenden Eintritt in die symbolische Ordnung, ist der Junge über Nacht groß geworden. Ihm werden «Missgeschicke» nicht mehr verziehen. Es sind die Frauen, die dabei die Kinder in die symbolische Ordnung führen und zu Gehilfinnen des patriarchalen Systems werden. Die von Nonnen streng geführten Unterrichtsstunden führen zu Angst und Erniedrigung, denn das von dem erinnerten Ich gesprochene Wort genügt den Ansprüchen der Hörerinnen nicht und der andalusische Akzent des Jungen erregt beim lauten Vorlesen Anstoß (AP II, 34). Der Macht der Nonnen widersetzt er sich im Stillen, indem er anstelle des Rosenkranzes einen im Innern gesprochenen Zungenbrecher, den er von seiner Mutter «aufschnappt» (AP I, 36) nachbetet. Früh antwortet das erinnerte Ich auf die gezähmte mit einer verspielten, ins Absurde mündenden Sprache, die der unausgesprochenen und heimlichen Rache und nicht zuletzt der Subversion eines ihn gängelnden Systems dient. Die rigide Wissensvermittlung führt zur Ablehnung all dessen, was an der eigenen Kultur eigentlich «besonders» ist (AP I, 36), und zur Vorführung sozialer Differenzen zwischen den Schülern, die über die Sprache, Aussprache und Schreibweise vorgeführt wird (AP I, 40). Mit dem zweiten Buch führt die nostalgische Rückschau hinein in eine ernsthafte Kontemplation der Jugendjahre, in denen dem widerstrebenden Eintritt in die symbolische Ordnung das mit der Erfahrung von Abschied und Tod einhergehende poetische Erwachen folgt. Im zweiten Buch wird die Jahreszahl 1920 hervorgehoben und ähnlich der Geburt 1902 als Einschnitt markiert: «1920. Tres muertes, unidas siempre para mí cuando me acuerdo de ese año: mi padre, Joselito, Galdós» (AP II, 156). Der Tod seines Vaters, der des Toreros Joselito und der des Schriftstellers Benito Pérez Galdós, der jedoch erst viel später als ein geistiger Vater wahrgenommen wird und der mit Büchern wie Misericordia León und Alberti prägte, fallen in jenem Jahr zusammen. Der Tod des Vaters kommt für den 18-jährigen überraschend. Er wird unvermittelt mit dem in spanischer Tradition aufgebahrten Vater konfrontiert, dessen derartige Erscheinung er mit 116
der des Heiligen Bonaventura in dem Gemälde Exposición del cuerpo de San Buenaventura (1629) Zurbaráns vergleicht. Mit diesem intermedialen Vergleich und der damit einhergehenden Möglichkeit der bildhaften Vergegenwärtigung einer Situation erreicht Alberti vor allem die Vermittlung der für ihn in diesem Erlebniskontext erfahrenen Stimmung, die dem Lesenden als ästhetische Erfahrung zugänglich wird. Die schwierige Beziehung zu dem abwesenden Vater wird thematisiert (AP I, 152). Wieder ist es ein Unterdrücktes, diesmal die Trauer, das ihn dazu bringt, seine latent vorhandenen Gefühle zu kanalisieren, denn: [...] algo había que hacer, alguna prueba de dolor tenía que dar en aquel trance. El clavo oscuro que parecía pasarme las paredes del pecho me lo ordenaba, me lo estaba exigiendo a desgarrones. Entonces, saqué un lápiz y comencé a escribir. (AP I, 153)
Wenn zu Beginn Buchstaben-, Wörter- und Lautformen und die dabei erfahrenen Frustrationen eine melancholische Stimmung bei dem Jungen auslösen (AP I, 35), so weiß sich der Jugendliche nun einer eigenen (poetischen) Sprache zu bedienen, um seine aufkommenden Stimmungen zu übersetzen, und so beginnt der junge Alberti im Angesicht des Todes Verse zu schreiben: «Mi vocación poética había comenzado. Así, a los pies de la muerte, en una atmósfera tan fúnebre como romántica» (AP II, 153). Mit diesem Mittel, um der Hilflosigkeit und Wortlosigkeit der ihn überwältigenden Erfahrung zu begegnen und der Schwere der ihn umgebenden Trauerkultur zu entfliehen (AP II, 153), macht er sich wieder und wieder auf und verfasst bei seinen Aufenthalten «im Freien» ein Gedicht nach dem anderen. Es folgt der Tod Benitos, den er zu jenem Zeitpunkt nicht aufgrund seiner Texte, sondern nur vom Sehen kennt (AP II, 156), da er bereits erblindet für den Bildhauer Victorio Macho im Retiro Park Madrids posiert. Das erinnernde Ich beschreibt, was das erinnerte Ich beobachtet. Dieses kleine Beispiel offenbart ein generelles Verfahren Albertis, der ein weites Spektrum zwar sinnlicher Erfahrbarkeit der Welt an das erinnerte Ich knüpft, dieses jedoch relativ emotionslos zeichnet. So hinterlassen die Tode des Toreros Joselito und des großen Novellisten «verborgene» Gräben, die sich erst viel später dem bereits erwachsenen Mann zeigen. Der wendet sich im vierten Buch von La arboleda perdida nochmals an seinen bereits lange verstorbenen Vater, um in einer an diesen gerichteten Rede das Unausgesprochene der frühen Jahre zu sagen. Alberti ist zu diesem Zeitpunkt bereits 24 Jahre älter als es sein Vater geworden ist und der heute, so Alberti, sein Sohn hätte sein können. Aus dieser Perspektive initiiert er ein Gespräch, das schließlich als Monolog, da er keine Antwort mehr vom Vater erhält, ins Leere geht (AP IV, 434). Die Trauer, als Gefühl unterdrückt, bricht sich auch im Malen Bahn. So kommt es zur Entstehung eines «melancholischen» Portraits der Schwester, die er nicht angemessen ihrer 16 Jahre freudig, sondern dunkel darstellt (AP II, 156), und zu einer bildnerischen Darstellung zweier Nocturnes von Chopin als Trost für seine Mutter (AP II, 157). Mit Becquer auf den Lippen wird in romantischer Manier der Friedhof aufgesucht. Der gesundheitliche Zustand verschlechtert sich und ein Gefühl der Enge in 117
seiner Brust nimmt zu. Auf Geschäftsreisen mit Velayos lernt der junge Dichter die Provinz und ihre Menschen kennen, wandelt auf den Spuren des Cid (AP II, 158) und sammelt Erfahrungen in Sacedón «digno de las andanzas del Buscón quevediano» (AP II, 158). Schließlich kommt es zum Ausbruch seiner Lungenkrankheit, welcher Monate der Bewegungslosigkeit, der Langeweile, der Angst und der absoluten Stille folgen. Dieser Zeit der Krankheit verdankt er, so Alberti, alles, da er durch diesen Lebenswechsel zur Ruhe, Lektüre und zum Schreiben findet (AP II, 160), wenn auch begleitet von Trauer und Melancholie, die er in seine Wahrnehmung der Landschaft übersetzt. Bevor das erinnernde Ich später von sich ganz das Bild des rastlosen Dichters zeichnet, gehen der Getriebenheit vor allem zu Beginn der Madrider Jahre Statik und Stille voran, aus der heraus Angst und Panikattacken erlebt werden. Den späteren «Dichter in der Straße», der von seinem poetisch-politischen Aktionismus umgetrieben wird, lässt das erinnernde Ich hier als Heranwachsenden im Spannungsfeld von Nostalgie, die durch das Zurücklassen des Heimatortes entsteht, und Melancholie, die Produkt der Konfrontation mit Tod und Krankheit ist, auftreten. Auch in der Liebe kommt es zu Formen der verzögerten Selbstwahrnehmung, die zwar in die frühe Dichtung Albertis wie Marinero en tierra «eindringen», aber im Leben des Dichters nur bedingt oder gar nicht ausgelebt werden (AP II, 175), bis die «belleza formal» seiner Gedichte geradezu zur Versteinerung der Gefühle führt (AP II, 175) und die Dichtung mehr und mehr im Dienst einer Gefühlskontrolle zu stehen scheint (AP II, 182), um nun manifeste existenzielle Ängste bannen zu können. Schließlich zeichnet sich eine weitere Stufe ab, da der junge Dichter – «como un limón exprimido del todo» – aus der von ihm bisher prakzierten Dichtung keinen neuen Saft mehr zu gewinnen vermag. Dieses Moment steht stellvertretend für das Streben Albertis nach immer wieder neuen Ausdrucksformen, die die unterschiedlichen Lebensphasen fordern. Die Vergegenwärtigung der vergangenen Lebens- und Gefühlswelt und der daraus resultierenden dichterischen Stimme geht mit der Herausbildung einer neuen, diesmal umfassenden, autobiographischen Stimmfindung einher. Auch diese wird nichts Feststehendes sein und den verschiedenen Etappen eines Lebens im Exil und der daraus resultierenden emotionalen Befindlichkeit angepasst. Erst im letzten Buch, in dem die Vergangenheit zunehmend von der Gegenwart eingeholt wird, scheinen sich der letzte Knoten zu lösen und sich die nostalgische Dimension der vorangegangenen Texte zugunsten des Augenblicks aufzulösen und die Suche zu einem Ende zu kommen. Nach der Rückkehr nach Spanien laufen Vergangenheit und Gegenwart der im Schreiben herausgebildeten Stimmen zusammen und im fünften Buch kann sich eine neue in die Zukunft gerichtete Perspektive entfalten. Die Liebe wird zur dynamischen, das ewige Leben versprechenden und, wie noch zu zeigen sein wird, die verschiedenen sprachlichen und literarischen Ausdrucksformen zusammenführenden Kraft (AP V, 222).105
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Vgl. hierzu Vicente Granados: Rafael Alberti, en su siglo. Entre el clavel y la espada. In: A distancia 1 (2004), S. 144–148 und Abschnitt 4.2.2. der vorliegenden Studie.
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4.2.1.2. Memoria de la melancolía: Stimm(ung)en erzeugende Verluste. In the mood for melancholy oder die gestalterische Kraft der Melancholie La melancolía es una manera, por tanto, de tener; es la manera de tener no teniendo, de poseer las cosas por el palpitar del tiempo, por su envoltura temporal. (María Zambrano, Pensamiento y poesía en la vida española) ¿Me llaman? Ya no hará sol. Por Dios, que llegue esa mujer. 82. Yo, yo, soy yo. ¡YO! El 82 sale con la cabeza alta y, sobre ella, un sombrerillo de fieltro azul, contra la cara, dos largas trenzas rubias, una cartera en la mano, al correr le chillan las botas, los ojos de la muchacha son grandes, más dorados, más grandes cuando llega esta hora de la tarde y la sonrisa es transparente y de felicidad distinta. Andando, mademoiselle. ¡Está libre! Se abre la puerta. (MM, 15; Hervorhebung hinzugefügt)
Im Hof der Klosterschule wartet die «82», «ella», «das Mädchen» darauf, abgeholt zu werden. Nachdem ihre Nummer aufgerufen wird, ruft sie: «Yo, yo, soy yo ¡YO!» Liest man diesen Ausruf in Anspielung an das Gedicht Mi universo von Emilio Prados, wird eine weitere Ebene aufgeschlagen, die das Beschriebene wie einen verborgenen Hilferuf erscheinen lassen.106 In der Forschung zu Memoria de la melancolía wurde diese deutliche Anspielung bisher übersehen, sie ist jedoch wesentlich, weil sie die Tür hin zu denjenigen Interpretationen öffnet, die die Reibung zwischen Selbstentfremdung und dem Wunsch nach Selbsterkennung im Text berücksichtigen. Nach dem Ausruf findet im Text ein Perspektivwechsel statt. Der Anonymität der Nummer folgt die Beschreibung des Mädchens, das mit einem blauen Filzhütchen, blonden Zöpfen, einer Mappe und Stiefeln, die beim Gehen geräuschvolle Spuren hinterlassen, mit weitgeöffneten Augen die Schule verlässt. Diese Beschreibung offenbart mehr als die physische Erscheinung, die psychische Befindlichkeit der 82 beim Verlassen der Schule, denn «los ojos de la muchacha son grandes, más doradas, más grandes cuando llega esta hora de
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Meines Erachtens handelt es sich hierbei um einen intertextuellen Bezug zu dem Gedicht Mi universo von Emilio Prados aus dem ersten Teil seines Gedichtbandes Jardín cerrado, der mit «Jardín perdido» überschrieben ist. Das Gedicht lautet: «Mi corazón está abriendo lo ojos./ ¡El día es mi corazón!// (¡Qué ancho! ¡qué largo! ¡qué alto!)// ...Y ando y ando/ y toco y llamo: -Yo, yo, yo...Soy yo, yo...¡Yo!// (Silencio es mi corazón).// Mi corazón ha cerrado los ojos./ ¡La noche es mi corazón!// (¡Qué hondo! ¡qué estrecho! ¡qué largo!)// ...Y ando y ando/ y toco y llamo:/- Yo, yo, yo...soy yo,/ yo. ¡Yo!// (¡Qué oscuro es mi corazó!)// Mi corazón se ha quedado sin ojos./ ¡El mundo es mi corazón!// (¡Ay, cuánta estrella brillando!)// ...Y ando y ando/ y toco y llamo:/ -Yo, yo, yo...Soy yo,/ yo. ¡Yo!// (¡Qué lejos suena mi voz!)// Mi corazón, dura sombra sin párpados,/ rompe en el viento su flor.// (¡Cuánto dolor sin espacio!...)// .....................// Como una piedra en un pozo,/sobre la pared del tiempo/ retumba mi corazón:// -Yo, yo, yo...¡Soy yo!/ Yo.¡Yo!... .» Emilio Prados: Jardín cerrado: nostalgias sueños y presencias. Mexiko: Cuadernos Americanos 1946, S. 50.
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la tarde y la sonrisa es transparente y de felicidad distinta.» Das Gesicht, das menschliche Antlitz, wird hier der anonymen Nummer entgegengestellt. Der Betonung der Augen und des Blicks kommt im Kontext des MelancholieDiskurses eine besondere Rolle zu und wird auch in Memoria de la melancolía wiederholt aufgegriffen. Das Licht des Nachmittags, von dem wenige Zeilen später im Text geschrieben steht, verleiht dem Mädchen einen besonderen Blick. Es scheint «Licht im Blick» zu haben, in dem Sinn, dass der Augenausdruck im Sinne Böhmes als «seelenvoll», «nach innen konzentriert» und «erkennend» vorstellbar wird und auf den Topos der Licht- und Erkenntnissymbolik verweist, ohne dass bestimmbar wäre, was es sieht.107 Die Mimik wird zum differenzierenden Merkmal, zur Spur, die darauf aufmerksam macht, dass etwas «in seiner Abwesenheit da ist.»108 Das Gesicht zeigt sich in einer Momentaufnahme, in der Mimik, Lebendigkeit und Blickweise für wenige Augenblicke hervortreten. Es ist diese «zentrale Körperzone (die Mund- und Augenzone), die dem anderen zugewandt ist» und auch in Memoria de la melancolía zum Ort der Unterscheidung zwischen «authentischem» Ausdruck, wie «cuando a la muchacha se le subía el rubor al rostro» (MM, 15), und dem aufgesetzten Mienenspiel «la otra sonríe con sonrisa de corte» (MM, 25) wird.109 Das Lächeln im Gesicht des Mädchens, das als «transparente» und «distinta» beschrieben und mit dem Ausruf «¡Está libre!» und der sich öffnenden Tür verknüpft wird, steht in Opposition zu der Angst, dass sich ihm die Fenster des Lebens verschließen könnten: «Sintió terror de que le hubieran cerrado los postigos de la ventana, de las ventanas de la vida» (MM, 16). Das Mädchen, María Teresa León, muss die Klosterschule schließlich endgültig verlassen, da diejenigen Eigenschaften, die seine Persönlichkeit bilden, sich nicht in die vorgegebene Ordnung der Klosterschule integrieren lassen. Die Klosterschule ist der Ort, an dem die Ununterscheidbarkeit gepflegt und ein Auffallen, egal in welcher Form, mit einem Verweis von der Schule bestraft wird: María Teresa León había sido expulsada suavemente del Colegio del Sagrado Corazón, de Leganitos, de Madrid, porque se empeñaba en hacer el bachillerato, porque lloraba a destiempo, porque leía libros prohibidos... (MM, 58)
Damit gehen ein Gefühl des Unangemessenseins und des Fremdseins einher, die von Beginn an und entlang von Memoria de la melancolía ausgedrückt werden und das Vater/Tochter- und Mutter/Tochter-Verhältnis ebenso prägen wie das Verhältnis der exilierten Spanierin zu ihrer Heimat.110 Das Gefühl des Fremdseins, das sich mit einem Anderssein, das ihr schon früh äußerlich durch die von vielen sie umgebenden SpaniernInnen als ungewöhnlich bescheinigten blonden Haare
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Vgl. Hartmut Böhme: Melancolia I. Im Labyrinth der Deutung. Frankfurt am Main 1989, S. 14. Bernhard Waldenfels: Das leibliche Selbst. Vorlesung zur Phänomenologie des Leibes. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, S. 392. Ebd., S. 391. Vgl. z.B. Aussagen wie «[n]iña de militar inadaptada siempre [...].» (MM, 11).
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und blauen Augen zufällt, paart und sie von anderen unterscheidet, ist somit nicht erst ein Produkt des Exils. Die oft artikulierte Angst vergessen oder verstoßen zu werden, wird bereits in früher Kindheit empfunden. León lässt keinen Zweifel darüber offen, «was durch eine bestimmte Ordnung gleichgesetzt wird, ist nicht gleich, unabhängig davon, ob es sich um eine lokale, regionale oder universale Ordnung handelt»111 und sie wird sich dieser aufoktroyierten Ordnung widersetzen, sofern der Rest von ihr als Ungleichartiges nicht zu völligem Schweigen verurteilt «nicht mehr als ein wortloses Geräusch, das man vernachlässigen kann, solange es nicht laut wird und sich womöglich gewaltsam Gehör verschafft»112 sein will. Die Klosterschule als Ort, an dem Differenzen geleugnet werden, der gleichmacht und die traditionelle Ordnung repräsentiert, wird in Memoria de la melancolía der aufgeschlossenen und liberalen Institución Libre de Enseñanza, «colegio laico sin monjas reticentes que dan la señal de levantarse o sentarse todas al unísono, con dos trocitos de maderas golpeados» (MM, 64), deren Schülerin die vom erinnerten Ich bewunderte Cousine Jimena ist, gegenübergestellt. Was im Colegio del Sagrado Corazón verboten ist, so etwa das Weinen oder die Lektüre von Alexandre Dumas (MM, 58), wird im Hause ihrer Verwandten Ramón Menéndez Pidal und María Goyri nicht nur gestattet, sondern gefördert (MM, 64). Es ist ein Ort, an dem alle Bücher und damit ein uneingeschränktes Wissen bereitstehen, «para que las niñas pueden seguir creciendo y que todo en el mundo pueden comprenderse y admirarse» (MM, 65), Liebesgeschichten von der Großmutter erzählt werden und das erinnerte Ich erstmals mit den spanischen Romances in Berührung kommt, die es zusammen mit Jimena auf einem alten Grammophon hört. Durch die von María Goyri und Ramón Menéndez Pidal auf ihrer Hochzeitsreise – auf der sie den Spuren des Cid folgten – gesammelten Schallplatten vernimmt es zum ersten Mal «la voz del pueblo» und nimmt «los inteligentes y a los sabios» (MM, 65) wahr, mit denen es im Haus ihrer nach der Frau des Cid benannten Cousine, Jimena, zusammentrifft. Durch die Freundschaft mit Jimena werden mit den Unterschieden in den Lebensweisen auch die in der äußeren Erscheinung offenbar. Die Bewunderung Leóns für ihre Cousine geht mit einem Gefühl der Minderwertigkeit einher, die eine Angst vor dem eigenen Spiegelbild heraufbeschwört: Y aquella prima mía era mi primer tropiezo con la belleza. ¡Qué fea estaba yo con las trenzas rubias, repeladas en las sienes! Creía entonces que jamás podría mirarme en un espejo. Tardé mucho, mucho en hacerlo como se debe, pensando el pro y el contra. Lo hice mucho más tarde, inesperadamente y estaba desnuda. De pronto pensé que no era yo. ¿Yo? Y me fui acercando despacio, despacio a la imagen sorprendentemente blanca y rubia hasta tropezar con el cristal frío y aplastarme contra él para borrarme, para quitarme aquel ansia de llorar de gozo. (MM, 65)
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Waldenfels: Topographie des Fremden. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S. 139. Ebd., S. 176.
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Der Blick in den Spiegel wird gemieden und ereignet sich zufällig, ohne dass sich das erinnerte Ich zunächst in ihm zu erkennen vermag. Langsam begegnet es dem Bild, das sich ihm zeigt. Die Spiegelmetapher ist in Memoria de la melancolía ein zentrales Moment im Prozess der Konstituierung des Subjekts. Der Spiegel macht Verborgenes sichtbar, indem sich Materie und Bild begegnen, allerdings ohne sich verbinden zu können. Dadurch wird auch eine Grenze markiert, die das Ich von seinem Bild trennt. Beide Pole stehen sich in Memoria de la melancolía gegenüber und setzen das Gefühl der Desintegration des Subjekts im Text in Szene. Das erinnerte Ich nimmt hier eine Beziehung zu seinem Bild auf, in welchem es seinen Körper verdoppelt sieht, ohne ihn zunächst als den eigenen zu erkennen. Die Identifikation ereignet sich «buchstäblich» als eine von Seiten des erinnerten Ichs versuchte «Aufnahme» des Bildes durch die körperliche Annäherung an das Spiegelbild bis hin zu dessen Berührung.113 Innenwelt und Außenwelt des Ichs prallen dabei aufeinander, ohne sich wirklich durchdringen zu können. Sie bleiben getrennt. Etwas Ähnliches scheint sich hinsichtlich des erzählenden und des erzählten Ich zu ereignen. Zwischen erzählendem und erzähltem und erlebendem Ich wird ein Spannungsverhältnis deutlich.114 Der oft unmittelbare Wechsel zwischen erster und dritter Person, der anders als in La arboleda perdida in Memoria de la melancolía häufig stattfindet, führt zu einer Verdopplung der Perspektiven und verweist auf die Distanz des erinnernden Ichs zu seinem früheren Ich, aber auch auf die Instabilität und Wandelbarkeit von Identität in dieser Autobiographie. Die alternde Frau steht den Erinnerungen an das Mädchen, das sie einst gewesen war, kritisch gegenüber und fragt sich «¿[s]erá verdad que yo fui así?» (MM, 27) oder «[d]e pronto pensé que no era yo. ¿Yo?» (MM, 65) und bewegt sich zwischen einem ausrufenden ¡YO!, das zu bestätigen sucht, und einem fragenden ¿Yo?, das sich seiner selbst nicht sicher ist. Die verschiedenen Blickwinkel auf das aufgefächerte Ich generieren und führen seine Identität als Zusammenspiel von Selbst- und Fremdsicht, in der Interaktion und Auseinandersetzung mit dem Bild, das es selbst und andere von seiner Person haben, eindringlich vor. Durch die Entscheidung, Geschehenes, Menschen, Umwelt und sich selbst aus unterschiedlichen Perspektiven darzustellen – etwa der des Mädchens, der jungen Frau im Spanischen Bürgerkrieg oder der Schriftstellerin im Exil – entsteht ein Polyperspektivismus, der das erzählte Geschehen in mehrere Versionen auffächert, wodurch nicht nur der Eindruck einer Distanzierung zu sich selbst erzeugt, sondern auch die Unsicherheit über die eigene Identität narrativ übersetzt wird. Die Multiperspektivität erscheint somit als Ausdruck der Befindlichkeit Leóns, die sich
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Vgl. hierzu Jacques Lacan: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion. In: Schriften I. Herausgegeben von Norbert Haas. Weinheim/Berlin: Quadriga 21997, S. 61–70. «Ma. Teresa León, junto a la utilización de la primera persona, usa la tercera persona o el modo impersonal para referirse a ella misma. El yo se transforma, en numerosas ocasiones, en ‹ella›, ‹la muchacha›, ‹la niña›, ‹la chica›, ‹una mujer española› [...]. Este recurso contribuye a crear un efecto de objetividad en la narración.» Juan Carlos Estebanez Gil: Ma. Teresa León, S. 63.
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von sich selbst entfremdet, den Blick von Außen auf sich richten muss, da es ihr nicht mehr gelingt, eine innere Verbindung zu einem Teil ihrer selbst herzustellen und als eine Form der narrativen Vermittlung derselben. Diese narrativistische Dimension der Selbstbezüglichkeit wird ergänzt durch die inhaltliche Auseinandersetzung mit der schriftstellerischen Entwicklung ihres erinnerten Ichs, das zu schreiben begann, «porque sus días eran largos, fríos, solos» (MM, 75). Mit der Autobiographie scheint sie sich nun in der Rückschau ihrer Existenz versichern zu wollen, wie es die zeitlose Gravur ihres Namens im Zaumzeug ihres Pferdes vermochte: «La madre, para consolarla de su desilusión de crecimiento, hizo poner una chapita de plata con su nombre escrito en la montura. Esa posesión la tranquilizó» (MM, 27). Gleichzeitig führt die Schrift in ihrer Beständigkeit die Vergänglichkeit vor, auf die sie verweist. Neben die Stimme des erinnernden und erinnerten Ich, treten andere, an die sie sich richtet. Dadurch erscheint die Autobiographie auch als Produkt und Medium kommunikativer Prozesse zwischen der Autorin und der für sie relevanten Personen.115 Die Dialoge und die mit ihnen einhergehende Polyphonie des Textes verhindern eine Dominanz des erzählenden Ich und verleihen den auftretenden Figuren nicht nur eine eigene Stimme, sondern lassen den Text wie die eigene Stimme «eine Art Resonanzbogen für fremde Stimmen»116 werden, indem sich Eigenes und Fremdes überlagern und durchdringen und Andere aus ihm sprechen, noch bevor es an seine Stelle treten und für sie sprechen kann.117 Die erinnernde Frau wird begleitet von dem erinnerten Kind, das sie einmal war: «beide sind aneinander gekettet in der Unmöglichkeit ihrer Vereinigung.»118 Der Selbstverlust wird als Verdoppelung im Text ästhetisch produktiv gemacht, indem sich das erinnerte Ich bewegt und das erinnernde Ich dabei zusieht. Somit wird der Zustand der Bewegungslosigkeit und zunehmenden Entfremdung in eine textuelle Dynamik und Spannung übersetzt und die Darstellung der zerrissenen und auch zerbrochenen Bruchstücke der Vergangenheit mündet in ein schreibendes produktives Tätigsein. Ihre Entwicklung zur Schriftstellerin, zu einer femme de lettres, wird in Memoria de la melancolía bis in die Kindheit zurückverfolgt: Einer Phase ausgeprägter Rezeption, die mit einer Einverleibung des Wortmaterials einhergeht,119 schließt sich die des eigenen Schaffens an. Signifikanterweise fallen die ersten literarischen Ambitionen bei ihr in die Zeit der Geburt des ersten Kindes. León war zu diesem Zeitpunkt laut eigener Auskunft fünfzehn Jahre alt (MM, 35). Das Schreiben wird mit dieser existenziellen Erfahrungen des erinnerten Ichs
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Vgl. Elisabeth W. Bruss: Die Autobiographie als literarischer Akt. In: Günther Niggel (Hg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 1989, S. 277. Bernhard Waldenfels: Vielstimmigkeit der Rede. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S. 146. In Anlehnung an Ebd., S. 148. Waldenfels: Sinnesschwellen, S. 25. Vgl. hierzu Abschnitt 4.1.2. der vorliegenden Arbeit.
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verknüpft und erscheint als damaliger Rückzugsort. Das gegenwärtige autobiographische Schreiben legt Verstörungen und Wunden offen sowie Prozesse des Verlierens, der unnützen Anstrengungen und der einsetzenden Hoffnungslosigkeit aufgrund einer Desillusionierung im Hinblick auf das Erreichen hochgesteckter Ziele. Als melancholisches Zwischenreich der Autorin, das zunehmend entgegen der inszenierten Stimmenvielfalt von Stimmverlusten begleitet wird, scheint das Schreiben nun einen solchen Rückzugsort nicht mehr zu bieten. In Interviewnotizen zieht León einen Vergleich der von ihr empfundenen Melancholie und der Don Quijotes, die sie vor allem auf seine immer wieder ins Leere gehenden Anstrengungen zurückführt und mit der nach und nach eine Desillusionierung der Träume und auch der Liebe zum Nächsten einsetzt.120 Nach einem langen Leben im Exil und einem unermüdlichen Schaffen und Lieben scheinen ihre Hände doch leer zu bleiben. Die Fülle an Text und Worten von Memoria de la melancolía steht den verspürten Anzeichen der Resignation und nicht zuletzt der drohenden Stille entgegen, die nicht nur durch die zukünftige Abwesenheit der eigenen Stimme entstehen kann, sondern auch durch das Fehlen der Stimme des von ihr geliebten Menschen, Rafael, der sich ihr immer mehr zu entziehen scheint.121 Zahlreich sind in jenen Jahren die Verluste im Leben Leóns, die – angekündigt und unabwendbar – sich doch noch nicht ereignet haben. In Freuds Aufsatz Trauer und Melancholie, dem Basistext psychoanalytischer Melancholietheorie, heißt es: «Trauer ist regelmäßig die Reaktion auf den Verlust einer geliebten Person oder einer an ihre Stelle gerückten Abstraktion wie Vaterland, Freiheit, ein Ideal usw.»122 Von Melancholie spricht Freud dann, wenn nicht erfasst wird, was verloren wurde: Ja, dieser Fall könnte auch dann noch vorliegen, wenn der die Melancholie veranlassende Verlust dem Kranken bekannt ist, indem er zwar weiß wen, aber nicht, was er an ihm verloren hat. So würde uns nahegelegt, die Melancholie irgendwie auf einen dem Bewusstsein entzogenen Objektverlust zu beziehen, zum Unterschied von der Trauer, bei welcher nichts an dem Verlust unbewusst ist.123
Beide Dimensionen lassen sich in Memoria de la melancolía aufzeigen. Bereits erfasste und erlebte Verluste stehen denen gegenüber, die sich unabwendbar und angekündigt doch noch nicht ereignet haben und in ihrer Gänze nicht zu begreifen sind. Aus diesem Zwischenzustand heraus, der es ihr verwehrt, die Trauer über das Verlorengehende in Gänze zu erfassen, scheint León ihre Autobiographie zu
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María Teresa León: Interviewmanuskript. A 792-A807. Fundación Rafael Alberti. Vgl. hierzu auch Loureiro: The ethics of autobiography, S. 66ff. «¡Que sin limites es el silencio! No puedo soportar la soledad. Mejor la discusión, el grito. Mejor el desafiarme por cosas tontas, pequeñas como agujas domesticas. Pero sentir su voz. No soporto la soledad. Ay esos objetos pequeños de los que esta llena mi casa susurran, murmuran, pero no me basta. Quiero su voz. La voz de Rafael que hace cuarenta años está presente, la que no cambió nunca, la voz de entonces... [...].» María Teresa León: Notizbuch A 629. Fundación Rafael Alberti. Sigmund Freud: Trauer und Melancholie: Essays. Berlin: Volk und Welt 1982, S. 34. Ebd., S. 36.
