Die feinen Unterschiede der Männlichkeiten: Geschlechtsspezifische Figurenkonzeptionen in Elfriede Jelineks Erzähltexten [1 ed.] 9783737011488, 9783847111481


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German Pages [317] Year 2020

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Die feinen Unterschiede der Männlichkeiten: Geschlechtsspezifische Figurenkonzeptionen in Elfriede Jelineks Erzähltexten [1 ed.]
 9783737011488, 9783847111481

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Gesellschaftskritische Literatur – Texte, Autoren und Debatten

Band 4

Herausgegeben von Monika Wolting und Paweł Piszczatowski

Julia Schwanke

Die feinen Unterschiede der Männlichkeiten Geschlechtsspezifische Figurenkonzeptionen in Elfriede Jelineks Erzähltexten

Mit 4 Abbildungen

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.de abrufbar. Gedruckt mit freundlicher Unterstþtzung der Rosa-Luxemburg-Stiftung.  2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Gçttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung:  showcake; iStock by Getty Images (#526651739) Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2629-0510 ISBN 978-3-7370-1148-8

Inhalt

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Erkenntnisinteresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Schreib- und Ausdrucksweisen . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Problem mit der Zweigeschlechtlichkeit . . . . . . . 3. Begriffsklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Zum Begriff der Performanz . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Zum Begriff des Patriarchats . . . . . . . . . . . . . . 4. Literaturwissenschaftlicher Ansatz . . . . . . . . . . . . III. Forschungsstand, Positionierung und Beitrag zur Forschung IV. Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zum Werk von Elfriede Jelinek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Eine »fanatisierte Emanze« – Jelinek und der Feminismus . . . II. »Eine Art Holzschnittechnik« zur Dekonstruktion – Jelineks ästhetische Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Der Untersuchungsgegenstand – Jelineks realistische Prosatexte

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Theoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Bourdieus Klassen- und Habituskonzept . . . . . . . 1. Sozialer Raum und Kapitalsorten . . . . . . . . . 2. Klassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Fraktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Geschmack . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Habitus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Die männliche Herrschaft . . . . . . . . . . . . . II. Dimensionen von Männlichkeiten . . . . . . . . . . 1. Connells Konzept der hegemonialen Männlichkeit

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Inhalt

2. Kritik am Konzept der hegemonialen Männlichkeit . . 3. Meusers Erweiterung des Konzepts: Die hegemoniale Männlichkeit als generatives Prinzip . . . . . . . . . . 4. Vier Facetten der Aus- und Verhandlungen von Männlichkeit(en) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Die ernsten Spiele des Wettbewerbs . . . . . . . . . 4.2 Gewalthandeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Die Abwertung des Weiblichen und der Abhängigkeits-Autonomie-Konflikt . . . . . . . . . . 4.4 Relevanz des Körpers . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Zusammenfassung: Vier Grundpfeiler traditioneller Männlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Dimensionen von Weiblichkeiten . . . . . . . . . . . . . . 1. Die pariah femininities nach Mimi Schippers . . . . . . 2. Angela McRobbies Top Girls . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zusammenfassung: Weiblichkeiten abseits der Norm . IV. Interdependenzen von Geschlecht und Klasse . . . . . . .

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Methodologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Zum kognitionswissenschaftlichen Ansatz . . . . . . . . . . . II. Eders Modell zur Figurenrezeption . . . . . . . . . . . . . . . 1. Arten von Rezeptionsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Uhr der Figur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Die Figur als fiktives Wesen . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Die Figur als Artefakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Die Figur als Symbol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Die Figur als Symptom . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Motive und Konstellation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Uhr der Figur in der Analyse der Jelinek’schen Figuren – Ein Analysewerkzeug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Klavierspielerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Erika Kohut – Resultat eines Zwiespalts . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Erika als weiblich gezeichnete Figur . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Entweiblichung – oder : Die Unmöglichkeit einer weiblichen Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Aneignung und Zuschreibung von Männlichkeit . . . . . . . 1.4 Die Frau mit der phallischen Anmaßung – Ein Resümee . . 2. Walter Klemmer – Über die Unmöglichkeit zu Herrschen . . . . 2.1 Walters männliche Performanz . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

2.2 Brechung der Figur – oder : Die Verweiblichung Walter Klemmers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Das privilegierte »Riesenbaby« – Ein Resümee . . . . . . . II. Die Ausgesperrten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Otto Witkowski – Prototyp einer gescheiterten Männlichkeit . 1.1 Die Relevanz der (Nicht-)Ernährer-Rolle . . . . . . . . . . 1.2 Eifersucht – Symptom einer defizitär empfundenen Lage . 1.3 Gewalt und Vergewaltigung . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Künstlertum als Kompensation . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Otto als Frauenheld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6 Der defizitäre Gewalttäter – Ein Resümee . . . . . . . . . . 2. Hans Sepp – Starkstrommonteur auf Abwegen . . . . . . . . . 2.1 Die (mangelnden) Ressourcen . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Zur Selbstverständlichkeit stereotyper Geschlechterrollen . 2.3 Die Instrumentalisierung von Hans . . . . . . . . . . . . . 2.4 Auf dem Weg zur traditionellen Männlichkeit? – Ein Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Anna Witkowski – Zwischen Tradition und Emanzipation . . . 3.1 Der spezifische Einsatz von Intellektualität . . . . . . . . . 3.2 Annas große Wut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Verhältnis zu Körper und Sexualität . . . . . . . . . . . . . 3.4 Anna und die Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Die gebrochene phallische Frau – Ein Resümee . . . . . . . 4. Rainer Maria Witkowski – »Tragödie des intellektuellen Kleinbürgers« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Klassenkampf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Abwendung von Körperlichkeit und Sexualität . . . . . . . 4.3 Exploration traditioneller Attribute . . . . . . . . . . . . . 4.4 Männer- und Frauenbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Die Verspottung des Herrn Professor . . . . . . . . . . . . 4.6 Der frustrierte Ex-Kleinbürger – ein alternativer Geschlechterentwurf ? – Ein Resümee . . . . . . . . . . . . III. Perspektivierung der Figurenkonstruktionen: Ein Exkurs zu Lust 1. Hermann, der hyperpotente Fabrikdirektor . . . . . . . . . . . 1.1 Brüche durch die Konzeption . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Kompensationsstrategien und der Faktor Gerti . . . . . . . 2. Das Scheitern am Patriarchat als Scheitern des Patriarchats . . 3. Das »patriarchal-kapitalistische[…] Doppelmonster« – Ein Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Kompositionsglieder der Jelinek’schen Patriarchatskritik . . . . . . . . . I. Zur Kastration von traditionellen Männlichkeiten . . . . . . . . . . II. Rainer als Versuch einer heterotopischen Figurenkonzeption? . . . III. Der Körper als Ressource zur Sicherung männlicher Vorherrschaft IV. Die Negierung des Körpers als Möglichkeit des Ausbruchs aus patriarchalen Machtverhältnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Die ernsten Spiele des Wettbewerbs – eine Strukturübung des männlichen Habitus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Erika und Walter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Hans und Rainer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Resümee: Jelineks ernste Spiele des Wettbewerbs als Patriarchatskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Verflechtungen von Männlichkeit und Klasse bei Jelinek . . . . . . 1. Klasse in Die Klavierspielerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Klasse in Die Ausgesperrten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Klasse in Lust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Männlichkeitsgenerierende Attribute in Interdependenz mit der Kategorie Klasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die hegemoniale Männlichkeit als klassenübergreifendes generatives Prinzip – Ein Resümee . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Resümee zur Analyse der Männlichkeiten II. Reflektion des Analysewerkzeugs . . . . . III. Interdisziplinärer Mehrwert und Ausblick

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Danksagung

Ich danke Prof. Dr. Dr. h.c. Heinrich Detering und Prof.in Dr. Simone Winko für ihre kompetente und stets herzliche Betreuung meiner Arbeit. Für ihre Erreichbarkeit, ihre wertvollen Ratschläge und ihre beruhigenden Worte vor allem in der Endphase – bei Weitem keine Selbstverständlichkeit in der Welt der Promotion. Der Rosa-Luxemburg-Stiftung danke ich für die großzügige finanzielle Unterstützung dieser Arbeit und darüber hinaus für die vielen inspirierenden Momente im Verlauf der Förderung. Zu großem Dank verpflichtet bin ich außerdem den Reihenherausgeber_innen Prof.in Dr. Monika Wolting und Dr. Paweł Piszczatowski für die freundliche Aufnahme in die Reihe »Gesellschaftskritische Literatur – Texte, Autoren und Debatten« der Vandenhoeck & Ruprecht Verlage. Denise, Viola, Alina, Judith, Folke, Moriz, Hannah, Uta*n und allen Menschen aus den Kolloquien danke ich für ihre Bereitschaft, sich meine Arbeit aufmerksam zu Gemüte zu führen und dafür, dass sie sich nicht gescheut haben, wertvolle Kritik an mich heranzutragen. Besonderer Dank gilt meinen Eltern Susanne und Martin, meiner Schwester Nina und meinen Neffen Jaden und Mael dafür, dass sie stets an mich geglaubt haben und mich emotional auf diesem manchmal doch beschwerlichen Weg unterstützt haben. Für unzählige Gespräche und beratende Sitzungen zum Abwägen eines Für und Wider von kleinsten Details, für das Teilen aller Beschwerlichkeiten, für die Unterstützung auf allen Ebenen, für deine klugen Worte, für deinen Rat und dein offenes Ohr, für all die Unaussprechlichkeiten danke ich dir, Denise.

Einleitung

2004 wurde Elfriede Jelinek der Literaturnobelpreis verliehen – die wohl höchste Auszeichnung für eine_n Literat_in. Die Verleihung solch eines renommierten Preises an die österreichische »Skandal-Autorin«1, wie der Stern damals titelte, barg allerlei Zündstoff. Der rechts-konservative Journalist und Autor Matthias Matussek konnte seiner Empörung kaum Einhalt gebieten und äußerte sich im Spiegel: »Elfriede Jelinek ist Nobelpreisträgerin, wer hätte das gedacht! […] Die sympathische Steiermärkerin, 57, zart, graublond, wird für ihre eher schwer verdaulichen Sadomaso-Schinken und den umso geläufigeren KaschmirschalAlpen-Antifaschismus mit dem güldensten und ehrwürdigsten Preis behängt, den der Weltliteraturbetrieb zu vergeben hat! Ist das wahr?« (zit. n. Hartwig 2007: 79). Akademie- und Jurymitglied Knut Ahnlund bewog diese Preisverleihung sogar dazu, endgültig seinen Rücktritt aus dem Literaturnobelpreiskomitee bekannt zu geben. Die Verleihung des Preises an Elfriede Jelinek habe den Wert dessen »auf absehbare Zeit zerstört«.2 Er befand ihr Werk als »armselig und dürftig« und warf ihr »klagende und lustlose Gewaltpornografie«3 vor. Zwar lobte Marcel Reich-Ranicki bereits 1989 im Literarischen Quartett Jelineks Kunstfertigkeit, ihren Text Lust bezeichnete er jedoch in Anbetracht dessen, was Jelinek damit mutmaßlich erreichen wollte, als »weit überzogenes Buch«, welches im Vergleich zu seiner »feministischen Substanz« um die Hälfte zu lang sei.4 An derlei Reaktionen auf Jelineks Erfolge wird deutlich, wie sehr sie mit ihrer gesellschaftskritischen Analyse provoziert, wie Kritiker_innen deshalb bemüht sind, ihre Arbeiten mit Umschreibungen wie »Sadomaso-Schinken« oder »lustlose[r] Gewaltpornografie« zu diskreditieren. In der offiziellen Begründung 1 https://www.stern.de/kultur/buecher/elfriede-jelinek-literaturnobelpreis-fuer-skandal-auto rin-3540998.html (letzter Zugriff am 18. 03. 2019). 2 https://www.spiegel.de/kultur/literatur/literaturnobelpreis-jury-ruecktrittseklat-wegen-jeli nek-a-379164.html (letzter Zugriff am 18. 03. 2019). 3 Ebd. 4 Marcel Reich-Ranicki im Literarischen Quartett vom 10. 03. 1989. Online abrufbar unter : https://www.youtube.com/watch?v=8b0jWkWwYtk (letzter Zugriff am 18. 03. 2019).

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Einleitung

des Nobelpreiskomitees wird die Autorin »for her musical flow of voices and counter-voices in novels and plays« gelobt, »that with extraordinary linguistic zeal reveal the absurdity of society’s clich8s and their subjugating power«.5 Auch die Jury sah in ihren Werken also das Gesellschaftskritische, das soziale Klischees und Machtverhältnisse ins Zentrum der Texte rückt, allerdings wurde es von ihr mit einem hochdotierten Preis geehrt, nicht denunziert. Die prominente Stellung der Sozialkritik und der feministischen Standpunkte in Jelineks Werken wird durch die Stimmen ihrer Kritiker_innen evident. Auch in den Literatur- und Gesellschaftswissenschaften sind dies zentrale Themen der Auseinandersetzung mit Jelineks Werken. Vor allem in genderorientierten Untersuchungen finden Jelineks Verhandlungen von strukturellen Macht- und Diskriminierungsverhältnissen wie Rassismus, Klassismus und Sexismus hohe Aufmerksamkeit.6 Im Kontext des Sexismus bzw. der Analyse der von Jelinek als patriarchal organisiert beschriebenen Gesellschaft wird der Fokus jedoch bis heute mehrheitlich auf die weiblich gezeichneten Figuren gerichtet. Der Auseinandersetzung mit den Konzeptionen der männlich gezeichneten Figuren und deren sozialkritischem Impetus wurde bislang kaum Beachtung geschenkt. Jelineks Männlichkeitskonstruktionen werden häufig als eindimensional oder schemenhaft abgetan und daher in der Analyse außer Acht gelassen. Dabei wird übersehen, wie präzise Jelinek die gesellschaftlichen Bedingungen und Verhältnisse auch der Männlichkeiten beobachtet und analysiert, um die Ergebnisse dessen anschließend in ihre Männlichkeitskonzeptionen einfließen zu lassen. Daher richtet die vorliegende Arbeit ihren Blick auf eben dieses Desiderat. Aus gendertheoretischer Perspektive ist dabei zu eruieren, wie genau sich Jelineks Kritik an den gesellschaftlichen Machtverhältnissen – oder genauer : Jelineks Patriarchatskritik – in ihren Figurenkonzeptionen der männlich gezeichneten Figuren niederschlägt. Die zentrale Annahme ist, dass die Figuren sich bei der Herstellung ihrer Geschlechtlichkeit allesamt am Ideal der hegemonialen Männlichkeit im Sinne der Soziologin Raewyn Connell orientieren. Darüber hinaus wird gefragt, inwiefern Jelineks präzise Gesellschaftsanalysen auch einen Beitrag für die soziologische Forschung leisten können, wie also anhand von Literatur bzw. von Figurenkonzeptionen auch soziologische Modelle modifiziert und spezifiziert werden können.

5 https://www.nobelprize.org/nobel_prizes/literature/laureates/ (letzter Zugriff am 18. 03. 2019). 6 Diese Untersuchungen sind in ihrer Zahl bisher jedoch überschaubar, wie im Abschnitt zum Forschungsstand deutlich wird.

Erkenntnisinteresse

I.

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Erkenntnisinteresse

Ziel dieser Arbeit ist es, die Männlichkeitskonstruktionen in ausgewählten Prosatexten Elfriede Jelineks zu untersuchen, um die Gendersensibilität für Jelineks Werke zu schärfen. Der dominanten Lesart der Erzähltexte Jelineks, die die männlich gezeichneten Figuren entweder unberücksichtigt lässt oder ihnen eine eindimensionale Struktur attestiert, wird mit dieser Arbeit eine alternative Lesart an die Seite gestellt. Mit anderen Worten: Die vorliegende Arbeit soll deutlich machen, wie die Figuren in Jelineks Erzähltexten bei der Rezeption wirken können, wenn gendertheoretische Konzepte als Grundlage der Rezeption dienen. Dann, so die These, wird sichtbar, dass Jelinek ihre Figuren auf eine Weise konzipiert, die es ermöglicht, ihre Kritik an den herrschenden patriarchalen Verhältnissen über ihre Figurenkonzeptionen zu formulieren. Die Grundannahme ist, dass Jelinek ihre (männlichen) Figuren im Rahmen patriarchaler Lebensbedingungen mit dem Anspruch ausstattet, allein aufgrund ihrer biologischen Zugehörigkeit zur gesellschaftlich dominanten Gruppe eine Machtposition innezuhaben.7 Dieser Anspruch lässt – so die These – die männlich gezeichneten Figuren allesamt einen hegemonialen Status im Sinne Raewyn Connells anstreben (vgl. Theoretische Grundlagen in dieser Arbeit). Michael Meuser spricht in diesem Zusammenhang davon, dass die hegemoniale Männlichkeit als Ideal für alle Männlichkeitskonstruktionen als generatives Prinzip wirke. Demnach orientieren sich alle Menschen, die eine Männlichkeit anstreben, in ihrer Selbst-Konstruktion am Ideal der hegemonialen Männlichkeit. Die Auffassung eines Handlungsmusters als hegemonial lässt sich erst durch seine Relation zu unterschiedlichen Strukturkategorien bestimmen. Die Positionierungen innerhalb dieser werden in einem jeweils spezifischen zeitlichen und lokalen Kontext von den gesellschaftlichen Akteur_innen konsensual8 als höherwertig und erstrebenswert bewertet und gelten damit als privilegiert. Im Kontext der Klassenzugehörigkeit beispielsweise kann heute in den sog. ›westlich geprägten‹ Gesellschaften diejenige Männlichkeit als hegemonial gelten, 7 Bei der Herstellung von Männlichkeit geht es nach Rolf Pohl immer auch um gesellschaftliche und geschlechtsbezogene Macht (vgl. Pohl 2011: 126), weshalb Macht einen zentralen Moment im Rahmen der Analyse ausmachen wird. 8 »Konsensual« sei hier nicht als tatsächlicher Konsens im Sinne einer aktiven, willentlichen, bewussten Zustimmung verstanden. Es ist nicht so, dass alle gesellschaftlichen Akteur_innen sich aktiv und bewusst für solch eine Privilegierung einer bestimmten Position ausgesprochen hätten. Auch ein recht passives Mittragen dieser Vorherrschaft beispielsweise durch eine emphasized femininity im Sinne Connells (vgl. Connells Konzept der hegemonialen Männlichkeit in dieser Arbeit) lässt eine bestimmte Position in der Gesellschaft hegemonial werden. Die Positionen derer, die sich aktiv dagegen wehren, sind gesellschaftlich zu machtlos, als dass daraus eine Aberkennung der jeweiligen Position als hegemonial erwachsen könnte.

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Einleitung

welche zur herrschenden Klasse, dem Bürgertum, gerechnet wird. Weitere Beispiele für gesellschaftliche Strukturkategorien sind Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Alter, Bildung oder körperliche Versehrtheit / Unversehrtheit. Aus diesen interdependenten Verhältnissen entsteht ein immer feingliedrigeres Bild der sozialen Position und der daraus abzuleitenden Handlungsmuster einer spezifischen Männlichkeit. Ideale sind zwar einem stetigen Wandel unterworfen, was bei Connell durch die Betonung der Prozesshaftigkeit von Handlungsmustern deutlich wird (vgl. Connell 2006: 92). Zu den Eckpfeilern der hegemonialen Männlichkeit des 21. Jahrhunderts zählen jedoch immer noch die traditionellen, bürgerlichen Werte und Normen: Autonomie (Unabhängigkeit – vor allem von Weiblichkeit), Macht, ökonomisches Kapital und das damit verbundene Ernährer-Modell, Vernunft, Stärke und der damit konnotierte Mann als Beschützer (vgl. Hausen 1976; zur Autonomie vgl. a. Pohl 2004, 2011) sowie ein unversehrter Körper, CisMännlichkeit9, Weißsein, Heterosexualität und sexuelle Potenz (vgl. Connell 2006). Daraus speist sich das konsensual erzeugte Ideal hegemonialer Männlichkeit. Zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort erlangt dieses Ideal Gültigkeit, da es sodann die einzige Männlichkeit ist, die besonderes Ansehen sowie Bestätigung erfährt und deren Performanz in der patriarchal geprägten Gesellschaft honoriert wird. Meuser macht dieses Ideal der hegemonialen Männlichkeit, wie gesagt, als generatives Prinzip der Männlichkeitskonstruktion für alle Männlichkeiten aus – unabhängig von ihrer sozialen Lage. Durch die Inkorporierung dieser zumeist traditionellen10 Werte und Normen orientieren sich alle Männlichkeiten bei der Herstellung und Performanz ihrer Männlichkeit an diesem Ideal (vgl. Meuser 2010). Eine Männlichkeit, die sich nicht nur an den Werten und Normen dieses Ideals orientiert, sondern diese als Performanz ex-

9 Das Präfix Cis (von lat. cis – diesseits) verdeutlicht die Übereinstimmung von dem bei der Geburt zugeordneten Geschlecht mit der aktuellen Geschlechtsidentität einer Person. Eine Cis-Männlichkeit wurde somit bei der Geburt als männlich eingeordnet und lebt auch als männlich identifiziert. Die Bezeichnung dieser Personen als Cisgender wird mit dem Ziel der Markierung und Sichtbarmachung von gesellschaftlichen Normierungen bzw. der Infragestellung des Othering von Transidentitäten genutzt (Othering sei hier im Sinne der Abgrenzung und damit einhergehenden Abwertung anderer Gruppen mit dem Ziel der Aufwertung der eigenen Gruppe verstanden, vgl. a. Spivak 1985). 10 Unter traditionellen Werten und Normen seien hier moderne, westlich orientierte, bürgerliche, industriegesellschaftlich geprägte Werte und Normen verstanden, die im 19. Jahrhundert ausgeprägt und verfestigt wurden (vgl. Vier Dimensionen der Aus- und Verhandlungen von Männlichkeit(en) in dieser Arbeit).

