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German Pages 469 [472] Year 1994
Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Band 71
Jutta Schlich
Phänomenologie der Wahrnehmung von Literatur Am Beispiel von Elfriede Jelineks »Lust« (1989)
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1994
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Schlich, Jutta: Phänomenologie der Wahrnehmung von Literatur : am Beispiel von Elfriede Jelineks »Lust« (1989) / Jutta Schlich. - Tübingen : Niemeyer, 1994 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte ; Bd. 71) NE:GT ISBN 3-484-32071 -0
ISSN 0083-4564
© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1994 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gih insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt Einband: Hugo Nädele, Nehren
Vorwort
Ein Buch ist ein Phänomen und als solches fällt es nicht vom Himmel. Es wird anvisiert, organisiert, kopiert und mit dem ups in den Buchhandel transportiert, wo es dann gekauft werden kann. Das vorliegende Phänomen und seine Phänomenologie kam auf den Weg durch die indirekt-direkte Unterstützung zahlreicher anderer. Danken möchte ich: Prof. Dr. Helmuth Kiesel (Universität Heidelberg), Dr. Ingrid Guentherodt (Universität Trier), Dr. Wilfried Henning (Universität Heidelberg), Prof. Dr. Dietrich Harth (Universität Heidelberg), Dr. habil. Peter Pfaff (Universität Heidelberg), Prof. Dr. Rolf Kloepfer (Universität Mannheim), Prof. Dr. Ingrid Joubert (College universitaire de Saint Boniface / Kanada), Prof. Dr. Rosmarin Heidenreich (College univers. de Saint Boniface), Prof. Dr. Klaus Lappe (University of Manitoba / Kanada), Prof. Dr. Klaus Berger (Universität Heidelberg), Dr. Eberhard Fahlke (Universität Frankfurt), der Adenauer-Stiftung, meinen Freundinnen, Mechthild
Becker,
KonradChristine
Kahle, Franziska Schlich, Dieter Schlich, meinen Geschwistern Markus, Thomas, Anke.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1
DEVISEN
5
I.
Hinführung
7
1.
Die Lust-Kontroverse als Symptom der Jelinek-Rezeption im allgemeinen
7
1.1
Die Interviews oder Das unstillbare Interesse am öffentlich auktorialen Epitext - Verwechslung von Autor und Werk
13
1.2
Die Jelinek-'Forschung' - Verwechslung von Leben und Dichtung
23
2.
METHODOLOGISCHE ÜBERLEGUNGEN 1
33
IL
Hypothesen
39
1.
Der Umbruch der Erzählkunst der Moderne auf einem vorläufigen Höhepunkt 39
1.1
Programmatik: Auflösung des cartesianischen Subjektbegriffs
49
Implizite Poetik
60
1.2
VI
A.
NARRATIVIK
III. Textanalyse 1.
77
Rekonstruktion der "Lust"-Fabel über die Analyse der Zeitgestaltung
77
1.1
Erzählte Zeit
81
1.2
Erzählte Zeit und Erzählzeit
100
1.3
Funktion des Zeitgerüsts
108
2.
Der Fall 'Gerti' und seine erzähltechnische Darstellung
112
2.1
Die Phasen der Erlebnisverfassungen Gertis innerhalb ihres ekstatischen Werdegangs
116
a) Depressive Ichverhärtung und Anspannung der vitalen Energien (Protasis)
118
b) Rauschhafter Aufschwung in die absolute Freiheitsillusion und Desillusionierung (Peripetie)
122
c) Ichentblößung, absolute Desillusionierung und Weltnegation (Katastrophe)
127
2.2
Erzähltechnische Textstruktur
134
2.2.1 FaszinativerErzählvorgang
134
2.2.2 Reflexiver Erzählvorgang
145
2.3
Erzähltechnische Oberflächenstruktur: Erzählprofil
157
2.4
Erzähltechnische Tiefenstruktur: Funktion der Erzählsituation
161
3.
Narrative Sinnstruktur
168
3.1
Mythisch-groteske Doppelstruktur
169
4.
METHODOLOGISCHE ÜBERLEGUNGEN II
185
VII
B.
STILISTIK
IV. Textanalyse
191
1.
Semiosis - Spracherzeugung in "Lust"
191
1.1
Theoretischer Rahmen
195
1.2
Stilistische Textstniktur
226
1.2.1 Mikrotext: Erzählanfang EXKURS: Hintergrundbeschreibung - Hölderlin
1.2.2 Mikrotexte: Gesamtes Textrepertoire a) Auditive Deautomatisation EXKURS: Hinlergrundbeschreibung - Baudelaire (Decadence)
1.3
226 253-282
295 296 305-312
b) Orthographisch-akzentuative Deautomatisation
327
c) Graphisch-artikulatorische Deautomatisation
332
d) Affektive Deautomatisation
361
Ergon: Zeichenstruktur
382
1.3.1 Stilistische Oberflächenstruktur: Verfahren der Spracherzeugung
382
1.3.2 Stilistische Tiefenstruktur: Prinzipien der Spracherzeugung
386
1.4
389
Energeia: Zeichenpotentialität und Zeichenrealität
1.4.1 Stilistische Sinnstruktur, Stilwirkung, Illokution
389
V.
Wertung
417
1.
Illokution und Perlokution - Poetologische Begründung einer Phänomenologie der Wahrnehmung von Literatur
417
Literaturverzeichnis
VIII
449
... niemand lernt schließlich lesen, ohne zu leiden.
Einleitung
Gerade literaturwissenschaftliche Arbeiten, die sich dem Werk eines einzelnen Autors widmen, und noch dazu einem einzigen Text von ihm, neigen zu einer Hervorhebung der Originalität und Einzigartigkeit ihres Gegenstandes. Eine mit dieser Gepflogenheit einhergehende erste Erwartung muß deshalb gleich enttäuscht werden: Am Anfang dieser Arbeit steht nicht das Bekenntnis zur Originalität von Buch und Autorin. Bestimmend für die Untersuchung von "Lust" ist nicht die Begeisterung, sondern der Schrecken, den das Lektüreerlebnis hinterlassen hat. Gelobt als "souveränste, versierteste Wortjongleurin am österreichischen Literaturhimmel",! gezählt zu "den derzeit wichtigsten Autoren deutscher Sprache",^ wurde die anfiingliche Beschäftigung mit Text und Autorin nicht erträglicher; hinzu kam, daß auch die "Lust" vorangegangenen Texte Jelineks eine Irritation verschafften, die zwar nicht ganz, aber immerhin tendenziell dem von "Lust" hinterlassenen Schrecken nahekommt. Es liegt an der Besonderheit dieses Schreckens,3 daß er die Beschäftigung mit den Texten der Autorin, insbesondere mit "Lust" reizte, und das Bemühen um seine Erklärung nicht erlahmen, geschweige denn abreißen ließ. Ohne die Intensität des Lektüreeffekts wäre die Arbeit nicht ausgekommen. Bereits in deren Vorfeld baute sich eine ganze Skala ethischer, moralischer und vor allem diskursiv-(philo)logischer Widerstände auf. Wenn Autoritäten wie Adorno beispielsweise "die Literatur über Ehebruch [...] nach der Auflösung der hochbürgerlichen Kleinfamilie und der Lockerung der Monogamie" "für kaum mehr [...] nachvollziehbar" halten und erklären, daß sie "nur in der Vulgärlite-
' 2 3
Alexandra Reinioghaus: Die ganze Klaviatur der Sprache. In: Tagesanzeiger, 2. Mai 1987, S. 35-43; hier S. 35. Volker Hage: Unlust. In: Die Zeit 15 (7.04.1989). Siehe dazu V. 1.
1
ratur der Illustrierten" "dürftig und verkehrt" nachlebe,'' dann wird keine Sicherheit gebende Überzeugung, sondern der Zweifel an der Beschäftigung mit einem Buch wie "Lust" bestimmend: Stichworte wie 'Vulgärliteratur', gegen die in der Literaturwissenschaft ein Beschäftigungstabu verhängt ist, Stichworte wie 'Anachronismus' und damit 'Verspätetsein' des Buchs oder mitunter auch meiner selbst - in anbetracht der seit Freud ein für allemal in die Gemüter infiltrierten Lossagung von viktorianischer Prüderie - drängen sich in den Vordergrund. Warum sich mit einem Text beschäftigen, der alle Vorurteile, die man gegen ihn haben könnte, unweigerlich mit auf den Plan ruft? Warum die kostbare Lebenszeit mit einer Geschichte vertrödeln, die letzlich von zweihundertfünfzig Seiten auf dreißig hätte reduziert werden können?: ein extrem zufriedener Hermann und eine extrem unzufriedene Gerti als Ehepaar, dazwischen ein namenloses Kind, daneben noch ein Göttersohn Michael, der alles ein bißchen durcheinanderbringt, weil sie mit ihm fremdgeht, und über dieser Viereinigkeit alles bestimmend der heilige Eros mit den ganzen Perversionen, die seine Heiligkeit mit sich zu bringen scheint, und zum guten Schluß dann auch noch eine schöne Bescherung: Kindsmord - Schluß, fertig, aus. In diesem Spannungsverhältnis von Widerstand gegen den Text und Gefesseltsein von ihm wird der Zweifel zum methodischen Akt. Er wird zum Leitfaden zunächst durch das Rankenwerk um den Text herum, das sich in einer umfangreichen, in den Feuilletons dokumentierten Resonanz präsentiert. In der Auseinandersetzung mit Zeitungsund wissenschaftlicher Zeitschriflenkritik zu Jelineks Texten allgemein kristallisieren sich erst Erkenntnisinteressen heraus, die man bei einem Text wie "Lust" haben könnte. Bei der Beschäftigung mit dem Text selbst, die mit ihrem "unablässigen Atemholen" einer Benjaminschen 'Versenkung ins Detail' verpflichtet ist,' wird der Zweifel dann zu dem, was er im literaturwissenschaftlichen Diskurs bedeutet: zu einer Rückbesinnung auf die methodischen Voraussetzungen der eigenen literaturwissenschaftlichen Praxis. Die Arbeit versteht sich damit als unkonventioneller, theoretisch-praktischer Beitrag zur Methodendiskussion in der Literaturwissenschaft. Insofern möchte sie insbesonTheodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Hg. v. Gretel Adorno und Rolf Tiedemann. Frankfurt a. Main ioi990, S. 13. Manfred Geier: Methoden der Sprach- und Literaturwissenschaft. München 1983, S. 163 f
dere dem Mißverhältnis von "theoretischen Riesen und praktischen Zwergen"* begegnen. Inwieweit ist es möglich, Wissenschaft mit der unanalytischen Intuition in Einklang zu bringen? Wie läßt sich emotionelle Askese, die die Wissenschaft dem interpretierenden Leser abnötigt, mit dem Ethos vermitteln, das in der literarischen 'Kunst der Seelenlenkung' zum Tragen kommt? Wie läßt sich das, was man in, mit und durch Kunst erlebt, wissenschaftlich ins Bewußtsein heben, ohne daß man sich dem Irrationalismus-Vorwurf auszusetzen hat und als 'subjektiv' verschrien wird? Wieso gibt es überhaupt einen Gegensatz zwischen Intuition und Wissenschaft, zwischen Subjektivität und Objektivität, zwischen Fiktion und Wirklichkeit, zwischen literarischer Kreativität und wissenschaftlichem Pragmatismus - dies sind u.a. die Fragen, mit denen sich die vorliegende Arbeit auseinandersetzt, genauer: auseinanderzusetzen hat. Indem der Akt der Sinnfindung, den "Lust" mit seiner gebrochenen Mimesis und seinem fragwürdigen 'Sitz im Leben' provoziert hat, in einer sich selbst reflektierenden Textumgangspraxis nachvollzogen wird, gibt sich das Geheimnis des Textes schließlich preis. Zum Vorschein kommt "Lust" als eine 'Phänomenologie der Wahrnehmung von Literatur'. Die Beschäftigung mit dem Text versteht sich deshalb auch als eine Heranführung des Lesers an Literatur, insbesondere an die dem Vorwurf mangelnder Lesbarkeit ausgesetzte moderne Literatur, die sich dem Gebot der Mimesis entzieht: Die Literaturwissenschaft braucht sich nicht auf bloßes Beschreiben und Etikettenkleben zu beschränken, sie kann auch den Leser an die Literatur heranführen (nicht umgekehrt!), ihn zu aktiver, produktiver Rezeption anregen. Wenn sie ihn da Sinn konstituieren lehrt, wo zunächst Fremdes, Unverständliches zum Sprechen gebracht werden muß (...].'
Die vorliegende 'Phänomenologie der Wahrnehmung von Literatur' meint schließlich mit Literatur Texte allgemein, nicht nur literarische Siegfried J. Schmidt: Empirische Literaturwissenschaft in der Kritik. On some critical reactions on empirical research in literature. In: Spiel 3 (1984), H. 2, S. 291-332; hier S. 293. Hermann H. Wetzel: Das Leben poetisieren oder "Poesie leben?" Zur Bedeutung des metaphorischen Prozesses im Surrealismus. In: Klaus von See (Hrsg.): Neues Handbuch der Literaturwissenschaft. Bd. 18: Jahrhundertende - Jahrhundertwende II. Hg. v. Jost Hermand. Wiesbaden 1976, S. 71-131; hier: S. 97.
Texte. Der Akt des Lesens bezieht sich auf 'Gewebtes', auf ein organisches, energetisches Gegenüber als das Fremde, das Andere, letztlich auf das Rätsel, das jeder Mensch auch sich selbst ist und aufgibt - gemäß des Ausspruchs Paul Valerys: 'Je est un autre'. In diesem Sinne ist diese Phänomenologie der Wahrnehmung einer allgemeinen Semiotik verpflichtet. Der Schlag unter die Gürtellinie und vor den Kopf oder auch der durch "Lust" ausgelöste Herzschlag kann gleichermaßen Kollaps und Tod oder auch Krankheit, Krisis und damit Heilung bedeuten...
Devisen
"Der Eifer, mit dem das Projekt der Interpretation gegenwärtig verfolgt wird, speist sich weniger aus Achtung vor dem widerspenstigen Text [...] als aus offener Aggressivität. Der Interpret verachtet eingestandenermaBen die Erscheinung [...] des Textes. [...] Heute ist die Interpretation zu einem überwiegend reaktionären, unverschämten, feigen, unterdrückerischen Projekt verkommen. So wie die Abgase der Industrie und des Autoverkehrs die Atmosphäre unserer Städte verpesten, so vergiftet der massenhafte Ausstoß von Inteipretetionen unsere Sensibilität. [...] Interpretieren heiBt, unsere Umwelt ausbeuten und sie noch ärmer machen, als sie ohnehin ist." (Susan Sontag) "Fische, die gegen das Wasser predigen, muß man braten." (Gerd Stein) "Wenn man eine Erzählung liest, so nimmt man die auftretenden Menschen, die Begebenheiten und Dinge, kurz, die Welt der Erzählung ernst. Analysiert man sie, so gehört dazu, daß man sie in bestimmten Hinsichten nicht ernst nimmt. [...] Man wird desto weniger an ihr ernst nehmen, je mehr man bestrebt ist, alle unbewußten Voraussetzungen, von denen früher gesprochen wurde, auszuschalten, d. i. zu vergegenständlichen." (Qemens Lugowski) Etwas nicht ernst nehmen heißt nicht, es als belanglos abtun, meint nicht Arroganz als Vorwegnahme unbewiesener Überlegenheit, heißt nicht, einem Gegensatz zwischen Emst und Spiel das Wort reden; etwas nicht ernst nehmen heißt, es nicht todernst nehmen, meint spielerischen Emst - eine zweischichtige Verhaltensweise. (Jutta Schlich) ""Wer nichts über die Sache versteht, schreibt über die Methode'. Den Philologen [sc. Gottfried Hermann] in Ehren - aber der Aussprach ist eigentlich nicht viel wert. Er ist im Gegenteil höchst problematisch, weil er einen Gegensatz zwischen Sache und Methode postuliert, den es nicht gibt und auch nicht geben darf. Gewiß gibt es den Methodenstreit, der so wenig erfreulich ist wie der Gelehrtenstreit. Nicht selten sind beide wohl auch identisch. Aber selbst der unerfreuliche Methodenstieit ändert nichts daran, daß die Sache einer Wissenschaft nur sinnvoll betrieben werden kann, wenn sie methodisch und durchdacht betrieben wird. Wenn sich die Wissenschaft vom methodischen Bewußtsein dispensiert, hat sie allen Grund, verdächtig zu werden." (Walter Müller-Seidel)
"Und wenn wir auch nicht eine Bemerkung von Nietzsche alleingültig unterschreiben: 'die Methoden, man muß es zehnmal sagen, sind das Wesentliche, auch das Schwierigste', so ist Methodenkenntnis doch eine Steigerung des Bewußtseins, ein Mittel, größere Freiheit und Eigenständigkeit zu erlangen, indem wir lernen, die oft bedrückenden Antipathien oder Faszinationen, die Literatur in uns auslöst, zu klären und zu durchschauen." (Manoo Maren-Grisebach)
1. Hinführung
1. Die Lust-Kontroverse als Symptom der Jelinek-Rezeption im allgemeinen "Nein, sie kennt auch diesmal keine Gnade" i - so lautet die Überschrift zu einer Rezension, die zum Ausdruck bringt, w a s repräsentativ für das Medienecho stehen kann, das Jelinek 1989 anläßlich des Erscheinens von "Lust"2 zuteil wurde. A l s "Spezialistin für den Haß", "die keine Annäherung gestattet",^ ging dem Buch der Ruf der Autorin als einer "Nestbeschmutzerin"" und Einzeltäterin voraus, der die Rezeption von "Lust" von vornherein festlegte. Jelinek ist bekannt dafür, daß ihre Texte immer für Aufregung sorgen: angefangen bei ihrem ersten öffentlichen Auftreten bei den Innsbrucker Jugendkulturwochen, bei denen sie 1969 die Preise für Lyrik und Prosa bekam und die daraufhin nicht mehr stattfanden,^ über den Skandal, den die Urauffüh-
Annette Meyerhöfer: Nein, sie kennt auch diesmal keine Gnade. Spiegel-Redakteurin A. Meyerhöfer über Jelineks "Lust". In: Der Spiegel 14 (1989), S. 243250. Elfriede Jelinek: Lust. Reinbek bei Hamburg 1989; wird im folgenden bei Paraphrasen nur noch als "Lust" zitiert; bei Zitaten erscheint die Seitenzahl in Klammer hinter dem Zitat; alle Hervorhebungen sind von Verf. und werden nicht mehr als solche gekennzeichnet. Sigrid LöfQer: Elfriede Jelinek. Spezialistin fiir Haß. Eine Autorin, die keine Annäherung gestattet. In: Die Zeit 45 (1985). Ingrid Seibert / Sepp Dreisinger: Elfriede Jelinek: Die Frau im Sumpf. In: Dies.: Die Schwierigen. Porträts zur österreichischen Gegenwartskunst. Wien 1986, S. 120-136; hier: S. 124. "Und dann kamen diese Jugendkulturwochen in Innsbruck. Ich habe beide Preise bekommen. Für Lyrik und Prosa. Es gab damals sogar eine parlamentarische Anfrage der FPÖ (Freiheitliche Partei Österreichs), ob es denn in Ordnung sei, pornographische Texte zu prämieren." Georg Biron: "Wahrscheinlich wäre ich ein Lustmörder." Ein Gespräch mit der Schriftstellerin Elfriede Jelinek. In: Die Zeit 40 (1987).
rung des Theaterstücks "Burgtheater"® 1985 in Bonn'' entfachte, und die Verleihung des Heinrich Böll-Preises am 2. Dezember 1986, bis hin zum Medienwirbel um "Lust" im Frühjahr 1989. Was vorwiegend dem dramatischen Werk Jelineks bislang exzessiv widerfuhr, nämlich daß die Rezeption - bei Presse und Publikum in gleichem Maße - von skandalträchtiger und, schon allein deshalb, unzureichender Auseinandersetzung überlagert war mit Reizbegriffen, wurde 1989 noch potenziert. Zum einen trugen die Vorankündigungen der Autorin dazu bei, daß die unterschiedlichsten Erwartungen beim Publikum geweckt und bis mm äußersten in Spannung gehalten wurden. Nicht daß "Details über das Buch" Jelinek wie "Indiskretionen bei einer Staatsaffäre"» entschlüpften; vielmehr hat sie das Vorhaben über die Medien anläßlich einer "routinemäßigen Umfrage von dpa, woran Schriftsteller arbeiten",' bekannt gemacht. Dabei wurde die Neugierde des Publikums erheblich gesteigert durch die Erklärung der Autorin, zwar ein "sexuelles Buch" zu schreiben, das aber von der "Unmöglichkeit von Sexualität" i" handele. Hinzu kam, daß Jelinek, "noch ehe das geschmäcklerische Rudel neue Witterung aufnehmen konnte",!! wissen ließ, ihr sei das Buch mißglückt.12 Sowohl im Hin® Elfriede Jelinek: Burgtheater. In: Dies.: Theaterstücke. Hg. v. Ute Nyssen. Köln 1984. In diesem Stück, das kein Stück über Personen oder politische Zustände sein soll, sondern eines über Sprache mit dem Ziel, die Sprache des Faschismus zu denunzieren, zeigt Jelinek ihre ganze Wut gegen "die Konfliktscheuheit" und "Alles-Gerettet-Mentalität", "mit der Probleme wie etwa der [...] latente Faschismus unter den Tisch gekehrt werden"; Karin Kathrein: "Ich bin so häBlich, ich bin der Haß." In: die Presse 16./17.11.1985. Interessant ist, daß Jelinek hier zum ersten Mal dialektale Wendungen in ihre Bühnensprache miteinbezieht, die auch in "Lust" eine wichtige Rolle spielen; siehe dazu B.IV. 1.2.2 C). Jelineks "expliziter Zorn", der sich auf die österreichische Scheinmoral beziehen soll, "evoziert regelrechte HaBtiraden" über ihr literarisches Schaffen. "Darin liegt wohl auch ein Grund, warum die bisherigen Uraufführungen ihrer Stücke, bis auf "Was geschah nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaft' [...] allesamt im Ausland über die Bühne gingen"; Anita M. Mattis: Sprechen als theatralisches Handeln? Studien zur Dramaturgie Elfriede Jelineks. Wien, Phil. Diss. 1987, S. 2. » Frank Schirrmacher: Musik gehört einfach dazu. Über das Wüten der Männer Hfriede Jelineks "Lust". In: FAZ 22.4.1989. Kai Ehlers: Über den Wahnsinn der Normalität oder Die Unaushaltbarkeit des KapiUlismus. Gespräch mit Böll-Preisträgerin (1986) Hriede Jelinek. In: Arbeiterkampf 278 (12.01.1987), S. 34. 10 Ebenda.
'
"
Schirrmacher: Das Wüten der Männer. 1989.
8
blick auf die Thematik, als auch späterhin mit dem Titel "Lust" - einem Wort, dem nach w i e vor in unserer Gesellschaft, trotz aufgelokkerter Sexualmoral, ein Hauch von Anrüchigem anhaftet" - scheint Jelinek "wirklich in ein Wespennest gestochen zu haben", zumal es "eine unglaubliche Anmaßung ist, als Frau über dieses Thema zu schreiben". Auf der anderen Seite wurde die somit ohnehin schon angegriffene Geduld des Publikums noch dadurch strapaziert, daß sich die Verlautbarungen über "Lust" zu Textproben steigerten, "schwer einschätzbaren V o r a b d r u c k e n " i 5 in Zeitschriften und Büchern.i® Unter der reißeri"Nachdem ich zuletzt versucht habe, für das Politische eine ästhetische Form zu finden, versuch ich jetzt, für das Obszöne eine ästhetische Form zu finden. Das wird ein Gegenentwurf zur 'Geschichte des Auges' von Bataille. [...]. Das wird mir nicht gelingen"; Ehlers: Wahnsinn der Normalität. 1987, S. 34 f. Diese Reaktion des öffentlichen Bewußtseins auf Sexuelles ist also nicht Indiz für eine restaurative Sehnsucht nach jenem alten konservativ-christlichen Beurteilungsrahmen, demzufolge alles, was über eine sittlich normierte unumgängliche Thematisierung der Sexualität im Dienste der Fortpflanzung hinausgeht, dem Pomographieverdikt anheimfälh. Vielmehr reagiert die Öffentlichkeit ablehnend auf etwas, dem man sich privat ganz gern hingibt. "E)ie Gewinne werden privat verbucht, wie überall in der Gesellschaft, die Schäden haben Frauen zu tragen", sowohl privat als auch öffentlich. (Gisela Breitling: Pornographische Gesellschaft mit beschränkter Haftung. In: Karin Rick / Silvia Treudl (Hrsg.): Frauen, Gewalt, Pornographie. Wien 1989, S. 141-156; hier S. 142). Die Spaltung der Lebensbeieiche in privat und öffentlich trägt dazu bei, dafi das, was privat praktiziert wird, sich im öffentlichen Bewußtsein gewissermaßen subkutan perpetuieren kann. Dieser Tendenz der Pomographisierung der Gesellschaft begegnet Jelinek in "Lust", indem sie sich dem Obszönen, dem, was hinter den Kulissen das 'Bühnengeschehen' dirigiert, zuwendet. "Sie ist obzön, aber nicht pornographisch" (J. Diews: Staunenswerter Haßgesang. 1989), da sie unsere durch den Titel "Lust" geweckte Leseerwartung auf "Aufgeilendes, Anmachendes, durch pikante Perversionen Aufwühlendes" (Käthe Trettin: Keine Lust für niemand? In: Pflasterstand 311 (1989), S. 37-44; hier S.37) enttäuscht. "Das Obszöne ist dann gerechtfertigt, weim man den Beziehungen zwischen Männern und Frauen die Unschuld nimmt und die Machtverhähnisse klärt." (Elfriede Jelinek: Der Sinn des Obszönen. In: Claudia Gehrke (Hrsg.): Frauen und Pornographie. Tübingen o. J., S. 102-103; hier S. 103.) Die Frage, inwiefern Jelinek jene Stufe der Reflexion repräsentiert, die die Spaltung von offizieller und inoffizieller Kultur, die auf diese Spaltung sprachlich mit einer Tendenz zur Hybridenbildung, zum Sprachsynkretismus antwortet, als Krise erkennt, und diese Krise als Schnittpunkt zweier Kultursphären in "Lust" sprachlich sichtbar macht, ist Thema von Teil B. it Ehlers: Wahnsinn der Normalität. 1987, S. 34. 15 Hage: Unlust. 1989.
sehen Überschrift "Frauen, die Lust auf Frauen machen"!'' druckte die internationale Männerzeitschrift "Lui" die "Schlüsselszene"i« aus dem Jelinek-'Roman' ab. Bereits der Untertitel zu diesem "Lust"-Vorabdruck ("Damit hatte Alice Schwarzer eben nicht gerechnet, daß ihre rigide Anti-Pomographie-Kampagnei9 eine Gegenbewegung auslöst unter Frauen. Eine erotische Gegenkultur"20) macht drastisch sinnfäl-
Vorabdrucke in: "Schreibheft", "Lettre" (internationales Kulturmagazin), "Lui" (internationales Männermagazin); die ersten beiden Angaben sind entnommen aus: Jörg Drews: Staunenswerter HaBgesang. Elfriede Jelinek und die Gewalt der Lust. In: Süddeutsche Zeitung 87 (15./16. 04 1989), die letzte aus der Frauenzeitschrift EMMA 4 (1989), S. 42; EMMA 4 (1989), S. 42-43 druckte - wohl als Replik - dieselbe Textstelle aus "Lust" ab wie "Lui" zuvor. Bei dem Text "Ich fordete Sie ernstlich auf: Luft und Lust für alle!" In: Brigitte Dassen (Hrsg.): Pomost. Triebkultur und Gewinn. München 1988, S. 115-119 handelt es sich um einen Vorabdruck von Kapitel 8 aus "Lust", insbes. der Seiten 105-112. Einige Abweichungen des definitiven "Lust"-Textes vom Vorabdruck könnten als Material zur Untersuchung der Poiesis hinzugezogen werden, wovon in dieser Arbeit allerdings abgesehen wird. Vorabdruck der Seiten 59-65 in: manuskripte 96 (1987), S. 57-58. Vorabdruck der Seiten 125-132 in: manuskripte 99 (1988). i'' Zitiert nach: Emma 4 (1989), S. 42. 18 "Lui" vermarktete die Seiten 34-41 des zweiten Kapitels aus "Lust" als "Schlüsselszene". Eine solche Etikettierung des Textauszugs ist eher verwunderlich, hält man sich vor Augen, wie grundsätzlich dieser von pornographischen Erzählmustem abweicht; siehe dazu: II.l und insbes. B.IV. 1.4.1. Vor diesem Hintergrund wird die von "Lui" praktizierte ironische Vereinnahmung des Textes sinnfällig, eines Textes, der auch nicht - wie A. Schwarzer "Lui" entgegenhält - "zum Klarsichtigsten und Männerfeindlichtsten gehört, was je über Sexualität geschrieben wurde"; Alice Schwarzer in: Emma 4 (1989), S. 42. "Zum Schutz der Frauen und ihrer Würde" hat die Frauenzeitschrift "Emma" Ende 1987 einen Gesetzesentwurf vorgestellt, der am Anfang der "PomNo"Kampagne sUnd; Emma 12 (1987). Das bereits 1979 in den USA erschienene Buch Andrea Dworkins "Pornographie" unterstützte den Trommelwirbel. Mit seiner darin verwendeten "Kahlschlagmetaphorik" (Bovenschen), die das Buch zu einem 'Manifest zur Vernichtung der Mäimer' macht, prägte es den für die Kampagne entscheidenden Satz: "Wir wissen alle, daß wir frei sein werden, wenn es keine Pomograhie mehr gibt." Da dieses Bekenntnis nicht auf Anhieb allen Interessierten einleuchtete, entspann sich darum eine heftige Diskussion. Der kritische Kommentar von Silvia Bovenschen: Auf falsche Fragen gibt es keine richtigen Antworten. Anmerkungen zur Pornographie-Kampagne. In: Autonome Frauen. Hg. v. Ann Anders. Königstein / Taunus 1988, S. 56-67 liefert ausgebend von einer Analyse des Dworkin-Buchs - wichtige Bewertungsmaßstäbe, die an diese Kampagne anzulegen sind, von der "Differenzierungen als untauglich zurückgewiesen" wurden (Bovenschen, S. 63). 20 Zitiert nach: Emma 4 (1989), S. 42.
10
lig, wie stark die Meinungen zu "Lust" bereits vor dessen Erscheinen auseinanderfielen. Nicht nur die Tatsache, daß Jelinek von einem "Buch über die Unmöglichkeit von Sexualität"2i gesprochen hatte, steht in unaufhebbarem Kontrast zu der von "Lui" praktizierten Vereinnahmung des Textes als Plädoyer von Frauen für 'mehr Lust', sondern auch Alice Schwarzers trotz oder gerade wegen dieses Seitenhiebs später verkündete Auslegung des Textes als "feministische Kriegserklärung".22 In einer Art Tauziehen geht es - über die Instanz des Textes hinweg - um den Streit um die männliche oder weibliche "Lust" - und der Text schaut zu. Die Ambivalenz, die "Lust" bei den Lesern hat, kommt bereits im Vorfeld der eigentlichen Publikation voll und ganz zum Tragen, was dem Buch eimal mehr einen unerhörten Reiz verleiht.23 Die allgemeine Nervosität des Publikums kam seitdem nicht mehr zur Ruhe. Sie legte sich auch dann nicht, als man im Frühjahr 1989 endlich den vollständigen Text in den Händen halten konnte. Die Hilflosigkeit der Rezensenten angesichts des Novums, das sich immer mehr zum Ärgernis auswuchs, fand entweder in Haßtiraden oder Lobeshymnen von außerordentlicher Heftigkeit ein Ventil. Das Gefühl des Ausgeliefert-Seins an den Text führte zu Urteilsverkündigungen, die weiterhin die Rezeption von Jelineks "Lust" bestimmen und sich bis in die globale Herangehensweise der Literaturwissenschaft fortschreiben. So kommt es, daß "die Zeit der Vorurteilsbildung"^^ über den Prosatext zwar vorbei ist, die "öffentlich praktizierte Vorurteilsvollstreckung"25 auch; der Weg für einen in die Tiefe gehenden wissenschaftlichen Zugriff ist damit jedoch nicht auch ohne weiteres begehbar.26 21 Ehlers: Wahnsinn der Normalität. 1987, S. 34. 22 Alice Schwatzer "Ich bitte um Gnade". A. Schwarzer interviewt Elfriede Jelinek. In: Emma 7 (1989), S. 50-55; hier S. 50. 23 Auch das Fehlen einer Gattungsangabe stellt eine "Diskretion" dar, "die sich bestens zum recht ambivalenten Status eines Werks fugt." Giranl Genette: Paratexte. Mit einem Vorwort von H. Weinrich. Frakfurt a. Main / New York 1989, S. 97. 24 Gertrud Koch: Sittengemälde aus einem röm. kath. Land. Zum Roman "Lust". In: ChrisU Gürtler (Hrsg.): Gegen den schönen Schein. Texte zu Elfriede Jelinek. Frankfurt a. Main 1990, S. 135-141; hier S. 135. 25 Ebenda. 26 Im Gegensatz zu Koch, die das Medienecho von "Lust" nicht noch einmal erschallen lassen will, wird hier von der Notwendigkeit einer Bewußtmachung der
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Daß die Kritik zu Jelineks Werk im allgemeinen, zu "Lust" im besonderen, zwischen zwei Polen der Meinungsbildung oszilliert,^^ spricht für die in jeder Hinsicht extreme Erzählkunst der Autorin: extrem wortgewandt, was die stilistische Seite betrifft, außerordentlich scharf in der Beobachtung der zeitgenössischen sozialen, politischen und 'intimen' Realität, ausgesprochen negativ auf den ersten Effekt, was ihre Einstellung zu dieser Realität betrifft. Zustimmung von selten der Literaturkritik erfährt vor allem Jelineks Sprachbegabung, Ablehnung dagegen die Wirkung dieser Sprachbegabung.28 Festzustellen ist lediglich, daß man hier nicht von Kritik im Sinne einer gewissenhaften Prüfung und Unterscheidung sprechen kann.^' Die Hemmungslosigkeit, von der lobende und tadelnde Rezeption in gleicher Weise bestimmt sind, scheint der Oberflächlichkeit der Lektüre zu entsprechen. Literaturkritische Stimmen sind weder aus Feuilleton noch aus Wissenschaft vernehmbar oder werden zumindest vom "Chor textunabhängiger Apologeten wie Vernichter des Werks"3o übertönt. Jelineks Werk, respektive "Lust", ist ein besonders leuchtendes Beispiel dafür, wie speziell literarische Texte "als Rohstoff selbstkomponierter Arien"3i begriffen werden.
mit dem Medienecho vertiundeneii Vorurteilsbildung ausgegangen, die auch die Jelinek-Foiscbung determiniert. Die Reaktionen auf "Lust" sind konstitutiv für die methodologischen Überlegungen der Arbeit, die in Teil B. zu der Frage fuhren: "was macht der Text mit mir und warum'? Trettin: Keine Lust? 1989 beispielsweise lobt "Lust" als "Jelineks vorzügliches neues Buch"; Hage: Unlust. 1989 sieht darin "nichts anderes als eine einzige groBe Enttäuschung, einen Absturz, ein Fiasko." Oftmals bestimmt die Bipolarität in der Rezeption auch einen einzigen Kommentar, der mit der Ambivalenz des Textes (siehe dazu auch III. 2.) korreliert. So spricht Drews: Staunenswerter HaBgesang. 1989 von einem "höchst merkwürdigem Bündel von Geleistetem und Problematischen, das aber äußerste Intensität bat und auf einsamer Höhe über der gegenwärtigen deutschen Literatur anzusiedeln ist." ^ Als Beispiel dafür, wie unmittelbar aufeinander die Bewertung von Sprache und Inhalt erfolgt, folgendes Zitat: "Ich war immer schon fasziniert von der Geschliffenheit der Jelinek'schen Sprache, ihrem sezierenden bösen Blick, und verfiel doch beim Lesen ihrer Romane jedesmal in tiefe Melancholie. Das sollen Bücher nicht mit einem machen, dachte ich bei mir. Wo bleibt das Positive?" Brigitte Lehmann: Oh Kälte, oh Schutz vor ihr. Ein Gespräch mit Elfriede Jelinek. In: Lesezirkel 15 (Wien 1985), S. 3. 29 Siehe dazu 1.1.2, insbes. V. 1. 30 Koch: Sittengemälde 1990, S. 135. 31 Ebenda.
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U m nicht bei einem solch unbefriedigenden Pauschalurteil stehenzubleiben, daß Jelineks "Haßgesang" in "Lust" zwar "staunenswert"32 ist, seine Stoßrichtung aber nicht festzulegen s e i » und somit letztlich nur "Unlust"^ provoziere, wird im folgenden zunächst auf die Rezeption von Jelineks Werk in den Medien, danach in der Wissenschaft eingegangen. Herauszuarbeiten ist das Spezifische daran und die dahinter liegende Systematik.
1.1 Die Interviews oder Das unstillbare Interesse am öffentlich auktorialen Epitext - Verwechslung von Autor und Werkes
Ich weiß, daB wir heute im allgemeinen dazu neigen, uns vom Schriftsteller die Bedeutung seiner Werke angeben zu lassen. Daher die vielen unsinnigen Fragen, die der Kritiker an den [...] Schriftsteller richtet, an sein Leben, an die Spuren seiner Absichten, damit er uns selbst versichere, was sein Werk zu bedeuten hat.36
Drews: Staunenswerter Haßgesang. 1989. Ebenda: "Aber wie soll ich aus dem Gelesenen generalisieren und hochrechnen und auf was? Auf die Gesellschaft insgesamt? [...] Auf die Lage der Frau in der Gesellschaft? [...] Auf die Art der sexuellen Beziehungen der Geschlechter in der Gesellschaft insgesamt?" Hage: Unlust. 1989. "Die Lust wird euch vergehen! Das ist die Botschaft - die Autorin scheint einkalkuliert zu haben, daß diese Botschaft auch für ihr Buch gilt." Epitexte sind alle jene Texte im Umfeld eines literarischen Werks, "mit denen ein Autor, beispielsweise in Form von Selbstanzeigen und Interviews, ein Werk aus seiner Sicht erläutert." Genette: Paratexte. 1989, S. 7. Zusammen mit dem Peritext eines Werks (Titel, Vorwort, Motti, Kapitelüberschriften etc.) bilden die Epitexte den Paratext, "jenes Beiwerk, durch das ein Text zum Buch wird und als solches vor die Leser und, allgemeiner, vor die Öffentlichkeit tritt". (S. 10) Um die Paratexte, hier den Epitext "genau und kritisch lesen zu können, ist es nötig", sich auch ihrer Gattungsgesetze bewußt zu sein. (S. 8) Die folgende Analyse ist der gleichen Intention verpflichtet, die Genette verfolgt: Er hat in Frankreich entscheidend zur Vermittlung zwischen Literaturkritik und Literaturwissenschaft beigetragen. 36 Roland Barthes: Kritik und Wahrheit. Mit einem Vorwort von H.Scheffel. Frankftirt a. Main 1967, S. 71. 13
Von Jelinek kursieren so viele Photos, Interviews^^ und Porträts in den Medien wie kaum von einer anderen Autorin oder einem anderen Autor. Niclit nur Feuilletons, sondern auch "Emma" und "Lui" bekunden besonderes Interesse an ihr. Juliane Vogel zeigt in ihrem Aufsatz "Oh Bildnis, oh Schutz vor ihm"^«, wie die Weigerung der Autorin, in der Öffentlichkeit aufzutreten, von einer Bilderflut in den Medien begleitet wird. Dabei kommt es Vogel vorwiegend darauf an, die Selbstinszenierungstechnik Jelineks herauszustellen, die "rigide" "den Ikonoklasmus am eigenen Bilde und die redselige Entmythologisierung der eigenen Maske" "betreibt".Fragen nach den Strukturen der Rezeption von Jelineks Werk, das am Anfang der "Rotation der PR-Maschine"''« steht, werden jedoch nur gestreift. Die strukturellen Bedingungen, die dem Medienwirbel um Jelinek zugrunde liegen, lassen sich am deutlichsten an den mit der Schriftstellerin geführten Interviews aufzeigen. Darüber hinaus ist ihre Analyse für die Entwicklung von Bewertungskriterien, an denen die Selbstaussagen Jelineks zu messen sind, von entscheidender Bedeutung. Zum punktuellen Anlaß der Veröffentlichung von "Lust" liegen zahlreiche Rezensionen, ein Porträt der Autorin"*! und zwei Interviewst^ mit ihr vor. Allen gemeinsam ist die Vermischung der Zuordnung von Attributen zu Text und Autorin; vom Text wird auf die psychische Disposition Jelineks geschlossen: "Provokant wie das Buch ist
Ein Blick auf die im Anhang des Bands "Gegen den schönen Schein" (1990) erstellte Bibliographie, in der 24 Interviews nachgewiesen sind, mag genügen. Daß der Nachweis jedoch noch erhebliche Lücken aufweist, stellt sich im Vergleich mit der Bibliographie der Dissertation von Mattis heraus (Sprechen als theatralisches Handeln? 1987). ^ Juliane Vogel: Oh Bildnis, oh Schutz vor ihm. In: Gürtler Gegen den schönen Schein. 1990, S. 142-156. Ebenda S. 147. "•o Diese "Rotation der PR-Maschine, die seit Jahren in sich selbst kreist" hat Gabriele Riedle beschrieben; Riedle: They call her Elfie. In: Literatur-Konkret 12 (1987/88), S. 5-9; zitiert bei Vogel: Bildnis. 1990, S. 145. "«i Sigrid Löfflen Begant und gnadenlos. Porträt Elfriede Jelinek. In: Brigitte 14 (1989), S. 95-97. Interessant ist die Beschreibung des Kults, den Jelinek mit ihrem äußeren Erscheinungsbild betreibt, das in jeder Erholungsphase - nach Abschluß eines Werkes - anders ausfillt. Das bereits erwähnte Interview Schwatzers mit Jelinek: Emma 7 (1989), S. 150155; Peter Huemen Im Gespräch. Interview mit Elfriede Jelinek vom 21.4.1989. Österr. Rundfunk (nachgewiesen bei Vogel: Bildnis. 1990, S. 156, Anm. 9).