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schreiben und sich eloquent den schwierigen Momenten der unaussprechlichen Trauer und Verluste zu widmen. Beispielhaft wird dies in Memoria de la melancolía in der an die Mutter gerichteten Sequenz vorgeführt: Si tú supieras, madre, cuándo he comenzado a quererte; no fue ese día que me precipité en tus brazos. Tenía miedo; ni siguiera en aquella ocasión cuando me subí a tus rodillas: tenía hambre... . (MM, 110)
beginnt die drei Seiten lange Textsequenz, die sich um das Mutter-Tochter-Verhältnis rankt und in der sich León an ihre Mutter wendet. Die erste Begegnung mit der Mutter erlebt das Ich mit geschlossenen Augen. Es ist nicht das Gesicht der Mutter, was es zuerst kennenlernt, sondern es sind ihre Hände, «esa herramienta tan útil» (MM, 110). Aber «aún pasaría mucho tiempo antes de quererte» (MM, 110). Bis sich das Gesicht der Mutter von anderen unterscheidet, braucht es lange. «Tu cara tardó en diferenciarse de las demás. Yo tardé muchos meses en distinguir tus ojos, tu naríz, tus labios… me gustaba que me besases» (MM, 110). Doch an die Stelle eines Kusses tritt das in Majuskeln geschriebene Wort NO, mit dem die Mutter gleichgesetzt wird: «Te identifiqué a la vez que la palabra NO. Eras mamá No. No hagas esto, no te manches el vestido, no juegues con el barro […]» (MM, 110). Alles Lustvolle wird verboten und wiederum braucht es einige Zeit, bis das Ich die Lektion verstanden hat und sich seinerseits schließlich in «la señorita No» verwandelt: «Tardé mucho tiempo en aprender esa lección, pero después me convertí a mi vez en la señorita No» (MM, 110). Die Mutter ist das erste Identifikationsobjekt. Als «señorita No» tritt das Ich – von der Mutter angeleitet – in die symbolische Ordnung ein. Dem Wort NO folgt die schmerzvolle Begegnung mit den mütterlichen Händen: «Otro día... no sé cómo decírtelo, me diste a conocer tus manos, me pegaste» (MM, 111). Die wohligen Momente, die von den «murmurabas» der Mutter begleitet werden und in Opposition zu dem Wort NO stehen, enden für das Ich «con el dolor, la angustia y el miedo de crecer» (MM, 111), die das Entwachsen des Kindes aus seiner Beziehung zur Mutter und somit den zukünftigen Verlust der Mutter ankündigen. «Y, sin embargo», wiederholt sich das Ich, «yo no sabía quererte, [...]». Es entdeckt bald, dass das NO ein auch die Mütter ihrer Freundinnen kennzeichnendes Merkmal ist und macht sich auf die Suche nach Eigenschaften, die seine Mutter von den übrigen unterscheiden. Die differenzierenden Merkmale sind der Gang und die Stimme: Entonces comencé a espiarte para encontrar las diferencias. Me dí cuenta que caminabas con paso muy seguro, con altivez y que hablabas con voz distinta. Nadie hablaba como tú. (MM, 111)
Was die Mutter von anderen unterscheidet, verweist später gleichzeitig auf das, was Mutter und Tochter gemeinsam ist: «Mis pasos son firmes, iguales a los tuyos a mi voz tiene tu mismo eco» (MM, 112). Die Beziehung des Ichs zu seiner Mutter ist geprägt von seinem Wunsch, eine Einheit mit dieser zu bilden: Siempre me pareció que tú y yo éramos sonidos iguales, dos consecuencias lógicas, dos colores complementarios. Así que jamás planteaba el amor a lo que era simplemente yo misma. (MM, 111)
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Das Einssein ist wesentlich durch das Befolgen der mütterlichen Anweisungen bei gleichzeitigem Nicht-Verstehen ihrer Worte und Gedanken gekennzeichnet. Mit dem Größerwerden entwickelt sich eine neue Perspektive auf das Verhalten der Mutter, die mit einer Desillusionierung einhergeht, denn «[...] todo, todo, absolutamente todo lo que hacía tu otro yo, ese yo desprendido de ti y que era tu hija, lo encontrabas fuera de propósito [...]» (MM, 112). Es ist der zuvor bereits gefürchtete Moment der Trennung, in dem das Ich zwischen der Welt und der Mutter wählen muss und sich zum Unverständnis der Mutter für die Welt entscheidet. Sowohl mamá NO als auch señorita No sind das Produkt einer patriarchalen Gesellschaftsordnung. Die Mutter tritt zunächst als Agentin der väterlichen Ordnung auf, die sie scheinbar weiterträgt. Darin unterscheidet sie sich nicht von anderen Müttern. Gleichzeitig liest sich das NO wie eine Maskerade, denn im Handeln der Mutter liegt etwas Unberechenbares, Unkontrollierbares. So stellt León fest: «No supe jamás bien qué camino ibas haciéndote por dentro, hacia dónde te dirigías» (MM, 275). Die Mutter vereinigt in sich Widersprüchliches und bewegt sich spielerisch zwischen aus der Sicht ihrer Zeitgenossen eigentlich unvereinbaren Welten. So kann sie unmittelbar nach ihrem ersten Wahlgang für den Sieg der Kommunistischen Partei in der Kirche zu Gott beten (MM, 70). Sie ist ebenso die Vermittlerin christlicher Traditionen, wie sie politisch aktiv ist.124 Beim Anblick des Bildes, der für sie ambivalenten Frau, das sie bis zu jenem Augenblick nicht anzusehen vermochte, übermannt sie ein plötzliches Gefühl der Liebe: ¡Cuánto te quise pronto. Eras mía, únicamente mi madre. No te parecías a ninguna, […]: Yo era tu carne. Y sentí como si me llamases para transmitirme tus poderes. La voz tuya, tan admirable, me anunciaba que yo iba a ser como tú, nada más que como tú. Besé tu imagen y me senté a quererte. (MM, 112)
An die Stelle der endgültigen und realen Separation von der Mutter wird ihr «Bildnis» gesetzt, in dem die einende, ersehnte Verbindung «gefunden» wird. Das «reale» und «verlorene Objekt», zu dem León keine liebende Beziehung aufzubauen vermochte, wird durch die Fotographie, in der sie sich selbst erkennt oder verkennt und das als Wort im Text Sprache ist, ersetzt, geküsst und geliebt.125
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Die Episode zum Wahlgang lässt sich als eine Anspielung auf die Streitigkeiten zum Frauenwahlrecht, das 1931 die Gemüter bewegte, lesen. Diskutiert wurde die «politische Reife» der Frau. Dahinter stand die Auffassung, dass Frauen aufgrund einer Beeinflussung durch die Kirche prinzipiell konservativ wählen würden und somit eine Gefährdung für die junge Republik darstellen könnten. Von den im Parlament vertretenen Frauen traten Clara Campoamor und María Lejarraga für das Frauenwahlrecht ein und setzten sich durch. Der Sieg der konservativen Kräfte 1933 lässt sich nicht auf die Beteiligung der Frauen an der Wahl zurückführen, wie es z.T. in geschichtlichen Darstellungen geschieht, sondern vielmehr auf den Zusammenschluss der rechten und konservativen Parteien kurz vor der Wahl. «Les signes sont arbitraires parce que le langage s’amorce par un dénégation (Verneinung) de la perte, en même temps que de la dépression occasionnée par le deuil. ‹J’ai perdu un objet indispensable qui se trouve être, en dernière instance, ma mère›, semble
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Das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter ist gekennzeichnet durch die physische und psychische Abwesenheit der Mutter, die sich auch in der Schwierigkeit oder Unmöglichkeit des miteinander Kommunizierens ausdrückt. In der frühen Kindheit erteilt die Mutter Befehle, die die Tochter befolgt. Sie ist es, die spricht, wobei die Tochter ausführt, ohne den Sinn der Worte wirklich erfassen zu können. Sie ist das Echo ihrer Mutter. «Yo no podía seguir tus pensamientos porque debía cumplir tus órdenes [...]» (MM, 111). Die Eigenwilligkeit der Mutter setzt sich im Alter – verstärkt durch die Alzheimerkrankheit – fort: «Qué valiente eras! No te dejabas ni peinar, eras la insurrección permanente, el gracioso desorden, la que nos sobresaltaba continuamente hasta percipitarnos todos en su busca» (MM, 275). Im Moment des Schreibens ist es nun sie, die Tochter, die das Wort an die tote Mutter, an ein Bild der Mutter, das sie in ihren Händen hält, richtet, um sich schließlich an die Stelle der Abwesenden zu setzen. Das Objekt selbst wird aufgegeben, nicht aber die Liebe zum Objekt, die sich hier in eine narzisstische Identifizierung zu flüchten scheint.126 Der Wunsch nach dem Kuss, den sich das Ich von der Mutter ersehnt, bleibt unerfüllt «[...] me gustaba que me besases» (MM, 110). Die Textsequenz zeichnet sich durch eine Komposition aus, die geprägt ist von einer auf Wiederholungen basierenden Struktur, die in dieser Eigenschaft das auf der Inhaltsebene behandelte Thema der Ablösung und Rückkehr aufgreift und transformiert. Zwei Zeitläufe scheinen hier ineinanderzugreifen: Der chronologische, lineare Fortlauf der Zeit, der mit der Geburt beginnt und die Ablösung von der Mutter beschreibt (MM, 112) und bis zum Augenblick der Niederschrift reicht, scheint sowohl durch ein Eingedenken in die Vergangenheit als auch durch die Identifikation des Ichs mit seiner Mutter, das deren Eigenheiten weitertragen wird, am Ende der Textsequenz durchbrochen und wiederholt zu werden. Die Dualität von Veränderlichem und Gleichbleibendem, der Wechsel von gegenwärtig-zwischenmenschlichem und vergangen-erinnertem Geschehen ist ein an vielen Stellen in Memoria de la melancolía zu beobachtendes Formprinzip. Auf diese Weise gelangen die gegenwärtige «Wirklichkeit» und die innere der Vergangenheit zugleich zur Darstellung. Die Wiederholung, die hier im Text im Textfortgang und auf der Oberfläche der Seiten unmittelbar erschlossen wird, bildet einen Gegensatz zu einer übergreifenden linear gedachten Zeit und repräsentiert – an ein Wort geknüpft – Kontinuität: Se ha roto la confianza en el futuro. Creo que se ven, cuando se miran al espejo, vestidos de uniforme, sangrando. Se me cierra el alma pero entonces siento las manos de mi hijo Enrique, manos de obrero, manos de hombre que tantos trabajos conocieron para convencerme de que aún perdurará por los siglos la palabra Madre. (MM, 329)
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dire l’être parlant. ‹Mais non, je l’ai retrouvée dans les signes, ou plutôt parce que j’accepte de la perde, je ne l’ai pas perdue (voici) la dénégation, je peux la récupérer dans la langage.» Julia Kristeva: Soleil Noir. Dépression et mélancolie. Paris 1987, S. 55. Vgl. hierzu Freud: Trauer und Melancholie, S. 43.
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Es ist das Wort «Mutter», das in Zukunft weitergetragen wird und auf die Sterblichkeit jener verweist, die es bezeichnet. Der Abschnitt über den Tod der Mutter liest sich wie ein Vorgriff auf das, was sie selbst erwartet.127 Gleichzeitig lässt sich mit dieser Textsequenz das Leben als eine immer wieder neue Reproduktion von Wiederholungen und Differenzen erschließen, worin nicht zuletzt ein Wunsch nach Kontinuität seinen Ausdruck findet. Die Wiederholungen ermöglichen und stabilisieren Anschlussfähigkeiten, denn ohne sie gäbe es nur ein «völlig ungeordnetes Aufblitzen und Vergessen von unzusammenhängenden Beobachtungen.»128 Sie sind deshalb ein wesentliches Moment der Sinnbildung und ein Phänomen, das Vertrautheit schafft. Die allgemeine Vertrautheit der Lebenswelt, der Natur und menschlicher Beziehungen ist eine selbstverständliche Daseinsgrundlage, die bei León, wo sie entzogen wurde, (re-)produziert wird. Als sie mit der Niederschrift von Memoria de la melancolía begann, musste sie zum zweiten Mal ein Land, das ihr zur Heimat geworden war, zurücklassen. Zu der Sehnsucht nach Spanien trat die nach Argentinien, die sowohl in La arboleda perdida als auch in Memoria de la melancolía thematisiert wird. Signifikant ist in diesem Zusammenhang, dass León ihrem Heimweh nicht in den argentinischen, sondern erst in den italienischen Jahren Ausdruck verleiht. Aitana Alberti weist auf das Glück derer hin, die in Mexiko, Chile oder Argentinien ein «neues Leben» beginnen konnten ohne ihre Sprache und Gewohnheiten aufzugeben und mit ihrem Arbeitseifer von dem «continente hermano» aufgenommen wurden.129 Sie hebt die Aktivität der Eltern hervor und die Freundschaften, die von unschätzbarem Wert im Exil waren und die argentinischen Jahre zu Schlüsseljahren im Leben des Paares werden ließen. In dieser dritten Phase des Exils wird León nun über die Aufgabe der ihr vertrauten Umgebungen hinaus mit Alter und Krankheit konfrontiert, was sie in ihrer Autobiographie vergangenes und gegenwärtiges Leben reflektieren und verschiedene narrative Strategien entwickeln lässt, um die psychischen und physischen Herausforderungen zu bewältigen. Auch der endgültige Verlust der früheren Lebenswelt, der «madre España», kündigt sich an, da sich das eigene Lebensende einer Rückkehr in den Weg stellen könnte. Wenn León zu der Strategie der Identifikation greift und als Milizsoldatin in einem performativen Akt die Identität des zu verteidigenden Landes annimmt (MM, 42), steht das von ihr in einem «dramatischen» Akt verkörperte Mutterland, das es gegen die Francotruppen zu verteidigen gilt, in scharfem Gegensatz zu dem Wort «patria», für das die Menschen sterben sollen: «Pero nos hemos seguido… . Morir por todo, menos por esa palabra con que nos empujan hacia la muerte: la patria» (MM, 117). Das «paraíso perdido» ist nicht das «Vaterland»
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Vgl. MM, 275. Norbert Meuter: Narrative Identität. Das Problem der personalen Identität im Anschluss an Ernst Tugendhat, Niklas Luhmann und Paul Ricoeur. Stuttgart: M und P Verl. für Wiss. und Forschung 1995, S. 77. Aitana Alberti: María Teresa León, nuestra señora de todos los deberes. In: Joaquín Roses (Hg.): María Teresa León, compromiso y melancolía. Córdoba: Biblioteca de Ensayo 2005, S. 13–23, hier S. 16.
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Francos, sondern «la madre España», der nicht nur das Wort «patria», sondern auch die Veränderungen seit dem Ende des Bürgerkrieges übergestülpt wurden. Die «neue Ordnung», die sich in der Wirtschaft ausdrückt – «Pero nos hemos seguido matando por las estrechez mental de los nacionalismos, por los banqueros, por las grandes empresas, por los trust...» (MM,116) – hat nur wenig mit dem Spanien zu tun, als dessen Kinder sich die «desterrados» verstehen. Sie unterstehen einem anderen Gesetz: […] la ley que hace al hombre vivir en común, la ley de la vida diaria, hermosa verdad transitoria. Nos la llevamos sin saberlo, prendida en los trajes, en los hombros, entre los dedos de las manos... Somos hombres y mujeres obedientes a otra ley a otra justicia ... (MM, 29)
Sie sind es, die im Exil stellvertretend für das «verlorene Paradies» atmen – «Durante treinta años suspiramos por nuestro paraíso perdido, un paraíso, único, especial» (MM, 29) –, das sich jedoch mit der zunehmend schwindenden Möglichkeit der Rückkehr als Illusion erweist, weshalb Wörter wie Freiheit «pueden y deben suprimirse de los diccionarios españoles para no dar ilusiones. ¡Treinta años segando ilusiones!» (MM, 298) Es ließen sich zahlreiche Bezüge und Parallelen zwischen der beschriebenen Mutter-Tochter-Beziehung und dem Verhältnis der «Kinder Spaniens», «los desterrados», zur «madre España» herstellen. Die in diesem Kontext sicherlich bedeutendste ist der Verlust – oder in einem abstrakteren, religiösen Sinne – das Verstoßenwerden aus dem wie auch immer gearteten ‹mütterlichen› Paradies und der unbändige Wunsch, dorthin zurückzukehren. Gleichzeitig wurde in Amerika ein Art Ersatzparadies gefunden, in dem man weit weg von den kriegerischen Ereignissen in Europa eine neue Heimat findet und das es nun nicht minder zu betrauern gilt: América nos pareció un paraíso silencioso. La gente vivía con el sol y dormía de noche, cosa que nosotros habíamos olvidado. La guerra era cosa del otro lado del océano. Nos internaron más, en Córdoba de América. Regresamos a la primera edad infantil del hombre. Todo era sorprendente. Otra vez los pájaros, el agua del río, las mentas para restregarnos las manos... Aquel descanso se lo debimos a María Carmen y Rodolfo Aráoz Alfaro. Toma, Rafael, estás son las llaves, nos dijeron. Abrimos una nueva etapa de la vida. Para siempre se llamará América. (MM, 315)
Hier wird León schwanger, obgleich ihr gesagt worden war, dass sie keine Kinder mehr bekommen würde. In Argentinien findet sie Frieden und auch Erfolg. Sie dreht drei Filme und hat eine bekannte Radiosendung. Sebastiaan Faber weist in seinem Artikel darauf hin, dass «[...] a great number of spanish intellectuals found themselves exiled in Spanish America, where they were happy and surprised not only to find refuge and political solidarity, but also to rediscover a forgotten part of their Hispanic identity.»130
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Sebastiaan Faber: Contradictions of left-wing hispanismo: The case of Spanish Republicans in exile. In: Journal of Spanish Cultural Studies 3, 2 (2002), S. 165–185,
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Die Situation in Italien ist für León eine gänzlich andere. Als alternde Frau fühlt sie sich aus dem öffentlichen Leben zunehmend zurückgedrängt. In der Zeit, in der Memoria de la melancolía veröffentlicht wird, finden sich Eintragungen in ihren Notizbüchern, die den Unmut gegenüber dem Verhalten ihres Partners und ihrer Umgebung aussprechen.131 Memoria de la melancolía wird zum Medium, um den eigenen früheren Protagonismus hervorzuheben und sich damit nicht nur in eine vergangene Geschichte einzuschreiben, sondern auch und vor allem um einen Platz in einer sie zunehmend aus dem öffentlichen, kulturellen und intellektuellen Leben ausschließenden Umgebung einzufordern. Die Melancholie, heißt es bei Bartra: [...] se refiere también a las consecuencias trágicas de la soledad, la incomunicación y la angustia, ocasionadas por la siempre renovada diversificación de las experiencias humanas. La melancolía se convierte en una red mediadora que comunica entre sí a seres que sufren o intentan comprender la soledad y el aislamiento, la incomprensión y la dislocación, la transición y la separación. Así, podemos suponer que quienes participan del canon de la melancolía se entienden y se desentienden, se comunican en la soledad y codifican el misterio de la separación.132
Im Kontext der Erfahrung von Einsamkeit und Trennung wird die Melancholie zur Vermittlerin des Unsagbaren und Unverständlichen zwischen denen, die um sie wissen. Mit dem Motto «Las cosas de los mortales todas pasan, si ellas no pasan somos nosotros los que pasamos» (MM, 9) eröffnet die Autorin den Haupttext und bietet einen ersten Zugriff auf die Struktur und die inhaltliche Thematik der von ihr verfassten Autobiographie, die, so die Autorin, auf Daten basiere, die aus einem alten und kaputten Notizbüchlein stammten und deren Exaktheit fragwürdig sei (MM, 125). Die Vergänglichkeit und Sterblichkeit der Menschen und der von ihnen geschaffenen Dinge stehen am Beginn des Textes, der dann mit einem zweiten Motto: «Porque conozco cosechas de alegría, ancha tierra de España, si sembramos libertad con el trigo» (MM, 331) beschlossen wird. Die Autorin spannt hiermit ein Feld von Vergänglichkeit und Werden auf, in dem der Text und das in ihm in Erscheinung tretende Ich angesiedelt werden und sich im Zwischen der beiden Kräfte Leben und Tod bewegen. Eng mit ihnen verknüpft sind die Freude und die Trauer, die auf die Befindlichkeit des Ichs einwirken. In Sätzen wie dem folgenden nimmt eine freudig erlebte Nacht in der erinnernden Rückschau eine traurige und melancholische Färbung an: «Fue una noche alegre la que se oscurece en mi memoria nostálica y triste» (MM, 169). Vergangene Freuden werden ebenso wie zukünftige Hoffnungen im Text immer wieder in Frage gestellt und als verloren anerkannt. Gleichzeitg resultiert aus dem
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S. 170. María Teresa León: Notizbuch A 767. Fundación Rafael Alberti. Roger Bartra: Cultura y melancolía. Las enfermedades del alma en la España del siglo de Oro. Barcelona: Anagrama 2001, S. 229.
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Begehren, sie wiederzuerlangen, die Notwendigkeit, die Hoffnung wenn nötig «teja a teja» (MM, 8) wieder zu erschaffen, besser: das, was von ihr übrigblieb, zu erhalten. Doch fördert der Wunsch nach Hoffnung, der in den Erinnerungen des Vergangenen gesucht wird, vor allem «Schatten», zutage. Der Zeitpunkt, zu dem León mit dem Schreiben ihrer Autobiographie beginnt, lässt sich als die Schmerzgrenze ihres Ertragens des unverschuldeten Zwangsaufenthalts im Exil, der zusätzlichen Erkrankung an Alzheimer, dem zunehmenden Schwinden der Hoffnung auf eine Rückkehr in ihr «Mutterland Spanien» und einer fehlenden Liebe und Anerkennung durch das sie umgebende Umfeld betrachten und am ehesten, in Anlehnung an Waldenfels, als einen Ort an der Schwelle charakterisieren, denn «[i]m Überschreiten der Schwelle befindet man sich nicht mehr hier und nicht mehr dort, Ort und Zeit berühren sich. Betrachten wir das Fremde als ein Anderswo, das Eigenes markiert, indem es sich diesem entzieht, so erscheint die Schwelle als ein Ort des Fremden par excellence. Sie erweist sich zugleich als ein Ort der Schwebe.»133 Schwellen tauchen, so Waldenfels, überall dort auf, wo wir von einem Erfahrungsraum oder Lebensbereich in den anderen überwechseln, «so im Falle von Einschlafen und Aufwachen, Erkranken und Genesen, Heranwachsen und Altern, Ankommen und Fortgehen, Begrüßen und Abschied, Geburt und Tod. Immer gibt es ein Drinnen, das vom Draußen geschieden bleibt.»134 Das Ichbewusstsein ist in Memoria de la melancolía am Rande der Dämmerung angesiedelt, an einem nicht lokalisierbaren Ort, an dem nicht nur Ermüdung, sondern auch Tod und Vergessen lauern: La memoria puede tener los ojos indulgentes. Ya no llegan a nosotros los ruidos vivos sino los muertos. Memoria del olvido, escribió Emilio Prados, memoria melancólica, a medio apagar, memoria de la melancolía. (MM, 51)
In dieser Hinsicht praktiziert León ein Schreiben, das (sich ankündigende) Verluste mit dem Wissen um deren unmögliche Auffüllung und Heilung offen zu legen versteht.
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Waldenfels: Sinnesschwellen, S. 21. Ebd.
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4.2.2. ZwischenLebenswissen: Wunden öffnen/schließen 4.2.2.1. Memoria de la melancolía: Die Spuren einer verletzenden/verletzten Schrift Que aquel jardín cerrado – lo soñaste – era todo de cristal de colores. Cuando hallaste la puerta ibas herido. (Rafael Alberti, Versos sueltos de cada día)
Memoria de la melancolía konstituiert sich im Wesentlichen aus aus einem dominanten narrativen, kommunikativen und informativen Diskurs, der die politische und kreative Aktivität der Autorin darstellt. In ihm sind historische Ereignisse ebenso eingebunden wie die kulturellen Beiträge der Autorin im Krieg (die Inszenierung von Theaterstücken, die Beteiligung an der Alianza de Intelectuales Antifascistas zum Schutz des kulturellen spanischen Erbes, Reisen) und einem Diskurs der Sprachlosigkeit, des Verstummens, der Körper-Leiberfahrung und des Gespaltenseins. Beide sind eng miteinander verwoben und durchdringen sich gegenseitig. Und auch wenn sich León zu Beginn des Textes mit einer patriarchalen Ordnung zu identifizieren scheint und deren Diskurs aufgreift, wird dieser bald von einer poetischen Sprache und Handlungsweise durchbrochen, die ihn untergräbt, stört und in Unordnung bringt. Die Polyphonie, die den doppelten Diskurs prägt, treibt die Entsubstantialisierung des Subjekts voran, ebenso wie die dem Text dadurch eigene Fragmentarität und Dialogizität jeder Monologisierung und Hierarchisierung entgegenwirkt. Die innere, in Abschnitt 4.1.1.2. beschriebene Fragmentarität des Textes erzeugt eine Zersplitterung des Textganzen. Mit ihr lässt sich die verletzte Form und das verlorene Ganze sowohl des Textes als auch des Subjekts assoziieren.135 Ferner erzeugt sie eine das Ich vorwärtsdrängende Bewegung im Text, die durch die häufige Verwendung des Wortes «luego» ebenso verstärkt wird wie durch die Verwendung von Imperativen und den schnellen Wechsel der Perspektiven vom erinnernden Ich hin zu einem erinnerten Ich und Sie/Es (das Mädchen). Die Polyphonie zeigt sich in der Stimmenvielfalt, in der Redevielfalt ebenso wie in der Sprachvielfalt von Memoria de la melancolía. An die Stelle eines eindeutigen Subjekts tritt ein Spannungsfeld subjektiver Eindrücke, Ansichten und Urteile, die nicht die Frage nach der Wirklichkeit, sondern deren Erfahrbarkeit durch das Text-Ich ins Zentrum des Interesses stellen und ferner ein «zweistimmiges Wort» entstehen lassen, ein «Wort mit Ausrichtung auf ein fremdes Wort.»136 In Memoria de la melancolía spüren die Worte nicht nur ihren Lesern, Zuhörern und
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Vgl. hierzu auch Michaela Holdenried: Autobiographie. Stuttgart: Reclam 2000, S. 50. Michail Bachtin: Probleme der Poetik Dostojewskijs. München: Carl Hanser Verlag 1971, S. 222.
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Kritikern nach und spiegeln im Sinne Bachtins deren antizipierbare Einwände, Urteile und Gesichtspunkte wider, sondern auch anderen Worten und Stilen, etwa denen Albertis.137 Für Bachtin liegt in der Stimme ein dekonstruktivistisches Potential, das anders als die für ihn starre Schrift ein bewegliches Element der Subversion darstellt. Derridas Auffassung von der Schrift ist gekennzeichnet durch ihre Abgelöstheit und die Möglichkeit freier Zirkulation jenseits der Person des Sprechers, weshalb er der Schrift ein ähnliches Potential zuspricht wie Bachtin der Stimme. Was bei Bachtin die Stimme leistet, vollbringt bei Derrida die Schrift.138 Sie vermag es, den Sprecher zu überleben, während dessen Tod die Schrift nicht verändert. In der Schrift kündigt sich die Endlichkeit und der Tod des Menschen an. León weiß die subversiven Kräfte der Stimme wie auch der Schrift zu nutzen und miteinander zu verweben. Mit dem Bild des Mädchens, das sprechend einen Suppentext schreibt (MM, 286) wendet sich León gegen eine mögliche Fixierung der Schrift und der Stimme, wie sie sich im autoritären Machtwort NO der Mutter sowie in den Texten der nationalen Geschichtsschreibung ausdrückt. Die in Studien beobachtete Dialogizität in Memoria de la melancolía, die einen fragwürdigen Authentizitätsdiskurs der Autobiographie nicht zuletzt durch die Stimmenvielfalt im Text unterläuft, zeigt, dass das Selbst zur Ausbildung der Hilfe des Anderen bedarf.139 Es sieht sich in der Brechung der jeweiligen anderen, denen immer auch die Funktion eines Spiegels zukommt. Es ist ein Subjekt, das in verschiedensten diskursiven Feldern und Geschichten zu verorten ist, die seine Erscheinung in diesem Text mitprägen. Entscheidend ist dabei, auf welche Weise sprachlich, stilistisch und textstrategisch der Verlust an lebensimmanenter Erfahrungshaltigkeit in einen Gewinn ästhetischer Erfahrung umgemünzt wird.140 Das konstruktivistische Element liegt in der Funktion der Selbsterzeugung des autobiographischen Schreibens. Dass dies nicht zwangsläufig in eine Vorstellung von Subjektivität im Modus der Fiktion münden muss, zeigt sich in Memoria de la melancolía, wo Text und Leben zwar nicht identisch, jedoch auch nicht voneinander zu trennen sind. Sie sind je ein Teil derselben Tätigkeit, in der Leben beiträgt zu und konstruiert wird durch Erzählungen. Damit ist die Frage nach dem Ort von Memoria de la melancolía als Autobiographie gestellt. Dieser «kann nur in einem flexiblen Dazwischen, dem Sowohl-als-auch, liegen, bei einem kritischen Bewusstsein, das sich der spiegelnden Kraft der Zeichen bedient und dabei um die phantasmatische Qualität der Realität weiß.»141 Dabei wandelt sich die Tätigkeit des narrativen Gestaltens ihrer Geschichte und Identität im Verlauf des Schreibprozesses mehr und mehr von einer Art existentiellen (narrativen) Suche nach dem, was sich als Verlorengegangen erweist, und eines Anschreiben gegen das,
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Ebd., S. 219. Jacques Derrida: Grammatologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983, S. 16f. Vgl. hierzu Blanco: Las voces perdidas, S. 44. Holdenried: Autobiographie, S. 55. Wagner-Egelhaaf: Autobiographie, S. 99.
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was verloren zu gehen droht, hin zu einem Offenlegen der erfahrenen Wunden, zu einer verletzten und hinsichtlich des Textkörpers verletzenden Schrift.142 Der Hauptakzent des Textes liegt demnach nicht auf der kontinuierlichen Reifung und Entwicklung des Ichs, sondern beleuchtet vielmehr schlaglichtartig verschiedene Augenblicke des gelebten und textuell verfassten Lebens, das sich wie ein Puzzle zusammenfügt und die es zu reflektieren und zu vermitteln gilt. Auf eine kausale Entwicklung von einer Geschichte zur nächsten wird dabei verzichtet. Vielmehr hat der Text den Charakter einer Fragmentsammlung, in der die Lücken zwischen den erzählten Geschichten auf Ungesagtes und Unsagbares und schließlich Versehrtes verweisen. Die Suche nach einer Identität fern von Spanien ist das alle Episoden verbindende Kettenglied. Die «große Erzählung» des Exils und des Spanischen Bürgerkrieges ist zugleich die Existenzbedingung und der zu überschreitende Horizont von Leóns «kleinen» Erzählungen, die zugleich das Fragmentarische und Unzusammenhängende in ihrer Entwicklung hervortreiben. Das Mit- und Gegeneinander verschiedener Erzählstimmen, die verschiedenen Personen oder aber einer einzigen Figur zugeordnet werden können, vermitteln ein Bild von Identität als dem Produkt komplexer Selbst- und Fremdwahrnehmungen, das sich nicht monologisch-linear, sondern dialogisch-widersprüchlich entfaltet. Identität ist nicht eine unwandelbare Identität mit sich selbst, sondern kommt im Wechselspiel der Selbst- und auch Fremdkonstruktion relational zustande. Mit dem Hinweis auf den Konstruktcharakter des Textes reißt León den Horizont von Fiktionen und Fakten auf und entlarvt die traditionelle Autobiographieschreibung nicht zuletzt in ihrem Kunstwerkcharakter und zeigt, «dass wir uns nicht nur in der alltäglichen Interaktion in Geschichten, Erzählungen darstellen, sondern, dass wir unser ganzes Leben und unsere Beziehung zur Welt als Narration gestalten.»143 Als Text stellt Memoria de la melancolía den Versuch der «Transzendierung des Ich im Akt des Schreibens»144 heraus und prägt «die paradoxe Situation einer Selbstvergewisserung durch ausdrückliche Negation, wie sie für eine radikal verstandene Moderne kennzeichnend ist»145, bereits vor. Der Akt des Schreibens führt scheinbar beides zusammen – das Ich und sein Leben. Durch das, was die Autobiographin schreibt, verleiht sie sich zwar Kontur, schreibt sich eine Geschichte zu und stiftet einen Zusammenhang ihrer Welt im Text, die Selbst- und
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Diesbezüglich weicht meine Lesart von der Riddels ab, die Leóns Text als eine «escritura reparadora» liest. Meines Erachtens führt die Schrift jedoch vor allem die Zerrissenheit und darin auch Offenlegung der Wunden vor. Vgl. hierzu María Carmen Riddel: Última etapa del exilio de María Teresa León: La escritura reparadora. In: Donaire 14 (Juni 2000), S. 38–46. Ich schließe mich in dieser Hinsicht Wurm an, bei der es heißt: «Für María Teresa León bricht nochmal die Wunde des Exils auf, für ihn [Alberti] scheint sie ihn Rom zu heilen.» Wurm: Spaniensehnsucht, S. 256. Wolfgang Kraus: Das erzählte Selbst. Die narrative Konstruktion von Identität in der Spätmoderne. Pfaffenweiler: Centaurus-Verlags-Gesellschaft. 1996, S. 170. Carola Hilmes: Das inventarische Ich und das inventorische Ich: Grenzfälle des Autobiographischen. Heidelberg 2000, S. 15. Ebd.
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Welterschließung, wie sie bei León durch die poetisch-praktische Tätigkeit, die gleichsam die Lebensgeschichte in ästhetische Erfahrung transzendiert, stattfindet, ist aber ohne die Erfahrung der Desintegration und Auflösung des Subjekts und seiner Versehrtheit kaum zu verstehen und bleibt gebrochen. Mit ihrem traditionellen Anspruch auf Authentizität und Wahrheit zeigt dabei die Autobiographie als literarische Gattung nicht nur die Gefährdung des Subjekts an, sie bietet zugleich die Möglichkeit alternative Entwürfe des Ichs zu suchen, neue Schreibweisen und Strukturierungen zu erproben, die sowohl von einer Dezentrierung des Ichs als auch von den damit verbundenen Paradoxien zeugen, die es auszuhalten, nicht zu verschließen oder zu heilen gilt. Das den Text Memoria de la melancolía strukturierende Element ist was León in Zusammenhang mit ihren Ausführungen zu León Felipe als «la dramática paradoja última de la vida del hombre» (MM, 224) beschreibt und das als ein Begreifen der Todesdrohung zu einer Art «petrifiziertem Dasein» führt, das gekennzeichnet ist von dem Paradox, «dass der Tod die existentielle Erfahrung ist, die nicht gemacht werden kann.»146 Er ist die Leerstelle, die aufgrund ihrer Unerklärlichkeit und Unerkennbarkeit das Sein im Verborgenen mitbestimmt. Ein Zustand, der sich in den in Memoria de la melancolía zitierten Versen León Felipes ausdrückt: «Y hacia dónde caeré?/Hacia dentro? En el cero…/dentro de la nada ?/o hacia afuera…» (MM, 224). Die Todessemantik bestimmt von der ersten Seite an den Text, «als Absolutum, von dem aus Leben erst begriffen werden kann»147 und birgt in dieser Hinsicht die Sehnsucht nach Ganzheit und einer letzten Wahrheit in sich – «somos los que quedamos gentes devoradas por la pasión de la verdad» (MM, 7) – ebenso, wie er in Form des Krieges immer wieder in das Leben Leóns hineinbricht und ihren Blick auf das Leben prägt. Das Erschreckende und Grausame des Todes liegt in seiner oben bereits erwähnten Unerkennbarkeit, mittels derer er plötzlich in Form eines gefunden Schuhs, der noch einen abgerissenen Fuß enthält, vor Augen tritt (MM, 188). So erscheint selbst der tote Körper als fragmentiert. Diese fremden Tode oder Hinweise auf eben solche sind es, die die Autorin immer auch auf den eigenen Tod stoßen. Das Leben scheint «alle Anzeichen fortschreitender Entwicklung verloren» zu haben und kann in letzter Konsequenz nur noch «leerer Rekurs auf schmerzlich Vergangenes, Schon-einmal-Dagewesenes, nicht aber Besinnung auf individuell einmalige Daseinsakte sein»148, die das erinnernde Ich wieder und wieder erzählt – «[c]uento de nuevo la historia, cuento otra vez y la recuento si el cuento me gusta» (MM, 221) – solange es dies vermag. Die äußeren Geschehnisse, wie sie in Zeitungen übermittelt werden, scheinen wie diese immer gleich zu bleiben (MM, 18). Die eigene Lebenszeit wird hingegen als stillstehend oder als Vorwärtsgetriebenwerden hin zum Tod wahr genommen, was bereits auf der ersten Seite des Haupttextes metaphorisch zum
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Holdenried: Im Spiegel ein anderer, S. 324. Ebd., S. 317. Ebd., S. 343.
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Ausdruck kommt: «Y los relojes que la madre detenía para esquivar el tiempo y la abuela los ponía en marcha uno después de otro, para mortificar» (MM, 7) und im Text immer wieder aufgegriffen wird, denn «[…] sufro por olvidar y cuando se me despeja el cielo o me abren la ventana, siento que me empujan hacia adelante, hacia la pena, hacia la muerte» (MM, 19). Eine Bewegung, der León im Schreiben entgegenzuwirken versucht: «Entonces prefiero ir hacia lo que fue y hablo, hablo con el poco sentido del recuerdo, con las fallas, las caídas, los tropiezos inevitables del espejo de la memoria» (MM, 19). Einen Jetztpunkt scheint es nicht mehr zu geben. Das erinnerte Ich scheint mit dem Verlassen seiner Heimat bereits eine raum- und zeitlose Welt betreten zu haben: «Diste cuerda al reloj?» wird es während des Fluges, der es ins Exil bringt, gefragt, worauf es antwortet: «Quién piensa en eso. Algo se nos había detenido para siempre a todos… a todos» (MM, 210) und kurz darauf, bei einem Zusammentreffen mit Dolores Ibarruri, fällt auch «el último granito...» von ihm ab und damit die Illusion, das Verlorene im Exil aufrechterhalten zu können: «Todo lo que había fabricado por dentro para sostenerme, toda la geografía española que me había inventado durante el vuelo del avioncito, se me fue de la cabeza [...] y me senté en un rincón para que no me viera flaquear» (MM, 212). Am Anfang der Autobiographie steht das Gefühl des Fremdseins. Als «niña de militar inadaptada siempre, no niña de provincia ni de ciudad pequeña con catedral y obispado y segunda enseñanza... .» (MM, 12) zeichnet León von der ersten Seite der Autobiographie an ein Bild von sich, das eine Betonung auf die Fremdheit und Unangepasstheit gegenüber einer bürgerlichen Umgebung und Gesellschaft herausstellt, die darin einen Grundzug ihrer späteren Identität als Emigrantin ankündig und in dem Bild des Paria seinen Ausdruck findet: «Claro que tardamos mucho, mucho en habituarnos a ser ese paria a quien se llama refugiado y se le hace ir cada ocho días o cada dos a la policía para verificar su buen comportamiento» (MM, 217). Ein Zustand, der, so León, unter den emigrierten Deutschen oft zum Selbstmord führe und dem sie ein stereotypes Bild des exilierten Spaniers gegenüberstellt, das entlang des Textes verfestigt wird und eine Kontur zeichnet, die in vielerlei Hinsicht die Opposition zwischen einem fortschrittlichen und einem traditionellen Spanien wiedererkennen lässt, und die empfundene Widersprüchlichkeit und Irrationalität dieses Landes herausstellt:149 País mío de tonos brillantes y oscruras y desconcertadoras simas; país de majestad y miseria, de garbo y pobretonería, de aristocracia popular y plebeyismo aristocrático, de restallantes esperanzas y fantasmales inhibiciones. España era entonces, cuando nos tocó vivirla, un trozo de tierra más bien pobre vivido por un pueblo nacido a la libertad el 14 de abril de 1931. [...] La vieja piel española se enrojeció de pronto. Hemos sido testigos de uno de los movimientos de ascensión de un pueblo, el nuestro. Lo veíamos cada día disciplinarse, ganar batallas; el hombre español nuevo iba formándose en los sindicatos, en las minas, en las fábricas, en el campo, en las universidades. (MM, 188)
149
Vgl. hierzu Franzbach: Die Hinwendung Spaniens zu Europa, S. 100.
136
Und um zur Anerkennung der im Spanien der 60er Jahre verdrängten und vergessenen Errungenschaften einer Generation aufzurufen, die dort nicht mehr hörbar ist: Sería cerrar los ojos si no recordásemos aquellos años en que la generación del 98 vivía, junto a los poetas jóvenes, un llamamiento de la Historia. Sería cerralos aún más si no recordásemos el temblor de protesta del pueblo español ante las viejas estructuras económicas que lo encerraban en un corset casi medieval de dependencia y servidumbre. (MM, 188f.)