Erkenntnisinteresse

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plizit anstrebt, soll hier mit dem Begriff ›traditionelle Männlichkeit‹ benannt sein.11 Daraus wird die These abgeleitet, dass die von Jelinek als männlich gezeichneten Figuren zum Scheitern verurteilt sind. Sie profitieren nicht ausschließlich vom Patriarchat – durch die patriarchale Dividende etwa (vgl. Connell 2006: 100) –, sondern sie laufen Gefahr, durch Abweichung vom Ideal an den Anforderungen zu scheitern, die das Patriarchat mit der Verkörperung einer hegemonialen Männlichkeit an sie stellt. Wenn Jelinek ihre Figuren etwa bereits aufgrund ihrer sozialen Lage nicht mit der Möglichkeit ausstattet, das Ideal traditioneller Männlichkeit zu erreichen, enthält sie ihnen kulturelle und symbolische Macht vor. Der Machtverlust wird beispielsweise dann noch verstärkt, wenn die Erzählinstanz die Unmöglichkeit herausstellt, die Klassenschranken zu überwinden (vgl. v. a. die Analyse von Die Ausgesperrten). Es wird vorausgesetzt, dass sich auch die weiblich gezeichneten Figuren eine Form von Männlichkeit aneignen können. Da mit Meuser davon ausgegangen wird, dass sich alle Menschen, die eine Männlichkeitsperformanz anstreben, bei der Konstruktion dieser am Ideal der hegemonialen Männlichkeit orientieren, muss folgerichtig auch angenommen werden, dass dies äquivalent für die weiblich gezeichneten Figuren Gültigkeit besitzt. Die These vom Scheitern an diesem Ideal gilt also genauso für die weiblich gezeichneten Figuren. Jelineks Werke werden hier im Einklang mit der Majorität der Forschungsliteratur als Patriarchatskritik verstanden, wobei durch Jelineks Patriarchatskritik immer auch ihre kapitalismuskritische Haltung durchscheint. Ohne den bemerkenswerten Anteil des Kapitalismus an den herrschenden Zuständen – gedacht sei hier beispielsweise an die geschlechtlich segregierte Organisation der Arbeitssphäre mit vermeintlich spezifischen Zuständigkeiten für Frauen und Männer, an die ebenfalls geschlechtlich getrennten Bereiche des Konsums, an herrschende und beherrschte Klassen, an die geschlechtsspezifische Zuordnung der Reproduktions- und Care-Arbeit, die bis heute in der Regel klassenübergreifend Frauen zugeschrieben wird – wäre die männliche Herrschaft womöglich nicht aufrechtzuerhalten. Ohne an dieser Stelle eine Diskussion über den sog. ›Haupt- und Nebenwiderspruch‹12 anstoßen zu wollen, ergibt sich aus Jelineks spezifischer Gesellschaftskritik unweigerlich die Frage nach ihren 11 Eine Orientierung am Ideal könnte schließlich auch dann vorliegen, wenn es explizit abgelehnt würde. Es bliebe dann weiterhin der zentrale Referenzpunkt der Männlichkeitskonstitution. Diese zwei Richtungen der Orientierung sollen hier deshalb unterschieden werden. 12 Der sogenannte ›Haupt- und Nebenwiderspruch‹ befasst sich mit der Frage danach, ob mit der Überwindung der ausbeuterischen, kapitalistischen Verhältnisse nicht auch automatisch die Frage nach der Frauenemanzipation beantwortet wäre oder ob die Ausbeutung und Subordination der Frau einer eigenen Auseinandersetzung bedarf.

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Einleitung

klassenspezifischen Männlichkeitskonstruktionen. Mit der Prämisse, dass alle Männlichkeiten sich am Ideal der hegemonialen Männlichkeit orientieren, soll daher die These aufgestellt werden, dass die hegemoniale Männlichkeit als generatives Prinzip auch klassenübergreifend Gültigkeit besitzt. Dabei wird außerdem geprüft, ob es Indikatoren dafür gibt, dass Männlichkeiten verschiedener Klassen sich in Anbetracht ihrer klassenbedingt ungleichen Ressourcen jeweils unterschiedlich konstituieren (vgl. a. Interdependenzen von Geschlecht und Klasse in dieser Arbeit). Elfriede Jelinek sagt von sich selbst, dass ihr Blick »der eines Naturforschers [ist], der aus großer Entfernung auf gesellschaftliche Prozesse schaut, um sie präzise beschreiben zu können« (Jelinek im Interview mit Löffler zit. n. Höfler 1991: 155). Jelinek legt demnach mit ihren Arbeiten Analysen der Gesellschaft vor. Sie beobachtet präzise die gesellschaftlichen Zustände, im Fokus dieser Arbeit sind vor allem die patriarchalen, und beschreibt sie indirekt in bitterer Ironie und Sarkasmus. Ihre Arbeiten bieten somit auch ein solides Potential dafür, sozialwissenschaftliche und gendertheoretische Analysemodelle zu modifizieren oder zu präzisieren. Den Beitrag, den die Theorien der Gender Studies für diese literaturwissenschaftliche Arbeit im Rahmen einer Figurenanalyse leisten, kann die Literatur somit möglicherweise auch umgekehrt den Gender Studies im Rahmen einer Präzisierung ihrer Modelle zur Gesellschaftsanalyse leisten. Diese Überlegung begleitet die gesamte Arbeit und wird im Fazit noch einmal abschließend aufgegriffen. Kurzum: Die Arbeit untersucht aus einer gendertheoretischen Perspektive, wie genau sich Jelineks Patriarchatskritik in ihren Figurenkonzeptionen niederschlägt. Es wird außerdem eruiert, welchen Beitrag Literatur zur Spezifizierung sozialwissenschaftlicher Theorien leisten kann.

II.

Vorüberlegungen

In diesem Abschnitt werden einige grundlegende Überlegungen angestellt, die unentbehrlich sind, um die Arbeit richtig zu verorten, Missverständnissen vorzubeugen und die Analyse folgerichtig entwickeln zu können. Dies betrifft zum einen die genderspezifischen Schreib- und Ausdrucksweisen und zum anderen die paradox anmutende Problematik der Zweigeschlechtlichkeit in einer Analyse, die gerade diese Zweigeschlechtlichkeit als veränderbare soziokulturelle Konstruktion begreift. Einige theoretische Grundlagen, auf die hier zurückgegriffen wird, rekurrieren auf einen zweigeschlechtlichen Ansatz, der davon ausgeht, dass das zugeordnete biologische Geschlecht und die Geschlechterperformanz einer Person kohärent sind, während die Prämisse der Analyse dagegen ist, dass auch weiblich gezeichnete Figuren sich Männlichkeit aneignen

Vorüberlegungen

17

können, ohne dass damit zwangsläufig eine sozial konventionalisierte Männlichkeit entstünde. Die ohnehin konstruierten Grenzen im Hinblick auf geschlechtliche Performanz sind demnach schwammig und nicht einfach zu ziehen. Wie mit dieser Problemstellung umgegangen wird, wird im Folgenden dargelegt. Außerdem werden die Begriffe Performanz und Patriarchat erläutert. Der Begriff der Performanz ist im Kontext der Philologie zunächst mit der Sprechakttheorie konnotiert. Im Kontext philosophischer und kulturwissenschaftlicher Überlegungen wird er jedoch aufgegriffen; ihm wird mit der Übertragung des Begriffs auf die Kategorie Geschlecht eine zusätzliche Dimension an die Seite gestellt. Dieser wird sich der Abschnitt zu Begriffsklärungen widmen. Der Begriff des Patriarchats spielt im Rahmen der Analyse eine ähnlich zentrale Rolle. Die Tatsache, dass er in feministischen Wissenschaftskonzeptionen durchaus umstritten ist, wird hier nicht ausgeblendet. Deshalb werden sowohl die Diskussion, die es um die Begrifflichkeit gibt, als auch die Entscheidung für die Nutzung des Begriffs verhältnismäßig kurz dargestellt. Zuletzt wird der theoretische Ansatz der vorliegenden Arbeit spezifiziert. Sie verortet sich in der literaturwissenschaftlichen Ideologiekritik und nutzt dabei eine kognitionswissenschaftliche Methode. Unter Punkt 4 wird daher die Kompatibilität der beiden Ansätze dargelegt sowie die Ziele eines ideologiekritischen Zugangs zum Text erläutert.

1.

Schreib- und Ausdrucksweisen

Sprache ist maßgeblich an der Konstruktion gesellschaftlicher Realität beteiligt. Vorstellungen über die Gesellschaft fließen in sprachliche Äußerungen ein, und ob Sachverhalte sprachlich formuliert werden können oder nicht, beeinflusst wiederum Denken und diskursive Konstituierungen von Wirklichkeit. In der deutschen Sprache werden in der Regel Majoritäten und Normen abgebildet, was zu Unsichtbarkeiten und indirekten Ausschlüssen ›Anderer‹ führt. Vor allem hinsichtlich der Kategorie Geschlecht ist die deutsche Sprache restriktiv, da sie von einem binären Geschlechtersystem ausgeht und so zahlreiche Lebensrealitäten ›verschweigt‹. Derartige Exklusionsprozesse und Unsichtbarmachungen sollen in der vorliegenden Arbeit aufgebrochen werden.13 Aus diesem Grund wird im Folgenden verstärkt auf Partizipialkonstruktionen zurückgegriffen, die zur geschlechtlichen Neutralität von Begrifflichkeiten beitragen. Ist dies nicht

13 Zu (Un)Sichtbarmachungen hinsichtlich der Schreibweisen bei der Beschreibung von Hautfarben in dieser Arbeit s. Fußnote 44.

18

Einleitung

möglich, wird auf den sogenannten Gender Gap14 zurückgegriffen, welcher auch für alle Identitäten Raum bietet, die sich jenseits der dichotomen Geschlechterordnung verstehen. Weiter soll die Kursivierung von geschlechtlich kategorisierten Begriffen wie Mann und Frau, Junge und Mädchen den Konstruktionscharakter dieser Begriffe markieren.15 Dabei umfassen die kursivierten Begriffe Mann und Frau einerseits geschlechtliche Identitäten, die sich selbst als Mann oder Frau definieren. Andererseits werden die Begriffe genutzt, um Menschen oder Figuren zu beschreiben, die als Mann oder Frau wahrgenommen werden und denen daraufhin mit bestimmten Erwartungen bzw. diskriminierenden Handlungen begegnet wird. Selbstidentifikation und Fremdwahrnehmung sind hierbei nicht zwangsläufig deckungsgleich. Damit die gesellschaftlichen (Herrschafts-)Strukturen hinter den individuellen Geschlechtsidentitäten dennoch benennbar bleiben, werden die unterschiedlichen Perspektiven jeweils unter den Begriffen Mann und Frau subsummiert. Wenn möglich werden die Begriffe durch Männlichkeit und Weiblichkeit ersetzt, um sie von den biologistischen bzw. körperlichen Konnotationen zu lösen. Hierdurch entsteht eventuell eine ungewohnte Verwendung der Begriffe. Eine Männlichkeit wird in der Regel verkörpert. In der hier verwendeten Weise ist ein Mensch – oder in Narrationen eine Figur – jedoch häufig eine Männlichkeit; eine Männlichkeit agiert und reagiert somit. Die entstehenden Irritationen verweisen letztlich nur erneut auf den Konstruktionscharakter der geschlechtlichen Identitäten. In den folgenden Überlegungen wird die Problematik mit der Zweigeschlechtlichkeit in der vorliegenden Forschung noch einmal eruiert.

2.

Das Problem mit der Zweigeschlechtlichkeit

Es wird im Kontext dieser Untersuchung von Männlichkeiten und Weiblichkeiten gesprochen. Diese Handlungsmuster sind jedoch nicht in erster Linie an biologische Geschlechter geknüpft. ›Männlichkeit‹ und ›Weiblichkeit‹ beschreiben lediglich Handlungsmuster, die an biologische Geschlechtlichkeiten zurückgekoppelt und historisch sowie kulturell tief verankert wurden. Dies ist ein Konstruktionsprozess, dem keine besondere Natürlichkeit inhärent ist. Eine Frau kann genauso eine Männlichkeit verkörpern wie ein Mann und umgekehrt. Dennoch ergibt sich in der theoretischen Fundierung der Arbeit hieraus ein Problem. 14 Der Gender Gap ist durch einen Unterstrich charakterisiert. Dieser Unterstrich bietet Raum und ermöglicht eine Sichtbarkeit für alle Identitäten, die sich nicht (eindeutig) der maskulinen oder der femininen Form des Wortes zuordnen (Bsp.: Autor_innen). 15 Die einzige Ausnahme bilden direkte Zitate.

Vorüberlegungen

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Obwohl die Figurenkonzepte im Rahmen dieser Arbeit unabhängig von der biologischen Zuordnung (i. d. R. aufgrund eines Konglomerats aus Figurenkommentaren, Anmerkungen der Erzählinstanz und der Verwendung von weiblich bzw. männlich konnotierten Vornamen vorgenommen) sowohl als Männlichkeit als auch als Weiblichkeit gelten können, so gibt es dennoch zahlreiche theoretische Konstrukte, die auf Zweigeschlechtlichkeit rekurrieren und damit bereits im Ausgangspunkt als ausschließend für geschlechtliche Performanzen abseits dieser zwei Pole angelegt sind. Dieser Problematik begegnet diese Arbeit folgendermaßen: Zum einen wird beispielsweise weiblich gezeichneten Figuren nicht abgesprochen, eine Männlichkeit zu verkörpern. Das Konzept der hegemonialen Männlichkeit wird hier genauso zur Analyse hinzugezogen wie bei männlich gezeichneten Figuren. Zum anderen muss Geschlecht aber auch als Herrschaftsverhältnis berücksichtigt werden. Wenn eine Figur mit weiblich assoziierten Attributen und Körpermerkmalen sich männlich konnotierte Verhaltensweisen aneignet, so gilt ihre Performanz in der Wahrnehmung der anderen Figuren nicht automatisch als Männlichkeit. Der Körper als symbolische Repräsentation von Geschlechterverhältnissen ist so wirkmächtig, dass die Möglichkeiten einer Geschlechterperformanz (vor allem im Hinblick auf das passing16) begrenzt sind. Daher wird die theoretische Grundlage dahingehend ergänzt, dass auch Konzepte für diejenigen Weiblichkeiten berücksichtigt werden, die männlich konnotierte Verhaltensweisen implementieren konnten. Eine Figur mag als Frau wahrgenommen werden, in ihrer geschlechtlichen Performanz kann sie sich dennoch männlich konnotierter Handlungsmuster bedienen. Es wird somit zwischen (Fremd-)Wahrnehmung bzw. Identität und Handlungsmustern differenziert. Das Doing Gender einer Figur kann damit sehr dynamisch sein und verschiedene hybride Formen annehmen. Hier verbirgt sich tendenziell auch ein subversives Potential: Jelineks Prosa bewegt sich auf den ersten Blick im Rahmen der Zweigeschlechtlichkeit, immerhin werden textimmanent stetig dessen konventionellen Bezüge genutzt. Es ist jedoch zunächst zu untersuchen, ob die Prosawerke Jelineks tatsächlich in einem rigiden, binären und vermeintlich komplementären System verharren oder ob die Figuren durch ihre spezifischen Konzeptionen das Potential bieten,

16 Der Begriff passing kommt aus dem Englischen (to pass as so./sth. – als jmd./etw. durchgehen). Er wird verwendet in Bezug auf verschiedene gesellschaftliche Strukturkategorien. Passt beispielsweise eine weiblich sozialisierte Person als Mann, so erfüllt diese Person die von der Gesellschaft konstruierten (äußerlich erkennbaren) Erscheinungsmerkmale eines Mannes. Passt eine männlich sozialisierte Person als Frau, gilt dies entsprechend.

20

Einleitung

deren Geschlechtlichkeiten facettenreicher zu interpretieren, woraus ein subversives Moment entspringen könnte.17

3.

Begriffsklärungen

3.1

Zum Begriff der Performanz

Im Verlauf der Arbeit ist an zahlreichen Stellen die Rede von Männlichkeitsoder Weiblichkeitsperformanz oder geschlechtlicher Performanz. Um der Argumentation der Arbeit uneingeschränkt folgen zu können, wird zu Beginn der Begriff der Performanz bzw. der Performativität kurz erläutert. Ursprünglich kommt der Begriff der Performativität aus der Sprechakttheorie, die von John L. Austin und John R. Searle entwickelt wurde (vgl. Busch / Stenschke 2007: 216f.). Performative Verben sind dadurch geprägt, dass durch das Aussprechen des performativen Verbs im Rahmen einer Sprechhandlung deren Illokution (d. h. seine Intention) auch gleichzeitig vollzogen wird, wie beispielsweise in der Formulierung ›hiermit verwarne ich dich…‹ oder ›ich taufe dich…‹ (vgl. Busch / Stenschke 2007: 219). Diesen Performativitätsbegriff greift Judith Butler in ihren Werken auf und entwickelt ihn weiter bzw. überträgt ihn auf die Kategorie Geschlecht. Sie stellt fest, dass Geschlecht performativ hergestellt wird. Das Geschlecht (sowohl sex als auch gender) ist nicht etwa naturgegeben, sondern ist als eine Art normative Setzung zu verstehen, die zugleich das hervorbringt, was sie benennt. Spätestens mit dem Ausruf der_des Ärztin_Arztes oder der_des Geburtshelfer_in ›Es ist ein Mädchen!‹ beginnt die prozessuale Herstellung von Geschlechtlichkeit (vgl. Butler 1997: 29). Die zugewiesene Geschlechtsidentität wird nun im Laufe des Daseins durch zahlreiche Anrufungen als Mädchen wiederholt und damit verfestigt. Durch diese Kategorisierung als Mädchen werde eine Kette konventioneller Äußerungen wiederholt, die geschichtlich aufgebaut und zugleich verborgen sei und der geschlechtlichen Anrufung erst ihre Macht verleihe (vgl. Schmidt 2013). Nun gilt es zwischen der eben beschriebenen Performativität von Sprache und dem Begriff der Performanz zu unterscheiden: »It is important to distinguish performance from performativity : the former presumes a subject, but the latter contests the very notion of the subject« (Butler in Osborne / Segal 1993). Performanz verstanden als Vollzug oder Aufführen einer Handlung setzt ein Subjekt voraus, während Performativität die Existenz eines intentional 17 Hiermit ginge nicht zwangsläufig eine Überwindung der Zweigeschlechtlichkeit einher. Die Subversion kann durchaus auch im Hinterfragen und Aufbrechen der rigiden binären Grenzen, innerhalb derer sich die zwei imaginierten Geschlechter Frau und Mann bewegen, bestehen.

Vorüberlegungen

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agierenden Subjektes bestreitet, da das Äußerungssubjekt erst durch den Äußerungsakt hervorgebracht wird (vgl. Posselt 2003). Hannelore Bublitz arbeitet diese Unterscheidung in ihrer Butler-Einführung sehr anschaulich heraus: Erst durch die kulturwissenschaftliche Verwendung des Performanz-Begriffs werden beide Aspekte, der der Performanz im Sinne einer Aufführung von Handlungen und der der Performativität im Sinne der sprechakttheoretischen und universalpragmatischen Geltungsansprüche von Sprache und kommunikativem Handeln, thematisiert (vgl. Bublitz 2010: 21). Wie genau verhalten sich nun aber Performativität und Performanz zueinander? Laut Bublitz werde die konstitutive Bedeutung des Performanz-Begriffs im Zusammenspiel der Verkörperung von Inszenierungen mit der »wiederholbaren Materialität« von Äußerungen und Mitteilungen sichtbar : »›Performance‹ als Darstellung und Inszenierung erscheint so als verkörperte Erscheinungsform von performativen Sprechakten« (Bublitz 2010: 22). Seine volle Bedeutung entfalte der Begriff aber erst durch die Tatsache, dass sich die Aufführung nicht auf einmalige Ereignisse bezieht, sondern kontextuell immer wieder vollzogen wird, es sich um eine Art zitierende Praxis handelt, welche in der Regel nicht als absichtsvoll zu verstehen ist (vgl. Bublitz 2010: 22; vgl. Butler 1997: 22). Die Praktiken schreiben sich vielmehr habituell in den Körper ein. Geschlechtliche Performanz ist somit als ständige Wiederholung von Normen zu verstehen (vgl. Bublitz 2010: 11). Es ist eine Materialisierung von geschlechtlichen Normen und Zwängen, die durch Sprache und Diskurse hervorgebracht und geformt werden, in der Gestalt menschlichen und geschlechtlichen Daseins. In dieser Arbeit soll für den Begriff der Performanz im Besonderen darüber hinaus Folgendes beachtet werden: Durch die Notwendigkeit der permanenten Wiederholung bergen die geschlechtlichen Performanzen auch das Potential für Veränderung. Die performativen Akte haben zwar prägenden, jedoch keinen determinierenden Einfluss auf Individuen und individuellen Sprachgebrauch: »Der Körper wird also weder individuell in voluntaristischer Absicht als geschlechtlich konstruiert, er ist aber ebenso wenig durch diskursive (Macht-)Strukturen abschließend determiniert« (Villa 2003: 85). Hierin sieht Butler ein subversives Potential des Performativen (vgl. Butler 2006: 252; Butler 1991: 214). Auch dies soll in der Analyse unbedingt berücksichtigt werden. Wenn hier also von einer Männlichkeitsperformanz gesprochen wird, ist dabei nicht auszuschließen, dass die Performanz in einzelnen individuellen Praktiken auch von einer Männlichkeitsnorm abweichen kann. Der Begriff Männlichkeitsperformanz ist somit nicht derart restriktiv zu verstehen, als dass damit nicht auch eine Männlichkeit bezeichnet werden kann, die in einzelnen Verhaltensweisen von dieser Norm abweicht und damit subversives Potential in Jelineks Werk sichtbar machen kann.