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auch die Autorin selbst"''^ oder "Wer etwas von [ihr] wissen will, kann [ihr] Buch lesen"'*^ - das ist das einheitliche Denkmuster, mit dem Journalisten an die Schriftstellerin herantreten und das über die Vermittlung der Medien ihr öffentliches Bild prägt und konserviert. Den Ausgangspunkt des "Emma"-Interviews bildet Jelineks Aufgebot von Mode und Good Looking. Damit ist das Vorzeichen gesetzt, unter dessen Diktat der gesamte Dialog abläuft. Der eigentlich zu erwartende Kommentar zu "Lust", wie er einem zum punktuellen Anlaß der Veröffentlichung eines Werkes geführten Interview entspräche,'" geht somit in einem biographischen, bis hin zum Persönlich-Intimen gesteigerten Dialog auf; die Beziehung zum Werk wird dabei fast gänzlich unerkennbar.''« Hält man sich vor Augen, daß "der Journalist" in einem Interview "den Schriftsteller nicht wirklich" "befragt", sondern eher "eine Frage des Publikums an ihn weiterleitet" ("denn darin besteht im Prinzip seine Rolle")'''', dann wird sehr schön deutlich, in welchem Maße Alice Schwarzer, die die Fragen stellt, darauf aus ist, die Autorin zu Aussagen zu bewegen, die sie als dem ideologischen Konzept
der
Zeitschrift
verpflichtet
zeigen.
"Lust"
ist
eine
"feministische Kriegserklärung"''« - so suggeriert der Dialog. Unabhängig davon, inwiefern es sich um wörtlich zu nehmende, authentische Aussagen Jelineks handelt, ist festzuhalten, daß dieses Interview mit sowohl persönlich als auch ideologisch vereinnahmenden Mitteln geführt wird. Da "Lust" als das bisher erfolgreichste Buch Jelineks gilt,'" war das mediale Interesse an Stellungnahmen der Autorin zu ihrem Werk auch noch ein Jahr später lebendig. Im Juni 1990 erschien in "Der Zeit" das Gespräch Andre Müllers mit der Schriftstellerin.^" Müller ist für seine skandalträchtigen 'Gespräche' bekannt, in deren Verlauf es ihm immer wieder gelingt, die Befragten zu ganz persönlichen Bekenntnissen zu "3 Löfflen Porträt. 1989, S. 95. ^
Schwarzer: "Ich bitte um Gnade". 1989, S. 52.
''5 Vgl. dazu Genette: Paratexte. 1989, S. 342. "6 Ebenda S. 330. "7 Ebenda S. 341. ^
Schwarzer: "Ich bitte um Gnade". 1989, S. 51. Zum Erfolg des Buchs hat der "geschickt inszenierte Medienwirbel" "wohl nicht unwesentlich beigetragen"; Gürtler: Gegen den schönen Schein. 1990, S. 14. Andrd Müller: Ich lebe nicht. Andr6 Müller spricht mit der Schriftstellerin Elfriede Jelinek. In: Die Zeit 26 (22. Juni 1990).
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bewegen.5i Mit "Der Klavierspielerin" ( 1 9 8 3 ) , e i n e m Buch, das aufgrund der grausamen geschlechtlichen Selbstverstümmelungsaktionen der Protagonistin Erika die Publikumsaufmerksamkeit erregte, richtete sich das Interesse erstmalig intensiv auf den "klassisch belasteten Gegenstand
der
Lebensgeschichte"53
Jelineks,
deren
'Außergewöhnlichkeit' sich wohl für ihre 'degenerierten' sexuellen Phantasien verantwortlich zeigen sollte. "Lust" nun gibt verstärkt Anlaß, sich mit der Biographie der unter Perversionsverdacht stehenden Autorin auseinanderzusetzen, ist doch das, was in "Der Klavierspielerin" noch eher untergeordneter Aspekt war, zur zentralen Thematik eines Buches entfaltet worden. Und so ist es eine Öffentlichkeit zufrieden, endlich - ein Jahr nach dem literarischen Schockerlebnis^-» Müllers "therapeutischem Kolloquium
beiwohnen zu können.
Im Grunde sollte das "im Prinzip spätere" (im Verhältnis zum Erscheinungsdatum des Buches) "und gründlichere Gespräch" von einem "stärker motivierten Mittelsmann gefuhrt" sein, da seine Funktion nicht mehr in dessen "Popularisierung und Werbung besteht".^» Müllers Gespräch mit Jelinek reiht sich jedoch ganz ein in den Tenor, der für alle ihre Befragungen bis dahin mehr oder weniger bestimmend gewesen ist.^'' Um seinem Image, das er beim Publikum hat, zu ent"Müllei interessieren die Sensationen, j e perverser, um so schöner, die unautorisierte Verbreitung peinlichster Indiskretionen (siehe Peymann, den er zum Skandal versuchte), und die Marie bar auf die Kralle"; aus einem Leserbrief zum 'Gespräch' Müllers mit Jelinek. In: Die Zeit 30 (20. Juli 1990). Elfriede Jelinek: Die Klavierspielerin. Reinbek bei Hamburg 1983. 53 Vogel: Bildnis. 1990, S. 148. "Riedle (siehe Anm. 55) hat gezeigt, daß sich das allseitige Interesse daran [sc. an Jelineks Biographie] nur vor dem künstlichen Horizont der 'Klavierspielerin' ergibt." 5'' Vgl. Sieg&ied Schober: Die neue Lust. Lust auf "Schlimmes". In: Stern 18 (27. y^ril 1989), S. 66-72; hier S. 66. Aus einem Leserbrief zum 'Gespräch' Müllers mit Jelinek. In: Die Zeit 30 (1990). 56 Genette: Paratexte. 1989, S. 347. 5 ' Genette unterscheidet deutlich zwischen Gespräch und Interview, wobei ersteres vorwiegend an einem auktorialen Kommentar zum Werk interessiert ist. Im günstigsten Fall bringt das Gespräch Interpretationen oder globale Bewertungen dazu hervor, die oft ein späteres Vorwort ersetzen, bestätigen oder nuancieren können. (Genette 1989, S. 347) Das Gespräch Müllers mit Jelinek jedoch entspricht eher den GattungsgesetzmäBigkeiten, die dem Interview zugrunde liegen. Wie sehr die Befragungen Jelineks zum biographischen Diskurs hintendieren, so daß im Grunde kaum Gespräche mit ihr vorliegen, signalisiert symptomatisch
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spechen und um Informationen zu ermitteln, die einem Leserbedürfnis entgegenkommen, das sich mehr nach Details über Leben, Herkunft und Gewohnheiten der Dichterin sehnt als nach eingehendem Kommentar zu "Lust", verläßt Müller in diesem 'Gespräch' "den Boden des Werks zugunsten einer eher autobiographischen Rückbesinnung".^* Was nun Jelineks Gesprächsverhalten betrifft, so ist die Tatsache in Rechnung zu stellen, daß die Autorin gezielt gegen Medienstrategien polemisiert, mit denen sie sich auch unablässig in ihren Texten auseinandersetzt. Grundsätzlich stellt sich der Kausalzusammenhang zwischen Frage und Antwort im Interview folgendermaßen dar: Da der Interviewer ein größerer Spezialist des Interviews ist als der jeweilige Autor, funktioniert die Maschine mit Reflexen, d. h. mit austauschbaren Klischees, mit einem Vorrat typischer Fragen, zu dem sich ein symmetrischer Vorrat typischer Antworten herausgebildet hat, die den Anteil des Unvorhergesehenen drastisch reduzieren.^'
Für das Müller-Interview bedeutet das: Da Müller für seine untypische Gesprächsführung bekannt ist, für die er - nach Meinung einiger begeisterter Leser - "einen namhaften Joumalistenpreis erhalten sollte",®^ verhält sich Jelinek proportional dazu mit einem Vorrat untypischer Antworten, die damit ebenfalls - da sie im Grunde der Erwartung des Publikums entsprechen - den Anteil des Unvorhergesehenen drastisch reduzieren. Aus diesem Mechanismus des Frage- und Antwortspiels des Interviews herausgegriffen und repräsentativ gültig dafür sei Jelineks Replik auf Müllers Suggestiv-Satz, daß sich die Autorin in früheren Interviews über Privates geäußert habe. Jelinek:
der Titel der von Peter Huemer durchgeführten Befragung der Autorin: Huemer: Im Gespräch - Interview mit Elfriede Jelinek vom 21.04.1989. In den Raster der Kriterien, die Genette zum Gespräch aufstellt, fügen sich lediglich: Ehlers: Wahnsinn der Normalität. 1987; Roland Gross: Nichts ist möglich zwischen den Geschlechtem. Ein Gespräch mit El&iede Jelinek. In: Süddeutsche Zeitung 15./20.01.1987, und das Femsehgespräcb von Ria Enders und Carmen Tartarotti: Die Kunst ist gegen den Körper des Künstlers gerichtet. Elfriede Jelinek, eine österreichische Schriftstellerin: ZDF 1989. Im folgenden wird deshalb von dem Müller-Interview gesprochen oder die Bezeichnung 'Gespräch' in Anführungszeichen gesetzt. 58 Genette: Paratexte. 1989, S. 347. 59 Ebenda S. 345. 60 Aus einem Leserbrief zum 'Gespäch' Müllers mit Jelinek. In: Die Zeit 30 (1990).
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Ja, aber das waren Äußerungen, aus denen man trotzdem über mich nichts erfuhr. Was ich sonst sage, sind Stilisierungen. Ich trage die Sätze vor mir her wie Plakate. Aber das geht nicht mit Ihnen. Sie durchschauen die Deckung.®!
Der Leser registriert diese Äußerung als Signal dafür, daß sich Jelinek im folgenden immer mehr in Auskünfte verstricken wird, die man der Öffentlichkeit verschweigt. Resultat ist die Erhärtung des Perversionsverdachtes, unter dem die Autorin steht - wieder ein sensationelles Müller-Interview. Der Dialog zwischen Modell und Interviewer an sich ist kein richtiger Dialog auf der ersten Ebene, sondern die Konstruktion einer Mitteilung, die gemeinsam an einen virtuellen Adressaten gerichtet ist.®^ Da die Dialogsituation im Interview also eine vermittelte ist, sind einmal die Fragen nicht überzubewerten, auf der anderen Seite aber auch nicht die Antworten. Denn der Journalist befragt zwar tatsächlich den Schriftsteller, aber der Schriftsteller antwortet nicht wirklich dem Journalisten, da seine Antwort im Grunde nicht an ihn, sondern über dessen Vermittlung an ein Publikum gerichtet wird.®'
Darüber hinaus sind die Bekenntnisse Jelineks verstärkt verdächtig, da die Wiederkehr der immergleichen Repliken nahelegt, daß die dem Porträt im Interview unterschobene Ganzheit eine Konfiguration stereotyper Selbstaussagen ist.®^ Langeweile stellt sich mit der Promptheit der Antwort ein.®^ Diese hebt auf eine medienspezifische Form der Ironie ab®® - Ironie hier verstanden als "Frage, die der Redeweise durch die Redeweise gestellt wird" oder besser noch: "die Art und Weise, die Redeweise durch die Exzesse der Redeweise in Frage zu stellen".®' Das Programm spult ab. ®1 Müller Ich lebe nicht. 1990. (Hervorh. v. Verf.). Philippe Lejeune: Le pacte autobiographique. Paris 1975; zitiert (o.S.) bei Genette: Paratexte. 1989, S. 341. ®3 Genette: Paratexte. 1989, S. 341. Vogel: Bildnis. 1990, S. 148. Ebenda S. ISO. Beispielsweise: Das Publikum hält Jelinek für "gnadenlos" (Löffler: Elegant und gnadenlos. 1989). Prompt bittet Jelinek "um Gnade". (Schwarzen "Ich bitte um Gnade". 1989). fifi Vogel: Bildnis. 1990, S. 148. ^
Barthes: Kritik und Wahrheit. 1 % 7 , S. 86. Barthes merkt hierzu an, daß "es überflüssig ist zu sagen, daß diese Ironie (oder Selbstironie) für die Gegner der neuen Kritik nie wahrnehmbar ist." (S. 87). Zur Gegenüberstellung von "alter"
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Dame Dichterin entwirft von sich ein zwiefaches Spiegelbild, hinter dem das Modell schon längst getürmt ist, war es jemals da. Befriedigt sie einerseits die Schaulust, behandelt sie - wie es die Form fordert - im Interview Probleme der Identität. Jedem das Seine.®« Jelinek praktiziert mit ihren stereotypen Bekenntnissen eine "doppelte Widerlegungsstruktur", die noch jedem entgangen ist, der meinte, sich "am Ort weiblicher Wahrheit aufzuhalten".«® Macht man sich allerdings die Polemik, mit der Jelinek sich selbst inszeniert und die sie in den Medien deponiert, wo sie selbst bereitwillig erscheint,™ nicht eingehend bewußt, so gerät das "gesellschaftliche Spiel des Interviews"'! zum Verwirrspiel, das den Zugang zu ihrem Werk, insbesondere zu "Lust" versperren kann. Auch wenn Jelinek alles zugibt, so verweigert sie doch die Intimität, für die der Leser schließlich zahlt.'^z Denn die Erkenntnis, daß sie es letztendlich "allen recht macht",''^ muß Skepsis evozieren. Jedoch ist diese im Grunde positive Stimulans, die die Skepsis ist, nicht von einer derartigen Langzeitwirkung, daß der Leser, der nicht vom Fach ist, auf die Suche nach deren Ursachen ginge, die ihn ins Zentrum der Medienkritik Jelineks führen würden.'^ Und so gibt dieses "andere Ende" "wenig Hoffnung, daß sie [sc. Jelinek] sich jener denunziatorischen Authentizität erwehren könnte, die von selten der Zeitschriften (und Zeitungen) ihren Selbstaussagen unterstellt w i r d " . ' 5 Jelinek betreibt "durchaus geschickt ein öffentliches Spiel mit
6« 70 71 72 73
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und "neuer" Kritik im Bartheschen Sinne siehe 1.2. Ebenso ironisch wie ihr Schreiben versteht Jelinek ihre modische Aufmachung; vgl. dazu: Brigitte Lahann: "Männer sehen in mir die große Domina". In: Stern 37 (1988), S. 77. Vogel: Bildnis. 1990, S. 148. Ebenda S. 147 f. Vgl. ebenda S. 151. Genette: Paratexte. 1989, S. 345. Vogel: Bildnis. 1990, S. 152. "Warum muß sie es allen recht machen, der kommunistischen Partei und dem feministischen Zentralorgan, den Männern und am liebsten der Bundestagspräsidentin." "Ein herzerfrischend gemeiner Rundumschlag war dieses Buch, weil die Autorin nichts beweisen wollte."; Meyerhöfer: Nein, sie kennt auch diesmal keine Gnade. 1989, S. 247. Naivität im Literaturumgang ist allerdings nicht - wie man weithin annimmt und meinen könnte - auf Laientum beschränkt. Vgl. die jüngst am Beispiel von "Lust" wieder praktizierte Verwechslung von Autorin und Werk in Hans Hiebel: Elfriede Jelineks satirisches Prosagedicht 'Lust'. In: Sprachkunst 23/2 (1992), S. 291-308; hier S. 294. Vogel: Bildnis. 1990, S. 153 f.
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eben jener Vorurteilsbildung",das jedoch gegen sie gespielt wird. Fatal daran ist, daß das Wörtlich-Nehmen ihrer Selbstaussagen auf ihr Werk zurückwirkt. So müssen wir wohl die Mißgestalten, die ihr literarischer Exorzismus hervorbringt, als Kreationen einer kranken Seele verstehen, die weniger mediale Ausschlachtung als vielmehr barmherziges Schweigen verdiente.'^
Angesichts eines solchen Publikumseffekts muß auch die folgende Frage zugelassen werden: Warum läßt Jelinek sich interviewen? Entspräche 'totaler Medienkritik' nicht eher, sich ihnen ebenso total zu verweigern? Zum Vorschein kann nur ein die Medien für sich selbst instrumentalisierender Selbstgenuß kommen, da keine Komik das Medium auf sich selbst zurückwirft.™ Solche rezeptionsästhetischen Einwände entbinden eine Literaturkritik und -Wissenschaft jedoch nicht von der Aufgabe, Jelineks vexierendes Gebaren eingehender zu betrachten, was hier unternommen wurde. Festzuhalten bleibt deshalb: Jelinek hält den "Genie-Voyeuren" in ihrem "Interview-Wahn"''' den Spiegel vor, damit sie sich bewußt werden, daß sie über ihre Befragungen letztlich nur den Schein von Identität vermitteln können. Jelineks Freimütigkeit des Kalküls besteht darin, lieber die Törichte zu spielen, als die Unzulänglichkeit der Selbstdarstellung zu reproduzieren. Was zu enthüllen sie vorgibt, versteckt sie gerade und in diesem inszenierten Verstecken wird es als
Koch: Sittengemälde. 1990, S. 135. "" Aus einem Leserbrief zum 'Gespräch' Müllers mit Jelinek. In: Die Zeit 30 (1990). Vogel: Bildnis. 1990, S. 147. Riedle: They call her Elfte. 1987/88, S. 8. Riedle deutet den Wirbel um Jelinek als Versuch der Medien, die Dichterin heim in die "Künstlerbiographie" zu holen. Inwiefern Jelinek sich dieser Intention bereits mit ihrem literarischen Schaffen widersetzt, hat Birgit Erdle anhand der Analyse der Fraueofiguren in Jelineks Theaterstücken nachgewiesen: "Jelineks metapoetologische [...] Reflexionen" "rücken" "einem doppelten Mythos zu Leibe: dem Genie-Kult, der auf dem Mythos des Autors als Schöpfergott basiert, und dem Kult des Originals", der als "Mythos des reinen, wahren und schönen Kunstwerks" in Erscheinung tritt"; Birgit R. Erdle: "Die Kunst ist ein schwarzes glitschiges Sekret." Zur feministischen Kunstkritik in neueren Texten Elfriede Jelineks. In: Amsterdamer Beiträge zur neueren Gemanistik. Hg. v. G. Labroisse 29 (1989), S. 323-341; hier S. 325. Zum Mythos vom Autor als einem sprachlichen Schöpfer-Gott siehe B.IV. 1.1.
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Entblößtes festgehalten - eine Praxis, die große Selbstgewißheit verlangt. Ein Interview Jelineks müßte mit Fragen ansetzen, die seine eigene Kritik betreffen. Die stattdessen immer wieder praktizierte autobiographische Rückbesinnung unterliegt der Jelinekschen Strategie: Auf falsche Fragen gibt es keine richtigen Antworten. Darüber hinaus leuchtet hinter dem nahezu unstillbaren Interesse am öffentlich auktorialen Epitext um Jelineks Werk herum, wie es sich in den Interviews zeigt, eine spezifische Einstellung des Lesepublikums hervor, dessen Fragen vom Journalisten an die Autorin weitergeleitet werden. Diese Einstellung besitzt systematische Relevanz: Es scheint so, als wolle man die Autorin für das zur Rechenschaft ziehen, was sie nicht geschrieben hat. Wer also verlangt, dafi Jelinek ein Buch über die schöne oder befreiende oder pornographische Lust geschrieben haben sollte, der möge sich in den Bibliotheken umsehen oder gegebenenfalls einen eigenen Schreibversuch starten,^
so Käthe Trettin zum Medienecho, das "Lust" widerfuhr. In diesem Zusammenhang gilt, was der Literatursoziologe Lucien Goldmann im Hinblick auf den 'nouveau roman' Nathalie Sarrautes und Alain Robbe-Grillets fordert: Wenn Leser und Kritiker auf so viel Schwierigkeiten gestofien sind, so darf man die Schuld nicht dem Schriftsteller zuschieben, sondern sie eher in den Denkgewohnheiten und den tiberlieferten Gefühlen und Vorurteilen finden, die meistens beim Urteil mitgespielt haben.*i
Da der öffentlich auktoriale Epitext einen Teil des Paratextes ausmacht, jener "Anhängsel, die in Wirklichkeit jede Lektüre steuem"»^, muß man sich die für die Interviews mit Jelinek in hohem Grade maßgebende Verwechslung von Autor und Werk bewußt halten. Somit können sie als erhellende Dokumente für die folgende "Lust"-Analyse nur unter Vorbehalt hinzugezogen werden. Sie bilden keinen "Schatz an paratextuellen Zeugnissen" "über Interpretationen oder späte oder 80 Trettin: Keine Lust? 1989, S. 38. Lucien Goldmann: Nouveau roman und soziale Wirklichkeit. In: Ders.: Soziologie des Romans. Frankfurt a. Main 1984, S. 199-232; hier S. 214. Lejeune: Pacte autobiographique. 1975, S. 45; zitiert nach Genette: Paratexte. 1989, S. 10.
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globale Bewertungen des W e r k s " Vielmehr stellen sie einen "Schatz" für die Textlinguistik*'' dar, für die Literaturwissenschaft jedoch nur einen über diese Instanz vermittelten. Insofern "sollten wir diese Praktik [sc. des Interviews] eher als Ort ansehen, an dem (mitunter äußerst bedeutsame) Brocken des Paratextes entstehen, die man oft mit der Lupe suchen oder herausfischen m u ß " . « 5 Die Interviews mit Jelinek vermitteln den vollkommenen sogenannten "Paratexteffekt";«« von einer Funktion im Hinblick auf eine Erhellung des Werks kann keine Rede mehr sein. Der Paratexteffekt ist deshalb so vollkommen und blendend, da Jelinek selbst die Bits handhabt, in die das aus Leben, Person und zum wenigsten aus Werk zusammengesetzte Repräsentationssystem der Medien zerfallen ist.s^ Jelinek "liefert" nicht nur mit ihrem Schreiben, sondern auch mit ihren öffentlichen Stellungnahmen, mit denen sie sich parodierend auf die Verwechslung von Autor und Werk einläßt, "reine Grenzwerte".**
83 Genette: Paratexte. 1989, S. 347. S'» Darauf macht auch Vogel aufmerksam: Bildnis. 1990, S. 149: "Eine weitere Analyse der in den Interviews von Jelinek verwendeten Syntax würde die Zweifel am Erlebnisgehalt des Wortes 'ich'", an der "Authentizität der ersten Person Singular" "weiter verstärken". 85 Genette: Paratexte. 1989, S. 330. «« Ebenda. 87 Vgl. Vogel: Bildnis. 1990, S. 152. 88 Ebenda S. 147.
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1.2 Die Jelinek-'Forschung'«' - Verwechslung von Leben und Dichtung Die systematische Verwechslung, von Autor und Werk, die den öffentlich auktorialen Epitext Jelineks bestimmt, setzt sich - nuancierter - auf der Ebene der Literaturwissenschaft fort. Außertextliche Bezugsgröße ist nicht mehr die Person der Schriftstellerin, sondern - ausgehend von dem in Jelineks Texten zur Sprache gebrachten ideologiekritischen Potential - eine (wie auch immer) geartete 'Realität'. Da Jelineks Arbeiten bis Anfang der 80er Jahre eine ausgesprochen mangelnde Rezeption erfahren haben,®® die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihrem Werk demzufolge noch sehr jung ist, ist es unangebracht, einen detaillierten Überblick über die Forschungslage zu geben. Aufschlußreich dagegen ist das Aufzeigen einer bestimmten Richtung oder Tendenz, die die Jelinek-'Forschung' bislang eingeschlagen hat: Die Neigung zur Anwendung außertextlicher Erklärungsmuster weist auf ihren Ausgangspunkt, die Eigentümlichkeit Jelinekscher Erzählkunst zurück. Die im Verhältnis zur Dauer des literarischen Schaffens der Autorin - 1969 gab sie ihr öffentliches Debüt - geringe wissenschaftliche Resonanz auf ihre Arbeiten ist einmal darauf zurückzuführen, daß Jelinek erst mit ihren Theaterstücken, mit denen sie ab Ende der 70er Jahre vor das Publikum trat, einen gewissen Popularitätsgrad erreichte. Ab dann weitete sich das wissenschaftliche Interesse immer mehr ^
^
Sicherlich kann von Foischung in tiezug auf Jelineks Literatur nicht in dem Reichen Sinne die Rede sein wie wenn man beispielsweise von Goethe- oder Lessing-Forschung spricht. Normalerweise sollte der Begriff, hinler dem sich gewissermaBen die Wertschätzung eines Autors als eines Klassikers verbirgt, einem längeren Zeitraum der Beschäftigung mit einem Autor vorbehalten bleiben. Ohne Jelinek als Klassikerin vereinnahmen zu wollen - dies wOtde ihren Texten auch mehr schaden als nützen und wäre nicht in deren Sinne (siehe HölderlinExkurs in B.IV. 1.1.1 und auch V. 1.) - kann man doch in bezug auf sie von Forschung sprechen, zumal mit "Lust" eine gesteigerte wissenschaftliche Aufmerksamkeit einherging. Das Erscheinen zweier Materialienbände (Gürtler 1990; Kurt Bartsch / Günther Höfler. Elfriede Jelinek. Graz 1991), das Ausdruck der vorangegangenen Kontinuität der Beschäftigung mit ihr ist, spricht für den Begriff, wenn er auch - der wissenschaftlichen Gepflogenheit entsprechend - in Anführungszeichen gesetzt wird. Siehe dazu die im Anhang des Bands von Gürtler: Gegen den schönen Schein. 1990, S. 169 f. aufgeführte Bibliographie zur Forschungsliteratur.
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auch auf die Prosatexte der 70er Jahre aus, in denen die Grundlagen der Jelinekschen Ästhetik bereits offen zutage treten.'i Auf der anderen Seite zog Jelinek mit dem 1985 erschienenen Roman "Die Klavierspielerin" die Aufmerksamkeit der Medien auf ihre Person, die auch die Akzentuierung des wissenschaftlichen Interesses an ihren Prosatexten beeinflußte. Die Tendenz, sich auf die Autobiographie der Autorin zu konzentrieren, schrieb sich auf indirekte Weise in der 'Forschung' fort: "Die Klavierspielerin" fungierte als "Software eines Romans",«^ die Heldin der Geschichte als Aufhänger, um in "die bunte Psychologie des Lebens"»3 hinüberzuleiten. Seitdem waren die Vorzeichen gesetzt, die auch für die kommende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Jelinekscher Prosa bestimmend bleiben sollten. Vom psychologischen und soziologischen Wissen ausgehend, neigt die 'Forschung' dazu, auch Figuren und Geschehen in Jelineks Texten psychologisch'"» und soziologisch'^ zu erklären. Es drängt sich die Frage auf, ob man mit einer derartigen "Naivität des Literaturverständnisses, das sich Dichtung nach der Vorstellung zurechtlegt, die
Siehe dazu: Barbara Alms: Triviale Muster - tobe' Literatur. Elfriede Jelineks friihe Schriften. In: Umbruch 1 (1987X S. 31-35. Vogel: Bildnis. 1990, S. 148. 93 Ebenda. 9^ Beispielsweise: Annegret Mahler-Bungers: Der Trauer auf der Spur. Zu Elfriede Jelineks "Die Klavierspielerin". In: Freiburger literarisch-psychologische Gespräche 7 (1988), S. 80-95; sie liest "Die Klavierspielerin" als "Krankengeschichte, an der sich die Psychogenese und Bedeutung des Masochismus heivorragend studieren lassen"; darüber hinaus hofft sie - "auf Grund dieses Falles" - ihr "Verständnis dieses Phänomens um einiges zu erweitem." (S. 81); siehe darttber hinaus auch: Hedwig ^ p e l t : Folie ä deux. Mädchenrätsel - Der masochistische Vertrag - Gebranntes Kind. In: Dies.: Die leibhaftige Literatur. Das Phantasma und die Präsenz der Frau in der Schrift. Weinheim, Berlin 1989, S. 111-133. 95 Beispielsweise: Rudolf Burgen Der böse Blick der El&iede Jelinek. In: Gürtler: Gegen den schönen Schein. 1990, S. 17-29; (erschien zuerst in: Forum (Wien 1983), S. 48-51). Für Bürger sind Jelineks Texte "mikrosoziologische Studien menschlicher Zerstörungen." (S. 21) Frank W. Young: "Am Haken des Fleischhauers". Zum politökonomischen Gehalt der "Klavierspielerin". In: Gürtler: Gegen den schönen Schein. 1990, S. 75-80. Tobe Joyce Levin: Political Ideology and Aesthetics in Neo-Feminist Fiction: V. Stefan, E. Jelinek, M. Schroeder. Ithaca (Comell University) 1979.
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man vom Leben hat",9« zunächst der Form und darüber hinaus auch dem Gehalt oder Sinn dieser Texte gerecht wird. Das Unverständnis, auf das Jelineks Theaterstücke gestoßen sind und das sich dann nicht zuletzt auch in der mißverstehenden "realistischen" Aufführungspraxis niederschlug,'^ korrehert mit einem allzu früh festgelegten Beurteilungskatalog, mit dem an ihre Prosawerke herangegangen wird. Aufgrund dieser Tatsache scheinen die Bedenken, die Klaus Harpprecht im Zusammenhang mit den Rezensionen aufführt, die Jelinek für "wir sind lockvögel baby",»« "Die Liebhaberinnen",'' "Die Ausgesperrten"ioo und "Die Klavierspielerin" erhielt, auch für die Forschungsbeiträge dazu in gewissem Maße ihre Gültigkeit zu behalten: Sollte man "angesichts einer so unbarmherzig imitatorischen Begabung" "vorgestanzte Phrasen nicht" "verstecken"? Aber es kommt Schlag auf Schlag: 'etablierte Verhaltensmuster' (klick), 'verfestigte Rituale' (klack), 'traditionelle Lebensformen' (klock). Die Schriftstellerin Jelinek wäre in der Lage, die Rezensionen ihrer Bücher mitzuliefern, unter wechselnden Pseudonymen, die Farben, Tonlagen, Stichworte von links nach rechts und rechts nach links variierend, nie um die passende 'Worthülse' (klick) oder 'Leerformel' (klack) verlegen, ganz wie es das jeweilige •Rollenverständnis' (klock) verlangt.iw
Trotz des Insistierens der Medien auf Jelineks einmalig virtuoser Erzählkunst, ist es eine 'Forschung' zufrieden, die Form-Inhalt-Dichotomie so gut wie überhaupt nicht in Rechnung zu stellen; vielmehr zeigt sie sich durchaus gewillt, sich über die Bedeutung hinwegzusetzen, die dieser Forschungsaspekt immerhin besitzen könnte, und bekundet immer wieder ihr einseitiges Interesse am Inhalt der Texte. Zwar werden vereinzelt typologische Vergleiche im Hinblick auf im jeweiligen Roman parodierte Erzählgattungen durchgeführt,102 Fragen 9® Heinz Schlaffer: Clemens Lugowskis Beitrag zur Disziplin der Literaturwissenschaft. In: Gemens Lugowski: Die Form der Individualität im Roman. Mit einer Einleitung von H. Schlaffer. Frankfurt a. Main 1976, S. VII-XX; hier S. XX. Alms: Triviale Muster. 1987, S. 31. "wir sind lockvögel baby!" Reinbek bei Hamburg 1970. " "Die Liebhaberinnen". Reinbek bei Hamburg 1975. "Die Ausgesperrten". Reinbek bei Hamburg 1980. 101 Klaus Harpprecht: So ein großer Haß und so ein kleines Land. In: Titel 2 (München 1985), S. 64-67.; hier S. 65. 102 Magret Brügmann: Schonungsloses Mitleid. Elfriede Jelinek: Die Liebhaberinnen. In: Dies.: Amazonen der Literatur. Studien zur deutschsprachigen Frauen-
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nach dem Stil,ienso zur Begriffsklärung siehe A.III 1. ff. 55 Keller: Döblins Montageroman. 1980, S. 11.
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Das Konzept der Autorin besteht darin, das bis heute fortwirkende idealistisch-cartesianische Prinzip, das von einem absoluten Wehdualismus ausgeht und den sich auftuenden Spalt zwischen der gedachten Welt des Ich und der Wirklichkeit nicht überwinden kann, ad absurdum zu führen. Die dichterische und theoretische Bemühung Jelineks kann demgemäß nur noch darauf hinauslaufen, den cartesianischen Subjektbegriff als falsch und den daraus sich ableitenden Individualitätsanspruch als illusionär zu entlarven,5« um die Wahrheit über das erlebende Individuum und die von ihm erlebte Wirklichkeit herauszukristallisieren. Auf die Auflösung des Individualitätsprinzips und auf den dahinter stehenden Anspruch, den sphärischen Dualismus - das wichtigste Fundament des bürgerlichen Romans - als Scheingröße zu entlarven, ist es zurückzuführen, daß formale und inhaltliche Struktur von "Lust" so schwer zugänglich sind. Um die Grenzverschiebung zwischen Norm und Abweichung in ideologischer Hinsicht zu präzisieren, ist es angebracht, die gattungsgesetzlichen Voraussetzungen der bürgerlichen Romanform zu erläutern. Repräsentativ für die normative Seite, weil weitgehend dem Denken des Individualismus verpflichtet, ist Georg Lukäcs' berühmte "Theorie des R o m a n s " , d i e erstmals 1920 publiziert wurde. Grundlage für ihn ist die Persönlichkeit, das axiomatische feste Ich und der damit zusammenhängende Subjektbegriff, d. h.: Lukacs geht von der klassischen Ontologie aus. Die "erstrebte Organik der Biographie" vermittelt den Gegensatz zwischen der verinnerHchten Idealität des Subjekts und der "ideal-fremden" Außenwelt^« als den beiden Sphären, die sich unmittelbar nicht vereinbaren lassen: [...] die Zentralgestalt der Biographie ist nur durch ihre Beziehung auf eine sich über sie erhebende Welt der Ideale bedeutsam, aber diese wird zugleich einzig durch ihr Leben in diesem Individuum und durch das Auswirken dieses Erlebens realisiert.^'
^
Vgl. Johannes Hachmöller: Ekstatisches Dasein und Tao-Sprung. Alfred Döblins Romane 'Die drei Sprünge des Wang-lun' und 'Berlin Alexanderplatz' vor dem Hintergrund seiner Naturphilosophie. Würzburg. Diss. 1971, S. 2. Georg Lukäcs: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Form der großen Epik. Frankfurt a. Main 121989. 58 Ebenda S. 66. 59 Ebenda S. 67.
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Der sphärische Dualismus wird in den bürgerlichen Romanen durch die Hinführung eines Protagonisten zu einem neuen und eigenen Leben
relativiert.
Das
Individuum
entwickelt
sich
hin
zu
seiner
"immanent sinnvollen"®^ Existenz, die nur die des "problematischen Individuums"®! sein kann. D i e Anerkennung der realen Tatsächlichkeit des sphärischen Dualismus und der Glaube an die unumgängliche Aufhebung dieses Widerspruchs für ein positives Ich-Welt-Verhältnis und einen subjektiv anerkennbaren Sinnkosmos legt diesen Romantypus auf die Funktion des persönlichen Lebensprozesses fest. A u s der unumgehbaren Funktion des persönlichen Lebensprozesses ergibt sich eine notwendige innere Beschränkung, Ordnung und Totalität der dargestellten Wirklichkeit, die s o als organisch gefügte erscheint: einerseits wird der Umfang der Welt durch den Umfang der möglichen Erlebnisse des Helden begrenzt und ihre Masse durch die Richtung, die sein Werdegang auf das Finden des Lebenssinnes in der Selbsterkenntnis nimmt, organisiert; andererseits erhält die diskret-heterogene Masse von isolierten Menschen, sinnesfremden Gebilden und sinnlosen Begebenheiten eine einheitliche Gliederung durch das Beziehen jedes einzelnen Elements auf die Zentralgestalt und das von ihrem Lebenslauf versinnbildlichte Lebensproblem.®^ Die Definitionen von Epos und Roman, w i e Lukäcs sie gibt, hängen für Jelinek mit geistigen Voraussetzungen zusammen, die sie nicht mehr teilt. Der große psychologische Roman ist ja tot, das ist ja der Roman des 19. Jahrhunderts, nur viele Autoren, die jetzt leben, glauben, sie lebten immer noch im 19. Jahrhundert und man könnte den großen psychologischen Roman schreiben; das System aber ist viel zu geschlossen, um Individualismus oder Individualität überhaupt noch zuzulassen. Jeder, der glaubt, noch individuell handeln zu können, unterliegt einem grundliegenden Irrtum, meine ich. Man kann Personen ja eigentlich nur noch als Zombies auftreten lassen oder als Vertreter einer Ideologie oder als Typenträger oder als Bedeutungsträger oder wie man sie nennen will, aber nicht als runde Menschen mit Freud und Leid und das ganze Käse, das ist vorbei, ein für allemal.®^
^
«
Ebenda passim. Ebenda passim. Ebenda S. 70. Elfriede Jelinek im Gespräch (1985). Abgedruckt in: Barbara Alms: Blauer Streusand. Frankfurt a. Main 1987, S. 41. 51
Mit der hier diagnostizierten "tendenzielle(n) Auflösung von Subjektivität heute, der Vermittlungskategorie schlechthin, an der Literatur einmal ihre Substanz hatte in der späten bürgerlichen Gesellschaft"®^, setzt Jelinek zu einer Subjektkritik an, die sie über die klassische Ontologie hinausführt. Zwar negiert auch sie in ihrer Textform nicht die Kluft zwischen der Subjektivität des Individuums, der "auf utopische Vollendung hinstrebenden, nur sich und ihr Begehren als wahre Realität empfindenden Sehnsucht der Menschen"®® und der dem Subjekt begegnenden Realität. Ihrer Auffassung entsprechend, daß der bürgerlich-psychologische Roman eine anachronistische, weil auf eine wesensmäßige Unterscheidung seiner Protagonisten zielende Erzählform ist, sieht Jelinek jedoch strikt von der Form des 'Seelenentwickelns' ab, die "zur Totalität des Ich, zu einer neuen Synthese des Empirischen mit einem Absoluten"®® führen soll. Das zentrale Thema, um das vor allem die Romane "Die Ausgesperrten", "Die Liebhaberinnen" und "Lust" kreisen, ist die Übersteigerung ekstatischer Subjektivität, die nicht mehr mit der dem 'Individuum' begegnenden Realität vermittelbar ist. In "Lust" wird dieses Thema an Gerti exemplifiziert. Der sphärische Dualismus, die Ich-Welt-Spaltung wird personal konkret als Ich der Frau und Welt des Mannes. Die geschlechtsspezifische Besetzung der beiden sich unvereinbar gegenüberstehenden Pole tut sich gleich zu Beginn des Buches kund: Die "Vorhängeschleier" trennen die Frau "in ihrem Gehäuse" von "den übrigen" (7), offenbaren ihren Blick von innen nach draußen, fixieren sie auf eine 'Innenwelt'. Sie ist inhaftiert in "seinem (sc. des Mannes) schönen Haus" (36) und "sucht [...] sich ihre Ziele draußen, um beständig an sie zu denken", "denn ihr Haus ist wohl bestellt und geliefert." (136) Die räumliche Abgegrenztheit der Existenz Gertis von der Welt 'draußen' potenziert ihre geschlechtliche Reduktion auf die Innenwelt: Immer "erscheint" "die Natur des Man-
Burger Böser Blick. 1990, S. 29. ®5 Lukäcs: Theorie. 1989, S. 60. ®® Keller: Döblins Montageroman. 1980, S.232. Lukäcs: Theorie. 1989, S.64f.: "[...] die Fremdheit und die Feindlichkeit der inneriichen und der äußerlichen Welten ist nicht aufgehoben, sondern nur als notwendig anerkannt, und das Subjekt dieser Erkenntnis ist geradeso ein empirisches, also weltbefangenes [...] Subjekt, wie jene, die zu seinen Objekten geworden sind."