Die daraus resultierende Isolation Leóns ist total: Von den Mitmenschen, der Gesellschaft, der eigenen Herkunft und Vergangenheit und schließlich von Alberti entfremdet bewegt sich León in einer Zwischenwelt, die sich in einer für den Text konstitutiven Paradoxie niederschlägt, mittels derer sie gegen das Schwinden und Fremdwerden des Selbst, der äußerlichen Sprachlosigkeit souverän und beredt aufbegehrt. León entziehen sich physisch vertraute Orte und Verhältnisse ebenso wie die identitätsstiftende eigene Geschichte. So wird auch ihr Vorleben zunehmend annulliert.150 Die komplexe Erfahrung des zugleich Ausgegrenzt- und Beteiligtseins, die widersprüchliche Haltung von Distanz und Nähe spiegelt sich im Prozess des Schreibens wider, das als lust- und schmerzvolle Erfahrung zugleich erscheint: «Siempre tengo que regresar a mis cuentos viejos, besar las sombras» (MM, 244) und begleitet wird von der gegenwärtigen Erfahrung des Sterbens: «Diariamente enterramos muchas cosas. Estamos hechos de pequeñas muertes tanto como del tejido de los sueños» (MM, 310). Und so wird der Schreibakt zu einem Unterfangen, das gegen den Verlust anzuschreiben gedenkt und ihm doch selbst nicht widerstehen zu vermag: «Sigo escribiendo sobre los muertos. Memoria del olvido» (MM, 299). Vergessen und Tod liegen dicht beieinander, denn «wo das Erinnern erlischt, da erlischt das Menschsein.»151 Die Todesthematik schlägt sich formal in einem Darstellungsverfahren der Lücke nieder, die auf das Unsagbare, den Tod und das Vergessene, verweist. Sowohl die sprachliche als auch die strukturelle Fragmentarität des Textes, der aus einzelnen Textsequenzen besteht, die eine grobe zeitliche und chronologische Entwicklung von der Kindheit über den spanischen Bürgerkrieg bis hin zum Augenblick der Niederschrift im römischen Exil immer wieder durchbrechen, führen dies vor. Die Reduktion und die verhaltene Sprache wirken darüber hinaus wie ein vorweggenommenes endgültiges Verstummen, das den Tod «als endgültige Sprachgrenze antizipiert.»152 In dieser Hinsicht kann der Erinnerungs- und
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152
Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986, S. 52. Grözinger, Karl E.: Erinnern und Vergessen – Primo Levi und die jüdische Tradition. In: Brigitte Sändig (Hg.): Zwischen Adaption und Exil. Jüdische Autoren und Themen in romanischen Ländern. Wiesbaden: Harrassowitz 2001, S. 31–44, S. 39. Grözinger thematisiert in seinen Ausführungen im Zusammenhang mit den Texten Primo Levis das Dilemma, «das Schmerzliche und zugleich Erlösende von beiden, von Erinnern und Vergessen», S. 37. Holdenried: Im Spiegel ein anderer, S. 428.
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Schreibprozess, wie er sich in Memoria de la melancolía artikuliert, in Anlehnung an Holdenried als «Widerstandsmoment», das die Autorin dem zukünftigen Tod entgegensetzt, aber auch als Performanz des Leidens verstanden werden. Je mehr die Sprache ihre Zuständigkeit außerhalb des Schreibens als gesellschaftliches Medium einbüßt, desto mehr wird ihre Materialität als Schrift offenbart. Das «defizitäre Sprechen» und Verstummen im Schreiben lässt dabei verschiedene Deutungsmöglichkeiten zu, die «als Versuch, der Zerrissenheit, Uneindeutigkeit und dem Unerklärlichen» gerecht zu werden oder als Betonung des Abbildungsstatus von Sprache, «die quasi hinter dem Rücken des Sprachproduzenten»153 Wirklichkeit abbildet und die zerstörte, durchtrennte Verbindung zur Welt in einer ähnlich erscheinenden Syntax widerspiegelt, gelesen werden können. Das Zitat «vuelvo a reconstruirme como hacen los niños con sus juegos de piececitas de madera, recobrando la dulzura de jugar» (MM, 40) rückt die Ungebundenheit der Sprache in den Blick, die in einem spielerischen Akt erschafft und zerstört, ein Aspekt, der den Versuch darstellt, «den uneinholbaren Status von Wirklichkeit»154 durch eine poetische Konzeption des Lebens zu bannen. Die Melancholie des Werkes liegt nicht zuletzt in dem fortdauernden Prozess des Aufbauens und Wiederzerstörens, denn dieser zeigt an, dass die Sehnsucht nach der Wahrheit, «la pasión de la verdad» (MM, 7), und nach einem Ganzen das Selbstverständnis der Autorin prägt und León gleichermaßen im Text geradezu sinnlos vorantreibt und sich verausgaben lässt, ohne dass sich ihre Sehnsüchte stillen ließen. 4.2.2.2. La arboleda perdida: Der bewegte/bewegende Gesang der Nostalgie Estos días azules y este sol de la infancia (Letzter auf einen Papierschnipsel geschriebener Vers, der in der Anzugstasche von Antonio Machado nach seinem Tod gefunden wurde.)
Auf dem von Machado wohl kurz vor seinem Tod beschriebenen Papierschnipsel schreibt er nicht jene, sondern «diese» blauen Tage und «diese» Sonne der Kindheit und versucht beide ein letztes Mal der Vergangenheit zu entreißen und sie noch im Angesicht des Todes auf der Flucht aus Spanien auf Papier geschrieben aufscheinen zu lassen. Eine Kindheit, ein Leben, wird in diesem Satz auf einem Papierfetzen zusammengefasst und in der Lage sein, die diesen Satz Lesenden aufzurütteln, nachdenklich zu stimmen, ihn in Verbindung zu Machados letzten Tagen zu lesen, ihn schlicht und ergreifend weiter zu denken, zu bewegen. Wenn Machado zuvor Träger dieses Satzes war, den er zunächst in Gedanken und schließlich auch in seiner Jackentasche verwahrte, ist es doch ein Stückchen von ihm beschriebenes Papier, das ihn zum Träger eines Wissens über ihn, das
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Ebd., S. 435. Ebd., S. 436.
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ihn überlebte, werden ließ. Das Besungene wird zum Besingenden und zeigt die Macht des Wortes an, mit dem sich Schriftsteller und Dichter wie Alberti in ihre frühere Lebenswelt einzuschreiben und sie noch aus der Ferne zu besetzen wissen: Toda mi vida, puedo decir es sin exagerar, es una elegía. Casi todo el tono de mi poesía es elegíaco. He cantado tanto a Cádiz porque la perdí demasiado pronto. Yo soy el levante y el poniente a la vez. Más el levante, que mueve con furia, sacudiéndolas, las ropas de las azoteas, soy ese enfado suyo contra las sábanas, las blusas y las camisas. Me apasionan, y lo oigo, resonando con desesperación en mis oídos. Los cantaores gaditanos con sus coplas me estremecen desde mis ocho años. ¿Qué hacer? El Funeralísimo me condenó a vivir casi cuarenta años fuera de España. Y tuve que pensarla, que sentirla dentro y fuera de mí todo el tiempo. Quizás sea yo el exiliado que más ha escrito de España sin verla. Mi vida casi entera es un retorno. He vivido pensando en algo que metía y sacaba de dentro de mí ya transformado. (AP V, 26f)
Alberti erhebt die Elegie und mit ihr das Sehnen nach Spanien zu der seine Dichtung und sein Leben kennzeichnenden Form. Poesie und Leben werden in der Trauer und Klage zusammengeführt. In der Identifikation mit Teilen der verlorenen Lebenswelt (z.B. mit dem Levante) wird das erinnerte Ich zum Träger dessen, was es als Resonanz in sich aufgenommen und transformiert hat und was ihn überleben ließ und was durch ihn überlebte, denn die Elegie, die Trauer- und Klagedichtung, wird gleichzeitig, indem sie in ihrer Trauer an das Verlorene erinnert und es wachruft, zum Medium, durch das dieses Verlorene – in einer transformierten Form zwar – weitergetragen werden kann. Indem es eloquent betrauert wird, kann die Lücke, die es hinterlässt, wenn auch nicht geschlossen, so doch literarisch-poetisch durchschritten werden. Erst durch die Aufgabe werden der Kindheitsort und das dort den Dichter Prägende als solches wahrgenommen und können gerade auch im Kontext der Autobiographie als sinnstiftende Inhalte produktiv gemacht werden. Die Vertreibung aus dem kindlichen Paradies wird zum Motor der Identitätsarbeit, die Rafael Alberti im Malen und Schreiben ein Leben lang vorführt. Malerei und Schrift werden zu Medien, um seine Stimmungen und seine Stimme sichtbar und hörbar werden zu lassen, sie zu transformieren und darin zu kommunizieren. Indem er sie neu (um-)gestaltet und ihnen eine neue Form verleiht, schafft er ein sinnlich wahrnehmbares über das eigene Leben hinausreichendes Wissen. Das Abwesende wird zum Ausgangspunkt der Wortfülle und des Farbenspiels und vermittelt ein Wissen im Umgang mit dem Abwesenden, das im Schreiben und Malen zwar nicht eingeholt, aber doch anverwandelt werden kann. Das Geliebte und abhanden Gekommene wird wachgerufen, um dieses und die durch sie entstandenen Leerstellen ausgestalten zu können. Das Sehnen und die Trauer werden bei Alberti zur Produktivkraft. Farbenfroh und wortgewaltig, teilweise in tragisch-komischer Art, entfaltet er sein «verlorenes» Paradies. Den oben zitierten Ausschnitt lesen wir im dritten Kapitel des fünften Buches von La arboleda perdida. Der Dichter hohen Alters hat sein Ziel erreicht: die Rückkehr nach Spanien, die ihn fast ein ganzes Leben lang «bewegte». In seinem letzten Buch scheint er eine letzte Bilanz des von ihm Geschriebenen und Geleb139
ten zu ziehen. In einer Zeit, in der er nun von Preisen und Ehren überhäuft wird, bedient er sich ein letztes Mal der autobiographischen Schrift, nicht mehr um nur zurückzublicken, sondern vielmehr um seine Gegenwart zu reflektieren und zu dokumentieren, weshalb das Buch streckenweise den Charakter eines Tagebuchs annimmt. Nach der Rückkehr ist nicht mehr der nostalgische Rückblick auf die zurückgelassene Lebenswelt die ihn antreibende Kraft, sondern die Lust an den ihm verbleibenden Augenblicken. Die Nostalgie als sehnsuchtsvolles, rückgewandtes Schauen ist das transformierende Bindeglied, das Vergangenheit und Gegenwart zukunftsgerichtet verknüpft. Signifikant ist, dass die in diesem Zusammenhang vergossenen «reinen» Tränen in La arboleda perdida den Blick nicht etwa verschleiern, sondern zu einer Klarheit über das Schöne, Große und Tiefe des Lebens führen (AP II, 110).155 Mit der nostalgischen Rückschau wird – anders als man vielleicht annehmen könnte – bei Alberti nicht ein verklärendes, sondern klärendes Moment herausgestrichen, obgleich er im Schreiben der «Elegie» seines Lebens das Gelebte «in die Lüfte» hebt und literarisiert und ästhetisiert in einem neuen Glanz erstrahlen lässt. Die schmerzlichen Trennungen von den ihm vertrauten Räumen und Lebensformen durch Exil und drohendem Tod bedingen ein Leben und Schreiben zwischen den Welten und ein Wissen von der Unabgeschlossenheit, den Rissen und Brüchen von Leben, das sich immer auch entzieht. Im Schreiben begegnet Alberti diesen Herausforderungen des Lebens und stößt Türen in neue Erfahrungswelten auf, indem er sie in ästhetische Erfahrungen und Empfindungen übersetzt, auf die er als erinnerndes Ich zurückblickt. Anders als bei León wird bei Alberti keine Spaltung zu seinem früheren, erinnerten Ich deutlich. Autor, Erzähler und Protagonist bilden eine relativ stabile Einheit. Alberti fragt nicht wie León: «¿Será verdad que yo fui así?» (MM, 27). Diese oder ähnliche Zweifel scheinen der Dichtung vorbehalten zu sein. Sein autobiographisches Schreiben scheint einer Heilung und Harmonisierung des Erlebten und Erlittenen zu dienen, das in der Vergangenheit bereits weitestgehend durchlebt und damit auch gelöst wurde. Die Herausforderungen des Lebens erscheinen im Text zusammen mit den mehr oder weniger «gelungenen» Umgangsweisen mit diesen, die eine stete Entwicklung des jungen Albertis hin zum etablierten Dichter anzeigen. So führt die Konfrontation des Andalusiers mit der spanischen Hauptstadt im Mai 1917 zu einer Desillusionierung und Traurigkeit des erinnerten Ichs, aus denen Fluchtpläne erwachsen – die allerdings nur halbherzig durchgeführt werden und nicht zuletzt daran scheitern, dass niemand, den er in Madrid fragt, weiß, welche Wege in das dort völlig unbekannte El Puerto de Santa María führen –, mündet schließlich aber in eine kreative Produktivität und den Drang sich auszudrücken. Dem Widerstand gegen den neuen Heimatort und der «nostalgias marítimas y salineras» entspringt somit die Entscheidung, kein Abitur zu machen und Maler zu werden, denn mit den Farben glaubt sich der Jugendliche von den «oscuras melancolías» (AP II, 113) befreien zu können. Dabei werden auch die Türen zu einer ihm
155
Vgl. hierzu auch Abschnitt 3.1.1. der vorliegenden Studie.
140
neuen Erfahrungswelt aufgestoßen, denn das erinnerte Ich entdeckt in jener Zeit die ihn emotional und sinnlich herausfordernde Welt der Erotik, die sich ihm in den Venusdarstellungen Rubens der Gemälde des Prados offenbart (AP II, 113f.) und die man ihm nicht zuletzt in El Puerto de Santa María immer bestrebt war zu verwehren. Vor allem das Malen in der Natur, draußen unter freiem Himmel, das er dem späteren Eingeschlossensein beim Arbeiten mit der Schreibmaschine entgegenstellt, erfüllt ihn mit Freude, treibt ihn selbst in der Nacht an und eröffnet ihm neue Wahrnehmungsmöglichkeiten der ihn umgebenden Realität: Después de recorrer varias calles y plazas de mi barrio, vine a elegir la Puerta de Alcalá, cuyos arcos en sombra hacían aún más rutilante el azul de la luna contra sus piedras de granito. (AP II, 127)
Diese nächtliche, unschuldige Erfahrung wird von dem Vater bestraft, der annimmt, dass «la ocasión del pecado sólo puede presentarse envuelta en las profundas oscuridades de la noche» (AP II, 127) und führt zu einem Machtkampf zwischen Vater und Sohn. Doch die Möglichkeit, mit Punkten und Strichen die Illusion der mit offenen Augen wahrgenommenen Landschaft zu schaffen, die er dann als Bild mit nach Hause nehmen kann, begeistert ihn (AP II, 126) und er setzt seine täglichen und nächtlichen Exkursionen fort. Als er El Puerto de Santa María mit seinem Bruder endlich besuchen darf (AP II, 128f.), ist er enttäuscht: [...] porque en todo lo que no era aire, el sol, el mar, el río, las casas, los pinares, había caído como un polvo amarillo que lo bañaba de una melancolía de flor a punto de doblarse. ( AP II, 129)
Mit diesem Besuch und der anschließenden Rückkehr nach Madrid bleibt jedoch die ihn ein Leben lang antreibende Sehnsucht nach El Puerto de Santa María, die ihn sich immer wieder nach der Freiheit seiner Kindheit sehnen lässt, ungebrochen: Lo que al regresar a Madrid sentí de nuevo por El Puerto fue la aguda nostalgia de sus blancos y azules, de sus arenas amarillas pobladas de castillos, de mi infancia felíz llena de trasatlánticos y veleras al viento relampagueante de la bahía (AP II, 130).
Diesem ersten «Sehnsuchtsort» werden weitere folgen, etwa dann, wenn er später in der Erinnerung zu den madrilenischen Jahren zurückkehrt, die noch nicht vom späteren Hass der Bürgerkriegsjahre durchdrungen sind und noch fern der «ríos de sangre» sind, die vom 18. Juli 1936 an durch ganz Europa flossen und denen die reichen fruchtbaren Flüsse Amerikas gegenübergestellt werden. Die mit diesen Orten verbundene Stimmung der Nostalgie führt jedoch nicht zu einer Infragestellung oder Spaltung des Subjekts selbst, sondern mündet vielmehr in Strategien die Trennung zwischen dem Ich und seiner Welt im Schreiben ästhetisch zu überwinden.156 Die Stimme des erinnernden Ichs, deren Ursprünge in La arboleda perdida vorgeführt werden, ist eine ausgebildete, sichere Stimme
156
Vgl. hierzu auch Abschnitt 3.1.1.
141
und in dieser Hinsicht bestimmter als die Leóns. Allerdings inszeniert Alberti eine Vielzahl früherer Dialoge, die eine rein monologische Redesituation verhindern und immer wieder fremde Stimmen (auch in Form von Gedichten und Briefen) im Text hörbar werden lassen. Anders als bei León, die meist Dialogfragmente in ihren Text einstreut, wählt Alberti eine umfassendere Darstellung der Dialoge. Eine an ein «du» gerichtete Rede, wie die Leóns zu ihrer Mutter, ist bei Alberti hingegen selten. Ein Beispiel hierfür wären die an seinen Onkel Tommaso erscheinenden Worte im ersten Buch (AP I, 101) und schließlich die an seinen Vater gerichteten im vierten Buch, die sich wie ein Pendant zu den Ausführungen Leóns an ihre Mutter lesen und eine vergleichbare, wenn auch weit weniger umfassende Redesituation darstellen (AP IV, 429–434). Im vierten Buch, das Spuren der von León entwickelten autobiographischen Schreibweise trägt, werden schließlich auch Verunsicherungen des erinnernden Ichs artikuliert (AP IV, 396), die von einer Alberti in der Gegenwart herausfordernden Phase zeugen und ihn nun ähnliche Aussagen wie die Leóns zu Beginn ihrer Autobiographie machen lassen, die auch von der Unberechenbarkeit des ihn in Träumen und Gedanken Heimsuchenden zeugen (AP IV, 436) und seine nach Memoria de la melancolía erschienenen Bücher auch ästhetisch eine Verbindung zu ihrem Text eingehen lassen. Der erste Abschied von seinem Heimatort ist der Auftakt der in allen erdenklichen Variationen gesungenen Elegien des Dichters, die in La arboleda perdida ihre tiefen Spuren hinterlassen. Gleichzeitig erfährt sein Leben eine Dynamisierung, die ihn fortan auch (ästhetisch) vorantreibt. Das im Innern in Aufruhr gebrachte erinnerte Ich über-setzt seine neu erwachenden Begehren und Unruhen in die physische Tätigkeit des Gehens und in die Suche nach sprachlichen und künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten. Die ersten frühen ästhetischen Erfahrungen, die ihn angesichts der nackten antiken Frauengestalten erröten lassen und antreiben, die weite Entfernung von der Lagasca Straße zum Prado zu Fuß zurückzulegen, sind nur der Beginn der ihn ein Leben lang vorwärtstreibenden (sprachlichen) Bewegung. Das Gehen, für das er in jenen Jahren eine tiefe Leidenschaft entwickelt, bringt ihn schließlich «[...] a cualquier parte del mundo» (AP II, 119) und lässt ihn – in Bewegung seiend – auch schreibend verschiedene Räume durchwandern.
4.3.
Bewegungs(t)räume Ebben? Ne andrò lontana. (Alfredo Catalani, La Wally)
Rosa-Fría, patinadora de la luna, die Geschichte von dem Mädchen Rosa-Fría und der kleinen blauen Kuh mit zwei roten Flecken und kleinen goldenen Hörnern ist vielleicht eines der zauberhaftesten literarischen Erzeugnisse, das aus der Zusammenarbeit Leóns und Albertis entstanden ist. Chagalls Leidenschaft für dieses Tier stand Pate, das sich hier in ein buntes Wesen des Universums verwandelte. Das Mädchen Rosa-Fría ist vor allen Dingen aber eines: «patinadora de primera 142
categoría, vencedora de todas las velocidades.»157 Mit diesem schnellen Wandeln, Gleiten und Schlittern, mit den Bewegungen durch die verschiedensten Räume, nähert sich die Studie einer weiteren Dimension des Leben Formens dieses Paares. Bewegte und bewegende Leben wurden von León und Alberti bis zu ihren Lebensenden geführt, die sie vielleicht nicht wie Rosa-Fría zum Mond, aber doch in entfernte und fremde Regionen führten und sichtbare (sprachliche) Spuren in ihren Texten hinterließen.158 Durch die Bewegung werden in jener Zeit Distanzen überwunden und Räume verbunden und damit nicht zuletzt die Voraussetzungen für die raumübergreifende Vermittlung und Zirkulation von Wissen geschaffen. Was heute das Internet leistet, ist dort der wandelnde Dichter und die Schriftstellerin, die mit dem in ihnen gespeicherten Wissen Ozeane überquerten. Ohne mentale und physische Bewegungen ist dies nicht zu leisten. Im Folgenden soll danach gefragt werden, welche Bewegungen im TextRaum erkennbar sind und auf welche Weise diese Bewegungen die Autobiographien beider Autoren formen. Es werden also Bewegungen im Text und des Textes untersucht. In Women, Autobiography, Theory. A Reader wird unter anderem das Verhältnis von Subjekt und Transition betrachtet und gefragt, wie unterschiedliche Weisen von Mobilität, wie etwa Vertreibung, Migration und Exile, die Praxis der Selbstdarstellung beeinflussen und welches der persönlich zu zahlende Preis eines heimischen oder heimatlosen Autobiographen ist.159 Daran anknüpfend wird die Frage nach der Mediation und Verhandlung von fremden Sprachen, Verhaltensweisen, Kulturen und Geschichten gestellt und schließlich auch inwieweit die Auseinandersetzung mit Fragen der Mobilität die Aufmerksamkeit auf Grenzen und Grenzüberschreitungen zwischen Orten, Räumen und Identitäten mitprägt.160 Diese Fragen werden mit dem oben Ausgeführten verbunden und für meine Analyse aufgegriffen, um am Beipiel von Bewegungsformen Exil in seiner transnationalen und transkulturellen Dimension in den Autobiographien zu betrachten. Die Bewegung als die (literarisiertes) Leben formende Kraft, die dynamisiert, ist dabei ohne die Momente des Stillstandes kaum zu denken, die im Verlauf des Durchschreitens von Ländern und Kulturen die Subjekte in Bewegung heimsuchen. Das Zurücklassen der Heimat und das Leben im Exil sind ohne Zweifel Schlüsselerfahrungen, die in beiden Texten mit all ihren Facetten ihre Ausgestaltung erfahren und zu entscheidenden Bezugsgrößen des Schreibens werden. Das Leben und Schreiben zwischen zwei Welten geht einher mit einem mobilen
157 158
159 160
María Teresa León: Rosa-Fría, patinadora de la luna. Madrid: Espasa Calpe 1934, S. 8. Zu erwähnen wäre etwa das von beiden gestaltete Buch Sonríe China, in dem sie in Form von Dichtung, Bild und Text die Eindrücke ihrer Reise nach China festhielten. María Teresa León und Rafael Alberti: Sonríe China. Buenos Aires: Jacobo Muchnik 1958. Sidonie Smith und Julia Watson (Hgg.): Women, Autobiography, Theory. A Reader. Madison: The University of Wisconsin Press 1998, S. 39 Ebd.
143
Leben und Schreiben zwischen unzähligen Lebens- und Erlebnisräumen, die in Beziehung gesetzt werden. Heimat und Exil lassen sich bei León und Alberti in viele geographische Räume auffächern, zwischen und in denen im Leben unzählige Bewegungen stattfanden. Im Text hinterlassen diese ihre Spuren und werden literarisch ausgestaltet. Letzteres ermöglicht ein Netz von Verbindungslinien, mittels dessen Räume ausbuchstabiert und im und in Schreiben übersetzt werden, die es dem Lesenden ermöglichen, sich ein Sichbefinden des autobiographischen Subjekts in der im Text entworfenen Welt zu vergegenwärtigen. Die Choreographie der (sprachlichen) Bewegung liefert uns dabei den Schlüssel zum Betrachten des sich vor unseren Augen entfaltenden (sprachlichen) Weltzugangs. 4.3.1.
Leben(s)formen: Heimat und Exil
4.3.1.1. La arboleda perdida: Leben(s)formen im Transit. Überquerungen und Überblendungen In La arboleda perdida entwickelte sich der Text entlang einer großen extratextuellen Bewegung mit klaren Stationen, die von dem Heimatort Albertis El Puerto de Santa María nach Madrid über Paris ins Exil nach Argentinien und Italien wieder zurück nach Spanien führt und am ehesten als Kreis beschrieben werden kann. Von den einzelnen Stationen aus werden zahlreiche Reisen unternommen, die auch mit der Rückkehr nach Spanien und El Puerto de Santa María nicht abbrechen.161 Die zeitlich und räumlich ausgedehnte Bewegung kommt im Text in zweifacher Hinsicht zur Darstellung: in den kursivgedruckten Reflexionen über die Gegenwart des Schreibens und in der Darstellung des Erinnerten. Dabei kommt es zu Überschneidungen, denn die in den knappen Reflexionen dokumentierten aktuellen Ereignisse der ersten Bücher werden in den späteren Büchern in die rückschauende Erzählung integriert und somit nach und nach eingeholt und in die Darstellung des Erinnerten überführt. In den Momenten des Übergangs von Spanien nach Frankreich ins Exil entwirft Alberti seinen früheren Lebensraum El Puerto de Santa María, der durch den verlorenen Hain, dem Colegio San Luis Gonzaga, das Elternhaus und den Strand mit seinen Dünen und vor allem durch das Meer definiert wird und mit dem Umzug der Familie nach Madrid aufgegeben werden muss. Während der Leser von den ersten Seiten an in Albertis kleines andalusisches Paradies eingeführt wird, sind es die Schlusskapitel dieses ersten Buches, die entscheidende Bewegungen im Leben des Dichters zusammenführen: die erinnerte Abfahrt mit einem Zug aus El Puerto de Santa María und der in der Gegenwart des Schreibens der Flucht mit einem Flugzeug nach Frankreich folgende Übergang mit dem Schiff nach Amerika ins Exil.
161
Neira: Rafael Alberti en prosa, S. 98.
144
«Nuevo e impuesto alto, forzado, en esta Arboleda perdida, cada vez más perdida. Más lejana y más próxima de mi infancia andaluza» (AP I, 80) wird der geographisch in weite Ferne gerückte Sehnsuchtsort innerlich fester angezurrt. Frankreich wird zurückgelassen und mit den Worten Rimbauds «Je quitte l’Europe» der Abschied von Europa verkündet, um dann sogleich die Differenz zwischen beiden Dichtern zu formulieren, denn Alberti verlässt Europa nicht [...] para vender caballos y recorrer febriles desiertos. Abandono Europa, mi Europa, para cumplir con mi destino de español errante, de emigrado romero de la esperanza por tierras de América. (AP I, 81)
Sein Europa muss er verlassen, da es ihm keine Überlebensmöglichkeit mehr bietet. Die lange und beschwerliche Überquerung des Atlantiks mit der Mendoza, die von dem algerischen Oran162 aus entlang der «oscura presencia de la tierra nativa» und nächtlichen Visionen von dem früheren Lebensraum El Puerto de Santa María nach Amerika führt, rettet sein Leben (AP I, 81) und entzieht ihm sogleich einen Lebensbestandteil, denn auf dieser Reise «por primera vez sentía a Europa perdérseme en la sangre» (AP I, 83). Diesen einführenden Bemerkungen im Kursivtext folgen im weiteren Text die traurigen Ausführungen über seine erste unschuldige Liebe und einen von ihm verfassten und von den Lehrern entdeckten Liebesbrief, der zum Verweis von der Schule führte, dem wenig später der Umzug nach Madrid folgte. Beides, die gegenwärtige Liebe zu seinem Heimatland und die vergangene zu einer Frau führen zum Ausschluss aus einer Gemeinschaft mit weitreichenden Folgen, weil sie als unangemessen gewertet werden. Die «romantischen» Bewegungen gehen mit den von außen aufoktroyierten einher. Das erste Buch endet schließlich mit dem Besteigen des Zuges, der sich in Bewegung setzt und entlang des Guadalete, dem Fluss des Vergessens, aus El Puerto de Santa María hinausführt. Der Rhythmus des Zuges wird vom erinnerten Ich mit dem Wiederholen der Worte «las naranjas» begleitet, die in eine Aposiopese münden, von der man noch nicht weiß, ob sie auf ein Verstummen und/oder auf eine Fortführung verweisen. So endet das erste Buch und damit der Versuch, wie Alberti es zuvor formuliert, die Schmerzen Spaniens und seine zerbrochenen Erinnerungen zu ordnen (AP I, 83). Das zweite Buch beginnt mit der Perspektive des im Exil angekommenen und sich dort bereits weitgehend integrierten erinnernden Dichters und schließt an das mit einer Aposiopese endende erste Buch mit eben einer solchen Auslassung an, um mit der Ankunft in Madrid seine Geschichte weiterzuerzählen: «…Y me veo, todavía en los ojos mal dormidos el deslumbra fugaz de la Giralda sevillana, en la plaza de Atocha, de Madrid» (AP II, 110). Mit drei Punkten werden so Räume von El Puerto de Santa María nach Madrid und von Frankreich nach Argentinien überbrückt und an das zuvor Erzählte nach vielen Jahren angeknüpft.
162
Camus wird wenige Jahre später Oran als Schauplatz für seinen Roman Die Pest wählen.
145
Mit dem verschlafenen Blick, der bei der Ankunft in Madrid noch die Giralda Sevillas spiegelt, wird auf eine am Ende des ersten Buches nicht mehr erzählte Zwischenstation verwiesen und mit dem erzählten Moment des Erwachens des erinnerten Ichs eine Unmittelbarkeit erzeugt, die auch an das physische Erleben des erinnerten Ichs anschließt. Der dem erinnerten Ich noch in den Blick eingeschriebene Ort scheint die Sicht für die es umgebende Wirklichkeit zunächst zu verstellen. Zu vermerken wäre jedoch der diesem Satz unmittelbar vorangehende letzte des Kursivtextes: Salgo de mis presentes cincuenta y un años y, atravesando tantos de horrores y desdichas, vuelo hacia aquellos otros en que la gracia, la alegría, la transparente fe y el entusiasmo apenas si corrieron empañados por esas puras lágrimas primeras que en lugar de verlanos nos aclaran aún más lo bello, grande y hondo de la vida. (AP II, 110)
Im zweiten Buch entwickelt sich parallel zu der – wie man es nennen könnte – Etablierung des Dichters im Exil, von der wir im Text jedoch wenig mehr als Aufenthaltsorte erfahren, das erinnerte Ich zu einem Flaneur. Als Poeta en la calle emanzipiert sich der junge Dichter und anverwandelt sich den Raum der Großstadt, der ihm bei seiner Ankunft noch fremd erscheint und seine Sehnsucht nach dem kleinen El Puerto de Santa María nährt, und die es umgebende Kultur. Obgleich das Erlaufen der Stadt immer wieder von Ohnmachtsanfällen und einer Schwächung des Körpers wegen einer sich ankündigenden Erkrankung der Lunge unterbrochen wird, bleibt es zusammen mit der Malerei und dann der Lektüre die Leidenschaft des Jugendlichen, und die Straße, mehr noch als die geliebten Räume des Prados, die er Gedichte rezitierend auf und ab läuft, wird zu seiner Lehrmeisterin: La calle, ya más que los museos, era mi escuela. Cuando no repetía hasta el infinito escenas de albañiles tumbados o comiendo bajo los árboles, cuando no dibujaba carretas descargando maderas y ladrillos ante las construcciones, paseaba observando la ciudad o recitando versos en las tardes primaverales con mis amigos Gil Cala y Espinosa. (AP II, 142)
Die unzähligen Spaziergänge, bei denen das erinnerte Ich den für es wichtigen Menschen begegnet, stehen den Momenten aufoktroyierter Ruhe gegenüber, die vor allem aufgrund von Krankheiten notwendig werden. Der Wechsel von Bewegung und Stillstand, wobei die Phasen der Ruhe jedes Mal die Kreativität besonders voranbringen, wird begleitet von dem Wandern von Haus zu Haus in der neuen Heimat Argentinien, wo Alberti den Großteil seiner Dichtung verfasste. Der werdende Dichter der Straße und der sich etablierende Dichter im argentinischen Exil, der später von Spanien aus in die Vergangenheit gleitet und zum erinnerten Ich wird, gehen Hand in Hand. Die kontinuierlichen Unterbrechungen, die das Schreiben der Autobiographie im Exil erfährt, drücken zum einen die Bewegtheit dieses Lebens und seine Unbeständigkeit aus, zum anderen aber auch eine Langsamkeit, vielleicht gar ein zunehmendes Widerstreben gegen das Verfassen des Prosatextes. So heißt es an einer Stelle im zweiten Buch: 146
Qué lentitud la mía! Tanto o más que un poema me cuesta una simple página en prosa. Todo me sale demasiado rítmico. Batallo porque no sea así. Corrijo, deformo una frase para que no haga verso. La leo atentamente. Y entonces no me gusta. ¿Qué hacer? Seguiré esta Arboleda como hasta ahora. Me perdono el delito de perderme en sus ramas, dejando el mismo soplo musical, métrico, saltarín, que las viene moviendo desde el primer capítulo. (AP II, 215)
In Italien wird es still und erst nach der Rückkehr nach Spanien werden die letzten Bände von La arboleda perdida entstehen. Im römischen Exil ist Albertis dichterische und malerische Produktivität hingegen hoch. Während sich die Dichtung ganz in den Dienst des Augenblicks stellt und gerade auch in und aus der Bewegung entspringt, erfordert die Prosa von La arboleda perdida Zurückhaltung und die Dichtung schleicht sich nicht nur in Form von Gedichtzitaten immer wieder in den Text, der sie reflektiert, ein und «stört» den Fluss des autobiographischen Schreibens. Die Sprache der Dichtung verlässt ihren angestammten Ort und wirkt auf den Text ein. Die Genres und Künste überschneiden sich und sind bei Alberti im Allgemeinen manchmal schwer zu trennen, wie das Beispiel seiner liricografías und das von ihm gemalte Alphabet zeigen.163 Alberti bemerkt im Kontext der Erinnerung an die italienischen Jahre seines Exils: Yo, desde muy chico, me sentí subyugado por las letras sueltas del alfabeto, por el abecedario, y luego, por la palabra escrita, pero no por su sonido, y su significado, sino por su grafía, por la representación visual de las letras que componen cada palabra. (AP III, 219)
Im Alter kehrt Alberti zu dieser materiellen Grundlage seines Schreibens und dann auch Malens zurück, die sich ihm in ihrer Klangfarbe zeigt: Me había vuelto la obsesión de las letras. Desde hacía tiempo sentía como si me atacasen enceguecidas en la noche, cercándome durante el día, tomándome realmente los ojos al asalto, arrancándome el sueño y arrojándomelo violentamente de la luz a la sombra, de la sombra a la luz, en un claroscuro constante. Yo sabía que Rimbaud le había dado color a las cinco vocales. Pero a mí cada letra – todo el alfabeto – se me exaltaba en un color, se me hacía visible, hasta casi poder tocarlo, su sonido. (AP III, 223)
Im zweiten Buch beschreibt Alberti die Lektüre gerade veränderter Sätze der Autobiographie. Er liest sie noch einmal. Sie gefallen ihm nicht und er fragt, was zu tun sei. Dann fährt er fort wie bisher und verzeiht sich das Vergehen, sich im Schreiben von La arboleda perdida in seinen (poetischen) Ästen zu verlieren und dieselben musikalischen Seufzer, dieselbe Metrik zu hinterlassen, die ihn seit dem ersten Kapitel vorantreiben. Im dritten Buch wird deutlich, dass sich Alberti in seiner malerischen Dichtung der 60er und 70er Jahre zunehmend der Vermischung von Genres und von Wort und Bild hingibt, ja sie zum stilprägenden
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Die gemalten Buchstaben des Alphabets, El lirismo del alfabeto, fertigte Alberti 1969 an. Die Schriftbilder wurden in der Ausstellung La palabra y el signo der Galerie Rondanini in Rom gezeigt und sind heute auch in der Fundación Rafael Alberti zu sehen. Vgl. hierzu Rafael Alberti. Un siglo de creación viva, S. 145.