22 3.2

Einleitung

Zum Begriff des Patriarchats

Das Theorem des Patriarchats ist in feministischen Wissenschaftskonzeptionen seit langem umstritten. Im Folgenden soll daher kurz dargelegt werden, welche zentralen Einwände es dagegen gibt, warum der Begriff trotzdem Eingang in die zentralen Gedanken der Arbeit gefunden hat und wie er hier explizit zu verstehen ist. Karin Hausen übte bereits 1986 Kritik am Patriarchatsbegriff. Sie erkennt zwar den Nutzen, den er durch seine politische Schlagkraft hat, befürchtet aber, dass die allzu umfassende und undifferenzierte Rede- und Denkweise vom Patriarchat die damit angesprochenen Phänomene und Probleme eher verdeckt als aufdeckt und damit zum Hindernis für die Durchsetzung von Fraueninteressen wird (vgl. Hausen 1986: 13). »Statt sich mit dem Stichwort ›Patriarchat‹ als Schlüssel zufriedenzugeben, käme es also darauf an, die historisch sehr verschiedenen, aber immer als Männerdominanz gestalteten Geschlechterverhältnisse in allen gesellschaftlichen Teilbereichen und im Gesellschaftsganzen zu entschlüsseln« (Hausen 1986: 19). Ein weiterer Kritikpunkt Hausens bezieht sich auf die Gefahr, dass die suggerierte Eindeutigkeit vielschichtiger sozialer Beziehungen von der Tatsache ablenkt, dass Frauen sich durchaus mit den Gegebenheiten arrangieren und sich auch in Komplizenschaft mit den männlichen Wertorientierungen üben. Heute jedoch noch von solch einem schematischen Verständnis von Patriarchat auszugehen, würde viele Jahre der wissenschaftlichen Reflektion untergraben. Das Patriarchat ist zu verstehen als hegemoniales Herrschaftssystem, wobei der Begriff der Hegemonie das Konsensuale der Herrschaft herausstellt. Es ist davon auszugehen, dass ein Großteil der weiblichen Identitäten sich mit der männlichen Herrschaft arrangiert und sich in der ihr zugewiesenen Rolle einrichtet. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass unter dem Begriff Patriarchat »die Manifestation und Institutionalisierung der Herrschaft der Männer über Frauen und Kinder innerhalb der Familie und die Ausdehnung der männlichen Dominanz über Frauen auf die Gesellschaft insgesamt« (Lerner 1997: 295) zu verstehen ist. In diesem Sinne impliziere der Patriarchatsbegriff, dass Männer in allen wichtigen gesellschaftlichen Institutionen eine beherrschende Macht ausüben und dass Frauen der Zugang zu diesen Machtpositionen verwehrt wird. Das bedeute umgekehrt aber nicht automatisch, dass alle Frauen völlig machtund ressourcenlos sind (vgl. ebd.). Vielmehr beschreibe das Patriarchatstheorem, so Heike Kahlert, »eine bestimmte Ordnung von (männlicher) Dominanz und (weiblicher) Unterordnung […], die alle gesellschaftlichen Strukturen durchzieht« (Kahlert 2000: 46). Raewyn Connell findet ebenso, dass der Patriarchatsbegriff sehr wohl »die Macht und Unlenkbarkeit der wuchtigen Struktur des sozialen Gefüges« erfasst, und benennt sodann die gesellschaftlichen

Vorüberlegungen

23

Strukturen, in die sich das Patriarchat in institutionalisierter Form erstreckt: Staat, Wirtschaft, Kultur, Kommunikation, Verwandtschaft, Kindererziehung und Sexualität (vgl. Connell 2015: 117).18 An der Aufzählung wird die Omnipräsenz des Herrschaftsverhältnisses nach Geschlecht besonders deutlich, weshalb auf eine Benennung dessen keinesfalls verzichtet werden kann. Chandra Mohanty schlägt vor, von Patriarchaten im Plural zu sprechen, um den diversen, globalisierten und intersektionalen (Macht-)Verhältnissen der Geschlechter zu begegnen (vgl. Mohanty 2003). Angela McRobbie, deren Überlegungen zu den Top Girls im theoretischen Teil dieser Arbeit noch eine Rolle spielen werden, äußert ebenfalls Bedenken zur Verwendung des Begriffs Patriarchat aufgrund seiner häufigen Universalisierung und Homogenisierung innerhalb einiger Feminismen. Unter Berücksichtigung von Mohantys Überlegungen entscheidet sie sich dafür, den Begriff Patriarchat in einem partikularistischen Sinne (wieder) zu verwenden (vgl. McRobbie 2010: 91). Trotz der berechtigten Kritik am Begriff überzeugen die Ausführungen von Mohanty, McRobbie, Lerner, Kahlert und Connell. Es ist überdies nicht das zentrale Erkenntnisinteresse der Arbeit, eine Präzisierung des Patriarchatsbegriffs vorzunehmen. Daher findet der Begriff Patriarchat in seiner benannten Definition – in einem partikularistischen Sinne – unter Berücksichtigung der vorangegangenen Argumentation als zentraler Bezugspunkt Eingang in die vorliegende Arbeit.

4.

Literaturwissenschaftlicher Ansatz

Die vorliegende Arbeit ist an der Schnittstelle zwischen Literaturwissenschaft und Gender Studies angesiedelt. Sie lässt sich somit zur genderorientierten Literaturwissenschaft bzw. zu den gendertheoretischen Ansätzen der Literaturwissenschaft rechnen. Es gibt verschiedene Rahmentheorien, denen die genderorientierten Ansätze zugeordnet werden können (vgl. Winko / Köppe 2013: 202). Die vorliegende Analyse ist in erster Linie einem ideologiekritischen Ansatz zuzurechnen, denn: Ziel der vorliegenden Arbeit ist die Analyse der (Handlungs-)Muster von Männlichkeit und Weiblichkeit; dabei zuvorderst die Konstruktions- bzw. Konzeptionsprinzipien der geschlechtlichen Performanzen bei literarischen Figuren. Simone Winko und Tilmann Köppe machen eben dies als ein mögliches Ziel einer ideologiekritischen Forschung aus (vgl. Winko / Köppe 2013: 205). 18 Connell räumt aber auch ein, dass die Rede vom Patriarchat als dem »beherrschenden Strukturmuster der Menschheitsgeschichte« sicher zu allgemein war. Dennoch sieht sie die Grundidee dahinter als überzeugend an (vgl. Connell 2015: 117).

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Einleitung

Der Ideologiekritik-Ansatz geht von einer engen Verbindung von ästhetischen Produkten wie Literatur und den realgesellschaftlichen Verhältnissen aus (vgl. Winko / Köppe 2008: 153) und verfolgt idealtypisch ein politisches bzw. sozialkritisches Anliegen (vgl. Winko / Köppe 2013: 205). Dementsprechend ist literaturwissenschaftliche Ideologiekritik stark kontextorientiert. Sie »untersucht, wie Literatur mit den ihr eigenen Darstellungsverfahren zur Konstruktion, Reflexion und gegebenenfalls Transformation kultureller Wahrnehmungsmuster und ihnen eingelassener Wertehierarchien beiträgt« (Neumann 2010: 272). Jelineks Werk als Patriarchatskritik zu lesen, fügt sich daher ideal in einen ideologiekritischen Ansatz ein. Hiermit besteht die Möglichkeit, das subversive und emanzipatorische Potential, welches Jelineks Figurenkonzeptionen eventuell innewohnt, sichtbar zu machen. Der methodische Referenzpunkt dieser Arbeit ist Jens Eders Werk zur Figurenanalyse. Eders Modell Die Uhr der Figur ist einem kognitionswissenschaftlichen Ansatz zuzuordnen. Eine kognitionswissenschaftliche Methode und eine kontextorientierte, ideologiekritische Analyse von Literatur schließen sich dabei keineswegs aus. Die Tatsache, dass der kognitionswissenschaftliche Ansatz auf die weitgehend analog ablaufende Bildung mentaler Modelle, Kategorien und Schemata bei der Rezeption von Menschen und Figuren rekurriert, macht die Verknüpfungsmöglichkeiten der beiden Ansätze deutlich. Die Betrachtung fiktiver Figuren als »mimetische Analoga zum Menschen« (Eder 2008: 28) legt den Grundstein dafür, literarische Figuren als Äquivalente zu gesellschaftlichen Akteuren zu verstehen. Die Analyse der Männlichkeitskonstruktionen der Figuren anhand von gesellschaftstheoretischen Konzepten durchzuführen, ermöglicht schließlich die Sichtbarmachung des gesellschaftskritischen und subversiven Potentials der Figurenkonzeptionen Jelineks. Eders Kategorie Die Figur als Symptom berücksichtigt explizit die kommunikativen und soziokulturellen Kontexte der Figur sowie die kausalen Bezüge der Figur zur Realität (vgl. Eders Modell zur Figurenrezeption in dieser Arbeit). Mit dieser kontextbezogenen Kategorie können die literarischen Figuren in ihrer gesellschaftskritischen Wirkung erfasst werden, womit die Dienlichkeit der Methode für eine gendertheoretisch geleitete ideologiekritische Analyse evident ist.

III.

Forschungsstand, Positionierung und Beitrag zur Forschung

In der umfangreichen Forschungsliteratur zu Jelineks Werken gibt es einige relevante Gedanken und Ergebnisse für die vorliegende Arbeit. Auf diese wird an verschiedenen Stellen der Arbeit auch rekurriert, jedoch steht das Erkenntnisinteresse jener Forschungen nicht in direktem Bezug zum Interesse der vorliegenden Arbeit; sie fokussieren Jelineks Werk nicht aus gendertheoretischer

Forschungsstand, Positionierung und Beitrag zur Forschung

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Perspektive. Aus diesem Grund wird auf eine ausführliche Darstellung der Inhalte und Fragestellungen an dieser Stelle verzichtet. Anna Babka und Peter Clar halten im Jahr 2012 fest, was bis heute Gültigkeit für sich beanspruchen kann: It seems that hardly anybody undertakes readings and analysis of Elfriede Jelinek’s texts that are based on recent gender- and / or queer theories. (Babka / Clar 2012: 66)

Zwar unternehmen Babka und Clar in ihrem Aufsatz den Versuch, Jelineks Texte mit gender- und queertheoretischen Ansätzen zu untersuchen, jedoch beschränken sie sich hierbei auf Theatertexte Jelineks. An einer solchen Auseinandersetzung mit Jelineks Erzähltexten mangelt es also weiterhin. Als eine Reaktion auf dieses Desiderat hat die Forschungsplattform Elfriede Jelinek Ende 2016 das Wissenschaftsportal Gender Revisited ins Leben gerufen, welches sich Jelineks Werk im Spannungsfeld von Geschlecht, Körper und Gewalt nähert.19 Hier gibt es einige Beiträge, Essays und Gespräche, die sich mit der Kategorie Geschlecht im Werk Jelineks auseinandersetzen, jedoch gibt es weiterhin keine ausführliche gendertheoretisch fundierte Abhandlung zu ihren Texten. Eine systematische Analyse ihrer Figuren unter gendertheoretischen Gesichtspunkten steht ohnehin bis heute aus. An dieser Stelle wird sich zuvorderst den wenigen Arbeiten gewidmet, die zumindest einen direkten Bezug zu Jelineks Männlichkeitskonstruktionen herstellen: Artur Pełkas Aufsatz (2002) über die Subversion der Sport-Metapher in Theatertexten Jelineks, Monika Szczepaniaks Monografie (1998) zur Dekonstruktion des Mythos in Jelineks Prosa, Astrid Lange-Kirchheims Aufsatz (2007) zur Konstruktion von Männlichkeit bei verschiedenen Autorinnen und Alexandra Hebergers Monografie (2002) zum Mythos Mann in Jelineks Prosa. Artur Pełka stellt in seinem Aufsatz Studien über die Männlichkeit die Verflochtenheit von Sport, Körper und den Machtstrukturen des Patriarchats überzeugend dar. Er befasst sich hierbei hauptsächlich mit zwei Theatertexten Jelineks: Krankheit oder moderne Frauen und Ein Sportstück. Hier lassen sich einige relevante Indizien für die spezifische Beschaffenheit von Jelineks Figurenkonzeptionen finden. Insgesamt hält Pełka fest, dass Sport in den untersuchten Texten als »konventionalisierter Tropus der Männlichkeit« (Pełka 2002: 292) eingesetzt wird. Er macht Sport bzw. Sportlichkeit als Zeichen der Dominanz von Männern aus, was gleichzeitig jede Spur einer Abhängigkeit von Frauen verwische (vgl. Pełka 2002: 292f.). Obwohl Pełka die männlich gezeichneten Figuren zwar berücksichtigt, ist es durch die Fokussierung der SportMetapher dennoch eine sehr schmale, reduzierte Betrachtung der Figuren. 19 https://jelinekgender.univie.ac.at/ (letzter Zugriff am 18. 03. 2019).

26

Einleitung

Außerdem beschränkt er sich auf Theatertexte Jelineks, womit seine Analyse nicht den Kern des Erkenntnisinteresses der vorliegenden Arbeit trifft. Monika Szczepaniak untersucht in ihrer Dissertation (1998) unterschiedliche Mythen und deren Dekonstruktion in Jelineks Prosa. Neben Mythen wie Natur oder Heimat untersucht sie auch die Dekonstruktion der Mythen Mann und Frau. Für diese Arbeit relevant sind ihre Ergebnisse zu Walter Klemmer aus Die Klavierspielerin und zu Hermann aus Lust. Sie macht die von Walter vorgeführte Männlichkeit als Ideologie aus, die sich durch krude Gewalt realisiert (vgl. Szczepaniak 1998: 146). Hermann bezeichnet sie sogar als exemplarisch für »ins Groteske überzeichnete Männerbilder in Jelineks Schaffen« (ebd.), was gleichzeitig eine Absage an die Idee eines neuen Männlichkeitskonzeptes sei, da es den überkommenen Männlichkeitsidealen auf das engste verbunden bleibe (vgl. Szczpaniak 1998: 147). Hilfreich ist auch Szczepaniaks historische und soziologische Herleitung des Mythos Mann. Allerdings stellt auch diese Monografie keine gendertheoretische Auseinandersetzung mit Jelineks Figurenkonzeptionen dar, sondern nähert sich den Männlichkeitskonstruktionen ausschließlich aus mythentheoretischer Sicht. Es bleibt jedoch hervorzuheben, dass ihr Mythosbegriff, den sie in der Analyse verwendet, der eines Idealbildes ist. In der vorliegenden Arbeit wird sich in dem Sinne an Szczepaniak angeschlossen, als dass sie in Jelineks Texten eine »kontextuelle Dekonstruktion dieser Mythen [sieht], da das Idealbild zwar von Jelinek vorgeführt, aber von der sarkastisch beschriebenen Textrealität widerlegt wird« (Heberger 2002: 18). Von Lange-Kirchheims kurzer Abhandlung abgesehen gibt es keine Forschung zu Jelineks Werk, die es sich zum Ziel gesetzt hat, eine Figurenanalyse der männlich gezeichneten Figuren durchzuführen. Lange-Kirchheim erwähnt sogar die hegemoniale Männlichkeit, eine Bezugnahme zu Raewyn Connells Konzept der hegemonialen Männlichkeit sowie eine Auseinandersetzung mit dem Handlungsmuster einer solchen Männlichkeit bleibt dagegen aus. Vielmehr stellt dieser Aufsatz eine eher psychoanalytisch geprägte Interpretation der Figuren aus Die Klavierspielerin dar. Es gibt hier plausible Ansätze für eine Deutung der Figur Walter Klemmer, jedoch beschränkt sich der Umfang der gesamten Analyse auf wenige Seiten und wird der komplexen Figur damit kaum gerecht. Fast progressiv könnte man in Anbetracht der übrigen Forschung zu Jelineks Figuren ihren Ansatz nennen, dass sie unter der Überschrift Zur Konstruktion von Männlichkeit auch die Figuren Erika Kohut und Mutter Kohut abhandelt. Allerdings spricht Lange-Kirchheim Erika und auch ihrer Mutter letztlich keine Männlichkeit zu, sondern beschränkt sich auf die psychoanalytische Interpretation einiger männlich konnotierter Verhaltensweisen und Positionen der beiden. Diese spiegeln bei Lange-Kirchheim keine Männlichkeitsperformanz wider, sondern zeugen höchstens von Jelineks Verfahren der Dekonstruktion. Dass weiblich gezeichnete Figuren sich aufgrund des Kon-

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struktionscharakters von Geschlecht genauso Männlichkeit aneignen und verkörpern können, scheint immer noch kein Konsens in der literaturwissenschaftlichen (auch der genderorientierten) Forschung zu sein. Die Arbeit von Alexandra Heberger ist die einzige veröffentlichte Monografie, die sich dezidiert und ausführlich mit Männlichkeitsbildern in Jelineks Literatur auseinandersetzt. Allerdings stellt auch diese Arbeit keine gendertheoretische Auseinandersetzung mit Jelineks Werk dar, sondern fokussiert sich in erster Linie auf Roland Barthes’ Mythentheorie. Schwerpunktmäßig bezieht sie sich auf die sprachliche Darstellung der Männlichkeitsmythen und die Dekonstruktion eben dieser, um letztlich »die Intention und den Wahrheitsgehalt des Mythos ›Mann‹ zu analysieren« (Heberger 2002: 19). Die Polysemie der Sprache ermögliche die Bildung von Mythen überhaupt erst. Daher möchte sie eben diese Polysemie untersuchen, um schließlich eine Funktionsbeschreibung der Sprache zur Verfügung zu stellen. Sie untersucht, wie Jelinek etwas schreibt, und ist der Auffassung, dass sie so Jelineks Intention dahinter erkennen kann. In der vorliegenden Arbeit hingegen steht nicht die Intention der Autorin im Fokus. Mit Jens Eder gesprochen wird es nicht um eine intendierte, sondern, wie in Punkt I bereits erläutert, um eine ideale Rezeption der Prosawerke gehen (vgl. a. Arten von Rezeptionsformen in dieser Arbeit). Die Arbeit ist als Angebot einer idealen Lesart der Prosa Jelineks im weiteren und ihrer Männlichkeitskonzeptionen im engeren Sinne zu verstehen. Ziel ist es, die Figurenkonstruktionen durch die Analyse mit gendertheoretischen Konzepten in einem neuen, idealen Licht zu betrachten. Die Vermittlung der gendertheoretischen Konzepte im Theorieteil ermöglicht es, die spezifische Beschaffenheit der Figuren als kritische Konstruktionen zu erkennen, die soziale Typen einer patriarchal geprägten Gesellschaft repräsentieren. Dass Jelineks Werke als Patriarchatskritik zu verstehen sind, ist hierbei keine neue Erkenntnis. Wie genau sich diese Patriarchatskritik allerdings in ihren Figurenkonzeptionen niederschlägt, wurde bisher noch nicht eingehend auf Basis gendertheoretischer Grundlagen untersucht. Sprachliche Darstellung und Mythendekonstruktion bilden somit zwar einen Teil der Untersuchung, stehen jedoch nicht im Mittelpunkt. In diesem steht vielmehr die Anwendung der gendertheoretischen Ansätze auf die Figuren der Erzähltexte. Wie in dem Abschnitt zum Erkenntnisinteresse bereits ausgeführt, wird in diesem Zuge außerdem ausgeleuchtet, inwiefern umgekehrt auch die Literatur(-wissenschaften) den Sozialwissenschaften einen Dienst erweisen kann/können, indem die vorgestellten und angewendeten gender- und sozialwissenschaftlichen Theorien und Konzepte gegebenenfalls erweitert und präzisiert werden können.

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IV.

Einleitung

Aufbau der Arbeit

Der erste Teil der Arbeit befasst sich mit Elfriede Jelineks Person, ihren ästhetischen Verfahren sowie der Begründung der Auswahl des Untersuchungsgegenstandes. Hier werden Jelineks Bezüge zum Feminismus nachgezeichnet, um die besondere Bedeutsamkeit einer gendertheoretischen Herangehensweise an ihr Werk herauszustellen. Eine konzise Auseinandersetzung mit Jelineks ästhetischem Verfahren ist zudem notwendig, um die teils sehr feinen Bezugnahmen auf gesellschaftliche Gegebenheiten in den Figurenkonzeptionen erfassen zu können und damit der Argumentation der Untersuchung folgen zu können. Die wesentlichen Annahmen der Arbeit sollen exemplarisch an zwei Prosatexten Jelineks belegt werden: Die Klavierspielerin und Die Ausgesperrten. Der Bekanntheitsgrad sowie die Besonderheiten von Jelineks ästhetischem Verfahren im Hinblick auf ihre starken Bezüge zur Realität in diesen beiden Werken haben den Ausschlag gegeben, den Fokus auf diese Werke zu legen. Im zweiten Teil der Arbeit werden die theoretischen Grundlagen für die Analyse der Prosawerke vermittelt. Sie stellen die entsprechenden Dispositionen dar, die benötigt werden, um die Figuren in besagtem neuen, alternativen Licht zu betrachten. Die theoretischen Grundlagen ermöglichen es, die Figuren im Kontext von gesellschaftlichen Machtverhältnissen zu verstehen, dessen Spiegel sie sind. Zentral hierfür sind Bourdieus Auseinandersetzungen mit Klasse sowie verschiedene Ansätze, die der kritischen Männlichkeitsforschung zugerechnet werden können. Die Methodologie der Arbeit wird im dritten Teil vorgestellt. Das Modell Die Uhr der Figur von Jens Eder ermöglicht eine strukturierte Analyse verschiedener Aspekte der Figuren. Dieses Modell macht es einerseits möglich, Jelineks ästhetische Verfahren zu erfassen. Andererseits können hiermit auch die sozialen Beziehungen und Eigenschaften der Figuren sichtbar gemacht und strukturiert untersucht werden. Die im zweiten Teil erarbeiteten theoretischen Grundlagen werden schließlich mit dem Modell von Eder zu einem Analysewerkzeug verknüpft, das es ermöglicht, die verschiedenen Facetten der Figuren einer gendertheoretischen Untersuchung zu unterziehen. Eine ausführliche Analyse der Prosawerke Die Klavierspielerin und Die Ausgesperrten erfolgt im vierten Teil der Arbeit. Die jeweils zentralen Charaktere werden hier mit dem zuvor entwickelten Analysewerkzeug auf die zentralen Thesen hin untersucht. Im Anschluss an die Analyse wird in Form eines kurzen Exkurses auf den Prosatext Lust rekurriert, um die zentralen Thesen auch an einem Werk Jelineks zu belegen, das im Hinblick auf ihre ästhetischen Verfahren – vor allem bezüglich ihrer Figurenkonzeptionen – anders funktioniert. Zuletzt wird die Analyse einer intensiven Engführung unterzogen, indem die einzelnen Kompositionsglieder der Jelinek’schen Patriarchatskritik offengelegt

Aufbau der Arbeit

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werden. Hier wird die Analyse noch einmal systematisch abgeklopft, um wesentliche Ergebnisse der gendertheoretischen Untersuchung zusammenzufassen und die zentralen Fragen zu beantworten. Abschließend werden die zentralen Ergebnisse der Arbeit zusammengefasst, das Analysewerkzeug evaluiert sowie ein Ausblick dahingehend gegeben, welchen Beitrag die Literaturwissenschaft für soziologische Konzepte und Modelle leisten kann.

Zum Werk von Elfriede Jelinek

Um das Potential der Aussagekraft einer Arbeit auszuleuchten, die sich in der genderorientierten Literaturwissenschaft verortet, ist es notwendig und hilfreich, das feministische Potential des Untersuchungsgegenstandes zu eruieren. Im Hinblick auf Elfriede Jelinek wird ihr feministischer Anspruch anhand ihrer ästhetischen Verfahren gut greifbar. Ihr Bestreben, gegen die Trivialmythen der Gesellschaft anzuschreiben, indem sie sie bloßstellt und dekonstruiert, zeichnet sie in besonderem Maße aus. Zur weiteren Einordnung der vorliegenden Arbeit wird im Folgenden sowohl ein Einblick in Jelineks feministische Position gegeben als auch ihre ästhetischen Verfahren veranschaulicht. Im letzten Abschnitt dieses Teils wird schließlich der Untersuchungsgegenstand kurz vorgestellt und dessen Auswahl begründet.