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nes" der Frau "von a u ß e n " , " r e g n e t der Mann feucht von vom und von hinten in die Frau hinein".« Das sich vor den Augen des Lesers vollziehende Dasein Gertis, die die Welt an ihren 'subjektiven' Sinnkonstruktionen messen will, geht ganz auf die Intention Jelineks, die im Menschen - bei Mann und Frau gleichermaßen - angelegte Tendenz ad absurdum zu führen, die ihn dazubringt, seine 'subjektiven' Erlebnisse und Reflexionen zu einem umfassenden Weltkosmos zusammenzuschließen. Der besondere gesellschaftskritische Akzent liegt dabei auf der Annahme, daß die als 'subjektiv', individuell-authentisch gedachten Erlebnisse und Wünsche nicht 'wirklich' sind, sondern manipuliert und determiniert durch die Medien und die in der Gesellschaft kursierenden Trivialmythen, wie sie von den Institutionen Kirche, Staat und Kunst perpetuiert werden. Was Maltis im Hinblick auf Jelineks Theaterfiguren feststellt, scheint auch für die Figuren in "Lust" Geltung beanspruchen zu können: Sie "zählen nur noch als 'Figurationen von Sätzen' eines veröffentlichten kollektiven Bewußtseins"®' oder, um es mit den Worten zu sagen, die Siegfried Brill zu Nestroys Darstellungstechnik fand: "Jeder Gedanke wird als eine in der Phraseologie der Gesellschaft präformierte Ware entlarvt."''« Als ob es irgendjemand von uns noch möglich wäre, Wirklichkeit aus erster Hand wahrzunehmen. Mich hat von den frühesten Sachen an, die ich geschrieben habe, immer die Trivialmythologie interessiert, wie sich Wirklichkeit gefiltert in Trivialromanen, in Groschenromanen, im Fernsehen (etc.) niederschlägt, wie diese Wirklichkeit aus zweiter Hand dann wieder in uns. Wir haben dann die Wiridichkeit aus dritter Hand.''l
Alle Figuren in "Lust" sind als Konsumenten "abhängig" "von ihren eigenen, nie genesenden Bildern, die ihnen, als wären sie nichts als Gehilfen der Wirklichkeit, jeden Tag aufs neue gezeigt werden".'^ jelinek demonstriert in ihrem Buch, wie sich die durch die Medien und 67 68 69 ™
Lust S. 38; auch S. 129. Ebenda S. 139; auch S. 104, S. 237 passim. Mattis: Sprechen als theatralisches Handeln. 1987, S. 62. Siegfried Brill: Komödie der Sprache. Untersuchungen zum Werk Johannes Nestroys. In: Erlanger Beiträge zur Sprach- und Kunstwissenschaft 28 (1967), S. 149; zitiert nach Mattis: 1987, S. 63. Ehlers: Wahnsinn der Normalität. 1987, S. 14. Lust S. 62 f.
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andere gesellschaftliche Institutionen manipulierten "Bilder" aus den Köpfen der Konsumenten herausbewegen und in äußere Realität verwandelnJ3 Das Interaktionsfeld der familialen Triade Mann, Kind und Frau wird demgemäß folgendermaßen belebt: Der Mann vergleicht sich mit seinen pornographischen Vorbildern und will sich demzufolge als sexuelle Hochleistungsmaschine bewähren, seine eigene pornographische Erzählung gut "leserlich" in die Frau "einschreiben" (32 f.). Er schafft es, seine Frau "in fünf Minuten zu durchqueren" (146); manchmal kann er diese Rekordzeit auch unterbieten,'''* so daß Gerti "nur für Minuten" "in der Arena" aufzutreten hat (140) - aus seiner Perspektive eine ganz und gar "verwöhnte Frau" (50). Damit Hermann überhaupt so leistungsstark sein kann, hat Gerti für ihren Teil den "Vorbildern auf den Fotos gleich zu werden" (35). "Durstig mit Fotos und Filmen verglichen" (35), wird ihr "Reizwäsche via Katalog" angeschafft (35), "damit ihr Körper sich jeden Tag ordentlich zum Dienst melden kann" (34). Dieser "Dienst" ist der Frau von der "christl. Gesellschaft", "welche sie einst verheiratete", aufgetragen und als "Vergnügen" dem Mann "zugebilligt" (126) worden: "Der Vater darf die Mutter endlos verkosten" (126 f.), meistens abends, denn das ist "die vom Gesetz vorgesehene Zeit dafür" (46). Das Kind gehört der "neuesten Generation" an, der "das letzte gerade genug ist"^5. (40) Ebenbild seines Vaters, ist es "selbst schon wählender, wühlender Konsument" (54). Da "es sich vom Vater geerbt hat" (162), hofft es auf die Materialisierung seiner "Wunschlisten voller konkurrierender Gegenstände, die es den Eltern vorliest" (54), und glaubt daran, immer "an der Mutter wohnen zu können" (162). Auch wenn das Kind "noch klein" ist, zeigt sich doch schon jetzt, daß es "speziell als Mann geplant" (219) ist, sehr zum Leidwesen seines Vaters, dem es die Zeit beschneidet, die er mit seiner Frau verbringen will.'«
^
In Anlehnung an einen Satz in "Lust" läßt sich für diesen Zusammenhang formulieren: "Gedacht, getan [...], um die Sprache sind Menschen ja nie verlegen, und mehr ist auch nicht in ihnen verborgen." (Vgl. S. 235) Ebenda S. 149 und S. 231; Michael, Geitis Geliebter, braucht, da er noch jung und demzufolge noch nicht so routiniert ist, entsprechend länger, vgl. S. 149. Ebenda S. 149 u. S. 231; Michael, Gertis Geliebter, braucht, da er noch jung und demzufolge noch nicht so routiniert ist, entsprechend länger; vgl. S. 149. "Das Kind, "ihm anverwandt", "krallt" "sich an den Leib der Mutter" (137).
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Gerti, die - wie alle Frauen "mit Hoffnungen zugepflanzt" (17) sich die "billigen Romane zum Vorbild" (36) nimmt, überlegt, wie sie "mit kluger Führung" (36) die ihr suggerierten Ideale von einer zweiten Jugend und vom traumhaften Liebesleben realisieren kann, um "ihren Arrest" (36) noch aufzuheben. Die "kluge Führung" besteht dabei in der Koordination von Idealverwirklichung und Erfüllung des Plichtprogramms, denn "die Rast darf sie ihrem Mann nicht verwehren" (36). Den ehemals aus dem cartesianischen Subjektbegriff ableitbaren Individualitätsanspruch konterkarriert Jelinek, indem sie ihre Figuren als in ihrem Erleben und Denken manipulierte und determinierte schematisiert. Bei mir unterscheiden sich die Figuren eigentlich nur mehr durch ihr Geschlecht und ihre Herkunft, nicht mehr durch einen eigenen individuellen Sprachhorizont oder spezifische ihnen zugehörige Eigenschaften. Es handelt sich also um absolute Depersonalisation.''''
Die 'Subjekte'^8 jn "Lust" sind, "wie einst im christlichen Trauerspiel oder höfischen Roman, so weit entmächtigt, daß sie wie Spielmaterial übergeordneter Mächte erscheinen".™ Diese Mächte weist Jelinek als die in einer Gesellschaft kursierenden Trivialmythen aus. Erscheinen in "Lust" auch alle Figuren gleichermaßen in ihrem Verhalten programmiert, so liegt doch der Schwerpunkt der Froblematisierung dieser Thematik auf Gertis Handlungsweise. Über ihre Darstellung führt Jelinek den cartesianischen Subjektbegriff, die Dissonanz von Idee und Wirklichkeit ad absurdum. Vergegenwärtigt man sich wieder die geschlechtsspezifische Besetzung des Ich-Welt-Dualismus in "Lust", so ergibt sich auf dem ^
Ehlers: Wahnsinn der Normalität. 1987, S. 33. Siehe auch folgende Anm. Die 'Subjekte' in "Lust" sind also recht eigentlich Typen. "Der Typ [...] ist ein Funktionsträger im weitesten Sinn; er dient der 'Entfaltung des Themas, ohne selbst Thema zu werden'. Konstitutiv für ihn ist nicht die Identität der Person, sondern die Identität der Funktion'." Dieter Lamping: Der Name in der Erzählung. Zur Poetik des Personennamens. Bonn 1983, S. 51. Die Konzeption der Figuren in "Lust" als Typen schlägt sich symptomatisch in ihrer Einnamigkeit nieder. "Das Individuum kann durch einen einzelnen Namen immer nur partiell, der Typ jedoch total charakterisiert werden." Lamping: Poetik des Personennamens. 1983, S. 52. Siehe dazu ausführlich B.IV. 1.2.1, darüber hinaus den Schluß von V . l . ''9 von Bormann: Dialektik ohne Trost. 1990, S. 61.
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Hintergrund der skizzierten Determiniertheit der Figuren folgende Problematik: Für den Mann ist die Frau Aktionsfeld, auf dem er sich aus-agiert, aus-lebt. Es ist ihm möglich, seine idealen sexuellen Vorstellungen vollständig im Rahmen der gesellschaftlichen Normengrenzen zu verwirklichen, d. h. eigentlich ist seine diesbezügliche Freiheit grenzenlos, denn er ist 'die Welt'. Auf Hermanns Verhältnis zu seiner Frau trifft zu, was Lukacs zum "unproblematischen Individuum" sagt: Wenn das Individuum unproblematisch ist, so sind ihm seine Ziele in unmittelbarer Evidenz gegeben, und die Welt, deren Aufbau dieselben realisierten Ziele geleistet haben, kann ihm für ihre Verwirklichung nur Schwierigkeiten und Hindemisse bereiten, aber niemals eine innerlich ernsthafte Gefahr.^
Die Frau, der 'Ich'-Pol, hat demgegenüber ihre idealen Sinnkonstruktionen an der Wirklichkeit zu messen. Ideal und Norm, beides gesellschaftlich vermittelte und virulente Größen, stoßen "im Vaterland ihres Kopfes" (167) kraß zusammen. Schönheit und körperlicher Zerfall, nicht zuletzt beschleunigt durch sexuelle Überbeanspruchung, Ausbruchsversuche aus der Durchschnittlichkeit des ehelichen Alltags und eheliche Pflichterfüllung müssen, wenn es nicht zu einer Kollision kommen soll, geschickt zusammengebracht werden. Da Gerti ihre normative Determiniertheit gegen ihre ideele abwägen muß und umgekehrt, ist ihr Aktionismus im Gegensatz zu dem ihres Mannes kein befreiter. Ihre Ziele sind von vornherein einer "innerlich ernsthaften Gefahr"8i ausgesetzt. Die Gefahr entsteht [...], wenn die Außenwelt nicht mehr in bezug auf die Ideen angelegt ist, wenn diese im Menschen zu subjektiven seelischen Tatsachen, zu Idealen werden.*^
Auf die doppelte Determiniertheit und infolgedessen innere Zerissenheit Gertis trifft zu, was Klaus Degering zu Effi Briest sagt: Nicht das reine Subjekt stößt mit seinen Wünschen auf eine seinen Idealen gegenüber beschränkte Wirklichkeit, um von ihr zur Ordnung gerufen zu werden.
80 LukÄcs: Theorie. 1989, S. 67. 81 Ebenda. 82 Ebenda S. 67 f.
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sondem das Subjekt hat die Substantialität der Ordnung von Anfang an inkarnieit als unveräuBerbaien Bestandteil seiner Persönlichkeit.^^ Obwohl sie ihn verinnerlicht hat, ist Gertis Verhältnis zum herrschenden gesellschaftlichen Kodex im Unterschied zu Effi nicht so ausgeprägt affirmativ, daß sie von der bewußten Inszenierung der Umsetzung ihrer an den "billigen" (36) Romanvorbildem orientierten Ideale abzuhalten wäre. D a Norm und darüber hinaus auch Ideal von Anfang an verinnerlicht sind und ihre Substanz Gerti demzufolge uneinsichtig bleibt, wird es diesbezüglich zum Eklat kommen; denn ihre Substanz ist die, daß sie sich gegenseitig ausschließen: die Ideale erheben sich wesentlich über die Wirklichkeit, erweisen sich schließlich als zu hoch. Gerti entspricht dem Typus einer E m m a Bovary,*'» dem "Paradigma der unverstandenen Frau,*^ die getrieben ist v o n der Gier nach Erfüllung ihrer Vorstellungen und die daher blind ist"«« gegen 'die Welt', der sie 'draußen' genauso ungeschützt ausgesetzt ist, w i e wenn diese zu ihr, in ihre 'Innenwelt' hereinkommt. A n a l o g zum Innenleben Emmas zeichnet sich auch dasjenige Gertis als "perfekte Schattenexistenz"«^ nach dem Muster romanhaft-romantischer Heldinnen aus.
Thomas Degering: Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft in Fontanes "Efß Briest' und Flauberts "Madame Bovary'. Bonn 1978, S. 174. Zum Vergleich Eftis mit Gerti siehe A.III. 3. f. Die Parallele zwischen "Madame Bovary" und "Lust" evoziert auch der Titel des Aufsatzes von Koch: "Sittengemälde aus einem röm. kath. Land". Flaubert nennt sein Buch im Untertitel "moeurs de province", wobei sich - wie Gauger zu Recht sagt - das Sittenbild nicht auf die Provinz Frankreichs bezieht, sondem "auf die des Menschen"; Gaugen Der vollkommene Roman. Oder: Stil als Inhalt. Eaubert: "Madame Bovary". In: Ders.: Der Autor und sein Stil. Zwölf Essays. Stuttgart 1988, S. 57-80; hier S. 71. "Illusion und Desillusion markieren [...] die wesentlichen Eckpunkte der Unverstandenheit. Gleichgültig, ob es sich [...] um die Manipulierung einer als grundsätzlich defizitär empfundenen Wirklichkeit handelt oder aber um eine ideologisch gefärbte Illusion im Sinne eines "konstanten, sich auf die gesamte Wirklichkeit ausdehnenden Vekennens' [...], immer kennzeichnet die Illusion zugleich einen Verlust an 'Realitätskompetenz'; dieser ist die Ursache einer grundsätzlichen Fehleinschätzung alles und jeden [...]." Bettina Klingler: Emma Bovary und ihre Schwestern. Die unverstandene Frau: Variationen eines literarischen Typus von Balzac bis Thomas Mann. Rheinbach-Merzbach. 1986, S. 31 f. Ebenda S. 64. 87 Ebenda S. 66. 57
Gerti erblickt "ihren neuen Knappen im Vaterland ihres Kopfes, wo sie auch sich selbst mit ganz anderen Augen sieht" (167). Opfer ihrer Bedürbisse, sucht sie diese mit allen Mitteln zu befriedigen, ohne die Trivialität ihrer Empfindungen zu erkennen, ohne auch nur gewahr zu werden, daß sie sich mit dieser Verhaltensweise (wiederum) auf eine Stufe mit eben der Allgemeinheit stellt, die ihr so verhaßt ist.**
In "Lust" liegt der Akzent auf der Zerrüttung, in die Gerti als von der Gesellschaft normativ und ideel kolonialisierter weiblicher Prototyp geführt wird, auf der unkonventionellen Art also, den Ich-Welt-Dualismus zu übersteigern, indem medial suggerierte illusionäre Ersatzwelt mit gesellschaftlicher Realität kollidiert. Gertis idealisches Streben schreibt den normativen Rahmen noch fester: Was für Gerti Ideal ist, nämlich "Zärtlichkeit" (233), wird vom Mann als Signalisierung sexueller Unzufriedenheit ausgelegt, provoziert dementsprechend eine verstärkte Umsetzung seines idealischen Strebens in Realität. In Mann und Frau schließt sich eine gesellschaftlich programmierte Reflexmaschine kurz: "auf Zärtlichkeit" wird "mit Brutalität" (233) geantwortet. Der Kausalzusammenhang läßt sich folgendermaßen paraphrasieren: "Der Mann in "Lust" muß die Frau "ständig demütigen, weil sie jenes Bild vom versöhnten, herrschaftsfreien Leben [...] in sich trägt."«' Gertis "Götterbild Michael" (118), an den sie alle ihre Sehnsüchte nach "festem Halt" und einem 'wahren' "Leben" (11)9° bindet, ist desillusionierender Exponent der gesellschaftlichen Determination von Mann und Frau. Jede negative Erfahrung mit ihm ist damit notwendiger Schritt zur Selbterkenntnis. Wenn die Welt an idealen weiblichen Sinnkonstruktionen gemessen wird, ist sie nur als daseinsbedrohende Gegenwelt erfahrbar, offenbart sie sich im Ausbruchsversuch als noch monströser, als sie ehedem schon ist. Sie erweist sich als ich- und sinnfremde Größe. Auf dem Hintergrund von Gertis Unzufriedenheit 8« Ebenda S. 64. Scharang: Lebenselixier. 1989/90, S. 10. Scharang allerdings verkennt die Determiniertheit der Frau, wenn er ihren Beitrag zu diesem circulus vitiosus positiv zu akzentuieren versucht: "Dieses Bild [sc. das Bild der Frau vom herrschaftsfrcien und versöhnten Leben] ist das letzte große Tabu dieser Gesellschaft." (S. 10). Vgl. dagegen v. a. A.III. 3. f. Rein äußerlich entspricht Michael den Liebhaberklischees aus Gertis Romanen: "Wenn die Zeichen, die er uns gibt und die er von diversen Illustrierten erhalten hat, nicht trügen, ist er ein blondes Bild auf einer Kinoleinwand" (117).
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"mit diesen Makeln, die auf ihrem Leben lasten: Mann und Sohn" (9), profiliert sich ihr Traum vom "Leben" (11), suggeriert durch die billigen Romanvorbilder, der Traum von einem "festen Halt" ( l l ) ' i ; Gertis stark ausgeprägter Möglichkeitssinn macht sie zur Sklavin ihrer Träume; ihr 'falscher' Identitätswahn muß zerbrochen, sie muß desillusioniert werden. Nur so kann sie won ihrer Hybris und einer daraus resultierenden vitalen Blindheit befreit und aufaahmefähig werden für die 'Wahrheit' der substantiellen Unvereinbarkeit von Norm und Ideal. Für Jelinek sind die Beziehungen zwischen weiblichen 'Ich' und männlicher 'Welt' im Sinne des sphärischen Dualismus durch das Prinzip einer radikalen und unaufhebbaren Negativität und Nichtidentität gekennzeichnet. Es wild [...] nicht einfach möglich sein, daB die Frau alles ganz anders macht. In "Lust" ist meine Weltsicht eigentlich am allerpessimistischsten. In meiner Utopie [...] wird jede Verbindung von Männern und Frauen aufhören, wird sich auflösen, wird nicht mehr möglich sein.^^
Die Nichtidentität von weiblichen 'Ich'- und männlichem 'Welt'-Pol äußert sich im Leiden Gertis am Dasein, das in einem katastrophalen Vemichtungsschlag kulminiert. Jelinek deutet in der "Lust"-Problematik an, daß vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Determination von Mann und Frau der sphärische Dualismus nur ad absurdum geführt werden kann, daß sich im Verhältnis zwischen den Geschlechtem nur etwas ändert, wenn "sich die Verhältnisse [...] ändern" Die an 'falschen', unauthentischen''* Idealen orientierte weibliche Vitalität, die an 'falschen', ebenso unauthentischen Idealen orientierte männliche Vitalität, die Gerti um jeglichen Daseinsgenuß bringt, anstatt - wie geglaubt - sie zu verwöhnen,«® kann zu einem
91 Nur mittels Alkohol "läuft die Welt. Direkt in uns hinein". (88) Wie die Jugend, die glaubt, Träume und Ideale verwirklichen zu können und die zur Überbrükkung der Diskrepanz "Schnaps" trinkt, ist auch Gerti eine stark auf Alkohol angewiesene Frau. Nur so schafft sie es zeitweilig, die beiden divergierenden Pole Ich und Welt zum Ausgleich zu bringen. Vgl. dazu A.III. 2.1. C). 92 Ehlers: Wahnsinn der Normalität. 1987, S. 33. 93 Ebenda S. 15. 9'* Vgl. dazu auch Eva Meyer, die vom Nicht-"Authentischsein" der Jelinekschen Figuren spricht. Eva Meyer: Den Vampir schreiben. In: Autobiographie der Schrift. Frankfurt a. Main 1989, S. 97-110; hier S. 104. 95 Vgl. Lust S. 50.
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'eigentlichen' Dasein, von dem "Lust" explizit nicht mehr handelt, erst finden, wenn das zerbrochene Gefüge von 'Ich' und 'Welt', genauer: von weiblichem Ich und männlicher Welt ineinandergefügt ist.
1.2 Implizite Poetik
Die Sprengung der Berichtfonn ist in ihrer Tragweite mit der Auflösung des festen Charakters vergleichtiar, sie hängt auch ursächlich mit ihr zusammen, ist eine ihrer Folgen.'®
Das Programm Jelineks, wie es in seinen wesentlichen Grundzügen hypothetisch entwickelt wurde, kann folgendermaßen auf die Erzählstruktur von "Lust" bezogen werden: Aus der Auflösung des festen, sich zu Identität hin entwickelnden Charakters auf der Handlungsebene ergibt sich die von Jelinek geforderte Preisgabe des auktorialen und psychologisierenden Erzählers,'^ einer für den bürgerlichen Roman axiomatischen Position. Zugleich hängt sie unmittelbar mit dem Schritt der Autorin hinter die Fassade des "schönen Scheins"'* zusammen, die die Wirklichkeit umgibt. 'Literarischer Realismus' bezieht sich daher bei Jelinek "nicht auf eine naturalistische, detailgetreue Wiedergabe von Fakten, sondern auf die Zuspitzung von Ereignissen zu verdichtetem Demonstrationsmaterial für ihre Aussage". Jelinek praktiziert gewissermaßen ein "Überlegenheitsgelächter über die Fakta",!*» um zu deren wesensmäßigen Kern, zu deren 'Wahrheit' vorzustoßen. Sie macht sich die Einsicht zunutze, daß "in der Dichtung [...] die Leichtigkeit und Verspottung der Realität vollkommen"ioi sein kann.
Kellen Döblins Montageroman. 1988, S. 219. Vgl. ebenda S. 46 und - bezogen auf Jelinek - weiter oben. "Gegen den schönen Schein hat die Satirikerin Elfriede Jelinek in all ihren Werken geschrieben. Ihre ideologische wie ästhetische Position ist geprägt vom Geist der sechziger Jahre, vom Marxismus, von der Kritischen Theorie der Frankfiitter Schule, insbesondere Th. W. Adornos, und vom frühen Roland Barthes." Gültler: gegen den schönen Schein. 1990, S. 7. " BrUgmann: Schonungsloses Mitleid. 1986, S. 147. if'O Döblin: Der Bau des epischen Werks. In: Ders.: Aufsätze zur Literatur. Ausgewählte Werke in Einzelbänden. Ölten und Freiburg i. Brsg. 1963, S. 109. 101 Ebenda S. 110.
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Dies ist der ungeheure Lustgewinn, den die Beiichtfoim des Fabulieiens gewählt, dem Autor, wie dem Leser.lO^
Eine solche Erzählhaltung manifestiert sich beispielsweise in einer delirierenden Sprache, die den Anspruch 'realistischen Erzählens' im traditionellen Sinne, "das Verhalten der Figuren in psychologischen Pespektiven zu erklären", "verspottet mit Hilfe einer Syntax der unendlichen hingegen-soeben-deshalb-weil-weshalb-Ketten."iie Frau hat einen Unsinn als Kleidung angezogen! [...] Sie wollen was sehen. Sie wollen was sein, so wie diese Frau, was wüBten sie nicht alles damit anzufangen! (176 f.)
Durch die vermittelte Wiedergabe der Rede dieser Frauen, die Gertis Aufmachung begutachten, wird der Leser über die Totalitätsbessenheit Gertis aufgeklärt. Ihre Kampfespose ist nicht beeindruckend, wirkt vielmehr lächerlich. Für den Kampf, den Gerti gegen die ihr dämo-
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nisch erscheinende Welt kämpfen will, ist sie weder mit Schlafrock Exponent ihres blind-vitalen Unbedingtheitswillens -, noch mit "noblen hohen Absätzen" (180) - Zeichen ihres Sich-Anbiedems, mit dem sie ihre idealischen Sehnsüchte kompromittiert - angemessen gerüstet. Hat sie sich schon immer von den anderen Frauen abgesondert, i^s anstatt sich mit ihren Geschlechtsgenossinnen zu solidarisieren, so steht sie nun gänzlich isoliert da. Gertis Anspruch und der Eindruck, den sie hinterläßt mit der Art und Weise, wie sie jenen einzulösen versucht, divergieren bereits im Vorfeld des eigentlichen Wettbewerbs. Durch die Vermittlung über die Reaktionen anderer Figuren suggeriert das Erzählmedium die den Leser über Gerti desillusionierende Vermutung, daß sie wahrscheinlich einen Kampf kämpft, der bloß in ihrem eigenen Kopf existiert. Nachdem es die spöttelnden Reaktionen der Frauen, hinter denen ein gewisser Neid nicht zu überhören ist, so lebhaft zum Ausdruck gebracht hat, versäumt es das Erzählmedium nicht, die Eifersucht dieser Frauen einer grundsätzlichen Kritik zu unterziehen, die indirekt wieder auf Gertis ehrgeiziges Streben nach jugendlicher Schönheit zurückfallt: Angstlos auf das eigene Bild zu schauen, denn zumindest das Haar läfit sich doch wirklich leicht veiändem, wenn wir uns nicht mehr gefallen, meine Damen. Und wir sind ein neuer Mensch, mild und gerührt von unserer Schönheit. Dann finden wir eben in anderer Aufmachung statt. (177)
Kritisiert wird hier die Fähigkeit und der Wille der Frauen zur Selbstinszenierung, der lediglich auf Äußerlichkeiten abhebt, wobei ein - wie auch immer gearteter - idealischer Anspruch auf der Strecke bleibt. Nicht nur indirekt, über die Imitiation anderer Stimmen und der Kritik an ihnen, schaltet sich das Erzählmedium in das Geschehen auf der Handlungsebene ein. In direkten Kommentierungen wird das reflektierende Erzählmedium seiner Aufgabe, den Erzählvorgang als solchen hervorzuheben, in größerem Maßstab gerecht. Das Erzählmedium distanziert sich hiermit rigoros von der Darstellungsebene, hat mit dem Verhalten der Figuren scheinbar nichts mehr zu tun, gesteht ihnen völlige Entfaltungsautonomie zu. Dabei wird nicht die überheblich-überlegene Pose eines Besserwissers eingenommen, sondern dem Prinzip der Blindheit und Totalitätsversessenheit der Heldin das Prin1» Vgl. LustS. 60.
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zip des Erkennens gegenübergestellt. Als Gerti lediglich ihren ersten Ausbruchsversuch am Mittwoch unternimmt, deutet das Erzählmedium bereits an, daß sich auf diese Weise im Leben der Frau nichts ändern wird, daß ein solcher naiver Taumel, mit dem sie sich auf den Weg begibt, schließlich nur katastrophal enden kann: "So wird der Tod vielleicht die Welt dieser Frau zu Ende denken. Wir wollen jetzt aber nicht persönlich werden" (61). Als Gerti exzessiv redend die kurzfristig zu Tage getretenen ungelösten inneren Spannungen zu unterdrücken versucht, kommentiert das Erzählmedium ihre Bereitschaft zur Lüge und Konformität, mit der sie jetzt versucht, doch noch Profit aus ihrem bereits gescheiterten Unternehmen zu schlagen: Die Frau redet, damit sie wichtiger wiid, und ihre Sprache trennt sich schon von der Wahrheit in dem Moment, da diese ihr aufgegangen ist und ein bißchen schön geschienen hat. (98)
Und noch einmal: Der junge Mann neigt sich der Frau zu, die mit ihren lieben Verwandten, den Sehnsüchten, ein wenig beiseite getreten ist, um zu plaudern. (100)
"Warum sollte ein andrer uns nicht lieben?", bildet sich Gerti souverän ein, "und warum tut er es dann nicht?", fragt das reflektierende Erzählmedium zurück (101). Doch Gerti hört nur auf sich. Zum zweiten Mal auf dem Weg zu Michael, bestätigt das Erzählmedium schon vor der Katastrophe die Ausweglosigkeit ihrer Situation: "Ja nicht nur in der sozialen Lage, da liegen wir fest" (186), sondern eben auch rein physisch sind die Grenzen vogegeben, durch das Alter, in dem Jugendlichkeit ein begehrenswertes, wenn auch unerreichbares Ideal bleibt. Als Gerti allerdings dann in "der Hände und Zungen Gewalt" (186) ist, empört sich das Erzählmedium doch zeitweise über die Brutalität Michaels, schüttelt gewissermaßen ungläubig den Kopf über Gertis Blindheit, mit der sie sich in diese Lage manövriert hat: "Und diese Frau muß sich ausgerechnet an ein Arschloch wie Michael hängen, der sich selbst [...] längst aus den Augen verioren hat". (192) Bereits vor Gertis Aufbruch zu Michael war dem reflektierenden Erzählmedium der Ausgang des Donnerstagnachmittags und seiner Folgeerscheinungen klar:
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Die Natur klopft den Menschen auf sein natürliches Maß zusammen und führt ihn dann ins Wirtshaus, damit er wieder aus seinen Ufern treten karm. (166)
Die direkten Kommentare des Erzählmediums machen deutlich, daß es sich auf den lediglich beobachtenden Posten zurückgezogen hat. Es läßt Gerti völlige Entfaltungsautonomie und unternimmt nicht den Versuch, sie durch Mahnungen zur Umkehr zu bewegen, oder auf ein bestimmtes Ziel hinzulenken. Das Exemplarische des Vorgangs, der ohne korrigierende Eingriffe des Erzählmediums einfach abspult, wird noch drastischer sinnßillig in den Leserapostrophierungen, die schon per se über den Bereich der erzählten Welt hinausweisen: "So wie ich jetzt mit dem Finger auf Sie zeige, so kann auch dem Schicksal nicht vorgegriffen werden!" (133)'^ Indem das reflektierende Erzählmedium sein Lesepublikum anredet, stellt es einmal die Scheintotalität der ekstatischen Illusionswelt heraus; es bringt so zum Ausdruck, daß es nicht darauf aus ist, daß der Leser sich ausschließlich in die Figur 'einfühlt'; vielmehr soll er angesichts der Unweigerlichkeit, mit der Gerti systematisch in die Zerrüttung getrieben wird, das Exemplarische des Vorgangs, der im Bereich der Möglichkeit angesiedelt ist, erkennen, i"»! Darüber hinaus wird auch der Leser - ähnlich der Figur auf der Handlungsebene - der Kritik unterzogen. Das geschieht auf dreierlei Weise. Das Erzählmedium subsummiert die Lesenden unter einem kollektiven "wir" und koppelt so spezielle Kritisierung der Figur mit einer prinzipiellen, von der es sich selbst auch nicht ausnimmt. Am Abend des Mittwochs, bevor Gerti wieder "ins Heimkino zurückgelegt" (125) wird, wird das Resultat des Tages festgehalten: Auf entzündetem Boden wünschen wir immer wiederzukehren und unser Geschenkpapier au&ureiBen, unter dem wir Altbekanntes als Neues getarnt und versteckt haben. Und unser sinkendes Gestirn lehrt uns nichts. (124)
In "Lust" gibt es auch Leserapostrophierungen, die dem faszinativen Impuls folgen. Beispielweise als Gerti sich nach dem durch das Anfahren des Wagens ausgelösten Erschütterungserlebnis erneut anspannt und demzufolge ihr empirisches Weltbewußtsein getrübt wird, imitiert das faszinierte Erzählmedium die Zerstreutheit und Hybris der Figur: "Jetzt wird alles anders, als es geplant war [...]. Was, Ihr Kind spielt auch Geige? Aber gewiß nicht in diesem Augenblick, da niemand auf seinen Startknopf drückt" (107). Zur spezifischen Rolle des Lesers in "Lust" siehe ausführlich B.IV. 1.4.
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Eine sehr lebendige Art der Kritikvermittlung ist die Imitation der Stimmen der jeweils angesprochenen Lesergruppe. Als Gerti, aufgetakelt, mit neuer Frisur auf dem Weg zu Michael ist, hat das Erzählmedium bereits die Gruppe der Dörflerinnen angesprochen: "Meine Damen" (177). Daran schließt sich jedoch eine lange Tirade über die Frauen im allgemeinen an, so daß sich neben den Dörflerinnen auch grundsätzlich die lesenden Frauen angesprochen fühlen müssen, die im kollektiven "wir" inbegriffen sind. Die deklamatorische Bestandsaufnahme, der eine kritische Begründung angefügt ist, endet in IchForm; das reflektierende Erzählmedium hat sich einer Mimikry unterzogen: Und wanim ich? Waram ich mit über 40 schwer zu haben und schwerer zu kriegen bin als ein Kind in den Fesseln der Waagebalken, die sich von mir wegneigen? Da ich für jede unerwartete Freude mich zu wandeln versucht und ein neues Gewand mir gekauft habe. (178)
Schließlich gibt es die unvermittelte Kritik über die Großschreibung des "Sie", mit dem das reflektierende Erzählmedium den Leser immer wieder aus seiner Zurückgezogenhcit und Deckung in die Betroffenheit holt:!« Wirklich jeder kann es sich leisten, sich den Fuß oder beide Anne zu brechen, glauben Sie mir! Trotzdem: Sie können nicht umhin, solche Menschen [sc. wie Gerti] als Abhängige zu bezeichnen, wenn sie sich auf Berghänge begeben, wo sie abgleiten und sich auch noch wohlfühlen dabei. Doch abhängig wovon? Ja, von ihren eigenen nie genesenden Bildern [...]. (162)
In der Hinwendung zum Leser artikuliert das Erzählmedium also Fragen und gibt mit seinen Kommentaren Denkanstöße, die die sich in der ekstatischen Steigerung herausbildende Totalitätsversessenheit als zwanghaften, fremdbestimmten, blind-vermessenen und zum Scheitern verurteilten Anspruch entlarven. Eine subtile Vermittlung des realen Hintergrunds geschieht über die Technik der Einklammerung. Hier wird abrupt ein vertrautes Thema in einen fremden Zusammenhang eingelagert. Auf diese Weise überführt das Erzählmedium voneinander unabhängig erscheinende Nicht alle "Sie"-Ansprachen sind auf den Leser gemünzt. Beispielsweise sprechen sich die Figuren auf der Handlungsebene auf diese Weise an. Vgl. z.B. Lust S. 185. 151
Bewußtseinsvorgänge ihrer ähnlichen Tiefenschichten. Dies hat eine umso überraschendere Wirkung, wenn kurz zuvor gerade noch die Divergenz von zwei Erlebnissphären konstituiert wird. So z.B. beschreibt das Erzählmedium zunächst die sportliche Umgebung, in die Gerti sich begibt, als sie Michael auf der Piste suchen geht: Die Frau hakt sich mit ihren noblen hohen Absätzen im Boden fest. Erstaunt schwanken Winterurlauber wie Boote vor dieser Plakat-Landschaft, in der alles stimmt, eine aber nicht in ihren Frohsinn einstimmen mag. (180)
Es folgt eine längere Reflexion über "diese Touristen", über die sich das Erzählmedium lustig macht: Herzig, so ein hellblauer Overall mit der pelzgefutterten Kapuze und oben schaut ein ohrfeigenroter I^lli heraus! Wir könnten versucht werden zu vergessen, daB nichts an uns zusammenpaßt, nicht unsre Oberteile zu unsren Unterteilen, nicht unsre Köpfe zu unsren Füßen, als gehörten wir, jeder für sich, zu unterschiedlichen Menschen (so sind wir Frauen reiferer Jahrgänge halt gebaut. (180)
Durch den Kunstgriff der Einklammerung entsteht ein scharfer Brechungswinkel zwischen Handlungs- und Reflexionsebene. Scheint Gerti zunächst hinter der Kritik an den Touristen, die mit ihrer jugendlichen Ausgelassenheit Gerti ihr Gealtertsein nur umso deutlicher zu Bewußtsein kommen lassen und sie deshalb verstimmen, in 'Schutz' genommen zu sein, so überführt das Erzählmedium nur umso drastischer Gerti ihrer Touristenhaftigkeit, indem es den Zusammenhang zwischen Frauen und Touristen in der Einklammerung stiftet. So wird der Leser daran erinnert, daß Gerti nicht mehr ist als eine "Pauschaltouristin" (97), die mit ihren Sehnsüchten, die sich als nicht einlösbar entpuppten, "ein wenig beiseite getreten" (100) ist, um nun, dem durchschnittlichen Anspruch von Touristen "dabei sein ist alles!" (180) konform, ihr Glück zu Hnden. Weiterhin wird der sich im Kopf der Heldin herausbildende imaginäre Wunschraum über ein Erzählprinzip relativiert, das hier - in Anlehnung an Günter Steinbergs Begriff "pseudo-auktoriale Motivierung"!« - als 'pseudo-personale Motivierung' bezeichnet wird. Hier werden die in Erzählerbericht und Erlebter Rede bereits angelegten Günter Steinberg: Erlebte Rede. Ihre Eigenart und ihre Formen in neuerer deutscher, französischer und englischer Erzählliteratur. Göppingen 1971, S. 101. Vgl. dazu auch Stanzet: Theorie des Erzählens. ^1982, S. 253.
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Tendenzen zu auktorialen Interpolationen, wie sie vornehmlich über den dem Wahmehmungsgestus der Figur nicht entsprechenden Wortlaut sinnfällig wurde, intensiviert. Auf diese Weise hat das sich über die faszinative Vermittlung der Erlebnisverfassungen Gertis dokumentierende illusorische Element keine Gelegenheit, sich im Kopf des Lesers 'einzunisten'; der Illusionskonstitution folgt unmittelbar die Ernüchterung. Die Fluktuation von eher personaler Erzählsituation, wie sie sich in den unter vorigem Punkt abgehandelten Formen vermittelter Redewiedergabe manifestiert, zu eindeutig auktorialer Begründung äußert sich auf zwei verschiedene Weisen. Einmal ist sie lediglich auf dem Hintergrund einer Intensivierung des unauthentischen Wortlauts vernehmbar, geht gewissermaßen signallos vor sich, ist aber dennoch eindeutig zu identifizieren. Zitiert sei eine Passage aus dem kontextuellen Zusammenhang des Dienstagmorgens, als Gerti, von der am Abend zuvor erwachten vitalen Grundenergie des Ehrgeizes beflügelt, sich daran macht, ihre Rucht suggestiv vorzuempfinden: Wie zur Flucht hat sie sich wieder mit einem Hauch Strumpfhosen überzogen. Keine hier hat es so gut wie sie. Ihr hängt die stille Klaue ihres Herrn über dem Kopf, damit sie im Raubtierkäfig heimisch wird. (42)
Mit der im zweiten Satz einsetzenden Erlebten Rede schafft das faszinierte Erzählmedium den personalen Rahmen, innerhalb dessen der Leser die sich daran anschließende Erklärung für die Qualität des personalen Erlebens zunächst auch auf den Erfahrungs- und Kenntnishorizont der erlebenden Figur bezieht: "Ihr hängt die stille Klaue ihres Herrn über dem Kopf [...]." (42) Gerti jedoch glaubt in diesem Augenblick wirklich, daß sie aus der Masse der Frauen als Privilegierte hervorragt; sie ist dabei, ihren vitalen Selbstbehauptungswillen zu beschwören, wozu sie ja gerade auf das Renomme angewiesen ist, das ihr mit ihrer Ehe zuteil wird. Illusionäre Unbefangenheit und eigentliche Sachlage kollidieren nicht in Gertis Bewußtsein, die auch sonst nicht 'erleben', sondern in narkotischer Dumpfheit verharren würde.i^ Illusion und Realität stoßen vielmehr über den Wortlaut zusammen, was zunächst verwirrend wirkt. Die Fluktuation von personaler zu auktorialer Erzählsituation, die sich allerdings in einem eigentümli-
144 Vgl. dazu vorangegangenen Punkt.
153
chen Spannungsverhältnis von personaler und auktorialer Perspektive profiliert, kann aber dennoch identifiziert werden.it^ Die pseudo-personale oder besser: auktoriale Motivierung eines personalen Wahmehmungs- und Empfindungsgestus ist auf der anderen Seite aber auch signalhaft. Die meisten untergeordneten Konjunktionen und Bindewörter wie "da, damit, weil, infolge" und alle logisch parataktischen Konstruktionen über Wörter wie "und, also, folglich" büßen die direkte Figurenintention ein und hallen von auktorialer Wahrnehmung wider. Der den Vordersatz prägende personale Vermittlungsmodus wird abgelöst, worunter der Vermittlungsinhalt zu leiden hat; er wird unverständlich, manchmal gar völlig objekthaft. Dies ist der Fall im folgenden Zitat: "Es liebt die Mutter dieses Kind, denn sie gehorchen beide dem gemeinsamen Gesetz, daß nicht die Erde sie gezeugt hat, sondern der Vater" (225). Es mag zwar zutreffen, daß Gerti zumindest in dem Augenblick, da Hermann am Donnerstagabend wieder zudringlich wird, in der Tat das Kind liebt, obwohl sie sich sonst von einer Verantwortung für ihren Sohn eher losgesprochen hat, um ungehindert auf ihrer Fieberbahn voranschreiten zu können. Die Begründung für ihre Liebe zum Kind jedoch ist geradezu absurd. Enthüllt das unpersönliche "es" am Anfang des Satzes bereits den ebenso doktrinären wie beliebigen Anspruch der allgemeinen Meinung, daß eine Mutter ihr Kind zu lieben hat, so wird durch die pseudo-logische Begründung die im Vordersatz dargestellte 'vereinbarte Rede' völlig objekthaft. Die im Erzählerbericht zum Ausdruck gebrachte Haltung Gertis, die sich, kurz vor ihrem letzten verzweifelten Aufbäumen gegen die auf sie einstürzende dämonische Welt, dem allgemein verbindlichen Anspruch der Mutterliebe zu fügen versucht, um wenigstens so, über die Brücke einer Verantwortung für das Kind, ihr Ich in dämonischer Umgebung zu entfalten, ist aufgesetzt und kann auf keine Rechtfertigung zurückgreifen. Weshalb sollte sie das Kind lieben, zumal es ihr doch gerade wieder das Alibi verweigert hat? Für die pseudo-personale Motivierung gibt es viele Beispiele in "Lust". Dieses Erzählprinzip durchzieht den gesamten Text und sorgt so für ein konstantes satirisches Gefälle zwischen den illusionären, teilweise phantastischen Erlebnisverfassungen der Figuren auf der
^^^ Siebe dazu auch folgenden Punkt.