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Prinzip erklärt. Die Langsamkeit, die im zweiten Buch hinsichtlich des autobiographischen Schreibens formuliert wurde, mündet zum Ende des vierten Buches in ein Stolpern: «Pienso que me comienza a fallar el idioma... .» (AP IV, 416) zusammen mit der Feststellung: «Yo soy un poeta de aire libre, que vive ahora de cuando en cuando demasiado prisionero en su propio torre.» Das Erzählte scheint sprunghaft von einem zum andern zu führen. Es ist kaum möglich den vielfältigen Denkbewegungen Albertis zu folgen. Die Texte gleiten von Versen zur Prosa, zu Namen, Titeln, Verweisen, Dialogen in Anführungszeichen oder ohne diese, zu Worten. Und diese scheinen der zitierten Aussage Ramón Menéndez Pidals – der bereits im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts «sinsombrerista» (AP IV, 419) war – zu folgen, der sagte: «Si tú lo escribes así es que se puede escribir de ese modo» (AP IV, 419). Die Sprache ist in Bewegung, kann nicht fest-geschrieben werden. Lieber wird der Eintritt in die ehrwürdige Real Academia de la Lengua, in Anbetracht der Möglichkeit, eine andere Syntax zu erfinden, abgelehnt (AP IV, 417). Die Sprache Albertis ist auf Reisen und auch auf dem Sprung und sein autobiographisches Schreiben übertritt immer wieder die Grenzen hin zur Poesie, wird poetisiert und lässt damit mehr und mehr etwa den chronologisch-logischen Aufbau seiner frühen Bücher von La arboleda perdida hinter sich.164 Das vierte Buch endet schließlich mit der Erzählung eines Unfalls, den Alberti in Madrid hatte. Nach langem Stillgestelltsein, beginnt das erzählende Ich, «el viaje alrededor de una mesa», die ihn in Gedanken an den Beginn des ersten Buches führt und damit zurück nach El Puerto de Santa María, das ihm bereits in den dunklen Pariser Nächten die Tür hin zu Imagination und Erscheinungen war. Wo ihm das Reisen und die Bewegung selbst verwehrt bleiben, kann er seinen bereits hinterlassenen Spuren im Schreiben nochmals erinnernd folgen. Die unzähligen Reisen, die Alberti während seines Lebens unternahm und in La arboleda perdida reflektiert, implizieren dabei insbesondere eines: immer neue Begegnungen und Kontakte mit fremden Kulturen. Das Verhältnis von Begegnung und Reise beschreibt Alberti in einem Artikel von 1936, den er nach seiner Reise in die Amerikas in El Sol veröffentlichte, wie folgt: Todo encuentro supone un viaje. Todo viaje, aun para la persona menos atenta, lleva dentro un relato, una crítica, una visión más o menos certera, más o menos completa y exacta de las cosas. Yo vuelvo ahora de un viaje, de un caminar, navegar y volar durante ocho meses por los países del mar Caribe. Así que yo traigo mi visión, mi opinión, mi comprensión, equivocada o justa, de esta parte de América.165
Mit seinen Reisebewegungen, die mit unterschiedlichen Formen des Reisens einhergehen, bildet der Reisende seine spezifische Sicht des Erfahrenen aus, die sich zu einem «Reisebericht» zusammenfügen. Andere, frühere Reisen(de) hinterlassen dabei ihre Spuren, denen die eigenen (physischen und psychischen) Bewegungen
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Vgl. hierzu Torres Nebrera: La arboleda perdida, S. 561. Siehe hierzu Rafael Alberti: Encuentro en la nueva España con Bernal Días del Castillo. In: Rafael Alberti: Prosas encontradas. Barcelona: Seix Barral 2000, S. 178–197, S. 178.
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folgen oder an denen sie sich reiben. So begleiten Alberti die Betrachtungen Bernal Díaz del Castillos, die er ausführlich reflektiert und die ihm als Führung bei seinem «Abenteuer» dienen, denn eines ist und will er nicht sein: «Yo no era un español de la conquista. Yo iba a ser en seguida un español conquistado, pero por la propia aventura – toda aventura es lucha –, de los países que visitaba.»166 Beidseitig sind die Prägungen, die durch die Begegnungen von Menschen und Kulturen entstehen und die im Falle des Mexikoaufenthaltes auch eine mit jenem vierhundert Jahre zuvor gereisten Spanier ist, dessen Spuren Alberti hier aufnimmt. Über die Literatur wird der erste Kontakt hergestellt, durch ihre Rückbindung an eine konkrete Erfahrungswirklichkeit werden der VorLäufer Albertis, dessen Wissen und das damalige Mexiko verlebendigt: El México de Bernal Díaz del Castillo aún está vivo, como él; pero, naturalmente, dentro de un México de hoy. Por eso mi encuentro con Bernal no es el tropiezo con un muerto, ni siquiera con un resucitado. Es más el encuentro con la realidad viva, palpable y en movimiento. Y como para un español, para un poeta sobre todo, le era imposible moverse solo en esta difícil realidad mexicana, tuve la suerte de encontrarme con él, y acompañado ya de él recorrer parte de estas tierras.167
Der 1936 verfasste Text wird zu einem späteren Zeitpunkt als Grundlage für die Kapitel des dritten Buches von La arboleda perdida verwendet werden, die dieser Reise gewidmet sind. In beiden Fällen dient der Text Bernal Díaz del Castillos dazu, einen Dialog mit dem ehemals Reisenden zu initiieren, der angesichts einer Bronzestatue des bekannten Helden Guatemoc und ausgehend eines Verses Rubén Daríos berühmter Oda a Roosevelt (1904) eröffnet wird: La América en que dijo el noble Guatemoc: yo no estoy en un lecho de rosas... En aquel momento Bernal Díaz del Castillo se acercó a nosotros, respondíendonos: «Guatemuz era de muy gentil disposición, ansí de cuerpo como facciones. [...]». (AP III, 63; Hervorhebungen hinzugefügt)
Alberti zitiert Bernal Díaz del Castillo und lässt diesen über seinen Text zu den Lesenden von La arboleda perdida sprechen, um sich und León entsprechend ideologisch zu verorten, denn: De asombro en asombro, como todos los españoles que fuimos llegando a este país, recorrimos el valle de México, pero sin levantar la cruz y mucho menos la espada. Dos escritores, pacíficos – no dos odiados, por aún colonialistas, gachupines –, dispuestos a que los mexicanos ayudasen a unos cuantos miles de mineros sublevados y encarcelados en Asturias por el gobierno de Gil Robles. (AP III, 64)
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Ebd. Ebd.
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Die intertextuellen Bezüge werden zu Begegnungen mit den längst Verstorbenen und dienen einer besonderen Form der Wissensvermittlung, die als Dialog über die Zeiten und Räume hinweg stattfindet und vergangene und gegenwärtige Ereignisse miteinander verbindet. Kraft der Erinnerung und der Imagination bereits vergangener Geschehnisse wird zwischen Welten, die sich zum Großteil der Begehbarkeit entziehen, vermittelt – worauf noch näher eingegangen wird – und vergangene Bewegungserfahrungen gespeichert, über die sich aktuelle Momente des Verharrens und Stillstehens legen. Nach und nach werden dem neu wachsenden Hain – der, weil ihm die Erde entrissen wurde, in die Lüfte geschrieben wird – verschiedene Bewegungen eingeschrieben, die La arboleda perdida – selbst in Bewegung geraten – vor- und die verschiedenen besuchten und erträumten Orte zusammenführt. So ist das Meer im ersten Buch von La arboleda perdida Ort der Freiheit, an dem in der Vergangenheit Nacktheit und Begehren gelebt wurden. Später wird es zum Zwischenraum, der frühere und gegenwärtige Lebenswelten zu verbinden vermag, und es sind die Strände Südamerikas, die ihm nun das Meer von zu Hause bringen. Umgekehrt erinnert der Himmel über Madrid mit seinen Sternenbildern Alberti an die amerikanischen Nächte und die dort verlebten Jahre: Cuando, desde el balcón al Guadarrama en que estoy, miro al cielo buscando la Osa Mayor, que se va abriendo, tendida sobre los montes, me emerge, de un agujero negro la Vía Láctea, la geometría perfecta de la Cruz del Sur, recuerdo que mi vida corrió, hace ya muchos años, bajo la noche austral de América, lejos, muy lejos de los cielos españoles, que puedo ahora contemplar más tranquilo. (AP III, 163)
Die Sehnsucht, die sich in der Erinnerung des Verlorenen einstellt, lässt Rafael Alberti reale und imaginäre Bäume versetzen und im Schreiben einen ganz eigenen persönlichen «Sehnsuchtsort» erschaffen, an dem Verlorenes und Gefundenes, Vergangenes und Gegenwärtiges gleichzeitig zu existieren vermag: Dies ist der Raum der Autobiographie, der aus dem Spannungsfeld von Heimat und Exil geboren wird und wo « [...] lo perdido y lo hallado, el pasado y el presente coexistirán con la potencia del mito.»168 Es vollzieht sich eine besondere Form der Lebensraumdopplung, die der Nostalgie und der mit ihr verbundenen LebensDopplung entspringt: Die fast mythische (Re-)Konstruktion des verlorenen Hains im Text erhält ihr Gegenstück in dem neugebauten Haus in Castelar, das den Namen «La arboleda perdida» trägt. Das erbaute Haus ist die an einem anderen Ort versuchte Auffüllung der Leerstelle und stellt einen Übergang zwischen Realität und Fiktion dar.169 Zudem pflanzt Alberti japanische Bäume, die in Castelar die europäische Jahreszeit anzeigen: Mittels japanischer Bäume wird somit die heimatliche, europäische Jahreszeit in die amerikanische integriert. Eine für den Dichter, der stets bemüht ist, die Kulturen, die ihn prägten und beeindruckten, auf kreative Weise zusammenzuführen, symbolträchtige Unternehmung:
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Emilia de Zuleta: Españoles en la Argentina: El exilio literario de 1936. Buenos Aires: Atril 1999, S. 105. Urraca: Autobiography completes no pictures, S. 56.
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Cuando vivía desterrado en el hemisferio austral, tenía cambiadas las estaciones. En mi pequeña casa de madera – que llamé La arboleda perdida –, en los bosques de Castelar, sentía que el 21 de marzo entraba el otoño, el mismo día que aquí señalaba el inicio de la primavera. Y yo podía pensar, con el poema de Rubén Darío – ‹Primavera en otoño› –, que mi juventud – ‹divino tesoro› – se había marchado ya para siempre pero aún seguía viviendo en mí gracias a esas dos estaciones reales, una lejos y otra presente, que estaban en mi vida. (AP III, 165)
In La arboleda perdida findet eine Vermittlung und Transformation von Räumen und Zeiten statt, indem Verlorenes (wieder-)hergestellt und symbolisch in den neuen Lebensraum übertragen wird und nicht zuletzt ein neuer (mythischer) Raum entsteht, in dem «[l]a arboleda del Cádiz de su infancia y la arboleda de su casa de Castelar, se superponen y se integran en un ejercicio dinámico, fragmentario, que dura décadas pero que compone en su conjunto, un mito personal que confirma la identidad del yo.»170 Der literarische Raum, wie er entlang der Autobiographie konstruiert wird, dient demnach auch und vor allem dazu, zwei Lebenswelten – eine vergangene und gegenwärtige – zu verbinden und auch entfernte Lebensräume in die aktuellen zu integrieren.171 4.3.1.2. Memoria de la melancolía: Lost in Translation. Wandeln im TextRaum. Heimat(losigkeit) oder die (Un)Möglichkeit in der Sprache zu wohnen No sé si podemos elegir sitio para morir. Lo que decididamente no elegimos en nuestro complicado mundo de fronteras y pasaportes es donde vivir. (María Teresa León, Memoria de la melancolía)
León verfasst ihre Autobiographie im Exil. Nirgendwo ganz zu Hause, ist ein Ort, an dem sie ganzheitlich sein könnte, nicht zu finden. Das ehemals vertraute Spanien entfremdet sich mit der Zeit und der Ruf nach einem Heimatland wird lauter:
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Ebd., S. 106. Ein Phänomen, das sich besonders in der Dichtung Albertis aufzeigen lässt: «Del mismo modo, en sus Poemas de Punta del Este, ‹estos› pinos uruguayos son ‹aquellos› pinares del Guadarrama. Y dos libros suyos, Retornos de lo vivo lejano y Baladas y canciones del Paraná, se construyen, en buena parte, mediante superposiciones espaciales de variable profundidad temporal: sobre este espacio presente se proyectan otros, ausentes, próximos o cada vez más alejados, los de la adolescencia, la infancia, el pasado histórico. […] Y a la hora de evocar su Cádiz natal, el poeta la proyecta sobre un fondo mitológico en su poema Oda marítima. Esta recuperación de espacios, de paisajes, de lugares, de figuras, de objetos, es una actividad constante que abarca todo el universo literario del exilio. Mientras en el extremo sur lo hacen Alberti, María Teresa León, Arturo Serrano-Plaja, Luis Seoane, Lorenzo Vareta, José Otero Espasandín, entre otros, en el norte Juan Ramón Jiménez construye su gran poema Espacio donde el punto de apoyo en el presente se va achicando mientras se agranda y se impone aquí lo que estaba lejos: Moguer, Sevilla, y no Miami, Coral Gables, La Florida.» Ebd., S. 140ff.
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Una patria, Señor, una patria pequeña como un patio o como una grieta en un muro muy sólido. Una patria para reemplazar a la que me arrancaron del alma de un solo tirón. (MM, 17)
Parallel hierzu findet eine Inkorporation von Orten und Menschen im Schreiben statt: Im Prozess des Schreibens, in der Schreibbewegung, werden Orte anverwandelt, gar einverleibt und in den Text überführt. So wird im Kontext der Exilerfahrung die eigentlich strikte Grenze zwischen dem Selbst und dem Anderen errichtet, Eigen- und Fremdwelt verschränkt und ein Prozess der Auseinandersetzung mit dem Anderen in Gang gebracht. Die narrative Herausbildung von Leben im Text ist in Memoria de la melancolía eng mit der Frage nach den Bewegungen im TextRaum verknüpft. Mit der unter Abschnitt 4.2.1.2. beschriebenen Auffächerung des autobiographischen Ich in Memoria de la melancolía sind vielfältige Bewegungsmomente geknüpft, die es Räume und Zeiten durchschreiten lassen, es formen und herausfordern. Der Versuch, das ambivalente Verhältnis zu einem Land, das Heimat ist und es doch aufgrund seiner politischen Gegebenheiten nicht sein kann, löst nicht nur eine intensive Interaktion mit der geographischen Umwelt im Allgemeinen und mit Spanien im Speziellen aus (wobei zwischen einem Spanien als Mutterland und als Vaterland unterschieden werden muss), sondern lässt Bewegungen, die Orte umschreiben/umschreiten, bestimmen, wo und wer man ist. So beschreibt sich León als «niña de la calle de ciudad y no se lleva dentro para consuelo de su madurez ningún pueblecito … .» (MM, 76) und beneidet Alberti um sein «Puerto de Santa María» (MM, 76), das ihm in der Ferne ein Anhalts- und Orientierungspunkt sein kann. Sie kann nicht nostalgisch zurückblicken. Ihre ehemaligen geographischen Orientierungspunkte entziehen sich und hinterlassen ihre Spuren lediglich in den Namen der Kinder Leóns und Albertis (MM, 243) oder in ihren Texten. Sie findet kaum noch einen Zugang zu diesem Spanien, das sich als «Vaterland» politisch für sie verschließt und ihr somit das «Mutterland» nimmt. Sie muss einen eigenen Weg fern der Autoritäten von Familie und Gemeinschaft finden. Das Verlangen nach der Heimat übersetzt sich in den kreativen Akt des Schreibens, wird zum Ort, an welchem Heimisches inszeniert und ersetzt wird.172 Die Distanz zwischen ihrer Heimat und sich selbst ermöglicht es der Autorin nicht nur, über ihre Erfahrungen in Spanien zu schreiben, sondern auch ein paralleles Spanien schreibend zu erschaffen, das sie als Konstrukt dem ihr unvertraut gewordenen Heimatland entgegensetzt und dessen Verlust sie zu kompensieren versucht. Der sehnsuchtsvolle Wunsch nach einem eigenen Ort lässt das Verhältnis der Schriftstellerin zur Sprache existentiell werden. Adorno weist auf die Eigenschaft der Sprache, als schützende Wohnung zu fungieren, hin.173 Doch auch hier lauert
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«[...] the expression of the desire for home becomes a substitute for home.» Vgl. Michael Seidel: Exile and the Narrative Imagination. New Haven: Yale University Press 1986, S. 11. «In seinem Text richtet sich der Schriftsteller häuslich ein. Wie er mit Papieren, Büchern, Bleistiften, Unterlagen, die er von einem Zimmer ins andere schleppt, Unordnung
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für León die Gefahr der Unsicherheit sowie Unruhe und «am Ende ist es dem Schriftsteller nicht einmal im Schreiben zu wohnen gestattet.»174 Das Wohnen in der Sprache ist unmöglich, denn der Text entwickelt trotz seiner scheinbaren Abhängigkeit zum Subjekt ein Eigenleben und eine Dynamik, die das Subjekt auch mit sich reißt. In dem beweglichen Netz aus Sätzen lässt er das Subjekt verschwinden und transformiert im Schreiben wieder auftauchen. Die Art, wie die Autorin schreibt, wie sie mit Sprache experimentiert und spielt, wird zum Bezugspunkt, der Auskunft über ihr Verhältnis zur Welt gibt. Die künstlerische Veränderung der Sprache, die den vorherrschenden Traditionen, z.B. der in den 60er Jahren gängigen Geschichtsschreibung ebenso wie der des autobiographischen Schreibens, zuwiderläuft und sie subvertiert, findet in der Zusammenführung verschiedener Textformen wie auch in der fragmentierten Schreibweise ihren Ausdruck und offenbart das Widerspruchspotential der ästhetischen Subjektivität gegen vorherrschende Diskurse. León beginnt Memoria de la melancolía auf dem Weg, zwischen den Welten, in der Übergangsphase von Argentinien nach Italien als etwa 60-Jährige. Nachdem sie Memoria de la melancolía beendet hatte, schrieb sie in einem Brief an eine Freundin von ihrem nächsten Buch, das das Leben einer spanischen Frau, die der Sturm hin- und hergerissen habe, erzähle. An vielen Stellen wird der Sturm zum in Bewegung setzenden Element schlechthin. In seinen vielen Erscheinungsformen ist er es auch, der in Memoria de la melancolía Notizblätter durch die Luft wirbelt und damit das Erinnerte in Unordnung bringt und dem Geschriebenen und schließlich ihrem Buch, das erzählt, Eigenleben einhaucht. Die fortwehenden Blätter zeigen ihr: «qué me faltan manos para agarrar mi verdadera vida o dientes para moderla. [...] Hoy todas se me han dispersado con vida propia y no la que yo les impuse al escribirlas» (MM, 231). Gelebtes und geschriebenes Leben scheinen auseinandergerissen und schließlich auf einer anderen Ebene neu zusammengefügt zu werden, indem die Autorin in dem Brief in eine Distanz zu der in Memoria de la melancolía in Erscheinung tretenden Frau geht und damit über die bereits vollzogene deutliche Trennung von erinnerndem und erinnertem Ich in Memoria de la melancolía hinausweist. Auf der textuellen Ebene erlaubt diese Trennung jedoch Bewegungen, die sich neben den erinnerten konkreten Bewegungen (etwa als Reisen) in der Vergangenheit oder Gegenwart traumhaft ereignen und auf einen Zwischenraum verweisen, indem sich beides begegnet. Der Erinnerungsprozess wird zur Schnittstelle, an der sich der Übergang vom erinnernden zum erinnerten Ich vollzieht (MM, 19), der jedoch auch als Trennungsbewegung zwischen beidem wahrgenommen wird:
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anrichtet, so benimmt er sich in seinen Gedanken. Sie werden ihm zu Möbelstücken, auf denen er sich niederlässt, wohlfühlt, ärgerlich wird. Er streichelt sie zärtlich, nutzt sie ab, bringt sie durcheinander, stellt sie um, verwüstet sie. Wer keine Heimat mehr hat, dem wird wohl gar das Schreiben zum Wohnen.» Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986, S. 108. Ebd., S. 109.
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«Una muchacha se me alejo. Sabe adónde va?» (MM, 18). Auf ihrer Identitätssuche durchläuft León verschiedene (Erinnerungs-)Orte, die mit Personen verbunden symbolischen Charakter annehmen: So ließe sich das Mutterland Spanien als verlorenes Paradies mit der Mutter verknüpfen oder die Liebe zwischen Alberti und León als ein poetischer und alternativer Ort zur realen Geographie lesen. Der Hund Niebla oder die katalanische Besucher in Rom verweisen auf die empfundene Ortslosigkeit, in der das Eigene als sich Entfremdenes wahrgenommen werden muss. Um ihren eigenen Platz zu finden, muss León den Anderen aus dem Innern ihres Selbst entlassen. Die Konfrontation mit sich selbst spiegelt das Verhältnis des Ichs zu seiner Umwelt wider und ist geprägt von der Angst des Selbstverlustes: Es como si yo no perteneciese a ese país del que leo los periódicos y, sin embargo, no han variado el formato ni el papel ni, seguramente, los lectores. Siento todo fuera de mí, arrancado, como si hubiera sido un sueño puesto sobre la mesa, impreso en hojas. Las mismas letras, el mismo idioma que se mezcla cómo si yo fuera aquella misma que aprendió a juntar las sílabas en ese lugar donde aún se estampa el mismo periódico. Estoy como separada, mirándome. No encuentro la fórmula para dialogar ni para unirme. Una muchacha se me aleja. ¿Sabe adónde va? Siento angustia. (MM, 18)
Die Berichterstattung der Zeitung, auch ihr Erscheinungsbild, hat sich kaum verändert. Gerade darin liegt etwas Beängstigendes, denn dies offenbart nicht nur die Entfremdung Leóns von ihrer Heimat, sondern das Fremdwerden eines Teiles ihrer selbst. Es ist die Erkenntnis, dass mit der Spaltung ein Fremdwerden und mit dem Fremdwerden schließlich der endgültige Verlust einhergeht. Die hier zum Ausdruck gebrachte Haltung steht im scharfen Kontrast zum unermüdlichen Willen Leons, das Geschehene zu erinnern. Loureiro unterscheidet deshalb zwischen einer «willful and militant political memory, which insists on remembering» und einem wahrhaftigen «memory of melancholy», das das Gespaltensein, den Verlust und den Schmerz zum Ausdruck bringt.175 An die Seite einer willensstarken Stimme, die politisch Partei ergreift und in Memoria de la melancolía dominiert, tritt eine weitere, eine «morbidly desolate voice»; doch obwohl erstere zunächst den Text zu bestimmen scheint, «towards its end Memoria de la melancolía becomes a funereal text haunted by a spectral community of ghosts.»176 Verstorbenes und Getrenntes begleiten die Autorin im Schreiben und so folgt sie in der Erinnerung dem Mädchen, das sie einst war, nach Burgos oder an andere Orte: Había llegado a la ciudad decidida a besar las fachadas… Años y años sin hacerlo. Años y años sintiéndose expulsada, rechazada, herida por los aleros y los balcones y los filos de las puertas y las calles asfaltadas nunca suyas y todo siempre huyéndola… Se le había caído el alma, la había perdido, la encontró diseminada y rota. Recogerla no era cosa de minutos ni de horas ni de vida… Se llenó de bilis hasta el borde. […] ¿Por qué no se acababa todo, se olvidaba, se abrían las puertas, se rayaban las fechas
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Vgl. hierzu Loureiro: The ethics of autobiography, S. 93. Ebd.
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históricas con un lápiz definitivo como en su colegio, igual que se pasa de una lección a otra? (MM, 16)
Sie wird Dinge, Menschen und Stimmen wiedererkennen und doch weiß sie nicht, wohin das Mädchen geht, oder in Beauvoirs Worte gefasst: «Je peux me promener dans certaines rues [...]. J’en reconnaîtrai les pierres, mais je ne retrouverai pas me projets, mes désirs, mes craintes: je ne me retrouverai pas.»177 Sie «versinkt» in der Stadt, aus der sie verstoßen wurde und in der sie ihre Seele verlor, die sie halbiert und zerstört auffindet, ohne dass ihre Lebenszeit ausreichen würde, sie wieder zusammenzusetzen. Der Bruch wird als endgültig empfunden: El último grano de la tierra española le había caído de los zapatos. Ya no conservaba nada, ni el largo pelo rubio ni los ojos brillando en la libertad de la tarde ni las calles ni aquellas casas donde te respondían al llamar: adelante, ni la ciudad resbalada por dentro ni el contorno de una geografía… El último granito de tierra! (MM, 16)
Nichts scheint ihr verblieben zu sein. Lediglich die Schatten und Silhouetten, die Bewohner des Zwischenreichs, die sich visuell erkennen, nicht aber greifen lassen. Das erinnernde Ich richtet den Blick auf das kleine Mädchen, das es einmal war, ohne eine Verbindung zu dem abgespaltenen Teil herstellen zu können und einen Weg der Verständigung zu finden. Das Mädchen, das es einst war, entfernt sich, ebenso wie die Menschen an Leóns Seite, die ihr vertraut sein müssten und die sie doch nicht wiederzuerkennen vermag: He sentido muchas veces angustia al mirar, sentados junto a mí, a seres que dicen son mi gente y no los reconozco. Bien quisiera reencontrarlos, recibirlos como si fueran los miembros que me faltan para agarrar la vida, pero no puedo, se resbalan hacia lo que ellos conocen y yo no, tan distinto es todo de lo que a mí me dejaron las horas de la vida. Me encuentro paralizada. (MM, 18)
Der zunehmende Selbstverlust geht wie die größer werdende Distanz zu eigentlich vertrauten Menschen mit einer Handlungs- und Kommunikationsunfähigkeit einher. Durch die Unfähigkeit des Wiedererkennens scheitert der Versuch, sich mittels der Anderen wieder zu (re-)konstituieren und im Leben zu bleiben. Die Dinge und die Anderen entziehen sich der Inbesitznahme durch Identifikation und die empfundene Leere kann nicht mehr durch deren Einverleibung aufgefüllt oder überdeckt und maskiert werden. Die Differenzen treten hervor. Sie nimmt die Anderen wahr, kann aber zu ihnen, wie auch zu dem sich ihr entziehenden Mädchen, das sie einmal war, keine Verbindung mehr aufbauen und bleibt wie gelähmt zurück. Stillstand kennzeichnet den gegenwärtigen Zustand des erinnernden Ichs, der mit einem Gefühl der Angst einhergeht:
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Beauvoir: La vieillesse, S. 388.
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Me asusta mirarme a los espejos porque ya no veo nada en mis pupilas y, si oigo, no sé lo que me cuentan y no sé por qué ponen tanta insistencia en reavivarme la memoria. Pero sufro por olvidar y cuando se me despeja el cielo o me abren la ventana, siento que me empujan hacia adelante, hacia la pena, hacia la muerte. Entonces prefiero ir hacia lo que fue y hablo, hablo con el poco sentido del recuerdo, con las fallas, las caídas, los tropiezos inevitables del espejo de la memoria. (MM, 19)
Das erinnernde Ich vermag nichts mehr in den Pupillen zu sehen. Es ist der zukünftige Gedächtnisverlust und der Tod, die sie im «Spiegel» ihrer Pupillen, im Nichts, «erblickt». Sprechend folgt sie dem «Spiegel des Gedächtnisses» – «con el poco sentido del recuerdo, con las fallas, las caídas, los tropiezos inevitables» – in dem sie sich wiedererkennt und doch verkennt und der hier für die Fremdheit ihrer selbst, die Leere, die sie in sich trägt, den Stillstand vor allem in der identitätsbildenden Interaktion zwischen dem Ich und dem Anderen steht. Es gibt keine Einheit von Selbst und Reflexion. Der Riss durch das Subjekt, das sich immer schon ein anderes ist, der Fremde in uns selbst, wie Kristeva es formuliert, ist von Anbeginn der Subjektwerdung gegeben, erfährt hier jedoch eine Zuspitzung durch den zunehmenden Verlust des Gedächtnisses, der unleugbar geworden ist: «María Teresa León escribió su autobiografía con clara conciencia de que iba perdiendo facultades para recordar, y su obra es trágico testimonio de esta drama existencial.»178 Der Versuch, den sich abzeichnenden zukünftigen Gedächtnisverlust dadurch aufzuschieben, indem eine intensive Rückschau betrieben und das Rad zurückgedreht wird, bringt die Dramatik der Situation erst zum Ausdruck und enthält einen Moment der Sinnlosigkeit, des Absurden, das anrührend ist, denn gerade die erinnernde Tätigkeit offenbart die zunehmende Selbstentfremdung, den Gedächtnisverlust, das Älterwerden und nicht zuletzt den Tod: Y otra vez empiezo a andar hacia los lugares donde estuve y que se me presentan tan sin orden como la gente al despertar y veo a la muchacha que baja la escalera y abre el portón y sale a la noche. (MM, 19)
Das erinnernde Ich kehrt in der Erinnerung wieder an die Orte, an denen es einmal gewesen war, zurück, um doch nur festzustellen, was es im Lauf des Lebens verloren hat und was nicht mehr ist. Nur in der Negation kann sich das entfremdete Ich bestimmen. Das Herausgefallensein aus der bürgerlichen Gesellschaft, insbesondere aus der Familie, treibt das Ich immer weiter auf seiner Suche nach einem neuen Ort an. Es kann sich nur noch als Widerspruch oder als Differenz zu dem bürgerlichen Normen- und Wertesystem, dem Francospanien und der neuen Umgebung präsentieren. Das Scheitern der Kommunikation im Gespräch zeigt die zunehmende Entfremdung an und spiegelt zugleich die leitmotivische Ambivalenz in Memoria de la melancolía wider, steht sie doch der Hervorbringung eines ausgedehnten Textes gegenüber, der es der Autorin erlaubt, in einen weiteren Dialog, diesmal
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Pochat: María Teresa León, S. 138.
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mit den Lesern, einzutreten. Der Sprachverlust ist nicht zuletzt literarisch inszeniert: in der fragmentarischen Präsentation von einzelnen Textsequenzen, die keine Perspektive des Überblicks mehr bietet und die Erfahrung der Diskontinuität wie auch der Spontaneität herausstellt. Die Ambivalenz zeigt sich auch hier in der Perspektivwahl, der etwas ‹Traumhaftes› anhaftet: Wenn es eben noch das im «empiezo» enthaltene Ich war, das sich bewegte, spaltet es sich noch im selben Satz auf, indem es sehend plötzlich seinen Blick wieder auf das Mädchen richtet, das es einmal gewesen ist, das die Treppen hinabsteigt und in der Nacht verschwindet. Die Innenperspektive wird durch eine Außenperspektive abgelöst, von der ausgehend nun von dem Mädchen mit den langen, für Spanien ungewöhnlichen blonden Zöpfen berichtet wird. Wie in Träumen kommt es zu einer Überschneidung von Außenperspektive und Innensicht. Doch obwohl das erinnernde Ich um das Gefühlsleben und die Gedankenwelt des kleinen Mädchens weiß, es kann es nicht in sich tragen. Unvermittelte Tempuswechsel vermitteln die Illusion der Gleichzeitigkeit von Aktion und Reflexion. Darüber hinaus erhält das Vergangene den Charakter des Gegenwärtigen und eine Lebendigkeit, die dem Ich in seiner Erzählgegenwart abgeht. Am Ende der Textsequenz, wenn sich das erinnernde Ich wieder den auf dem Tisch liegenden Zeitungen zuwendet, ‹sitzt› das Mädchen mit am Tisch. Nicht in ihr, sondern neben ihr. Die kontinuierliche Selbst(trans)formation im Text verweist auf die psychische Struktur des Ichs, das sich als von sich selbst und den übrigen abgespalten und auf eine rein materielle Existenz seines Körpers reduziert sieht, ohne wirklich eine Form der Innerlichkeit, des Spürens, wahrnehmen zu können. Sein Bestreben, im Anderen das identitätsstiftende Element schlechthin zu suchen, ist im Hinblick auf den Prozess der Entfremdung zum Scheitern verurteilt. Der Versuch, sich den Anderen anzueignen, in ihm aufzugehen, um auf diese Weise die immer größer werdenden Distanzen zu negieren und bereits durch Tod eingetretene endgültige Verluste wie etwa den der Mutter zu leugnen, fördern die zunehmende Einsamkeit des erinnernden Ichs zutage, das, von sich selbst getrennt, sich auch zunehmend von sich selbst entfernt. Das Leiden des erinnernden Ichs, das im Exil älter wird und nicht weiß, wo es sterben wird – «Estoy cansada de no saber dónde morirme. Ésa es la mayor tristeza del emigrado» (MM, 29) – und sich mit Hilfe der verbleibenden Erinnerung die einst zurückgelassene Heimat schreibend zu erhalten versucht, die sich doch mehr und mehr entzieht, fürchtet die Resignation. Auch wenn es darauf besteht, «pues el único camino que no hemos hecho los desterrados de España es la de la resignación» muss es sich fragen: «¿tenemos el derecho a morir sin concluir la historia que empezamos?» (MM, 29). Das vertraute Spanien und die dort einst aufgesuchten verschiedenen Orte erscheinen in der Erinnerung plötzlich fremd und unheimlich und werden zum Symbol der eigenen Dislokation und Entfremdung. Leóns Verhältnis zu sich selbst ist eben so gespalten wie das zu ihrer Heimat. In einem Staat, der einen Teil seiner Bevölkerung nicht anerkennt, ist eine Verschmelzung mit dem Land kaum möglich. Ähnlich wie in dem Verhältnis zur Mutter, scheint sich León an 157
die LeerStelle des «verlorenen Paradieses» setzen zu wollen, das, auch wenn es in Ruinen und Trümmern unter dem neu geschaffenen Spanien liegt, das eigentliche Spanien für sie verkörpert.179 Doch auch im Schreiben kann sie die Distanz zwischen ihrer Heimat und sich selbst nicht überwinden geschweige sich in dem von ihr erschriebenen Spanien ansiedeln, um sich zu verorten. Sie entfremdet sich von ihrem ehemaligen Heimatland und von dessen Bewohnern, die ihr wie Traumgestalten vorkommen, ebenso wie ihre Erinnerungen Traumcharakter annehmen: «Llaman a la puerta de esta casa nuestra de Roma personas que son como sueños que regresan…» (MM, 33). Die zunehmende Orientierungslosigkeit, die sich nicht zuletzt auf das frühe Stadium ihrer Alzheimerkrankheit zurückführen lassen könnte und sich sowohl in Hinblick auf Orte als auch in der Praxis des Erinnerns widerzuspiegeln scheint, kennzeichnet den Text. Gleichzeitig werden die Orte, die sich im Außen entziehen, in den TextKörper aufgenommen: Para nosotros los lugares tienen nombres de libros. Los hemos ido escribiendo como quien viaja y hace altos vivaqueando, para seguir viviendo. Los saludamos con cierta timidez, con cierta angustia. Nos vamos sentando con ellos, poco a poco. Luego, algunos lugares nos palpitan en las entrañas, otros nos respiran en los pulmones durante largo tiempo. Yo he sentido vivir a la gente de mis libros junto a mi respiración. (MM, 256)
Die Bücher werden als Lebensräume überlebenswichtig, bewahren sie doch die Erinnerung an das, was immer wieder zurückgelassen werden musste und verloren ging und Kraft der Imagination wieder vergegenwärtigt und verlebendigt werden kann. So fungiert die Sprache vielleicht nicht als Ort der Sicherheit oder im Sinne Adornos als Wohnung, transformiert in Büchern von Orten, die allerdings ohne festen Wohnsitz sind, vermag sie eine Spur zu hinterlassen, auch wenn ein Ziel nicht in Sicht ist. Bei León sind es disparate Spuren von Schritten und Sprüngen des Gedächtnisses und der Schrift, die uns mal hierhin und mal dorthin führen und die wir zu bändigen versuchen, um uns nicht im Text zu verlieren, der das vorzuführen scheint, was die Autorin als etwas sich im Köperinnern Vollziehendes zu beschreiben versucht: «qué horrible es que los recuerdos se percipiten sobre ti y te obliguen a mirarlos y te muerdan y se revuelquen sobre tus entrañas, que es el lugar de la memoria» (MM, 51). 4.3.2.
ÜberLebenswissen: Vermittlung. Lebendige Wissensträger zwischen den Welten
4.3.2.1. Memoria de la melancolía: Wissen übertragen. FortLeben zwischen den Welten In Fahrenheit 451 werden die Menschen angesichts brennender Bücher zu wandelnden Texten ausgebildet, um das Wissen der Bücher vor der Vernichtung zu
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Vgl. hierzu Seidel: Exile and the Narrative Imagination, S. 11.