I.

Eine »fanatisierte Emanze«20 – Jelinek und der Feminismus

Auf ihre feministischen Zugänge angesprochen zeigt sich Elfriede Jelinek verbittert über die gesellschaftlichen Zustände, was sie in einen ungesunden Fanatismus führe, dem Leichtigkeit und Fröhlichkeit »völlig ab[gehen]« (Hammer 2005). Dies mag auch erklären, warum häufig von Jelineks ›bösem Blick‹ die Rede ist, wenn es um die Gesellschaftsanalyse in ihren Werken geht (vgl. Chamayou-Kuhn 2012: 28). Diese Rede vom ›böse Blick‹ bezieht sich jedoch nicht nur auf die Analyse der patriarchalen Zustände. Sie verbindet ihre feministische Kritik an den Geschlechterverhältnissen vielmehr seit Beginn ihres Schaffens mit einer Kritik an den ausbeuterischen, kapitalistischen Zuständen der Gesellschaft (vgl. u. a. Chamayou-Kuhn 2012: 34). Von 1977 bis 1987 arbeitete Jelinek für die Zeitschrift Die Schwarze Botin, die sich bewusst von Emma und Courage, den auflagenstärksten feministischen Zeitschriften der 1970er und 1980er Jahre, abgrenzte. Eine Prämisse der Schwar20 Jelinek im Interview mit Heide Hammer (Hammer 2005).

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Zum Werk von Elfriede Jelinek

zen Botin war es, mit dem »klebrigen Schleim weiblicher Zusammengehörigkeit« aufzuhören (vgl. Hilmes 2016). Die Autorinnen formulierten hiermit eine Kritik an weiten Teilen der Frauenbewegung, die die verschiedenen Diskriminierungsformen, von denen unterschiedliche Frauen betroffen waren, nicht in den Blick nahmen.21 Dies ist Jelinek selbst allerdings ein Anliegen. Sie ist der Überzeugung, dass die Ausbeutung der Frau ohne die Untersuchung der kapitalistischen Hintergründe nicht adäquat erfasst werden könne (vgl. Chamayou-Kuhn 2012: 34, Kallin 2012: 98; Lorenz 1990: 111). Dementsprechend wird die Frau als »Doppelopfer«, als Unterdrückte sowohl des Patriarchats als auch des Kapitalismus, in zahlreichen Werken Jelineks mit dem Mann als »Doppeltäter« kontrastiert (vgl. Chamayou-Kuhn 2012: 33). Es gibt weitere Differenzen zwischen Jelinek und großen Teilen der damaligen Frauenbewegung. So kritisiert sie beispielsweise auch die gängige Betonung des eigenen Leidens der Frauen und grenzt sich insgesamt ausdrücklich von der »Larmoyanz« der damals neuen Frauenliteratur ab (vgl. Janke / Kaplan 2013: 11). Ihre Kritik an dieser neuen Frauenliteratur entspringt in erster Linie einer sprachkritischen Perspektive, da die Opposition männlich-weiblich durch diese Texte nur bestätigt würde (vgl. Svandrlik 2013: 267). Sie distanziert sich außerdem von der Überhöhung der Frau durch die Frauenbewegung, was ihr den pauschalisierten Vorwurf der Denunzierung der Frau einbrachte. In einem Interview von Riki Winter darauf angesprochen, reagiert sie auf diese Vorhaltung: Weil ich die Frau nie als das bessere und höhere Wesen, als das sie die Frauenbewegung gerne sehen würde, geschildert habe, sondern eben als das Zerrbild einer patriarchalischen Gesellschaft, die sich ihre Sklaven letztlich anpaßt. Patriarchat heißt nicht, daß immer die Männer kommandieren, es kommandieren auch die Frauen, nur kommt das letztlich immer den Männern zugute. Ich habe die Frauen sehr kritisch als die Opfer dieser Gesellschaft gezeigt, die sich aber nicht als Opfer sehen, sondern glauben, sie könnten Komplizinnen sein. Das ist eigentlich mein Thema, ob das jetzt die Sexualität ist oder die ökonomische Macht, sobald die Frauen sich zu Komplizinnen der Männer machen, um sich dadurch einen besseren sozialen Status zu verschaffen, muß das schiefgehen. Ich mache mich aber nicht über Menschen lustig um dessentwillen, was sie sind, sondern um ihres falschen Bewußtseins wegen. Dieses Bewußtsein ist natürlich bei der Frau, nach all den Jahrhunderten Patriarchat, pervertiert. Ich denunziere die Frau also als Komplizin des Mannes nicht um dessentwillen, was sie in ihrer Unterdrückung ist, denn ich ergreife ja doch sehr stark Partei für die Frau. (Jelinek in Winter 1991: 12f.)

21 Jelinek zu dieser Kritik: »Was mich dann gleichzeitig an der Frauenbewegung immer wütend gemacht hat, war doch dieses ›wir sind alle Schwestern‹ und diese Gleichmacherei, dieses Unpolitische, nicht die Klassenunterschiede zwischen uns zu sehen, dieses falsche Einigsein und diese falsche Verbundenheit durch das Gefühl« (Vasant zit. n. Cornejo 2006: 36).

Eine »fanatisierte Emanze« – Jelinek und der Feminismus

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Die Frau als Komplizin des Patriarchats sichtbar zu machen und dennoch Partei für die Unterdrückten der Gesellschaft zu ergreifen, waren und sind demnach Jelineks Ziele als Schriftstellerin. Die Betonung der Opferrolle der Frau, die »Larmoyanz« im vermeintlich weiblichen Schreiben und das Reduzieren der Frau auf ihren Körper sind dagegen Aspekte der Frauenbewegung, die Jelinek stark kritisiert, »so wollte sie […] nie sein und so hat sie auch nie geschrieben« (Gürtler / Svandrlik (o. J.): Minute 6:09–6:14). Die Reduktion der Frau auf ihren Körper hat jedoch mindestens zwei Facetten. Die eine Facette beinhaltet eben die positive Hinwendung zum weiblichen Körper, die Betonung seiner vermeintlichen Vorzüge und Besonderheiten durch die Frauenbewegung. Auf der anderen Seite steht die Objektivierung der Frau und ihres Körpers durch den männlichen Blick im Patriarchat. Während die erste Facette biologistisch geprägt ist, hebt die zweite das gesellschaftliche, patriarchal geprägte Herrschaftsverhältnis hervor. Jelinek distanziert sich nicht nur in Interviews von diesem Biologismus (vgl. Sauter 1981: 110), sondern sie hebt auch in ihren Werken immer wieder die soziale Bedingtheit und die gesellschaftlichen Umstände der Geschlechtlichkeiten hervor. Die Facette der Objektivierung der Frau durch den männlichen Blick verurteilt Jelinek vehement: Ja, wir Frauen müssen alle durch die männliche Beurteilungsschleuse, und die da bestehen wollen erreichen das nicht durch Leistungen irgendwelcher Art, sondern müssen sich auf den Markt der Körper werfen. […] Ich bin Feministin, weil dieses erdrückende phallische, phallokratische Wertsystem, dem die Frau unterliegt, über alles gebreitet ist. Die Unterwerfung unter das taxierende männliche Urteil ist für mich eine ewige narzißtische Kränkung. (Jelinek in Müller 2004)

Jelinek macht mit »analytischem Blick soziale und ökonomische Herrschaftsund Machtverhältnisse sichtbar« (Winter 1991: 9), indem sie – im vorangegangenen Zitat wie auch in ihren Arbeiten – die Determiniertheit der Akteur_innen im gesellschaftlichen Geschehen aufzeigt (vgl. Sauter 1981: 113). Jelineks Figuren sind gemäß ihres intersektionalen Ansatzes in zweierlei Hinsicht determiniert: hinsichtlich der Geschlechterdifferenz und hinsichtlich der Klassengesellschaft (vgl. Cornejo 2006: 35). Die besondere Art, wie diese Determiniertheit hervorgehoben wird, lässt sich als »diskrete Strategie der Subversion« (Spielmann 1991: 37) beschreiben: Durch ihre spezifischen ästhetischen Verfahrensweisen präzisiert sie »gesellschaftliche Verhältnisse bis zur Unerträglichkeit« (ebd.), überspitzt Klischees ins Extreme (vgl. Babka / Clar 2012: 68), stört tradierte Stereotype, bis althergebrachte Dichotomien wie männlich / weiblich beginnen sich aufzulösen (vgl. Kovacs 2016: 89f.) und die Begriffe sinnentleert werden (vgl. Babka / Clar 2012: 68).

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Zum Werk von Elfriede Jelinek

Yvonne Spielmann konstatiert: Eine feministische politische Haltung bedeutet gerade nicht den Rückzug auf den weiblichen Körper, auf Introspektion weiblicher Individualität, sondern Einmischung und Störung des Gewohnten bis zur offenen Revolte. (Spielmann 1991: 23)

Die Dekonstruktion zahlreicher etablierter Kategorien stellt Jelineks Form der Störung und der Einmischung dar und darin spiegelt sich ihre radikale feministische Haltung. Bei ihrem ausgeprägten Pessimismus müssen ihre ästhetischen Verfahren jedoch auskommen, ohne eine positive Alterität zur Seite gestellt zu bekommen. Sie bietet ihren Leser_innen nicht die positiven Identifikationsflächen an (vgl. Cornejo 2006: 36), die große Teile der Zweiten Frauenbewegung forderten. Vielmehr dienen ihre ästhetischen Verfahren der Destruktion ideologisierter sozialer und sexueller Machtstrukturen (vgl. Janz 1995: VIII); der Zerstörung der Mythen etwa, die sich um Männlichkeit und Weiblichkeit ranken. Maskuline Wertsysteme und männliche Praktiken, die durch die Tradierung solcher Mythen weiter verfestigt werden, stehen laut Rita Svandrlik im Fokus ihrer Kritik (vgl. Svandrlik 2013: 270). Bemerkenswert ist, dass die von Jelinek gezeichneten männlichen Praktiken und Männlichkeitsperformanzen in der Jelinek-Forschung bis heute nicht eingehend untersucht wurden (vgl. Forschungsstand in dieser Arbeit). Deshalb richtet sich die vorliegende Arbeit auf eben jenen Gegenstand. An dieser Stelle sei abschließend festgehalten, dass Jelineks Äußerungen zur Frauenbewegung und ihre biografischen Bezüge zum Feminismus durchaus aufschlussreich im Hinblick auf die Interpretation ihrer Werke sein können. Jedoch soll die Analyse ihrer Werke in dieser Arbeit davon nicht bestimmt sein. Jelineks Äußerungen zur Unmöglichkeit der Subjektwerdung der Frau beispielsweise sind zwar plausibel und können je nach Erkenntnisinteresse auch in ihrem Werk sichtbar werden, die Interpretation soll dahingehend allerdings nicht eingeschränkt werden. Denn Jelinek selbst hat immer propagiert, dass das Leben bzw. die Biografie einer Autorin nicht zur Beurteilung des literarischen Werks herangezogen werden soll (vgl. Winter 1991: 9). Dementsprechend soll bei der Analyse der weiblich gezeichneten Figuren nicht vor der Suche nach subversiven Momenten Halt gemacht werden. Es wird also auch hier nach emanzipatorischem bzw. subversivem Potential gesucht, welches die Aneignung männlich konnotierter Attribute sichtbar macht und den weiblich gezeichneten Figuren damit auch einen Subjektstatus gewähren könnte. Ihren ästhetischen Verfahrensweisen, welche es vermögen, diese subversiven Potentiale sichtbar zu machen, wird sich der folgende Abschnitt widmen.

»Eine Art Holzschnittechnik« zur Dekonstruktion – Jelineks ästhetische Verfahren

II.

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»Eine Art Holzschnittechnik«22 zur Dekonstruktion – Jelineks ästhetische Verfahren

Die Aufarbeitung und Analyse von Jelineks Arbeitsweise ist nicht das zentrale Erkenntnisinteresse dieser Arbeit. Ein verhältnismäßig kurzer Abriss ihrer ästhetisch-methodischen Verfahrensweise genügt jedoch bereits, um einen angemessenen Eindruck der hohen Relevanz ihrer Verfahrensweisen für die Konzeptionen ihrer Figuren zu gewinnen. Die Figuren auf der Bühne stehen für etwas, sie sind für mich Werkzeuge, mit denen ich meine Aussage machen will […]. (Jelinek 1984: 16)

Was Jelinek hier für ihre Figuren im Theater konstatiert, lässt sich auch für die Figuren ihrer Erzähltexte behaupten. Diese sind auf sehr ähnliche Weise »Prototypen« (Jelinek 1984: 16), »Schablonen oder Pappkameraden« (Jelinek in Wendt 1992) und damit Werkzeuge, wie Jelinek dies hier für ihre Dramenfiguren beschreibt. So erkennt auch Heberger Jelineks männlich gezeichnete Figuren als »reduzierte Typenträger«, die – in »stereotype Rollen« gedrängt – »maskuline ›Typen eines ideologisch geprägten Typenfundus‹ repräsentieren« (Heberger 2002: 35). Diese typenhaften Figuren konzipiere Jelinek einerseits, weil sie der Auffassung ist, dass individualistisches Handeln im kapitalistischen System gar nicht möglich ist (vgl. Jelinek bei Heberger 2002: 35) und andererseits, weil es – geprägt durch Roland Barthes23 – ihr erklärtes Schreibziel ist, Mythen zu destruieren (vgl. Meyer 1994: 47; Degner 2013: 41); die ideologisierten, mythologisierten Auffassungen von Männern und Frauen, von Natur und Sexualität, Heimat und Liebe zu dekonstruieren. Sie hinterfragt mit der Art ihrer Figurenkonzeption keine Einzelschicksale, sondern »die Strukturen, die das Gesellschaftsbild etablieren« (Heberger 2002: 36). Jelinek nutzt dafür »eine Art Holzschnittechnik« (Jelinek 1984: 14). Ihre Figuren, so sagt Jelinek selbst, seien »keine Menschen«, die agieren, sondern »Kunstfiguren, die auf das Archetypische und Reliefartige wie bei einem Holzschnitt reduziert sind, oder ausschließlich Vertreter ihrer Klasse« (Jelinek in Sauter 1981: 113). In den Figurenkonzeptionen lassen sich Polemik und starke Kontraste identifizieren, die dazu beitragen, die Machtstrukturen, die sich hinter den Mythen verbergen, anhand der stilisierten Figuren offenzulegen. Somit verzichtet sie zumeist, wie Konstanze Fliedl richtig festhält, auf »eine psychologische Plausibilisierung der Protagonisten« (Fliedl 2013: 56). Lediglich in Die Klavierspielerin und Die 22 Jelinek 1984: 15. 23 Jelineks Auseinandersetzung mit Roland Barthes Mythen des Alltags soll hier nicht im Fokus stehen. Zur Verhandlung von (Trivial-)Mythen bei Elfriede Jelinek siehe u. a. Jelinek 1980; Jandl 1989; Gürtler 1990; Fischer 1991; Luserke 1993; Janz 1995; Heberger 2002; Lücke 2008.

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Zum Werk von Elfriede Jelinek

Ausgesperrten werden die Handlungsweisen der Figuren aufgrund der »konventionelleren Erzählform« (Millner 2013: 38) durch detaillierte Darstellung des Milieus und von Kindheitsentwicklungen plausibilisiert (vgl. Fliedl 1991: 61). Demgemäß lassen sich in diesen Prosawerken erkennbar gezeichnete Charaktere finden (vgl. für Die Klavierspielerin Masanek 2005: 116), die auch Rückschlüsse auf die psychischen Eigenschaften der Figuren erlauben. In der Regel aber werden die Figuren – wie Heberger ausführlicher hervorhebt – zu bloßen Bedeutungsträgern reduziert (vgl. Heberger 2002: 35). Diese zugespitzte, »flächige Existenz« (Jelinek in Wendt 1992) der Figuren ist es letztlich, die die Dekonstruktion der Mythen ermöglicht. Monika Szczepaniak macht unter anderem die Ironie, die Parodie und den »Fragmentarismus mit seiner montagehaften Arbeit und Techniken der Sprachcollage« (Szczepaniak 1998: 38f.) als Formen der Dekonstruktion aus. Vor allem Ironie, Montage und Collage sind Formen bzw. Mittel, die Jelinek maßgeblich einsetzt, wenn sie sich mit der Destabilisierung und Hinterfragung von Mythen und Ideologien auseinandersetzt: Es geht mir um ein politisches Anliegen im weitesten Sinn, um Entmythologisierungsvorgänge, darum, polemisch und aggressiv Sachverhalte zu skelettieren. (Jelinek im Gespräch mit Kathrein, zit. n. Meyer 1994: 48)

Diese Mittel dienen ihr somit letztlich der politischen Kritik, in erster Linie einer Kritik an patriarchalen und kapitalistischen Gesellschaftsverhältnissen (vgl. a. Millner 2013: 39). Mit dem Verfahren der Dekonstruktion hat sie einen Weg gefunden, die verborgenen Mythen zu entschleiern (vgl. Gürtler 1990: 131), die Machtverhältnisse der Gesellschaft aufzudecken und anzuprangern. Ein »Hyperrealismus« oder »Überrealismus« (Winter 1991: 12), wie Jelinek das Ergebnis ihrer dekonstruktivistischen Arbeit selbst nennt, ist es, der durch die Verwendung von Karikaturen, Groteske, Neologismen, Wortwörtlichmachungen oder Kalauern entsteht. Eine hyperreale Darstellung von stereotypisierten Figuren lässt ein subversives Potential erwarten. So attestiert auch Yvonne Spielmann Jelinek das subversive Moment ihrer Verfahrensweise: »Elfriede Jelineks Kunst, gesellschaftliche Verhältnisse bis zur Unerträglichkeit zu präzisieren, ist subversiv« (Spielmann 1991: 37). Jelinek stelle mit ihrem Verfahren der Dekonstruktion die Institutionen von Wissen und Macht grundsätzlich in Frage, es sei eine »ästhetische Unterwanderung der Ordnung«, die letztlich die »Stützen der Gesellschaft zum Einsturz treibt« (ebd.). Wie bereits im Abschnitt zu Jelineks feministischer Verortung deutlich wurde, ist es nicht ihr Ziel, eine positive Alterität aufzuzeigen. Somit werden im Gegenteil klassische Stützen der Gesellschaft wie traditionelle Geschlechterrollen oder idealisierte Männlichkeits- und Weiblichkeitsbilder durch die genannten ästhetischen Ver-

»Eine Art Holzschnittechnik« zur Dekonstruktion – Jelineks ästhetische Verfahren

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fahren sinnentleert und bleiben – letztlich absurd geworden – als leere Hülle zurück (vgl. Janz 1989: 136). »Ich wollte ja immer die Wahrheit hinter einem Schein oder die politische Geschichte hinter einem unschuldigen Bild hervorholen« (Jelinek im Gespräch mit Winter 1991: 11), so Jelinek über ihre Motive beim Schreiben. Die Entmythologisierung von Begriffen dient ihr laut Alexandra Reininghaus dazu, die Verlogenheit der Mythen und Klischees aufzudecken und damit zu einer klischeebefreiten Realität vorzudringen (vgl. Reininghaus in Lamb-Faffelberger 1992: 28). Durch Übertreibung und Zuspitzung präzisiert sie letztlich die gesellschaftlichen Zustände, und macht damit deren notwendige Veränderung evident (vgl. Spielmann 1991: 28; vgl. hierzu a. Jelinek in Sauter 1981: 114). Sowohl durch Jelineks politisches Ziel, u. a. die Mythen um Männlichkeit zu zerstören, als auch durch ihre komplexen ästhetischen Verfahren der Überzeichnung, der Satire und des Zynismus liegt die Vermutung nahe, dass sie ihre männlich gezeichneten Figuren so konzipiert, dass sie in ihren Bestrebungen, ein Ideal zu verkörpern, scheitern. Jelineks Patriarchatskritik, ihre spezifische Dekonstruktion von Männlichkeit kann sich in eben solchen Figurenkonzeptionen manifestieren. So würde in der Konsequenz die geschlechtsdichotomische Opposition Mann und Frau letztlich sinnentleert zurückbleiben, wie Marlies Janz es beschreibt (vgl. Janz 1989: 147). Dieser These und der Frage danach, welche Wirkungen diese Art von Figurenkonzeptionen im Sinne einer idealen Rezeption (vgl. Eders Modell zur Figurenrezeption in dieser Arbeit) haben können, wird im Verlauf der Analyse nachgegangen. Die Frage, die es an dieser Stelle noch zu klären gilt, ist die nach der Vereinbarkeit von Jelineks Figurenkonzeptionen und den gender- und klassentheoretischen Konzepten, die der vorliegenden Untersuchung zugrunde liegen. Wie können Jelineks Schablonen und Pappkameraden mit sozialwissenschaftlichen Theorien zusammengedacht werden, die sich in erster Linie auf reale Menschen beziehen? Die zugrunde gelegten Konzepte und Theorien entwickeln Muster und Typen, die sie aus empirischen Untersuchungen ableiten. Sie sind somit verallgemeinert, was genauso Jelineks erklärtes Ziel ist. Die typenhafte Darstellung ihrer Charaktere auf der Mikroebene stellt einen Verweis auf die Makroebene und damit auf die Verallgemeinerbarkeit ihrer Figuren dar.24 Bei genauer Betrachtung arbeitet sie sogar ähnlich wie Sozialwissenschaftler_innen, zwar ohne wissenschaftliche Empirie und überaus parteiisch, doch legt sie letztlich eine »satirisch übersteigerte Analyse« der Gesellschaft (Jelinek in Lamb-Faffelberger 1992: 186) vor, die sich starker Kontraste bedient, die jedoch 24 Vgl. zur Mikro- und Makroebenendifferenzierung Arteel 1990: 53.