154
Handlungsebene und eigentlicher Sachlage. Es handelt sich hierbei um es noch einmal prägnant festzuhalten - um Argumentationen, die man als mittelbare Darstellung von Äußerungen oder Gedanken des reflektierenden Erzählmediums aufzufassen hat, die den Gültigkeitsanspruch der personalen Empfindungen in Frage stellen und als Einbildung entlarven. Ein letztes verläßliches Signal - das verläßlichste überhaupt - für den Umschwung vom faszinativen in den reflexiven Erzählvorgang bieten die Adversativa wie "doch, aber, dennoch", mit denen das Erzählmedium eindeutig von der Unwahrheit der Erlebnisverfassungen der Figuren Abstand nimmt. Bezeichnenderweise tauchen solche 'adversativen Distanzierungen' genau an den oberen und unteren Wendepunkten von Gertis ekstatischem Werdegang auf. Gerade an den Stationen, an denen Gerti sich entweder in illusionärer Unbefangenheit entfaltet oder in die rauschhafte Steigerung zurückzuzwingen sucht, muß das Erzählmedium für eine absolut klare Grenzziehung zwischen Figurenillusion und eigentlicher Sachlage sorgen: Die Aufmerksamkeit des Lesers, die prinzipiell vorausgesetzt ist, kann gerade dann nachlassen kann, wenn die suggestiven Energien im faszinativen Erzählvorgang an Intensität gewinnen. Genau zu dem Zeitpunkt als Gerti am Abend des Mittwochs mitleidheischend Michael an sich zu binden und so die mit dem Anfahren des Wagens zu Tage getretenen inneren Spannungen zu unterdrücken sucht, klagt das reflektierende Erzählmedium die eigentliche Sachlage ein: "[...] ihre Sprache trennt sich schon von der Wahrheit in dem Moment, da diese ihr aufgegangen ist und ein bißchen schön geschienen hat. [...] Doch wer fühlt nicht wie die Sinne den Schmerz?" (98 f.) Nach getaner "körperlicher Arbeit", an die alle Protagonisten in "Lust" - die Frau nicht ausgenommen - "glauben" (216), konstatiert das Erzählmedium zunächst:"[...] die Lust hat Gerti aus sich herausgerissen, hat diesen kleinen Funken aus einem Taschenfeuerzeug hell entfacht", um sich und die Leser dann zu fragen: "Doch woher kam der Luftzug?" (118) Die Antwort darauf ist bereits schon früher gegeben worden: "Schon der Luftzug, den die dünne Kelle des Herrn Stationvorstandes macht, wirft sie fast um" (97). Rigoros schaltet sich das Erzählmedium dann wieder ein, als Gerti am Donnerstagnachmittag in Michaels Arme sinkt und glaubt, mit ihm "die Welt verlassen" zu können: "Dabei wollen wir doch die Dinge 155
nehmen wie sie sind" (187). Zwar drängen am Abend dieses Tages im Wirtshaus vehement die inneren Spannungen in ihr Bewußtsein vor, "doch einstweilen ernährt sich diese Frau von Alkohol" (249). Vor dem analytischen Hintergrund der Grenzziehung zwischen Faszination und Reflexion bekommen auch die zunächst unverständlichen Sätze gegen Ende des Buchs einen Sinn. Der einzige, der Gerti in ihrer ausweglosen Lage helfen könnte, die aus der letzten entscheidenden Niederlage vor Hermann am Abend des Donnerstags resultierte, wäre Michael. Da dieser ihr allerdings nicht die Tür öffnet, kollabiert sie in ekstatischer Verzweiflung. Aufschub gibt es gerade da nicht, wo sie ihn so nötig hätte. Dennoch schreit das faszinierte Erzählmedium noch einmal mit der bewußtlosen Heldin um "Aufschub! Aufschub! Aber der nächste Tag ist noch nicht eingetroffen" (240), an dem sie sich diesen Aufschub vielleicht noch einmal hätte verschaffen können, bevor der Samstag sie dann endgültig wieder den Zugriffen ihres Mannes ausgeliefert hätte. Und so bringt Gerti ihr Kind um, wodurch "eigentlich [...] jetzt schon der nächste Tag ungeduldig angebrochen worden" "ist" (255) - so gibt das Erzählmedium in einer Einklammerung zu verstehen. Ein dubioser Aufschub, den sich Gerti da errungen hat, der aber nichtsdestoweniger seine die Heldin stimulierenden Wirkungen zeitigt. Mit der letzten rauschhaften Anspannung Gertis bekommt der faszinative Impuls noch einmal die Gelegenheit, sich frei zu entfalten, bis das reflektierende Erzählmedium endgültig den weiteren besinnungslosen Taumel stoppt: "Aber nun rastet eine Weile!" (255) Bis zuletzt hat sich Gerti mit dem Aufschub-'Ideal' kompromittiert und so in einen ekstatischen circulus vitiosus verstrickt; nicht zur Besinnung kommend, Aufschub suchend, weder Aufschub und schon gar nicht Rast findend, muß ihr die Rast schließlich verordnet werden. Der Plural allerdings signalisiert, daß nicht nur sie der Rast bedürftig ist. Wie Michael und Hermann hat Gerti auf der ganzen Linie an "körperliche Arbeit" (126) geglaubt, sich somit einem Mechanismus zur Verfügung gestellt, der sich - gleich einem zentrifugalen Schleudern - immer mehr verselbständigte. Unerreichbar geworden, kann das Erzählmedium sie auch noch so intensiv fixieren, sie werden ihrem Gegenüber nicht inne: "Schauen Sie doch nur irgendwohin und die nach Ekstase, dieser integrierten, halbeleiteten Ware Süchtigen glotzen zurück. Wagen Sie doch einmal etwas, das einen Wert hat!" (109) 156
Keine der Figuren, weder Michael noch das nach immer neuen Geschenken süchtige Kind noch die Dörflerinnen noch die jungen Freundinnen Michaels sind geerdet, vor allem aber nicht Hermann und insbesondere auch nicht Gerti. Von der Fliehkraft unweigerlich mitgerissen, hat Gerti "ins Leere" gegriffen, wo die Speisen veiderben, als wollte sie ihn [sc. Hennann] von ihrer Schlummeistätte abschütteln. So werden sie einander immer verfehlen auf der breiten Fährnis der Straße, die ihnen die Schreckensbergbahn ihrer Ehe erschließen soll. (42)
Außerordentlich weit verfehlt haben sich beide. Mit dem Schlußappell macht das Erzählmedium abschließend noch einmal die Uneigentlichkeit dieses Lebens sinnfällig, das Gerti und Hermann exemplarisch für die Leser vollzogen haben. Die jetzt nicht mehr zu überbietende satirische Distanz zwischen lebendig gebliebenem ekstatischem Selbstbehauptungswillen Gertis und ernüchternder Anordnung zum Rasten bleibt jedoch ungelöst bestehen. Das durch den reflexiven Erzählvorgang konstituierte Spannungsverhältnis zwischen Ich-Hypostasierung und eigentlicher Sachlage wird nicht dialektisch-exemplarisch in einer höheren Einheit aufgehoben.
2.3
Erzähltechnische Oberflächenstruktur: Erzählprofil
Das Erzählmedium ist auf zwei Ebenen tätig. Seine Doppelrolle konkretisiert sich in der Errichtung einer Gleichnis- und Reflexionsebene, die in die Handlungsebene eingefügt ist. Als Begleiter der Figuren wird das Erzählmedium von ihren innersten Regungen affiziert, die es - je nach Grad ihrer Intensität - entweder in Gemeinschaft mit der Figur artikuliert (Erlebte Rede, Innerer Monolog) oder aber zu einem 'selbständigen' Ausdruck in der Direkten Rede finden läßt. Über die Konstituierung einer Gleichnis- und Reflexionsebene verspottet das Erzählmedium von der Basis einer 'elementaren Wahrheit' aus die im faszinativen Erzählvorgang gemachten Bewußtseinsobjektivationen und stellt so den bei den Protagonisten virulenten Drang nach Selbstvergottung bloß. Somit erweist sich das Erzählmedium als Satiriker und Diagnostiker, nicht aber als Helfer, der durch kritische Fragen
157
oder Impulse anderer Art versuchen wollte, die sich versteifenden Protagonisten zu einer Einsicht zu bewegen. Die Handlung in "Lust" nimmt unter dem Diktat eines 'Schicksals', das den Namen 'Hybris' hat, ihren Lauf; lediglich die Bedingtheit des fatalen Geschehens wird durch den reflexiven Erzählvorgang ausgestellt, nicht aber eine Alternative aufgezeigt. Die erzähltechnischen Mittel wie vor allem pseudopersonale Motivierung und die adversativen Wendungen, die am deutlichsten die Bruchstelle zwischen faszinativem und reflexivem Erzählvorgang markieren, sorgen für eine Entspiegelung der sich im Bewußtsein der Figuren herauskristallisierenden ekstatischen Welt. Auch wenn sich anhand der erzähltechnischen Mittel eine klare Trennlinie zwischen faszinativem und reflexivem Erzählvorgang ziehen läßt, mit denen sich prinzipiell imitatorischer und reflektierender Erzählmodus gegenüberstehen, so geht aus dem vorangegangenen Abschnitt hervor, daß der imitatorische Vermittlungsmodus auch auf der Reflexionsebene vorzufinden ist. Analysiert man das Geschehen auf der Handlungsebene aus der Perspektive jeweils einer Figur heraus, so wird die kritische Funktion des imitatorischen Elements des Erzählens deutlich. Wie exemplifiziert, müssen aus einer auf Gerti konzentrierten Analyseperspektive heraus die Formen der vermittelten Wiedergabe der Gedanken oder der Rede des Mannes und der Dörflerinnen dem reflexiven Erzählvorgang zugerechnet werden. Dadurch daß der imitatorische Vermittlungsmodus nicht auf den faszinativen Erzählvorgang beschränkt ist, sondern auch in den reflexiven dringt, kommt das Phänomen in den Blick, das zur präzisen Benennung der Erzählsituation in "Lust" führt und das unter zwei Aspekten beschrieben werden kann: Quantitativ besehen tritt dadurch, daß das Geschehen durch mehrere Medien hindurch erfaßt wird, an die Stelle einer zentralen Perspektive die Multiperspektive. Die dominante Darstellungsweise in "Lust" ist eine Art erlebter Wahrnehmungen, Regungen und Gedanken. Medialität und Perspektive spielen eine große Rolle, wobei das kritische und ordnende Element des Erzählens nicht aus dem Text verschwunden ist, sondern vielmehr gerade in der Multiperspektivität selbst zum Tragen kommt, i"*« Zur Illustration der Multiperspektivität, eines Sachverhalts, der für die folgende Relationierung von erzähltechnischen Verfahren und Darstellungsinhalt äu-
Vgl. Vogl-Plessing: Etzähltechnik. 1977, S. 228.
158
ßerst wichtig ist, sei noch einmal eine charakteristische Passage aus "Lust" zitiert: Das Kind merkt fast nicht, daß es unter uns tritt und getreten wird. Gibt es jetzt nicht bald Abendessen? Muß der Direktor seine Frau etwa noch einmal für eine Weile aus seinen Klauen lassen? Will er denn, daß sie ganz nüchtern wird? (222)
Die Multiperspektive, wie sie hier in der Aufeinanderfolge und somit direkten Konfrontation der verschiedenen Erlebnisverfassungen der Rguren - angefangen beim Kind, über den Mann, hin zur Frau - sinnfällig wird, bewirkt, daß sich die Erlebnisverfassungen der Figuren wechselseitig erhellen. In der Multiperspektive, die exakt die Fluidität der Erzählsituation in "Lust" festhält, werden die Grenzen von Wahn und Realität durchsichtig gemacht, um sie einer gegenseitigen Läuterung zu unterziehen.!'*'' Die Tatsache, daß das reflektierende Erzählmedium zur Erfüllung seiner Aufgabe, die faszinative Gefesseltheit und Unwahrheit des Erzählens auszustellen, sich des faszinativen Impulses selbst noch bedient, birgt auch einen besonderen qualitativen Aspekt: Hier kommt das Erzählmedium den Figuren ganz nahe, ist mit ihren inneren Vorgängen absolut vertraut. Der qualitative Aspekt ist also mit der Frage nach dem Standort des Erzählmediums verknüpft. Auf paritätische Art und Weise 'dürfen' die Figuren ihre divergierenden Ansichten derselben Sache vertreten, was gewissermaßen den Effekt der 'Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen' bedingt. Hiermit ist auch die Frage nach der Erzählhaltung des Erzählmediums, das heißt: seiner Einstellung gegenüber den Figuren im psychologischen Sinnei''« angeschnitten, für die sich bis hierhin festhalten läßt: Multiperspektivische Formen garantieren (...] eine gewisses Maß an Objektivität. Die Multiperspektive entspricht einem allgemeinen demokratischen Vorgehen, indem mehrere Stimmen gehört werden.
Die Multiperspektive als Erzählperspektive der Innensicht ist allerdings nur der eine Aspekt der Erzählperspektiven in "Lust". Das Erzählmedium verschafft sich im Hinblick auf seinen Standort auch immer wieder Abstand und behält so einen allgemeinen Überblick. Die 147 Was uQter zeitstrukturellen Gesichtspunkten also die 'slow-motion' leistet, erflillt in erzähltheoretischer Hinsicht die personale Multiperspektive. i"*® Vgl. Schutte: Literaturinterpretation. 1985, S. 137.
159
erzähltechnischen Elemente des reflexiven Erzählvorgangs sind nicht nur im Zusammenhang mit Gerti, sondern - wie teilweise in den vorangegangenen Abschnitten gezeigt - auch in dem der anderen Figuren auffindbar. So z.B. zielt die Übertreibung der Affirmation, wie sie sich in der Häufigkeit des Wörtchens "ja" manifestiert - es kommt meistens in Passagen vor, die von einem kollektiven "wir" handeln - auf eine ironische Durchbrechung der illusio aller Figuren, auch der der Leser, ungeachtet ihres Geschlechts. Hinsichtlich der Erzählperspektive, des Standorts des Erzählmediums und seiner Eizählhaltung, läßt sich also zusammenfassend feststellen: Mit dem Wechsel von Nahaufnahme zu Totale und umgekehrt findet ein Wechsel von personaler Multiperspektive (= Erzählperspektive der Innensicht) zu auktorialer Multiperspektive (= Erzählperspektive der Außensicht, eine Perspektive, die nicht den Figuren auf der Handlungsebene zuzuordnen ist)i5o statt. Im demokratischen Verfahren der Multiperspektive wird die Differenz zwischen der tatsächlichen Lage der Figuren und ihrer Selbsteinschätzung sichtbar. Von einer expliziten Parteinahme für eine der Figuren kann keine Rede sein.151 Insgesamt ergibt sich für die Erzählsituation in "Lust" als "Gesamtheit jener Bedingungen, unter denen erzählt w i r d " , f o l g e n der Raster:
Erzählmodus imitierend konstatierend
Erzähh wgang faszinativer reflektiver X
Erzählperspektive
X
Personale Multiperspektive
X
auktoriale Multiperspektive
Zur Frage, inwiefern der Leser eine mitgedichtete Figur ist, siehe B.IV. 1.1 und B.IV. 1.4. 150 Vgl. Stanzel: Theorie des Erzählens. 21982, S. 227. Im Gegensatz zur expliziten Parteinahe äußert sich die implizite über eine spezifische "erzählerische Anordnung der Fabelelemente". Schutte: Literaturinterpretation. 1985, S. 137. Siehe auch B.IV. 1.4. 152 Schutte: Literaturinterpretation 1985, S. 132.
160
Der Raster beschreibt das " E r z ä h l p r o f i l " , i 5 3 die "Oberflächenstruktur" des Textes, die sich auf "alle jene Erzählmomente" und das System "ihrer gegenseitigen Zuordnungen" erstreckt, "die der Vermittlung der Geschichte an den Leser dienen."i54 Im folgenden werden die den erzähltechnischen Verfahren zugrunde liegenden narrativen Prinzipien im Hinblick auf ihre Relation zum Darstellungsinhalt und darüber hinaus im Hinblick auf einen in ihrer Spezifität angelegten Lektüreeffekt ermittelt.
2.4
Erzähltechnische Tiefenstruktur: Funktion der Erzählsituation
Mit Hilfe des Erzählprofils läßt sich nun die Dynamik des Erzählvorgangs beschreiben. Dabei ist "vom Verhältnis der narrativen Teile" des Textes "zu den nicht-narrativen Teilen", vom Verhältnis der "Diegesis" (Erzählung im eigentlichen Sinne) zur "Mimesis" (Dialogszenen, hier: szenische Darstellungsweise) a u s z u g e h e n . i ^ s Zunächst gilt es, die "rein quantitativen Relationen" zwischen Mimesis und Diegesis, zwischen faszinativem und reflexivem Erzählvorgang also, und deren "Distribution" i^® zu ermitteln. Darüber hinaus ist bei der Interpretation des Erzählprofils oder des Erzählrhythmus des Textes auf den "Unbestimmtheitsfaktor ' L e s e r ' " einzugehen; hier ist die Frage zu beantworten, ob und, wenn ja, wieso dieser sich mehr auf die epische oder auf die szenische Darstellungsweise einrichtet und welche Konsequenzen dann die jeweilige Lektürehaltung für den Lektüreeffekt hat.158 Der reflexive Erzählvorgang ist allein schon dadurch betont, daß er den größten Teil der Erzählten Zeit in "Lust" ausmacht; die Einlagerung des imitatorischen Vermittlungsmodus sorgt darüber hinaus für eine sehr lebendige Art der Kritikvermittlung. Der solchermaßen auffällige reflexive Erzählvorgang bewirkt zweierlei: Zum einen kommt auf diese Weise der ohnehin schwach ausgeprägte faszinative Erzähl153 Stanzel: Theorie des Erzählens. 21982, S. 34. 154 155 156 157 158
Ebenda S. 32. Ebenda S . 9 4 f . Ebenda S. 95. Ebenda. Vgl. ebenda. In B.IV. 1.1 wirf das Theorem 'Unbestimmtheitsfaktor Leser' grundsätzlich in Frage gestellt.
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Vorgang, innerhalb dessen sich der szenisch dargestellte Handlungsablauf über die Bewußtseinsobjektivationen der Figuren konstituiert, nicht zum Tragen. Auf der anderen Seite läßt die so ausgelöste Beunruhigung des Lesers, der sich in der Erwartung, eine Geschichte zu lesen, enttäuscht sieht, die Abwesenheit einer verbindlichen Erklärung und Deutung des Erzählten umso intensiver bewußt werden. Denn auch wenn das autonome Erzählmedium 'ich' sagt, hat das nichts mit dem auktorialen, seine Personen bündig deutenden Erzähler zu tun, der aus dem bürgerlichen Roman vertraut ist. Das einem durchschnittlichen Leserbedürfnis nach einer kohärenten Geschichte auf der ganzen Linie spottende Lektüreerlebnis, ist Opfer einer außergewöhnlichen Dynamik der Erzählvorgänge. Dadurch, daß der reflexive Erzählvorgang stärker ausgeprägt ist als der faszinative, wird der Kontrast und der Abstand zwischen beiden derart vergrößert, daß dem reflexiven Erzählvorgang sein Bezugspunkt - die Figuren auf der Handlungsebene - abhanden kommt. Im Bewußtsein des Lesers schreibt sich ein autonom 'gewordener' reflexiver Erzählvorgang mit seiner personalen und auktorialen Multiperspektive, die immerhin sowohl die Gesamtheit der Haupt- und Nebenfiguren in "Lust" als auch den im kollektiven "wir" inbegriffenen Leser selbst umfaßt, fest als ein "staunenswerter Haßgesang, aber auf wen?"i59. Da schon die Konturen des grundsätzlich vorhandenen und zudem noch äußerst differenziert ausfallenden faszinativen Erzählvorgangs verwischt werden, so daß lediglich der Eindruck eines einsinnigen und brutalen Geschehens im Rahmen der Triade Gerti, Hermann und Michael zurückbleibt, verschärft sich erst recht die faktische Abwesenheit einer Sinnkonstitution durch das Erzählmedium. Diese Absenz markiert im oben angefertigten Raster von der Oberflächenstruktur genau die Schnittstelle von faszinativem Erzählvorgang und konstatierendem Vermittlungsmodus: Mit Hilfe der auktorialen Perspektive, die die unbeschränkte Einsicht in die Gedanken und Gefühle der Figuren auf der Handlungsebene freigibt, könnte das faszinierte Erzählmedium hier sein Interesse an einer Lenkung und Hinfühnmg seiner Figuren auf ein bestimmtes Ziel hin bekunden, oder - wo nicht - zumindest eine begrifflich verkürzte und verallgemeinerte Begründung des Geschehens in der Art einer expliziten psychologischen Motivierung liefern.
Drews: Staunenswerter Haßgesang. 1989.
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Vor dem Hintergrund des Sachverhalts, daß durch die Dynamik der Erzählvorgänge in "Lust" weder eine 'Geschichte' noch intellektuelle Plausibilität des Erzählten zum Tragen kommt, erhebt sich unweigerlich die Frage, inwiefern der Text es überhaupt gestattet, seinem eigenen Darstellungsinhalt näherzukommen. Um einen Anhaltspunkt zur Beantwortung dieser Frage zu bekommen, gilt es, sich einen einfachen Sachverhalt wieder bewußt zu machen, der am Anfang von Literatur überhaupt steht. Ein Erzähltes existiert nicht per se, sondern wird existent durch das Hinzukommen des Lesers. Deshalb gilt: Ebenso wie ein Text seine 'Vitalität' dem Akt der Lektüre verdankt, so auch der Erzählvorgang seine Dynamik. Die spezifische Dynamisierung des Erzählvorgangs hängt darüber hinaus vom Lektüreverhalten ab, das eng an die Erwartungshaltung des Lesers geknüpft ist. Insofern kann die obige Frage präzisiert werden: Welches Lektüreverhalten löst die einseitige Dynamisierung der Erzählvorgänge in "Lust" aus, durch die weder Geschichte noch Fabel zum Tragen kommen? Und natürlich: Welche Erwartungshaltung liegt einem solchen Lektüreverhalten zugrunde? In "Lust" hat es der Leser mit einem sogenannten "etischen Textanleo zu tun, der dem Erzählmodus eines autonomen Erzählmediums oder - wie es in Stanzeis Terminologie heißt - einer personalisierten Erzählerfigur entspricht. Mit diesem Begriff, den Stanzel der Textlinguistik entnommen hat, ist die "referentielle Unbestimmtheit" des Erzählauftakts gemeint, die sich - definitiongemäß - einer pronominalen Satzeinleitung v e r d a n k t . Z w a r liegt in "Lust" kein pronominaler Erzähleinsatz vor, doch erlaubt es die durch die Appellativa "der Mann", "die Armen", "die Frau" bewirkte "referentielle Unbestimmtheit"i®2 von einem 'etischen Textanfang' zu sprechen und dessen Charakteristika auf "Lust" zu beziehen. Entgegen der linguistischen Auffassung, daß "präliminarlose und infolgedessen referentiell unbestimmte Erzähleinsätze" ein gewisses " U n b e h a g e n " i ® 3 im Leser hervorrufen, meint Stanzel, daß sie vielmehr fang"
Stanzel: Theorie des Erzählens. 21982, S. 217-221. Zur stilistischen Analyse des Erzählanfangs siehe ausfuhrlich B.IV. 1.2.1. 161 Stanzel: Theorie des Erzählens. 2 l 9 8 2 , S. 215 f. 1« Ebenda S. 217. 163 Ebenda S. 217.
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eine "Steigerung der Aufmerksamkeit für den Einstieg 'in medias res'" bewirken.16^ Von einem 'Unbehagen' könnte vielleicht im historischen Sinne die Rede sein: die Lesergeneration um die Jahrhundertwende, die noch den älteren Erzählstil mit Erzählerfigur und Erzählpräliminarien gewöhnt war, mag bei der ersten Begegnung mit Erzählungen [sc. dieser Art] ein solches "Unbehagen" empfunden haben. Der moderne Leser registriert einen Erzählauftakt mit einem bezugslosen Pronomen [in "Lust": ^pelativum] sicher nicht mehr als ungewöhnlich, sondern eben als eine von (mindestens) zwei grundsätzlichen Möglichkeiten, den Anfang einer Erzählung zu gestalten.^^^
In der Tat scheint "Lust" von Anfang an mit der Aufmerksamkeit des Lesers zu rechnen, da sich auch im folgenden keine Erzählerfigur zeigt, die dem Leser als Garant dafür erscheinen könnte, daß die referentielle Unbestimmtheit des Erzählauftakts bald aufgelöst werden wird. Der Leser spürt vielmehr, daß er diese Auflösung selbst zu leisten hat und zwar durch Konzentration auf die Implikationen des Erzähltextes.166 Der Erfolg von "Lust" jedoch, "100.000 enttäuschte Käufer, 200 genervte Rezensenten und 50 hingerissene Leser",i®' läßt eher darauf schließen, daß der Text sich diesbezüglich 'verrechnet' hat. 'Unbehagen' anstelle der von Stanzel vertretenen 'Aufmerksamkeit' von der ersten bis zur letzten Seite des Textes begleiteten vielmehr den Leser. Die durch 'unkonzentrierte' Lektüre bewirkte einseitige Dynamisierung der Erzählvorgänge ließ dem Leser das Fehlen einer verbindlich deutenden Aussage über den gelesenen 'Wirrwarr' umso schmerzlicher vermissen. Enttäuschung angesichts der verwehrten Geschichte, Empörung über das sich ihm kundtuende spannungslose, weil immergleiche Geschehen und Verunsicherung angesichts der ausbleibenden Deutung sind Folgen eines auf falsche Lesererwartung hin programmierten Erzählvorgangs. Das autonome Erzählmedium hat schon mit der "Lesergeneration um die Jahrhundertwende"^®* mit ihrem sich einer "kontemplativen Geborgenheit" i®' hingebenden Lektüreverhalten gerechnet, die es auch wiederholt anspricht: "dies und
i®t Ebenda S. 219. Ebenda S. 217. 1®6 Vgl. ebenda S. 220. 1®'' Günter Franzen: Böse Menschen lesen Jelinek. TAZ 1991. 1®« Stanzel: Theorie des Erzählens. 21982, S. 217. 1®9 Adorno: Standort des Erzählers. 1981, S. 43.
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noch mehr sehen Sie hier vor Ihrer armen Neugierde abgebildet (und wollen doch sich selber sehen, nur endlich in einer andren Rolle wenn möglich nicht aus Pappe!)" (130). Um sich von dem unbefriedigenden und verunsichernden Gefühl, das ein solches Lektüreerlebnis hinterläßt, zu befreien, hat der unter 'falscher' Erwartungshaltungi'o angetretene Leser prinzipiell zwei Möglichkeiten: Entweder er zieht die Kompetenz bzw. die Inkompetenz der Autorin zur Rechenschaft, oder aber er "tut" nur "so als" habe er "einfach einen Film, der einfach einschlägt","' gesehen und investiert seine Zeit in eine Re-Lektüre, wozu außer der hervorgerufenen Verunsicherung das Erzählte selbst drängt. Die personalisierte Erzählerfigur oder das autonome Erzählmedium thematisiert dort, wo es reflektiert, den Erzählvorgang, indem es ständig auf ihn reagiert. Es entschuldigt sich für Versprechungen, es bittet um Hilfe bei der Ausdrucksfindung etc. und besinnt sich somit unausgesetzt darauf, daß es vor einem Publikum, seinen Lesern agiert. Somit gerät zum einen der Erzählvorgang und mit ihm die Erzählsituation, das 'Wie' der Darstellung in den Blick. Auf der anderen Seite kulminiert das unter dem Modus des " s h o w i n g " i ^ 3 Dargestellte, die szenische Darstellungsweise also, die eine Affinität zum Perspektivismus hat, in einer Perspektivenflut, die per se schon keine Rückschlüsse auf eine eindeutige Erzählhaltung und damit auch Parteinahme für eine der Figuren gestattet. Insofern stimuliert also das durch eine dem Text nicht entsprechende Erwartungshaltung und durch ein ebensolches Lektüreverhalten ausgelöste Lektüreerlebnis selbst den Leser zur wiederholten Lektüre und zur Suche nach einem Zusammenhang der ansonsten unverbunden dastehenden Perspektivenfragmente, die recht eigentlich zu Satzfragmenten gerinnen, da der Leser sie nicht einer erzählten Figur zuordnen kann. Wo nicht der 'etische Textanfang' die Aufmerksamkeit und Konzentration des Leser herausfordert, wobei er sich den Vorwurf geVon 'falscher' Erwartungshaltung kann lediglich in bezug auf die bisherigen AnalysemaBstäbe und -ergebnisse die Rede sein. Der Text kalkuliert natüriich mit der Erwartungshaltung der heutigen Leser, die er selbst paratextuell geweckt hat. Die bisherigen Analyseergebnisse sind insofern vorläufig, als sie den Text losgelöst von der Erwartungshaltung des Lesers betrachtet haben; sie werden in A.III. 4. problematisieit. i''! Lust S. 202. Vgl. Stanzel: Theorie des Eizählens. 21982, S. 228. 173 Ebenda S. 162.
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fallen lassen muß, immer noch auf die vertrauten Erzählmuster der bürgerlichen Romanform angewiesen zu sein, die ein breite Identifikationfläche bietet, und also immer noch "nur sich selbst sehen" will, "nur endlich in einer anderen Rolle" (130), wo also Jelinek zwar "die langen Anmärsche durch die Steppen der Langeweile"!^"* erspart, aber nichtsdestoweniger das Unbehagen des Lesers provozieren kann, da veranlaßt die so ausgelöste einseitige Dynamisierung der Erzählvorgänge selbst zu einer intensiven Beschäftigung mit dem Text. Wo jedoch weder 'etischer Textanfang' noch das ungewöhnliche Lektüreerlebnis zum Innehalten Anlaß geben, entläßt der Text in die Freiheit der textunabhängigen Apologie, die dann von so grundsätzlich ideologisch divergierenden Parteien geleistet werden kann wie von der Frauenzeitschrift 'Emma' und dem internationalen Männermagazin 'Lui'. Man könnte sagen: Wo intellektuelle Plausibilität nicht die Möglickeit bekommt zu greifen, hilft nur noch die Vereinnahmung. Ebenso kann sich auch eine andere Reaktion zeigen, die sich in der Denunziation der Autorin von einer Auseinandersetzung mit dem Text freispricht. Beide Reaktionen jedoch zeugen von einem Ungeschehen-MachenWollen eines irritierenden Faktums, einer 'Sinnestäuschung': In dem Augenblick, wo der Leser sich zur Textunabhängigkeit verleiten läßt, sieht er sich auch gleichzeitig auf den Text zurückverwiesen, da es einem natürlichen Bedürfnis im Menschen entspricht, eine 'Täuschung' zu entspiegeln und als solche zu entlarven, ohnedies man sich nicht von ihr befreien kann. Fixierung, Konzentration scheint also das Kodewort zu sein, um den Text zu entschlüsseln. Nur so scheint zumindest die Handlungsebene in "Lust" zum Vorschein zu kommen, auf der alle Figuren ekstatisch determiniert sind. Während von den Protagonisten Gerti diejenige ist, die dynamisch konzipiert ist und eine ekstatische Fieberbahn durchläuft, sind Hermann und Michael, von denen der eine schon völlig 'verformt' ist und der andere sich "längst schon aus den Augen verloren hat" (192), ekstatisch-statisch dargestellt. Ebenso wie durch ihre Konfrontation in der personalen Multiperspektive die Disparität ihrer Standpunkte, Wahrnehmungen und Regungen wechselseitig erhellt wird, intensiviert der reflexive Erzählvorgang in der auktorialen Multiperspektive diese kritische Funktion. Er löst ein satirisches GeHaipprccht: So ein großer Haß und so ein kleines Land. 1985, S. 64-67; hier S.67.
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fälle zwischen Handlungs- und Reflexionsebene aus und trägt so zur Ausweitung und zur Vertiefung des Geschehens bei. Zugleich wird durch den Nachvollzug der einzelnen Erzählvorgänge die Tatsache ersichtlich, daß das unter dem Modus des "showing" Dargestellte der Handlung "von vorherein den Aspekt von Partikularität, Ausschnitthaftigkeit, d. h. Unvollständigkeit und Implizität der A u s s a g e " hat. Das autonome Erzählmedium geht über eine allgemeine strukturierende Funktion durch Selektion hinaus. Nicht nur, daß es in Form von Kommentaren seine eigene Darstellung unterbricht, es vermengt auch seine Sprache mit der der Typen und somit auch mit deren Bewußtsein. Es ist die Wirklichkeitssicht des Erzählers, mit deren erzähltechnischer Umsetzung er die Möglichkeit ihr entgegenstehender Wirklichkeitssichten überprüft. Indem die Leser sich zur textunabhängigen Apologie oder Denunziation verleiten lassen und somit die ihnen durch die Lektüre verursachte 'Sinnestäuschung' hinnehmen, reproduzieren sie die aus der erzählerischen Wirklichkeitssicht hervorgegangene ekstatische Illusionswelt auf der "Lust"-Handlungsebene. Sind die Figuren in "Lust" im Sinne der Darstellung einer Elementarsituation manipuliert, so der Leser durch die erzähltechnische Vermittlung des Textes. Auf ihn, wie auf die Figuren in "Lust", trifft die Kritik zu, daß "die nach Ekstase, dieser integrierten, halbgeleiteten Ware Süchtigen" verständnislos "zurückglotzen", wenn man etwas versucht, "das einen Wert" hat (109). Sklaven ihres Traums von einer folgenlosen, tröstenden, erbaulichen Lektüre stellen sie einmal mehr ihren Drang nach Selbstvergottung unter Beweis. Derjenige Leser, der glaubt, sich in der Lektüre eine Ersatzwelt schaffen, hier eine illusionäre irdische Welt gewinnen zu können, wird seiner Intention durch die "Lust"Lektüre rigoros überführt. Er läßt sich gewissermaßen vom ekstatischen Taumel der Figuren mitreißen, überhört die retardierenden Momente und auch der Schlußappell kann ihn nicht mehr zur Ruhe bringen. So wie den Figuren auf der Handlungsebene die eigentliche Sachlage abhanden kommt, so ist auch in einer 'ekstatischen' Reaktion auf den Text die Wirklichkeit des Textes versunken - ganz zu schweigen von der Wirklichkeit der Autorin. Das uneigentliche Sprechen des Erzählmediums, das - da es keinen Bezugspunkt mehr hat - als Lektüreeffekt zurückbleibt, leitet, da es
Stanzel: Theorie des Eizählens. 21982, S. 197. 167
typisch ist für die Verfallszeit verbal-ideologischer Systeme, eben diese Verfallszeit ein. Jelinek initiiert eine grundsätzliche Interpretationbedürftigkeit des nicht mehr selbstverständlichen Worts, indem sie es taktisQh im Spiel mit mehreren Erzählvorgängen und subtiler Vermittlungsmodi einsetzt. "Lust" stellt einen mit verteilten Rollen gesprochenen Kollektiv-Monolog dar; eine konformistische Gesellschaft redet mit sich selber; griffe das reflektierende Erzählmedium nicht ein und versuchte nicht etwas, "das einen Wert hat" (109), würden die noch übriggebliebenen Differenzen zwischen Konformität und Unangepaßtheit vollständig abgeschliffen, i^® Wechselseitige Erhellung verschiedener Perspektiven auf die 'Lust' in der Perzeption der auktorialen und peronalen Multiperspektive in "Lust", die - wenn sie auch exemplarisch übersteigerte Wahmehmungsweisen und Eriebnishorizonte konfrontiert - einem demokratischen Verfahren gehorchen, oder 'wechselseitige Hemmung', eine diesem Verfahren diametral entgegegesetzte Reaktion auf den Text - diese Freiheit zu wählen scheint der Leser grundsätzlich zu haben.
3. Nairative Sinnstruktur Bei der Ermittlung der narrativen Sinnstruktur kommt es darauf an, die nun separat dastehenden Funktionen der Gestaltungsmomente 'Zeitgerüst' und 'Erzählsituation' einer Synthese zuzuführen. Gleichzeitig sollen die in Kapitel II aufgestellten Hypothesen an dem textanalytischen Befund gemessen und überprüft werden. Demnach liegt im folgenden der Schwerpunkt auf vier Aspekten, anhand derer nun die "innere Perspektive"!'''' der Makrostruktur in "Lust" ermittelt werden soll: Einmal ist auf die Frage der spezifischen Gestaltung des IchWelt-Dualismus zurückzukommen und inwiefern er in "Lust" ad absurdum geführt wird. Zweitens wird der in II. 1.1 angestellte Vergleich Gertis mit Effl Briest und die damit einhergehende Einordnung der Figur in den "Typus der unverstandenen Frau"i™ diskutiert. Eng 176 Vgl. Bossinade: Das BtispieXAntigone. 1990, S. 319, Anm. 213. Lugowski: Die Form der Individualität. 1976, S. XIV. Siehe dazu die Unteisuchung von Klingler: Emma Bovary und Schwesteni. 1986.
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damit verbunden ist drittens die Frage nach dem typologischen Status von "Lust"; in diesem Zusammenhang nahm Dieter Burdorf an, daß es sich um ein Buch handele, das "modemer Desillusionierungsliteratur"!"" zugerechnet werden müsse; er ließ allerdings die damit erwartete gattungsspezifische Diskussion vermissen. Und viertens ist die mit dem anfangsi®^ in diese Arbeit eingeführten Begriff Lugowskis des "mythischen Analogons" einhergehende Frage zu beantworten, inwiefern die Paradoxie Jelinekscher Erzählkunst, einerseits eine radikale Entmythologisierung der mythenbildenden Diskurse unserer Zeit zu betreiben und auf der anderen Seite wieder in den Mythos zurückzufallen, in "Lust" sich niederschlägt.
3.1
Mythisch-groteske Doppelstruktur Jeglicher genuinen Entmythologisiening wohnt [...] eine mythische Schicht
inne.i^i Gerti bewegt sich innerhalb des Gegensatzes von Ich und Welt, der ihren Lebensrhythmus ausmacht. Was sie auch tut, ob sie in narkotischer Dumpfheit verharrt oder ob sie sich durch eine Anspannung ihrer vitalen Erlebnisreize ekstatisch auf das Ziel hinhypnotisiert, ihren undifferenzierten Ich-Anspruch nicht nur zu träumen, sondern auch zu realisieren, es geschieht aus einer Gegenbewegung heraus. Sklavin ihrer Träume begeht Gerti den Fehler, sich in einer extremen, weil einseitigen und ihre Realität lediglich verdrängenden Haltung zu versteifen; den Kräften der 'Welt', die normierten Impulsen erwachsen und damit eigentlich eine Ordnungsfunktion erfüllen, für Gerti aber eine destruktive Valenz bekommen, ist sie dadurch umso schutzloser ausgesetzt. Sowohl im alkoholischen Delirium, mittels dessen sie die aus der Diskrepanz von Ich und Welt entstehende innere Spannung unfühlbar machen und damit aushalten kann, als auch in Verzückungsvisionen und erst recht im halluzinativen Glückskosmos - den Höhepunkten der konzentrischen Fieberbahn - ist ihr der Realitätsbezug abhanden gekommen. Ohne empirisches Weltbewußtsein, besinnungs-
Burdorf: "Wohl gehn wir täglich..." 1990, S. 30. l«0 Siehe 1.1.2. 181 Adorno: Parataxis. 1981, S. 455.