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retten. León und Alberti waren sich der Notwendigkeit bewusst, nicht nur ihre Leben, sondern auch ihr politisches, historisches, literarisches und sonstiges Wissen als Gut zu retten. In Anbetracht der Menge bedruckten Papieres, das viele der Spanien verlassenden Intellektuellen auf dem Weg ins Exil zurücklassen mussten oder verloren, waren «kleine Bücher»180 und die Fähigkeit des Memorierens – gerade auch der eigenen Texte – zu deren Erhalt überlebenswichtig.181 Das von Menschen auf diese Weise bewegte Wissen kann so außerhalb Spaniens neu verschriftlicht, durch öffentliche Rezitationen und Vorträge oder in Form «kleiner Bücher» weitergegeben werden. León und Alberti sind sich der Fragilität vor allem eines offiziell nicht anerkannten Wissens bewusst und erkennen, dass die ihnen bedeutsamen Inhalte zunächst nur außerhalb Spaniens fortbestehen werden. Wo die eigene Bewegungsfreiheit massiv eingegrenzt wird, sind es vor allem die Texte selbst, die auferlegte Grenzen zu überwinden vermögen und Wissen zirkulieren lassen. Neun Sequenzen sind in Leóns Autobiographie ihrer und Albertis Reise zu den zwei Amerikas 1935 gewidmet und zeigen, wie eng die Selbst(re)präsentation mit einer Vermittlung kultureller Wissensinhalte verwoben ist. Entlang der Seiten berührt sie Aspekte von Politik, Geschichte, Mythen und Literatur verschiedender Länder und Zeiten, die sie durchlebte und mit denen ihres Heimatlandes in Beziehung setzt, das sie zurücklassen musste. León schafft einen textuellen Raum, in dem die (Re-)Konstruktion der vergangenen Mobilität und Aktivität innerhalb ihres Leben Formens als Antwort auf ihre gegenwärtige zunehmende persönliche Immobilität aufgrund des Alters und ihres zukünftigen Vergessens gelesen werden kann. Als Alberti und León von dem I. Sowjetischen Schriftstellerkongress in Moskau nach Spanien zurückkehren wollen, wird dies aufgrund der Bergarbeiteraufstände in Asturien verhindert und sie müssen in Paris verweilen. León bezeichnet diesen Aufenthalt in Paris als «primero de nuestro destierro» (MM, 115), wobei die nachfolgenden Sätze deutlich werden lassen, dass «nuestro» hier nicht allein auf Alberti und León, sondern all diejenigen Spanier bezogen ist, die in jenen Jahren umherzuwandeln begannen «sin pan ni patria» (MM, 115). Die Antwort auf die zu jenem Zeitpunkt aufoktroyierte Begrenzung kommt von Palmiro Togliatti, dem späteren Führer der Kommunistischen Partei in Italien. Er schlägt León und Alberti eine Reise nach Nord- und Zentralamerika vor, um auf die politische Situation in Spanien international aufmerksam zu machen. Mit einer politischen Botschaft machen sich beide auf eine Reise, die für sie selbst geradezu zu einer Überlebensnotwendigkeit wird: Das Reisen bedeutet/ist Leben und wird in der
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Ricard Salvat berichtet von Leóns Liebe zu «kleinen Büchern», da sich diese in Zeiten des Krieges, der Reise oder des Exils als sehr nützlich erwiesen hätten. Vgl. hierzu Ricard Salvat: Aproximación al universo creativo de María Teresa León. In: Álvarez de Armas: María Teresa León, S. 49–82, hier S. 52. Ein Beispiel hierfür ist der Fall Emilio Prados, der 1940 mit Memoria del olvido eine Sammlung von Gedichten veröffentlicht, die u.a. die aus dem Gedächtnis rekonstruierten Texte des Diarío íntimo enthielten, das er in Paris ein Jahr zuvor zurücklassen musste.
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Zukunft des Paares die Antwort auf drohende, gegenwärtige und kommende Grenzsetzungen von außen sein. Die erste Station auf dieser Reise macht das Paar in New York. Im Rahmen der Beschreibung der bewegten Überfahrt auf dem Schiff «Bremen» bezieht sich León auf sich und Alberti und schreibt, dass vielleicht «la unión del marinero en tierra con la mujer de tierra adentro, la conjunción de Scorpio y Sagitario, haya dado nuestras vidas muchos kilómetros de caminos, unos voluntaries, y otros, impuestos» (MM, 115). León bemerkt in diesem Kontext auch die Unerschrockenheit beider und führt sogleich ein weiteres Beispiel hierfür an, indem sie auf das Jahr 1933 verweist, als beide zu dem Internationalen Friedenskongress in Amsterdam reisten und von einer nicht minder stürmischen Überfahrt heimgesucht wurden. Sie stellt der Kritik des Krieges die stürmische See gegenüber und verknüpft menschliche und naturbedingte Katastrophen, um nicht zuletzt Albertis und ihren Mut in jenen Jahren einmal mehr herauszustreichen. Das Erzählen dieser Episode erlaubt es ihr auch, erfahrene Vorurteile zu thematisieren: Sie berichtet, wie der sich ankündigende Herbst die in Oslo lebenden Norweger die Sonne ihres Heimatlandes preisen lässt. Als ein Feuer in einem Kamin entfacht werden soll, ist sie es, die, nachdem die Einheimischen daran gescheitert sind, das Feuer entzündet. Auf das Erstaunen der Anwesenden hin, die sich zuvor noch über sie lustig machten, antwortet sie erklärend «que en Burgos no hay más que dos estaciones, la del invierno y la del ferrocarril» (MM, 119). Im darauffolgenden Absatz wendet sie sich erneut der Reise mit der «Bremen» zu und der Ankunft des Transatlantikliners im Hafen von New York. Die «Bremen» erscheint bei der Ankunft klein und «se dejó atar al muelle como un perro bueno» (MM, 119). Sie beschreibt Kontakte und Konferenzen und greift in diesen Beschreibungen die Diskussionen jener Zeit auf. Sie beobachtet das Erstaunen der amerikanischen Frauen über die vor ihnen stehende Spanierin, die – entgegen der dortigen Vorstellungen über die in Spanien unterdrückten Frauen – ihre Stimme erhebt und sich politisch engagiert. Ferner nutzt sie diese Sequenz, um die damaligen politischen Gegebenheiten mit den gegenwärtigen Problemen «corriendo sobre la piel de la tierra» (MM, 121) der 60er Jahre zu verbinden und am Ende der Sequenz ihre Sympathie für die jungen Generationen auszudrücken, die mit ihren Protesten den Ungerechtigkeiten in der Welt begegnen. Leóns Wunsch, eine Kontinuität zwischen Vergangenheit und Gegenwart, den früheren und gegenwärtigen Generationen zu schaffen, findet hier Ausdruck. Bereits zu Beginn der Autobiographie formuliert sie: Nos traen una juventud que vive para que nosotros coloquemos encima la nuestra, casi desaparecida. Pero hemos abierto todas nuestras ventanas para comprenderlos. ¿Dónde sino entre ellos y nosotros va a ligarse la continuidad que necesita la historia? (MM, 37)
Der Beschreibung der Reise nach New York folgt eine Textsequenz, die mit einem der in Memoria de la melancolía zahlreichen intertextuellen Bezüge zu Albertis Dichtung beginnt. Mit «Cuba estaba para Rafael dentro de un piano» (MM, 121) bezieht sie sich nicht nur auf dessen Gedicht Cuba dentro de un piano, sondern nutzt diese Anspielung, um seine und ihre Bezüge zu Cuba miteinander verwo160
ben im Text parallel darzustellen, die in beiden Fällen – vermittels Musik – in der frühen Kindheit stattfanden. Dem an die Mutter Albertis und an die «Tata María» Leóns geknüpften musikalischen Auftakt, in dem das Zitat einer habanera eingeflochten ist, folgt die Geschichte des Vaters Leóns, der in Cuba als Militär stationiert gewesen war und damit ein subtiler Verweis auf einen historischen Ausschnitt der spanischen Geschichte. Letzteres wird bereits mit der von den Frauen übermittelten habaneras, die Antonio Maceo, der im Unabhängigkeitskrieg gegen Spanien kämpfte, gewidmet sind, vorweggenommen. Die zitierten Verse stellen demnach einen feinen Übergang von der eigenen kindlichen Erinnerung hin zur «großen Geschichte» dar und zu der personalisierten Geschichte des Vaters, der – eingehüllt in den Duft von cubanischen Zigarren – nie seine romantischen Erinnerungen an Cuba aufgab, das zu seinem heimlichen Paradies wurde. Vergegenwärtigen wir uns das Gedicht Albertis Cuba dentro de un piano, auf das León zu Beginn der Sequenz anspielt, ohne es in Gänze auszuführen, ist es auch dort der idealisierte Duft von Zigarren, der in Cádiz von den aus Cuba ankommenden Schiffen im Hafen verströmt wird. Mit diesen intermedialen und intertextuellen Bezügen, die auf die Kindheit Leóns und Albertis sowie auf spezifische historische Ereignisse verweisen, wird innerhalb der Autobiographie die Ankunft in Havanna im Jahr 1935 in Szene gesetzt. Schließlich mündet die Beschreibung in eine verklärte Ankündigung desjenigen, der für sie die Lösung der von Alberti und León wahrgenommenen Probleme in Cuba unter der Diktatur Batistas darstellen soll: Fidel Castro. Doch all diese Auskünfte, so León, seien in einem alten, kaputten Büchlein niedergeschrieben. Sie wisse nicht, ob sie genau seien, aber das Büchlein zu berühren, lasse sie an den Girón Strand und die Sierra Maestra denken und an eine zweite Reise nach Cuba, als dieses dann, so León, befreit gewesen sei. Die Reflexionen der verschiedenen intergenerationalen Erfahrungen mit Cuba, werden im Prozess des Schreibens verwoben und lassen Cuba zur Projektionsfläche und zum Symbol ungestillter Hoffnungen werden. Memoria de la melancolía vermittelt Erfahrung mit verschiedenen Kulturen und eröffnet einen textuellen Raum, der es León erlaubt, ihren eigenen Ort innerhalb der spanischen und internationalen Kulturen und Literaturen zu finden, indem sie die vielfältigen Bewegungen zwischen ihnen hervorhebt und Verbindungslinien aufzeigt, während ihr Text zugleich immer den Spuren eines Lebens in Bewegung und ohne festen Wohnsitz folgt. In einer Welt, die als geteilt wahrgenommen wird, die Grenzen setzt und nicht für alle gleichermaßen begehbar ist, wird die Bewegung sowie das Erinnern und Schreiben oder Erzählen zur überlebenswichtigen Notwendigkeit, denn in ihnen liegt die Kraft Grenzen zu verschieben, zu überschreiten oder aufzulösen und zu ermöglichen, dass sich Sprache und Kultur auch außerhalb des Heimatlandes oder gerade dort am Leben erhalten und weiterentwickeln. In einer Textsequenz, in der León die Beschränkungen durch Grenzen und fehlende Pässe beklagt, vergleicht sie ihre Lebenssituation mit derjenigen der Sephardischen Juden, die etwa zu Vermittlern alter Romances außerhalb Spaniens wurden, die sich im kollektiven Gedächtnis, fernab von ihrem Ursprungsland, erhalten haben «y los 161
sentimos», so León, «más españoles que nosotros, más gramáticos para hablar» (MM, 108). Die Autobiographie scheint in dieser Hinsicht und im Erfahren der unterschiedlichen Begrenzungen als Medium eines ‹transgressionalen› Schreibens Getrenntes zu verbinden und das Fortleben etwa eines spezifischen kulturellen Wissens in einem anderen (literarischen) Raum zu ermöglichen. Im Schreiben wird versucht, dem sich im Erinnern Entziehenden eine Form zu geben, es sich einzuverleiben und einzuschreiben, um es am Leben zu erhalten. Die Sprache, um dies auszudrücken, ist dabei nicht selbstverständlich verfügbar. Sie ist überdeckt und «las palabras enterradas» (MM, 98) müssen ausgegraben und zusammengesetzt werden. Die Notwendigkeit, eine Geschichte zu erzählen, begegnet so nicht zuletzt dem alles an Begriffen und Kultur vereinnahmenden franquistischen Diskurs. Die Geschichten, die Memoria de la melancolía erzählt, sind auch und vor allem die der «Zwei Spanien». Der Text führt dieses zweigeteilte Leben ihrer selbst und Spaniens vor und versucht, es sprachlich zu vermitteln, ohne es überwinden zu können. Dieses sind die wesentlichen Voraussetzungen, die dazu führen, dass mittels bereits offiziell vereinnahmter Begriffe diese zunächst einmal im Exil zurückerobert und neu definiert werden müssen, um die Grundlagen für die eigenen Inhalte zu schaffen. Dass diese Entwicklung eine gänzlich andere ist als diejenige, die sich innerhalb Spaniens ereignet, wird spätestens bei der Rückkehr ins Heimatland, aber meist schon bei den Treffen mit denen, die aus Spanien kommend das Paar besuchen, deutlich. In Memoria de la melancolía wird die Begegnung von María Teresa León, Rafael Alberti und einer Gruppe junger Katalanen geschildert, die sie in ihrem Haus im römischen Exil empfangen. Die aktuelle Situation Spaniens im Allgemeinen und die Barcelonas im Speziellen, die sie mit sich führen, treffen auf die bereits zur Geschichte gewordenen Erlebnisse im Barcelona des Spanischen Bürgerkrieges des erinnernden Ichs. Die Besucher in Rom werden wie wiederkehrende Träume oder gar Lichter wahrgenommen. Und wie einen Traum versucht León sie zu lesen und zu entschlüsseln: Llaman a la puerta de esta casa nuestra de Roma personas que son como sueños que regresan. […] Llaman a nuestra casa muchos seres que son como reflejos, como luces. Los vemos por vez primera, pero son ya conocidos nuestros, gentes de España, y entonces nos quedamos sujetos a sus ojos para descubrir en ellos lo que pasó con aquella fuente... (MM, 33)
Das ehemals Vertraute erscheint fremd.182 Vielleicht, weil sie in den Augen der Besucher nichts zu lesen vermag, richtet sie ihre Aufmerksamkeit auf die in ihr emporsteigenden Bilder und versucht in der Erinnerung die Orte der Ver-
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Zwei komplementäre Weisen des Fremdwerdens, eine durch die Auswanderung und eine andere durch die Heimkehr ausgelöste, zeichnen sich in Memoria de la melancolía ab, die sich mit den Worten Waldenfels’ zusammenfassen lassen: «Während der Auswanderer oder Vertriebene in eine fremde Heimwelt gerät, in der er sich noch nicht auskennt, gerät der Heimkehrer in seine eigene, inzwischen fremd gewordene Heimwelt, in der er sich nicht mehr auskennt.» Waldenfels: Topographie des Fremden, S. 40.
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gangenheit aufzusuchen, die sie in den Erzählungen der Besucher nicht mehr wiedererkennt: Aquella mujer joven que cruzó la calle de Alcalá del brazo de un poeta hoy hace demán a los recién llegados para que se sienten. Le cuesta siempre darse cuenta de que vive en la calle del destierro y mira y habla como entonces, con Rafael junto a ella, creyendo que es entonces y han distribuido mal los papeles y le han dado por equivocación el de la vieja. Quisiera preguntarles. No consigue unir las dos partes de su corazón. (MM, 33)
Die älterwerdende Frau im römischen Exil erkennt nur widerstrebend an, dass sie nicht mehr die junge Frau im Spanien der 30er Jahre ist und sich mittlerweile auf der «calle del destierro» bewegt, auch wenn Rafael noch an ihrer Seite ist. Sie erkennt die ihr zugeteilte Rolle der «Alten Frau» nicht an. Beauvoir beschreibt wiederum einen ähnlichen Vorgang und dies nahezu zeitgleich mit León, wenn es bei ihr heißt: «L’individu agé se sent vieux à travers autres sans avoir éprouvé de sérieuses mutations; intérieurment, il n’adhère pas à la étiquette qui se colle à lui: il ne sait plus qui il est.»183 Mit dem in zwei Stücke gebrochenen Herz, das sich nicht wieder zusammenfügt, teilt sie das Schicksal Spaniens, das auch hier wieder aufscheint und den Text wie ein roter Faden durchzieht.184 Die innere Gespaltenheit erschwert die Möglichkeit des Erfahrungsaustausches, denn das, wovon die Besucher berichten, ist für León nur noch schwer oder gar nicht mehr nachvollziehbar. Von dem, was sie in Spanien als Gegenwart gelebt hatte, ist nichts mehr zu erkennen und «la niña vuelve a pasar el dedo por las hojas que le han traido, deletreando, y en ninguna de ellas encuentra los relieves de la palabra Patria» (MM, 26). Eine «melancolía indefinible» überkommt sie angesichts der Frage: «¿Por qué me faltan las palabras claves para dialogar con ellos? No sé. Debo tenerles envidia por lo que tienen y no tengo» (MM, 33), doch ist sie nicht in der Lage genau zu beschreiben, was es ist, das ihr fehlt. In Verse gefasst beschreibt sie diesen Zustand an einer anderen Stelle in Memoria de la melancolía wie folgt: Que yo no sé lo que tengo Ni sé lo que a mí me pasa, Que siempre espero una cosa Que no sé como se llama. (MM, 226)
Sie versucht den fehlenden Erfahrungshintergrund, das, was sie nicht oder nicht mehr besitzt, durch eigene Erinnerung zu ersetzen und fährt fort, den Lesern eine ihrer «eigenen» (spanischen) Geschichten zu erzählen, diesmal die von der Geburt ihres ersten Sohnes: «yo sigo a aquella muchacha rubia del niño que nació tan temprano» (MM, 35). Auf diese Weise inszeniert die Autorin zwei Gesprächsorte: den einen im Kontext des Besuches, der gekennzeichnet ist durch das Verstummen des erzählenden Ichs, und einen zweiten, in dem sich das Ich eloquent
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Beauvoir: La vieillesse, S. 310. «En mi mano derecha llevo dos lágrimas que ningún viento puede secar. Se llama España» (MM, 286).
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an die Leser richtet. Die Abwesenheit in der Anwesenheit, die Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem, wie es León erlebt, wird im Text durch die wechselnde Aufmerksamkeit erreicht, die sich einmal auf die damalige Frau, dann auf den gegenwärtigen Besuch und das Mädchen von fünfzehn Jahren, das gerade Mutter geworden ist, richtet. Verschiedene ZeitRäume werden parallel durchschritten, markiert durch die Verwendung des Präsens und des indefinido. Vergangenheit und Gegenwart und die mit ihnen verknüpften Räume sind in Memoria de la melancolía nahezu unlösbar miteinander verwoben «de forma desordenada y azarosa, gracias a una conseguidísima intensidad literaria.»185 Das dynamische Ineinanderübergehen von Vergangenheit und Gegenwart in der Form steht hier dem statischen Auseinandersein der Kommunikationspartner im Inhalt gegenüber. Die schmerzliche Erfahrung des schwerer werdenden Dialogs, wie er auf der Inhaltsebene dargestellt wird, stellt die Schwierigkeiten des erinnernden Ichs heraus, sich in dieser Situation als Aktant, als sprechende und handelnde Instanz, zu bewähren und steht gleichsam im Gegensatz zur Autorin León, die in sprachlicher Gewandtheit sich schreibend an die Leser wendet und sich frei zu bewegen vermag. Die bittere Ironie liegt in der sich ankündigenden Sprachlosigkeit des Ichs, das als ein vielsprachiges Subjekt unfähig sein wird, noch in irgendeiner Sprache seine Empfindungen und Ansichten gegenüber seinen Mitmenschen zu artikulieren. An dem Gegensatz zwischen Alter und Jugend konkretisiert sich ferner der Kontrast von Zeit und Ewigkeit. Die jungen Leute werden als Hoffnungsträger wahrgenommen und im Text mit dem Bild geöffneter Fenster verglichen, die den Blick freigeben auf eine Schneelandschaft oder in Blüte stehende Blumen: Cartas, libros. Se nos ocurre, al leerlos, maravillosas cartas de esperanza. Es como se abre la ventana y hay nieve o todas las flores se han abierto. Son las nuevas generaciones que envejecerán mucho más tarde, en otoños diferentes de los nuestros, otoños que no podemos adivinar. (MM, 197)
Sie sind es, die die Kontinuität der kleingeschriebenen «historia» fortführen und die die eigene im Verschwinden begriffene Jugend mittragen könnten, weshalb der Kommunikation und Mediation zwischen den Generationen und den Bemühungen um das Verständnis in diesem Zusammenhang von Seiten Leóns eine große Bedeutung beigemessen wird (MM, 37). Die Geschichte der «desterrados» und des mit ihnen verbundenen Spaniens, die fortgeführt werden soll, hat nichts mit dem zur Zeit der Niederschrift bestehenden Franco-Spanien gemeinsam: Nada tenemos que ver nosotros con las imágenes que nos muestran de España ni el cuento nuevo que nos cuentan. Podéis quedaros con todo lo que pusisteis encima. (MM, 30)
Das Spanien, das sie zurückließen, gibt es nicht mehr. Es ist ein vom Franco-Regime «verdrängtes» Spanien und wird im Text mit der Suche nach dem Schatten, der Silhouette und den verlorenen Stimmen verknüpft (MM, 30). Das verlorene Paradies liegt in Trümmern und an diese gilt es anzuknüpfen. Die Fortführung
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García Montero: La pasión de la memoria, S. 7.
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der «anderen» Geschichte(n) und nicht zuletzt der eigenen, der Wunsch nach Kontinuität scheint umso dringlicher im Hinblick auf den zukünftigen Tod.186 In der Hervorhebung der Differenz ihres in Trümmern liegenden Spaniens zu dem ‹neuen› Staat Francos bettet die Autorin in den rückblickenden Erinnerungen die ‹paradiesischen› Bilder eines reformbestrebten, jungen liberalen Spaniens ein, das als dunkle Schattenwelt in der Gegenwart auf das verweist, das es für sie war: ein Hoffnungsschimmer. Die Existenz ‹ihres› Spaniens und ihre eigene Befindlichkeit im Text sind aufs Engste verwoben und beide sind darauf angewiesen, dass sich andere ihrer erinnern: Yo no quedaré, pero cuando yo no recuerde, recordad vosotros las veces que me levanté de la silla, el café que os hice, la indulgencia que tuve al veros devorar mi trabajo sin decir nada. Recordad nuestra pequeña alegría común, nuestra risa y las lágrimas que dolían o quemaban cuando nos sentíamos desamparados y solos. Recordad que mi mano derecha se abrió siempre. Recordad que no era fácil el diálogo ni la paciencia y que todo se venció hasta los límites y más allá. [...] Cuando yo todo lo olvide y cante como mi abuela con la última luz de la memoria, perdonadme vosotros, los que os aggarasteis a mi vestido con vuestras manitas pequeñas. (MM, 170)
Auch wenn es ein «Versehen» war und León sich bemüht, ihre eigene Jugend in Anwesenheit der jungen Katalanen ins Bewusstsein zu rufen und aufleben zu lassen, muss sie die Rolle der alten, an Alzheimer erkrankten Frau schließlich übernehmen und ist darauf angewiesen – will sie nicht dem Vergessen anheim fallen –, dass andere ihrer gedenken und ihr Wissen weitertragen und bewegen. 4.3.2.2. La arboleda perdida: Wandelnde Wissensträger. Der Dichter in der Straße Yo siempre he dicho que soy un poeta en la calle, y lo he demostrado desde que era muy joven. [...] Y a pesar del tiempo transcurrido me paso la vida viajando, cansando a la gente mucho más joven que tengo a mi lado. [...] Y en este momento en que escribo La arboleda perdida me encuentro de nuevo en un avión – creo, sin modestia alguna, que no hay otro poeta de mi generación que haya viajado más por el aire y que haya hecho más propaganda de ello – [...]. Suena el teléfono, el contestador automático no funciona. Peligro. ¿Salamanca, Haití, Alcorcón? Si lo descuelgo, me arriesgo a tener que volver a preparar el equipaje. Aunque las maletas, como ya escribí hace tiempo en mis Versos sueltos de cada día, «se van antes que uno.» (AP V, 179ff.)
Der vielleicht größte Unterschied zwischen den Bewegungen in La arboleda perdida und Memoria de la melancolía ist die unvollendete Rückkehr der einen und die multiplen Formen der Rückkehr des anderen. León schreibt aus dem Unwissen heraus, ob sie ihr Heimatland jemals wieder betreten werden wird. Alberti verfasst drei der fünf Bücher nach seiner Rückkehr nach Spanien, die den Kreis der großen Bewegung schließt. Physisch gelingt León die Rückkehr, doch hat sich die Alzheimerkrankheit ihrer bemächtigt und wird sie zwingen, die meiste Zeit zurückgezogen und ihrem Vergessen anheim fallend in Spanien
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Siehe hierzu auch Wurm: Spaniensehnsucht, S. 259f.
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zu leben, während für Alberti eine neue Lebensphase beginnt, in der er sich das entfremdete Heimatland neu aneignet, womit ihm etwas gelingt, woran viele der Zurückkehrenden scheitern.187 Als Abgeordneter zieht er wortgewaltig für ein demokratisches Spanien durchs Land und füllt Stadien. An vielen Stellen haben seine Worte bereits während seiner Abwesenheit vom Heimatland gefruchtet, sind wie seine Koffer vor ihm angekommen, wurden von anderen aufgegriffen und als Widerstandsmoment zur Zeit der Diktatur benutzt. Die Macht der Worte liegt in ihrem grenzüberschreitenden Potenzial, wo die Grenzen für den Menschen unüberwindbar sind. Sie führen in diesem Fall ein poetisches Wissen über das Heimatland mit sich, das zwar verdrängt werden soll, sich aber durch Augen und Ohren den Weg zu den Daheimgebliebenen bahnt, die es verbreiten und sich mit ihm identifizieren. Ein wunderbares Beispiel ist eines der weißen Dörfer bei Rute, in dem in einem Turm ein Gedicht, das Alberti diesem 1925 widmete, angeschlagen ist (AP V, 139). Die Beziehung zwischen Orten und Worten ist wechselseitig, beide greifen ineinander ein, zumindest da, wo Bewohner und Schreibende es wünschen. Die Spuren früherer Bewegungen werden im Schreiben nicht nur eingespeichert, sondern mit dem letzten Buch quasi eingeholt, indem Alberti aus dem Augenblick heraus schreibt, in welchem er ehemals besuchte Stätten wieder aufsucht. Die Begegnung mit den früheren teils veränderten, teils konservierten Orten, an denen er als junger Mann umherstreift verursacht in ihm ein Gefühl der Freude, fast einen Freudenrausch: «[v]olver a los lugares en los que no he estado desde mi primera juventud me produce siempre un estremecimiento alegre.» (AP V, 140). Das fünfte Buch begibt sich auf die zuvor gelegten Spuren der vorangegangenen Bücher. Die neuen Reisen werden mit den früheren verwoben und führen im Text Zeiten und Bewegungen zusammen, wobei Anschlussstellen des bereits Erzählten genutzt werden, um das Netz zu knüpfen und Erzähltes zu ergänzen und auf die wiedergewonnene Umwelt Einfluss zu üben: Antes de volverme a Madrid, quiero pedirle al alcalde de El Puerto de Santa María que ponga en marcha el gran reloj de la torre de la iglesia Prioral, aquel que cuando yo era chico siempre me iniciaba la hora puntual de llegar al colegio. Pues ahora, a mis ochenta y ocho años, estando amarillenta su esfera y paralizadas sus manecillas, será el culpable de mi tardanza a clase de Perceptiva Literaria, y el padre Aramburu me acusará otra vez ante mi familia de no llegar a tiempo a clase. (AP V, 160)
In dieser Hinsicht erfährt das zuvor Dargestellte eine Komplettierung und nicht nur einfache Wiederholung. Mit der vollendeten, großen Bewegung seines Lebens, die Alberti wieder zurück an seinen Heimatort führt, wendet er sich mit der Sicht des Heimgekehrten ein letztes Mal seinem Leben zu. Mit den Neuauflagen der im Exil publizierten Bücher werden diese angereichert mit Neuem. Dabei
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Dass diese Entwicklung auch bei Alberti nicht selbstverständlich und ohne Zweifel verlief, zeigt sein Gedicht Canción del posible retorno an, das er unmittelbar vor seiner Rückkehr nach Spanien verfasste und die ambivalenten Gefühle in jener Situation zum Ausdruck brachte.
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handelt es sich vor allem um Bilder. La arboleda perdida ist der Reflexionsraum dieser Unternehmungen. So erfahren wir über die Neuauflage von dem 1953 im argentinischen Exil verfassten Ora marítima, dass es nun mit den eben erst in El Puerto de Santa María produzierten Bildern «vervollständigt» werden soll (AP V, 163). Die Poesie der Nostalgie wird mit dem freudigen Blick des Zurückgekehrten vereint. Wenn es im Exil ein Haus war, das den Namen des zurückgelassenen Ortes «La arboleda perdida» trug und somit diesen Ort materialisiert im Exil wieder entstehen ließ, erfolgt nun die umgekehrte Bewegung, indem der Titel des Buches, das im Exil einen Sehnsuchtsort beschreibt, Ora marítima, zum Namen eines neuen Hauses in El Puerto de Santa María wird und damit an seinen «Ursprungsort» zurückfindet. Nicht grundlos scheint es, dass Alberti die Vorstellung in Euphorie versetzt, dass «los escolares y estudiantes gaditanos conoszcan la historia de Cádiz a través de mis versos» (AP V, 163). Wie sehr diese geeignet sind, historisches Wissen zu vermitteln, liegt nicht zuletzt daran, dass sie sich antiker Formen bedienen, in Dichtung und Bildern Geschichte(n) zu erzählen. Mit dem letzten Buch der Autobiographie wird der Leser Zeuge alternativer Formen der Wissensvermittlung und ihres Prozesses. Dieser Prozess geht einher mit der ungebrochenen Aktivität desjenigen, der selbst als wandelndes Wort die Welt bereiste, eines fahrenden Sängers im wahrsten Sinne des Wortes. In Zeitschriften, Versammlungen und Konferenzen, Bildern und Briefen teilt er sich unermüdlich auf alle ihm zur Verfügung stehenden Weisen mit. Tagtäglich erfahren wir von den Auswirkungen von Kriegen auf die Kultur und Wissensbestände der Regionen, die diesen Konflikten ausgesetzt sind. Zahlreich sind die Beispiele derer, die plötzlich alles zurücklassen müssen. Diese Momente sind bedeutungsvoll, denn mit ihnen setzt sich nicht nur ein Mensch in Bewegung, sein Leben zu retten, er wird zugleich zum Träger eines ihm eigenen Wissens. Von Emilio Prados wissen wir über den Verlust zahlreicher seiner Gedichte, die er im Exil zu erinnern versuchte. Produkt dieser Anstrengung war Memoria del olvido, ein Band, der sich in der Bibliothek der Albertis befand. Fast könnte man mit den Worten Grangers aus dem Roman Farenheit 451 sagen: «I wrote a book called The Fingers in the Glove; the Proper Relationship between the Individual and Society, and here I am!» womit sich Granger auf sich selbst als Buch bezieht, dessen leiblicher Träger er ist.188 Folgen wir den Spuren, wie sie Alberti in seiner Autobiographie legt, so sind es die eines Dichters in den Straßen der Welt, von dem wir wissen, dass er in ununterbrochenem Austausch mit den ihn umgebenden Menschen stand. Wissen wurde auf diese Weise in Gesprächen erworben, weitergeschrieben und -gemalt. Als Dichter wurde Alberti somit wandelnder Text und Bewahrer gefährdeten Wissens, das er ins Exil und damit in die Welt trug. Erst mit seinem Tod endete der begonne Fluss, aus dem heraus immer wieder Wissen im Schreiben und auch Malen geformt oder in Gesprächen weitergegeben wurde. Mit Alberti und León bewegen wir uns in einer Zeit, in der vor allem die Kommunikationsme-
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Vgl. hierzu Ray Bradbury: Fahrenheit 451. New York: Ballantine 1989, S. 150.
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dien Zeitungen, Zeitschriften der Verbreitung dienten und sich Film und Radio nur allmählich durchzusetzen begannen. Textinhalte konnten nicht ohne weiteres übertragen werden. Die meist – nachdem sie handschriftlich vorgefertigt worden waren – an der Schreibmaschine getippten Manuskripte wurden oft als das einzig bestehende Dokument an den Verleger weitergeschickt. Dennoch war der Produktionsprozess schneller als in jeder vorangegangenen Zeit und doch soviel langsamer als heute, wo sich die Beziehung zum einzelnen geschriebenen Wort verändert hat, da es leicht zurückgenommen werden kann und Funktionen wie cut, copy und paste das tägliche Generieren von Text begleiten. Der bereits zitierte Brief von José Bergamín aus Mexico D.F. vom 27. März 1942, in dem sich Bergamín auf die gerade erschienene Ausgabe von La arboleda perdida bezieht und Auskunft über die Qualität des Papiers und kurz über die Gestaltung des Textes gibt, ist an Alberti gerichtet, der zu diesem Zeitpunkt in Buenos Aires lebte und auf den Erhalt des Buches wartete. Alberti wird Kritik an der Überarbeitung seines Textes üben, in der sich zu viele Ungenauigkeiten befanden. Der verständliche Unmut darüber dürfte jedoch auch aus dem Bewusstsein erwachsen sein, dass eine Änderung dieser Fehler nicht ohne weiteres möglich sein würde. Dass Alberti später nicht selbstverständlich über eine eigene Ausgabe des Buches verfügte, zeigt sich in einem weiteren an Marrast geschriebenen Brief vom 12. April 1953: Desgraciadamente el único ejemplar de «La arboleda perdida» que yo tenía lo devolví no hace mucho a la persona que me lo había prestado. Lo siento de verdad. Sé quien tiene en España un ejemplar, el joven poeta, hoy buen amigo mío, Rafael Montesinos. Tal vez él se lo prestará se se lo pide usted de mi parte. Vive en Madrid: General Pardiñas 72. Es un gran muchacho.
Die schwer zu bekommenden Bücher sind in Bewegung, um ihre Inhalte zirkulieren zu lassen. Alberti selbst muss sich Jahrzehnte später eine Version von Memoria de la melancolía ausleihen. Über die Meere gelangen Bücher von Bekannten und Freunden nach Argentinien, von deren Herkunft die Widmungen zeugen, wie die Marie Laffranques in ihrem an Alberti und León geschickten Buch Federico García Lorca. Declarations et interviews retrouvés. Darin steht geschrieben: «A Rafael Alberti et María Teresa León, ces pages qui ont dejà passé mer et frontières, avec le bien cordial salut de M. Laffranque, Toulouse 12 janvier 1957.»189 Eine jede der Autobiographien dieses Paares entsteht an einem anderen Ort, in einer anderen Situation, muss bewegt werden, um gedruckt oder gelesen werden zu können. Ferner reisten León und Alberti unermüdlich, um selbst ihr Wissen zu verbreiten. Im Falle Albertis geschieht dies mit einer ständig im Wandel begriffenen Sprache, die den unterschiedlichsten Einflüssen unterliegt. Die Sprache ist bei ihm nie grammatisch festgelegt, verlässt immer wieder ihren ihr zugewiesenen Platz und bleibt in Bewegung vor allem auch dadurch, dass sie von Alberti immer wieder neu bei seinen unzählbaren öffentlichen Auftritten als
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Das Buch ist in der Bibliothek der Fundación Rafael Alberti einzusehen.
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Dichter rezitiert und artikuliert wird. Bewegung und Artikulation sind aufs engste miteinander verknüpft: Quiero ir. He querido ir, ansiado ir como nunca. Mas no recuerdo en mi vida nada igual que me lo haya impedido. Me he quedado sin voz. No me salen las palabras. Ni claras ni oscuras. Pero yo tengo que hablar sin más remedio, moverme, decir, gritar la poesía a los cuatro vientos, y no quedarme aquí mirando al techo, atado, como jamás me ha sucedido. Cierto es que me duele algo el tórax y un punto abajo del pulmón derecho, y que cuando intento toser, en espera de arrojar algún mínimo lírico espunto, no logro nada, sintiéndome casi impotente y desesperado. Me debo preocupar ahora de qué lado dormir. La bronquitis vigila. (AP II, 410f.)
Mit der wiederkehrenden Erfahrung eines versehrten Körpers, der seinen Dienst versagt, nehmen Alberti und León immer wieder ihre Abhängigkeit von diesem Körper-Leib wahr, den sie, wenn er seinen Dienst endgültig versagt, selbst nicht zu überwinden vermögen. Der Körper als Speicherraum, Quell und Medium von Wissen rückt damit ins Zentrum. Als heimliche Schaltstelle teilt er sich mit. In einer Zeit der immer leichter werdenden (Re-)Produzierbarkeit und Zirkulation von Wissen erscheinen Inhalte ent-körpert. Im Falle Albertis und Leóns hingegen muss das organische Gedächtnis des Körper-Leibes als ernstzunehmender Träger und Vermittler, aber auch als ein geheimer Ort von Wissen der Autoren wahrgenommen werden.
4.4.