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aufgrund des satirischen Charakters durchaus »in der Bauordnung der Wirklichkeit besteht« (Jelinek in Lamb-Faffelberger 1992: 190). Jelinek bringt ihre Arbeitsweise im Gespräch mit Sauter auf den Punkt: Die wirkenden Strukturen in unserem kapitalistischen System sind relativ einfach zu erklären. Das Prinzip der Ausbeutung und so weiter. Das sind einfache Strukturen. Wenn ich das jetzt wie ein Gitter oder wie ein Raster über meine Geschichte lege, mir überlege, welche Geschichte ich nehme, um diese oder jene politischen Vorgänge klarzumachen, dann entsteht diese Relieftechnik, dann kann ich auch vergröbern und übertreiben und komplizierte Sachverhalte dennoch so darstellen, daß man sie als veränderbar erkennen kann. (Jelinek in Sauter 1981: 114)

Ihr Ziel besteht somit darin, gesellschaftliche Verhältnisse zu verdeutlichen bzw. zu beschreiben (»klarzumachen«). In diesem Bestreben unterscheidet sie sich also wenig von Sozialwissenschaftler_innen. Jelinek möchte in Bezug auf ihre Literatur individuelles Erleben nicht als etwas »Unwiederholbares oder Einmaliges« beschreiben, sondern hat den Wunsch gerade im individuellen Erleben eine »allgemeine gesellschaftliche Kraft, die wirksam wird«, zu erkennen, zu fixieren und festzumachen (vgl. Jelinek in Wendt 1992). Die Verwendung von Typen und Mustern zur Beschreibung von Gesellschaft entspricht jener Fixierung und diese Arbeitsweise eint Jelinek mit den wissenschaftlich Forschenden. Wenngleich Jelineks Verfahrensweisen denen der Wissenschaftler_innen nahe kommt, soll hiermit nicht postuliert werden, dass Jelinek sich dezidiert wissenschaftlicher Methoden bedient. Von klassischer Wissenschaft unterscheidet Jelinek in erster Linie die Offenheit dem Gegenstand gegenüber sowie dass es weniger ihr Ziel ist, Erklärungen für gesellschaftliche Zustände ausfindig zu machen als diese Zustände vielmehr zu problematisieren. Dennoch konnte dieser kurze Abschnitt sichtbar machen, dass es gewisse Strukturanalogien zwischen Jelineks Verfahren und den sozialwissenschaftlichen Ansätzen gibt. Umso mehr bietet es sich folglich an, Jelineks Figuren mit denen der Arbeit zugrunde liegenden sozialwissenschaftlichen Theorien und Konzepten zu untersuchen. Warum die Untersuchung von Figuren mittels sozialwissenschaftlicher Ansätze außerdem aus methodischer Sicht valide ist, wird im Teil zur Methode ausführlicher behandelt.

Der Untersuchungsgegenstand – Jelineks realistische Prosatexte

III.

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Der Untersuchungsgegenstand – Jelineks realistische Prosatexte

Der Untersuchungsgegenstand setzt sich zusammen aus den Romanen Die Ausgesperrten und Die Klavierspielerin sowie einem Exkurs zu Lust.25 Zuerst veröffentlicht im Jahr 1980 erscheint Die Ausgesperrten heute in der deutschen Fassung bereits in der 16. Auflage26. 1982 wurde der Roman von dem österreichischen Regisseur Franz Novotny verfilmt. Der Roman basiert auf tatsächlichen Ereignissen der 1950er Jahre in Österreich; eine Bande von desillusionierten Jugendlichen beging dort verschiedene Raubüberfälle. So ist auch die Handlung des Romans in den 1950er Jahren angesiedelt. Die bürgerliche Sophie Pachofen und die kleinbürgerlichen Zwillinge Anna und Rainer Witkowski schließen sich mit dem Arbeitersohn Hans Sepp zusammen, um kleinere Raubüberfälle auf Passanten zu begehen. Sie versuchen hiermit ihrem festgeschriebenen Schicksal zu entgehen. Der Roman wie der reale Kriminalfall enden in einem Amoklauf. Der 1983 erschienene Roman Die Klavierspielerin gilt als der Roman, welcher Jelinek den endgültigen Durchbruch brachte.27 Das Buch erscheint in der deutschen Fassung mittlerweile in der 47. Auflage28 und wurde 2001 erfolgreich von dem österreichischen Regisseur Michael Haneke verfilmt.29 Es handelt von der Klavierlehrerin Erika Kohut, ihrem komplexen Verhältnis zu ihrem Körper, zu ihrer Sexualität und zu ihrer Mutter sowie von ihrer emotionalen und sexuellen Beziehung zum jungen Klavierschüler Walter Klemmer. Die Klavierspielerin und Die Ausgesperrten sind beides Romane, die durch einen starken Realismus30 geprägt sind. Die Werke stellen in Jelineks Schaffen eine Ausnahme dar, weil sie auf eine »konventionellere[…] Erzählform« zurückgreifen: »Das Narrativ ist nacherzählbar, topographisch wiedererkennbar in Wien angesiedelt und entwirft [im Fall von Die Ausgesperrten, Anm. JS] 25 Ausgaben der Primärtexte: Jelinek, Elfriede (1980): Die Ausgesperrten. 15. Auflage (2013). Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag. (Im Folgenden: AUS); Jelinek, Elfriede (1983): Die Klavierspielerin. 29. Auflage (2004). Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag. (Im Folgenden: KS); Jelinek, Elfriede (1989): Lust. 13. Auflage (2012). Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag. (Im Folgenden: LU). 26 Stand: 07. 02. 2019. 27 vgl. http://www.rowohlt.de/taschenbuch/elfriede-jelinek-die-klavierspielerin.html (letzter Zugriff am 18. 03. 2019) 28 Stand: 07. 02. 2019. 29 Die Verfilmung erhielt mehrere Auszeichnungen bei den Filmfestspielen von Cannes (vgl. https://www.festival-cannes.com/en/films/la-pianiste (letzter Zugriff am 18. 03. 2019) bzw. verschiedene Nominierungen und Auszeichnungen anderer Filmkommitees (vgl. https://de. wikipedia.org/wiki/Die_Klavierspielerin_(Film)#Auszeichnungen (letzter Zugriff am 18. 03. 2019)). 30 S. zum Realismusbegriff im Hinblick auf Figuren Eder 2008: 384ff.

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Szenarien, die sich auf einen realen Kriminalfall beziehen« (Millner 2013: 38). Masanek hält zudem für Die Klavierspielerin fest, dass der Text den Rezipierenden »im Gewande des Realismus« entgegentritt: »›Die Klavierspielerin‹ präsentiert einen klar formulierten Handlungsverlauf mit erkennbar gezeichneten Charakteren« (Masanek 2005: 116). In der Forschung wird außerdem betont, dass die Figuren in diesen beiden Werken psychologisch motiviert sind (vgl. Fiddler 1994: 97; Rainer 1994: 188), Heberger nennt sie sogar »Sozialcharaktere mit Seele« (Heberger 2002: 367). Fliedl stellt wiederum fest, dass Jelinek in der Regel auf psychologische Plausibilisierung der Protagonisten »vollends« (Fliedl 2013: 56) verzichtet, was die Besonderheit der beiden Romane zusätzlich unterstreicht.31 Während Jelinek selbst immer wieder den autobiografischen Bezug in Die Klavierspielerin betonte, rekurriert Die Ausgesperrten auf einen tatsächlichen Kriminalfall. Damit sind sie die einzigen Prosatexte mit solch starken Bezügen zur Wirklichkeit, die gleichzeitig derart realistisch geschrieben sind. Denn alle anderen Prosawerke lassen sich zwar auf tagespolitische Geschehnisse oder allgemein gesellschaftspolitische Verhältnisse zurückführen, jedoch nicht auf konkrete, individuelle Einzelfälle mit nachvollziehbaren psychologisch ausgearbeiteten Charakteren. Dies lässt sich somit als Alleinstellungsmerkmal der beiden Werke ausmachen. Ebenfalls begründet sich die Auswahl der beiden Werke in deren weiten Verbreitung: Sie erreichten nicht nur eine hohe Auflagenzahl und wurden erfolgreich verfilmt, Die Ausgesperrten wurde bis dato zudem in 22 Sprachen und Die Klavierspielerin sogar in 43 Sprachen übersetzt.32 Im Rahmen der Figurenkonzeption ist es nun die Typenbildung entlang realer Bezugspunkte, die Jelineks Die Klavierspielerin und Die Ausgesperrten so interessant macht. Die Untersuchung der Wirkungen dieser Figuren im Sinne einer idealen Rezeption hat letztlich im Aussagewert eine ganz andere Schlagkraft im Hinblick auf die enthaltene Gesellschaftskritik als vollständig künstlich konzipierte Figuren ohne konkreten Realitätsbezug. Mit dem Text Lust werden die Ergebnisse der Analyse kontrastiert: Sind die Aussagen, die über die Figurenkonzeptionen der realistischeren Romane Jelineks gemacht wurden, auch für die Prosa Jelineks gültig, in der ihre stärker konstruierten »Kunstfiguren« (Jelinek in Sauter 1981: 113) auftreten? Mit Lust 31 Dies erkennt Fliedl auch für Die Klavierspielerin und Die Ausgesperrten an: »›Realistische‹ Texte im Sinn einer Referenzillusion wären noch am ehesten Die Ausgesperrten (1980) und Die Klavierspielerin (1983), bei denen jeweils eine hochgradig ›abnorme‹ Handlungsweise der Figuren durch ausführliche Darstellung von Milieu, ja sogar von Kindheitsentwicklung plausibilisiert ist« (Fliedl 1991: 61). 32 Lust hat eine ähnliche Reichweite, der deutsche Text erscheint mittlerweile in der 14. Auflage und wurde mittlerweile in 30 Sprachen übersetzt. Die Zahlen zu den Übersetzungen sind das Ergebnis einer Anfrage beim Jelinek-Forschungszentrum vom 07. 02. 2019.

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wurde dabei ein Prosawerk Jelineks ausgewählt, welches bereits vor seiner Veröffentlichung ein mediales Echo produzierte, weil Jelinek im Schreibprozess öffentlich postulierte, den Versuch eines weiblichen Pornos zu unternehmen.33 Nach der Veröffentlichung erhielt Lust dann viel Aufmerksamkeit in den Feuilletons zahlreicher großer Zeitungen und Zeitschriften und wurde auch im Literarischen Quartett im deutschen Fernsehen kontrovers diskutiert.34 Das Holzschnittartige, Plakative und Schablonenhafte der Figuren bringt Jelinek in Lust besonders klar zum Ausdruck. Der Protagonist wird lediglich einmal beim Namen genannt (vgl. LU 18), welcher ebenso stereotyp für seine Funktion im Text steht: Hermann. »Hermann, der schon in seinem Namen sich verdoppelnde und vergrößernde ›Mann‹« (Janz 1995: 114). Einen Nachnamen bekommt Hermann gar nicht erst, denn der Name bezeichnet in Lust laut Luserke nicht mehr die Person oder eine Identität, sondern »das Zeichen ist das Geschlecht, worauf das Patriarchat seine Machtausübung gründet« (Luserke 1999: 96). Hermann steht somit stellvertretend für einen Typus Mann, anhand dessen Jelinek die patriarchale Herrschaft kritisiert. Hermann, der Prototyp par excellence in Jelineks Werk, stellt somit eine überaus adäquate Figur zur Überprüfung der Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung dar.

33 Diesen Versuch erklärte sie bald darauf als gescheitert: »Im Grunde ist mein Buch ein Scheitern. Es war mein Plan, einen weiblichen Porno zu schreiben. Ich wollte eine weibliche Sprache für das Obszöne finden. Aber im Schreiben hat der Text mich zerstört – als Subjekt und in meinem Anspruch, Pornographie zu schreiben. Ich habe erkannt, daß eine Frau diesen Anspruch nicht einlösen kann, zumindest nicht beim derzeitigen Zustand der Gesellschaft. Beim Schreiben wurde mir klar, daß die Männer die pornographische Sprache mehr als jede andere, sogar mehr als die Kriegs- und Militärsprache, für sich usurpiert haben« (Löffler 1989: 96). Vgl. zum Postulat des weiblichen Pornos auch Löffler im Literarischen Quartett vom 10. 03. 1989. 34 Ebd.

Theoretische Grundlagen

Um die zentralen Fragen dieser Arbeit beantworten und die leitenden Hypothesen prüfen zu können, wird auf verschiedene theoretische Grundlagen zurückgegriffen. Diese sollen dann mit dem methodischen Ansatz von Jens Eder zu einem Analysewerkzeug verbunden werden. Da die Jelinek’schen Figuren in erster Linie im Hinblick auf ihre Geschlechtlichkeit untersucht werden, bieten sich Ansätze und Konzepte aus den Gender Studies besonders an. Speziell wird sich hierbei auf die breit rezipierte australische Soziologin Raewyn Connell und ihr Konzept der hegemonialen Männlichkeit gestützt. Dieser Ansatz stellt einen guten Ausgangspunkt zur Analyse der Geschlechter – vor allem der Männlichkeiten – dar, denn er vermag es, Dynamiken und Machtverhältnisse sowohl auf heterosozialer Ebene als auch auf homosozialer Ebene seitens der Männlichkeiten benennbar zu machen. Mit steigendem Bekanntheitsgrad des Konzeptes wuchs auch die Kritik daran – Connell selbst ist dabei in einem kontinuierlichen Auseinandersetzungsprozess mit ihrem Modell (vgl. Connell 2013, Connell 2015). Hierauf und auf weitere kritische Stimmen wird im entsprechenden Abschnitt ausführlicher eingegangen. Auch Michael Meuser übt Kritik an Connells Konzept und erweitert bzw. konkretisiert es schließlich in seiner Arbeit Geschlecht und Männlichkeit um den Habitus-Begriff von Pierre Bourdieu. Diese Erweiterung stellt einen wichtigen Bezugspunkt für die vorliegende Arbeit und deren zentrale Hypothese dar. Es wird mit Meusers Ansatz davon ausgegangen, dass alle Männlichkeiten sich bei ihrer Selbst-Konstruktion am Ideal der hegemonialen Männlichkeit orientieren, sie als generatives Prinzip ihrer Männlichkeitskonstruktion nutzen. Um Meusers Ansatz in Gänze nachvollziehen zu können, wird im Folgenden zunächst das Habitus-Konzept Bourdieus erläutert. Der Habitus als inkorporiertes Prinzip des Wahrnehmens, Denkens und Handelns ist für eine aussagekräftige genderspezifische Analyse unerlässlich, da er die Basis geschlechtlichen Handelns stellt. Der Habitus reproduziert strukturierte gesellschaftliche Strukturen und wirkt gleichzeitig strukturierend, indem er generatives Erzeu-

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Theoretische Grundlagen

gungsprinzip dieser Praxisformen ist. Dies gilt für die geschlechtliche Performanz genauso wie für die klassenspezifische. Nicht nur Bourdieus Habitus-Konzept, sondern auch sein Klassenkonzept ist von Relevanz für die Analyse, da eine der Hypothesen der Arbeit sich explizit auf den Zusammenhang der Klassenzugehörigkeit der Figuren mit deren geschlechtlicher Performanz bezieht. Es wird davon ausgegangen, dass die Figuren ihre Männlichkeit je nach Klassenzugehörigkeit unterschiedlich konstruieren. Um die Klassenzugehörigkeit der Figuren bestimmen zu können, wird im Abschnitt zu Bourdieu neben dem Habitus-Konzept also auch der soziale Raum mit seinen drei Klassen näher beleuchtet. Connells Konzept der hegemonialen Männlichkeit wird auch in der Analyse der weiblich gezeichneten Figuren Anwendung finden, da in dieser Arbeit davon ausgegangen wird, dass auch weiblich gezeichnete Figuren eine Männlichkeit im Sinne Connells verkörpern können, eine solche Performanz soll ihnen dementsprechend nicht im Vorhinein pauschal abgesprochen werden. Da Connells Ansatz sich entgegen seiner ursprünglichen Formulierung sehr auf Männer fokussiert, werden im diesem Teil der Arbeit mit Angela McRobbies Top Girls und Mimi Schippers pariah femininities außerdem Konzepte erläutert, die mit Männlichkeit konnotierte Weiblichkeiten enger in den Blick nehmen. Sollte Connells Konzept zur Erklärung der vorgefundenen Handlungsmuster nicht ausreichen, so sollten McRobbies und Schippers Ansätze greifen.

I.

Bourdieus Klassen- und Habituskonzept

Im Folgenden werden zentrale Begriffe der bourdieuschen Konzepte erarbeitet und miteinander ins Verhältnis gesetzt, sodass schließlich ein grundlegendes Verständnis der klassenspezifischen theoretischen Grundlagen vorhanden ist, um die Konzepte in der Analyse auf die Figuren anwenden zu können. Bourdieus Klassenkonzept dient der Beschreibung der Gesellschaft. Es schließt an das Konzept von Karl Marx an; bei Bourdieu findet sich allerdings eine deutlichere Verbindung der Klassenlage mit der Verfügung über Kapital sowie mit den Lebensstilen der gesellschaftlichen Akteur_innen. Er unterscheidet zwischen ökonomischen, kulturellen und sozialen Aspekten der Klassenbildung (vgl. Fröhlich / Rehbein 2009: 141) und beschränkt sich nicht auf den Besitz oder Nicht-Besitz von Produktionsmitteln. Bourdieu geht deutlich über die Berücksichtigung von Einkommen und Beruf hinaus, wenngleich er bei der Klassifizierung der Klassen stark auf die Berufsgruppen rekurriert. Mit der Unterscheidung zwischen verschiedenen Kapitalsorten sowie den unterschiedlichen Geschmäckern und Lebensstilen als Manifestationen des Habitus berücksichtigt er vor allem die sozialen Bedingungen der klassenspezifischen Lebensführung

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Bourdieus Klassen- und Habituskonzept

eines Individuums (vgl. a. Abels 2009: 309; Gebauer / Krais 2010: 36). Hieraus entsteht ein hohes Maß an Detailliertheit im Hinblick auf die Charakterisierung der unterschiedlichen Klassen und ihrer Gepflogenheiten, was für die Untersuchung von literarischen Figuren besonders geeignet ist.

1.

Sozialer Raum und Kapitalsorten

Bourdieu konnte aus seinen Untersuchungsergebnissen ableiten, dass der Geschmack als Erzeugungsformel des Lebensstils einen Rückschluss auf die soziale Position zulässt. Das theoretische Konstrukt des sozialen Raums setzt sich zusammen aus dem Raum der sozialen Positionen und dem Raum der Lebensstile, welche übereinandergelegt gedacht sind, sodass je nach sozialer Position der tendenziell entsprechende Lebensstil ersichtlich wird – das Ganze bildet eine Sozialstruktur, welche man sich als geografische Landkarte vorstellen kann (vgl. Bourdieu 1983: 209). Die Lebensstile sind die sichtbaren Manifestationen des Habitus, welcher später in diesem Abschnitt genauer definiert und auch mit dem Geschmack in Bezug gesetzt wird. Die soziale Position, die ein_e Akteur_in innehat, leitet sich aus dem Kapital ab, über das sie_er verfügt. Im Diagramm des Raums der sozialen Positionen ist das vorhandene Kapitalvolumen der einzelnen Akteur_innen genauso abzulesen wie die Kapitalstruktur (s. Abb. 1). Kapitalvolumen +

ökon. Kapital –

ökon. Kapital +

kult. Kapital +

kult. Kapital –

Kapitalvolumen – Abb. 1: Bourdieus Raum der sozialen Positionen (vgl. Bourdieu 2012: 212f.)

In dieser simplifizierenden Abbildung der gesellschaftlichen Struktur sind oben Individuen zu finden, die insgesamt ein hohes Kapitalvolumen zu verzeichnen haben und unten diejenigen, die insgesamt über wenig Kapital verfügen (y-Achse). Links sind Individuen zu verorten, die über viel kulturelles

46

Theoretische Grundlagen

und wenig ökonomisches Kapital verfügen und rechts diejenigen, die über viel ökonomisches und wenig kulturelles Kapital verfügen (x-Achse). Bourdieu unterscheidet drei Kapitalsorten: das ökonomische, das kulturelle und das soziale Kapital. Zusätzlich können alle Kapitalsorten auch als symbolisches Kapital wirksam werden (vgl. Jurt 2003: 211ff.). Im Schaubild nicht unmittelbar dargestellt sind das soziale und symbolische Kapital. Zur Erläuterung des symbolischen Kapitals soll ein Zitat von Joseph Jurt dienen: Das symbolische Kapital […] ist nicht eine besondere Art Kapital, sondern das, was aus jeder Art von Kapital wird, das als Kapital, das heißt als (aktuelle oder potentielle) Kraft, Macht oder Fähigkeit zur Ausbeutung verkannt, also als legitim anerkannt wird. (Jurt 2003: 213)

Nach Jurt tendiert jede Form des Kapitals dazu, als symbolisches Kapital zu fungieren, sobald es explizite oder praktische Anerkennung erlangt (vgl. Jurt 2003: 212). Das ökonomische Kapital lässt sich präzise erfassen. Es handelt sich hierbei prinzipiell um Geld, bzw. ist unmittelbar in Geld konvertierbar (vgl. Bourdieu 1992: 52). Es stellt den finanziellen Besitz einer Person dar. Damit ist das Einkommen einer Person, neben dem Erbe oder anderer monetärer Mittel, maßgeblich für die Höhe des ökonomischen Kapitals verantwortlich. Das soziale Kapital umfasst hingegen die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind. (Bourdieu 1992: 63)

Es handelt sich somit um Ressourcen, die ein_e Akteur_in besitzt, weil sie zu einer bestimmten Gruppe gehört. Institutionalisierungsakte wie Heirat o. ä. können dafür sorgen, dass ein_e Akteur_in einer bestimmten Gruppe zugerechnet wird, womit das verfügbare soziale Kapital auch institutionell sichtbar wäre. Die Höhe des sozialen Kapitals, das ein Mensch besitzt, hängt von der Reichweite seines Beziehungsnetzes und dem Umfang des ökonomischen und kulturellen Kapitals der Akteur_innen im Beziehungsnetz ab. Wichtig ist hierbei, dass dieses Beziehungsnetz – einmal aufgebaut – keineswegs für alle Zeit existiert. Hierfür muss vielmehr kontinuierliche »Institutionalisierungsarbeit« (Bourdieu 1992: 65) geleistet werden, die letztlich dazu dient, einen unmittelbaren Nutzen aus den Sozialbeziehungen zu ziehen. Das kulturelle Kapital gliedert Bourdieu in drei unterschiedliche Formen auf: das inkorporierte kulturelle Kapital, das objektivierte kulturelle Kapital und das institutionalisierte kulturelle Kapital. Mit dem inkorporierten Kulturkapital ist prinzipiell die Bildung eines Individuums beschrieben. Es ist somit an den Körper gebunden, verinnerlicht und kann daher auch nicht einfach, etwa durch

Bourdieus Klassen- und Habituskonzept

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Schenkung oder Vererbung, auf andere übertragen werden (vgl. Bourdieu 1992: 56). Demgemäß ist der Faktor Zeit bei dieser Form des Kulturkapitals besonders relevant. Jedes Individuum muss die Zeit, die für die Akkumulation des inkorporierten kulturellen Kapitals benötigt wird, selbst aufbringen. Weiterhin kann die Anhäufung von kulturellem Kapital von frühster Kindheit an ohne Zeitverlust und Verzögerung nur in Familien stattfinden, »die über ein so starkes Kulturkapital verfügen, daß die gesamte Zeit der Sozialisation zugleich eine Zeit der Akkumulation ist« (Bourdieu 1992: 58). Denn dann sind die Voraussetzungen zur »schnellen und mühelosen Aneignung« (Bourdieu 1992: 58) von Fähigkeiten erst gegeben. Dabei gilt gleichzeitig, dass ein Individuum nur so lange unbeschränkt Zeit für die Anhäufung kulturellen Kapitals aufwenden kann, wie ihm die Freiheit von ökonomischen Zwängen gewährleistet werden kann (beispielsweise durch Entlastung durch die Familie). Das objektivierte Kulturkapital ist entgegen des inkorporierten übertragbar, ähnlich wie das ökonomische Kapital. Es handelt sich dabei beispielsweise um Schriften, Gemälde, Denkmäler, Instrumente o. ä. (vgl. Bourdieu 1992: 59). Bei der Übertragung ist es allerdings nur möglich, das juristische Eigentum zu übertragen. Das Kulturkapital, welches benötigt wird, um das objektivierte Kulturkapital zu genießen, dessen Wert zu schätzen oder den Gegenstand zu gebrauchen, ist das inkorporierte Kulturkapital, welches weiterhin nicht übertragbar ist. Das institutionalisierte Kulturkapital umfasst schließlich die Objektivierung von inkorporiertem Kulturkapital, beispielsweise in Form von schulischen Titeln. Mit dem Erwerb eines Titels gibt es keinen Zwang mehr, das akkumulierte kulturelle Kapital unter Beweis zu stellen – es wurde institutionalisiert.