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los, wird sie weder zu Beginn der ekstatischen Steigerungsbewegung der Halbherzigkeit inne, mit der sie ihr Unternehmen startet, noch kann sie späterhin ihre Gegner als solche identifizieren. Selbst als das kurzfristige stolze Bewußtsein von der Einzigartigkeit ihres Ich nach und nach in ein Gefühl totaler Isoliertheit umschwingt, gibt Gerti ihren ekstatischen Selbstbehauptungswillen nicht auf; sie steigert sich in eine besinnungslose Auslöschungssehnsucht ihres vitalen Ich-Anspruchs hinein; diese erfüllt sie sich, indem sie ihren ekstatischen Werdegang, der sie an den Ausgangspunkt ihrer Unternehmungen zurückgebracht hat, in der Ermordung des Kindes modellhaft nachvollzieht. Hat sie ihre vitalen Energien aufgrund ihres falschen Welt- und Selbstverständnisses fehlgeleitet, so bleibt ihr nur noch die Alternative, das nach wie vor ungebrochene vitale Potential gegen sich selbt zu kehren und also gegen das Kind, das "ihre ganze Welt" ist und "wie diese" "schweigt" (254). Die Tatsache, daß Michael eine Surrogatfunktion hat, auf die Gerti zurückgreift, je größer die Zahl ihrer Enttäuschungen wird, die mitunter von Michael selbst provoziert werden, macht ihre Situation gegen Ende immer auswegloser. Die Zwangsläufigkeit ihrer 'Entwicklung' ist dabei konditioniert durch eine gesellschaftliche Vermittlung, die sozusagen ihren 'Mystizismus' - denn sie "selbst spricht ja nicht oft" (65) -, der im Glauben an ein zweites Liebesleben und an Jugendlichkeit und Attraktivität im Alter besteht, unterstützt und in ihr eine verklärte Realitätsvorstellung entstehen läßt. Wenn überhaupt von Liebe zu Michael die Rede sein kann, dann nur von einer solchen, die bereits vergesellschaftet ist, 182 noch ehe sie entstehen kann. Gesellschaftlich suggerierte sentimentale Veranlagung und - damit einhergehend - das Sich-Stützen auf das, was allgemein als wichtig und daher als begehrenswert angesehen wird, und der Drang nach Nervenkitzel programmieren Gerti zum Opfer ihrer eigenen Ambivalenz wie zu dem der Gesellschaft. Gerti kann als Unverstandene charakterisiert werden, weil sie in ihrer Ehe erfahren hat und im Zusammensein mit Michael erfahren muß, daß ihre Erwartungen unerfüllbar sind. Indem sie sich an Michael wendet und "sich ihm überantwortet" (98), liefert sie sich seiner destruktiven Überlegenheit aus, die aus einer Art Verschmel-
182 Vgl. Klinglers Untersuchung zu Effi Briest in: Dies.: Emma Bovary und ihre Schwestern. 1986, S. 169-184; hier S. 173.
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zung von gesellschaftlicher Konvention und jugendlicher Amoral hervorgeht. Das Problem der Einordnung Gertis in den Kontext der Unverstandenheit beruht zum einen auf der faktischen Diskrepanz zwischen ihrem Ich und der Welt, zum andern in dem Grad der Bewußtheit, mit der sie diese Diskrepanz erfaßt und die sie zunächst Hermann, dann Michael und - infolge der absoluten Desillusionierung durch seine Hilfeverweigerung - der Gesellschaft anlastet. Sie erfaßt diese Diskrepanz gerade so bewußt, daß sie sowohl auf die betäubende Wirkung des Alkohols angewiesen ist und darüber hinaus sich von dieser Diskrepanz tatsächlich in die Flucht schlagen läßt; sie erfaßt sie dennoch nicht so bewußt, daß sie die "Deckung ihrer Verhältnisse" (63) rigoros hinter sich lassen würde. Die Aktionsvokabeln "jetzt liegt das hinter ihr" (85) oder "sie hört auf sich" (97) oder "jetzt erst recht" (116) sind deshalb immer von einer für Gertis Haltung eigentümlichen Ambivalenz gekennzeichnet: Nie "liegt das hinter ihr" (85) und wenn sie 'auf sich hört', hört sie lediglich die Ausweglosigkeit ihrer Lage; denn ekstatisch determiniert verfolgt sie ekstatisch determinierte Ziele, wie z.B. das, sich als "Frau Direktorin"und durch Jugendlichkeit im Alter "aus der Fluchtlinie" (97) ihrer Geschlechtsgenossinnen herauszubewegen. Der Zusammenbruch von Gertis illusionärem Wunschglauben, der dadurch bewirkt wird, daß nicht das Leben, sondern eine Kette von Katastrophen sich einstellen, sowie die Verzweiflung, die sie darüber empfindet, charakterisieren Gerti erst im eigentlichen Sinne als unverstandene Frau.i*^ Die Ichsuche Gertis, die zur Weltsuche wird, vollzieht sich als analytischer Prozeß, ohne daß die Dialektik der Gegensätze endgültig zur Ruhe kommt. Sowenig wie der Erzähler in "Effi Briest" liefert auch der Erzähler in "Lust" ein moralisches Prinzip, "um den Werdegang seiner Frauengestah ex post zu motivieren",!*^ sondern präsentiert Gertis Schicksal als ein gesellschaftlich bedingtes. Wie bei Effi verhalten sich auch bei Gerti eigener Glücksanspruch und Gesellschaftlichkeit komplementär zueinander, bleibt "das Verhältnis beider zueinander in unentschiedener Halbherzigkeit"'«®. Effi versucht für ihLust S. 34 passim. IM Vgl. dazu ebenda S. 184. Ebenda S. 170. 18« Ebenda S. 171.
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ren Teil den Normen ihres unmittelbaren bürgerlichen Umfelds zu entsprechen, sich den herrschenden Spielregeln zu fügen, und gleichzeitig "kindliche Zwangslosigkeit"!«'' und Spontaneität zu leben. Gerti versucht eheliches Pflichtprogramm und außereheliche Liebesaffäre zu koordinieren, ja sie kann ihre Ehe zu Hermann gar nicht aufgeben, da sie auf das ihr daraus erwachsende stolze Bewußtsein als "Frau Direktorin"!** und nicht zuletzt auf ihren Mann finanziell angewiesen ist. Abgesehen von graduellen Differenzen zwischen Gerti und Effi, die sich über das Phänomen 'Unverstandenheit' ergeben und auf die hier nicht näher eingegangen wird, besteht ein prinzipieller Unterschied zwischen den beiden unverstandenen Frauengestalten, der sich über die Makrostruktur in "Lust" einspielt. Während in "Effi Briest" der Akzent darauf liegt, daß Menschlichkeit und Spontaneität mit gesellschaftlichen E>omestizierungsmechanismen kollidieren, stoßen in "Lust" ekstatischer Ich-Anspruch und ekstatisch-statische Welt aufeinander oder anders ausgedrückt: Während der Erzähler in "Effi Briest" die 'Unverstandenheit' lediglich thematisiert, für seine Figur als eine am subjektiven Glück Gehinderte Partei ergreift und sie sagen läßt: "Mich ekelt, was ich getan, aber was mich noch mehr ekelt, das ist eure Tugend. Weg mit euch",i®« problematisiert der Erzähler in "Lust" das Problem der 'Unverstandenheit' selbst, indem er es als einen Mythos entlarvt. Setzt man diese Feststellung in Analogie zur Kategorisierung der Tempora in "Besprochene und Erzählte Welt" nach Weinrich,!®« so ergibt sich folgende Hypothese: Zur Angespanntheit, zur Betroffenheit und zum Engagement des Erzählers in "Lust" als eines Sprechers gehört, daß er das Problem der Unverstandenheit als einen Mythos entlarvt; zur Entspanntheit des Erzählers in "Effi" als eines Erzählers gehört, daß er den Mythos von der Unverstandenheit fortschreibt; sein augenscheinliches Engagement für Effi in den Worten ihrer Direkten Rede ist im Kontext seiner 'Erzählten Welt' ein Lippenbekenntnis; er ist nicht wirklich engagiert, weil nicht wirklich betroffen.isi i«"' Eljenda. 18« Vgl. LustS.34passim. FonUne: Effi Briest, S. 256. 190 Siehe dazu A.III. 1.3. 191 Die Frage, warum der Erzähler in "Effi" nicht wirklieb betroffen sein könnte, wird im folgenden im Rahmen der mythischen Zusammenhänge indirekt beantwortet. Die Antwort ßllt nicht bündig aus, weil es dazu weiterer Zusammen-
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In "Lust" wird der Mythosi'^ von der Frau als Opfer eines patriarchalischen Systems, schlechthin der Mythos als eine gemeinsamkeitsbegründende Kraft im faszinativen Erzählvorgang konstituiert. Als allgemein "subjektive Ausgleichsstrategie" erstrebt der Mythos "die Vermittlung des Widerspruchs von Ich und Welt".i'3 Die "mythische Ausgleichsstrategie", die in "Lust" am Verhalten Gertis exemplifiziert wird, "äußert sich [...] in der Tendenz, aus der Dimension des Alltäglichen auszubrechen in die Exzentrik subjektiv-objektiver Grenz- und Ausnahmezustände."!''' Sie zielt auf eine Steigerung "subjektiver Lebensintensität und dient zugleich der Beschwörung eines repressionsund konfliktfreien Raumes, der die Möglichkeit individueller Entfaltung gewährleistet."!'^ Begleitphänomene der mythischen Selbststilisierungstendenz sind Verselbständigungs- und Entzeitlichungstendenz.i'«' In dem Maße wie Gerti versucht, die sie bedrückende Sphäre der Alltäglichkeit hinter sich zu lassen und in ekstatischer Blindheit über die Dimension des Menschlichen hinauszustreben, verselbständigt und isoliert sich ihr vitaler Ich-Pol von seinem empirischen Umfeld. Die Flucht vor dem Alter und damit vor dem Leben in seiner Kreatürlichkeit und schließlich vor dem Tod ist der eigentliche Angelpunkt der ekstatisch-mythischen Selbststilisierung; sie weist bei Gerti zwar nicht ins Übermenschliche, jedoch ins Automatenhaft-Mechanistische.!*^ Die Entzeitlichungstendenz korreliert mit einer zunehmenhänge bedarf. Siehe dazu V. 1., wo die SchluBfolgeningen aus dem Vergleich von verschiedenen Kindsmorddarstellungen in der Literatur und in den Medien als Antwort auf diese Frage übertra^ar sind. Im Rahmen dieser Att)eit ist es nicht möglich, terminologische Klärungen des Mythosbegriffs vorzunehmen, da die diesbezügliche Debatte in der Forschung "zu einem fast unüberschaubaren Kondominium kcnkurrieieDder Disziplinen und Theorien" ausgeartet ist (Helmuth Kiesel: Literarische Trauerarbeit. 1986, S. 30L) Im folgenden wird deshalb vornehmlich auf eine Mythosstudie, nämlich die von Clemens Huber zurückgergriffen. Huben Mythos und Groteske. Die Problematik des Mythischen und ihre Darstellung in der Dichtung des Expressionismus. Meisenheim a. Glan 1979. Diese erwies sich allein schon durch ihre Schwerpunktlegung auf expressionistische Literatur als praktisch, da so auch die hypothetische Einordnung Jelineks in die Romantradition von vor 1933 (siehe II. 1. ff.) reflektiert werden kann. Siebe dazu auch V. 1. Huber: Mythos und Groteske. 1979, S. 54. 19" Ebenda S. 60. 195 Ebenda S. 61. 19« Vgl. ebenda. 197 Ebenda.
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den Negativierung ihres Ich-Anspruchs; parallel zur Steigerungsbewegung reduziert Gerti die Qualität ihrer Ziele: Von der Außenseiterin mit exklusivem Ich-Anspruch wird sie zur touristenhaften Mitläuferin, zur "Pauschaltouristin" (97), um am Schluß aus ihrem 'Urlaub' zurückzukehren, ohne sich veijüngt zu haben. Diese zunehmende Negativierung der Qualität von Gertis Ansprüchen offenbart die dem Mythos eigene Verallgemeinerungstendenz; diese ist als "kompensatorischer Versuch zu begreifen", den aus ihrer gesellschaftlichen Außenseiterrolle erwachsenden Konsequenzen gerecht zu werden, was allerdings nur eine weitere Negativierung ihrer Lage zur Folge hat - ein Teufelskreis. EHe mythische Zeitaufhebung depraviert zum fatalistischen WiedeAolungszwang, das Kreislaufmotiv gewinnt den Sinn eines Fiustrationssymbols. Seine zunehmende Negativierung kennzeichnet den Übergang von der mythischen zur grotesken Welteifahtung. [...] Der weitgehende Verlust ihrer kompensatorischen Bedeutung markiert den Übergang von der mythischen zur grotesken Entfremdungsvision, die den Antagonismus von Ich und Welt nicht mehr imaginativ zu überspielen versucht, sondern das sutqektive Eingeständnis seiner Faktizität voraussetzt.199
Die Ermordung des Kindes geht aus Gertis groteskem Eingeständnis der Verfehltheit ihres hybriden und blind-ekstatischen Ich-Anspruchs hervor, der sich nicht gegen die sich ihm in den Weg stellende ekstatische Welt durchzusetzen vermag. Hier erfahrt Gertis subjektive Frustrationserfahrung eine projektive Vergegenständlichung.200 Gertis letzte verzweifelte Anklage einer anonymen Kollektivität, die sie für ihr absurdes Dasein verantwortlich machen will, macht unmißverständlich sinnfällig, daß ihre "imaginative Identitätshoffiiung" mit dem Kindsmord faktisch zwar aufgegeben wurde, aber gerade "in der strikten Negation"20i bewahrt bleibt. Bevor jedoch auf der Handlungsebene die mythische Verselbständigungstendenz, die auf eine Aufhebung des Ich-Welt-Dualismus zielt, in ihre groteske Entsprechung, wo der Widerspruch zwischen "subjektiver Ichsphäre und objektiver Weltsphäre ins Extrem"202 ge19« Ebenda S. 52. 199 Ebenda S. 60 f. 200 Vgl. ebenda S. 73. 201 Ebenda S. 71. 202 Ebenda S. 54.
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trieben und also erst recht als vertiefter zum Vorschein kommt, umgeschlagen ist, wird sie in kontiniuierlicher grotesker Brechung erzähltechnisch sichtbar gemacht. Die personale Multiperspektive erlaubt allein schon auf der Handlungsebene eine Konfrontation von subjektiver Mythopoiesis Gertis mit objektiver Realität. Durch die auktoriale Multiperspektive im reflexiven Erzählvorgang wird das Brechungsverhältnis intensiviert, so daß "das der mythischen Verselbständigungstendenz inhärente Verselbständigungsmoment"^'» in all seinen Phasen verfolgt werden kann. Erst die Konstitution eines satirischen Gefälles zwischen subjektiver Entfremdungserfahrung und objektiver Sachlage attestiert dem Ich-Anspruch Gertis seine Verfehltheit. Bis kurz vor Schluß, genauer: bis zur Ermordung des Kindes erfüllt der reflexive Erzählvorgang eine eher satirische Funktion; in der satirischen Komponente des Grotesken Hnden die objektiven Hintergründe der subjektiven Mythopoiesis ihre aggressiv-offensive Vergegenständlichung.2w Zum Zeitpunkt der Kindestötung allerdings erscheint das Groteske in seiner absoluten Gestalt und zwar folgerichtig: Auf der Handlungsebene ist der auf Auflösung des Ich-Welt-Antagonismus hinzielende Selbstmythisierungsprozeß Gertis an seinem Endpunkt angelangt, wo die Diskrepanz zwischen beiden Sphären vertieft und das Subjekt der Bewegung erstarrt^os ist; Gerti 'erlebt' nicht mehr, so daß die suggestiven Energien des Erzählerberichts jeder funktionalen Berechtigung entbehren. Die Schilderung des Kindsmords im Erzählerbericht ist aus dem umgebenden Textganzen lediglich noch durch die an die Optik Gertis gebundene Erzählperspektive hervorgehoben. Der eher konstatierende Duktus im faszinativen Erzählvorgang bringt diesen in die Nähe des reflexiven. Dadurch, daß faszinativer und reflexiver Erzählvorgang für die Weile des Kindsmords aufeinander einschwingen, erfährt das groteske Element der satirischen Brechung eine Verstärkung und erscheint in seiner absoluten Gestalt. Hier hat "das Groteske jenen aggressiven Zug [verloren], die seinen satirischen Ausdrucksformen [...] anhaftet."206 Die zunehmende Selbstentfremdung Gertis, die durch die mythisch-groteske Doppelstruktur des Erzählens, durch den Dualismus von Faszination und Reflexion des Er203 Ebenda S. 56. Ebenda S. 73 f. 205 Vgl. dazu ebenda. 206 Ebenda S. 77.
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Zählmediums beobachtet werden konnte, kulminiert im 'Vemichtungsschlag', dem als solchen also bereits der Charakter der Selbstverständlichkeit anhaftet. Durch die Art der erzähltechnischen Präsentation wird "dem Inhumanen" seine Logik ausgestellt.^'" "Eben durch diese Selbstverständlichkeit", mit der sie das logisch Depravierte und Deformierte darstellt, "wirkt die groteske Darstellung schockierend".^«» In der letzten Passage des Buches driften faszinativer und reflexiver Erzählvorgang wieder auseinander; personale und auktoriale Perspektive sind deutlich voneinander abgegrenzt. Gerti ist "im Vorgang mythischer Bewußtseinsüberlagerung" "der determinierenden Wirkung [ihres] eigenen Projektionsmodells" unterlegen; sie wird zur "Repräsentantin einer subjekt-objekt-übergreifenden [...] Zwischenwelt anonymer, impersonaler Mächte".2ichotomisietung in objektive 'Wirkung' und individuelle Rezeption innerhalb der Rezeptionsästhetik siehe im folgenden.
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kung und Leserreaktion eine scharfe Grenze zieht und nicht nachweisen will und kann,^'' welche Leserreaktionen wie im Text codiert sind. Einwände gegen Riffaterres Reduktion des Lesers auf ein die stilistische Wirkung "lokalisierendes Hilfsmittel"58 erhebt Stanley Fish. Mit seiner "affektiven Stilistik" versucht er eine Antwort auf das Problem der Beschreibung der komplexen stimulus-response-Beziehung zwischen Text und Leser zu geben.^' Fish ersetzt allerdings die monistische Position Riffaterres durch einen ihr lediglich diametral entgegengesetzten Monismus: Die Reduktion der 'Bedeutung' auf Information versucht er durch die Definition der Bedeutung als Erlebnis«" wieder einzuholen; der Einschränkung des Stils auf Wirkung antwortet er mit der Einschränkung des Stils auf Reaktion.«! Nicht zuletzt mutet Fishs Alleingang anachronistisch an: Gegen die seinerzeit aktuelle Diskussion in der Textlinguistik, die die Untersuchung der Sprache eines Textes in übersatzmäßige Gebilde vorantreiben will, setzt Fish bedenkenlos den Satz als oberste Einheit des 'Bedeutungserlebnisses'. Im zeitlupenmäßigen Voranschreiten von Wort zu Wort und Satz zu Satz«2 versucht die Affektive Stilistik die Bedeutungen der Aussagen als das, was der Leser durch sie erlebt, dingfest zu machen. Zweifel an seiner Methode, die der Textkohärenz überhaupt nicht Rechnung trägt, indem er sich etwa an den von Riffaterre erwähnten Rückkopplungseffekt«3 erinnerte, kommen Fish nicht. Abgesehen davon, daß Fishs Frage "Was tut dieser Satz?"«'* zu ersetzen wäre durch die Frage "Was tut dieser Text?", kann Fishs Affektive Stilistik ebensowenig wie Riffaterres Strukturale Stilistik nachweisen, welche Leserreaktionen 'richtig' sind, d.h. welche Reaktionen wie im Text codiert sind. Berücksichtigung erfährt das Phänomen der Textkohärenz in der Textlinguistik. Harald Weinrich hat am konsequentesten daran gear-
58 59 80 61 «2 ®
M
Vgl. dazu Stanley Fish: Affektive Stilistik. In: Waming: Rezeptionsästhetik. 31988, S. 196-227; hier S. 224. Ebenda S. 223. Ebenda S. 217. Ebenda S. 205. Ebenda S. 224. Ebenda S. 201. Der Rückkopplungseffekt bezieht sich auf "den kumulativen Aspekt jeder Lektüre [...]: das, was gerade gelesen wird, wirkt zurück auf das, was man gelesen hat"; Riffaterre: Kriterien. 1975, S. 195, Anm. 33. Fish: Affektive Stilistik. 1975, S. 198.
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beitet, Kategorien für die Erstellung einer "Textgrammatik"®^ zu erarbeiten. Eine Textgrammatik operiert nicht mehr mit satzsyntaktischen, wortsemantischen oder lautphonetischen Kategorien, sondern legt eben textsyntaktische, textsemantische und textphonologische zugrunde; mit ihrer Hilfe läßt sich über die Erstellung einer "Textpartitur" die "Textualität" eines Textes als das Verhältnis seiner Thematik zu seiner Rhematik auf allen drei Ebenen beschreiben.®« Zwischen Textlinguistik und Stilistik, für die sich der Literaturwissenschaftler vorwiegend Hilfe von textlinguistischer Seite erhofft, ist allerdings nicht ohne weiteres zu vermitteln. Das klar umrissene Ziel der Textlinguistik ist es, "textliche Regularitäten"®'' aufzudecken; "weitergehende Aussagen, z. B. über die ästhetische oder stilistische Wirksamkeit bestimmter Textfaktoren [...] gehören nicht in ihre Zuständigkeit".®« Weinrich selbst schlägt als Vermittlung zwischen dem 'Allgemeinen' und dem 'Besonderen' ein wiederum klassifizierendes Modell vor, die "Texttypologie".®' Die Idee, wirkliche oder mögliche Texte aufgrund ihrer Gattungszugehörigkeit sowohl textlinguistisch als auch nach pragmatischen Kriterien der Textfunktion bestimmen zu können, scheint verlockend. Abgesehen davon, daß eine "konsistente, terminologisch einheitliche Texttypologie [...] bis jetzt nicht vorliegt",™ verzweigt sich jedoch nur das Problem der Abweichung des Besonderen vom Allgemeinen: Jeder individuelle Text wäre stilistisch an dem Maß seiner Abweichung vom Typus zu messen. Texttypologie ebenso wie Textgrammatik laufen als klassifikatorische Modelle immer Gefahr, für individuelle (literarische) Texte normativ und mithin präskriptiv zu werden: Indem nämlich die Konstituenten einer Textfoimvariante auf den Ebenen des Textes, des Texttyps und der Textform in der Analyse isoliert und beschrieben werden, können sie zugleich einem zukünftigen Textproduzenten als textform-
®5 Harald Weinrich: Sprache in Texten. Stuttgart 1976, S. 143. ®® Ebenda S. 144 f. Unter Thematik versteht Weinrich die bereits aufgenommene und verstandene Information, unter Rhematik die neu hinzukommende, innovative Information (S. 140 f.). Bernhard Sowinski: Textlinguistik. Stuttgart, Beriin, Köln, Mainz 1983, S. 127. ®* Sowinski: TexÜinguistik. 1983, S. 127. ®9 Weinrich: Sprache in Texten. 1976, S. 172. Hadumod Bussmann: Lexikon der Sprachwissenschaft. Stuttgart ^1990, Stichwort Texttypologie'.
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spezifische Elemente bewußt gemacht und damit für eine wirksame Realisierung der spezifischen Textfonnvariante verfügbar gemacht werden
Bis hierhin läßt sich ein allen Ansätzen zugrunde liegendes Theorem ausmachen, das es grundsätzlich in Frage zu stellen gilt: Bereits in Spitzers Erwartung an die Linguistik, mit ihrer Hilfe die Stilanalyse auf ein intersubjektiv überprüfbares Fundament zu stellen, zeigt sich die Annahme einer Dichotomie zwischen "Realität des Textes"''^ und individueller Leserdisposition, zwischen Objektivität einerseits und Subjektivität des Lesers / Interpreten andererseits. Diese Dichotomisierung ist der Impuls für die zahlreichen Versuche, "materialobjektive Verfahren einer Textdeskription"''^ als Grundlage für die Erfassung des individuellen Stils eines Autors zu entwickeln und zur Verfügung zu stellen. Konjunktur bekam diese Dichotomisierung im Rahmen der rezeptionsästhetischen Debatte, wo ihr wiederum die Dichotomisierung in 'pragmatischer Text vs literarischer Text' vorausging. Dieser Zusammenhang, auch wenn er sich mehr am Inhalt (propositionaler Gehalt) als am Handlungscharakter (Illokution)'''» von Texten orientiert, soll hier kurz skizziert werden, da er für die Begründung einer 'semiotischen Stilistik', auf die hinauszukommen ist, relevant wird.''^ Während der Rezipient bei den monofunktional referentiellen, d.h. pragmatischen Texten aufgrund ihrer Bestimmtheit des Gemeinten keine bedeutungskonstituierende Funktion zu erfüllen habe, provoziere der literarische Text, dessen "Gegenstand [...] eine vom Text unabhängige Existenz besitzt",''« einen Akt der Gegenstandskonkretisation durch den Rezipienten im sog. "Akt des Lesens".'''' Die Rede vom ''1 Egon Werlich: Typologie der Texte. München 1975, S. 105. ^ Iser: Akt des Lesens. 1976, S. 38. Kloepfer: Fluchtpunkt 'Rezeption'. 1979, S. 638. Sandig: Stilistik. 1986, S. 25. Aus der Entgegensetzung pragmatischer vs literarischer Text folg! die These, daß ein literarischer Text umso wertvoller sei, je unpragmatischer, fiktionaler, autoreferentieller etc. er ist. Dieser "literaturwissenschaflliche Manichäismus" (Kloepfer: Fluchtpunkt 'Rezeption'. 1979, S. 632.) "erkennt eigentliche Literatur [...] also nur in den Traditionslinien von Mallarm^, Val6ry etc." (ebenda). Die Problematik dieser Dichotomisierung, die zu der zwischen Alltags- und poetischer Sprache parallel verläuft, wird im folgenden hinfällig. Wolfgang Iser: Die ^pellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa. (1970) In: Waming: Rezeptionsästhetik. 31988, S. 228-252; hier S. 231. n Iser: Akt des Lesens. 1976.
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'Akt des Lesens' meint in ihrer äußersten Konsequenz, daß literarische Texte "jeweils soviele Bedeutungen wie Rezipienten"™ haben können. So kommt es, daß die Textstruktur mit der ihr eingeschriebenen 'Wirkung' zum Fluchtpunkt der rezeptionästhetischen Objektivitätssuche wird, angesichts derer das Interesse für den subjektivitätslastigen Rezeptionsvorgang verblaßt.'« Für die Erfassung dieser 'objektiven' Textstruktur ist 'objektives' Instrumentarium erforderlich, das man sich im Analogieschluß von der 'objektiven' Linguistik erhofft. Zusammen mit dem 'objektiv' erfaßbaren Gegenstand soll sie jenes Maß an Exaktheit gewährleisten, das Kennzeichen von Wissenschaft ist. Abgesehen davon, daß die Rezeptionsästhetiker aufgrund der objektivsubjektiv-Kluft nicht zum eigentlichen Studium der Rezeptionsvorgänge kommen, speist sich ihre Diskussion um die Voraussetzungen 'rezeptionsästhetischer' Analysen aus der banalen Gleichsetzung von 'linguistisch mit objektiv, jedoch nicht ausreichend'.«o Einen Ausweg aus diesem objektiv-subjektiv-Dilemma eröffnet die Auffassung der "Kunst als semiologischem Faktum ".«i Autor und Leser eines literarischen Textes sind beide individuell, verfügen jedoch als Teile einer Gemeinschaft über annähernd homogene Kodes, d.h. Konventionen, "Regularitäten, die Voraussetzung einer erfolgreichen Kommunikation s i n d " . H i e r wird nun allerdings nicht mit Mukarovsky davon ausgegangen, daß ein literarischer Text auf ein Kollektiv trifft und dort eine nach dem Prinzip der abstraktiven Relevanz zu ermittelnde "kleinste gemeinsame Menge an Vorstellung" hervorruft.«^
^ Kloepfen Fluchtpunkt 'Rezeption'. 1979, S. 640. ™ Vgl. Riffaterre: Kriterien. 1975, S. 176: "Die Ausschaltung des Inhalts der Leserreaktionen ist wesentlich"; sie "schließt" "die Subjektivität dieser Reaktionen aus". 80 Riffaterre: Kriterien. 1975, S. 639. 81 Jan Mukarovsky: Die Kunst als semiologisches Faktum. In: Ders.: Kapitel aus der Ästhetik (1936). Frankfurt a. Main 1970, S. 138 £f. Kloepfer: Poetik und Linguistik. 1975, S. 46. 83 Mukarovsky: Kunst als semiologisches Faktum. 1970, S. 139. Mit dieser Reduktion des 'ästhetischen Objekts' als der Bedeutung eines Textes (im Gegensatz zum Artefakt als seiner materiellen Seite) auf das, "was die subjektiven Zustände des Bewußtseins, die bei den Mitgliedern [sc. einer Kulturgemeinschaft] durch das materielle Werk hervorgerufen werden, miteinander gemeinsam haben" (ebenda), bietet Mukarovsky einen erneuten Nährboden für objektiv-subjektivAuseinandersetzungen, weil der Reduktion selbstverständlich die Vemachlässi-
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Mukarovskys Gedanke dagegen, daß sich ein ästhetisches Zeichen außerästhetische Materialien einverleibt und die so gebildete Einheit alle Funktionen "eines kommunikativen Zeichens hat",«^ soll hier im Zuge einer sprechakttheoretischen Stilistik radikalisiert werden.*^ Die Hypothese dieser Arbeit ist es, daß die bei literarischen Texten scheinbar fehlende gemeinsame Kommunikationssituation in den literarischen Text hineingenommen ist; ein künstlicher Konsens hinsichtlich des situativen Kontextes findet seinen Niederschlag in der Textstrukturierung. Der situative Kontext selbst, in bezug auf den stil-strukturell ein Konsens hergestellt wird, ist ein Leser und Autor gemeinsames soziales Wissen - das Wissen einer Kultur -, auf dessen Grundlage kommuniziert wird und stilistischer Sinn und Stilwirkungen (z. B. Ironie, Parodie, Belustigung, Enttäuschung, Brüskierung etc.) zum Tragen kommen.86 Kollektive Bewußtseinsformen finden als Ausdruck vorhandener kultureller Systeme Eingang in den Text und schlagen sich in dessen stilistischer Struktur nieder. Vor dem Hintergrund dieser kollektiven sozialen Nonnen, agieren der Erzähler als Sprecher und die Leser als 'aktive Zuhörer'. Die Konkretisation der Textbedeutung erfolgt somit zwar individuell, aber nach den Vorgaben des Textes, der mit seinen Verfahren auf die Umstrukturierung oder Bestätigung der stilisierten kollektiven Normen zielt. Kontextualisierungshinweise geben generell die Titel literarischer Texte. "Entscheidende rekurrente bzw. permanente Kontextualisierungshinweise werden" allerdings "durch
^
gung der individuellen Rezeptionserlebnisse vorgeworfen werden kann; siehe dazu Lothar Pietz: Strukturalismus. Eine Einführung. Tübingen 1982, S. 52 f. Mukarovsky: Kunst als semiologisches Faktum. 1970, S. 142; vgl. Kloepfer: Poetik und Unguistik. 1975, S. 130. Vgl. Kloepfer: Fluchtpunkt "Rezeption'. 1979, S. 642, der diese Idee inspiriert hat. Er argumentiert nicht im Rahmen einer sprechakttheoretischen Stilistik, so daB seine theoretischen Ausführungen blaß bleiben. Er grenzt sich sogar explizit gegen sie ab (vgl. Kloepfer: Mimetische Kohärenz. 1988, S. 282, 284 und Anm. 8, S. 295), obwohl das, was er im Sinn hat (ebenda: "Mich jedoch interessiert vorrangig: Wie kann man durch einen Text einen Rezipienten entsprechend handeln lassen?"), genau mit dieser Theorie in Einklang steht. Auf die weiterreichenden Implikationen der Hypothese, daß ein literarischer Text einen vollständigen situativen Kontext stilisiert, innerhalb dessen die Kommunikation zwischen Erzähler und Leser vor sich geht - der Erzähler ist dabei der Sprecher, der Leser sein 'aktiver Zuhörer' - und die illokutionäre Absicht eines Erzählers vollständig aktualisiert werden kann, wird im folgenden nach und nach eingegangen. Vgl. Sandig: Stilistik. 1986,8.73.
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den Stil geleistet. Da der Erzähler vor dem Hintergrund dieser Hinweise auf die kontextuelle Konstellation durch die Art seiner Handlungsdurchführung jeweils ganz bestimmte Sprechhandlungen vollzieht, sind die Stilwechsel beachtenswert; sie indizieren immer "Übergänge zu anderen Handlungen":»« So zeigen die Stilwechsel mit ihren Funktionen die Verflechtung von stilistischer Textstiuktur einerseits und den Handlungsvoraussetzungen [d.h. kontextuelle Konstellation, J. S.], auf die die Handlungsdurchführung bezogen ist, andererseits."
Die Art der Handlungsdurchführung kann - einer bestimmten Konvention folgend - an die kontextuelle Situation angepaßt sein; sie kann sich jedoch auch grundsätzlich ganz unterschiedlich zum situativen Kontext verhalten, so daß durch den jeweiligen Stil "verschiedener sozialer Sinn hergestellt wird".'" Es gibt also in einem literarischen Text ganz bestimmte stilistische und mit ihnen soziale 'Sinne', die beim Leser bestimmte Sinne für das, was der Erzähler mitteilen will, in Anspruch nehmen. Was der Leser damit nach dem 'Akt des Lesens' anfingt, welchen Sinn er für diese sozialen Sinne in seiner Reaktion auf die Sprechhandlung entfaltet, ist seiner Individualität anheimgestellt; seine individuelle Reaktion ist jedoch vor dem Hintergrund des mit dem Erzähler gemeinsamen situativen Kontextes zu sehen, auf den er sich im 'Akt des Lesens' eingelassen hat. Es ist festzuhalten: "Wer nicht davon ausgeht, daß" die Lektüre eines literarischen Textes "in einer gegebenen Gesellschaft" einen bestimmten (sozialen) Sinn hat, "der kann niemals wissenschaftliche Rezeption betreiben."®' Es geht also nicht um die Gegenüberstellung von invariablem Werk und variabler Konkretisation, sondern um die Beschreibung der literarischen Kommunikation, der sich der Leser als im Text stilisierter Leser im Lektüreprozeß stelU. Die handlungstheoretische Stilauffassung im Sinne einer semiotischen Pragmatik verlegt die gemeinsame Kommunikationssituation in den Text, so daß die Dichotomisierung von 'objektiver Wirkung vs subjektive Rezeption' hin-
8« 89 «0 91
Ebenda S. 118. Ebenda. Ebenda S. 119. Ebenda S. 32. Kloepfen Fluchtpunkt 'Rezeption'. 1979, S. 642.
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fällig wird. Die vor dem dichotomischen Hintergrund zu Recht von Riffaterre erhobene Ausgangsfrage "Was stellt den Kontakt zwischen Poesie und Leser her?" wird ohne diesen absurd. Sie muß durch die Frage ersetzt werden: "Wie ist der Kontakt gestaltet, den der Autor mit seinem Text hergestellt hat, sobald der Leser diesen in den Händen hält?" Ob die Linguistik bei der Beantwortung dieser Frage eine Rolle spielt und wenn ja, welche, wird nun erörtert. Da die Erforschung der Sprache in literarischen Texten - wie es zunächst scheint - Teilgebiet der Poetik ist, ist darauf im Rahmen der Debatte um eine 'linguistische Poetik' zu sprechen zu kommen. Das Verhältnis von Linguistik und Poetik ist wiederholt diskutiert worden, sowohl von seiten der Linguistik als auch von selten der Uteraturwissenschaft.92 Die von beiden Disziplinen her angestrebte "Verwissenschaftlichung der Poetik durch Linguistik"'^ soll "das Ver-' ständnis poetischer Strukturen und ihrer Wirksamkeit entscheidend (fördern)."»'' Die aus der Rezeptionsästhetik vertraute Dichotomisierungstendenz in das Allgemeine (Text) und das Besondere (Rezeption) zeigt sich in der Diskussion um Linguistik und Poetik in der Unterscheidung zwischen Alltagssprache und literarischer oder poetischer Sprache. Mit den diversen Akzentuierungen dieses Abweichungsverhältnisses geht auch die Frage einher, ob Linguistik Poetik umfasse oder umgekehrt. Obwohl die Beantwortung dieser Frage eine reine Deflnitionssache ist, die auf die ihr vorangehende Festlegung des Abweichungsverhältnisses zwischen Alltagssprache und poetischer Sprache aufbaut, hat die Problematisierung der verschiedenen Positionen einen für die Analyse der Sprache in "Lust" wesentlichen heuristischen Wert.95 Bereits in den Buchtiteln von einigen prominenten Sprachanalytikem»® tut sich die eine der zwei Auffassungstendenzen von der Abweichungsrelation kund. Die Nennungsreihenfolge 1. Linguistik und 2. Poetik soll sinnfällig machen, daß Dichtung als Sprache 92 93 ^ 95
Sowinski: TexÜinguistik. 1983, S. 125 und Amn. 113, S. 156. Kloepfer: Poetik und Unguistik. 1975, S. 62. Ebenda. Vgl. Kloepfer: Poetik und Unguistik. 1975, S. 32. Vgl. Roman Jakobson: Linguistik und Poetik. (1960) In: Jens Uwe (Hisg.): Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perepektiven. Bd.IL Frankfiirt a. Main 1971, S. 142-178; Algirdas J. Greimas: Die strukturale Linguistik und die Poetik. (1967) In: Jens Ihwe (Hrsg.): Literaturwissenschaft und Linguistik. Bd.II. 1971, S. 472-483.
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nicht eigenständiger Forschungsgegenstand ist, sondern in den eigentlichen Bereich der Linguistik fällt: Poetik sei Teilgebiet der Linguistik.97 Richtungsweisend "für die avanciertesten Positionen"'« im Bereich der linguistischen Poetik wurde die generative Poetik Manfred Bierwischs. A n den taxonomischen Prämissen seit Ferdinand de Saussure orientiert, ist für ihn Literatur nicht 'langue', sondern 'parole'. Diese Taxonomie impliziert: D a poetischer Sprachgebrauch von sprachlichen Normen abweicht, sind poetische Strukturen von den primären sprachlichen
abhängig
und
ihnen
gegenüber
"sekundär"
oder
"parsitär".®« Daß die Norm-Abweichungs-Hypothese allerdings jeder empirischen Grundlage entbehrt, beweist schon ein vergleichender Blick auf Alltags- und poetische Sprache: Alliteration, Assonanz, Reim und andere Klangspiele, Wiederholung gleicher Silbenquantitäten, regelmäßige Verteilung von Akzenten und Repetition gleicher Satzbaumuster, eine besondere Wortwahl, Metaphern, Metonymien, Viedeutigkeit und Funktionalität sind Merkmale der alltäglichen Sprache ebenso wie der Uteratur [...]."»
Vgl. Kloepfer: Poetik und Unguistik. 1975, S. 27. 9« Ebenda S. 74. 99 Manfred Bietwisch: Poetik und Linguistik. In: Helmut Kreuzer / Rul Gunzenhäuser (Hrsg.): Mathematik und Wchtung. München 41971, S. 49-68; hier S. 49 ff; vgl. auch Kloepfer: Poetik und Unguistik. 1975, S. 75-79. Bietwisch: Poetik und Linguistik. '•1971, S. 15. Das Pioblem der Devianz ist auf dieser Ebene mit dem Verweis auf die Einstellung des Lesers lösbar: Ein Schüler kann anhand von Literatur Grammatikregeln erlernen, Literatur kann als Wiederspiegelung sozialer und politischer Wirklichkeit studiert werden. Die Frage, die sich aus der Bestimmung poetischer Sprache als Abweichung von der Norm ergibt und die eine verbindliche Bestimmung der Norm voraussetzt, ist beantwortet, weim man Norm durch Erwartungsnoim ersetzt (etienda S. 16.). Denn "die Erwartungen und Einstellungen sind nur in geiingem MaBe individuell; sie werden mehrheitlich durch den sozialen Kontext festgelegt" (S. 16) und durch die Paratexte eines literarischen Textes abgerufen. Scheint der Begriff der Erwartungsnorm auch das Problem der Devianzdiskussion zu neutralisieien, so führt er doch von der Bestimmung poetischer Sprache weg zu außersprachlichen Faktoren der Textrezeption. Vgl. auch Anderegg: Stildefinition und Wissenschaftsparadigma. 1977, S. 74.