TextKörper
An vielen Stellen werden in La arboleda perdida und Memoria de la melancolía der Prozess einer sinnlichen oder haptischen Wahrnehmung der Welt und deren Inkorporation in den TextKörper im Schreiben vorgeführt. Dem Körper im Text auf die Schliche zu kommen bedeutet, seinen sinnlichen und tätigen Erscheinungen zu folgen, die beredt und unsichtbar zugleich am Werk sind und als (Re-)Präsentiertes und (Re-)Präsentierendes die Narration prägen. Es lassen sich Spuren des menschlichen Körpers innerhalb der Autobiographien ablesen, die mit bestimmten Aspekten der Formung von Leben im Text verknüpft sind und gleichzeitig selbst auf den Körper als eigenständige Lebensform verweisen.190 Immer wieder erschien entlang der vorangegangenen Abschnitte der Körper als Bezugsgröße beider Autoren, der in den vorliegenden Autobiographien eine besondere Rolle spielt und das ausgeprägte Bewusstsein Albertis und Leóns für die Rückgebundenheit des Schreibens und Sprechens an den Körper im Allgemeinen ist. Das autobiographische Schreiben beider Autoren wird von dem Wissen um Verletzlichkeit und Vergänglichkeit des Körpers begleitet, die nicht nur in
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So hat beispielsweise ein Aitana Alberti bekannter Psychiater darauf hingewiesen, dass gewisse in Memoria de la melancolía auftretende Wiederholungen auf die ersten Anzeichen einer Erkrankung des Gedächtnisses hinweisen könnten. Aitana Alberti in einer E-Mail vom 19.Oktober 2006 an die Verfasserin der Studie.
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Reflexionen über den kranken oder alternden Körper Ausdruck finden, sondern die Textproduktion unmittelbar mitbestimmen. Im Folgenden wird dem Körper im Schreiben beider Autoren nachgespürt und danach gefragt, wie er in den Autobiographien zur Darstellung kommt, welche Funktionen ihm zugeschrieben werden und in welcher Weise er als Textkörper in Erscheinung tritt. Zu diesem Zweck wird auch die Sprache des TextKörpers betrachtet, die in der und als Ausgestaltung der sinnlichen Wahrnehmung der Lebenswelt und des Wortmaterials TextSinn generiert. Sie gibt uns Aufschluss über den Körper im Text und des Textes und erlaubt in einem weiteren Schritt, die Literarisierung von TextLeben mit dem für die Lesenden ästhetisch erfahrbaren Textkörper ins Verhältnis zu setzten. Das EigenLeben des TextKörpers ist insofern von einem besonderen Interesse und bildet den Abschluss der Analyse, da es einmal mehr deutlich werden lässt, dass beide TextLeben nichts Feststehendes, sondern transportierbar und in ihrer nicht endgültig verortbaren Materialität wandelbar sind. Sie können von Lesenden und Schreibenden aufgegriffen werden, um sie sich als bewegbaren und transformierbaren Text anzuverwandeln. Schließlich geht es im Kontext von Lebenswissen um den Text, der als Resonanzkörper Sprache darbietet und nicht zuletzt dadurch überleben lässt, dass Worte über die TextLeben hinaus nachhallen und immer wieder neu kombiniert und orchestriert werden können. 4.4.1.
Leben(s)formen: Körper und Schreiben
4.4.1.1. La arboleda perdida: SinnenSpiele und WortGefechte eines bewegten TextKörpers Das Beispiel des nach einem Unfall versehrten Dichters (AP IV, 445) aus dem vorangegangenen Abschnitt Bewegungs(t)räume, der die schmerzvolle Reise um einen Tisch beginnt, führt die letztlich immer bestehende Abhängigkeit der autobiographischen Praxis von einem nicht nur lebendigen, sondern auch intakten Körper vor Augen, ohne den diese möglicherweise gar nicht oder nur eingeschränkt stattfinden kann. In der Bewegung um den Tisch mit seiner spiegelnden Tischplatte werden weitere Reflexionen des immer noch «dichtbelaubten Hains» des Lebens entdeckt, die Alberti die zukünftige Fortführung seiner Erzählung am Ende des vierten Buches in Aussicht stellen lassen (AP IV, 445). Dennoch wird der Kreis mit der Rückbesinnung auf das erste Buch geschlossen und es mutet wie ein provisorischer Schluss an, falls diese Aussicht nicht erfüllt werden sollte und so sieht sich das erinnernde Ich im Spiegel des Tisches/Gedächtnisses nochmals das Haus in der Santo Domingo Straße verlassen auf dem Weg, der zum Colegio San Luis Gonzaga führt, nahe der gaditanischen Bucht. Der gegenwärtige Körper versagt seinen Dienst noch nicht und ein weiteres, letztes Buch kann geschrieben werden, während León sich ihrem Schicksal und einer Krankheit beugen muss. Obgleich am Ende ihrer Autobiographie in Majuskeln das Wort «CONTINUARÁ» geschrieben steht, wird es diese Fortsetzung 170
nicht geben. Nicht der Tod, sondern ihr durch die Alzheimerkrankheit versehrter Körper verwehrt ihr den schreibenden Ausdruck ihres Lebens. Am Anfang von La arboleda perdida stand das Ineinandergreifen der Sinnessphären: «[e]ntonces es cuando escucho con los ojos, miro con los oídos, dándome vuelta al corazón con la cabeza, sin romper la obediente marcha» (AP I, 12). Die Augen übernehmen die Funktion der Ohren, mit denen wiederum geschaut wird, während der Kopf das Herz bewegt. Das Spiel mit den Sinnen und mit dem Körper im Text verwischt die Grenzen zwischen dem Getrennten und es kommt zu einer besonderen Form der Synästhesie und der Verbindung von Körperteilen. Das Ineinandergreifen der Sinnessphären liest sich wie eine körperlich notwendige Voraussetzung zum Verständnis der künstlerischen und literarischen Praxis Albertis, in der verschiedene Ausdrucksebenen zusammenfließen. So werden die Worte als KlangFarbe wahrgenommen, die Alberti vor allem auch in seinem Gedichtband A la pintura und in seinen gemalten Versen als DichtKunst vorführt. Im ersten Buch findet die Resonanz von Worten im erinnernden Ich ihren Ausdruck in der Imitation von (stattgefundenen) Dialogen, Zitationen von gelernten Verschen und Textstellen, die dem TextKörper der Autobiographie zugeführt werden. Im dritten Buch wird nun das Kompositionsprinzip selbst, das von der kleinstmöglichen Einheit ausgeht, in einem Gedicht poetisch beschrieben und führt damit auf den Ursprung Albertis Schreiben (ob autobiographisch oder dichterisch) zurück, der in den mit allen Sinnen wahrgenommenen Buchstaben liegt. Das Alphabet als Basis der von Alberti verwendeten Sprache wird mit dem Gedicht El lirismo del alfabeto (AP III, 218) innerhalb seiner Autobiographie besungen und liest sich wie eine Versinnbildlichung des organischen, an das Leben gebundenen und zugleich immer in besonderem Maße ästhetisierten Schreibens Albertis: Me siento arrebatado por las letras, me atacan ciegas en la noche, me invaden: me cercan en el día, tomándome los ojos al asalto, arrancándome el sueño y arrojándomelo de la sombra a la luz, de la luz a la sombra, inexorablemente. Guerra sin fin y sin cuartel, mortal y alegre en cada instante. Rimbaud le dio color a las vocales, mas cada letra – todo el alfabeto – se exalta en un color, hace visible, hasta casi poder tocarlo, su sonido. He aquí la armada invicta, las iniciales jefes de la palabra, torres mayúsculas, altos capitanes que en batalla continua, entrelazados, provocan desde siglos todas las conmociones, ligeras o profundas, del ser, del pensamiento.
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Pintura, poesía, caligrafía y música - hojas, estrellas, flores – aquí, en un solo ramo. El alfabeto es todo. En la caligrafía exaltada, resuena cada cosa. De parte a parte, recorre el mundo el lirismo del alfabeto. Oíd. Todas las letras cantan en las antenas. (AP III, 218f)
Von den Buchstaben mit- und hingerissen wird das hier in Erscheinung tretende lyrische Ich von diesen des Nachts heimgesucht und eingenommen, ja geradezu durchdrungen. In einem endlosen ebenso tödlichen wie freudigen Krieg, bewegen die Buchstaben das nächtliche Sein des Ichs. In Farbe getaucht treten sie ihren Siegeszug an, der alle Ebenen des Seins erfasst und bewegt. «Pintura, poesía, caligrafía y música» sind im Alphabet enthalten, und können zum Klingen gebracht werden. Die Autobiographie wird mit diesem Gedicht, das in ihr erscheint, als Kreation dieser Buchstaben enttarnt, die das Sein des Menschen in unendlichen Kombinationen zu formulieren vermögen und sichtbar, fühlbar und hörbar werden lassen. Bei Martin Seel heißt es, Literatur sei «kraft ihres [die individuelle Anordnung der Worte] Erscheinens [...] ein weites Reich der Imagination, in dem etwas – Himmel oder Hölle, Ding oder Ereignis – in seinem Erscheinen vorgestellt werden kann.»191 Alberti geht einen Schritt weiter und schreibt diese Kraft dem Erscheinen der Buchstaben zu, die diese Worte ja erst hervorbringen. Der TextKörper rückt damit ins Zentrum des Interesses und mit ihm die Vielfalt der Möglichkeiten ihn wahrzunehmen. Literarische Texte vermögen eine besondere Gegenwart herzustellen und «vor den Augen und Ohren der Lesenden Versionen eines sprachlichen Weltzugangs» zu konstruieren.192 Es wurde in den vorangehenden Abschnitten immer wieder deutlich, wie sehr in La arboleda perdida Sprache reflektiert und bewegt und ein Über-Leben, als ein über das Leben hinausgehendes Ästhetisiertes, im Text erzeugt wurde. Die Erscheinung von Sprache und Sinnen im Text zeigt deren Bedeutung zur Erfüllung einer ästhetischen und beglückenden Erfahrung von Sprache. In der Inszenierung von Sinnen und Sprache im Text, den wir sehend lesen, wird all dies in schwarze Zeichen auf einem Blatt Papier gefiltert übermittelt. Versinnbildlicht wird die Leidenschaft für die lautmalende Sprache auch und vor allem in der BildSprache, wie sie in den in Rom gemalten Buchstaben des Alphabets greifbar wird. Das Gedicht streicht ferner die geradezu kämpferische Dimension des Verhältnisses des Dichters zur Sprache, mit der Alberti immer auch ringt, heraus. Mit der Leidenschaft für die Sprache und der Entscheidung Dichter zu werden, erwächst schon früh das Leiden an derselben: Quería solamente ser poeta. Y lo quería con furia, pues a los veinte años aún no cumplidos me consideraba casi un viejo para iniciar tan nuevo como dificilísimo camino. Vi
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Seel: Ästhetik des Erscheinens, S. 205. Ebd., S. 210.
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entonces, como sorpresa, que lenguaje no me faltaba, que lo poseía con gran variedad y riqueza, pero que en cambio mi ortografía era más que deficiente, resistiéndoseme de cuando en cuando la sintaxis. Empecé a prestar más atención en mis lecturas, observando cada palabra, consultando en el diccionario con frecuencia y no hallando jamás en la gramática solución a mis vacilaciones. El trabajo y el tiempo me fueron arreglando las cosas. Pero nunca del todo, pues aún ahora cuando escribo estoy lleno de dudas. (AP II, 162)
Der gezähmten Sprache der Grammatiken wird eine lebendige Sprache des Sprechers und Schreibers entgegengestellt, der sich im Prozess ihrer Erschließung befindet und als Autodidakt, denn das ist es, was Alberti vor allem und in jeder Hinsicht war, an ihr scheitert und wächst, indem er sich von ihr herausfordern lässt und um die Richtigkeit der von ihm verwendeten Sprache bangt. Diese Bedenken können ihn freilich nicht davon abhalten, wie ein «Verrückter zu schreiben» (AP II, 163), denn die Leidenschaft für die Dichtung ist größer und wird mehr und mehr zur Lust am und im Text. Dass diese ihn jedoch auch zu quälen vermag, da durch sie eine eigene Dynamik entsteht, die vor allem den späteren, bekannten und von Ehrungen überhäuften Dichter nach seiner Rückkehr nach Spanien in ihren Bann zu ziehen scheint, wird im vierten Buch formuliert: Ahora es cuando deseo, sobre todo en las noches, tirar todo. Romper todo. Vamos ¡Valor! Me inundan, me acosan los papeles: cartas, sobres rotos, catálogos de exposiciones, revistas periódicos... Me invaden. Mi cuarto ya no es más que el breve espacio de mi cama. Dentro de ella me defiendo. Mi barricada. Mi trinchera. Pero me cercan. Avanzan milímetro a milímetro. No puedo más. ¡Afuera! No quiero ver más libros, más cartas, más sobres a pedazos por el suelo. ¡Dejadme! Voy a gritar. Y grito. (AP IV, 397)
Doch sind es eben diese ihn in jenem Moment übermannenden Sprachprodukte, die es ihm erlauben werden, über den Tod hinaus präsent zu bleiben. Das eigene Sein in eine lebendig bleibende, klangreiche und farbenfrohe Sprache zu übersetzten und in einen TextKörper, mittels unendlicher Denk-, Erinnerungs- und Schreibbewegungen einzuschreiben, ist nicht zuletzt das besondere Bestreben Albertis in der Hervorbringung seines TextLebens. 4.4.1.2. Memoria de la melancolía: Einverleibungen und figuratio. Materia mater formarum Memoria de la melancolía beginnt mit einer Inszenierung der Haptik, mit dem Umarmen der Ecken und dem Küssen des Asphaltes, einem textuell inszenierten Ergreifen des schwindenden Lebens. León führt in Memoria de la melancolía das Bestreben vor, mittels Schrift Fehlendes und Ausgegrenztes hervorzubringen, zur Not, sofern die Belege dessen, was geschah, vernichtet worden sind, kraft Imagination. Während daraus eine zunehmend verletzte und verletzende Schrift erwächst, wird eine Form der Verlebendigung eben dieser versucht: Ecribo con ansia, sin detenerme, tropiezo, pero sigo. Sigo porque es una respiración sin la cual sería capaz de morirme. No establezco diferencias entre vivir y ecribir. (MM, 256)
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Schreiben und Sein werden hier als zwei nicht voneinander zu trennende Phänomene beschrieben. Mehr noch: Die Tätigkeit des Schreibens wird ebenso benötigt wie andere zum Leben notwendige biologische Grundvoraussetzungen, wie etwa das Atmen, erscheint als Existenzbedingung und «enfermedad incurable» (MM, 8), als Überlebensstrategie und Krankheit zugleich. Das «Atmen», d.h. das Schreiben, aus dem die autobiographische Darstellung hervorgeht, formt als Schrift den Übergang von Leben in Text. Im autobiographischen Schreiben wird nicht nur das Leben Leóns literarisiert, sondern auch ein Über-Leben im und durch das Schreiben selbst inszeniert und dem Verständnis des Selbst und der Suche nach ihm in Memoria de la melancolía eine besondere Prägung verliehen. Betrachtet man Teile des von León handgeschriebenen Manuskripts, lässt sich beobachten, wie eine Seite mit einem Kugelschreiber begonnen wird, der allmählich nachlässt und mitten in einem Wort von einem Bleistift abgelöst wird, dem bald darauf ein schwarzer Stift folgt, der wiederum seinen Dienst versagt. Die Schrift erscheint eilig geschrieben und orientiert sich nur grob an den vorgegebenen Linien des Heftes. Sowie anhand der Schrift Brüche und Übergänge von einer Farbe zur nächsten deutlich werden, münden die produzierten Fragmente von Memoria de la melancolía plötzlich in einen Text Albertis, den León kurzfristig zu notieren schien, während sie an ihrem eigenen arbeitete. Ihre von der Hand geführte Schrift scheint wahrlich auf dem Sprung zu sein und gegen die leergeschriebenen Stifte ebenso anzukämpfen wie gegen eine Vielzahl ungeordneter Eindrücke, die von außen kamen. Memoria de la melancolía stellt als autobiographischer Text inhaltlich und formal einen Grenzfall dar: Die Autorin wagt sich in eine Art Niemandsland zwischen Leben und Schrift vor, bei der eine individuelle Sinnstiftung durch eine Fundierung des Lebens im Schreiben und vermittels einer spezifischen Schreibweise erfolgt, die von ihrem Schreibmaterial, dem Ort des Schreibens und dem sich dieser Tätigkeit hingebenden Körper beeinflusst wird. In Memoria de la melancolía wird an einer Stelle der komplexe Prozess des Schreibens auf besonders eindrückliche Art gewürdigt: Me gusta cuando los franceses dicen: «femme de lettres». Eso, mujer de letras, una junto a otra, no de palabras, letras sueltas como aquellas que nos servían en la sopa del Colegio del Sagrado Corazón. Letras que flotan perseguidas por la cuchara, donde iban a morir. (MM, 286)
Die Tagessuppe des Colegio del Sagrado Corazón wird zum Ort, an dem Löffel Buchstaben jagen. Die Buchstabennudeln werden von den Löffeln verfolgt, um sie in den Mund und damit in den Tod zu führen. Dies geschieht jedoch nicht, ohne dass Löffel und Buchstaben zuvor Wörter geformt haben: ¿Compusieron alguna vez en el plato mi nombre? «Femme de lettres». Nunca me he sentido más letrada, nunca he sentido más reverencia por el estado de mi inquietud, por esa comenzón diaria en carne propia que me da el escribir. Decimos al hacerlo casi en voz alta lo que las pequeñísimas células interiores nos dictan. El dedo, la mano que hace la letra son la alegría de nuestros ojos, casi como el cepo, pues si se pudiera gritar y escribir se gritaría: ¡Ya lo tengo, ahí te quedas, te atrapé por fin! (MM, 286; Hervorhebungen hinzugefügt)
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Der Akt des Schreibens, der sich hier im Suppenteller ereignet und mit der Einverleibung des «fleischgewordenen» Wortes einhergeht, verleiht der jungen Schülerin ein besonderes Gefühl der Gelehrtheit. Hand, Schrift, Freude und Augen werden in dem eben zitierten Abschnitt in einem Satz zusammengeführt, denn: ‹Letrada› (learnd) for León means being corporally linked to the act of writing, feeling the letter with the hand, the finger, the eyes. Writing is an act of entrapment of a physical entity, like a toad, but the pleasure at catching it quickly fades when the writer questions […] what she has written and crosses it out.193
Die Polysemie des Wortes «letra», das Buchstabe, Handschrift, Wort aber auch Lied oder Gesang bedeuten kann und von der Hand geschaffen, aber auch zerstört wird, unterstreicht die Wichtigkeit dieses Organs im Prozess des Schreibens, das ein unverzichtbares Werkzeug für die heranwachsende Schriftstellerin ist: El escribir puede dejar nos tan exhaustos como una noche de amor. A veces parece que la mano corre, corre y canta. «Femme de lettres». Pero a veces me descalzo de la alegría al releer lo que voy escribiendo y no me gusta, y todo se me deshace y no veo nada y mis ojos me parecen los de los topos a quienes ciega la luz. Entonces cruzo todo lo que he escrito con rayas y me parece que estoy tendida sobre la cruz en aspas de San Andrés y me sorbo poco a poco la pena de no ser ni siquiera esa pequeña «femme de lettres» que merece un saludo amable, una sonrisa. (MM, 286; Hervorhebung hinzugefügt)
Oralität und Lust gehen hier mit dem Prozess der Konstruktion und Destruktion oder, in Anlehnung an Kristeva, mit einem «Todestrieb» einher, der sich hier im Wiederlesen ereignet.194 Über die Mundhöhle als Wahrnehmungsorgan wird der Kontakt zur Außenwelt und mit dem Anderen, hier den Wörtern, zuerst hergestellt, bevor das Einverleibte wieder ausgestoßen wird.195 Lusterleben und Verwerfungen bedingen sich gegenseitig und es sind die Spuren der Wörter, die den Text bilden, denn Präsenz und Absenz manifestieren sich gleichermaßen und der Text als Spur ist hier die Vermittlungsinstanz zwischen beidem. Die Sprache wird hier als substantieller Gegenstand in Form von Buchstabennudeln erfahren, die sich immer auch entziehen.196 Der spielerische und dennoch ernste Umgang mit den Buchstaben im Speziellen und mit Sprache im Allgemeinen zeigt das ausgeprägte Bewusstsein für die Sprache an, das in vielerlei Hinsicht an Derridas Begriff der différance erinnert, die den Doppelsinn von fester Struktur und fließender Strukturation bezeichnet.197 In dem hier zitierten Textausschnitt von Memoria de la melancolía entwickelt die Sprache eine Art Eigenleben.198 Das Wort erscheint hier zunächst isoliert, aus
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Ugarte: Women and Exile, S. 215. Kristeva: La révolution du langage poétique, S. 136. Ebd., S. 139. «The letters are embodied; they turn into objects to be consumed in the soup.» Ugarte: Women and Exile, S. 214. Vgl. hierzu die Ausführungen Zimas zum Begriff der différance. Zima: Theorie des Subjekts, S. 207ff. Ich möchte darauf verweisen, dass León an einer Stelle in Memoria de la melancolía das Zurücktreten des Autors hinter den von ihm produzierten Text als größten Triumph
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allen sprachlichen Zusammenhängen gelöst und in seine Elemente, Buchstaben und Laute, zerlegt. Die ungeübte Leserin entziffert, während sie schreibt. Die Wortgrenzen ‹verschwimmen›. Das Rohmaterial der Sprache, die Buchstaben, die in der Suppe schwimmen und versuchen, dem Löffel zu entkommen, wird bearbeitet. Es ist eine TextArbeit als sinngebende Praxis, die das Verhältnis von Text, Subjekt und Sinn vorführt. Text und Subjekt erzeugen sich gegenseitig, sind eins, «eso, mujer de letras, una junto a otra, no de palabras, letras sueltas [...]. Letras que flotan perseguidas por la cuchara, donde iban a morir» (MM, 286), um wieder zu zerfallen. Das Subjekt verliert sich im Text, folgt der Leerstelle. Das moderne Identitätsproblem findet hier seinen Ausdruck: Die Sehnsucht des Subjekts nach Identität, nach Übereinstimmung mit sich selbst, nach Einheit und Unteilbarkeit wird nicht erfüllt. Das Zeichen ist ein vieldeutiges, instabiles. In diesem Sinne wird das Subjekt des Textes, das durch die Tätigkeit des Komponierens von Wörtern und im femme de lettres schreibend zum Vorschein kommt und aufleuchtet, zwar nicht beseitigt, aber zerstückelt oder systematisch zerteilt. Hierin wird die Identität des Subjekts, das eines im Prozess des Werdens ist, bestritten, aufgelöst und wieder neu konstruiert. Die Praxis hat keinen Boden, sie vollzieht sich ‹schwimmend› in einer Suppe ähnlich Albertis in die Lüfte geschriebenen Lebens. Der SuppenText ist endlich und unendlich zugleich. Endlich, weil ihm durch Einverleibung, durch Tod, ein jähes Ende gesetzt werden kann. Unendlich, weil er in seiner Wandelbarkeit einen Prozess in Gang setzt, der immer wieder Neues hervorbringt, immer in Bewegung ist. Das spielerische Schreiben im Suppenteller spiegelt das, was sich auf dem Papier ereignet: Hier können die Buchstaben zwar nicht verzehrt, jedoch durch das Durchstreichen ‹vernichtet› werden. Es ist die ‹Lust am Text›, die ungeachtet gesellschaftlicher Konventionen das schreibende und zugleich lesende Subjekt hier umtreibt und ihm neue Handlungs- und Erfahrungsräume eröffnet. Das schreibende Subjekt ist wie die Buchstaben durch das wechselnde Spiel von An- und Abwesenheit und Nichtgreifbarkeit und Greifbarkeit gekennzeichnet und stellt sich als sinngebende Praxis dar, als Prozess der Sinngebung.199 Wie die Praxis stellt es einen Widerspruch dar, «car la pratique est toujours une pratique signifiante, sémiotique et symbolique, une crête où émerge et se perd le sens.»200 Der Prozess weist hier über das Subjekt und die Kommunikationsstrukturen hinaus und tritt als Verausgabung in Erscheinung, denn der Sinngebungsprozess ist ein heterogener Prozess: «fond morcelé anrachique, ni blocage schizophrène, est une pratique de structuration et de déstructuration, passage à
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betrachtet: «Pasará el tiempo. Pasaremos. Un día la tradición oral repetirá estas palabras sin saber el nombre de quien las escribió. Ese es el triunfo total de un poeta» (MM, 294). Kristeva: La révolution du langage poétique, S. 188. Ebd.
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la limite subjective et sociale, et – à cette condition seulement – il est jouissance et révolution.»201 «El escribir puede dejar nos tan exhausto como una noche de amor» ist verausgabende Leidenschaft und als fleischgewordenes Wort Nahrung. Memoria de la melancolía unterscheidet sich von traditionellen autobiographischen Erzählweisen, indem es als formales Experiment nicht nur Inhalte, sondern auch den sprachlichen Sinngebungsprozess selbst thematisiert und inszeniert. Tradierte Zeichensysteme werden aufgenommen und zerstört, indem sie in einen neuen Sinnkomplex transformiert werden. Die Autorin weiß um ihre eigene Entstehung aus Trieb und Gesellschaftsprozess und damit auch um die Vergänglichkeit der neuen Sinnsetzungen, die ihr Text hervorbringt. Der Prozess der Sinngebung wird in das Ergebnis dieses Prozesses selbst, den literarischen Text, eingeschrieben. Dabei werden in diesem Vorgang Spuren des Angeeigneten im Sinne einer «spirituellen» weiblichen Genealogie, der «femme de lettres», lesbar, die durch die Schrift des Selbst hindurchscheint.202 Femme de lettres ist die Antwort auf die Frage, ob die Buchstaben jemals ihren Namen schrieben, womit sie sich in eine Tradition schreibender Frauen stellt, die jedoch einen anonymen Charakter behalten, denn Namen werden eben nicht genannt. Sie schreibt und liest den SuppenText, verzehrt ihn dann und verleibt sich mit ihm die femme de lettres ein.203 Für León meint «letrada» eine körperliche Verbindung zum Akt des Schreibens, den sie mit Händen und Augen sinnlich erlebt. Diese Transformationsprozesse von Schrift – als Suppe und Text – sind die Grundvoraussetzungen für weitreichendere Neuschreibungen politischer Signifikationsprozesse, mit denen in Memoria de la melancolía eine Transformation von Lebensräumen in Körper und Körpern in Lebensräume vollzogen wird. So wird in Memoria de la melancolía etwa die Madre Patria Spanien, die ideologisch durch den Franquismus überfrachtet wurde und politisch viele Opfer forderte, zur Körperwelt umfunktioniert, um genau zu sein, zu einem Mutterleib transformiert, der die «Madre España» ist. Wie auch bei Alberti wird die Inkorporation des Verlorenen im Text, hier allerdings in einen explizit mütterlich konnotierten Körper-Leib suggeriert und schließlich mit ihr selbst verbunden. Als Direktorin des Comité de Agitación y Propaganda Interior war die Autorin im Spanischen Bürgerkrieg dem Theater in besonderer Weise verpflichtet.204 Auch in Memoria de la melancolía wird auf das Theater als gestalterisches Mittel zurückgegriffen, wodurch die Autorin «su necesidad de convertir la memoria en ficción, de darle un valor autónomo, más allá del ambito autobiográfico» unterstreicht, was mit den Wunsch zu tun hat «de explicar la importancia de la cultura y de la educación a la hora de perfilar históricamente la batalla que se
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Ebd., S. 15. Vgl. hierzu Michel Foucault: L’écriture de soi. In: Michel Foucault: Dits et Écrits. Bd. 4 (1980–1988). Paris: Gallimard 1994, S. 415–430, S. 423. Ugarte: Women and Exile, S. 214. Vgl. hierzu den Artikel von Aznar: María Teresa León y el teatro español durante la guerra civil, S. 23–24.
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libró en España.»205 Das Wort Spanien erfährt in Memoria de la melancolía nicht zuletzt im Rahmen der Guerrillas del Teatro seine Resemantisierung, wenn León, wie bereits erwähnt, zur Verabschiedung der Interbrigadisten die Cantata de los Héroes y la Fraternidad de los Pueblos von Rafael Alberti rezitiert: Yo soy España. Sobre mi verde traje de trigo y sol han puesto Largo crespón injusto de horrores y de sangre. Aquí tenéis en dos mi cuerpo dividido: un lado, preso; el otro, libre al honor y al aire. (MM, 42)206
Mittels eines performativen Aktes werden die Sprache und das Handeln des Ichs miteinander verknüpft und das in Szene gesetzt, was die Autorin im autobiographischen Schreiben unablässig und in vielfältigen Variationen thematisiert, die Zweiteilung Spaniens. Diese wird dem Ich gleichsam eingeschrieben und die Bedeutung des Wortes Spanien neu erspielt. In ähnlicher Weise scheint León in Memoria de la melancolía die verschiedenen Rollen, die ihr von der Gesellschaft auferlegt werden, spielerisch in Szene zu setzen und dabei zu subvertieren. Es ist das abwechselnde Spiel von Maskierung und Demaskierung, dem die Lesenden beiwohnen: Ansprüche und Begehren werden maskiert, um doch immer wieder enthüllt zu werden, wobei dem TextKörper eine besondere Rolle zukommt. Auf diese Weise wird die Aussage «no puedo difrazarme» selbst zum WortKostüm, das eine eigene Nicht-Identität verhüllt. Mit der klassischen Autobiographie verbindet sich eine Konzeption von Identität, die auf Kontinuität und Kohärenz basiert. Wie die eben angestellten Überlegungen zu den Buchstaben der Suppe, «as abstractions, symbols of the very autobiography under discussion», und Formen der Maskerade zeigen, greift im Falle von Memoria de la melancolía die Anwendung eines solchen Modells zu kurz. Nicht die Identität, sondern eine Identität und mit ihr verbunden ein Leben im Wandel, die aus vielen verschiedenen Facetten bestehen und immer vorläufig und fragmentarisch bleiben müssen, da sie keinen festen Zustand erreichen und in Bewegung sind, scheinen auf. Eine narrative Identität bildet sich in Memoria de la melancolía im Prozess der narrativen Formung von Leben aus, die aus einer Pluralität anderer Texte und Leben entsteht und sich (ästhetisch) mit anderen TextKörpern verbindet. Die spielerische kreative Fähigkeit dies zu tun, sich hinund her zu bewegen, zeigt den Versuch, sich in der Suche nach Identität, nicht durch Ausschluss des/der Anderen, sondern in der Begegnung mit, Berührung von und Aufnahme des Anderen zu konstituieren. Dabei wird die damit immer einhergehende Erfahrung der Trennung und Zerrissenheit nicht ausgespart und verdrängt oder zum Ende hin geglättet, sondern vielmehr als einzugehendes und unabdingbares Risiko mitgestaltet.
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Montero: La pasión de la memoria, S. 11. Vgl. hierzu auch Salvador Arias: Testimonio. In: Homenaje a María Teresa León. Universidad Complutense de Madrid. Curso de Verano de El Escorial 1990, S. 65–73 und García Montero: La pasión de la memoria, S. 11.
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Zwei Textsequenzen, die nahezu am Ende von Memoria de la melancolía stehen, sind dem «inventor del cubismo» (MM, 320) Pablo Picasso gewidmet und verweisen nochmals in aller Eindringlichkeit auch auf den Konstruktionscharakter des literarisierten Lebens. Der Künstler, der «mágico prodigioso» (MM, 327), von dem man nie weiß, ob er sein Haus gerade verlässt oder bezieht, übt eine besondere Anziehung auf León und Alberti aus: Y es que el mágico prodigioso da un poco de miedo así, rodeado de esa obra que estamos acostumbrados a ver en los libros, en los museos. Pero este es el laboratorio donde se producen las transformaciones […] Allí hay de todo. Nos atraen las tejas pintadas con ojos, caras, orejas, destino feliz de un trozo de barro que Pablo Picasso se inclinó a recoger para que no murieran. Estamos contentos de pasearanos entre todas las cosas arbitrarias que él toca para darles un destino personal e intransferible. (MM, 327)
Am Beispiel der Herstellungsweise der Gemälde Picassos werden die Momente des Nicht-Ganz- und Unvollständig-Seins, des Abgebrochenen, das heißt Momente des Fragments und des kreativen Schaffens, selbst zur Geltung gebracht. Den Bildern, die in Museen hängen oder in Büchern abgebildet sind, wird hier der Prozess der Hervorbringung dieser Bilder selbst gegenübergestellt. Jedes Stadium der Entwicklung eines Gemäldes, in dem die verschiedenen Fragmente zusammengesetzt werden, stellt immer auch einen Bruch dar. Es sind Entwürfe, von denen man nicht weiß, ob und wie an ihnen weitergemalt wird und die in jeder weiteren Begegnung und Berührung neu herausgefordert werden. Im Malen wird ihr persönliches und unübertragbares Schicksal hervorgebracht. Es bietet sich ein Vergleich zum Akt des Schreibens der Schriftstellerin León an, der in diesem Prozess eine Art Selbstbild entstehen lässt, das sich der Interaktion mit Narrativem verdankt und auf dieses angewiesen ist. Jede Begegnung mit einer neuen Geschichte in diesem experimentellen Stadium des «Laboratoriums für Gedankenexperimente» stellt eine neue Herausforderung dar und setzt neue Kreativität frei. Das Ende dieser Tätigkeit wäre gleichbedeutend mit dem Tod, denn «¿[q]ué es trabajar para Picasso? Creo que es vivir, respirar» (MM, 323), wie für León das Schreiben «una respiración sin la cual sería capaz de morirme» (MM, 256) bedeutete oder, wie es Aitana Alberti formuliert, eine «necesitad vital».207
207
Aitana Alberti: E-Mail vom 19.Oktober 2006 an die Verfasserin der Studie.
179
4.4.2.
ÜberLebenswissen: Von der Performanz zur Resonanz des TextKörpers
4.4.2.1. Memoria de la melancolía: Secretos del corazón. Geheimes Körperwissen Versos secretos, secretos Que nadie ha de conocer. Pulsos de mi corazón, latidos de ritmo roto. Vuelas y vuelas siempre. Una a la llevas rota. Vuelas alicortado. Nadie te curará cuando desciendas. Volar, volar, volar será tu alivio. (Rafael Alberti, Versos sueltos de cada día)
Im Klappentext der Ausgabe von 1970 wird Memoria de la melancolía als «una prosa ceñida por la ternura y los rigores del testimonio auténtico, aquel que nace del corazón» beschrieben. Damit wird eine Klassifizierung des Textes vorweggenommen, die die romantische Idee einer dem Herzen entspringenden Authentizität formuliert und den Körper als Träger einer unverfälschten Wahrheit über den Geist stellt. Was aber, wenn dieser Köper und das in ihm verborgene Herz schweigen? Doy un golpe seco sobre mi corazón y todo enmudece. Entonces no sé si es la mano o el corazón lo que me duele o si los que me miran se ríen al comprender lo que yo no comprendo de mí misma. (MM, 18)
Die Körpergrenzen sind nicht klar definierbar, denn «there are no sharp borderlines between the outside world and the body.»208 Unter der Körperoberfläche schweigt es; das erinnernde Ich hat jedes differenzierte Gespür für seinen Körper verloren. Körperinneres und -äußeres sind von einander getrennt und gleichzeitig durch den durch die Berührung mit der Hand ausgelösten Schmerz, der nicht zuzuordnen ist, verbunden. Dennoch ist fraglich, inwieweit die Berührung eine «fusion of body surface and object»209 impliziert. Das unbestimmbare Körpergefühl des erinnernden Ichs wird hier verknüpft mit einem Gefühl der Unwissenheit und des Nicht-Verstehens seiner selbst in Bereichen, die möglicherweise von seinem Umfeld verstanden werden. Das Eigene ist dem Ich fremd und nicht ohne weiteres zugänglich, obgleich Außenstehende es zu erkennen vermögen. Das Fremdwerden des Ich zu sich Selbst vollzieht sich in Memoria de la melancolía auch auf der Körper-Leibebene.
208 209
Paul Schilder: The Image and Appearance of the Human Body: Studies in the Constructive Energies of the Psyche. New York: John Wiley & Sons 1964, S. 85. Harvie Ferguson: Modernity and Subjectivity: Body, Soul, Spirit. Charlottesville/London: University Press of Virginia 2000, S. 63.