2.

Klassen

Aus den Stellungen im sozialen Raum, die auf die spezifische Zusammensetzung der beschriebenen Kapitalsorten zurückzuführen sind, lassen sich Klassen herauskristallisieren: […] das heißt Ensembles von Akteuren mit ähnlichen Stellungen, und die, da ähnlichen Konditionen und ähnlichen Konditionierungen unterworfen, aller Voraussicht nach ähnliche Dispositionen und Interessen aufweisen, folglich auch ähnliche Praktiken und politisch-ideologische Positionen. (Bourdieu 1991: 12)

Hier ist anzumerken, dass Bourdieus Klassenbegriff vielschichtig und komplex ist. Die im Zitat beschriebene Art der Klasse entspricht der von Bourdieu unterschiedlich bezeichneten ›soziologisch analysierten‹, ›objektiven‹, ›theoretischen‹ bzw. ›konstruierten‹ Klasse oder auch der ›Klasse auf dem Papier‹ (vgl. Fröhlich / Rehbein 2009: 141), welche letztlich auch mit sozialer Klasse gemeint

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Theoretische Grundlagen

ist. Diese versucht er anhand seiner Ergebnisse zu konstruieren, um eine statistische Analyse des sozialen Raumes überhaupt zu ermöglichen (vgl. Bourdieu 1991: 12f.).35 Die konstruierten Klassen können zum einen auf Basis von Kapital differenziert werden, womit der Raum der sozialen Positionen angesprochen wäre, und zum anderen auf der Basis von Habitus, womit der Raum der Lebensstile angesprochen wäre (vgl. Fröhlich / Rehbein 2009: 141f.). Bourdieu unterscheidet letztlich drei soziale Klassen: das Bürgertum bzw. die Bourgeoisie, das Kleinbürgertum und das Proletariat bzw. die Arbeiterklasse. Seine Unterscheidung geht auf den Gegensatz zwischen Herrschenden und Beherrschten zurück. Hieraus leitet sich das Bürgertum als herrschende Klasse ab. Innerhalb der beherrschten Klassen gibt es ein Konkurrenzverhältnis um Kapital und soziale Position. Die Gruppe, die mehr Kapital akkumuliert hat, lässt sich als Mittelklasse, als Kleinbürgertum beschreiben, während die Gruppe der »Chancenlosen« das Proletariat bilden (vgl. Rehbein 2006: 177).

3.

Fraktionen

Die Verfügung über verschiedene Kapitalsorten in unterschiedlichem Umfang teilt die Klassen jeweils in Fraktionen. Das Bürgertum ist demgemäß in eine dominante und eine dominierte Fraktion unterteilt. Die dominante Fraktion, geprägt von Unternehmer_innen, verfügt über deutlich mehr ökonomisches Kapital, während die dominierte Fraktion, geprägt von Intellektuellen, d. h. Hochschullehrer_innen und Künstler_innen, über mehr kulturelles Kapital verfügt. Die Unternehmer_innen lassen sich streng genommen wiederum in zwei Fraktionen teilen: Industrielle und Unternehmer_innen der Handelsbranche. Die Unternehmer_innen der Handelsbranche haben eher eine Vorliebe für die mittlere Kultur, während die Industriellen sich mit dem bürgerlichen Geschmack identifizieren. Die herrschende Klasse zeichnet sich insgesamt durch ihren Sinn für Distinktion aus; die Art des Kunstkonsums – etwa die Aneignung und der Genuss von kulturellen Gütern unter hohem Einsatz von Zeit – sowie der neuere Naturkult – etwa der Zweitwohnsitz auf dem Lande – sind typische Distinktionspraktiken (vgl. Fröhlich / Rehbein 2009: 297). Im Kleinbürgertum macht Bourdieu drei Fraktionen aus: Zunächst das absteigende Kleinbürgertum, welches sich durch regressive Einstellungen auszeichnet. Sie ähneln denen der Arbeiter_innen, ohne »jedoch im selben Maße 35 Neben den konstruierten Klassen benennt Bourdieu die realen Klassen, welche in der Praxis hergestellt werden. Hierzu lässt sich sagen, dass »[j]e genauer die Konstruktion ist, desto eher entsprechen die konstruierten Klassen den realen Klassen, weil sie reale Differenzen und Ähnlichkeiten erfassen« (Rehbein 2006: 173).

Bourdieus Klassen- und Habituskonzept

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vom Mangel an Möglichkeiten diktiert zu sein« (Bourdieu 2012: 541). Dennoch weisen sie den Lebensstil der Arbeiter_innen, »wie die Mentalität genießerischer Lebensfreude« (Bourdieu 2012: 549), weit von sich. Zweitens das exekutive Kleinbürgertum, welches nach Bourdieu im Hinblick auf autodidaktische Strebsamkeit und Bildungseifer die »perfekteste Verwirklichung des Kleinbürgers« ausmachen (vgl. ebd.). Sie zeichnen sich in erster Linie durch eine asketische Lebensart und einen immensen Ehrgeiz aus, sich durch die Akkumulation von kulturellem Kapital einen Aufstieg zu ermöglichen (vgl. Bourdieu 2012: 550). Zuletzt das neue Kleinbürgertum, dessen typischste Angehörige Verkäufer_innen und Vertreter_innen sind, sowie Akteur_innen im Dienstleistungssektor (vgl. Bourdieu 2012: 563). In dieser Fraktion weichen die Laufbahnen besonders stark voneinander ab, da die Berufe eine große Unbestimmtheit aufweisen. Hier finden sich Akteur_innen aus der herrschenden Klasse, die wegen mangelndem Bildungskapital auf die neuen Berufe umschwenken mussten. Ihre Einstellungen und Präferenzen ähneln denen des Bürgertums. Außerdem neigen sie zum »kulturelle[n] Bluff«36 (Bourdieu 2012: 569), welcher es ihnen vor allem ermöglichen soll, sich distinguiert zu geben. Zum anderen befinden sich in dieser Fraktion Akteur_innen der neuen Berufe (z. B. Kulturvermittler_innen oder Kunsthandwerker_innen), die aus anderen Klassen als der herrschenden stammen. Ihnen fehle das soziale Kapital, die kulturelle Kompetenz sowie die ethischen Dispositionen für diese soziale Position, weshalb Bourdieu ihnen prognostiziert, aus ihren Positionen vertrieben zu werden (vgl. Bourdieu 2012: 572). Eine Unterteilung des Proletariats in Fraktionen war Bourdieu nicht möglich, da diese Klasse in seiner umfangreichen Untersuchung »nicht in dem Maße berücksichtigt [wurde], wie es ihrer Bedeutung innerhalb einer repräsentativen Erhebung entsprochen hätte« (Bourdieu 2012: 786). Nach Fröhlich und Rehbein seien hier zwar verschiedene Fraktionen erkennbar, diese werden aber nicht systematisch ausgeführt (vgl. Fröhlich / Rehbein 2009: 301). Die Arbeiterklasse empfindet, entsprechend ihres Not-Geschmacks, alle Ausgaben, die über das Notwendige hinausgehen, als Verschwendung (vgl. ebd.). Daher sparen sie ihr Geld lieber. Es wird hier ein Konformitätsprinzip (vgl. Bourdieu 2012: 587ff.) 36 Laut Bourdieu gibt das neue Kleinbürgertum häufig vor, über ein besonders großes kulturelles Kapital zu verfügen, indem sie beispielsweise vortäuschen, Musikwerke zu kennen, dessen Komponisten sie dann letztlich nicht benennen können. Es verdeutlicht eine Art soziales Gespür, welches es möglich macht, sich in schwierigen Situationen zurechtzufinden, in denen eigentlich die Mittel zur Orientierung fehlen (vgl. Bourdieu 2012: 568). Sich Kafka oder Goethe ins Bücheregal zu stellen, ohne die Werke rezipiert zu haben, also objektiviertes Kulturkapital zu akkumulieren, ohne über ausreichend inkorporiertes Kulturkapital zu verfügen, das für das Verständnis notwendig wäre, kann auch als kultureller Bluff verstanden werden.

50

Theoretische Grundlagen

sichtbar, welches jedes ›aus-der-Reihe-Tanzen‹ sanktioniert. Sie besitzen eine gewisse Weisheit, die sie durch »Erfahrung von Mangel, Leiden und Erniedrigung« (Bourdieu 2012: 616) erlangt haben, und sie haben außerdem einen Sinn für Lebensfreude und praktische Solidarität. Die Vorlieben und der Geschmack des Proletariats werden jedoch »auf der Grundlage der Anerkennung der herrschenden Kultur entwickelt und verinnerlicht« (Fröhlich / Rehbein 2009: 302). Eine eigene Kultur im Sinne einer Gegenkultur, die gegen die herrschende opponiert, könne der Arbeiterklasse demnach nicht zugesprochen werden (vgl. ebd.).

4.

Geschmack

Zentraler Gegenstand von Bourdieus Die feinen Unterschiede ist der Geschmack. Bourdieu bezeichnet den Geschmack als »Erzeugungsformel, die dem Lebensstil zugrunde liegt« (Bourdieu 2012: 283). Er stellt fest, dass der Geschmack je nach Kapitalvolumen und Kapitalstruktur variiert (vgl. Fröhlich / Rehbein 2009: 105); das heißt, der Geschmack steht in direktem Zusammenhang mit der sozialen Position der_des Akteur_in: Der Geschmack ist die Grundlage alles dessen, was man hat – Personen und Sachen –, wie dessen, was man für die anderen ist, dessen, womit man sich selbst einordnet und von den anderen eingeordnet wird. (Bourdieu 2012: 104)

Bourdieu unterscheidet den distinguierten oder auch legitimen Geschmack der Bourgeoisie vom prätentiösen, mittleren Geschmack des Kleinbürgertums und dem vulgären, barbarischen, populären Not-Geschmack der Arbeiterklasse (vgl. Bourdieu 2012: 36ff., 286, 585; Fröhlich / Rehbein 2009: 106). Charakteristisch für den legitimen Geschmack ist die Distinktion. Das Bürgertum ist bestrebt, sich über seinen Geschmack von den anderen Klassen abzugrenzen, wobei sie die herrschenden Klassifikationen zu bestimmen suchen (vgl. Fröhlich / Rehbenin 2009: 77). Das Bürgertum trennt die Form von der Funktion der Güter und klassifiziert sie letztlich nur nach formalen und stilistischen Gesichtspunkten (vgl. Fröhlich / Rehbein 2009: 106). Hierbei ist zu sagen, dass die Fraktion der Intellektuellen eher zu »riskanteren aber umso einträglicheren Distinktionsstrategien« (ebd.) – etwa in Form von Adelung vulgärer Güter – neigt als die besitzbürgerliche Fraktion, welche Güter eher als käufliche Luxusobjekte betrachtet. Der prätentiöse Geschmack des Kleinbürgertums lässt sich als dem legitimen Geschmack nacheifernd beschreiben. Kleinbürger_innen können diesen jedoch aufgrund mangelnden ökonomischen und kulturellen Kapitals nicht erreichen. Sie versuchen dieses Defizit durch Bildungsbeflissenheit auszugleichen. Aufgrund der mangelnden Ressourcen

Bourdieus Klassen- und Habituskonzept

51

fehlt ihnen außerdem die »Lässigkeit« der Bourgeoisie, weshalb eher die »strebsame[…] Überkorrektheit« der Kleinbürger_innen auffällt (vgl. Fröhlich / Rehbein 2009: 107). Während das absteigende Kleinbürgertum regressive Einstellungen vertritt und der modernen Moral mit Ressentiments begegnet (vgl. Bourdieu 2012: 541 bzw. 549), zeichnet sich das exekutive Kleinbürgertum durch asketische Einstellungen und intensiven Bildungseifer aus (vgl. Bourdieu 2012: 550f.). Sie identifizieren sich am stärksten mit dem Geschmack der Bourgeoisie (vgl. Fröhlich / Rehbein 2009: 107). Das neue Kleinbürgertum hingegen nähert sich einem Präferenzsystem an, das tatsächlich dem des Bürgertums sehr ähnlich ist (vgl. Bourdieu 2012: 566). Der Not-Geschmack des Proletariats schließlich lässt sich durch die Fokussierung der Funktionalität bzw. des praktischen Zwecks der Güter charakterisieren. Die Arbeiter_innen ästhetisieren die Güter nicht, sondern beurteilen ihren Wert danach, was sie praktisch damit anfangen können (vgl. Abels 2009: 313). Dieser »praktische Materialismus« lasse sich nach Bourdieu nicht allein auf das mangelnde Kapital zurückführen, sondern basiere »auch auf der aktiv getroffenen Geschmacksentscheidung für das Notwendige, d. h. einer kulturellen Disposition« (Fröhlich / Rehbein 2009: 107).

5.

Habitus

Der Habitus lässt sich beschreiben als »das Prinzip des Handelns, Wahrnehmens und Denkens sozialer Individuen« (Fröhlich / Rehbein 2009: 111). Er ist in den Körper eingeschrieben, das heißt, er manifestiert sich über den Körper, ist sozusagen »als Natur gewordene, in motorische Schemata und automatische Körperreaktionen verwandelte gesellschaftliche Notwendigkeit« (Bourdieu 2005: 127) zu verstehen. Mit dem Habitus lässt sich auch die Gleichförmigkeit von Handlungen zu unterschiedlichen Zeiten an unterschiedlichen Orten begründen. Ein_e Akteur_in übt bestimmte Handlungs-, Denk- und Wahrnehmungsweisen in einem bestimmten sozialen Umfeld ein, indem er_sie sie ausübt. Man erwirbt dabei Dispositionen, die sich auf andere Situationen übertragen lassen und in einem gewissen Maße variabel sind. Der Habitus lässt sich auch als ein System von dauerhaften Dispositionen beschreiben (vgl. Bourdieu 2009: 164f.). Aus dem Erwerb von Dispositionen bzw. der Einübung von Handlungs-, Denk- und Wahrnehmungsweisen entsteht im Laufe der Sozialisation ein (Lebens-)Stil, der wiederum den Kern des Habitus bildet (vgl. Fröhlich / Rehbein 2009: 112). Mit anderen Worten: Die Lebensstile sind die »sichtbaren sozialen Manifestationen des Habitus« (Fröhlich / Rehbein 2009: 141). Der Geschmack wiederum ist ja die Erzeugungsformel, die dem Lebensstil zugrunde liegt, womit

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Theoretische Grundlagen

der Geschmack letztlich auch den Habitus veranschaulicht bzw. Bestandteil dessen ist. Beate Krais und Gunter Gebauer halten fest, dass der Zusammenhang von Klassenlage und Lebensstil, d. h. die Verknüpfung von Struktur und Handeln, den Habitus ins Spiel bringe (vgl. Gebauer / Krais 2010: 37). Die Habitus als Erzeugungsprinzip von unterschiedlichen Praktiken seien zentraler Indikator für die sozialen Unterschiede – für »die Zugehörigkeit zu der einen oder zu der anderen sozialen Gruppe oder Klasse« (ebd.). Bourdieu betont, dass eine Klasse nicht nur durch ihre Stellung in den Produktionsverhältnissen, d. h. durch die Verfügung über Kapital, bestimmt ist, sondern auch der Klassenhabitus hierbei eine zentrale Rolle einnimmt. Der Habitus korreliere mit der sozialen Position (vgl. Bourdieu 2012: 585), ist hierauf jedoch nicht zu reduzieren (vgl. Fröhlich / Rehbein 2009: 142). Die Korrelation ist einleuchtend, denn im Prozess der Habitualisierung37 werden Handlungsweisen verfestigt, die positiv sanktioniert wurden. Daraus erwächst eine Tendenz, in einer ähnlichen Situation gleich zu handeln (vgl. Fröhlich / Rehbein 2009: 114). Die Wahrscheinlichkeit erneut positive Sanktionen auf eine Handlungsweise aus der Vergangenheit zu erlangen, ist allerdings nur am gleichen sozialen Ort besonders hoch: »[I]ndem im Habitus die Vergangenheit des Individuums fortwirkt, die den Habitus gestaltet und geformt hat, bringt er Orientierungen, Haltungen, Handlungsweisen hervor, die die Individuen an den ihrer Klasse vorgegebenen sozialen Ort zurückführen – sie bleiben in ihrer Klasse verhaftet und reproduzieren sie in ihren Praktiken« (Gebauer / Krais 2010: 43). Deshalb ist eine Veränderung des Habitus auch nur schwer möglich. Der sogenannte Hysteresis-Effekt beschreibt den Umstand, dass der Habitus aufgrund seiner dauerhaft inkorporierten Dispositionen träge ist. Er passt sich nur langsam und verzögert äußeren Veränderungen an. Demgemäß verrät der träge Habitus in der Regel auch die soziale Herkunft eines Individuums.38

6.

Die männliche Herrschaft

Bourdieu ist einer der Soziologen, die die Dimension der Geschlechterverhältnisse in seinen Arbeiten immer schon berücksichtigt haben (vgl. Gebauer / Krais 37 Dieser Begriff soll hier synonym zu dem der ›Sozialisation‹ verwendet werden (vgl. Fröhlich / Rehbein 2009: 114). 38 Die Einbeziehung des Habitus einerseits als Erzeugungsprinzip der Existenzbedingungen und andererseits als praktische Umsetzung derer ist gerade mit Blick auf seine Trägheit für die Analyse der klassenspezifischen Performanz der Figuren gewinnversprechend, da einige Figuren in Die Ausgesperrten bestrebt sind, ihre Klassenherkunft zu leugnen bzw. ihre spezifischen Dispositionen abzulegen.

Bourdieus Klassen- und Habituskonzept

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2010: 48). Systematisch befasst er sich mit der Frage nach den geschlechtlich geprägten Herrschaftsverhältnissen jedoch erst in seinem Aufsatz Die männliche Herrschaft, welcher 1998 (dt. 2005) als überarbeitete eigenständige Monografie erschienen ist (vgl. Bourdieu 2005). Er macht hier die männliche Herrschaft über Frauen als eine Form der symbolischen Herrschaft aus (vgl. Dölling / Steinrücke 1997: 219). Er erläutert, wie die »männliche Herrschaft als alltägliche Struktur und Aktivität funktioniert: Eine vergeschlechtlichte Sicht der Welt lagert sich in unseren Habitus ein« (Gebauer / Krais 2010: 49). Die zentrale Rolle des Habitus wird hiermit evident; er ist nach Bourdieu vergeschlechtlicht und vergeschlechtlichend zugleich. Einerseits konstruiere die soziale Welt durch »eine permanente Formierungs- und Bildungsarbeit« (Bourdieu 1997: 167; H. i. O.) den Körper als vergeschlechtlichte Wirklichkeit, andererseits sind dem Habitus Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien inhärent, welche auf den Körper angewendet werden und damit vergeschlechtlichend wirken (vgl. ebd.). Demgemäß lässt sich mit Candance West und Don Zimmerman auch von doing gender sprechen (vgl. West / Zimmerman 1987). Das soziale Geschlecht ist hiernach nichts, was dem Menschen natürlich gegeben ist, sondern es lagert sich im Laufe der Sozialisation in den Habitus ein, geschlechtsspezifische Verhaltensweisen werden inkorporiert und die hierarchischen, geschlechtlich geprägten Muster werden durch die Habitus in der Gesellschaft reproduziert. Bourdieu macht hierzu einen anschaulichen Vergleich mit der Musik auf: Das Geschlecht ist eine ganz fundamentale Dimension des Habitus, die, wie in der Musik die Kreuze oder Schlüssel, alle mit den fundamentalen sozialen Faktoren zusammenhängenden sozialen Eigenschaften modifiziert. (Dölling / Steinrücke 1997: 222)

Wichtig ist diesbezüglich, dass Bourdieu davon ausgeht, dass es nur zwei Geschlechter gibt. Ein geschlechtsspezifischer Habitus richtet sich aufgrund der symbolischen Ordnung entweder am männlichen oder am weiblichen Pol aus. Das bedeutet, dass »Mann-Sein oder Frau-Sein als antagonistische, das heißt als entgegengesetzte Identitäten konstruiert sind« (Gebauer / Krais 2010: 49). In geschlechtsbinären Gesellschaften lässt sich mit dem Konstrukt des geschlechtlichen Habitus als generierendes Prinzip geschlechtsspezifischer Handlungs-, Denk- und Wahrnehmungsmuster einerseits und praktischer Umsetzung derselben andererseits die männliche Herrschaft erklären. Bourdieu spricht von einer symbolischen Herrschaft oder auch einer symbolischen Gewalt, welche sich häufig durch eine »sanfte, unsichtbare, unmerkliche Diskriminierung« (Dölling / Steinrücke 1997: 228) äußert. Zentral ist hierbei, dass Bourdieu von einer unbewussten Komplizenschaft ausgeht: Es wird ein gewisses Einverständnis der Beherrschten vorausgesetzt, das es den Herr-

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Theoretische Grundlagen

schenden erst ermöglicht zu herrschen. Gerade die Inkorporierung der geschlechtsspezifischen Praxis in den Körper mache es so schwierig, die unbewusste »Unterwerfungsbereitschaft« (ebd.) der Beherrschten abzubauen. Im Falle der männlichen Herrschaft müssen sich demnach Frauen mit der Ordnung identifizieren, die sie als minderwertige Subjekte ausmacht, damit die Herrschaft ›funktionieren‹ kann (vgl. Fröhlich / Rehbein 2009: 120). Die Veranschaulichung des Seins bzw. Wahrgenommen-Seins von Frauen soll als ein Beispiel der Sichtbarwerdung der subtilen männlichen Herrschaft dienen. Bourdieu macht das weibliche Sein im Kontext der männlichen Herrschaft als Wahrgenommen-Sein aus. Je mehr eine Frau von der männlich geprägten Norm abweicht, je größer also die Diskrepanz zwischen gefordertem Ideal und tatsächlicher Verkörperung ist, umso größer sei auch ihre Scham und ihr Unbehagen in Bezug auf ihren Körper (vgl. Bourdieu 2005: 112). Es folgt ein Zustand der dauernden körperlichen Verunsicherung, welche auf ein Außen, auf eine Bewertung angewiesen ist: »Sie [die Frauen, Anm. JS] existieren zuallererst für und durch die Blicke der anderen, d. h. als liebenswürdige, attraktive, verfügbare Objekte« (Bourdieu 2005: 117; H. i. O.). Voraussetzung für diese Unterordnung bleibt zwar die Unterwerfungsbereitschaft, die Bereitschaft zur Komplizenschaft mit den Männern. Jedoch sind die Alternativen rar gesät. Denn entzieht sich eine Frau dem stillschweigend vereinbarten »Disponibilitätsverhältnis« (Bourdieu 2005: 119), eignet sie sich also ihren Körper wieder an, indem sie beispielsweise ihre eigene Bewertungsnorm zugrunde legt oder intellektuelle Unabhängigkeit behauptet, so wird sie als »nicht weiblich« erkannt (ebd.), was gleichermaßen eine negative Sanktion darstellen kann. Dies ist eins von zahlreichen Beispielen, die Bourdieu anführt, um die männliche Herrschaft sichtbar(er) zu machen. Sie zeigt sich als Realisierung einer Weltsicht oder einer sozialen Ordnung, die sowohl im Habitus der Herrschenden als auch der Beherrschten verankert ist (vgl. Gebauer / Krais 2010: 52) und dadurch besonders wirkmächtig wird. Bourdieus Klassen- und Habituskonzept stellt durch die Verknüpfung der klassenspezifisch verteilten Produktionsmittel mit den sozialen Manifestationen der Klassenzugehörigkeit einen wichtigen Beitrag zur strukturierten Gesellschaftsanalyse dar. Durch den hohen statistischen Zusammenhang der Klassenlage mit bestimmten Geschmäckern und Lebensstilen lassen sich im Kontext der Analyse fundierte Aussagen über die Klassenzugehörigkeit der Figuren treffen, die über die unterkomplexe Einordnung qua Beruf hinausgehen. Ebenfalls ist es durch Bourdieus Beitrag zur systematischen Aufarbeitung der männlichen Herrschaft möglich, habituell verankerte geschlechtsspezifische Mechanismen aufzudecken, die Aufschluss über die Männlichkeitskonstruktionen der Figuren geben können.