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Die Dichotomisierung, die also eine Alternative aufbaut, die der Wirklichkeit nicht entspricht, loi zieht eine Reihe unproduktiver Konsequenzen nach sich, die mit denen einer idealistischen Ästhetik ä la Schelling viel gemein haben. 102 Die erste Konsequenz geht aus der Annahme hervor, daß die poetische Sprachkompetenz eines Sprechers nur auf seiner perfekten normalsprachlichen Kompetenz aufbauen kann; somit ist es Ausnahmemenschen vorbehalten, poetische Kompetenz zu entfalten. Den Stilisierungen Genie vs Durchschnittsmensch fugt sich dann zweitens die Auffassung von der Autonomie der Kunst: dadurch, daß der Künstler als Genie seine außergewöhnliche poetische Kompetenz sogar zu seinem Beruf machen kann und macht, der Konsum seiner Produkte allerdings in die Mußestunden der Freizeit fällt, wird Dichtung "von Anfang an von der sonstigen Lebenspraxis getrennt, "lo^ Übrig bleibt drittens für die Einstellung zu Dichtung, respektive zur poetischen Sprache, daß der Sprachkünstler schöpferisch aktiv ist, während der Konsument poetischer Sprache vor dieser in passiver Genüßlichkeit verharrt. Viertens bedeutet die "Definition der poetischen Sprache als abweichende okurrente Sprache" den Ausschluß solcher literarischer Texte, die großteils auf den Gebrauch 'poetischer Sprache' verzichten.ios Eng an der Dichotomisierung von Alltags- und poetischer Sprache orientierte linguistische Konzeptionen sind ungeeignet, das Poetische eines Textes, insbesondere das in "Lust" zu erfassen. Die vierte Konsequenz gibt einen Hinweis darauf, weshalb man sich bei der Erfassung des Jelinekschen Sprachgebrauchs bislang so schwer getan hat. Durchsetzt von rüdem Vokabular und umgangssprachlichen Wendungen ziehen ihre Texte das taxonomische Denken "in der geistesgeschichtlichen Tradition von Descartes, Port Royal und Herder" in
Um dies zu beweisen haben Kloepfer und Hanne Landbeck sich kürzlich einem Teil der alltäglichen Kommunikationsituationen zugewandt und die "Ästhetik der Werbung" untersucht. Kloepfer / Landbeck: Ästhetik der Werbung. Der Femsehspot in Europa als Symptom neuer Macht. Frankfurt a. Main ^1991. Vgl. Peter Bürger: Zur Kritik der idealistischen Ästhetik. Frankfiiit a. Main 21990, S. 21 f. Kloepfer: Poetik und Linguistik. 1975, S. 32. Steets: Prosawerke Ödön von Horväths. 1975, S. 10. 105 Vgl. Renate Lachmann: Zum Umgang mit Texten - Linguistischer Reduktionismus und modellierende Praxis. In: Jürgen Kolbe (Hrsg.): Neue Ansichten einer künftigen Germanistik. München 1973, S. 219-225; hier S. 222.
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Frageiioß Die Poetizität, die man ihnen absprechen müßte, besitzen sie gerade in hohem Maße."" Einen Ausweg aus dieser schizophrenen Beurteilungslage bieten auch nicht Beobachtungen, die die 'hohe Literatur' in Jelineks Texten an den literarischen Zitaten,lo» den 'niederen Diskurs' an den Passagen, die von Geschlechtsakten handeln, vom "Sex im Volksmund der Deutschen"«» geprägt sind und vom Unterweltsjargon, festzumachen suchen. Es ist aufschlußreich, daß gerade der leidenschaftlichste Erforscher der sexuellen Umgangssprache, Emest Bomemann, auf das irreführende Devianzdenken zu sprechen kommt. Vehement spricht er gegen den "Grundirrtum des bürgerlichen Denkens" an, "daß die Schreibsprache der Dichter ipso facto wertvoller sei als die Sprechsprache der 'Ungebildeten'", denn: "die Beweglichkeit der Umgangssprache, ihre Unabhängigkeit von Regeln und Modellen ermöglicht Gedankensprünge und Abkürzungen des Denkweges", die "Nachtsprache" ist "aktiv", "schöpferisch"."« Bomemann äußert "die Hoffnung", daß sein Wörterbuch des 'unsittlichen' Vokabulars unseres Volkes das Denkveimögen der Intellektuellen, die Schreibsprache der Dichter und vor allem den Dialog deijenigen beflügeln möge, die die Kunst der Konversation nicht als Überbleibsel des 18. Jahrhunderts, als Spielzeug einer von produktiver Arbeit freigestellten Minderheit betrachten, sondern als beste und bleibende Unterhaltung des Menschen. Möge diese Kunst auch das Leben künftiger Kulturen lebenswert machen.
Man mißversteht Bomemann, wollte man seine mit Emphase vorgetragene "Hoffnung" als Plädoyer für die Benutzung "unsittlichen Vokabulars" auffassen. Was er meint ist die Kreativität der Spracherzeugung, die Semiosefähigkeit oder, wie de Saussure sagt, die "faculte de 106 Ebenso wie Jelinek den cartesianischen Sulqektbegriff aufgegeben hat, die Dichotomie Ich und Welt problematisiert und ihr einen Realitätsbezug abspricht, indem sie sie durch das Scheitern Gertis an der Welt ad absuidum fiihrt (vgl. II. 1.2), ebensowenig weist die Dichotomie Alltagssprache vs poetische Sprache die Frage nach dem Stil in "Lust" in eine aufschlußreiche Richtung. "Lust" wird ein "Niveau" bescheinigt, "an das die meisten Gegenwartsautoren nicht entfernt heranreichen"; Klaus-Peter Philippi in: Rheinischer Merkur. 12. Mai 1989. Zitiert nach Fachdienst Germanistik 7 (1989), Juli, S. 17. 108 Siehe dazu den Hölderlin-Exkurs in B.IV. 1.2.1. 109 Emest Bomemann: Sex im Volksmund. Der obszöne Wortschatz der Deutschen. (1971). Reinbek bei Hamburg ^1991. 110 Bomemann: Über die sexuelle Umgangssprache. (Einführung zum Wörterbuch). In: Ders: Sex im Volksmund. ^1991, o.S.
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langage"iii des Menschen, die er mehr in der gesprochenen Unterweltssprache als in der dichterischen Schriftsprache aufspürt und die gerade für die Sprachanalyse in "Lust" eine andere Sprachauffassung nahelegt als die, daß poetische Sprache von Alltagssprache abweicht. Vor dem Hintergrund dieser Einstellungsänderung gewinnen nicht nur die als 'müde'nz und 'unpoetisch' bezeichneten Kalauer, sondern auch die 'dirty words' in "Lust" als "poetisches V o l k s v e r m ö g e n " a n Interesse. Zurück zur Diskussion des Verhältnisses von Linguistik und Poetik, dem theoretischen Bezugsrahmen für die Beantwortung der Frage, welche Rolle lingistisches Instrumentarium für die Analyse der 'Art der Handlungsdurchführung' zu spielen hat: Wenn also - so legt es die Ablehnung des Devianzdenkens nahe - Poetik nicht Teilgebiet der Linguistik ist, dann ist die Linguistik vielleicht Teilgebiet der Poetik ein Umkehrschluß, der schwierig zu denken, den zu denken aber aufschlußreich ist. Anstrengungen in diese Richtung unternimmt Eugenio Coseriu. Seiner Meinung nach "erscheinen alle Zeichenrelationen und die entsprechenden Evokationen in der dichterischen Sprache" "in voller Aktualisierung".II"* Die dichterische Sprache als die Sprache schlechthin bleibt demnach nicht mehr lediglich auf eine 'poetische' Funktion - was immer das auch istii^ - reduziert, sondern wird zum "Ort der funktionellen Vollkommenheit"« der Sprache."i" In Antithese zur Devianzauffassung wird Alltagssprache zur Abweichung von dichterisch gebrauchter Sprache. Gemäß dieser Devianzauffassung mit umgekehrten Vorzeichen umfaßte Poetik Linguistik; die Linguistik, die sich demnach mit den 'Orten der funktionellen Unvollkommenheit der Sprache' beschäftigte, hätte sich immer am Rahmen des potentiell Möglichen, den die Poetik erforschte, zu orientieren. In eine ähnliche Richtung wie Coserius Ansatz weist derjenige der bulgarischen Linguistin Julia Kristeva, insofern sie sich auf den Pro111 Zitiert nach Kloepfen Poetik und Linguistik. 1975, S. 30. 112 Schlaffen Ist alle Liebe nur Gewalt? 1989, S. 206. 115 Kloepfer: Poetik und Unguistik. 1975, S. 17. II-* Cosieriu: Textlinguistik. 1981, S. 110; bereits in: Ders.: Thesen zum Thema 'Sprache und Dichning'. In: Wolf-Dieter Stempel (Hrsg.): Beiträge zur Textlinguistik. München 1971, S. 183-188; hier S. 185. ii^Siehe dazu weiter unten, S. 209, Stichwort "Poesie-Effekt". 11® Siehe dazu S. 207 u. Anm. 141, Stichwort 'Polyfunktionalität". 11' Coseriu: Textlinguistik. 1981, S. 110.
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duktionsprozeß der Zeichen konzentriert. Im Zuge ihrer Betonung des "subjektiv-psychologisch motivierten Entstehungsprozesses des Textes" gegenüber dem "Text in seiner Gesamtheit" n« kommt sie über Denkoperationen, die eng an Freud und der französischen Psychoanalyse orientiert sind,ii' zu dem Schluß, daß das Subjekt in der poetischen Sprache durch Reaktivierung präödipaler Sprachmuster die Totalität des sprachlichen Kode verwirklichen kann. Ignoriert man den im Detail abenteuerlichen Rekurs Kristevas auf die Psychoanalyse, so enthüllt sich doch in ihrer Perspektive - und das ist entscheidend - die literarische Praxis als Entfaltung und Entdeckung der Möglichkeiten von Sprache. 120 Während Coseriu in Anlehnung an Hamann "Poesie" als "Muttersprache des menschlichen Geschlechts", als "Verwirklichung aller sprachlichen Möglichkeiten"!^! auffaßt und somit die monolithische Sprachkonzeption Bierwischs und anderer mit umgekehrten Vorzeichen vertritt, eröffnet Kristevas "Einsicht, daß die Poetik primär etwas mit dem Werden von Sprachzeichen und -systemen zu tun hat",122 neue Aspekte für eine Theorie poetischer Sprache und für die Klärung des Verhältnisses von Linguistik und Poetik: Beide sind "zwei Aspekte einer Sache",i23 beide haben es mit der Semiosefähigkeit des Menschen zu tun. Die Linguistik untersucht die Ergebnisse dieser Fähigkeit, die Poetik den Prozeß "der Bildung von neuen Zeichen und Zeichensystemen. "124 Für eine Poetik, "die das Poetische als eine Form der Entfaltung der allen Menschen gegebenen Semiosefähigkeit"i25 darstellen will, sind die auf taxonomischen Prämissen aufbauenden linguistisch-generativen Poetiken untauglich. Neben der abzulehnenden Devianzauffas-
118 Manfred Hardt: Julia Kristeva. In: Wolf-Dieter Lange (Hrsg.): Französische Literaturicritik in Einzeldarstellungen. Stuttgart 1975, S. 309-325; hier S. 322. 119 Dies V. a. in ihrer HabiliUtionsschrift von 1973, auf die sich Hardt (Anm. 118) bezieht: J. Kristeva: La Evolution du langage po6tique. L'avant-garde ä la fin du XIX® sifecle. Lautr^amont et Mallarmi. Paris 1974. 120 Kloepfen Poetik und Linguistik. 1975, S. 30, der sich auf Kristevas Buch: 86m^iotik^. Recherches pour une s£manalyse. Paris 1969 bezieht. 121 Kloepfer: Poetik und Unguistik. 1975, S. 29. 122 Ebenda S. 30. 123 Ebenda. 124 Ebenda. 125 Ebenda S. 32.
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sung von poetischer Sprache und ihrer Implikationen können sie den Verfahren, über die sich die Semiosefähigkeit artikuliert, in zweifacher Weise nicht Rechnung tragen: Zum einen ist ihnen dadurch, daß sie die literarischen Operationen nacheinander schichtenweise generiereni26 und so die Interdependenz der Ebenen voneinander nicht erfassen, der Weg zu diesen Verfahren prinzipiell versperrt: Die verschiedenen Verfahren bilden [...] in einem Text eine Einheit, die nur in der gleichzeitigen Betrachtung aller Ebenen und ihres Zusammenhangs deutlich wird.iZ''
Auf der anderen Seite befragt der taxonomische Ansatz die "Systemelemente" nicht auf ihre charakteristische Verwendung in eben diesem System - dem Text -, und auch nicht auf ihre Funktionen, die ihnen mit den aus ihnen hervorgehenden Verfahren zukommen. [...] die linguistische Poetik kann immer nur bestimmte (sprachliche) Erscheinungen eines gegebenen Textes [...] registrieren, sie kann aber nicht den Nachweis erbringen, daB es sich dabei tatsächlich um eine spezifische 'poetische' Sprachverwendung handelt [...]. Das 'Poetische' ist demnach linguistisch nicht nachweisbar.!
Eine Poetik, die die spezifische Funktion poetischer Verfahren in der "Bildung neuer Zeichen- und Zeichensysteme" sieht, kann sich so ist zusammenfassend festzuhalten - für die Beschreibung dieser Verfahren als auch für die Bestimmung ihrer zu differenzierenden Erweiterungs-, Emeuerungs-, Verbesserungsfunktioneni^» der Linguistik als Grundlagenwissenschaft bedienen. Als Grundlagenwissenschaft geht die Linguistik bereits ein in die sprechhandlungsorientierte Stilistik; hier bildet - wie der Name schon sagt - die Sprechakttheorie den theoretischen Rahmen, innerhalb dessen nach den poetischen Verfah-
Den generativen Poetiken geht es um die Aufstellung einer endlichen Zahl von Klassen. Während hinter ihnen "das Konzept der Einheit einer Sprache als System steht", steht hinter einer 'semiotischen' Stilistik "das Konzept der Einheit eines Textes als sprachlicher Prozeß." Kloepfer / Oomen: Sprachliche Konstituenten. 1970, S. 205. Kloepfer: Poetik und Linguistik. 1975, S. 72-78. 128 Jens Ihwe: Kompetenz und Performanz in der Literaturtheorie. In: Text, Bedeutung, Ästhetik. Hg. v. Siegfried J. Schmidt. München 1970, S. 136-151; hier S. 139. 129 Vgl. Kloepfer: Poetik und Unguistik. 1975, S. 73 und 136. 214
ren und ihrer Funktion, oder - um in der Terminologie zu bleiben nach der stilistischen Struktur und ihren funktionellen Pendants, stilistischer Sinn (Illokution und illokutionärer Effekt), gefragt werden kann. Die handlungstheoretische Stilauffassung ist gerade im Hinblick auf die Erfassung der Semiosefähigkeit, die sich in der Art und Weise des Sprachgebrauchs niederschlägt, bedeutsam: Etwas 'Neues' bekommt nur vor einem kontextuellen Hintergrund Kontur. Dadurch, daß die sprechakttheoretische Stilauffassung nach der besonderen kontextuellen Konstellation im Text fragt, wird das Neue der Zeichen verständlich; dieses Neue kommt beispielsweise über die "Deautomatisierung" automatisierter Zeichenprozesse, die Reduktion der "Erwartungswahrscheinlichkeit" und die "Aktualisierung" der deautomatisierten Zeichenprozesse zur Geltung.i^o Insofern also als "die Frage nach der Sprache als Mittel der Kommunikation [...] nicht getrennt werden [kann] von der Frage, wodurch der Text als Handlung seine Wirksamkeit bekommt",i3i geht die Linguistik in die Poetik als Grundlagenwissenschaft ein. Die Poetik untersucht die "Gesetze der Spracherweiterung, -emeuerung, -gewinnung" ihr Teilgebiet ist die Stilistik. Es bleibt zu fragen, worin denn das Poetische eines Textes, das linguistisch nicht nachweisbar ist, überhaupt besteht. Was macht das Poetische eines poetischen Textes aus, wie unterscheiden sich etwa "Abzählreime, Werbetexte, Propagandaslogans, Zaubersprüche und liturgische Texte"i33 von Texten, die die Literaturwissenschaft erforscht? Wie ist also die Poetizität eines literarischen Textes zu bestimmen, die nicht mit dem poetischen Gebrauch von Sprache gleichgesetzt werden darf? Da die Poetizität kein Merkmal einer bestimmten Sprachschicht ist, scheint sie ein Merkmal spezifischer Textkonstitution zu sein."4 Als eines der grundlegendsten Organisationsprinzipien einer künstlerischen Textstruktur gilt seit Jakobson das Prinzip der Äquivalenz, das für die Kohärenz eines Textes verbürgt. Die Rekurrenz 130 Ebenda S. 48 f. 131 Ebenda S. 144. 132 Kloepfer: Poetik und Linguistik. 1975, S. 136. 133 Kloepfer / Oomen: Sprachliche Konstituenten. 1970, S. 208. 13-» Kloepfer / Oomen: "Poetische Sprache" oder "Poetische Texte"? In: Jahrbuch für Internationale Germanistik. II (1970) 1, S. 133-143; hier S. 135. 135 Jakobson: Linguistik und Poetik. 1960, S. 153.
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äquivalenter oder ähnlicher Formen, auch Parallelismus genaimt, ist jedoch - wenn auch eine notwendige - keine zureichende Voraussetzung für Poetizität. Denn auch die aufgezählten nicht-poetischen Texte zeichnen sich durch Parallelismen als Textkonstituenten auf der Ebene sekundärer Strukturierung aus: "eine Litanei ohne Parallelismus gibt es nicht. "136 Ein weiteres Merkmal der Poetizität wird in der Komplexität gesehen.i''' Äquivalente Formen können auf den verschiedensten Ebenen eines Textes wirksam werden. Das Spektrum der Äquivalenzrelationen reicht von denen primär semantischer Natur bis zu den sog. "sekundären Äquivalenzrelationen",i^« die die komplexe und dichte Strukturierung eines Textes ausmachen. Man könnte annehmen: Je mehr Äquivalenzrelationen in einem Text wirksam werden und je komplexer seine Textstruktur, desto dichter seine Kohärenz und desto stärker seine Poetizität. Jedoch spielen starke Äquivalenzrelationen auch in juristischen, sakralen und Werbetexten eine wichtige Rolle, weil sie so "mit relativ großer Genauigkeit in das Langzeitgedächtnis überfuhrt werden" können.i^' Im Extrem können die sekundären Äquivalenzrelationen "die Mittel primärer Textkonstitution e r s e t z e n " , s o daß also an die Stelle sachlicher sprachliche Zusammenhänge treten. Jakobson sah darin die "Einstellung auf die Nachricht als solche, die Zentrierung auf die Nachricht um ihrer selbst willen" i"» und hierin wiederum die poetische Funktion der Sprache schlechthin. Doch auch die "Verweigerung von darstellender, informativer, einordbarer, referentieller, sprachlicher Bedeutung" ist auf die Kommunikation von "Sinn" aus.itz Jakobsons 136 Kloepfer / Oomen: Sprachliche Konstituenten. 1970, S. 208. 137 Vgl. Klaus Baumgärtner: Formale Erklärung poetischer Texte. In: Kreuzer / Gunzenhäuser (Hrsg.): Mathematik und Dichtung, S. 67-84. 138 Kloepfen Poetik und Unguistik. 1975, S. 61. 139 Ebenda S. 84. i-W Ebenda S. 61. i'»i Jakobson: Linguistik und Poetik. 1960, S. 151; vgl. dazu auch Kloepfer: Poetik und Linguistik. 1975, S. 44. Kloepfer: Das Theater der Sinn-Eifiillung: Double and Paradise vom Serapionstheater (Wien) als Beispiel einer totalen Inszenierung. In: Edith FischerLichte (Hrsg.): Das E>rama und seine Inszenierung. Tübingen 1984, S. 199-218; hier S. 200; vgl. auch Kloepfer / Oomen: Sprachliche Konstituenten. 1970, S. 211. 'Selbstbezüglichkeit' im Jakobsonschen Sinne ist gleichbedeutend mit 'Entpragmatisierung'. Entpragmatisierung richtet sich aber auf vertraute Nonnen,
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"poetische Funktion" läßt zwar das Zeichen selbt auffallen, was aber nicht bedeutet, "daß das Zeichen nun als Ganzes nicht mehr über sich selbt hinaus verweise",!''^ oder anders ausgedrückt: Die Deautomatisierung der monofunktionalisierenden Automatisation,!''^ die die Polyfunktionalität des Zeichens wiederherstellt"^ und somit für dessen Ambiguität sorgt, rechnet mit ihrer Aktualisierung durch den Rezipienten. Diese erfolgt immer dann, "wenn der Rezipient nicht die gestörte Kommunikation übergeht",i"*® deutlicher: der stilistische Sinn ist auf die "Sympraxis",!''^ das "zeichengelenkte Mitmachen"''*® des Rezipienten hin angelegt. Das Ausmaß der vom Leser abverlangten Sympraxis ist stil-strukturell bedingt. Sympraxis ist also die Stilisierung dessen, was man in der Alltagskommunikation 'Zuhören' nennt, ein aktives Zuhören allerdings, das über die spezifische Aktivierung der Semiosefähigkeit den Leser genau das hören läßt, was es zu hören gilt. Die Probleme, die sich bei der Aktualisation der illokutionären Absicht eines Erzählers auftun, liegen demzufolge nicht beim Text selber: lexikologisch besehen werden die Zeichen in einem Text nur polyfunktionalisiert, um ihre damit einhergehende vorübergehende Polyvalenz zu einer 'neuen' Zeichenrealität umfunktionieren zu können, und gerade diese Veninsicheiung durch in-Frage-Stellung eines Konsens regt den Leser in bestimmten Hinsichten an. Gerade die Entpragmatisierung stellt eine intensive Verbindung zum Leser her. Siehe dazu im folgenden. 1« Kloepfer: Poetik und Unguistik. 1975, S. 45. Der Begriff bezeichnet seit dem russischen Formalismus das "Phänomen unmittelbarer Zuordnung eines Zeichens [...] zu einem bestimmten Sinn", ein Vorgang, der im alltäglichen Sprachgebrauch eine wesentliche Rolle spielt; Kloepfer: Poetik und Unguistik. 1975, S. 45. Vgl. ebenda S. 46 und S. 84. In diesem Zusammenhang hat Coseriu also Recht, wenn er von der Dichtung als dem "Ort der funktionellen Vollkommenheit der Sprache" spricht; Coseriu: Textlinguistik. 1981, S. 110; vgl. auch S. 203. i"« Ebenda S. 47. W Erstmals in: Kloepfer: Mimesis und Sympraxis: Zeichengesteuertes Mitmachen im erzählerischen Werbespot. In: Kloepfer / Klaus-Dieter Möller (Hrsg.): NarrativiUt in den Medien. MANA / MAKS 4, S. 141-181. Kloepfer meint hier noch, "Sympraxis als Terminus nach dem entsprechenden griechischen Verb erfunden zu haben. Inzwischen ist jedoch [...] klar, daß ihn bereits Novalis genau in dem intendierten Sinn gebraucht [...]." Kloepfer / Landbeck: Ästhetik der Werbung. 1991, Anm. 37, S. 257. Kloepfer: Mimetische Inkohärenz und sympraktische Kohärenz in moderner Dichtung. In: Janos S. Petöfi / Terry Olivi (Hrsg.): Von der verbalen Konstitution zur symbolischen Bedeutung - Fiom verbal Constitution to symbolic meaning. Hamburg 1988, S. 278-298; hier S. 283.
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und nicht, um einen Text zum Rohstoff für Leserphantasien zu machen; polyvalente Zeichen fügen sich zu einem neuen, monovalenten Zeichen! Die Probleme mit einem 'ambivalenten' Zeichen liegen im Umgang mit dem intuitiv Verstandenen, ein Umgang, der - wie sich im Laufe der Textanalyse zeigen wird - an ein bestimmtes Selbstverständnis des Lesers gekoppelt ist. Zur Illokution eines literarischen Textes als dem Ergebnis einer bestimmten 'Art der Handlungsdurchführung' trägt der Leser bei, wenn er sich dem "zeichengesteuerten Tun" anheimgibt. Übergeht der Leser aber die durch die spezielle Art der Zeichenverwendung gestörte 'normale' Kommunikation, so ist die Handlungsfolge (Perlokution i.w.S.), die sich auf alles, nur nicht auf die Illokution des Textes bezieht, ein perlokutiver Akt; der perlokutive Akt ist die Reaktion eines Schein-Lesers, der durch die Verweigerung der Sympraxis oder durch ihre nachträgliche Leugnung die illokutionären Absichten nicht erkennt und so der Illokution nicht entprechen kann.!"»' Das zeichengelenkte Tun wird beispielsweise verweigert, wenn der Leser sich vom Ausmaß des ihm abverlangten Tuns überfordert fühlt, weil ihm die Art der Handlungsdurchführung nicht paßt, er keinen Sinn für die stilistischen, sozialen Sinne entwickelt und er infolgedessen die Kommunikation mit dem Erzähler unterbricht, weiterlesend 'abschaltet', nicht mehr 'zuhört', kommuniziert oder im Extremfall das Buch zur Seite legt. Mukafovsky hat dementsprechend nicht recht, wenn er sagt, "daß [der Leser] gemeinsam mit dem Autor das Werk schafft, indem er es akzeptiert oder ablehnt und seinem Sinn endgültige Gestalt verleiht" .i'o Dem Sinn eines literarischen Textes wird bereits über Sympraxis zu seiner endgültigen Gestalt verholfen. Die endgültige Gestalt des Sinns hat nichts mit Akzeptanz oder Ablehnung zu tun. Der Sinn eines Textes bestimmt die Illokution, den Handlungscharakter; Akzeptanz oder Ablehnung sind im Zuge der Perlokution als Handlungsfolgen aufzufassen, als individuelle Leserreaktionen auf den Akt des Lesens.
Um ausfindig zu machen, ob ein Leser das über die Sympraxis Erlebte und Verstandene leugnet oder parodiert, gilt es zu untersuchen, ob sich ein Text absichert oder gar versichert gegen den Verfall von Vertehensvoraussetzungen. Siehe dazu B.IV. 1.2.1 (Hölderlin-Exkurs), 1.2.2 D) und 1.4.1. Zitiert nach Hans Günther: Grundbegriffe der Rezeptions- und Wirkungsanalyse im tschechischen Strukturalismus. In: Poetica 4 (1971), S. 224-243; hier S. 240.
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Sympraxis, die die durch die stilistische Textstruktur geweckten Vermögen des Lesers und seine Leistung während der Kommunikation umfaßt, beruht auf suggestiver Wirkung. Der Grad suggestiver Wirkung korreliert mit der Proportionalität zwischen Inkohärenz auf der Ebene primärer Textkonstitution und Kohärenz auf der Ebene sekundärer Textkonstitution; diese Proportionalität stellt sich, pointiert formuliert, folgendermaßen dar: "Je inkohärenter [ein] Text in einer ihm vertrauten Hinsicht, desto konsequenter können Zusammenhänge in einer anderen Hinsicht aufgebaut werden und wirken, ohne daß er [sc. der Leser] sich dessen bewußt wird";i5i je inkohärenter ein Text in mimetischer Hinsicht, desto stärker sein suggestives Potential, desto ausgeprägter seine S y m p r a x i s , desto intensiver die illokutionären Effekte, desto größer dann auch die Wahrscheinlichkeit nicht intendierter Lektüreeffekte (perlokutive Akte), desto intensiver aber gerade auch - und darauf kommt es an - die stilistische Perlokution. Komplexe Verfahren der Textkonstitution, die die Verweisfunktion der Sprache auf immer größere Einheiten verlagem,i53 zentrieren also die Nachricht nicht um ihrer selbst willen, sondern stehen im Dienst einer suggestiven Wirkungsabsicht, die den Leser zum zeichengelenkten Tun stimulieren will. Komplexe Textstrukturen werden vom Leser nicht bewußt wahrgenommen und so auf eine vom Bewußtsein nicht kontrollierte Weise apperzipiert.i54 Doch auch die auf den Empfänger zu einem bestimmten Zweck intendierte Suggestion ist kein spezifisches Merkmal von Poetizität. Abzählreime, Werbetexte, Wahlreden, liturgische Texte wollen den Kommunikationspartner in seiner jeweils spezifischen Funktion ansprechen als Mitspieler, Verbraucher, Wähler, als Gläubigen einer bestimmten Religion.i^^ Für sich genommen sind also Äquivalenzprinzip, Komplexität, Ambiguität und suggestive Wirkung als Merkmale poetischer Text-
151 Kloepfer / Oomen: Sprachliche Konstituenten. 1970, S. 210. 152 Kloepfer Mimetische Inkohärenz. 1988, S. 279: Inkohärenz ist "ein 'organisierendes' Verfahren: Es regt das Begehiungsvermögen (z. B. nach Ganzheit) an, wie kalte Duschen den Kreislauf." Zu "Sympraxis" siehe ausführlicher B.IV. 1.4.1. 153 Kloepfer / Oomen: Sprachliche Konstituenten. 1970, S. 211. 154 Ebenda. 155 Kloepfer / Oomen: Poetische Sprache. 1970, S. 139; dies.: Sprachliche Konstituenten. 1970, S. 209.
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konstitution zwar "Elemente der Poetizität von Texten",i^fi jedoch keine Kriterien für eine spezifische Poetizität von literarischen Texten. Die genannten, zum Vergleich zwischen poetischer und nicht-poetischer Textkonstitution herangezogenen Texte unterscheiden sich bezüglich eines Mehr oder Weniger an Poetizität nicht grundsätzlich; zwischen ihnen gibt es "hinsichtlich der poetischen Technik keinen qualitativen Sprung".!" Lediglich die Publikationsform, Ort und Medium, und mit ihr das Inkrafttreten bestimmter Erwartungskonventionen bleibt als unterscheidendes außersprachliches, nicht-semantisches und nicht-syntaktisches Merkmal übrig, i^« Das Bemühen um die Unterscheidung von poetischen und nicht-poetischen Texten dreht sich also nicht "um eine Unterscheidung per se", sondern gewinnt an dem "Poesie-Effekt" 159 seinen Maßstab, für den die Publikationsform zusammen mit den spezifischen Formen der Textkonstitution, deren jeweiliger Komplexitätsstufe und deren Amalgamierung ausschlaggebend sind. "Die Untersuchung der Textkonstitution wird damit zu einem notwendigen, ganz praktischen und ersten Schritt der Interpretation"i6o, der die Voraussetzung dafür schafft, alle Merkmale der Poetizität eines Einzeltextes zu beschreiben und funktional zu interpretieren. Der Aufweis der Poetizität eines literarischen Textes geht aber "weit über den Aufweis der eigentlichen Textkonstitution hinaus".i®i Mit den hier aufgezeigten semiotischen Voraussetzungen - das Poetische als Manifestation der Semiosefähigkeit des Menschen, Poetizität als durch komplexe Verfahren der Textkonstitution bewirkter Poesie-Effekt, Suggestion zum Zweck der Involvierung der Vermitt156 Kloepfer/ Oomen: Sprachliche Konstituenten. 1970, S. 211. 1 " Kloepfer Poetik und Unguistik. 1975, S. 93. 158 "Literatur (ist) die Bezeichnung für gewisse Einstellungen, die wir einem Diskursausschnitt gegenüber einnehmen, und nicht eine interne Eigenschaft des Diskursausschnitts, obwohl der Grund dafür, daß wir die jeweiligen Einstellungen einnehmen, natürlich - zumindest teilweise - eine Funktion der Diskuiseigenschaften sein wird und kein schierer Zufall." John R. Searle: Der logische Status fiktionalen Diskurses. In: Ders.: Ausdruck und Bedeutung. Untersuchungen zur Sprechakttheorie. Frankfurt a. Main. (1979) ^1990, S. 80-97; hier S. 81. Ebenso wie es keine semantische oder syntaktische Grenze gibt zwischen dem Literarischen und Nicht-Literarischen, gibt es auch keine semantische oder syntaktische Grenze zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion. Vgl. dazu B.1V. 1.4.2. 159 Kloepfer / Oomen: Poetische Sprache. 1970, S. 141. 160 Ebenda S. 143. 161 Ebenda S. 142.
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lung eines Zeichens durch einen Interpretanten, d.h. durch die Handlung eines Organismusi«^ - soll nun der Stil als Art der Handlungsdurchführung in den Blick gerückt und begrifflich zugänglich gemacht werden. Zur systematischen Vororientierung: In 1.2 steht zunächst der Text als Artefakt, seine strukturell bestimmbare poetische Organisation, die stilistische Textstruktur im Mittelpunkt des Interesses. D i e Untersuchung der Textkonstitution als die Untersuchung der in einem Text dominierenden Verfahren und Prinzipieni®^ ist Grundlage für die Erfassung des individuellen stilistischen Sinns eines poetischen Textes. Im linearen Durchgang durch den Text, der dem Prozeß der Lektüre folgt, werden zunächst die auf allen drei Ebenen eingesetzten Stilelemente beschrieben, mit Hilfe rhetorischer und stilistischer Begriffe 162 Nach Charles S. Peirce besteht die Zeichentelation aus drei Korrelaten, dem Representamen, dem Objekt und dem Interpretanten. Die Beziehung zwischen Representamen CSignifikant') und Objekt ('Signifikat') ist klar definiert: sie kann entweder Ikon, Index oder Symbol sein. Das dritte Korrelat dagegen, der Interpretant, wird einmal als "interpretierendes Bewußtsein", ein andermal als "Bedeutung" oder auch "Inteipretationsfeld" aufgefaßt. Als Synthese dieser Definitionen wird hier unter Interpretant' "der Bedeutungsbereich des Zeichens" verstanden, der "selbst aus Zeichen, Erfahrungen oder Empfindungen konstituiert wird". Elisabeth Walther: Semiotische Analyse. In: Kreuzer / Gunzenhäuser (Hrsg.): Mathematik und Dichtung. "1971, S. 143-158; hier S. 144. Zu den Interpretanten in "Lust" siehe B.IV. 1.4. 163 Kloepfer: Poetik und Linguistik. 1975, S. 78. Während der Terminus 'Prinzipien' in der Verwendung Kloepfers übernommen werden konnte, wurde die Definition von 'Verfahren' präzisiert. Bei Kloepfer sind damit sowohl die Stilmittel gemeint als auch die den Stilmitteln übergeordneten Syteme. (Vgl. ebenda v. a. S. 116 und 141.). Hier meint der Terminus lediglich die unmittelbar den Stilmitteln übergeordneten Systeme im Sinne ihrer Funktionen. Die Unterscheidung zwischen Stilmitteln und Verfahren ist deshalb sinnvoll, weil verschiedene Stilmittel ein und demselben Verfahren dienen können. Analog zur 'Theorie des Erzählens' empfiehlt es sich die Unterscheidung in Oberflächenstruktur und Tiefenstruktur hinzuzuziehen. Die übergeordneten Systeme der Stilmittel sind die Verfahren, die die stilistische Oberflächenstruktur ausmachen. Die Oberflächenstruktur ist eine Abstraktion, die die Mittelbarkeit der Spracherzeugung für jeden Leser einschaubar macht. Die Stilmittel sind ebenso wie die Verfahren nur die Mittel zum Stil und nicht dieser selbst. Die übergeordneten Syteme der Verfahren wiederum sind die Prinzipien, die die stilistische Tiefenstruktur ausmachen. Die Tiefenstruktur ist ebenfalls eine idealisierende Abstraktion, da sie ja nicht unvermitteh gegeben ist, sondern in den Text integriert ist und ihn auf eine subtile Weise organisiert. Auf dieser Ebene ist die Frage zu klären, in welchem Zusammenhang die Verfahren mit den propositionalen Zusammenhängen, dem thematischen Zentrum des Textes stehen. 221
dingfest gemacht. Dabei ist auf die Kontextualisierungsleistungen einzugehen, vor deren Hintergrund sich der stilistische Sinn profiliert. Wenn es auch in 1.2 lediglich auf die Beschreibung der Stilmittel (wörtlich: die Mittel des Stils und nicht der Stil selber!) ankommt, so ist es doch unvermeidlich im Rahmen ihrer Situierung bereits auf ihren stilistischen Sinn einzugehen. In 1.2 kommen also neben den Stilmitteln als solchen gleichzeitig auch schon die Verfahren als die übergeordneten Syteme, auf die die Stilmittel ausgerichtet sind, zur Sprache. Insofern und auch im Hinblick auf die Kontextualisierungsleistungen fungiert 1.2 gewissermaßen als mikroanalytischer Pool, aus dem für die sich daran anschließenden Abschnitte abstrahierend geschöpft wird. In 1.3.1 werden so zunächst die Verfahren, mittels derer mit dem Material im Text umgegangen wird, aus dem gesamten mikroanalytischen Befund sondiert. Nachdem so die stilistische Oberflächenstruktur ermittelt worden ist, wird der Abstraktionsprozeß in Richtung auf die stilistische Tiefenstruktur vorangetrieben. Die tieferliegenden Ziele der Verfahren der Spracherzeugung - die Prinzipien des Poetischen - werden hierachisiert, wobei durch ihre Relationierung mit dem propositionalen Gehalt des Textes das dominante Strukturprinzip der Spracherzeugung ermittelt werden kann. Im Anschluß an die Analyse der Funktion der isolierten Verfahren im Hinblick auf die ihnen übergeordneten Systeme (Prinzipien) bekommt "Lust" in 1.4.1 die stilistische Illokution als den durch stilistischen Sinn und stilistische Stilwirkung zur Geltung gebrachten Handlungscharakter interpretierend zugesprochen. Hier ist aufgrund der ermittelten stilistischen Befunde festzustellen, inwiefern die Zeichenpotentialität des Textes zu einer Zeichenrealität sowohl für literarisch gebildete wie ungebildete Leser werden kann. Die Frage lautet dann: In welchem Maße gibt "Lust" Anleitungen zur Zeichenbildung? Ist "Lust" ein Lehrbuch seiner selbst? Da es die auf den Leser ausgeübte Stilwirkung ist, die von ihm wertend bedacht wird, wenn er vom 'Stil X' eines bestimmten Textes und seines Autors spricht, gestattet die sukzessive Analyse der verschiedenen Stilaspekte, bislang unreflektierte Wertungen von "Lust" zu systematisieren. Geht man davon aus, daß ein Text in allen seinen Äußerungen den Stil eines Autors spiegelt, so wäre man 'eigentlich' gezwungen, alle Textäußerungen auf ihre Mikrostruktur hin zu untersuchen und in eine
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Stilanalyse miteinzubeziehen.i®^ Dieses rein quantitative Vorgehen erbrächte jedoch nur Einzelmerkmale ohne ganzheitliche Erfassung der charakteristischen Textprägung und trüge dem Grund des Kunstwerks, wenn man es als ein 'semiologisches Faktum' versteht, überhaupt nicht Rechnung. Die Feststellung der relativen Häufigkeit und des "zahlenmäßige[n] Dominieren[s] bestimmter sprachlicher Elemente [sagt] kaum etwas über die spezielle Form und Leistung der Rede [aus]",i65 schon gar nichts über die stilistische Illokution, die nur vor dem Hintergrund eines (situativen) Kontextes, den der Text stilisiert und den es zu ermitteln gilt, 'Sinn' hat. Deshalb wird zunächst von der Beschreibung einer wichtigen Textstelle ausgegangen. Roland Barthes betont die Wichtigkeit der Erzählanfange in bezug auf die Kodierung des Themas;!®® dje Erzählanfänge enthalten auch die wesentlichen Verfahren und Prinzipien der Spracherzeugung.Auch wenn aus diesem "Ausgang aus dem Schweigen"i®®, den ein Erzählanfang bedeutet, nicht das "Thema für [die] Doktorarbeit" i®« gemacht wird, so dient die Untersuchung des "Mikrotextes",i™ den die beiden ersten Passagen des 1. Kapitels von "Lust" abgeben, und seiner " Mikrostruktur" i''! der Ermittlung wesentlicher Verfahren der Textkonstitution in "Lust". Darüber hinaus ist ein Erzählanfang gut geBernhard Sowinski: Makrostilistische und mikrostilistische Textanalyse: Thomas Manns "Luischen' als Beispiel. In: Spillner (Hrsg.): Metboden der Stilanalyse. 1984, S. 21-48; hier S. 46. Michel: Methodik 'Stiluntersuchung'. 1969, S. 22. Vgl. dagegen Eberhard Frey: Franz Kafkas Eizählstil. Eine Demonstration neuer stilanalytischer Methoden an Kafkas Erzählung "Ein HungerkünsUer". Frankfurt a. Main 1974, der u. a. die Untersuchung der zahlenmäßigen Verteilung der Stilmittel zum Thema seiner Dissertation gemacht hat. Ein statistisches Vorgehen mag zwar eine als Summe der Stilmittel definierte Textstruktur ermitteln, nicht aber die strukturelle Komplexität des gesamten Textes als Zeichen und seine Zeichenpotentialität, schon gar nicht seine Zeichenrealität. Barthes: Die strukturale Eizählanalyse. Zur Apostelgeschichte 10-11. In: Ders.: Das semiologische Abenteuer. Aus dem Franz. v. Dieter Hornig. (1963-1973) Frankfurt a. Main 1988, S. 223-250; hier S. 237. 167 Vgl. auch Kloepfer / Oomen: Sprachliche Konstituenten. 1970, S. 33 und 160: Textanfänge seien "repräsentative Beispiele" für Mikrostrukturen und "Prototyp der Makrostruktur." Barthes: Die strukturale Erzählanalyse. 1988, S. 237. 169 Ebenda. 1™ Kloepfer / Oomen: Sprachliche Konstituenten. 1970, S. 32. 171 Ebenda.