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Sentada en esta tierra de nadie que es el destierro, veo a veces alrededor mío un charco de sangre. No puedo incorporar de nuevo a mis venas la que voy perdiendo. Ya la imaginación no trabaja bastante y la memoria olvida. (MM, 89)
Die letzten drei Sätze dieses Abschnittes führen vier Aspekte zusammen: Das Niemandsland, «el destierro», wird mit dem Blutverlust, der auf das Sterben verweist, verknüpft, denn was mehr und mehr verloren zu gehen droht, kann dem Körper nicht mehr zugeführt werden: «imaginación» und «memoria». Exil, Leben, Imagination und Gedächtnis werden hier verwoben. Die Auswirkungen des langandauernden Exils werden deutlich. Zu Beginn von Memoria de la melancolía lässt María Teresa León verlauten, dass der einzige Weg, der von den Exilierten nicht beschritten wurde, der der Resignation gewesen sei und sie auch das Unmögliche versucht haben würden «hasta que todo se desvanezca o se ilumine» (MM, 8). Die Autorin schreibt gegen den Verlust an, und doch vermag sie es nicht, das verlorene Paradies imaginär zurückzuerobern.210 Sie verharrt im Sinne Bronfens in einem «unheimlichen Dazwischen» des Exils, in dem kein Zuhause artikuliert werden kann.211 Die Hoffnung, die Heimat zurückzugewinnen, schwindet mit der (Un-)Fähigkeit, sich und die Heimat unter der Bedingung der ständigen Wurzellosigkeit immer wieder neu zu konstruieren, denn «[y]a la imaginación no trabaja bastante y la memoria olvida». Auf der Suche nach der eigenen, wahren Identität verliert das Ich schreibend sein ‹Herzblut›, das sich zunehmend erschöpft. Es ist eine Verausgabung, die kein Ziel findet und voraussichtlich genötigt sein wird, mitten im Schreiben abzubrechen – nämlich dann, wenn die ‹Schreibflüssigkeit› nicht mehr ausreicht – ohne die ‹Wahrheit› über sich und das Leben gefunden zu haben. Zwar kennt das Ich noch einen Ort, der die Wahrheit in sich birgt, doch entzieht er sich jedem Zugriff und existiert als ein autonomer Mikrokosmos in ihr: das Herz. ¡Qué sabio es el corazón! Esta tarde cuando el médico lo buscaba, echó a correr, […] como un conejillo que se acurruca en un rincón para que no lo hallen. El médico buscaba el corazón y el corazón hacía trampas, dejaba de latir, se desenfrenaba. No, no quiero que me toque usted con el oído, no quiero que nadie sepa lo que guardo dentro desde hace tantos años. Sería una traición a los que me acariciaron, a los que me quisieron. No pase usted adelante. Deténgase. ¿No se da cuenta de que ahí esta escrita mi vida? (MM, 93)
Dem Herzen kommt als ein Ort der Wahrheit und des Gedächtnisses in Memoria de la melancolía eine besondere Bedeutung zu. Es wird hier mit einem Kaninchen verglichen, das zusammengekauert in seinem Versteck hockt, damit es nicht gefunden wird. Vor denen, die ihm nachzuspüren versuchen (der Arzt), flieht es, um seine Geheimnisse und sein Wissen – auch über diejenigen, die in ihm Spuren hinterlassen haben – nicht preisgeben zu müssen, was einem Verrat gleichkäme. Ein ärztlicher Zugriff wird zurückgewiesen, denn: im Herzen steht
210 211
Vgl. hierzu Elisabeth Bronfen: Exil in der Literatur: Zwischen Metapher und Realität. In: acardia 28, 2 (1993), S. 167–183, S. 183. Ebd.
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ihr Leben geschrieben, dass sie nicht zu offenbaren wünscht. Eine Aussage, die im Kontext einer Autobiographie aufhorchen lässt. Das Gedächtnis des Körpers wird hier berührt, das nicht allein als mentale Angelegenheit verhandelt wird.212 Esos golpes secos que da de cuando en cuando, quieren decir… Bueno, no puedo descubrirle el secreto. Todo, todo lo vivido quedó allí clasificado. Tampoco puedo yo leer lo que a través de la vida quedó en esas tramas sutilísimas que nadie puede descifrar nunca, aunque apliquen toda la ciencia de los descubrimientos viscerales. Es inútil. (MM, 93)
Ihr gesamtes Leben ist in diesem GedächtnisKörper, dem Herzen, enthalten, ohne dass es möglich wäre, das Geschriebene zu entziffern, nicht einmal unter Anwendung wissenschaftlicher Methoden. Nur eines weiß sie, dass es manchmal weint und lacht, sich fürchtet, wenn man seine Schwächen entdeckt, und wie ein Tierchen davonläuft: Únicamente sé que a veces llora. Cuidado, es que ha tocado usted mi infancia. A veces se ríe. No pretenda saber por qué. ¿No siente cómo corre y se escabulle? No quiere que usted conozca la verdad. La verdad... Ya le he dicho a usted que huye, es un animalito que está asustado sólo con suponer que usted note su falla, su desfallecimiento, la llaga, la maceración… Está magullado. Se sabe perdido… . (MM, 93)
Es lebt in einer geheimnisvollen «Landschaft», wo es immer flüchtig, mit all den ihm anvertrauten Geheimnissen, eines Tages verstummen wird, ohne noch irgendeine Erklärung zu geben: Un día, ese animalito tierno a quien hemos entregado todos los secretos, […] que sabe tanto como Dios de eso de nuestro vivir, se callará definitivamente asustada, doblará las orejas y se quedará misteriosamente muda – sin darnos explicaciones – para siempre. (MM, 93)
Im Spiegel von Memoria de la melancolía erscheint der Körper Leóns als eigener Organismus, in den das Leben eingeschrieben wurde. Es ist ein fragmentierter Körper, dessen einzelne Teile – hier das Herz – eine Art Eigenleben entwickeln und sich jeglicher Kontrolle entziehen. Der Schrift wird das Privileg der Wahrheit entrissen. Der autobiographische Text Leóns verlässt «das symbolische Territori-
212
Ich möchte hier auf die Ausführungen María del Mar Inestrillas zur Metapher des Herzens in Memoria de la melancolía verweisen, in denen es heißt: «[...] León invierte el orden primordial de acceso al conocimiento del pasado personal al situar la re-visión de los recuerdos en el corazón, no en el cerebro. El pasado no puede representarse a nivel cognitivo, sino sentirse en lo más hondo del ser, re-vivirse con toda la carga simbólica y emocional que conlleva la experiencia de la guerra y el exilio, y expresarse en forma lírica a través del testimonio íntimo vivo de una superviviente de la gran tragedia de España.» Inestrillas: Exilio, Memoria y Autorrepresentación, S. 108. Sie liest die einschlägigen Stellen hierzu u.a. im Kontext von María Zambrano: La metáfora del corazón (Fragmento). Mexiko: Ediciones del Equilibrista 1987, S. 1–13 und erkennt so ausgehend von Leóns Gedächtnis-Herz, dass «[l]as imágenes de la tragedia española se localizan en el interior de su propio cuerpo, formando parte integrante del ser de la protagonista. En este sentido, los recuerdos son autobiográficos y ‹auto-referenciales› [...].» Ebd., S. 110.
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um der Wahrheit.»213 León löst sich in gewisser Weise und im Sinne Schneiders von der «Vorschrift», ein natur- oder wahrheitsgetreues Porträt von sich zugeben: der Text [treibt] sich innerhalb seiner eigenen Domäne auf jene höhere Ebene, wo er die autobiographische Aktivität, das Schreiben selbst, zum Ersatz für das unerreichbare Objekt-Körper und Erfahrung des schreibenden Subjekts präsentiert. Dieser Text läuft nicht mehr als treuer Mittler hin und her zwischen einem Autorkörper und dem himmlischen oder irdischen Leser. Er umschließt nicht mehr das durch den Schlüssel seines Namens eröffnete Archiv von Ereignissen, Begegnungen, Leiden und Gedanken. Der autobiographische Text [...] macht sich selbst zum Ereignis.214
Der Körper und seine phänomenologische Dimension erscheinen somit in Memoria de la melancolía als ein Erfahrungsraum besonderer Art und als zentrales Medium in der Konstitution von Subjektivität. Als Subjekt betrachtet, erschließt der Körper einen Raum der Authentizität, der eine unvermittelte «Wahrheit» verspricht. Herz und Hände sind die Orte der Wahrheit, die jedoch dem Ich verschlossen bleiben. Während in der Rückschau die subjektive Befindlichkeit des Körpers von Bedeutung ist, der, weil er auf die verschiedenen Erlebnisse reagiert, eine Art Selbsterfahrungs- und Ausdrucksraum darstellt, wirkt das gegenwärtige Ich körperlos. Der gegenwärtige Körper scheint seine unmittelbare körperliche Ausdrucksfähigkeit zu verlieren, während der des Kindes sich in Memoria de la melancolía dadurch auszeichnet, dass er Unerwünschtes und Verdrängtes hervorbringt und ausstößt. Die Disziplinierung des kindlichen Körpers, dem beispielsweise das Weinen untersagt wird, stößt an Grenzen, die unter Tränen, die nicht zurückgehalten werden können oder plötzlich hervorbrechen, überschritten werden und die Ordnung bedrohen. Als zentraler Ort der Abscheu ist der kindliche Körper ferner eng verbunden mit Motiven des sich Einverleibens und wieder Ausscheidens: «Yo me fui derecha al baño a vomitar mis desubrimientos. Fue una protesta contra lo que no entendía» (MM, 14). Die Darstellung der Abscheu kann nach Kristeva als der Teil definiert werden, den das Subjekt im Prozess seiner Subjektwerdung ausscheidet. Diese Ausscheidung markiert die Grenze zwischen Selbst und Anderem und bedroht das Subjekt in seinem Subjektstatus, wenn es als das Unterdrückte zurückkehrt: «Ce n’est donc pas l’absence de propreté ou de santé qui rend abject, mais ce qui perturbe une identité, un système, un ordre. Ce qui ne respecte pas les limites, les places, les règles. L’entre-deux, l’ambigu, le mixte.»215 Das erinnerte Ich verspürt die körperliche Abneigung gegen das, was es nicht versteht. Bezeichnenderweise ist diese Erfahrung eingebettet in einen Textabschnitt, der mit dem eigenen Ausstoß endet. Nach der Überschreitung der Grenzen folgt die Abwehr durch das soziale Umfeld, verkörpert vor allem durch den Vater. Doch das Ich beruft sich auf die Wahrheit des Körpers, die dieser Ordnung ent-
213 214 215
Manfred Schneider: Die erkaltete Herzensschrift. Der autobiographische Text im 20. Jahrhundert. München/Wien: Hanser 1986, S. 9. Ebd., S. 14. Julia Kristeva: Pouvoirs de l’Horreur: Essai sur l’Abjection. Paris: Seuil 1980, S. 12.
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gegengestellt wird. Er steht in dieser Eigenschaft im Kontrast zu einer Ordnung, die nahezu körperfeindlich, diesen spezifischen Raum der Erfahrung verdrängt. Die unkontrollierten Ausbrüche und Ausfälle des Körpers weisen in Memoria de la melancolía auf in der Gesellschaft Verdrängtes und Unerwünschtes (Wut, Trauer, Zweifel) hin. Der «geschlossene Garten» der Vergangenheit, der von der gefühlten Erfahrung des Geschehenen zeugen soll und von der die Autorin zu schreiben gedenkt, ist auch für sie nur bedingt zugänglich: In der Reflexion vermag sie es kaum, einen Zugang zu ihrer früheren Gefühlswelt zu finden. Es sind die in Memoria de la melancolía erinnerten Leiberfahrungen, die Unterdrücktes sowie Vergessenes offenbaren, während der gegenwärtige Körper immer stiller zu werden scheint. Eine weitere Körperebene wird mit den in Memoria de la melancolía in Erscheinung tretenden Händen berührt, die ein geheimes Lebensbuch darzustellen scheinen: Siempre haciendo algo. ¿Por qué estaremos siempre haciendo algo las mujeres? En las manos no se nos ven los años sino los trabajos.¡Ah, esas manos en movimiento siempre, accionando, existiendo solas más allá del cuerpo, obedeciendo al alma! (MM, 81)
Die Hände werden von León als etwas vom Körper abgetrennt Existierendes wahrgenommen und beschrieben, die nicht dem Körper, sondern der Seele gehorchen und sich durch das stetige Tätigsein auszeichnen. Sie werden hier mit dem Bild der unermüdlich arbeitenden Frauen verknüpft. Werk und Hand sind dabei miteinander verbunden: Yo miro las manos, las vuelvo, las acaricio un poco para ver la blandura de su temperamento, les busco los nudos que le dejo la vida, la cicatriz del ansia, la desesperación, la credulidad, la amargura de sentirse traicionadas… . (MM, 81)
Das erinnernde Ich betrachtet, bewegt und liebkost die Hand, in der die Spuren eines Lebens eingeschrieben sind: ¡Qué raras son las manos, esa máquina de la alta tensión humana, esas aspas que solamente se quedan quietas en los retratos! A veces me obsesionan: jugador, mujeriego, falso, intransigente, leal, derrochador, austero, frío, cínico…[…] Te la doy por mujer. Esto es, te doy su mano y en la mano, donde hay tantas cosas, han puesto un anillo, y en el anillo una fecha. Te toman de la mano, te atraen, te besan la mano, te conviertes en su propiedad, porque eres, dicen, su propiedad. [...] ¡La mano! La ves sola, al decirte. ¡Adiós!, levantándose en el aire. (MM, 81)
Die Hände sind Werkzeuge, die nur in Gemälden ruhen, und eine Art Spiegel der Seele, denen Charaktereigenschaften wie «mujeriego» und «falso» zugeschrieben werden. Die Hände lassen die Bedeutung des Tätigseins als einen identitätskonstituierenden Faktor in Memoria de la melancolía deutlich werden. Das Handeln ist nicht nur reproduktiv, sondern auch kreativ in der Weise, dass es bestehende Ordnungen unterläuft, transzendiert und transformiert.216 Immer
216
Vgl. Jürgen Straub: Handlung, Interpretation, Kritik: Grundzüge einer textwissenschaftlichen Handlungs- und Kulturpsychologie. Berlin/New York: de Gruyter 1999, S. 154.
184
wieder missachten Frauen in Memoria de la melancolía die althergebrachten Regeln. Das Handeln erfolgt dabei oft ohne exakte Absicht und ohne vollkommene Voraussicht der Folgen. Es ermöglicht Veränderungen und die praktische Beziehung des Ichs zur Welt und wird somit zu einem entscheidenden Aspekt der Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung, die der Objektivierung der Frauen als Besitz entgegengestellt wird. Die Handlung eröffnet einen Zwischenraum, in dem die Grenzen zwischen Subjekt und Welt nicht mehr scharf zu ziehen sind und die völlige Autonomie des Subjekts in Frage gestellt wird, schließen sich ihr doch andere Handlungen an, die wie im Dialog die Äußerungen, nie ganz und gar einer Person zugeschrieben werden können. So hinterlässt das Berührte in der Berührung immer seine Spuren in den Handflächen, in die das Leben eingeschrieben wird und sich im Laufe der Zeit wie eine Landkarte gestaltet: Manos que estrechamos por costumbre sin saber que van a dejar un rastro en las nuestras. ¡Qué hermoso llamar palma a la mano abierta, al centro y corazón de la mano! Palma, lugar donde se van dibujando en la aguja imprevista de la existencia caminos, valles, sucros, senderos, ríos, lagos, silencios y algarabías. (MM, 81)
In Life/lines heißt es, dass die Lebenslinien demjenigen Fakten eines Lebens verraten, der in der Lage ist die Bedeutung zu entschlüsseln.217 Das Lesen aus der Hand ist in Memoria de la melancolía nicht erwünscht oder besser, dass man ihr die Zukunft in die Hand schreibt: Me niego a que nadie me escriba en la palma de la mano mi futuro. Si eso fuera verdad ¿para qué vivir? Yo me sentaría a la sombra de los árboles y me negaría a obedecer. (MM, 82)
Doch würde sie nicht wie Ödipus gerade in der Verweigerung, in dem Ausweichen vor dem Schicksal eben dieses erfüllen: «¿No ve que ésa es la obediencia ciega al destino ciego?» (MM, 82). Am Ende der zwei Seiten langen Textsequenz, die allein den Händen gewidmet ist, werden die Handflächen ängstlich zusammengepresst, denn: «[d]esde entonces las manos son para ella el libro secreto que no debe mirarse» (MM, 83). Die Hände als möglicher Ort der Wahrheit, in der die eigentliche Autobiographie María Teresa Leóns geschrieben steht, sollen verschlossen bleiben. Gleichzeitig sind sie es, die immer als direkter Vermittler zwischen Ich und Körper tätig werden. Sie werden unvermittelt bewegt und entziehen sich der Kontrolle, wenn sie zu zittern oder zu zucken beginnen. Mit Hilfe von Schreibgeräten könnten sie gar ihre Geheimnisse preisgeben. Die Hände sind der Ort, der die Wahrheit über das schreibende Subjekt in sich trägt und sie darin gleichsam verschließt, um sich in wenigen Augenblicken zu öffnen und etwas von seinen Geheimnissen preiszugeben.
217
Bella Brodzki und Celeste Schenk: Life/lines. Theorizing Women’s Autobiography. Ithaca/London 1988. S. ix (Vorwort).
185
4.4.2.2. La arboleda perdida: Begehren über den Tod hinaus. Die Asche des Dichters im Schoß der Sirene, unsterbliches Lebenselexier einer körperlichen Schrift Algunos se complacen en decirme: Estás viejo, te duermes, de pronto, en cualquier parte. Llevas raras camisas, cabellos y chaquetas estentóreos. Pero yo les respondo como el viejo poeta Anacreonte Lo hubiera hecho hoy: - Sí, sí, pero mis cientos de viajes por el aire, mi presencia feliz, tenaz, arrebatada delante de mi pueblo, mi voz viva con eco capaz de alzar el mar a cimas de oleaje, y las bellas muchachas y los valientes jóvenes que me bailan en corro y el siempre sostenido, ciego amor, más allá de la muerte... (Rafael Alberti, Veros sueltos de cada día)
Während die «trockenen» Unterrichtsstunden das erinnerte Ich zur Flucht in die Dünen veranlassen, werden die Reflexionen über Aspekte der Sprachgeschichte erinnert. Anders als die übrigen Unterrichtsstunden wird der «blumige» Stil der Bücher erinnert, also einer Sprache, die dem Jungen das Wissen «schmackhaft» macht. Die Leidenschaft des jungen Schülers entfacht bei den Darstellungen der Schulbücher über die Verbreitung des Alphabets durch die Phönzier mit ihrer «libidinösen Semiramis» (AP, I, 57), die Erotik und Sprache verbinden und in Albertis Kopf einzelne Sätze aus diesen Büchern tanzen und im Gedächtnis nachhallen lassen. Zu dieser auditiven Ebene treten nun vor allem die visuelle und taktile, die etwa in dem oben erwähnten Gedicht zusammenfließen. Die sinnliche Erfahrbarkeit von Sprache lässt ein ums andere Mal (lustvoll) die Seiten des verlorenen Hains, die «incipientes hojas de mi más tierna Arboleda perdida...» (AP II, 154) erzittern. Dieses Erzittern wird im Moment des Schreibens der Autobiographie greifbar, wenn eigene und fremde Verse (plötzlich) ins Bewusstsein drängen und in den zu schreibenden Text eindringen und ihren Ort einfordern, der ihnen durch das Verfahren der inter- und intratextuellen Bezüge zuteil wird. Auf diese Weise kann gar der Moment des Schreibens des ersten Gedichtes (re-) inszeniert werden, in dem der intratextuelle Bezug eingeleitet wird von der Wiederholung der damaligen Handlung im Text: «Entonces, saqué un lápiz y comencé a escribir. Era realmente mi primer poema [...]» (AP II, 153). Während der angehende Dichter in seinen jungen Jahren sich noch von der Malerei abzuwenden versuchte und um eine Anerkennung als Dichter rang, kann er zunehmend beides im Medium der Sprache integrieren. Das zweite Buch von La arboleda perdida ist eine erinnernde Reinszenierung dieser sprachlichen Leidenschaften, die sich in der Formung des Textes selbst, seines Rhythmus und Stils ereignet. Wie sehr 186
der Text in der Versinnbildlichung des Baumes zum in der Schrift materialisierten TextKörper wird, wurde bereits im Abschnitt 1.1.1. zur DesMemoria angedeutet. Dieser ‹Organismus› scheint als Sprache eine Art Eigenleben zu entwickeln, und doch zeigt das Vorangegangene die emsige Arbeit des Dichters am Text, um in dieses (selbst inszenierte und initiierte) Eigenleben einzugreifen (AP II, 215). Die Arbeit am TextKörper wird wie in dem im dritten Buch angeführten Gedicht als Kampf beschrieben, das sich in dieser Form, die auch das Sein des Ichs erfasst, in die Prosa einschleicht. Der TextKörper scheint einer ähnlichen Metamorphose ausgesetzt zu sein wie das erinnernde Ich im zweiten Buch: Qué lluvias, qué riegos bienhechores han mojado mis plantas, mis hambrientas raíces, haciéndome verdecer de nuevo, erguirme otra vez árbol capaz de abrir sus ramas y sus hojas al silbo de los pájaros y el viento? (AP II, 176)
Diese Metamorphose hin zum TextLeben, die sich hier einer vorangegangenen «esterilizadora sequía» (AP II, 176) anschließt, wird mit einer Anrufung verschiedener Natur-/Kulturlandschaften in Krakau, Rumänien und Deutschland verbunden, die das Herz des «reinen» Menschen dieser Völker zur Ruhe bringen. All dies auf den Reisen Erfahrene, die verschiedenen Gesichter, Himmel und Landschaften, erfährt eine Form der Inkorporation in den TextKörper und fließt als Bestandteil des Blutes durch das Herz: llena de millones de ojos, de millones voces, de millones de manos fraternales que me lo estrechan y entibiecen, dándole un nuevo ritmo, bañándolo anticipadamente de las palabras que han de seguir moviendo los recordados aires de esta mi Arboleda perdida. (AP II, 177)
Das relationale Moment des Seins, das immer schon von dem Anderen durchdrungen ist, dem hier in den «Millionen» Augen, Stimmen und Händen eine unfassbare Dimension zuteil wird, durchströmt, transportiert vom Blut oder von der Tinte (?), den TextKörper, um zunächst vom Wort bewegt – wir erinnern uns an den Beginn von La arboleda perdida – die in die Lüfte geschriebenen Erinnerungen zu materialisieren. Dass dies nicht selbstverständlich und zu jeder Zeit möglich ist, zeigen die vielen Unterbrechungen, von denen Alberti berichtet und die tatsächlich nicht nur sein Leben, sondern immer auch sein Schreiben erfassen. Ein Faktor sind dabei die politischen Umstände, in denen er sich bewegt und lebt, aber vor allem auch seine oft angeschlagene Gesundheit. Immer wieder erlebt Alberti – und dies bereits in frühen Jahren – das Versagen seines Körpers. Nicht nur die Sprache entzieht sich ihm ein ums andere Mal, sondern auch der TextKörper, der einer eigenen Dynamik gehorcht. Die (inszenierte) Unkontrollierbarkeit scheint auf die des leiblichen Körpers zu antworten, der im Leben Albertis immer wieder als störendendes, aber auch kreatives Moment einbricht, allerdings nicht nur durch Krankheit, sondern auch durch das (unterdrückte) Begehren, das als anarchisches Medium des Weltbezuges schon den Jungen Rafael heimsucht. Das Begehren, das etwa als unbändiger Hunger nach sündhaftem Süßem und Versuchen seiner heimlichen oralen Befriedigung im Angesicht des Herrn bei der Kommunion (AP I, 19) oder bei heimlichen 187
Eskapaden zum Strand zwecks kollektiven Masturbierens unter den alles durch ein riesiges Fernglas und stellvertretend für den Allmächtigen erspähenden Augen des Priesters Augustín, immer beobachtet über das erinnerte Ich hineinbricht. Diese Darstellung des leiblichen Begehrens, dem das erinnerte kindliche Ich immer wieder unterliegt, wird in der Autobiographie Albertis zum subversiven Element schlechthin, das sich gegen den ihn in der Kindheit umgebenden reaktionären Katholizismus richtet, dem der Junge (z.B. verführt von süßer Schokolade) nicht genügen kann. Die autobiographische Darstellung der Kindheit bewegt sich im Wesentlichen zwischen diesen zwei Polen des unterdrückten und des meist mit dem tiefen Gefühl der Schuld verbundenen gelebten Begehrens, das sich erst im Laufe des Lebens in einer befreiteren Art Bahn bricht. Das Begehren wird neben den Sinnen zu einer Weise des Weltbezuges und beherrscht in den letzten Lebensjahren des Dichters sein autobiographisches Schreiben als ein zunehmend die Erinnerungen und den Text vorantreibendes Moment. Das fünfte Buch, eine der vielen, aber nun tatsächlichen, textuellen Rückkehren zur gaditanischen Bucht, nimmt noch einmal die Spur auf und legt sie nochmals aus, um Möglichkeiten der eigenen Präsenz über das gewisse Lebensende hinaus zu schaffen, denn: Todo es belleza a mi alrededor, lianas perfumadas me rodean y arrebatan de los aterradores y oscuros abismos de la vejez, de la muerte. Me voy con los ojos llenos de los acontecimietos de un siglo. Un siglo de horrors, de enfrentamientos, de dolorosísimas separaciones, de hechos que habitan en mis bosques interiores y en los que, casi a mi noventa y cuatro años, aún puedo caminar sin perderme entre su frondosidad. Pero no me quiero ir. No quiero irme. Sigo sin querer morirme. Por qué tengo que morir? Todavía me retienen muchas cosas, muchos atrayentes sabores que no quiero dejar percibir. (AP V, 217)
In Beschreibungen Albertis wird oftmals seine Vitalität und seine Ruhelosigkeit betont, die, noch als er bereits ein hohes Alter erreicht hatte, diejenigen erschöpfte, die ihm zu folgen versuchten. Sein Lebensdrang und -durst, wie sie auch in dem oben zitierten Auschnitt formuliert werden, konnten jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch er sein Lebensende erreichen würde. Alberti schien bestrebt, sich diesem unausweichlichen Ende zu widersetzen und seinem körperlichen Verfall entgegenzusteuern. Wenn wir bei der Lektüre von Memoria de la melancolía das Ringen der Autorin mit dem Altern vorgeführt bekommen und mit ihrem körperlichen Ermüden konfrontiert werden, scheint die Schrift Albertis immer eine Vitalität zu übermitteln, die nicht nur das eigentliche Alter des Dichters vergessen lässt, sondern zugleich auch immer wieder das Bild eines jungen Mannes wachruft. Wo Albertis Sinnesleib, der 1999 eingeäschert wurde, verstummt, bleibt die Resonanz seiner vitalen Dichtung, die ihn überlebte, im autobiographischen Text spürbar, die darin nicht nur reflektiert wird, sondern auch hineinwirkt. Albertis Leben markierende Momente vermochte er als Gedächtnis, Stimme und Stimmung, Raum und Dynamik und Körper seines Textes in Text schreibend zu übersetzen. Es ist deshalb weniger ein festumrissenes Bild des Dichters Albertis als die ihn hervorbringenden Momente und Prozesse eines Jahrhunderts, in das er sich mit La arboleda perdida ebenso einschrieb, wie je188
nes Jahrhundert in Albertis Texten widerscheint, im Spiegel seiner ästhetisierten Sinne und Wahrnehmungen. Das selektierte Wissen über ein Jahrhundert schöpft Alberti aus dem von ihm Erlebten, dem er unermüdlich im Schreiben seiner Dichtung und in La arboleda perdida eine Form zu verleihen versucht. Diese Form, die sich – betrachtet man seine Autobiographie – entlang von fünf Büchern entfaltet, konnte nur in Etappen entstehen, die nicht nur den Vollzug des eigenen Lebens mit seinen Sprüngen, Brüchen, Einschnitten, Verzögerungen, sondern auch seine immer wieder möglichen Fortsetzungen und Enden (vergessen wir nicht, dass sein Leben mehr als einmal bedroht war) mitschrieben. Dieses Leben Formen im Vollzug des Lebens, im wiederholten Überleben, entlang eines Jahrhunderts entwickelt, nimmt vor allem dies von jenem 20. Jahrhundert auf: seine Ungewissheiten, bipolaren Spaltungen, Bedrohungen und die darin liegenden Möglichkeiten, Wünsche und Träume, die León und Alberti in ihren Autobiographien erinnerten, konstruierten, rekonstruierten, verwarfen, neu entwarfen und nicht zuletzt auch (anderen) aufgaben. León und Alberti zeigten die Gegensätze des Jahrhunderts auf, indem sie sich als Schriftstellerin und Dichter zu behaupten und zu überleben versuchten. Alberti antwortete auf die Herausforderungen des Krieges mit einer das ihm Widerfahrene in die «Lüfte» erhebenden Sprache, vermittels derer er dem Erlebten zu begegnen vermochte, bevor er es schließlich und endlich vermochte die ihn umgebende Realität selbst in Schönheit erstrahlen zu lassen, um ihn vor dem erwarteten Dunkel zu erretten: «Todo es belleza a mi alrededor, lianas perfumadas me rodean y arrebatan de los aterradores y oscuros abismos de la vejez, de la muerte» (AP V, 217). Am Ende des fünften Buches scheint die Dichtung ganz Besitz von der Autobiographie ergriffen zu haben. Mit dem Wunsch, in einem Moment seines Lebens endlich erreichten Zustand der Leichtigkeit, der Freiheit und gleichen «estrenada pureza» seiner ersten Verse von Marinero en tierro (AP V, 219) vollzieht sich eine letzte Rückkehr, bei der er seiner Seele und seinen Fingern «todo el prodigio del ayer» und alle Farben diesem Augenblick seines Lebens zuzuführen wünscht. Von der autobiographischen Erzählung scheint er zur Dichtung zurückzukehren und damit endgültig den Blick – nachdem er den Wunsch nach der Inkorporation des Vergangenen in dem Augenblick ausgedrückt hat – von der Vergangenheit ab- und dem Augenblick zuzuwenden und sich damit von einem autobiographischen Schreiben in einem autobiographischen Schreiben des Übergangs endgültig zu verabschieden. La arboleda perdida endet mit einem Prosagedicht aus dem Band Canciones para Altair (1988), der an den hellleuchtenden Stern gerichtet ist. Es erscheint als solches nicht gekennzeichnet am Ende der Autobiographie, die darin Prosa und Dichtung Albertis zusammenfließen und einswerden lässt und als EigenLeben der Schrift, die als ein Wissen von dem Tod über diesen hinausführt, zur Dichtung selbst erhoben wird: Ven. Ven. Así. Te beso. Te arranco. Te arrebato. Te compruebo en lo oscuro, ardiente oscuridad, abierta, negra, oculta derramada golondrina, o tan azul, de negra, palpitante. Oh así, así, ansiados, blandos labios undosos, piel de rosa o corales delicados, tan finos. Así, así absorbidos, más y más, succionados. Así, por todo el tiempo. Muy de
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allá, de lo hondo, dulces ungüentos desprendidos amados, bebidos con frenesí, amor hasta desesperados. Mi único, mi solo, solitario alimento, mi húmedo, lloviznado en mi boca, resbaldado en mi ser. Amor. Mi amor. Ay, ay. Me dueles. Me lastimas. Ráspame, límame, jadéame tú en mí, comienza y recomienza, con dientes y garganta, muriendo, agonizando, nuevamente volviendo, falleciendo otra vez, así por siempre, para siempre, en lo oscuro, quemante oscuridad, uncida noche, amor, sin morir y muriendo, amor, amor, amor, enteramente. (AP V, 222)
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5.
Vereinigung: Stereophonie der Autobiographie
Am Anfang der Studie stand die poetische Vermittlung einer aus zwei Saiten gezogenen Stimme eines von einem Geiger geführten Instrumentes. Mit der Stereophonie der Autobiographie wurde der Versuch unternommen, ein «höheres Maß an Transparenz, Plastizität, und klanglicher Differenziertheit»1 in der Betrachtung von Autobiographien zu erreichen. Die Autobiographie als schwingende Saite (oder Seite) reagiert auf die- oder denjenigen, die/der sie zum Schwingen bringt und kann nicht ohne das Instrument, auf das sie gespannt ist, gedacht werden. Innerhalb eines Liedes hängt sie von den anderen Saiten, von den durch sie produzierten Tönen ab und verändert sich je nach Berührung durch die Finger des Spielers. Unter diesen Voraussetzungen wird die Autobiographie in der Tat zu einem wandelnden, interaktiven, aber auch zu einem in spezifischer Weise klingenden Speichermedium sowie einem Performanz- und Resonanzkörper von Lebenswissen. Um die Effekte (gem)einsam (trans)formierten Lebens zu betrachten, wurde entlang der Studie eine Analyseweise entwickelt, die es erlauben soll, Autobiographien von Paaren als materiell getrenntes, aber textuell und räumlich ausgedehntes und ineinandergreifendes Schreiben zu untersuchen. Memoria de la melancolía und La arboleda perdida in einer Studie stereophon zu analysieren, bedeutete, den Spuren der Autoren durch komplexe Gedächtnis-, Lebens- und Texträume, die sie entlang des 20. Jahrhunderts als Paar (gem)einsam durchschritten und ausbildeten, zu folgen. In ihren Autobiographien stellten sie sich gemeinsam erlebten persönlichen, politischen, sozialen und kulturellen Herausforderungen. Damit sind die TextLeben Leóns und Albertis ein prädestinierter Gegenstand für eine Untersuchung der Stereophonie der Autobiographie, die relationale und autonome Momente des Leben Formens in den Blick nimmt und nach der Generierung, Speicherung und Vermittlung eines (gem)einsamen Lebenswissens auch als Zusammenlebenswissen2 fragt. Mit dem ersten Kapitel wurde ein Weg begonnen, der von der Theorie über die Annäherung und Berührung der Texte und Leben hin zu Paarbildungen führte, um in einer choreographischen Analyse der Vernetzung und in der bifilaren Analyse der jeweiligen Formung von Leben sowie der Generierung, Speicherung und Vermittlung von Lebenswissen in den Autobiographien zu betrachten. Im Folgenden werden die Ergebnisse der Studie zusammengefasst und der Blick auf die Effekte, die bei einer Zusammenschau der Autobiographien erkennbar werden, gerichtet.
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Dietel: Wörterbuch der Musik, S. 290. Vgl. hierzu Ette: ZwischenWeltenSchreiben, S. 275.
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Anhand der choreographischen Analyse ließ sich erkennen, dass beide Autoren mit dem Selbstverständnis eines politisch und literarisch verbundenen Paares, dessen Spuren im Leben parallel verliefen, die gegenseitige Aufnahme des/der Anderen in den Text unternahmen. Brüche erhielt das von beiden Autoren genährte und aufrechterhaltene Bild des untrennbaren Paares vor allem mit Blick auf den Entstehungskontext von Memoria de la melancolía und auf entsprechende Eintragungen in Notizbüchern, die eine Entfremdung des Paares aufzeigten. León ruft in ihrer Autobiographie nochmals die für das Paar entscheidende Zeit des Spanischen Bürgerkrieges wach und stellt ihren Beitrag am Geschehen dar. Ihr Text fordert Alberti heraus, der sich nun auch auf sie beziehen muss. Wenn Alberti anschließend im dritten Buch auf die Verwobenheit beider Bücher in der Weise verweist, dass es Memoria de la melancolía sei, «que enlaza tantas veces y enmaraña sus ramas con las de mi Arboleda perdida» (AP III, 84), scheint das Umgekehrte der Fall zu sein. Es entsteht z.T. eine Diskrepanz zwischen der aktiven, militanten Frau im Bürgerkrieg und dem von ihm gezeichneten Bild Leóns als Venus und Engel, die ihn unterstützt. León hingegen schreibt sich in Albertis Dichtung ein, die sie sich einverleibt und im Schreiben aneignet. Sie weiß jedoch auch um die Zweistimmigkeit der von ihr verwendeten Worte, die in ihrem Text an vielen Stellen die Stimme Albertis mitklingen lassen. In dieser Hinsicht dient das Wort gleichzeitig zwei Sprechern und drückt gleichzeitig zwei verschiedene Intentionen aus [...]. In einem solchen Wort sind zwei Stimmen, zwei Sinngebungen [...] und zwei Expressionen enthalten. Zudem sind zwei Stimmen dialogisch aufeinander bezogen, sie wissen gleichsam voneinander [...], sie führen gleichsam ein Gespräch miteinander. Das zweistimmige Wort ist stets im Innern dialogisiert.3
In das harmonische Bild des politischen Paares, das gemeinsam voranschreitet, schleichen sich Momente des Konfliktes und der Reibung ein, die das schreibende Paar auf ihre jeweiligen Autonomiebestrebungen und die veränderten Situationen innerhalb der Paarbeziehung sprachlich (re-)agieren lassen. Die von Alberti als «delicado» und «silencioso recuerdo» auf den Seiten von La arboleda perdida besungenen Frauen erheben wortreich ihre Stimmen, denn auch María Asunción Mateo, die Alberti nach dem Tod Leóns heiratete, greift mit einem sich über 265 Seiten erstreckenden Dialog mit dem Dichter in sein literarisiertes Leben ein und gibt auch ihrer Stimme Raum.4 Mit diesem Buch erreicht die von Alberti und León begonnene Erinnerungsarbeit eine neue Dimension. Sie zeigt vor allem, dass und wie Erinnerungen immer wieder neu verhandelt und neue Aspekte des Vergangenen (re-)konstruiert werden. Darin liegt ein für das autobiographische Schreiben Albertis und Leóns entscheidendes Moment, das sich bereits in der choreographischen Analyse hinsichtlich der Paarebene zeigte: die «kommunika-
3 4
Michail M. Bachtin: Die Ästhetik des Wortes. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979, S. 213. Vgl. hierzu María Asunción Mateo: Rafael Alberti. De lo vivo y lejano. Madrid: Espasa Calpe 1996.