Dimensionen von Männlichkeiten

II.

Dimensionen von Männlichkeiten

1.

Connells Konzept der hegemonialen Männlichkeit

55

Beschäftigt man sich mit Männlichkeitsforschung, so führt an der Soziologin Raewyn Connell kein Weg vorbei. Die Forscherin gilt als Begründerin der kritischen Männlichkeitsforschung und ihr Ansatz wird nicht nur in den men’s studies breit rezipiert, sondern ist auch eingebunden in eine allgemeine soziologische Theorie des Geschlechts (vgl. Meuser 2010: 99). Wenngleich das Konzept der hegemonialen Männlichkeit keine ausgereifte Theorie ist, sondern eher einen tentativen Charakter hat (vgl. Meuser 2010: 100), bietet es wichtige Ansatzpunkte zur Klassifizierung verschiedener Männlichkeiten in westlichen Kulturen. Connell möchte Männlichkeit und Weiblichkeit als »Geschlechterprojekte« (Connell 2006: 92) verstanden wissen, als etwas Prozesshaftes und Dynamisches, nichts Statisches. Sie spricht vom sozialen Geschlecht als Struktur der sozialen Praxis. Diese soziale Praxis wird von ihr als nicht ursprünglich angesehen, sondern entsteht innerhalb fester Strukturen von sozialen Beziehungen und reagiert auf bestimmte Situationen. Diese Praxis bestehe nicht aus isolierten Handlungen, sondern entstehe in der Auseinandersetzung von Menschen und Gruppen (vgl. ebd.). Handeln schließlich »konfiguriert sich zu größeren Einheiten, und wenn wir von Männlichkeit und Weiblichkeit sprechen, benennen wir Konfigurationen von Geschlechterpraxis« (ebd.). Um die Struktur des sozialen Geschlechts darstellen zu können, werden drei Strukturen genannt, in denen Geschlechterverhältnisse organisiert sind: Machtbeziehungen, Produktions- bzw. Arbeitsbeziehungen und die emotionale Bindungsstruktur (vgl. Connell 2006: 94ff.). In ihrem Werk Gender erweitert Connell diese drei Dimensionen noch um eine vierte: Symbolisierungen (vgl. Connell 2013: 118ff. bzw. Connell 2015: 317f.).39 Die Machtbeziehungen beschreiben die wirkmächtigste der Strukturen: die »allgegenwärtige Unterordnung von Frauen und die Dominanz von Männern« (Connell 2006: 94) – das Patriarchat. Die Produktionsbeziehungen umfassen sowohl die geschlechtliche Arbeitsteilung als auch die ungleiche Verteilung des Kapitals. Die dritte Struktur, die Connell in Anlehnung an die Psychoanalyse auch Kathexis nennt, bezieht sich auf das Begehren. Sie geht von einem Freud’schen Verständnis von Begehren aus, das sich als eine emotionale Energie beschreiben lässt, die an ein Objekt geheftet wird (vgl. Connell 2006: 95). Diese 39 Dies erweitert bzw. differenziert ihr Konzept zwar, dessen Grundzüge bleiben jedoch erhalten. Daher bleibt auch das Konzept der hegemonialen Männlichkeit in der neusten Auflage von Der gemachte Mann in gleicher Form erhalten (vgl. Connell 2015).

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Theoretische Grundlagen

Energie kann sowohl positiv in Form von Liebe und Unterstützung als auch negativ in Form von Misogynie und Homofeindlichkeit40 sein (vgl. Connell 2013: 116). Die vierte Dimension befasst sich mit den symbolischen Repräsentationen von Geschlecht. Sie widmet sich der Welt von Bedeutungen: Mit der Nutzung der Begriffe Mann und Frau wird eine ganze Reihe von »Verständnissen, Implikationen, Obertönen und Anspielungen« (Connell 2013: 118f.) aktiviert, die weit über die biologischen Kategorien männlich und weiblich hinausgehen. Hiermit benennt sie die Geschlechtersymbole bzw. symbolische Geschlechterverhältnisse, die sich durch die gesamte Gesellschaft ziehen. Dieses viergliedrige Modell vermag es, Ansatzpunkte für die Analyse von Männlichkeit zu gewinnen und bildet somit die Grundlage für das Konzept der hegemonialen Männlichkeit. Die vier Dimensionen sind als Denkinstrumente zu verstehen, die nicht abseits voneinander existieren, sondern einander bedingen und eng ineinander verwoben sind (vgl. Connell 2013: 121). Connell macht weiterhin deutlich, dass das soziale Geschlecht keine isolierte Gegebenheit ist, sondern dass es mit anderen sozialen Strukturen wie Ethnie und Klasse interagiert; ein intersektionaler Blick auf die Geschlechterverhältnisse ist somit obligatorisch. Connell möchte hierbei die Dynamik des Ansatzes betont wissen: Gute Analysen von Intersektionalität werden sich […] auf die wechselseitige Einwirkung von Strukturen beziehen, also auf die Art und Weise, wie sie einander verändern – und wie reale Situationen durch diese wechselseitige Einwirkung geschaffen werden. (Connell 2013: 121f.)

Unter Berücksichtigung dieser vier fundamentalen Strukturen und des intersektionalen Ansatzes beschreibt die Soziologin die verschiedenen Relationen zwischen Männlichkeiten: Die Beziehungen unter Männern können durch »Hegemonie, Dominanz / Unterordnung und Komplizenschaft einerseits, Marginalisierung und Ermächtigung andererseits bestimmt sein« (Connell 2006: 60). Connell bezieht sich hierbei nicht ausschließlich auf eine homosoziale Di-

40 Homofeindlichkeit ist synonym zum bekannteren Begriff Homophobie zu verstehen. Der Begriff Homophobie ist zwar in der Forschung noch weit verbreitet, um Feindseligkeiten unterschiedlichster Art gegen Homosexuelle zu bezeichnen, er ist allerdings irreführend. Er bezeichnet schließlich nicht etwa eine Phobie im klinischen Sinne, bei der die Betroffenen den Kontakt zum angstauslösenden Moment tunlichst vermeiden möchten. Vielmehr handelt es sich dabei um eine feindliche Einstellung gegenüber Homosexuellen, die von staatlicher Diskriminierung über offene Anfeindungen hin zu Morden reicht. Diese Einstellung bzw. die Ausmaße dessen sollen auch im Begriff sichtbar werden, weshalb hier Homofeindlichkeit verwendet wird. Zur Verwendung des Begriffs Homophobie und dessen irreführender Konnotation s. a. Pohl 2005: 259f.

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mension, sondern bezieht auch eine heterosoziale mit ein, wenngleich die Beziehungen von Männern zu Frauen nicht vergleichbar ausgearbeitet wurden.41 Im Anschluss werden die verschiedenen Formen von Männlichkeitsbeziehungen detailliert erläutert. Allgemein ist zu sagen, dass Begriffe wie ›hegemoniale Männlichkeit‹ oder ›marginalisierte Männlichkeit‹ Handlungsmuster beschreiben und keine festen Charaktertypen; es sind Handlungsmuster, die in bestimmten Situationen in einem veränderlichen Beziehungsgefüge entstehen (vgl. Connell 2006: 102). Es wird also nicht von einer oder mehreren individuellen Eigenschaften einer Person ausgegangen, sondern von einer in der Interaktion mit anderen (re-)produzierten Handlungspraxis (vgl. Meuser 2010: 105; Meuser / Scholz 2011: 61). Im Fokus der vorliegenden Untersuchung wird dementsprechend die situative Aushandlung der jeweiligen Positionen der Figuren bezüglich ihrer geschlechtlichen Performanz stehen, wobei die Figuren ebenfalls situativ auf ihre positionsspezifischen Ressourcen zurückgreifen. Die hegemoniale Männlichkeit Mit dem Begriff der Hegemonie greift Raewyn Connell auf Antonio Gramsci und seine Analyse der Klassenbeziehungen zurück. Der Begriff bezieht sich auf die gesellschaftliche Dynamik, »mit welcher eine Gruppe eine Führungsposition im gesellschaftlichen Leben einnimmt und aufrechterhält« (Connell 2006: 98). Die hegemoniale Männlichkeit ist also eine Männlichkeit, die sowohl alle anderen Männlichkeiten als auch alle Weiblichkeiten dominiert. Sie sei die momentan akzeptierte Antwort auf das Legitimationsproblem des Patriarchats (vgl. ebd.).42 Dabei handelt es sich jedoch nicht um etwas statisches, sondern um eine bewegliche Relation (vgl. ebd.). Ändern sich die Bedingungen »für die Verteidigung des Patriarchats […], wird dadurch auch die Basis für die Vorherrschaft einer bestimmten Männlichkeit ausgehöhlt« (ebd.). Das Patriarchat kann weiterhin bestehen, nicht nur weil eine Unterordnung durch Androhung oder sogar Anwendung von Gewalt erzwungen wird, sondern eben auch, weil durch Ideologien und kulturelle Deutungsmuster eine Einwilligung in diese unterordnenden Verhältnisse erzeugt wird. Die untergeordneten Männlichkeiten und Weiblichkeiten geben ihr Einverständnis (compliance) für die Subordination. Die komplementäre Form der Weiblichkeit zur hegemonialen Männlichkeit, die Form also, die die männliche Vorherrschaft stützt und mit 41 Dieser Aspekt führt neben anderen zu einer Kritik am Konzept der hegemonialen Männlichkeit. Auf diese wird später ausführlicher eingegangen. 42 Laut Connell wurde das Patriarchat als Herrschaftsform lange Zeit unhinterfragt angenommen. Seit einigen Jahrzehnten jedoch lehnen sich sowohl der Feminismus als auch die Schwulen- und Lesbenbewegung gegen diese Strukturen auf und hinterfragen sie (vgl. u. a. Connell 2006: 60ff., 222). Somit werden die Männlichkeiten gezwungen, ihre Vorherrschaft und Privilegien zu rechtfertigen.

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Theoretische Grundlagen

aufrechterhält, nennt Connell die ›emphasized femininity‹. Auf diese Form wird später sowohl in der Kritik am Konzept als auch im Abschnitt zu Weiblichkeiten noch einmal näher eingegangen. Die hegemoniale Männlichkeit ist ein Ideal – die absolute Form dieser tritt in der Realität nur sehr selten auf. Sie bildet jedoch ein Orientierungsmuster für männlich identifizierte Personen, sie bestimmt ihre Praktiken. Es ist nicht zwingend erforderlich, dass die Vertreter der hegemonialen Männlichkeit gleichzeitig die mächtigsten Männer in der Gesellschaft sind. Auch Männlichkeiten mit Vorbildfunktion, beispielsweise Schauspieler oder Filmfiguren, können eine hegemoniale Männlichkeit verkörpern. Nun stellt sich die Frage, wie genau das Handlungsmuster der hegemonialen Männlichkeit beschaffen ist. Diese Frage ist nicht abschließend zu beantworten, da Connell selbst hier kaum Kriterien zur Verfügung stellt, die eine hegemoniale Männlichkeit erschöpfend beschreiben würden. Als eines der wichtigsten Merkmale stellt sich die Abgrenzung von Weiblichkeit dar. Connell schreibt: Ohne den Kontrastbegriff ›Weiblichkeit‹ existiert ›Männlichkeit‹ nicht. Eine Kultur, die Frauen und Männer nicht als Träger und Trägerinnen polarisierter Charaktereigenschaften betrachtet, zumindest prinzipiell, hat kein Konzept von Männlichkeit im Sinne der modernen westlichen Kultur. (Connell 2006: 88)

Hier wird klar, dass ›reine‹ Männlichkeit – eine hegemoniale Männlichkeit also – nur unter Ausschluss von Weiblichkeit existieren kann. Rolf Pohl schreibt in einem Aufsatz ebenso über Weiblichkeitsabwehr bei männlichen Jugendlichen: »Mann zu sein bedeutet zunächst und in erster Linie, sich als nicht weiblich zu definieren und diese Definition bis in das Körperselbstbild zu integrieren« (Pohl 2005: 250). Außerdem ist die Zwangsheterosexualität ein entscheidendes Kriterium zur Verkörperung einer hegemonialen Männlichkeit. Die Unterordnung eines schwulen Mannes manifestiert sich in Stigmatisierungen und Diskriminierungen. Denn die Homosexualität eines Mannes ist wiederum mit Weiblichkeit konnotiert, welche es – wie eben beschrieben – zu vermeiden gilt. Nach Connell wirkt sich der Zwang zur Heterosexualität sogar auf das Verhältnis eines Mannes zu seinem Körper aus; dieser muss auf Heterosexualität »getrimmt« werden (vgl. Connell 2006: 128). Nicht selten ›verteidigen‹ Männer ihre Sexualität sogar durch physische Gewalt, wie zum Beispiel durch das sogenannte Schwulenklatschen43, was eine Steigerung »männlicher Gepflogenheiten ins Extrem« (Connell 2006: 134) darstellt.

43 Der Begriff ›Schwulenklatschen‹ bezeichnet das physische Angreifen und Verletzen schwuler Männer, beispielsweise in öffentlichen Parks.

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Auch Aspekte von race sind ein wichtiges Merkmal für die Teilhabe an der hegemonialen Männlichkeit (Connell 2006: 101). So merkt Connell an, dass »in einem weiß dominierten Kontext […] schwarze Männlichkeiten symbolische Bedeutung für die Konstruktion des sozialen Geschlechts von Weißen [haben]« (Connell 2006: 101). Sie nutzen Schwarze44 Männlichkeiten, indem sie sie als das Andere deklarieren, ihr Verhalten rassistisch abwerten und sich selbst so als überlegen profilieren können. Schwarze Männlichkeiten bzw. Männlichkeiten of Color45 gelten als untergeordnete ethnische Gruppen und werden im Konzept der hegemonialen Männlichkeit zur marginalisierten Männlichkeit gerechnet. Jürgen Budde weist darüber hinaus auf den Besitz von Produktionsmitteln, Peter Döge auf ökonomischen Erfolg und körperliche Unversehrtheit als Merkmale einer hegemonialen Männlichkeit hin (vgl. Budde 2005: 70; Döge 2003: 96). Aus den hier dargelegten Merkmalen wird deutlich, dass die hegemoniale Männlichkeit Connells ein klassisches Innen und Außen konstruiert, wobei das Innen (d. h. die hegemoniale Männlichkeit) hauptsächlich durch die Abgrenzung zum Außen (d. h. weiblich, homosexuell, People of Color…) und nicht so sehr durch die Spezifizierung des Innen bestimmt ist. Eine Annäherung an eine Definition des Handlungsmusters der hegemonialen Männlichkeit wird nur dadurch möglich, dass andere Männlichkeiten und auch Weiblichkeiten aufgrund von bestimmten sozialen Lagen aus eben dieser ausgeschlossen werden. In dieser Ausschlussgruppe von Männlichkeiten, die für die Definition der hegemonialen Männlichkeit notwendig ist, befinden sich zum einen Weiblichkeiten und zum anderen Männlichkeiten, die als untergeordnet, marginalisiert und komplizenhaft definiert werden können. Das Muster der hegemonialen Männlichkeit wird somit über die Abgrenzung und Abwertung von Weiblichkeit, die Demonstration von Heterosexualität, das Streben nach ökonomischem Erfolg sowie die Privilegierung als weißes und körperlich unversehrtes Subjekt verhandelt. Die untergeordnete Männlichkeit Das wichtigste Beispiel für eine untergeordnete Männlichkeit bildet nach Connell die homosexuelle Männlichkeit. Die Dominanz heterosexueller Männlich44 Der Begriff Schwarz wird in der vorliegenden Arbeit groß geschrieben, wenn er als Adjektiv eine Hautfarbe beschreiben soll. Hiermit soll deutlich werden, dass es im Zusammenhang mit der Beschreibung einer Hautfarbe eben kein »wirkliches Attribut ist, also nichts ›Biologisches‹, sondern dass es eine politische Realität und Identität bedeutet« (Sow 2009: 19). Der Begriff ›weiß‹ wird hingegen nicht groß geschrieben, weil er »im Gegensatz zu ›Schwarz‹ keine politische Selbstbezeichnung aus einer Widerstandssituation heraus ist« (ebd.). 45 People of Color oder PoC ist eine selbstgewählte Bezeichnung von Menschen, die Rassismuserfahrungen haben.

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keiten bringt Stigmatisierungen für Homosexuelle mit sich, die bis heute zur Alltagserfahrung schwuler Männer gehören. »Sie umfassen politischen und kulturellen Ausschluß, kulturellen Mißbrauch […], staatliche Gewalt […], Gewalt auf den Straßen […], wirtschaftliche[…] Diskriminierung und Boykottierung als Person« (Connell 2006: 99). Aus der für die hegemoniale Männlichkeit obligatorischen Heterosexualität geht die untergeordnete Rolle von homosexuellen Männern plausibel hervor. Die mit Weiblichkeit assoziierte Homosexualität steht am unteren Ende der homosozialen Geschlechterhierarchie. Die schwule Männlichkeit sei zwar die auffallendste Form der untergeordneten Männlichkeit, jedoch nicht die einzige. Wird eine heterosexuelle Männlichkeit untergeordnet, wird in der Art der Unterordnung die »symbolische Nähe zum Weiblichen offensichtlich« (Connell 2006: 100). Begriffe wie »Schwächling«, »Muttersöhnchen«, »Waschlappen«, »Memme« (Connell 2006: 100) etc. sind Ausdrücke, die die Männlichkeit effeminieren und somit abwerten und unterordnen.

Die komplizenhafte Männlichkeit Mit der komplizenhaften Männlichkeit spricht Connell eine Männlichkeit an, die sich zwar nicht den »Spannungen und Risiken an der vordersten Frontlinie des Patriarchats aussetz[t]«, aber dennoch von der sogenannten patriarchalen Dividende profitiert (Connell 2006: 100)46. Die patriarchale Dividende beschreibt einen Profit, an dem die Mehrzahl der Männer durch die Vorherrschaft der hegemonialen Männlichkeit teilhat – ein allgemeiner Vorteil, der aus der Unterdrückung von Frauen entsteht (vgl. Connell 2006: 100). Im Speziellen bedeutet dies »einen Zugewinn an Achtung, Prestige und Befehlsgewalt« (Connell 2006: 103). Er äußert sich u. a. im höheren Einkommen und in Führungspositionen von Männern in Politik, Wirtschaft und Militär (vgl. Connell 2006: 103f.). Jürgen Budde kritisiert den Begriff hinsichtlich der Ungenauigkeit, »suggeriert er doch die permanente Dominanz aller männlichen Handlungsmuster gegenüber als weiblich etikettierten Handlungsmustern und aktualisiert damit einen schematischen Begriff von Macht« (Budde 2005: 72). Die Dividende oder Rendite ist jedoch nicht derart statisch zu betrachten, sondern dynamischer, sie variiert je nach Kontext. Ein Geflüchteter hat deutlich weniger Nutzen von der Dividende als der Bankangestellte, während es sich bei einem Hausmann wiederum anders verhält. Es haben aber sowohl der Geflüchtete als auch der Bankangestellte als auch der Hausmann die Möglichkeit »Männlichkeit zur Herstellung geschlechtlicher Dominanz ein[zu]setzen« (Budde 2005: 72). 46 Als Analogie zur komplizenhaften Männlichkeit führt Connell ein Beispiel von Männern an, die sich Football-Spiele im Fernsehen anschauen, jedoch nicht selbst das Spiel spielen.