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eignet, speziell den Handlungscharakter (Illokution) zu ermitteln, da ein Erzählanfang immer an eine bestimmte, durch paratextuelle Leistungen suggerierte Handlungs-Konvention anknüpft. Anschließend an die Mikrostrukturanalyse der Passagen 1 und 2 des 1. Kapitels werden aus dem gesamten Textrepertoire weitere Stilmittel analysiert. Auch hier ist es natürlich unabdingbar, die Stilmittel im Hinblick auf ihre jeweilige Funktion (Verfahren) zu beschreiben und das heißt unter Einbezug des unmittelbaren Kontextes. Es wird sich zeigen, inwiefern diese weiteren Stilmittel lediglich nur noch Belegstellen sind für die Verfahren der Spracherzeugung, die der Erzählanfang bereits hergibt. Wenn dann in 1.3.1 die Verfahren, auf die die Stilmittel hingeordnet sind, klassifiziert werden, steht letztlich ein repräsentatives, wenn nicht gar ein exhaustives Spektrum der Verfahren der Spracherzeugung in "Lust" da. Auf diese beschreibende und analysierend-abstrahierende Rekonstruktion der stilistischen Textstruktur aus ihren mikrostrukturellen Teilsystemen und deren Konstituenten kann dann die Analyse des Prozesses der textuellen 2^ichenbildung im Hinblick auf seine kommunikative Zeichenpotentialität als Zeichenrealität und im Anschluß daran seine pragmatische und "außerästhetische / außerpoetische sigmatische (Erkenntnis-)Funktion"i^2 aufbauen.i''^ Im Zuge des hier gewählten, aus der sprechakttheoretischen Stilauffassung hervorgehenden induktiven Vorgehens wird Stil zum "'Suchbegriff für die uneindeutigen und doch sinnkonstituierenden 'Bezüge'"!^'» zwischen Sprache, innerer Ordnung des sprachlichen Kunstwerks, Lektüreerlebnis, literarischer Wirklichkeitssicht und außerliterarischer Wirklichkeit. Stil wird so zur "Spur" "einer individu-
172 Kloepfer: Poetik und Unguistik. 1975, S. 141. 'Pragmatisch' meint die Beziehung des sprachlichen Zeichen zu den es benut2£nden Menschen; 'sigmatisch' den Bezug auf Objekte der 'anerkannten Wirklichkeit' im Unterschied zu 'semantisch' als dem Bezug des sprachlichen Zeichens zu seinem propositionalen Gehalt und über diesen zu unseren Vorstellungen. Vgl. Kloepfer: Poetik und Linguistik. 1975, S. 38 und 40, der von der Begiiffsdefinition von Morris und Peirce ausgeht. Der semantische Aspekt des Prozesses der Zeichenbildung wird im Rahmen der 'Prinzipien der Spracherzeugung' (B.IV. 1.3.2), pragmatischer und mitunter sigmatischer in V. 1. systematisch erörtert. Göttsche: Stilkrise. 1990, S. 36 f. zitiert Michel: Methodik der Stilunteisuchung. 1969, S. 45.
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eilen K o m p o s i t i o n " , d i e sich in der Dialektik von individuellem Weltentwurf und individuell-kollektiver-stilistischer Leserdisposition niederschlägt. Diese Dialektik der sprachlichen Grundkräfle bezeichnete Humboldt als "ergon" und "emegeia"i7®. Sprache als "Werk" und als "Thätigkeit"!'''' wird in der sprechakttheoretischen Auffassung von Stil umfaßt: Hier bezieht sich Stil sowohl auf die Struktur (Mikrostruktur) der sprachlichen Konfigurationen als auch auf die Dynamik, die die Verfahren der Textkonstitution mit den ihnen zugrundeliegenden Prinzipien im Semioseprozeß der Lektüre entfalten. Der Stil ist als Energeia dem Werk eingeschrieben; er ist in seinen Strukturen verfestigt und organisiert das Ergon des Werks so, daß der Sinn seiner Strukturen, der Mikrostrukturen wie der Makrostruktur, durch ihn bedeutet wird."« Stil als die Eigentümlichkeit der Handlungsdurchführung erweist sich als das "Resultat einer Arbeit an den Grenzen des nicht mehr oder noch nicht Sagbaren",i™ als eine Art der Zeichenfindung und eine "eigentümliche Art, den Gegenstand aufzufassen".'«o Stil ist darüber hinaus immer "Vollzug des Stils", ist "Folge der schöpferischen Aktivität des Menschen",i«i die nur im Tun sowohl des Autors wie des Rezipienten existiert und ihren Sinn bekommt, die aber nichtsdestoweniger in ihrer Organisiertheit als Struktur, als Ergon, bestimmt werden kann.
Manfred Frank: Was heißt 'einen Text verstehen'? In: U. Nassen (Hrsg.): Texthermeneutik: Aktualität, Geschichte, Kritik. Paderborn 1979, S. 64; zitiert nach: Göttsche: Stilkrise. 1990, S. 37. Wilhelm von Humboldt: Schriften zur Sprachphilosophie. Hg. v. A. Flitner / K. Giel. Darmstadt 1%3, S. 9. Ebenda S. 20. " 8 Vgl. Göttsche: Stilkrise. 1990, S. 41. Ebenda S. 39. 180 Friedrich D. E. Schleiermacher Hermeneutik und Kritik. Mit einem Anhang sprachphilosophischer Texte Schleiermachers. Hg.v. M.Frank. Frankfurt a. Main 1977, S. 168. 181 Kvetoslav Chvatik: Mensch und Struktur. Kapitel aus der neostrukturalen Ästhetik und Poetik. Hg. v. W. Annuß / H. Siegel. Frankfurt 1987, S. 126; zitiert nach Göttsche: Stilkrise. 1990, S. 40 f.
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1.2
Stilistische Textstrukturi»^
1.2.1 Mikrotext: Erzählanfang Vorfaängeschleier spannen sich zwischen der Frau in ihrem Gehäuse und den übrigen, die auch Eigenheime und Eigenheiten besitzen. Die Armen, auch sie haben ihre Wohnsitze, in denen ihre freundlichen Gesichter zusammengefaßt sind, nur das immer gleiche scheidet sie. In dieser Lage schlafen sie ein: indem sie auf ihre Verbindungen zum Direktor hinweisen, der, atmend, ihr ewiger Vater ist. Dieser Mann, der ihnen die Wahrheit ausschenkt wie seinen Atem, so selbstverständlich regiert er, der hat gerade genug von den Frauen, dafi er mit lauter Stimme herumschreit, er brauche nur diese eine, die seine. Er ist unwissend wie die Bäume ringsum. Er ist verheiratet, das ist ein Gegengewicht zu seinen Vergnügungen. Die beiden Eheleute erröten nicht voreinander, lachen und sind und waren sich alles. (7)
So beginnt das 1. Kapitel von "Lust". Daß es sich von anderen Romananfängen unterscheidet, nimmt der unbefangene Leser wahr. Spontan empfindet er den Reiz eines poetischen Zusammenhangs, ohne daß sich dieser Zusammenhang in vertrauter Weise inhaltlich wiedergeben ließe. Spontan nimmt man einen lyrischen Ton wahr, dem eine lyrische referentielle Unbestimmtheit zu korrelieren scheint, ohne daß es sich um ein Gedicht handelte. Denn Kapitelzahl, Druckformat und vollständige Satzkonstruktionen mit Punkten und sogar Doppelpunkten sind Kontextualisierungsleistungen, die den Anfang eines Romans suggerieren, den auch der kompakte, einwortige und einsilbige Buchtitel zusammen mit der Seitenstärke verspricht. Die so geweckte Erwartung wird enttäuscht, der Text auf eine nicht vertraute Weise rezipiert und dennoch oder gerade deshalb die Gespanntheit des Lesers auf das Folgende wachgehalten. Welche Art der Handlungsdurchführung schafft diese komplexe Leserlenkung, wenn man unter Handlung hier die Eröffnung der Darstellung eines Romangeschehens, die Exposition, versteht? 182 Während der Textanalyse werden aus Grammatiken entlehnte Begriffe und mit Hilfe von Wörterbüchern ermittelte Semkomponenten nicht gekennzeichnet. Ausgegangen wurde von der Terminologie der Duden-Grammatik: Günter Drosdowski (Hrsg.): Duden. Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. Mannheim, Wien, Zürich ^1984. Für die Semkomponenten der Lexeme wurde in der Regel auf Gerhard Wahrig: Deutsches Wörterbuch. München 1986 zurückgegriffen. Auf Abweichungen von dieser Regelung wird in den Anmerkungen hingewiesen.
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Zunächst zur Textkonstitution: Starke Äquivalenzrelationen weist die erste Passage im lautlichen Bereich auf. Gleich zu Anfang drängt sich dem Gehör die Wiederholung gleicher Silben und Silbenquantität bei qualitativer Veränderung eines Wortbestandteils in "Eigenheime", "Eigenheiten" auf. Reime liegen auch in "die eine, die seine" und in "fort [...] Sport" in der zweiten Passage vor. Ebenso ungewöhnlich wie Reime in einem literarischen Text ist das Stilmittel der Assonanz, welches der ersten Passage eine durchgängige und damit dichte Strukturierung verleiht: Von "Vorhängeschleier" bis "Vater ist" dominiert die Assonanz der Vokale /ä/ und langem und kurzem /i/; ab "dieser Mann" bis "die seine" assonieren die Vokale /i, e, ä, a/. Das strukturbildende Merkmal, das den Textanfang auf phonologischer Ebene in auditiver Hinsicht auszeichnet, ist ein distinktives, das man als hell vs dunkel bezeichnen kann und das nach der hellen Seite hin eindeutig stärker ausgeprägt ist. Die Auflistung der Assonanzen bezieht sich dabei auf diejenigen Laute, die in betonter Stellung auftauchen. Das Reden von 'betonter Stellung' weist darauf hin, daß den Sätzen eine Metrik unterlegt ist, die zusammen mit dem lautlichen Äquivalenzprinzips die Sprachzeichen akzentuiert. Dabei sind vor allem zusammenhängende Versfüße auffällig, auch wenn sie häufig qualitativ alternieren: In "nür das immer gleiche scheidet sie. In dieser Lage schlafen sie ein" sorgt das vierhebige trochäische Metrum (bestehend aus jeweils einer Dipodie) für den Zusammenhang der durch Punkt getrennten Sätze; "[...], atmend, ihr ewiger Väter ist" könnte man als Abfolge zweier Daktylen mit abschließendem Trochäus und auslautender Senkung interpretieren; diese markiert eine weibliche oder klingende Zäsur, da der nachfolgende Satz wieder im trochäischen Versmaß einsetzt; "atmend" könnte allerdings auch als Spondeus (- -) aufgefaßt werden, was umso mehr naheliegt als das Partizip Präsens vom Kontext durch Kommas isoliert ist. Das Zusammenfallen von divergierendem metrischen und syntaktischen Akzent sorgt also allein schon bezüglich des Rhythmus' für eine funktionelle Belastung dieses sprachlichen Elements und damit für P o l y v a l e n z : i « 3 der Akzent, den "atmend" im Zuge der metriVgl. Kloepfer Poetik und Unguistik. 1975, S. 128. Der Begriff 'Polyvalenz' (auch 'Ambivalenz') steht - im Unterschied zum Begriff 'Polysemie' (auch 'Ambiguität') als Kategorie einer linguistischen Semantik - für eine Kategorie der semiotischen Inteipretatorik. Die Polysemie oder Ambiguität kommt durch polyfunktionale Vertextung zustande, d.h. z.B. "ein Wort in einem sprachlichen
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sehen Regelmäßigkeit erhielte, kontrastiert mit dem syntaktischen und begründet somit die Möglichkeit einer Verschieden'hörbarkeit' des Rhythmus', die - da sie zur Rhythmisierung als solche noch hinzukommt - die doppelte Deautomatisierung des Zeichens begründet. Wechsel von Daktylus und Trochäus liegt auch vor in "der ihnen die Wahrheit ausschenkt [...]" bis "die seine", wobei die Diärese vor "die seine" dieses Sprachelement zusätzlich zum Reim akzentuiert. Auch hier ist das Element wieder funktionell belastet: der Reim suggeriert Zusammenhang, der duch die Diärese gestört wird; das sprachliche Element ist somit polyfunktional, weil Lautäquivalenz und rhythmische Betonung divergieren; in der Aktualisation der lautlich-rhythmischen Disparatheit kommt Polyvalenz als irritierende Nuancierung des Gleichen zum Tragen. Rhythmisch äquivalent sind der Relativsatz "der ihnen die Wahrheit ausschenkt" und die Apposition "so selbstverständlich regiert er", wobei bei näherem Hinsehen auffällt, daß sich die Wiederholung des Rhythmus' in der Apposition symmetrisch zu dem im Relativsatz verhält. Die Beschreibung der lautlich-metrischen Äquivalenzrelationen ließe sich noch vervollständigen. Da es jedoch wichtiger ist zu zeigen.
Kunstwerk fungiert zugleich als (voll) integriertes funktionales Textkonstituens und als euphonisches, rhythmisches, assoziatives etc. Objekt" (Schmidt: ästhetizität. philosophische beitrage zu einer theorie des ästhetischen. München 1971, S. 19.). Der Polyfunktionalität und Polysemie der Textelemente korreliert auf der Leserseite die Polyvalenz, d.h. eine Verschiedenveistehbarkeit des funktionell belasteten Zeichens. Der Hypothese, daß der Polyvalenz für den Leser nicht eine Polyinterpretabilität im wissenschaftlichen Interpietationsbereich korreliert (vgl. dagegen v. a. Norbert Groebens 'subjektive Theorie': Rezeptionsforschung als empirische Literaturwissenschaft. Paradigma- und Methodendiskussion an Untersuchungsbeispielen. (1977) Tübingen 1980.), wird sich, gemäß der vorangegangenen theoretischen Grundlegung, zunächst die Textanalyse stellen und darüber hinaus IV. 1.4, wo sie zusammen mit einer Rückbesinnung auf die Vorgehensweise dieser Arbeit reflektiert wird. Hier sei nur noch einmal darauf hingewiesen: Die Zeichenpotentialität im Sinne der bedeutungskonstitutiven Leseraktivität, die in der Textanalyse entfaltet wird, ist durch die 'Art der Handlungsdurchfuhrung' im oben beschriebenen Sinne konturiert und erlaubt es nicht, in direktem Analogieschluß eine Polyinterpretabilität des (eines) gesamten Textes zu behaupten, in dem Sinne, daß die Leser eines bestimmten Textes grundsätzlich verschiedene Texte lesen, weil sie den einen Text so verschieden lesen und verstehen; eine solche Polyinterpretabilität hängt eher mit Projektion und textunabhängiger Phantasie zusammen als mit Lesen. Zur Frage, was unter dem 'Akt des Lesens' zu verstehen ist, siehe B.IV. 1.4 u. V. 1.
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an welcher Stelle sie vorkommen und welche Funktionen sie dort haben, mag ihr Aufweis hier genügen. Festzuhalten ist, daß die Äquivalenzrelationen auf phonologischer Ebene für einen Prosatext ungewöhnlich stark verwirklicht sind: Reime, Assonanzen, rhythmische Altemationen und Symmetrien als komplexe Formen der Wiederholung machen als lautlich-metrische Stilmittel eine dichte Textstrukturierung aus; die so evozierte Einheit schafft einen phonologischen Hintergrund oder Kontext, der die Voraussetzung dafür ist, daß durch funktionelle Belastung die lautlich-metrischen hervorgehobenen Elemente zusätzlich betont oder eine Viel'hörbarkeit' inszeniert werden kann, die wiederum in Kontrast zur kontextuellen Einheit steht. Auf syntaktischer Ebene liegen ebenfalls Äquivalenzrelationen vor. Aufföllig sind Wiederholungen eines Satzteils: des Akkusativobjekts in "diese eine, die seine", des Prädikats in "erröten [...], lachen, sind und waren sich alles" und in "schmeißt [...], baut [...] und wirft [...]". In Passage 2 ist die doppelte Besetzung der Stelle eines Adjektivs zu registrieren: "großen reinen Kopf. Neben der Wiederholung von Satzteilen und fakultativen Leerstellen findet sich auch die nahezu vollständige Parallelität von einfachen Satzbaumustem: "Er ist unwissend wie die Bäume ringsum. Er ist verheiratet, das ist ein Gegengewicht zu seinen Vergnügungen" stellt einen syntaktischen Parallelismus dar nach dem Muster 'SPO' in der Besetzung: Pronomen, Kopula und prädikatives Adjektiv; durch die divergierenden Satzerweiterungen - einmal ein Vergleich, das andere Mal eine Nominalphrase in prädikativer Funktion - wird letztere der Bescheibungsmonotonie und -einheitlichkeit kontrastiv gegenübergestellt und deautomatisiert. In Passage 2 sorgt die dreimalige Wiederholung der Perfekt-Passivkonstruktion ("ist gegessen worden [...], ist verschleppt [...], ist gebracht worden") für einen engen Zusammenhang zwischen den Sätzen; die Ellipse des Hilfsverbs im zweiten Satz wird dabei von den sie umgebenden vollständigen Konstruktionen affiziert, so daß der attributive Charakter des Perfektpartizips "verschleppt" zwar deautomatisiert wird, aber nicht spontan aktualisiert werden kann. Durch die Kontextualisierungsleistung der Konstruktionen 1 und 3 wird Einheit oder Zusammenhang erzeugt, vor deren Hintergrund durch minimale Veränderung ein sprachliches Element deautomatisiert werden kann und so in Kontrast zur kontextuellen Einheitlichkeit gebracht wird.
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Für den Anfang eines Prosatextes, der sich "auf der Schwelle zum Text"!*"» wie ein Roman ausnimmt, erwartet der Leser hinsichtlich der Semantik eine allgemeine Orientierung in Ort, Zeit, Personen oder Handlung. All dies scheint der Text zu entbehren, obwohl semantische Äquivalenzen im Bereich der Peronenbezeichnungen vorliegen. In den Passagen 1 und 2 sind einmal "die Frau" mit den Pronomen "diese eine, die seine" und "sie", dann "der Mann", "der Direktor" mit der zweimaligen Nennung des Pronomens "er" und schließlich in Passage 2 "das Kind" mit dem Pronomen "es" referenzidentisch. Durch Rekurrenzen referenzidentischer Lexeme und deren Pronominalisierung wird die familiale Triade konturiert und aus dem sie umgebenden vielfältigen Personal ("die übrigen", "die Armen", "junge Europäer", "Tiere", "Papierarbeiter", "die Kinder der Papierarbeiter", "Menschen") herausgehoben. Die durcheinandergehende Verortung der Trias, mal im Milieu (soziales und geographisches), mal in Handlungen, evoziert allerdings eine kontextuelle Heterogenität bezüglich der oben erwähnten Orientierungsleistungen, zu der die durch Parallelismen evozierte Vorstellung des wichtigsten Romanpersonals in Kontrast steht; die semantische Äquivalenz profiliert die Trias, der Kontext relativiert diese Profilierung, ohne sie aufzuheben. Die durch die unsystematische Besetzung der Orientierungskoordinaten provozierte Diffusität der Darstellung wird deutlich, wenn man sich die Aussagen der beiden Passagen anschaut. Ihre Auflistung nähme einigen Platz in Anspruch, zumal in fast jedem Satz und meistens auch Nebensatz ein anderes Subjekt steht. Dem korreliert ein recht umfangreiches Lexikon, das nichtsdestoweniger einfach ist: das Fehlen von Neologismen und Fremdwörtern, die nicht im Alltagsdeutsch gebräuchlich sind, ist eine spezifische Form der Adressatenberücksichtigung im Sinne der Bemühung um verständliche Darstellung, Für sich genommen ist jedes Wort verständlich, aber in seinem Kontext... Im folgenden werden deshalb die Stilelemente im Hinblick auf ihre Bedeutung für die semantische Ebene näher in den Blick gerückt. Dabei ist das bisher Gesagte zu berücksichtigen, insofern als es um die Verortung der phonologischen und syntaktischen Äquiva1«-» Genette: Paratexte. 1989, S. 10 passim. 185 Vgl. Sandig: Stilistik der deutschen Sprache. 1986, S. 228. Im Dienst der Adressatenberücksicbtigung steht auch die Einfachheit der syntaktischen Gefiige, die tiefer Staffelungen enttiehren.
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lenzen und die Herausstellung ihrer Funktion in bezug auf den semantischen Textzusammenhang geht. Unter semantisch-begrifflichem Aspekt ist die unbestimmte RaumZeit-Bindung des Textes zu nennen. Für die geographische Unbestimmtheit sorgen deiktische Partikel wie "herumschrei[en], ringsum, hier, hierher", die nicht durch entsprechende Vorinformation gedeckt sind. Die leere Deixis wird allerdings durch den systematischen Aufbau eines Konnotationsgefüges teilweise gefüllt: die generalisierende Synekdoche in der Bezeichnung der Schifahrer aus dem Bereich der Volkszugehörigkeit ("Europäer"), Lexeme wie "Stall" und "Tiere" und zuletzt die partiell explizite Benennung der Transaktionsbewegung der Frau ("aus der Stadt hierher") sorgen dafür, daß man mit den deiktischen Partikeln "Provinz in Europa" assoziiert. Das temporal deiktische "gerade" wird auf die gleiche Weise unvollständig und eigentlich pseudologisch präzisiert: "Wintersonne, Schifahren, Schnee, verschneiter Weg" sind Konnotatoren der kalten Jahreszeit - in bezug auf die Deixis, die eines situativen Kontextes entbehrt, eine pseudologische Zeitauskunft. Darüber hinaus provoziert das temporale Adverb "derzeit" die Frage nach dem Jahr, von dessen Winter die Rede ist. Die geographische und temporale Kontextualisierung wird von indiziellen K o n n o t a t o r e n i s e geleistet: die Zusatzbedeutungen "Provinz" und "kalte Jahreszeit" sind durch ihre Beziehung zum Signifiant beim Leser abrufbar. Leere Deixis und deren partielle Füllung durch systematischen Aufbau eines Assoziations- oder gar Konnotationsgefüges liegt auch im Bereich der Personenbezeichnungen vor. Individuierung erfolgt hier nicht über persönliche Eigennamen, sondern über generalisierende Synekdoche: Die erwarteten Eigennamen sind ersetzt durch Sexus ("der Mann", "die Frau"), soziale ("die Armen") und berufliche Stellung ("der Direktor"), Generationszugehörigkeit ("das Kind"), Nationalität ("Europäer") und Zugehörigkeit als Teil zu einem Ganzen ("die übrigen", "Hälfte von allen Körpern"). Zusammen mit dem bestimmten Artikel, dessen anaphorischer Charakter einen gewissen Grad an Kenntnis der Personen voraussetzt, bildet diese Substitution im Bereich der Eigennamen eine Antonomasie. Die Antonomasien, die einen bekannten Eigennamen "durch charakteristisches Attribut
186 Vgl. Kloepfer: Poetik und Linguistik. 1975, S. 36 und 90.
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seines Trägers" i«'' ersetzen, unterstellen ein Wissen, über das der Leser hier nicht verfügt. "Ein Name [...] ist bloß ein Bedürfniß der Unterscheidung; wer allein ist, hat keinen Namen nöthig, denn es ist keiner da, mit dem er verwechselt werden könnte."'*« Der Mann und die Frau aber sind nicht allein. Angesichts der Unbestimmtheit der referentiellen Identifikation der genannten Personen durch typisierende Antonomasie, ist nach den Mitteln zu fragen, mit deren Hilfe sie differenziert und distinguiert werden. Am eindeutigsten ist der Mann aus den ihn umgebenden Personen herausgehoben: durch grammatische Mittel wie Demonstrativum und Pronominalisierung besteht keine Verwechslungsgefahr. Anders bei der Frau: Gleich im ersten Satz wird zwar semantisch durch die Präposition "zwischen" ihr Unterschied zu "den übrigen" evoziert; das substantivierte Adjektiv "die übrigen" allerdings liest sich durch die Kleinschreibung als Ellipse, die im Verhältnis zu "die Frau" ein semantisch (Qualität - Quantität) inkongruentes Zeugma bildet und das einerseits zur 'Trennung' die Sememe /zentral/ vs /peripher/ und andereseits zur Gemeinsamkeit das Sem /weiblich/ beiträgt. Die additive Partikel "auch" im nachfolgenden Satz, die sich auf "die Armen" bezieht und gewöhnlich die Zuordnung zu einer größeren Gruppe anzeigt, scheint das trennende Moment zu verstärken; "die Frau" fungierte somit als Mehrzahl in der Einzahl mit den Semen /reich/ und /allein/. Die Prolepse des durch Artikel bestimmten Substantivs allerdings suggeriert die Zusammenfassung der im vorangegangenen Satz genannten Personen, so daß "auch" kataphorisch gelesen werden kann. Die Differenzierung und Distinguierung der Frau von anderen Figuren wird also durch semantisch-syntaktische Mittel deautomatisiert. Die Deautomatisierung beruht hier auf Ambiguisierung und - bei näherem Hinsehen - auf Pseudologik: wenn die Frau reich ist, ist sie nicht arm; wenn sie allein ist, gehört sie zu niemandem; genau das aber behauptet der Text. Grammatisch könnte über den Numerus eine Differenzierung erreicht werden. Durch die generalisierende umgangssprachliche Wendung 'genug haben von jemandem' allerdings wird die Unter-
Heinrich F. Plett: Rhetorische Textanalyse. (1971) Hamburg «1985, S. 73. Friedrich Schiller: Die Sendung des Moses. In: Ders.: Sämtliche Werke in 12 Bänden. Bd.lO. Stuttgart, Tübingen 1957, S. 401-427; hier S. 412; zitiert nach Lamping: Der Name in der Erzählung. 1983, S. 22.
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Scheidung "Frauen" von "der Frau" zwar nicht hinfällig, aber ambiguisiert und gipfeh schließlich in einer pseudologischen Denkfigur: zwar ist die Frau /singulär/ insofern als sie "die eine" des Mannes ist - eine Lesart, die durch das restriktive "nur" noch unterstützt wird; doch da der Mann "genug von den Frauen" hat, so hat er wohl auch genug von ihr. Deautomatisiert wird hier die Differenzierung und Distinguierung der Frau durch die Ambiguisierung des Unterschieds zwischen Abstraktum und Konkretum mit Hilfe der umgangssprachlichen Wendung. Das Kind dagegen ist grammatisch eindeutig als "ihr Kind" von den "Kindern der Papierarbeiter" (Genitivattribut) unterschieden. Die leere Deixis der Appellativa ist so in bezug auf den Mann und das Kind teilweise gefüllt; in bezug auf die Frau und die Armen bleibt sie eigentlich leer, weil die Deautomatisierungen keine eindeutige Füllung zulassen. Insgesamt aber ist die durch die Antonomasien ausgelöste Suche des Lesers nach den Namen, die als bekannt gesetzt werden, noch nicht beruhigt. Die Frage drängt sich auf: Kommt sie überhaupt zur Ruhe? Von den drei im Text vorkommenden Eigennamen Michael, Hermann und Gerti mag der erste als individuierendes Zeichen am ehesten einleuchten: die durch die Appellativa "der junge Mann" (106 passim), "ein Gott" ausgelöste Suche nach einem "bekannten (mythologischen, historischen) Eigennamen"!«' ist ans Ende gelangt. Doch Gerti (generalisierende Synekdoche: Eigenschaft für Namen) ist genausowenig wie Hermann (generalisierende Synekdoche: Etymologie für Namen) individuiert. Das auch dieser Namensgebung zugrundeliegende Stilmittel der Antonomasie läßt den Leser weiter nach den Eigennamen suchen. Für den gesamten Text läßt sich in bezug auf "der Mann" und "die Frau" sagen und fragen: Nomen est omen - doch Zeichen für wen? Zurück zu den Antonomasien am Textanfang, durch die die Figuren bereits in ihren wesentlichen Eigenschaften vorgestellt und weniger charakterisiert denn typisiert sind. Als Repräsentanten einer oder mehrerer Konvergenzpunkte im sozial-geschlechtlichen Beziehungssystem werden sie allein schon durch Antonomasien und deren grammatische, syntaktische und semantische Differenzierung oder Identifizierung ausgewiesen. Wie werden die Koordinationen durch die Art der Verwendung von Adjektiven, attributiven Bestimmungen und
189 Plett: Rhetorische Textanalyse. 61985, S. 73. 233
Verben (Bedeutungs- und Aktionsart) intensiviert und das Beziehungssystem sowohl auf den beiden Achsen ausgebaut als auch um weitere Dimensionen bereichert? Gleich im ersten Satz fallt die attributive Bestimmung des Raumes "in ihrem Gehäuse" auf, da "Gehäuse" als Bezeichnung der 'Hülle' nur für den unbelebten Bereich vertraut ist. Im Zusammenhang mit Belebtem, insbesondere mit Menschen, hat das Lexem also eine abwertende Stilfärbung und wirkt verfremdend. Durch den Kontext - das vorangegangene Requisit "Vorhängeschleier" und das Lexem nachfolgende "Eigenheime" - bleibt die Bedeutung "Haus" aber lebendig, so daß mit "Gehäuse" 'Verschlag' assoziiert wird. Darüber hinaus wirkt sich der Transferprozeß von Unbelebt zu Belebt als Materialisierung der Frau aus: es ist eine 'feste, nicht biegsame Hülle', die sie umgibt wie eine zweite Haut; sie ist ein vom "Gehäuse" umschlossener Kern und zugleich 2^ntrum eines sie umgebenden Ganzen. Die attributive Bestimmung des Raumes ist also zugleich eine der Art und Weise. Aufgenommen und ausdifferenziert wird das Assoziationsgefüge von dem Reim "Eigenheime und Eigenheiten" - eine Paronomasie, die die große inhaltliche Diskrepanz der beiden Komposita durch lautliche Nähe verdeckt. Was haben Eigenheime mit Eigenheiten zu tun? Genausoviel wie das Gehäuse mit der Frau: "Eigenheime besitzen" und "Wohnsitze haben" sind Wendungen aus dem Amtsdeutsch, evozieren den Duktus der Bestandsaufnahme und damit die Objektivierung der Menschen und ihrer "Eigenheiten" in Daten, die 'Zusammenfassung' ihrer "freundlichen Gesichter", ihre Vergegenständlichung, Materialisierung, Operationalisiening. Die Eigenheiten sind die Eigenheime das ist die ganze Autonomie der "Armen", deren Kern und Zentrum die Frau ist: ein Königreich von der Größe einer Frucht. Das scheinbar Heterogene ist identisch. Die beiden Fokuspartikel "auch" und "nur" im zweiten Satz suggerieren einen gemeinsamen, aber semantisch unterschiedlichen Bezug zu einer anderen Proposition als der, in der sie selbst stehen. Die additive Partikel "auch" evoziert die Frage nach einem anderen Sub-
Der Begriff Fokuspartikel wird nach der Grammatik von Elke Hentschel und Harald Weydt verwendet: Handbuch der deutschen Grammatik. Berlin, New York 1990, S. 291 f.
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stantiv als Skopus,i9i insbesondere nach einem Subjekt, das "auch", wie "die Armen", "Wohnsitz[] [hat]". Das fehlende Beziehungselement der restriktiven Partikel "nur" fällt nicht spontan auf, da die Antithese der Verben "scheidet" und "zusammengefaßt" wie eine Proposition wirkt. Da aber der Skopus der restriktiven Partikel von dem substantivierten Adjektiv (und nicht vom Verb) "das immer gleiche" gebildet wird, erweist sich die scheinbar richtige Syntax als falsche. Subkutan wird die Frage nach einem anderen Substantiv evoziert: Wer oder was scheidet die Armen nicht oder wer faßt sie zusammen? Hinter der suggerierten Logik verbirgt sich Pseudologik; die 'Logik' ist brüchig, hinteriäßt Fragen und weist über sich selbst hinaus. Pseudologisch ist auch die Einleitung des Relativsatzes mit dem Adverb "in", die die Erwartung auf Beantwortung der suggerierten Frage nach dem 'Wo' der "Wohnsitze" enttäuscht. Darüber hinaus schmerzt die Passivkonstruktion "zusammengefaßt sind" im Zusammenhang mit "freundlichen Gesichtern". Warum? Die syntaktisch durch das Zustandspassiv und semantisch durch die amtlich-pragmatische Stilebene des Verbs ("zusammengefaßt") kontextuell evozierte Leblosigkeit paßt nicht zur Vitalität einer freundlichen Gesinnung oder eines freundlichen Verhaltens. Umgekehrt paßt die Vitalität der Freundlichkeit nicht zur kontextuellen Unbelebtheit, von der "Gesichter" affiziert ist. Der Kontext revitalisiert die 'Kühnheit' des lexikalisierten Tropus "freundliche Gesichter", in dem im normalen Sprachgebrauch die "spannungslose 'perspicuitas' des Ausdrucks" "herrscht".Kühn ist die Metapher deshalb, weil der Transferprozeß von Verhalten / Gesinnung auf Physiognomie sich in einem Bereich (Belebt) abspielt: "Eine kleine Bildspanne [...] erzwingt unsre Aufmerksamkeit für diese Widersprüchlichkeit und verleiht der Metapher den Charakter der Kühnheit. "i'J Der Zusammenhang zwischen Freundlichkeit und Gesichtsaussdruck wiederum evoziert über den unbelebten Kontext die assoziative Gleichsetzung von "Freundlichkeit = Maske", so daß der Transferprozeß letztlich von Belebt nach Unbelebt verläuft und aus der Metapher eine entseelende macht. So wird das scheinbar Stimmige seiner Unstimmigkeit überführt. 191 Ebenda S. 279: "Der Skopus eines Elementes ist der Teil des Satzes, auf den es sich bezieht." 192 Plett: Rhetorische Textanalyse. «1985, S. 70. 1 « Weinrich: Sprache in Texten. 1975, S. 306.
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Die umgekehrte Richtung in der Auslegung der Realität zeigt sich in der Fügung "das [...] gleiche scheidet". Voneinander getrennt sind "die Armen" durch das "immer gleiche". Die Beantwortung der Frage nach dem Trennungsfaktor, die durch die Kleinschreibung des subtantivierten Adjektivattributs suggeriert wird, ist müßig: proportional zur Unbelebtheit und Begrenztheit der "Eigenheiten" der Armen verhält sich das Maß der Trennung zwischen ihnen, die eine Entfremdung ist. Die durch die Ellipse markierte Leerstelle bildet die Assoziation der Leere nach. Die durch systematische Anspielung evozierte Assoziation löst das Paradoxon (gleiche - scheiden) buchstäblich in Nichts auf. Das scheinbar Widersinnige hat Sinn. Der dritte Satz faßt mit der Voranstellung der attributiven Adverbialbestimmung "in dieser Lage" einerseits das bisher Gesagte zusammen und eröffiiet andererseits etwas Neues. Die funktionelle Belastung des Demonstrativums, das an sich auf Vorangegangenes verweist, resultiert aus der Interpunktion, dem vorverweisenden Doppelpunkt, mit dem es durch seine betonte Stellung vor dem Verb "einschlafen" in engen Zusammenhang gebracht ist. Die Ambivalenz von anaphorischer und kataphorischer Funktion läßt sich nicht auflösen, da sie durch den semantischen und syntaktischen Kontext festgeschrieben ist. Versucht man die Adverbialbestimmung beispielsweise anaphorisch zu lesen, so ist bereits für "Lage" vor dem Hintergrund des vorangegangenen Wohnkontextes, der zur Bewußtseinskategorie umgedeutet worden war, nicht mehr das Sem /räumliche Stellung/ gesichert. Die Assoziation einer Bewußtseinskategorie wiederum wird durch das Vorgangsverb "einschlafen" intensiviert. Das Verb selbst ist durch den Kontext bezüglich seiner Aktionsart polysem: Die Konnotation einer perfektiven Verlaufsweise wird durch die kontextuell geweckte Assoziation eines Zustandes (imperfektiv / durativ) gestört. Evoziert wird so ein Zwischenbereich von unbelebtem Raum und Bewußtsein, in dem sich ein Übergang von leblos / bewußtlos zu leblos / bewußtlos vollzieht, anders ausgedrückt: das Einschlafen ist ein Sterben ("scheide(n") = verscheiden) und das Sterben ein Zustand. Die für die kataphorische Lesart zu erwartende Auflösung der semantischen Ambiguität bleibt aus: das Anakoluth "in dieser Lage [...], indem" enttäuscht zunächst die Erwartung eines vollständigen Satzes, der die Gleichsetzung von Raum- und Bewußtseinskategorie nach einer Seite hin auflösen würde. Die pseudologische Konjunktion "indem" selbst
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ist funktionell belastet: temporal gelesen, stellt sie eine Gleichzeitigkeit her zwischen "einschlafen" und "hinweisen", verbindet Vorgangsund Handlungsverb, die beide semantisch nicht vereinbar sind: Wie kann man handeln, wenn man bewußtlos ist? Die Deautomatisation der beiden Verben stellt den Gestus des Erstarrens von Bewußtsein und Handlung in einem Zustand heraus und provoziert so eine Umdeutung der Bedeutungsgruppe der Verben (Vorgang, Handlung). Liest man die Konjunktion instrumental ('dadurch, daß'), kommt die Kategorie Ursache-Wirkung hinzu. Die Konjunktion enttäuscht also einerseits die Erwartung auf Erklärung der Ambiguität, die sie andererseits verlängert. Die sowohl anaphorische wie kataphorische Funktion ('Apokoinou') des Demonstrativums und der gesamten Konstruktion bildet präzise das bis hierhin aufgebaute Assoziationsgefüge nach: Regiert von "Vorhängeschleiern" (Subjekt) und vom "immer gleiche[n]" Nichts sind die Armen abhängig von Unbelebtem. Die durch Inversion betonte Stellung der additiven Fokuspartikel "auch" im zweiten Satz und die passive Wendung des 'Zusammenfassens' hat darüber hinaus die Abhängigkeit von einer bis hierhin anonymen Instanz suggeriert, deren Vorstellung jetzt erwartet wird. Ist sie womöglich belebt? Die Instanz, von der "die Armen" "regiert" werden, ist der "Direktor [...], der, atmend, ihr ewiger Vater ist." Das Partizip Präsens "atmend" ist vom Kontext durch syntaktischen Akzent ('Apposition') isoliert. Der so und durch das Partizip als solches hervorgehobene Ablauf des im Verb ausgedrückten Geschehens steht mit dem VaterSein in einem pseudologischen Zusammenhang. Temporale, kausale oder instrumentale Zuordnung ergeben keinen Sinn. Das daktylische Versmaß allerdings reintegriert die 'Apposition' wiederum in den Kontext, so daß die Pseudologik der Verknüpfung verschleiert und eine Identität von Handeln (Atmen) und Sein suggeriert wird. Der syntaktische Status des Partizips ist also ambivalent und in seiner Ambivalenz sinnvoll: Es ist das Atmen als Sein und als Tun, auf das es hier ankommt. Die weiter oben erwähnte Ambiguität des Metrums kookurriert sowohl mit der Wichtigkeit (- -) als auch mit dem Vorgang des Atmens, insbesondere mit dem des Ausatmens (-"); der Wechsel der Assonanzen von dunkel zu hell kookurriert mit dem Erlebnis der Erfüllung der assoziativ gehegten Erwartung auf Nennung einer be-
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lebten Instanz: Zusammen mit der Beschwingtheit der Daktylen bilden sie Entspannung des erwartenden Angespanntseins nach. Allein schon in dem ambivalenten Status des Partizips zeigt sich also, wie der Erfolg der Anspielung auf die Gleichsetzung von Belebt und Unbelebt ebenso wie auf ihre Gegenüberstellung durch systematischen Ausbau eines Assoziationsgefüges garantiert ist, so daß jedes einzelne Element zu einem Konnotator wird. "[...] damit wird - zumindest für den 2^itraum dieser Kommunikation - eine Konvention aufgebaut, die der Autor ebenso nutzen kann wie ein symbolisches Zeichen",!'"» das er z. B. durch mimetische Syntax, mimetische Assonanzen hervorhebt. Sein und Handeln, identifiziert im Partizip Präsens "atmend", konvergieren in dem Semem /lebensspendend/. "Atmend" ist also letztlich Konnotator des Schöpfungsmythos, nach dem Gott, der "ewige Vater", den Menschen Leben einhaucht. Die sowohl durch den systematischen Aufbau des Assoziationsgefüges als auch durch den lexikalisierten Tropus notwendig gewordene Assoziation (= Konnotation) wird von den nachfolgenden Lexemen fortgeführt, wobei der Assoziationsprozeß zur Ruhe kommt: "Wahrheit" und "regieren" haben durch die vorangegangene Einheit "ewiger Vater" den gleichen Assoziationsradius. Durch Assoziationen vorbereitet, hat das Wortfeld, obgleich es in Zusammenhang mit dem irdischen Kontext steht, nicht den Charakter einer Hyperbel. Hier werden lediglich die assoziativen Verbindungen explizit. Da das synthetische Denken nicht angesprochen ist, steUt sich auch nicht der Eindruck einer vertikalen Amplifikation ein: Göttlichkeit und Menschlichkeit, genauer: Männlichkeit ("dieser Mann") sind gleich. Die durch implizit und explizit assoziative Gleichsetzung gestörte Amplifikation (Hyperbel) wird im Vergleich ("die Wahrheit [...] wie seinen Atem") weiter nach unten nivelliert. Die in der Identifikation von "ewiger Vater" mit "Direktor" (Mensch) bereits eingeschlagene Tendenz zur Umdeutung des lexikalisierten Tropus wird hier dadurch vereindeutigt, daß für ein Abstraktum ("die Wahrheit") ein Konkretum ("seinen Atem") gefunden wird. Die mit dem Vergleich erwartete Amplifikation wird so in eine Reduktion verkehrt: reduziert ist das göttliche Prinzip auf den Mann; es gibt keinen Gott, nur männliche Götter.