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tive Vergegenwärtigung»5 des Geschehenen, durch die das Erlebte immer wieder neu zur Disposition steht und sowohl verbindenden und identitätsstiftenden Momente im Leben des Paares als auch den jeweils individuellen Erfahrungsebenen Raum gegeben wird. Dem/der Anderen kommt somit eine bedeutende Rolle in der Herausbildung der Autobiographien zu, die sowohl einer Sinnstiftung als Paar – gerade auch in Zeiten, in denen die eigene Identität Brüche erfährt – als auch einer Meditation der verschiedenen Momente von Absenz und Präsenz innerhalb der Paarbeziehung dient. In dieser Hinsicht stellen die Autobiographien auch ein Kommunikationsmedium dar, das es erlaubt, z.B. einen Austausch über Trennendes hinweg aufrechtzuerhalten. In der jeweiligen Bezugnahme der Partner aufeinander scheinen dabei kulturelle Muster durch, die beim Verfassen der Autobiographien mit am Werk waren – so etwa in dem von Alberti verwendeten Bild des Engels, mit dem auch das traditionelle spanische Frauenbild des «angel del hogar» bedient wird. León hingegen widerspiegelt in ihrem Schreiben die frühen feministischen Entwicklungen der 20er und 30er Jahre und schreibt sich in den Diskurs der «Mujer Nueva», der Neuen Frau, ein. Entlang ihrer Autobiographie werden Schlüsselmomente der frühen Frauenbewegungen in Spanien erkennbar, an deren Traditionen León mitschreibt. Sie vermag es jedoch nicht, sich gesellschaftlichen Zwängen und Vorstellungen (etwa in Rom) gänzlich zu widersetzen. Auch in dieser Hinsicht stellen die Autobiographien Verhandlungsräume dar, die auf die unterschiedlichen Gegebenheiten der Schriftstellerin und des Dichters innerhalb der sie umgebenden Gesellschaften antworten. Das «dialogische» Prinzip hinsichtlich des Umgangs mit den vergangenen und gegenwärtigen Herausforderungen stellt dann ein Politikum dar, wenn man es – wie in diesen beiden Fällen – im Kontext einer Abgrenzung zu den bestehenden autoritären und monologischen Strukturen des Heimatlandes liest. Der Wunsch, vergangene und gegenwärtige, eigene und kollektive Lebensgeschichte(n) im Exil zu erinnern, führt bei diesem Paar zur Ausbildung einer spezifischen autobiographischen Schreibweise, die vorgegebene Diskurse des Heimatlandes unterläuft und auf die Möglichkeit einer dialogisch fundierten Politik und Kultur des Erinnerns, verweist. Gleichzeitig reagiert sie auf die Entwicklungen innerhalb der Paarbeziehung und ist herausgefordert, im Kontext des eigenen Leben Formens auf den/ die Andere(n) zu antworten. Die aus dieser Paarkonstellation hervorgegangenen Exilautobiographien stellen beide in dieser Eigenschaft – und das ist wesentlich – traditionelle Vorstellungen, wie die Auffassung von der Autobiographie als einer Beschreibung des Lebens eines Einzelnen durch diesen selbst, entschieden in Frage. Die erkennbaren Öffnungen sind eine wesentliche Voraussetzung, um die für beide relevanten Wisseninhalte, die unauflöslich mit dem Kollektiv der SpanierInnen im Exil verbunden sind, erinnern, speichern und verhandeln und in den Kontext ihres politischen Engagements stellen zu können.
5
Vgl. hierzu auch Harald Welzer: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München: Beck 2002, S. 149ff.
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In der Zusammenschau eröffnen die Autobiographien den Blick auf diese kollektive Dimension hin zu einem besonderen Zusammenlebenswissen, das sich auf der Notwendigkeit des Dialogs, des Sich-Zuhörens und (Sich-)Sprechen-Lassens gründet und vielleicht dadurch in solcher Deutlichkeit vorgeführt wird, dass beide Autoren selbst immer wieder auch für die Lesenden sichtbar daran scheiterten, indem sie etwa ideologische und geschlechterspezifische Grenzen nicht überwinden konnten und wollten, um in den Dialog mit dem «anderen» einzutreten. Zugleich führen sie die Kraft des «zweistimmigen Wortes» vor, auf einer übergreifenderen Ebene auch auf die dominanten politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Diskurse des Heimatlandes zu antworten, deren Begriffe aufzunehmen, in eigene Kontexte zu stellen und neue Bedeutungen zuzuschreiben. Eine weitere Dimension eines Zusammenlebenswissen führt die Analyse der jeweiligen Ausprägungen von Leben(s)formen und Lebenswissen in Memoria de la melancolía und La arboleda perdida vor, die sich bei einer Zusammenschau der Autobiographien ausgehend von den beide Texte bestimmenden Kriterien (DesMemoria, Stimm(ung)en, Bewegungs(t)räume und TextKörper) zeigt: Alberti entwickelt ein geradezu organisches Text-/Gedächtnismodell, das sich entlang der Bücher entfaltet, während León ihr Leben aus verschiedenen Versatzstücken zusammensetzt. In beiden Fällen ist das Fehlen der ‹Erdung› relevant. Beide Autoren schreiben sich jeweils in die bestehenden Gegebenheiten, etwa einer «großen Literatur/Geschichte» ein und leisten damit einen Beitrag zum kommunikativen Gedächtnis und der gegenwärtig zur Diskussion stehenden Erinnerungskultur(en) in Spanien, die noch lange nicht ausreichend erforscht ist. Sie führen in dieser Eigenschaft einen kreativen Umgang mit Erinnern und Vergessen vor, der Überlegungen aktueller Studien vorwegnimmt.6 Das Kriterium der Stimm(ung)en zeigt die unterschiedlichen narrativen Ausgestaltungsmöglichkeiten im Kontext von Heimat und Exil und führt im Prozess der literarischen Konstituierung von Leben existenzielle und die Autoren bewegende Themen vor, die die Fähigkeit der Sprache unter Beweis stellen, Wunden zu öffnen oder zu schließen und Stimm(ung)en in sich aufzunehmen. Ihre Gabe, Zerrissenheit ebenso zu formulieren wie Kontinuitäten zu schaffen, zeugt dabei sowohl von dem sie verwendenden Subjekt, an dessen TextKörper sie gebunden sind, als auch von den Bedingungen bei der Herausbildung einer kollektiven Identität der SpanierInnen im Exil, die dem weiten Spektrum der Existenz in ihren sinn- und identitätsstiftenden Erzählungen Raum geben sollte. Komplementär scheinen sich die Texte zu ergänzen, wenn wir bei León Leben(s)Formen der Spaltung, der Brüche und Ambivalenzen und bei Alberti verbindendes, Übergänge schaffendes Formen und auch Inszenieren von Leben beobachten. Dass sich jedoch Albertis Schreiben nicht allein darauf reduzieren lässt und immer wieder
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Vgl. in diesem Zusammenhang etwa die Überlegungen von Marianne Hirsch: Family frames: photography, narrative and postmemory. Cambridge: Harvard University Press 1997 oder den Roman Monika Marons Pawels Briefe. Frankurt am Main: Fischer 1999.
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selbst von Brüchen, Verdrängungen und Ambivalenzen herausgefordert ist, dürfte deutlich geworden sein. Bei beiden ist die Sprache auf dem Sprung und in Bewegung, die sich immer auch entzieht und mit der beide gleichermaßen ringen, um als Schriftstellerin oder Dichter im Exil ihren Ort (im Schreiben) zu finden. Schließlich haben die in verschiedenen Lebensräumen entstandenen Autobiographien Dynamiken in sich aufgenommen, die transnationale Dimensionen einer spanischen Literatur in Bewegung7 sichtbar machen und im Nachzeichnen der Spuren und in nachgezeichneten Spuren, Formen einer spezifischen Wissenszirkulation von Leben, im Leben und als Leben aufscheinen lassen. Wo bei León das Leben im Alter zunehmend stillgestellt wird und sie nach vergangenen Bewegungsräumen sucht und sie erträumt, ist Albertis Bewegungsdrang bis ins hohe Alter ungebrochen, obgleich auch er immer wieder von Momenten der Bewegungslosigkeit heimgesucht wird und um die darin liegende Lebensbedrohlichkeit weiß.8 Als TextKörper entwickeln beide Autobiographien Eigendynamiken und künden von einem ÜberLebenswissen, das über das Intendierte hinausgeht, sich den Autoren selbst zu verschließen vermag und den TextKörper als einen Speicher-, Bewegungs- und Stimmungsraum verrät, der immer auch eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt. Beide Autoren stellen die Sprache als bewegliche und bewegende Materie heraus, mit der sie kämpfen, ringen, an der sie sich erfreuen und die sie lustvoll bearbeiten. Dieses Wissen um die Transformierbarkeit von Sprache ist signifikant, weil sie die Grundvoraussetzung darstellt, um etwa politisch vereinnahmte Begriffe zurückzuerobern oder Brücken hin zum literarisierten Leben des/der Anderen zu schlagen. Der Blick auf beide Autobiographien zeigt konstruktive wie organische, ästhetische wie leibliche Momente des Leben Formens an, in deren Zusammenschau zwei Stimmen eines Jahrhunderts zusammenklingen, die dessen uns bis heute beschäftigende Komplexität zwischen zwei Leben und Welten hörbar und spürbar werden lassen. Der Gewinn einer Untersuchung der Stereophonie der Autobiographie liegt vielleicht und in besonderer Weise darin, dass sie ausgehend von (gem)einsam Erlebtem die sich daraus ergebenden Stimmen untersuchen kann und in der Lage ist, ein (gender und national) übergreifendes Wissen vom Leben zur Darstellung zu bringen und das in den Autobiographien bereitliegende Lebenswissen im Sinne Ettes «wissenschaftlich zu potenzieren, kritisch zu hinterfragen und als gesellschaftlich nutzbare Wissensbestände auszuschöpfen und zu präsentieren.»9 Leben(s)formen und Lebenswissen dahingehend im Kontext von Paarbeziehungen zu analysieren eröffnet einen reichen Fundus an solchen Wissensbeständen,
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8 9
Vgl. hierzu das von mir geführte Interview mit Aitana Alberti im Anhang der Studie, S. 247–264, S. 255. Ich greife darin den von Ette geprägten Ausdruck einer «Literatur in Bewegung» auf. Ottmar Ette: Literatur in Bewegung, S. 10. Vgl. hierzu ebd., S. 99. Ette: Überlebenswissen, S. 254.
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die je nach Genre und Gender generiert, gespeichert und vermittelt wurden und werden und sich vor allem in der Anerkennung der Relationalität und Autonomie im Schreiben gewinnbringend untersuchen lassen. In diesem Sinne ist die Stereophonie der Autobiographie Ergebnis einer Forschungspraxis, die diese relationalen und autonomen Momente im Leben Formen und in Lebensformen im Kontext von Autobiographien anerkennt. Das von mir gewählte methodische Vorgehen zur Analyse von Memoria de la melancolía und La arboleda perdida dient somit einer Öffnung, um dem in vielen Fällen zu (Un)Gunsten eines/einer Beteiligten unberücksichtigt bleibende Netzwerk zwischen Texten von Paaren Raum zu geben und damit bereits bestehende Asymmetrien und Machtverhältnisse eben nicht mit oder neu zu (re)produzieren, sondern literarische Paarbeziehungen in ihrer Komplexität und als interaktive Generatoren und Träger von einem spezifischen Zusammenlebenswissen wahrzunehmen.
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Anhang
Interview mit Aitana Alberti1 Ma. Teresa: Ayer llegaste por segunda vez a Berlín después de 51 años. La última vez fue como niña de catorce años.... Aitana: No, de trece, porque los catorce los cumplo en agosto. Ma. Teresa: …junto a tus padres, una de las parejas de intelectuales mas conocidas de España, la escritora María Teresa León y el poeta Rafael Alberti. ¿Con qué sentimientos y recuerdos bajaste ayer del avión? Aitana: Fue muy bonito, porque primero vi la ciudad desde el aire y como es primavera el cielo estaba despejado y el día era espléndido. En el recorrido desde el aeropuerto de Tegel hasta donde estoy viviendo, vi la naturaleza prácticamente en flor, despertando. Mi recuerdo de Berlín es el opuesto, porque llegamos en el corazón del invierno, en el mes de enero de 1955. Entonces hacía frío, nevaba, anochecía muy temprano…, exactamente lo contrario de la imagen que me llevaré en este viaje. Mis padres habían sido invitados, seguramente por la Unión de Escritores de la República Democrática Alemana, y vinimos por supuesto primero a Berlín. En ese congreso, que fue importantísimo, recuerdo que estaban Bertolt Brecht, Helene Weigel, su mujer, y el gran poeta Stephan Hermlin. Entonces yo, que en aquel momento empezaba a escribir poesía, tenia incluso publicado un pequeño libro de poemas, escribí un poema a Berlín. Stephan Hermlin lo leyó y le gustó tanto que lo tradujo al alemán, y me dijo: tú tienes que leer este poema en el congreso. Y yo le contesté: Me siento incapaz de hacerlo. Era en un teatro abarrotado de gente, cuyo nombre no recuerdo, sí recuerdo que me convencieron. Helene Weigel habló conmigo para que yo leyera el poema en español y Hermlin, en alemán. Ella misma me presentó, Hermlin lo leyó, y salió en un periódico una nota con mi foto en donde se narra este hecho. Aún conservo el recorte despues de tantos años. A mí Berlín me impresionó muchísimo; infortunadamente, ese poema se perdió. Mi madre narra esta historia en Memoria de la melancolía, si lo buscas lo vas a encontrar. Después hicimos un viaje en coche por una serie de pequeñas ciudades. En el suplemento cultural del periódico ABC, de Madrid, publiqué una crónica sobre ello con el título Viaje de invierno. La naturaleza era una cosa extraordinaria porque estaban los árboles como cristalizados por el hielo, algo mágico realmente. De pronto, cruzaba un ciervo la carretera y yo nunca había visto semejante cosa (se
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Bei der folgenden Textdarstellung handelt es sich um die Transkription des von mir am 18. April 2007 mit Aitana Alberti im Kontext ihres ersten Berlinbesuches nach 51 Jahren geführten Interviews. Im Folgenden werden lediglich die Vornamen der Interviewenden und Interviewten verwendet.
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ríe). Estuvimos en Weimar, en Eisenach, Jena, Dresden, en fin, en una serie de ciudades de Sajonia y Turingia. En Wartburg, en el castillo de Lutero – de Lutero, que le tiró el tintero al diablo –, vimos la habitación donde supuestamente había pasado eso, y a mi de aquel castillo, que era como de cuento de hadas, lo que más me llamó la atención fue que en la madera del portalón de entrada, estaban tallados los nombres con las fechas – no sé, 1700, 1800 – de quienes lo que habían visitado. Pero de fechas de 300 años, 400 años atrás, lo cual me impresionó muchísimo. Porque claro, piensa, que yo lo veía con ojos de niña o de jovencita. Fue un viaje muy interesante en verdad, y es increíble que no haya vuelto nunca a Alemania en tantísimo años, pero así es. Ma. Teresa: ¿Hubo alguna razón concreta? O solamente que la vida… Aitana: No... no habubo ninguna razón concreta, simplemente la vida no me trajo de vuelta por estos sitios. Me acuerdo que también en ese viaje estuvimos en Polonia, en Checoslovaquia… Fue muy tremendo en verdad, porque en Polonia estaba la otra cara. Pudimos casi palpar la destrucción de la guerra, aunque, por supuesto, aquí en Berlín también, porque había manzanas y manzanas que no estaban reconstruidas. Piensa en la proximidad del final de la guerra, ¿no? Entonces todavía había zonas que a mi me parecían casi como un decorado escenográfico, porque estaban los escombros muy bien arreglados, pero no se habían reconstruido los barrios; estaba todo muy acomodado, pero destruido. En Varsovia visitamos el Getto; estuvimos en Auschwitz y luego en Buchenwald. Tuvimos una imagen de lo que había sido la guerra de primera mano, muy dramática. En aquellos museos del horror – no encuentro otro modo de llamarlos – se conservan miles de zapatos, de dentaduras; toneladas de cabello humano con el que se fabricaban tejidos; de gafas, de monedas y billetes del mundo entero, de joyas, de pasaportes… , con esa minuciosidad de conservarlo todo, de registrarlo todo, de guardarlo todo, que tuvieron los nazis cuando se inventaron los campos de concentración. En Buchenwald, junto a las latas de gas Ciklon B, para las duchas letales, había libros encuadernados con piel humana… . Es terrible de contar pero es una realidad histórica. Ma. Teresa: … y además una realidad que experimentaron en sus inicios León y Alberti cuando vinieron a Berlín en 1932. Aitana: Claro, cuando ellos vinieron, mucho antes de que yo naciera, ellos tuvieron una experiencia muy tremenda de Alemania porque era el comienzo del nazismo. Vieron el incendio al Reichstag, que fue una justificación del partido Nacional Socialista para luego tomar el poder; vieron como quemaron el barrio obrero de Wedding, y en la Universidad, un día que mi padre estaba dando una conferencia, eso lo cuentan ellos, oyeron un escándalo y era que un grupo nazi le estaba dando una pateadura en los pasillos a una estudiante judía. Fueron situaciones muy tensas y muy extremas. Mira a Rosa Chacel, como era muy morena, pensaban que era judía y la insultaban. Porque estos grupos ya empezaban a surgir con mucha fuerza. Mi madre y mi padre no parecían meridionales ni de ninguna raza supuestamente «inferior»: mamá era rubia y mi padre tenía un clásico perfil romano, pero Rosa no, era muy andaluza, muy mediterránea, y pasó muchos malos ratos. 198
Ma. Teresa: ¿Tu sabes que aquí estamos muy cerca del lugar donde han vivido en la Rankestraße junto a Rosa Chacel, en la Pensión Latina? Aitana: ¿Pero que vivieron quienes? Ma. Teresa: Rafael y María Teresa... Aitana: ¿Mis padres? Pero en aquellos años, ¿no? ¿...y cómo tú sabes eso? Ma. Teresa: Lo he leído en Memoria de la melancolía. Aitana: ¡Ah! ¿Ella habla de la calle? No me acordaba que mi madre la mencionara. Es imposible recordar todo lo que ellos escribieron, ¿no? Pero qué interesante. Ma. Teresa: Pues vivieron ahí, con Rosa Chacel. Aitana: Ella escribió una cosa muy bonita sobre mi madre en Berlín, donde dice que trabajaba muchísimo y que era admirable la dedicación a la causa política. Se pasaba la vida trabajando y escribiendo a máquina horas de horas, lo cual era un sacrificio inmenso. Ma. Teresa: Y también habla de la amistad con ella, que al parecer, que se inició aquí. Aitana: Si, cómo no; aunque se conocían, donde se hicieron amigos fue aquí, indudablemente. Ma. Teresa: ¿Crees que las experiencias que tuvieron aquí en Berlín en el 32, influyeron de una manera específica en la politización posterior de tus padres? Aitana: Ellos ya venían con unas ideas muy claras, no te creas. Pero qué duda cabe que eso reforzó todo lo que pensaban, por ser demasiado tremendo lo que vieron. Sin embargo, no creo que fuera un despertar de la conciencia. Ma. Teresa: Y luego, en 1956, estuvieron juntos con Brecht para discutir una obra de teatro... Aitana: Se trata de Noche de guerra en el Museo del Prado. Mi padre la había titulado Noche de guerra en el Prado, y fue Brecht quien dijo no, no, Noche de guerra en el Museo del Prado, hay que aclarar que es en el Museo del Prado… . Cuenta mi padre que cuando Brecht muere, entre las obras que tenía proyectado montar estaba esta. Ma. Teresa: ¿Y así nunca ocurrió? Aitana: No. Ma. Teresa: Por tanto, es un proyecto que todavía queda pendiente… Aitana: Que quedó abierto… . Esa obra se montó en muchos lugares, pero falta Berlín y una traducción al alemán, que no sé si existirá, porque no se si Brecht la llegó a traducir. Ma. Teresa: No sé, creo que no. Aitana: Sería algo extraordinario que después de tanto tiempo se presentara Noche de guerra… en esta ciudad. Ma. Teresa: Y como aún existe el Berliner Ensemble… Aitana: Claro. Ma. Teresa: Quizás un proyecto para el futuro. Aitana: Ellos mantienen todas las teorías de Brecht. En aquel momento, en el Berliner Ensemble había una joven actriz, algo rellenita y no particularmente 199
bella, que era extraordinaria. Una maravilla. ¿Como se llamaría? ¡La recuerdo perfectamente! Nosotros vimos Madre Coraje y el Circulo de Tiza Caucasiano y después fuimos a millones de conciertos, sobre todo óperas de Mozart, porque se celebraba el bicentenatio de su nacimiento, en especial una puesta en escena fascinante de La flauta mágica. Estuvimos como un mes por lo menos, porque para haber hecho todo esto… . Me acuerdo perfectamente en Weimar de los sepulcros de Goethe y Schiller, en la cripta que hay en el cementerio. Me acuerdo que por primera vez en mi vida vi ardillas saltando de árbol a árbol, por las ramas desnudas. En el centro de la cripta estaban los sepulcros de los dos genios, con un eterno ramo de flores frescas sobre la piedra, rodeados por los príncipes electores, no sé si de Sajonia o de Turingia, en la penumbra, cada uno en su monumento funerario, y los verdaderos príncipes eran ellos, Goethe y Schiller, no los famosos electores ni ninguno de los que habían mandado en ese lugar. Me acuerdo de la casa de Bach, en Eisenach, donde había una cunita con una mantita azul y un museo de instrumentos musicales… . Estuvimos también en el Planetario de Jena, en Dresden, en Meissen, en la fábrica de porcelana… Fue un viaje precioso, porque íbamos en coche y nos parábamos en cualquier parte. Visitamos una estación de esquí – puede ser que se llame Fichtelberg –, para encontrarnos con Erich Arendt y Katja, su mujer, muy amigos de mis padres. Por cierto, papá les dedicó un poema, recogido en su libro La primavera de los pueblos, donde él reúne todo lo escrito durante los viajes que realizamos a varios países socialistas, incluido China, a partir de la Argentina y, posteriormente, desde Roma. Ma. Teresa: Coincidió con vosotros Nicolás Guillen. Aitana: Sí, uno de los invitados era Nicolás, muy simpático, muy bromista. Antes, habíamos estado en Varsovia con él. Ma. Teresa: Hay una foto… Aitana: Sí, en un correo que pone Post, no sé qué más, que estamos todos. Con él nos reíamos mucho. En el congreso de Varsovia, Nicolás se había percatado de que un chico alemán escritor joven, bastanre feucho, por por cierto, andaba todo el tiempo detrás de mi. Entonces Nicolás me tomaba el pelo con el alemancito. Decía: «El alemancito enamorado de Aitana, viene por ahí…» «Ahí viene tu enamoradito, el alemancito…» Era nuy gracioso. Esa vez veníamos de la Argentina. Ma. Teresa: ¿Y esta vez? Aitana: Esta vez de Cuba. Ma. Teresa: De los recuerdos de tus padres de 1932 y de los tuyos de 1955… ¿qué ves respecto a Berlín esta vez? Aitana: El problema es que aún he visto muy poco de Berlín... Creo que es un momento muy bonito de la ciudad, la primavera siempre es un momento lindo. Algo especial es que cuando vi tu calle en perspectiva, me recordó ciertas calles de Buenos Aires. Allí no hay este tipo de árboles, pero sí uno que se asemeja mucho, por lo menos en el momento de brotar. Buenos Aires es muy arbolado, y el estilo de esta calle, la arquitectura de los edificios, me lo recordaron. Marina, que ha estado en allá, me dio la razón. 200
De Berlín, tengo un recuerdo fantástico de la Isla de los Museos; de la impresión que me causaron esos azulejos con los toros alados, el arte mesopotámico; fue impresionante. Ma. Teresa: En los próximos días vas a caminar por Berlín, ¿hay esquinas que te gustaría a abrazar? Aitana: Bueno, como tengo poco tiempo, quisiera ver sobre todo estos museos, porque los recuerdo extraordinarios. Hay que pensar que esto lo vio prácticamente una niña, una muchacha en la primera adolescencia. Tengo también un recuerdo imborrable de la puerta de Brandenburgo. Cruzamos en el metro a la zona occidental. Salimos por la mañana con el traductor de la Unión de Escritores, caminamos por ahí, vimos todas las tiendas, toda esa historia que era como una gran fachada de occidente, mucha luz; creo que comimos en algún lugar y a la tarde volvimos. Ma. Teresa: Una pregunta que probablemente muchos te hacen: ¿Cómo te ha marcado ser hija de esa pareja excepcional? Aitana: Realmente en ese tiempo no me daba cuenta de nada, eran mis padres y se acabó, no tenían nada de raro.Sin embargo, más o menos por esa edad de los trece, catorce años, en la Argentina, en un lugar donde íbamos a veranear. Sobre unas barrancas bajitas sobre el río Paraná en dirección al norte, cerca de la provincia de Santa Fe, pero aún en la provincia de Buenos Aires, unos amigos nos prestaron la pequeña finca donde mi padre escribió Baladas y canciones del Paraná. Es junto a ese río, viviendo inmersa en la naturaleza de esos parajes incomparables, donde tomo conciencia de que mi padre era un gran poeta, no en los viajes, sino en ese lugar y a raíz de esos poemas. Este razonamiento lo he hecho ya de mayor, no en aquel momento, al evocar el interés y la emoción que despertaba en mí la poesía de mi padre cuando él estaba escribiendo ese libro. En ese lugar mágico y maravilloso, donde no había electricidad, un molino sacaba el agua, nos alumbrábamos con velas, y mamá cocinaba con leña. Yo lo considero mi libro, entre comillas, porque ví cómo se escribía. Papá nos decía: mirad lo que he escrito esta mañana: «Hoy las nubes me trajeron / volando el mapa de España,/ que pequeño sobre el río / y que grande sobre el pasto / la sombra que proyectaba. // Se le lleno de caballos / la sombra que proyectaba, / yo, a caballo por su sombra, / busqué mi pueblo y mi casa. / Entré en el patio que un día / fuera una fuente con agua, / aunque no estaba la fuente, / la fuente siempre sonaba, / y el agua que no corría, / volvió, para darme agua.» Este es un gran poema de ese libro. Ma. Teresa: Y me parece precioso cuando estas recitándolo. Aitana: Es ese tipo de poemas extraordinarios, breves y bellísimos en su profunda sencillez, porque además reflejan exactamente la realidad del lugar. El poeta capta perfectamente la intimidad y el alma de ese sitio, donde yo descubro a mi padre como escritor. Ma. Teresa: Si lo leo o te escucho a ti, parece una vida marcada por el movimiento, en el cual se observa todo. Aitana: Sí, mi padre en ese sentido escribió mucho de los lugares que visitaba. Escribió, por ejemplo, un libro estupendo titulado Roma, peligro para 201
caminantes, donde desacraliza a la Ciudad eterna. Roma no es la Roma de los grandes monumentos, es la Roma de los gatos, de las meadas, la que le inspira unos sonetos fantásticos sobre los curas y las monjas, los cocheros y las basuras, que te dan una imagen de la ciudad absolutamente contemporánea y popular. Ma. Teresa: Alberti ha escrito en La arboleda perdida: «Ese chino, itálo, arábigo, andaluz que soy yo». ¿Es él un poeta español? O tu madre, ¿una escritora española? (Sonriendo) Aitana: Bueno, mi madre es una escritora profundamente española, tiene un dominio del castellano que es impresionante. Si lees cualquiera de las cuatro biografías, que ella calificó de noveladas, por ejemplo, la de doña Jimena Díaz de Vívar, te das cuenta del dominio que tenía del castellano arcaico, pues fue imprescindible acompañarla de un glosario. Era una gran conocedora del idioma y profundamente española y castellana. Mi padre era, según se autocalificó y tú citaste: un chino arábigo andaluz. Lo de «chino» por su amor e increíble paciencia y cuidado al practicar el arte caligráfico en su obra pictorica y en los multiples libros de bibliófilo manugrafiados que realizó; y «arábigo andaluz» por ser de una región de España que tiene unas características muy especiales, que es Andalucía. Porque Andalucía no se parece para nada al resto de España. En esta región perduró la dominación árabe durante once siglos. Una cultura refinadísima que ha dejado obras arquitectonicas como la Alhambra, el Generalife, la mezquita de Córdoba, para no mencionar a los poetas arábigoandaluces y a los creadores y científicos de otras esferas de la cultura. Yo siempre digo que soy andaluza, que me perdone mi madre, pero con Burgos no tengo nada que ver: Será muy hermosa la catedral, pero esa llanura, esa meseta castellana, a mi me pone tristísima. Ma. Teresa: Y se puede imaginar que uno, como Don Quijote, se volvía melancólico y loco. Aitana: Claro, yo le comprendo, pobre, tenía que ver molinos y gigantes por todos lados. Ma. Teresa: ¿Y la literatura de los dos? Aitana: Lo que pasa es que ellos reflejan muy bien la verdad más íntima de los lugares donde estaban viviendo. No sólo Baladas y canciones del Paraná es un homenaje a la Argentina, Abierto a todas horas, es Buenos Aires sin nombrar la ciudad, y Poemas de Punta del Este, la evocación de tiempos felices pasados en La Gallarda, una casa que tuvimos en esa hermosa playa del Uruguay. Ya en Italia, adonde nos trasladamos en mayo de 1963, Roma peligro para caminantes y Canciones del alto valle del Aniene, reflejan la ciudad y el campo, porque el Aniene es el río cercano al pueblecito de Antícoli Corrado, a unos 70 kilometros de Roma, donde durante varios años pasaron el verano. El libro Roma, peligro para caminantes es la esencia de la Roma popular, hay poemas muy serios pero hay otros, la pena es que no me acuerdo de memoria, muy divertidos. En aquel momento, se celebró el Concilio Vaticano II, y los poemas dedicados a los curas entrando y saliendo del Concilio son muy graciosos. Existe una poesía en romanesco, el dialecto que se habla en Roma, totalmente satírica, que es espejo de la picaresca romana. Él trató de retomar ese tono popular en algunos 202
de los poemas, algo que le gustaba muchísimo. Mi padre tiene poemas satíricos, divertidísimos y geniales, si embargo, hay que aclarar que era extremadamente polifacético, una palabra que destesto, pero muy adecuada poara definirlo. Por un lado, podía escribir poemas de gran dramatismo, profundidad y sensibilidad con una intensidad tremenda y, por el otro, ser totalmente hilarante. Se manejaba muy bien en las dos vertientes. Ma. Teresa: Así que se puede hablar de una literatura española en movimiento. Aitana: Bien, una frase perfecta. Es cierto. En una obra que está unida al momento histórico en que se vive, sin olvidar en ningun momento las raíces que nutren sus orígenes... . Ellos nunca están flotando por encima de la historia, siempre están inmersos en el mundo donde viven, y aunque mi madre escriba sobre el Cid o sobre Bécquer o Cervantes, personajes de la historia de España, su presente es el exilio en América, y este desgarramiento puede advertirse a contraluz, en pasajes de Cervantes, el soldado que nos enseñó a hablar y en el Cid… porque hay analogías trágicas entre tan diferentes situaciones vitales, por mas alejadas en el tiempo. Ma. Teresa: Rafael se aferra principalmente al presente, al momento y, complementariamente, Maria Teresa León intenta aferrarse a los recuerdos. Aitana: Sí, quizás tengas razón, mi madre miraba hacia el pasado, mi padre, no: es obvio que está viendo y viviendo el presente, en cambio mi madre, con su interés por ciertos personajes históricos que la apasionan, tanto, que escribe cuatro biografias noveladas: la de Cervantes, Doña Jimena Díaz de Vivar, el Cid Campeador y Gustavo Adolfo Bécquer, y en novelas como Juego Limpio, que trata de la guerra civil, también en su teatro y obviamente en su libro de memorias, está más vuelta hacia el pasado […]. Mi padre trataba de nutrirse del presente, de lo que lo rodeaba, tan distinto a lo que conocía, con la excepción importantísima de los varios tomos de La arboleda perdida y de un libro de poemas capital: Retornos de lo vivo lejano. En la obra de mi madre, la historia de su país y su propia historia personal ocupan un lugar esencial… . Ma. Teresa: ¿Tú de dónde te consideras? Aitana: Yo, de ninguna parte. «Desde todas partes vengo y hacia todas partes voy»…, eso lo dijo José Martí, no lo digo yo, pero es un poco así. Soy de muchos lados y de ninguna parte, mi casa va conmigo, de verdad. En Cuba me siento muy bien. Ya llevo viviendo en la Isla 24 años, uno más de los que pasé en Buenos Aires. Si me fuera de Cuba, estoy segura de que me moriría de nostalgia. Paradójicamente, a la Argentina nunca la extrañé. No volví, ni de visita, hasta 34 años mas tarde, en 1997. Es increíble. Entonces me encontré a todos mis amigos, que eran más chicos que Marina en aquel entonces, alguno lo había visto en Europa, pero no se viajaba como ahora. De pronto, alguien coincidía en Europa conmigo, pero era algo excepcional. En cuanto a la comunicación, al principio nos carteábamos, costumbre que se fue perdiendo paulatinamente. Cuando volví 34 años después, fue increible, por ser una visita pública, anunciada en los medios. Iba invitada por el Centro Cultural de España. Llevaba una exposición de mi padre e iba a impartir una conferencia sobre su vida y obra. El 203
día de la inauguración se presentó una multitud de fantasmas del viejo pasado impresionante: compañeras mías de la escuela primaria, que yo ni siquiera había visto en Buenos Aires desde los 11 años; personas muy ancianas amigas de mis padres, hasta en silla de ruedas… La gente lloraba y reía, emocionada.. La sala estaba tan llena que muchos se sentaron en el suelo. Las chicas compañeras mías del colegio secundario me invitaron a una cena en la casa de una de ellas. Fueron unas 12 de 20, creo que todo un récord. Aparecieron los novios del pasado… (se ríe) Recuerdo que me ocurrió una cosa simpatiquísima. Resulta que tuve un novio en la universidad que se llamaba Hugo y él tenía un hermano que se llamaba Horacio, bastante parecidos entre sí. Ese mismo día de la inauguración yo entro al Centro, aún medio vacío, me le acerco, le doy un abrazo y le digo: »¡Ay! Hugo que alegría verte», y él me responde al oído: «Aitana, soy Horacio». Fíjate como habría cambiado, y yo igual. Ma. Teresa: Volviendo al presente, ¿tienes deseos para Cuba? Aitana: Mis deseos para Cuba es que el modelo cubano no se pierda; el modelo actual cubano, que pudiera ser revisado, pudiera tener ciertas adaptaciones, pero que el modelo tal y cual no se pierda, ese es mi deseo porque creo que funciona. Para América Latina, funciona, de verdad. Eso es lo que pienso […]. Creo que Cuba es un país admirable, un caso especial. No se puede medir a Cuba con la misma vara que a otros lugares. Lo que sucede en Cuba, su historia heroica y solidaria con otros pueblos del mundo, mediante la abnegada labor de miles de sus médicos y maestros en los lugares más remotos y abandonados... . Un país diminuto, bloqueado económicamente desde hace casi cincuenta años, capaz de mantenerse independiente a 90 millas de los Estados Unidos, y haya podido superar la caída del campo socialista a pesar de grandes sufrimientos. Cuba se mantuvo y no pasó nada, es decir pasaron muchas cosas, pero Cuba no desapareció. Creo que es una gran lección para el poder que nos domina a todos en general. Algo extraordinario […]. Yo me acuerdo muy bien donde estaba cuando huyó el dictador Fulgencio Batista con toda su camarilla… . Estaba haciendo camping con un grupo de amigos en el terreno donde poco después mis padres construyeron la casita de fin de semana bautizada La arboleda perdida, cerca del pueblo de Castelar, a unos 40 kilómetros de Buenos Aires. A acampar a ese terrenito fuimos seis o siete chicas y chicos con carpas y sacos de dormir. Hicimos una fogata y estábamos tratando de sintonizar buena música en una radio de pilas, cuando de pronto escuchamos que había triunfado la Revolución. Era el primero de enero de 1959… y no dormimos en toda la noche, celebrándolo.
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