19t Kloepfer: Poetik und Unguistik. 1975, S. 92.
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Die Reduktion, die also die "ontische Differenz"!'' zwischen Gott und Mensch annulliert, wird unterstützt von dem Verb "ausschenken". Die iterative Aktionsart des Ausschenkens wie des Atmens überführt die abstrakte Wahrheit in den vorstellbaren Raum der Wiederholbarkeit (beispielsweise "das immer gleiche"). Die Aktionsart deutet "die Wahrheit"; "die Wahrheit" wiederum macht aus der Verbbedeutung 'Handlung' die des 'Zustands'. Festgeschrieben wird dieser göttlich-menschliche Zustand durch das nachfolgende Anakoluth ("so selbstverständlich regiert er"), das zusammen mit dem vorangegangenen Relativsatz einen Chiasmus bildet. Durch die Umstellung der Satzgliedfolge (SOP - PS) werden die beiden Verben 'ausschenken' und 'regieren' eingefaßt und ihre bedeutungsmäßige Entsprechung (Zustand) betont. Die symmetrische Wiederholung der Metrikl^^ kookurriert dabei mit der chiastischen Satzgliedstellung. Die Leerstelle des Objekts des Regierens, die durch den Chiasmus auffällig wird, ist durch die Emphase auf dem Adjektiv "selbstverständlich" erklärt. Die Emphasei''' wird zunächst deshalb stark wahrgenommen, da eine unangemessene Diskrepanz zum Dargestellten besteht: Von Gott wissen wir, daß er ein unhintergehbares Sein ist, ein Urgrund, der keine Erklärung oder Begründung hat, weil er sich aus sich selbst heraus versteht. Warum dann diese Emphase? Der 'Selbstverständlichkeit' unangemessen wirkt sie verfremdend. Durch die Verfremdung wiederum werden die beiden Wertungstendenzen des "thymischen Sems"i'« aktiviert. Das Sem /unbefangen/ oszilliert somit zwischen euphorisch /ohne Erklärung oder Begründung verstehbar, keines Grundes bedürfend/ und dysphorisch /unbegründete, grundlose Unbefangenheit, keinen Grund habend, einer Begründung entbehrend/ oder auch /Arglosigkeit im Sinne von 'nichtsahnend'/. Störte bei "ewiger Vater", "Wahrheit" und "regieren" die kontextuell evozierte Konnotation die Aktualisierung des eigent195 Piett: Rhetorische Textanalyse. 61985, S. 83. Siehe weiter oben. Mit Emphase ist hier nach dem heutigen Sprachgebrauch lediglich 'Nachdruck' und dicht die Trope ('emphasis') gemeint; vgl. dazu Plett: Rhetorische Textanalyse. «1985, S. 75. 198 Die Kategorisierung der Seme entstammt der Semantiktheorie von Algirdas J. Greimas: Strukturale Semantik. Braunschweig 1971. Vgl. dazu Keller / Hafner: Arbeitsbuch Textanalyse. 1986, S. 32 ff.: Thymische Seme drücken eine Weitung des Sprechenden aus.
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lieh hyperbolischen Wortfelds, so trägt sie hier zur Realisierung des (schwach) hyperbolischen Ausdrucks bei, der in seiner Unangemessenheit einen parodistischen Effekt provoziert. Statt Diskrepanz (GottMann) gibt es also Symbiose und innerhalb dieser Nuancen; Diskrepanzen sind annulliert, für Nuancierungen wird sensibilisiert. Die stimmungsmäßige Willkür, die in der umgangssprachlichen Wendung 'genug haben von jemandem' des nachfolgenden Satzteils zum Ausdruck kommt, entspricht der euphorischen Wertungstendenz des "so selbstverständlich[en]" Regierens. Die adverbiale Bestimmung der Art und Weise des Herumschreiens ("mit lauter Stimme") scheint als Intensitätsangabe das Assoziationsgefüge nach der euphorischen Seite hin zu intensivieren: Gottes "Stimme" ist laut, im Sinne von /mächtig/; mit ihr ergeht ein Ruf an die Gläubigen, demgemäß sie handeln. Doch die assoziative Erwartung wird enttäuscht, denn dieser Gott hier 'schreit herum'. Welchen Sinn hat dieser unerwartete Ausdruck? Im Außer-sich-Sein des Schreiens wird der fehlende Bezugspunkt des Regierens und damit auch die Unbegründetheit im Sinne von /ohne Legitimation/ spezifiziert. Die Herrschaft des Mannes versteht sich aus sich selbst heraus, insofern sie der Legitimation durch Gläubige entbehrt. Als Tyrann läuft der Mann immer Gefahr durch Verschwörung gestürzt zu werden. Auch wenn er schreit, daß er "diese eine, die seine" braucht, ist ungewiß, ob sein Begehren erfüllt wird. Der Akzent auf dem 'rechtmäßigen' Besitzanspruch durch das Possesivpronomen ist fragwürdig in einem Staat, in dem Recht ein Fremdwort ist. Der Reim und die Diärese, die das Possesivpronomen herausstellen, provozieren vor dem Hintergrund der assoziativ aktualisierten Fragwürdigkeit einen komischen Effekt. Der männliche Gott ruft also deshalb nicht, weil er keine Antwort erwartet, auch wenn er etwas zu sagen hat, was mit einer Antwort rechnet: was er 'braucht', das nimmt er sich, wobei fraglich ist, ob das, was er braucht, sich auch immer nehmen läßt. Die Synonymie von Modalbestimmung und Verb in "mit lauter Stimme herumschreien" ist also kein Pleonasmus, sondern eine Tautologie, da die Wiederholung der inhaltlich ähnlichen Glieder, die im alltäglichen Sprachgebrauch nicht auffällt, sinnvoll ist: Die durch die Emphase "so selbstverständlich" aktivierten Semkomponenten werden systematisch entfaltet, wobei die Bewegung von euphorisch /keiner Erklärung bedürfend/ zu dysphorisch /keine Erklärung habend, einer Erklärung entbehrend/ verläuft. Die Tautologie hält
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also exakt den Übergang von euphorischer zu dysphorischer Wertungstendenz fest; mit dem zweiten Element der dysphorischen Semkomponente /arglos im Sinne von nichtsahnend/ ist noch zu rechnen. Wurde zunächst für die Nuancierung der 'Selbstverständlichkeit' des Regierens sensibilisiert, so wird sie jetzt folgerichtigerweise inhaltlich ausgeführt. Eine spezifische Form der verfremdenden Übertreibung liegt in der Aufeinanderfolge von zeitlicher ("gerade") und räumlicher ("herumschreit") Deixis vor. Diese intensiviert die assoziativ aktualisierte Oszillation der Semantik, indem ein Maß an Vertrautheit unterstellt wird, das jeder Voraussetzung entbehrt. Räumliche und zeitliche Unbestimmtheit sind aus dem Märchen bekannt, wo der Erzähler mit dem unbestimmten 'es war einmal irgendwo' und mit der Vorstellung unbekannter Personen einsetzt Cein Mann', 'eine Frau'). Vertrautheit wird nicht gesetzt, sondern nach und nach hergestellt. In seiner paratextuell geweckten Erwartung eines Romans enttäuscht, ist der Leser von "Lust" jedoch nicht mit einem typischen Märchen entschädigt worden. Vielmehr ist er noch auf der Suche ihm als bekannt vorgestellter Figuren, insbesondere des Direktors, an dessen "ewige[m] Vater"-Sein er gerade zu zweifeln begonnen hat. Zur Enttäuschung durch Unbekanntheit und ambivalente Identifizierung gesellt sich jetzt noch das Gefühl der Desorientierung in Zeit und Raum. Raum und Zeit haben bis jetzt lediglich eine eigenartige Symbiose gebildet, deren Resultat die ungenaue Vorstellung einer Bewußtseinskategorie (vgl. "in ihrem Gehäuse") ist; in diesem Zeit-Raum-Gebilde passiert nichts, die Figuren sind in Gesten erstarrt. Der Gestus des Erzählens ist hier also nicht das märchenhafte 'stell Dir vor', sondern das vertrauliche 'Du weißt schon'. Die Aufeinanderfolge von temporaler und räumlicher Deixis übertreiben die Vertraulichkeit des Erzählers derart, daß sie schon wieder verfremdend wirkt. Wir sind nicht im Märchen, obwohl hier so getan wird, als seien wir mittendrin. Der auf lexischer Ebene provozierte Eindruck eines Pseudomärchenstils wird durch die Syntax bestätigt. Der durch das Anakoluth unterbrochene Relativsatz ("der ihnen die Wahrheit ausschenkt [...]") scheint mit dem bestimmten Artikel im nachfolgenden "der hat gerade genug von den Frauen" wieder aufgenommen zu werden. Die eindeutige Zuordnung allerdings wird gestört durch die Zweitstellung des Prädikats. Liest man dagegen einen Hauptsatz, der mit dem bestimmten Artikel das proleptische Subjekt "dieser Mann" wiederaufnimmt. 241
so müßte - mit Blick auf den sich anschließenden Konsekutivsatz eine nicht besetzte Stelle mit 'so' angenommen werden; diese ist auch durchaus erschließbar, wäre nicht ein 'so' in dem eingeschobenen Satz, das ein Folgeverhältnis zwischen 'selbstverständlich regieren' und 'herumschreien' suggeriert. Gleichviel ob Hauptsatz mit Ellipse des 'so', ob 'Relativsatz' mit Zweitstellung des Prädikats - zusammen mit dem Anakoluth indiziert die uneindeutige und logisch eng verklammerte Satzkonstruktion das Muster 'spontanes Sprechen'. Im Bereich der Schriftsprache ist eine solche Syntax aus den Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm vertraut. 19» Das Muster 'Märchenstil' als die bewußte Variante des spontanen Sprechens will durch Suggestion syntaktischer Vertrautheit die Eingängigkeit der Semantik fördern. In syntaktischer Hinsicht ist die Vertrautheit allerdings schon unterminiert durch ihre Diskrepanz zum vorangegangenen Muster "lyrischer Ton" und zum nachfolgenden Muster "Bericht": in "er brauche nur diese eine, die seine" markiert der Konjunktiv Präsens die Wiedergabe einer Äußerung dritter. Der Konjunktiv thematisiert also hier den Erzähler als eine das Geschehen beobachtende Instanz. Als Beobachter aber steht er dem Geschehen distanziert gegenüber; der Konjunktiv suggeriert Distanz, die in krassem Gegensatz zur durch den Märchenstil suggerierten Nähe steht. Der syntaktische Kontext aus Paronomasie, Inversion, 'Apokoinou' und indirekter Rede und die Unvertrautheit statt Vertrautheit evozierende Lexik (umgangssprachliche Wendung und Häufung von leeren Deixen) machen die Ambivalenz des Märchenstils aus. In seiner Ambivalenz wiederum kookurriert der Märchenstil, der somit eigentlich ein 'Pseudomärchenstil' ist, mit der assoziativ belebten Semantik des Satzes: Indem er Vertrautheit setzt, statt sie zu schaffen, wirkt er irritierend und unterstützt so die assoziativ aktualisierte Ambivalenz der 'Selbstverständlichkeit'. Gemäß der assoziativ geweckten Erwartung wird im nachfolgenden Satz ("Er ist unwissend [...]") das noch ausstehende zweite Element der dysphorischen Semkomponente von "so selbstverständlich" genannt. Das Attribut ("unwissend") ist funktionell belastet insofern, als seine semantische und syntaktische Funktion divergiert und daraus eine Ambivalenz seiner pragmatischen Funktion resultiert. Semantisch
199 Vgl. Sandig: Stilistik. 1986, S. 301.
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sinnvoll ist das Attribut - wie bereits gesagt - im Zusammenhang der Nuancierung der Gott-Mann-Symbiose: "unwissend" ruft sowohl die positive Entsprechung 'allwissend' als Attribut Gottes als auch die dysphorische Semkomponente /nichtsahnend/ auf. Die nahtlose Integration des Attributs in das Assoziationsgefüge signalisiert Entspannung: der Assoziationsprozeß kommt zur Ruhe. Auf der anderen Seite aber wird die Antwort auf die eigentliche Frage nach dem Ausmaß der männlichen 'Unwissenheit' gerade durch den syntaktischen Charakter des Attributs hinausgezögert und somit Spannung potenziert: Adjektive mit der Vorsilbe 'un-' umgehen syntaktisch relative, ergänzungsbedürftige Verbalkonstruktionen wie z. B. hier 'er weiß nicht, daß...'. "Unwissend" konstituiert somit eine Ungenauigkeit, die emotional (Spannung) vom Leser erlebt wird und die zunächst nicht benannt werden kann, da die feste Fügung eine nicht ergänzungsbedürftige Einheit suggeriert. Glücklicherweise ist der Satz nicht zu Ende und die sich anschließende Vergleichspartikel ("wie die Bäume ringsum") verspricht Ent-Spannung: Veranschaulichung von Charakter und Ausmaß der männlichen 'Unwissenheit' wird erwartet. Die Erwartung allerdings wird nicht erfüllt, die Erwartungshaltung dagegen ausgenutzt zur Suggestion einer anderen, so daß Enttäuschung sich nicht einstellen kann. Der Vergleich funktioniert folgendermaßen: Dadurch daß er eine leere Deixis beinhaltet ("die Bäume ringsum) ergibt sich ein umgekehrter Bekanntheitsgrad der Vergleichskomponenten; obwohl wir uns auch unter der 'Unwissenheit' bis jetzt nichts genaueres vorstellen können, so sind doch "die Bäume ringsum" noch unbekannter, so daß "unwissend" zum Attribut für die Bäume und die leere Deixis also assoziativ gefüllt wird. Der Transferprozeß, der erfolgt, ist der der Anthropomorphisierung: Aus den 'unwissenden' Bäumen werden 'teilnahmslose Zeugen' eines Geschehens, das jetzt erwartet wird. Durch die umgekehrte Richtung von Erklärendem zum zu Erklärenden wird die erwartete Amplifikation umgangen und Gleichsetzung stellt sich ein. Dem Vergleich liegt also lediglich ein syntaktisch (Numerus) inkongruentes Zeugma zugrunde in Form der Ellipse von Kopula und Attribut. Paraphrasiert müßte es heißen: 'Er ist unwissend, die Bäume ringsum sind auch unwissend.' Das zu veranschaulichende Attribut ist also im Rahmen des Vergleichs mit einer leeren Deixis selbst zum tertium comparationis geworden. Parallel zur Inanspruchnahme des synthetischen Denkens für "die Bäume" erfolgt durch die Gleichsetzung 243
die des räumlichen Denkens für den Mann. Die Perspektive wird vom Mann und seiner erklärungsbedürftigen Unwissenheit auf das Environnement im wörtlichen Sinne gelenkt: Singular 'Mann' steht mitten in der Arena, deren Kreis von den Bäumen gezogen wird. Sie sind das Publikum, während der Mann noch nichts von seiner Rolle auf dem Schauplatz weiß. Soviel ist jedenfalls klar: er wird sich nicht großartig bewegen. Denn durch die Gleichsetzung mit den Bäumen wird der Mann verortet und verwurzelt. Das "Gegengewicht zu seinen Vergnügungen", das den Mann im wahrsten, d.h. physikalischen Sinne des Wortes am Boden hält, ist das Verheiratet-Sein. Die syntaktische Inkongruenz von Attribut ("verheiratet") und Substantiv ("Gegengewicht") in dem durch das Demonstrativpronomen ("das") hergestellten Gleichsetzungssatz fällt nicht weiter auf: Das Muster des 'spontanen Sprechens' unterstützt die durch die Monotonie des syntaktischen Parallelismus der beiden Attributsätze geförderte Eingängigkeit der Rede; dieses kookurriert so mit dem assoziativ vorbereiteten Verharren des Mannes an einem Platz, so daß das Attribut "verheiratet" zum Konnotator eines Zustandes wird. Dadurch, daß sich die "Vergnügungen" des Mannes nicht auf andere Frauen beziehen können, sondern nur noch auf "die eine, die seine", kommt zum Verheiratet-Sein eine Bedeutungsnuancierung hinzu: Verheiratet-Sein ebenso wie "Eheleute" im nachfolgenden Satz sind amtliche Bezeichnungen für diesen Familienstatus. Das VerheiratetSein ist die Fassade nach außen, die Rolle, die für das Publikum gespielt sein muß; die "Vergnügungen" sind die privaten Manöver des Mannes mit seiner Frau. Die Tatsache, daß lediglich vom VerheiratetSein des Mannes die Rede ist und nicht von dem der Frau, deutet darauf hin, daß diese spezielle öffentliche Rolle der autonomen Ehefrau nicht besetzt ist. Umso mehr überrascht die Rede von den "beiden Eheleuten", da sie die Frau als Subjekt der Repräsentation des Verheiratet-Seins miteinschließt, obwohl sie bisher nur als Objekt vorgestellt wurde. Der Terminus "Eheleute" ist deshalb ein Ettikett, das hauptsächlich vom Mann hochgehalten wird, da er die Frau lediglich mitmeint - eine Assoziation, die vom folgenden Kontext bestätigt wird: Das vom Matm repräsentierte Eheleben ist nicht nur ein öffentlicher, sondern auch ein privater Zustand - der Grund, weshalb die Frau nicht die Rolle der Ehefrau spielen wird. Die Negation des Vorgangsverbs "erröten", mit 244
dem eigentlich eine Veränderung bezeichnet wird, die die Subjekte an sich selbst erfahren,^f» macht aus der ingressiven Aktionsart des Verbs eine imperfektive. Das folgende "lachen", das eigentlich eine lebhafte Handlung beschreibt, erstarrt durch die kontextuelle Zuständlichkeit ("erröten nicht [...], sind und waren") zur grotesken Geste. Insgesamt vollzieht sich in dem Polysyndeton eine Bewegung von Zustand über Gestus zu Zustand, der, kaum daß der Leser seine Gegenwärtigkeit aktualisiert hat, schon vergangen ist. Die erwartete Geschichte ist schon zu Ende, bevor sie angefangen hat. Statt von einer Geschichte muß eigentlich vom Märchen die Rede sein, denn das Polysyndeton hat eine textuelle Funktion insofern als es - durch das vorangegangene Muster vorbereitet - auf die stereotype Abschlußformel des Märchens 'und wenn sie nicht gestorben sind' anspielt. Die Lebhaftigkeit und Beweglichkeit, die das trochäische Metrum der Märchenformel signalisiert, bleibt hier in den Daktylen erhalten. Diese provozieren allerdings einen parodistisch verfremdenden Effekt, da sie in starkem Kontrast zur Aussage des Satzes stehen: Wird die Allusio aktualisiert, mündet sie in der Tautologie 'da sie schon gestorben sind, so leben sie jetzt nicht mehr' - ein negativer Märchenschluß, der - und das Buch hilft uns mit seiner Fülle - so nicht hingenommen werden kann. Die Alinea indiziert den Beginn einer neuen Erzähleinheit, mit der die Erwartung des Lesers auf den Beginn einer Geschichte, die eigentlich schon zu Ende sein soll, von neuem stimuliert wird. Um was geht es in Passage 2 des L Kapitels? Der erste Satz kündigt die Beschreibung der Kulisse an, vor der die soeben vorgestellten Figuren agieren werden. Bereits die Nennung von Jahreszeit ("Wintersonne") und Ort ("Schifahren") aber weist in ihrer Indirektheit auf die weiterhin 'ungewöhnlich' bleibende Art der Nachrichtenübermittlung hin; der Leser erkennt Teile, die seiner Erwartung entsprechen, und muß assoziativ unerwartete Hintergründigkeiten realisieren. Was soll aber schon dabei hintergründig sein: Wintersonne, Schifahren, junge Europäer? - es ist so wie es ist und der Leser ist bereit, sich mit wichtigen, aber letztlich 'zweitrangigen' Informationen über Zeit und Ort abzufinden, um endlich in medias res was immer das auch sei, darauf sind wir ja gespannt - zu folgen. Aber weit gefehlt: hier fängt alles schon mit der "Wintersonne" an, denn sie
200 Duden. Grammatik. -»1984, S. 92.
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ist "klein". Da die "Wintersonne" im Vergleich zur 'Sommersonne' immer "klein" ist und nicht so lange scheint, beinhaltet die Betonung dieser metereologischen Tatsache einen scheinbaren Pleonasmus nach dem Muster: der Schimmel ist weiß. Durch die zeitliche Fixierung der Tatsache aber ("derzeit") gewinnt man den Eindruck, daß die geringe Größe der Wintersonne außergewöhnlich sei und verantwortlich für die Stimmung der jungen Europäer, die sie deprimiert: Das Normale enttäuscht eine Erwartung, die sich an Unnormalem orientiert; vor dem Hintergrund dieser Erwartung ist das Normale wiederum unnormal, wenn gut ist was psychisch nicht schadet. Der scheinbar überflüssige Pleonasmus ist in dieser Hinsicht eine sinnvolle Tautologie. Das volkstümliche Fremdwort "deprimiert" trägt darüber hinaus als sprachökonomische Bezeichnung der negativen Wirkung zur indirekten Charakterisierung der Schifahrer bei: Ökonomisch ist für sie das, was dem Lustprinzip nur zuträglich ist. Das Sprechen von der negativen Auswirkung der 'kleinen Wintersonne 'auf eine "ganze Generation" ist dabei semantisch eigentlich unlogisch: Suggeriert wird ein Zusammenhang zwischen punktuellem Zustand ("derzeit") und dessen punktueller Folgeerscheinung ("deprimiert") bei gleichzeitiger durativer Folgeerscheinung ("eine ganze Generation"), die also auch eine Nachzeitigkeit indiziert: Man spricht gewöhnlich von den bleibenden Folgen einer Katastrophe, von der die oder mehrere Nachfolgegenerationen betroffen sein werden. Doch die Pseudologik gewinnt hier logische Gültigkeit: Das Natürliche ist so unnatürlich, daß es einer Naturkatastrophe gleicht; die Natur ist eine Unnatur. Im nachfolgenden Relativsatz wird die logische Inkongruenz auf syntaktischer Ebene subkutan weitergeführt. Die Verknüpfung der beiden Verben des Relativsatzes über die Konjunktion "oder", ihr gemeinsamer örtlicher Bezugspunkt ("hier") und die Wiederholung ihrer gleichen Anfangssilben ("heranwächst", "herkommt") suggerieren systematische Aufgliederung und logische Schlüssigkeit. Dahinter verbirgt sich aber Pseudologik. Die Konjunktion untergliedert nämlich in durative ("heranwächst") und perfektive ("herkommt") Aktionsart, aus der sich eine unterschiedliche Funktion des Adverbs "hier" ergibt: einmal gibt es Antwort auf die Frage 'Wo?', auf der anderen Seite auf die Frage 'Wohin?'. Im Hinblick auf das subsumierende Lexem "Generation" ist die Untergliederung in 'Zustands'verb und Bewegungsverb syntaktisch falsch. In einem Satz werden also drei Verkehrungen vorgenommen:
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Das scheinbar Natürliche ist unnatürlich, das scheinbar Unlogische ist logisch, das scheinbar Logische ist unlogisch. Im nächsten Satz ist von den "Kinder[n] der Papierarbeiter" die Rede. Obwohl bisher die Papierarbeiter nicht genannt worden sind, assoziiert der Leser doch, daß es die Armen (ohne die Frau) sind, die unter dem Regiment des Direktors stehen; denn ein Direktor besitzt eine Fabrik, in der etwas hergestellt wird. Mit den "Kinder[n] der Papierarbeiter" schließt sich das Assoziationsgefüge: es ist der Teil der "ganze[n] Generation junger Europäer, die hier heranwächst". Die Prolepse der Antonomasie als scheinbares Subjekt und ihre Absonderung vom Prädikat durch Doppelpunkt indizieren das Muster 'Sachtext' mit der Handlung 'Definieren'. Die so geweckte Erwartung wird allerdings im folgenden durch die Passivkonstruktion und den Konjunktiv enttäuscht: Zum einen wird das Agens ("Kinder der Papierarbeiter"), das im Aktiv die Subjektstelle besetzen würde, im Passiv zu einer Agensangabe - einem dem Prädikat zu- und untergeordneten Glied, das weglassbar ist. Zum anderen durchbricht der Konjunktiv mit seinem hohen Gehalt an Expressivität das Muster der sachlichen Beschreibung. Dadurch, daß das Substantiv "die Welt" durch die passivische Aussage als affiziertes, d.h. von einer Handlung betroffenens Objekt in die Subjektposition rückt, gewinnt der Potentialis an Gewicht und zeigt eine Tendenz zum Optativ: 'Wenn die Welt doch nur von den Kindern erkannt würde!' Wenn sich auch die präzise Zeitangabe "um sechs Uhr früh" dem Muster 'Sachliche Beschreibung' fügen würde, so wirkt sie doch - da sie nun einmal im Kontext des 'Optativs' steht - überflüssig. Die Tatsache, daß präzise Zeitangaben dort eher angebracht wären, wo leere temporale Deixen stehen, macht deutlich, daß die herkömmlichen zeitlichen Textkonstituenten an den zu erwartenden Stellen fehlen und statt dessen am 'falschen' Ort auftreten - eine pervertierte Vorstellung von Orientierung durch Zeitangaben. Der potentielle Augenblick der Welterkenntnis ist also "sechs Uhr früh". Die temporale Konjunktion "wenn" hat iterative Bedeutung und zeigt an, daß die Kinder der Papierarbeiter dann gewöhnlich "in den Stall gehen und grausame Fremde für Tiere werden." Da von Kindern die Rede ist, deren Eltern in der Papierfabrik arbeiten, und nicht von Kindern, deren Eltern einen Bauemhof besitzen, können die Lexeme "Stall" und "Tiere" nicht im eigentlichen Sinne gemeint sein, auch 247
wenn sie sich der assoziativ aktualisierten Örtlichkeit 'Provinz' (vgl. "Bäume ringsum", "Schifahren") fügen. Als Metaphemsignal wirkt hier also die Zeitangabe "um sechs Uhr früh": Dann gehen die Kinder nämlich nicht in den "Stall" auf dem Bauemhof, sondern in das elterliche Schlafzimmer, wo sie "grausame Fremde" für ihre tierischen Eltern werden. Die einfache Ersetzung der eigentlichen Ausdrücke provoziert den Transferprozeß 'Animalisierung', der die ontische Differenz zwischen Mensch und Tier annulliert. Da die Aufschlüsselung der einfachen Ersetzung eine Kenntnis des weiteren (sprachlichen oder situativen) Kontextes voraussetzt, provoziert sie hier lediglich die Deautomatisierung des Satzes. Mit der Deautomatisation der Semantik durch den unerwarteten inhaltlichen Sprung und dessen vorverweisender Funktion kookurriert die konjunktivische Passivkonstruktion: Die Eindringlichkeit des Wunsches (Optativ) wird durch den Überraschungseffekt, der aus der Abweichung vom angekündigten Muster 'sachliche Beschreibung' resultiert, maßgeblich gesteigert und bekommt durch den warnenden Ton vorverweisende Funktion. Das hohe Maß an emotionaler Beteiligung, das im 'Optativ' zum Ausdruck kommt, thematisiert den Erzähler als eine das Geschehen beobachtende Instanz. Gleich einem Augur sieht er etwas in fataler Notwendigkeit heraufziehen, da von der Erkenntnis der Welt alles, nämlich die Welt selbst, abzuhängen scheint. Diese rätselhafte Vorankündigung steht in Kontrast zur vorangegangenen Beschreibung des Environnements und dem Duktus der sachlichen Beschreibung, wo der Erzähler als eine sich mit dem zu Erzählenden auskennende Figur erscheint: Hier nämlich wird der Eindruck von der Autonomie des Inhalts der Erzählung vermittelt, der auf dem Gestus des 'Du weißt schon' des Pseudomärchenstils aufbaut. Der Erzähler scheint nicht mehr oder genausoviel wie der Leser zu wissen, insofern als er lediglich vorempfindet und vorhersieht und nicht dem Gegenstand des Erzählens souverän gegenübertritt. Zusammen mit dem Leser wird er jetzt dem Gegenstand der Erzählung, den sie beide kennen, mit Augenmerk auf Details folgen. Die Ambivalenz von wirklichem Erzählen und Beobachten dessen, was wir alle schon zu kennen scheinen - so jedenfalls suggerierte der Pseudomärchenstil - kulminiert also in der Funktion des Erzählers als eines Showmasters, der beim Publikum
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Vertrautheit mit dem Gegenstand der Erzählung voraussetzt,201 und den er jetzt lediglich während seines Abspulens kommentierend begleiten wird. Der in dem Wunschsatz zum Ausdruck kommende Kommentar beschränkt sich dabei nicht auf die Syntax und Semantik, sondern wird auch auditiv abgegeben. Die Lexeme "grausam[]", "Fremde" und "Tiere" sind so gewählt, daß ihre Vokale /au/ und /e/ zunächst die Empathie in den Gefühlszustand der Tiere auditiv nachbilden, um dann in der wertenden Distanz des Ekel signalisierenden M zu kulminieren. Im Unterschied zu dem Konjunktiv der indirekten Rede in Passage 1 kommt hier nicht lediglich Distanz, sondern empathische Distanz zur Erzählung zum Ausdruck. Die Mustermischung aus Beschreibung und empathischer Beobachtung (Konjunktiv) baut also hier konsequent auf den Pseudomärchenstil auf, der aus der Mustermischung 'spontanes Sprechen' und distanzierte Beschreibung (Konjunktiv) resultierte: Aus der Vertrautheit ist Bekanntheit geworden - und wir wissen immer noch nicht, um was es denn bloß gehen soll... Der folgende Satz kontrastiert als Aussagesatz mit einfacher Satzstruktur (SPO) mit dem vorangegangenen 'Optativ'. Die Tatsache, daß das Verb "gehen" in Bedeutung (Handlung) und Aktionsart (durativ) authentisch bleibt, obwohl das gleiche Verb soeben vorkam, zeigt, wie bewußt hier mit Kontextualisierungsleistungen (Mustern) operiert wird: Hier dient der Musterkontrast von 'erregtem Sprechen' und 'Beschreibung' der Nuancierung der Verbidentität. Die einfache Satzkonstruktion und darüber hinaus die Erfüllung der Erwartung auf eine Handlung suggeriert absolute Entspannung. Kurze Entspannung wird gewährt, längeres Ausruhen jedoch verweigert, denn schon der näch201 Bekannt ist ein solches Vorgehen aus Theaterstücken. In Jean Anouilhs "Antigene" beispielsweise tritt gleich zu Anfang ein Sprecher auf, der ebenfalls weitestgehend von der Vertrautheit des Publikums mit dem Stoff der Handlung ausgeht. Die Schauspieler sitzen auf der Bühne und werden von ihm dem Publikum mit ihrer Rolle vorgestellt, bis sie dann nach und nach die Bühne verlassen, um mit dem Spiel zu beginnen. Manfred Flügge schreibt zu diesem Prolog: "Diese Einleitung ist oft untersucht worden als Beispiel für Verfremdungseffekte, es werden aber nicht Personen, Schauspieler, sondern Gestalten (personnages) vorgestellt, es findet eine Art Verwandlung oder Taufe statt: Die Übernahme von Rollen ist ein zentrales Thema bei Anouilh, das in Beckett seinen Höhepunkt findet. Selbstkommentierung ist ein durchgängiges Verfahren in diesem Stück [...]." Flügge: Anmerkungen zu J. Anouilhs 'Antigene'. In: Anouilh: Antigene. Beckett oder die Ehre Gottes. Schauspiele. 21985, S. 250.
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ste Satz weicht wieder in abstraktere Regionen der Hintergrundbeschreibung aus. Es geht um die Güte der Frau, die unter Bezugnahme auf einen körperlichen Gesamtwert berechnet wird. Auf diese Gesamtheit "von allen Körpern hier" bezogen, gilt die Frau umgerechnet "allein schon mehr als die Hälfte", d.h. sie ist schon über die 50%Hürde der zu erreichenden Gesamtpunktzahl hinaus. Was muß sie tun, um 100% gültig zu sein? Wenn sie "allein" nur knapp über die 50%-Güte hinausgekommen ist, wird erst ihre zweite Ehehälfte sie vollgültig machen. Doch wie wird das erst, wenn der Mann dazugerechnet würde, da sie doch "allein schon" mehr als die Hälfte gilt? Die Hyperbel "allein schon" evoziert also den Mann und darüber hinaus die Tatsache, daß für seine Güte ein neuer Maßstab angelegt werden muß. Das Merkmal des Komparativs, das durch die Metapher (Substitution von 'Belebt' durch 'Unbelebt') im Bezugspunkt des Vergleichs ("Körper") genannt ist, wird durch den folgenden Kontext präzisiert. Die Bezugnahme auf "die andre Hälfte" wirkt zunächst pseudologisch, da sie im Hinblick auf den vorangegangenen Komparativ folgende Gegenüberstellung suggeriert: 'Mehr als 50%, also 60% etc. die anderen 50%'. Die Pseudologik deautomatisiert den Satz und gibt somit auch wiederum den Blick in ihre Logik frei, die zur Präzisierung der "Hälfte von allen Körpern hier beiträgt": da die andere Hälfte in der Fabrik arbeitet, und da heutzutage immer noch mehr Männer als Frauen einer Arbeit nachgehen, sind mit der ersten Hälfte die weiblichen Körper gemeint. Eindeutiger wäre es gewesen, wenn explizit von 'der einen' im Unterschied zu 'der andren Hälfte' gesprochen worden wäre. So aber trägt die Ellipse des einen Adjektivs zur Deautomatisation und damit zur Bewußtmachung dessen bei, was eigentlich immer schon klar ist: Die Frau wird nach ihrem körperlichen Marktwert beurteilt, der sich aus dem Vergleich zu anderen weiblichen Körpern ergibt. Die Nachlässigkeit in der Diktion rechnet mit der Vertrautheit des Lesers mit dem, was erzählt wird; hier zeigt sich sehr schön, wie die suggestive Vertraulichkeit dazu benutzt wird. Vertrautes fremd zu machen, um aus dieser Fremdheit heraus bewußt wahrgenommen werden zu können. Nachlässigkeit in der Diktion liegt auch vor in "unter dem Mann (arbeiten)". Dadurch, daß auf Eindeutigkeit (z. B. 'unter der Leitung des Mannes') verzichtet wird, kann die Präposition mit Dativ ("unter") als Adverb sowohl mit lokaler als auch mit modaler Bedeutung gele250
sen werden. Hat diese Ambivalenz hier auch eine eindeutig stärkere Tendenz hin zur zweiten Bedeutung, so ist sie dennoch nicht zu leugnen, ist sie unter anderem doch auch konstitutiv für den nächsten Satz. Die Setzung einer consecutio temporum zwischen "arbeiten" und "anfaulen" durch die Konjunktion "nachdem" wirkt verfremdend, da sie den bisherigen Kontext 'Zustandsbeschreibung' unterminiert. Unterstrichen wird der Kontrast zwischen Zustand und Handlung durch das verbale Partikelkompositum "augaul[en]", dessen adverbialer Bestandteil den plötzlichen Einsatz der Handlung evoziert. Da man eher von dem Ertönen einer Sirene spricht als von ihrem AuQaulen, kommt zur syntaktischen Verfremdung eine semantische und mit ihr eine auditive hinzu: Assoziiert wird mit dem lautmalenden 'jaulen' das Heulen eines Hundes, das als Kommentar des Erzählers die Arbeit der Papierarbeiter als einen eigentlich erbarmungswürdigen Zustand charakterisiert. Die unerwartete consecutio temporum löst also den Zustand des Arbeitens in einen in der Bewegung erstarrten Gestus auf und macht ihn als gesellschaftlich-kollektives Verhalten sichtbar. Die Konjunktion "Und", mit der der nächste Satz eröffnet wird, suggeriert logischen Anschluß an das Gesagte. Pseudologisch ist die Rede von den "Menschen", da gerade noch von der Arbeit der Papierarbeiter
gesprochen
'unmenschlich'
wurde,
verbindet.
Die
mit
der
man
Wiederaufnahme
die der
Assoziation Präposition
"unter" aus dem vorangegangenen Satz jedoch macht den Bezug auf die Hintergründigkeiten explizit. Der Satz ist völlig logisch in seiner scheinbaren Pseudologik: Die Menschen, von denen jetzt die Rede ist, sind die Männer, von denen soeben die Rede war. Die Papierarbeiter haben bei aller Erbärmlichkeit ihrer Arbeit einen Anhaltspunkt im Leben; sie halten sich an die Frauen - so suggeriert es die Periphrase "das nächste,202 das sich unter ihnen ausstreckt"; unter dem Mann dagegen arbeiten sowohl die Papierarbeiter, als auch "die eine, die seine" - hier spätestens hört also der Mehrwert der Frau auf. Diese Menschen halten sich "genau" an ihre nächsten, so als ob es eine Dienstvorschrift wäre. Die Mischung von sozialer ("genau") und lokaler ("unter") Kategorie hebt die soziale Bedeutung des Geschlechtsaktes für die Männer hervor. Aus ihrer Perspektive handelt es sich um ihre 'sexuelle Die Kleinschreibung des substantivierten Adjektivs markiert - wie in Passage 1 "das immer gleiche" - die Ellipse eines Subjekts, die allerdings hier durch den Relativsatz verdeckt ist.
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Pflicht', der es 'vorschriftsmäßig' nachzukommen gilt, aus der Perspektive des Erzählers und vor dem kontextuellen Hintergrund wohl eher um eine Art Überlebenstraining im Sinne von Selbstbestätigung. Das Lexem "Menschen" fällt im Kontrast zu den "Tiere[n]" auf, von denen vorher die Rede war; in dieser Passage kommt es augenscheinlich auf diese beiden Bereiche an. Dieser Hintergrund, darüber hinaus die durch den vorangegangenen Satz evozierte Assoziation 'unmenschlich' und die Semantik des Satzes selbst wirken als Metaphemsignale: "Menschen" steht für "Tiere", denn nur Tiere halten sich "genau", d.h. instinkthaft-bewußtlos "an das nächste". In der generalisierenden Rede von den "Menschen" / Tieren wird der phrasenhafte Duktus des Satzes herausgestellt. Phrasen suggerieren eine allgemein bekannte und unbestrittene, daher nichssagende Behauptung und dies oft in Form einer Redensart.^ra Die normative Kraft der konnotierten Phrase wird hier genutzt, um eine neue, andere und damit bestreitbare Normvorstellung aufzubauen:2