Dimensionen von Männlichkeiten

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Obwohl das Handlungsmuster der hegemonialen Männlichkeit bei Weitem nicht von jedem Mann realisiert werden kann, da nicht alle über uneingeschränkte Dominanz und Autorität verfügen, wird die hegemoniale Männlichkeit dennoch als erstrebenswertes Ideal weiterhin von ihnen gestützt. Selbst wenn eine komplizenhafte Männlichkeit nicht in der Lage ist, ausschließlich durch sein Einkommen die Familie zu versorgen, so verteidige er dennoch das Leitbild des Mannes als Familienernährer bzw. begreift sich sogar als solcher und trägt damit zur Reproduktion der Geschlechterordnung bei (vgl. Meuser 2010: 105). Die große Gruppe der komplizenhaften Männlichkeiten ist also maßgeblich daran beteiligt, dass das Patriarchat fortbestehen kann. Das ist vor allem vor dem Hintergrund bemerkenswert, dass hier die Realität so stark vom Ideal abweicht. Meuser sieht in homosozialen, männerbündischen Zusammenschlüssen eine große Stütze für die Reproduktion der Geschlechterordnung: Angesichts sich verändernder Geschlechterverhältnisse kommt diesen Refugien vor allem die Funktion zu, sich wechselseitig der Normalität und vor allem auch der – im moralischen Sinne zu verstehenden – Angemessenheit der eigenen Überzeugungen und Alltagspraktiken zu vergewissern. (Meuser 2010: 105)

Die marginalisierte Männlichkeit Durch das Handlungsmuster der marginalisierten Männlichkeit kommen zwei bedeutende Strukturen hinzu, die für die Konstruktion von Männlichkeit und die Beziehungen der Männlichkeiten untereinander wichtig sind: Klasse und Ethnizität. Die Ethnizität wurde im Abschnitt über die hegemoniale Männlichkeit bereits berücksichtigt. Connell nennt hier als Beispiel eine Schwarze Männlichkeit, die für die Konstruktion weißer Männlichkeiten häufig von Relevanz ist. Einerseits gelten Schwarze Sportler als »Musterbeispiel[…] männlicher Härte« (Connell 2006: 101), auf der anderen Seite werde »die Phantasiegestalt des schwarzen Vergewaltigers« (Connell 2006: 101) erschaffen, die von weißen, rechten Politikern für ihre Zwecke instrumentalisiert werde. Während der Schwarze Spitzensportler zum Vorbild für hegemoniale Männlichkeit werden kann, überträgt sich dieser Ruhm und Glanz jedoch nicht auf andere Schwarze Männlichkeiten (vgl. Connell 2006: 101f.). Auf die Kategorie Klasse geht Connell nur in Verbindung mit der Ethnizität ein. Sie hält fest, dass sich Relationen zwischen den Klassen und ›Ethnien‹ gleichzeitig auswirken (Connell 2006: 101). Damit wird erneut deutlich, dass eine intersektionale Perspektive unerlässlich ist, um die Beziehungen zwischen Männlichkeiten umfassend zu untersuchen. Connell definiert die marginalisierte Männlichkeit in erster Linie über die Abgrenzung zur hegemonialen: Marginalisierung entstehe immer relativ zur Ermächtigung hegemonialer Männlichkeit der dominanten Gruppe (vgl. Con-

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Theoretische Grundlagen

nell 2006: 102). Die Marginalisierung vollzieht sich so hauptsächlich durch die Unterordnung bestimmter Klassen und ›Ethnien‹.

2.

Kritik am Konzept der hegemonialen Männlichkeit

Das Konzept der hegemonialen Männlichkeit hat nach Meuser tentativen Charakter, ist also keine ausformulierte Theorie, was aber gerade der Komplexität des Gegenstandes gerecht werde (vgl. Meuser 2010: 107). Dennoch oder gerade deswegen gibt es einige Kritikpunkte am Konzept, welche im Folgenden skizziert werden. Jeweils direkt daran anschließend wird formuliert, welche Position diese Arbeit dazu jeweils einnimmt. Überwiegend wird die begriffliche Unschärfe kritisiert. Die Handlungsmuster, die Connell beschreibt, haben keinen exklusiven Charakter, sie sind nicht eindeutig und abgrenzend. Vielmehr schließen sie einander teilweise ein; so sind sowohl die marginalisierte als auch die komplizenhafte Männlichkeit prinzipiell untergeordnete Männlichkeiten. Die drei Kategorien stehen also nicht als drei unterschiedliche Möglichkeiten einer Männlichkeitsperformanz nebeneinander, sondern lassen sich einander unterordnen. Demgemäß entstehen Ober- und Unterkategorien (s. Abb. 2). Handlungsmuster

hegemoniale Männlichkeit

Untergeordnete Männlichkeit

marginalisierte Männlichkeit

komplizenhafte Männlichkeit

Abb. 2: Grafische Darstellung der Handlungsmuster im Sinne Meusers

Daran anknüpfend kritisiert Meuser bezüglich der Marginalisierung und der Komplizenschaft weiter : »[…] marginalisiert ist eher die homosexuelle Männlichkeit als diejenige der Arbeiterklasse, welche sich im Sinne Connells durchaus als ›komplizenhaft‹ verstehen ließe« (Meuser 2010: 126). Die Kategorie der marginalisierten Männlichkeit ist bei Connell insgesamt mangelhaft ausgearbeitet und bietet nur wenige Definitionsaspekte. Mit dem Ziel der Präzisierung schließt Meuser in die Marginalisierung auch Männlichkeiten ein, die sich dem hegemonialen Muster ausdrücklich entziehen oder ihm entgegenstehen (vgl. Meuser 2010: 104), wie z. B. Hausmänner oder profeministische Männer. Diese

Dimensionen von Männlichkeiten

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Formen der marginalisierten Männlichkeit benennt Connell nicht explizit; und obwohl Connell als Merkmale hier nur Klasse und Ethnie nennt, ist nicht von der Hand zu weisen, dass mit dem Begriff Marginalisierung eben auch die von Meuser benannten Männlichkeiten zu fassen sind. Denn Männlichkeiten, die sich der Vorherrschaft der Männer entgegenstellen, können aufgrund des ›Erhaltungstriebes‹ des Patriarchats schließlich nur an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. Daher soll sich im Folgenden den von Meuser ausgemachten Relationen angeschlossen werden. Ein weiterer Kritikpunkt an Connells Konzept ist, dass sie von einer Singularität der hegemonialen Männlichkeit ausgeht. Connell überdenkt zwar zusammen mit James Messerschmidt (vgl. Connell / Messerschmidt 2005) ihr Konzept dahingehend noch einmal, sodass sie letztlich zumindest drei Ebenen – lokal, regional und global – unterscheiden, auf denen sich hegemoniale Männlichkeit konstituieren kann. Sie bleiben jedoch dabei, dass sich die multiplen hegemonialen Männlichkeiten auf lokaler oder regionaler Ebene, beispielsweise in Familien, Organisationen oder auch innerhalb einer Kultur oder einem Milieu, auf globaler Ebene in einer singulären hegemonialen Männlichkeit symbolisieren lassen.47 Meuser und Scholz konnten in ihren Untersuchungen keine solche Singularität ausmachen (vgl. Meuser / Scholz 2011).48 Ihre Untersuchungen ergaben vielmehr die Möglichkeit verschiedener hegemonialer Männlichkeiten auf unterschiedlichen Machtfeldern (beispielsweise in Wirtschaft, Militär und Sport) auf globaler Ebene.49 Meuser merkt hierzu an, dass 47 Die singuläre hegemoniale Männlichkeit, die Connell benennt, ist die transnational business masculinity (vgl. Connell 1998). Dass letztere mittlerweile die traditionelle, industriegesellschaftlich geprägte, bürgerlich-konservative Männlichkeit als hegemoniale Männlichkeit abgelöst hat (vgl. Meuser 2010b: 332), dass hier also Entwicklungen und Veränderungsprozesse hinsichtlich der Aktualität der hegemonialen Männlichkeit im Hinblick auf seine Verkörperungen vonstattengehen, ist ein wichtiger Aspekt. Genauso sind andere Kritikpunkte, die sich auf aktuellere Entwicklungen beziehen, äußerst wichtig für eine zuverlässige und aussagekräftige kritische Männlichkeitsforschung (vgl. u. a. Dausien 2010, Scholz 2010, Vogel 2010, May 2010, Kahlert 2010). In dieser Arbeit können sie jedoch vernachlässigt werden, weil sie sich in den Figurenkonzeptionen des Untersuchungsgegenstandes nicht spiegeln und daher für diese Arbeit nicht von Belang sind. Wenn im Folgenden von einer traditionellen Männlichkeit oder der Verkörperung von traditionellen Werten gesprochen wird, geschieht dies in Abgrenzung zur transnational business masculinity, um aufzuzeigen, dass an dieser Stelle auf die industriegesellschaftlich geprägte, bürgerlich-konservative Männlichkeit rekurriert wird (vgl. Vier Dimensionen der Aus- und Verhandlungen von Männlichkeit(en) in dieser Arbeit). 48 Meuser und Scholz argumentieren, unter anderem auf der Basis ihrer Untersuchungen im Feld der Politik, dass von solch einer Singularität nicht mehr ausgegangen werden kann, da sich die Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern verändert und somit die Herrschaftsphänomene vervielfältigt haben (vgl. Meuser / Scholz 2011: 63 u. a.). 49 Meuser und Scholz nutzen den Begriff des Feldes im Anschluss an Bourdieu (vgl. Meuser / Scholz 2011: 64).

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nicht jedes soziale Milieu oder jede Subkultur in der Lage ist, eine eigene hegemoniale Männlichkeit zu formen. Eine vorherrschende Männlichkeit in einem sozialen Milieu ist noch keine hegemoniale. Obligatorisch ist hier die normierende Wirkung über das jeweilige soziale Feld hinaus. Arbeitermännlichkeiten bilden beispielsweise keine eigene hegemoniale Männlichkeit, da sie nicht in der Lage sind, über die Milieugrenzen hinweg das gesellschaftliche Männlichkeitsideal zu beeinflussen (vgl. Meuser 2006b: 169f.). Diese normierende Wirkung ist vor allem in den Machtfeldern der Politik, des Militärs und der Wirtschaft zu vermuten, dessen Akteure im Zentrum dieser Machtfelder der herrschenden Klasse zuzuordnen sind. Mit Meuser und Scholz soll in dieser Arbeit davon ausgegangen werden, dass mehrere hegemoniale Männlichkeiten auf unterschiedlichen Machtfeldern der Gesellschaft parallel existieren können. Ein weiterer gravierender Kritikpunkt am Konzept ist darüber hinaus die mangelnde Ausarbeitung der Facette der Weiblichkeit, welche auch Connell und Messerschmidt einräumen (vgl. Connell / Messerschmidt 2005: 848). Connell thematisiert Weiblichkeit in ihrem Konzept zwar, indem sie die emphasized femininity ins Spiel bringt, baut das Konzept in Richtung der weiblichen Praktiken jedoch nicht aus. Sie beschreibt die emphasized femininity als bestimmt durch das Einverständnis mit ihrer Unterordnung und ihrer Orientierung an den Interessen und Wünschen von Männern (vgl. Connell 1987: 183). In ihrer Arbeit Gender and Power nennt Connell neben der emphasized femininity noch weitere Formen von Weiblichkeit, derer sie sich jedoch nicht weiter widmet: »Others are defined centrally by strategies of resistance or forms of noncompliance. Others again are defined by complex strategic combinations of compliance, resistance and co-operation« (Connell 1987: 183f.). Die mangelnde Ausarbeitung der Weiblichkeit mag in einem Konzept, welches es sich zur Aufgabe gemacht hat, Beziehungsdynamiken zwischen Männlichkeiten zu spezifizieren, zunächst nicht als kritikwürdig erscheinen. Doch sobald Connell selbst den Begriff Männlichkeit definiert, wird dieses grobe Defizit am Konzept sichtbar : ›Männlichkeit‹ ist – soweit man diesen Begriff in Kürze überhaupt definieren kann – eine Position im Geschlechterverhältnis; die Praktiken, durch die Männer und Frauen diese Position einnehmen, und die Auswirkungen dieser Praktiken auf die körperliche Erfahrung, auf Persönlichkeit und Kultur. (Connell 2006: 91)

Connell räumt hier ein, dass Frauen die Position einer Männlichkeit einnehmen können. Dennoch schafft sie für diese Formen der Männlichkeit keine Kategorien bzw. ordnet Frauen, die diese Formen der Männlichkeit für sich ausfüllen, keiner der bereits kategorisierten Handlungspraktiken zu. Hieran lässt sich kritisch anschließen, dass Connell insgesamt von Zweigeschlechtlichkeit ausgeht. Zunächst spricht sie Frauen nicht ab, auch eine Männ-

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lichkeit verkörpern zu können, führt allerdings, wenn es um Männlichkeit geht, stets nur Männer an. Sie schließt hier sowohl Frauen als auch jene aus, die sich nicht eindeutig in die Zweigeschlechterordnung einordnen lassen können oder wollen. Wenn sie über Handlungsmuster von Weiblichkeit spricht, beschränkt sie sich auf Frauen, verwehrt also auch hier Menschen, die sich als männlich identifizieren und Menschen, die sich keinem Geschlecht zugehörig fühlen, die Option, eine Weiblichkeit zu verkörpern. In der Analyse der Romane werden diese Ausschlüsse nicht vollzogen: Es wird davon ausgegangen, dass jeder Mensch die Möglichkeit hat, sich eine Männlichkeit oder eine Weiblichkeit anzueignen und diese zu verkörpern.50 Dennoch werden im Abschnitt zu den Konzepten für Weiblichkeit relevante Ansätze vorgestellt, die Connells Konzept der hegemonialen Männlichkeit im Analysewerkzeug ergänzen sollen. Somit ist das Werkzeug schließlich in der Lage, die komplexen männlichen Praktiken verschiedener Identitäten angemessen zu erfassen und die Lücke hinsichtlich der von Weiblichkeiten performten männlich konnotierten Handlungsmuster zu schließen. Trotz dieser umfangreichen berechtigten Kritik soll das Konzept der hegemonialen Männlichkeit mit Meuser weiterhin als hilfreich im Sinne einer Heuristik verstanden werden, »deren Stärke in der Analyse von Geschlechterverhältnissen als sowohl hetero- als auch homosoziale Machtverhältnisse liegt« (Meuser 2010a: 427). Auch Scholz hält fest, dass hinter Connells Begriff der hegemonialen Männlichkeit einerseits der Versuch steht, die Funktionsweise männlicher Herrschaft analytisch zu erfassen. Andererseits diene der Begriff zur Untersuchung konkreter kulturell hegemonialer Muster von Männlichkeit bzw. gruppenbezogener männlicher Sozialcharaktere (vgl. Scholz 2004: 42). Das Konzept hat somit das Potential als solides Gerüst zur Analyse von Männlichkeitsperformanzen zu dienen. Denn es beschränkt sich nicht auf das DominanzSubordinations-Verhältnis zwischen Mann und Frau, sondern zeigt die Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten von Männlichkeit auf, womit es in der Lage ist, Herrschaftsmechanismen und -dynamiken auch auf homosozialer Ebene sichtbar zu machen. Die kritisierten Aspekte am Konzept werden in der Analyse in jeweils besprochener Weise berücksichtigt.

3.

Meusers Erweiterung des Konzepts: Die hegemoniale Männlichkeit als generatives Prinzip

Der Soziologe Michael Meuser gilt als einer der Pioniere in der deutschsprachigen Männlichkeitsforschung (vgl. Schölper zit. n. Scholz 2014: 201). In seiner Habilitationsschrift nimmt er die Kritik an Connells begrifflicher Unschärfe und 50 Zur Kritik an der Zweigeschlechtlichkeit siehe auch Connell / Messerschmidt 2005: 836f.

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Theoretische Grundlagen

an der Unklarheit bezüglich des Erzeugungsprinzips von hegemonialer Männlichkeit zum Anlass, das Konzept theoretisch zu präzisieren. Meuser erweitert das Konzept der hegemonialen Männlichkeit um den Begriff des Habitus von Pierre Bourdieu und überträgt ihn auf »die Geschlechtslage« (Meuser 2010: 112): Er entwickelt den Begriff des männlichen Geschlechtshabitus (vgl. Meuser 2010: 121ff.). Der Habitus wird von Bourdieu als ein »Erzeugungsprinzip von Strategien, die es ermöglichen, unvorhergesehenen und fortwährend neuartigen Situationen entgegenzutreten«, beschrieben (Bourdieu zit. n. Meuser 2010: 113). Basis ist eine spezifische Soziallage und alle Handelnden, die die gleiche spezifische Soziallage haben, neigen dazu, in sozialen Situationen ähnlich zu handeln, »weil sie einen ihrer Soziallage korrespondierenden Habitus ausgebildet haben, der als ›Handlungs-, Wahrnehmungs-, und Denkmatrix‹ […] wirkend, typische Muster der Problembewältigung generiert« (Meuser 2010: 113). Bourdieu bezieht diesen gesellschaftlichen Orientierungssinn in erster Linie auf die Klassenzugehörigkeit. In seinem Aufsatz Die männliche Herrschaft erwähnt er jedoch auch einen vergeschlechtlichten und vergeschlechtlichenden Habitus (vgl. Bourdieu 1997: 167). Aus Bourdieus Ausführungen leitet Meuser schließlich den Entwurf eines geschlechtlichen Habitus ab. Es lasse sich sagen, daß ein Geschlecht nur dadurch (sozial) existiert, daß die Angehörigen einer Geschlechtskategorie gemäß einem Prinzip handeln, das für diese, nicht aber für die andere Geschlechtskategorie Gültigkeit hat. Mit anderen Worten: Die soziale Existenz eines Geschlechts ist an einen spezifischen Habitus gebunden, der bestimmte Praxen generiert und andere verhindert. (Meuser 2010: 117)

Der Habitus reproduziere sich ausschließlich im Handeln, sodass Geschlecht nichts sei, was außerhalb des Handelns der Akteure liege (vgl. Meuser 2010: 117). Er wird inkorporiert, d. h. er wird im Laufe der Entwicklung in den Körper eingeschrieben. Meuser thematisiert hier auch das passing in Bezug auf Trans*identitäten51. Er versteht dies als »Tilgung von in den Körper eingeschriebenen Dispositionen, nämlich derjenigen, in die sie sozialisiert worden sind, und als gleichzeitiges Einschreiben angemessener neuer Dispositionen« (Meuser 2010: 119). Hier wird deutlich, dass der Habitus etwas Erlerntes ist, was auf die sozial konstruierte Ungleichheit der Geschlechter rekurriert; aber eben auch, dass es etwas ist, was wieder abgelegt bzw. aktiv verlernt werden kann. 51 Meuser selbst nutzt an dieser Stelle den Begriff Transsexualität. Dieser ist jedoch pathologisierend und engführend, da er nach ICD-10-F64.0 (International Classification of Deseases) immer noch eine spezifische Form der vermeintlichen Geschlechtsidentitätsstörung bezeichnet (Stand Februar 2019). Meusers Ausführungen sind jedoch auf verschiedene Trans*identitäten rückführbar und nicht ausschließlich auf Menschen zu übertragen, die eine entsprechende pathologisierende Diagnose erhalten haben.

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Meuser stellt die These auf, dass es pro Geschlecht nur einen Habitus gibt, was der Vielfältigkeit von Männlichkeiten nicht widerspreche, da hier verschiedene Dimensionen angesprochen seien: »zum einen Ausdrucksformen (Männlichkeiten), zum anderen ein generierendes Prinzip (Habitus)« (Meuser 2010: 120). Der jeweilige Habitus manifestiere sich, so Meusers These, [nicht] in einer Uniformität von Handlungen, Einstellungen, Attributen; es gibt vielmehr unterschiedliche Ausprägungen von Weiblichkeit und Männlichkeit, wobei soziales Milieu, Generationszugehörigkeit, Entwicklungsphase und familiäre Situation sich als lebensweltliche Erfahrungshintergründe erweisen, deren Relevanzstrukturen Einfluß auf die Muster haben, in denen sich der geschlechtliche Habitus manifestiert. (ebd.)

Von hier aus leitet Meuser zur Verknüpfung vom geschlechtlichen Habitus mit dem Konzept der hegemonialen Männlichkeit über. Er stellt fest, dass doing gender immer auch doing difference ist, die Herstellung von Geschlecht also immer mit der Abgrenzung zum anderen Geschlecht einhergeht, was vor allem auf die Konstruktion von Männlichkeit, das doing masculinity, zutrifft. Das Erzeugungsprinzip eines vom männlichen Habitus bestimmten doing masculinity sei die hegemoniale Männlichkeit; die hegemoniale Männlichkeit sei somit der Kern des männlichen Habitus (vgl. Meuser 2010: 123).52 Schließlich entfaltet Meuser das Verständnis der hegemonialen Männlichkeit als generatives Prinzip, welches einen Lösungsansatz für die bei Connell auftretende begriffliche Unschärfe (vor allem in Bezug auf die komplizenhafte Männlichkeit) darstellt (vgl. Meuser 2010: 126).53 Dem generativen Prinzip nach wird Männlichkeit im Modus der Hegemonie hergestellt, »hegemoniale Männlichkeit ist die Orientierungsfolie des doing masculinity« (ebd.). Jede Männlichkeit orientiert sich also bei dessen Konstruktion an der hegemonialen Männlichkeit. Es ist hier jedoch hervorzuheben, dass das Ergebnis dieser Herstellung nicht zwingend die Konstitution einer hegemonialen Männlichkeit ist. Dies ist sogar eher selten der Fall.54 52 Er trennt hier klar das Erzeugungsprinzip von der Praxis selbst. 53 Hegemoniale Männlichkeit als generatives Prinzip sei bei Connell ebenfalls angelegt, werde aber nicht ausgeführt (vgl. Meuser 2010: 130). 54 Zur Veranschaulichung des generativen Prinzips noch ein Beispiel aus Meusers Arbeit: In einer Gruppendiskussion mit Facharbeitern stellt sich heraus, dass die Männer der Gruppe den Anspruch auf männliche Dominanz in ihren Beziehungen behaupten wollen. So sehen sie sich als Oberhaupt und Ernährer der Familie, obwohl sie nicht in der Lage sind, genügend Geld zu erwirtschaften, um die Familie tatsächlich finanziell allein zu versorgen. Obwohl sie diesen Zustand reflektiert haben, ihnen also bewusst ist, dass sie nicht der Alleinverdiener sind, »halten sie an der hegemonialen Selbstdefinition als Ernährer der Familie fest« (Meuser 2010: 130). Es wird hier deutlich, dass sie bei der Konstruktion ihrer Männlichkeit die hegemoniale Männlichkeit als generatives Prinzip zugrunde legen, obwohl sie – mit Meusers Terminologie gesprochen – untergeordnete Männlichkeiten darstellen.

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Theoretische Grundlagen

In der Analyse der Romane werden nicht nur Connells vier Handlungsmuster von Männlichkeit berücksichtigt, sondern ein Fokus liegt klar auf der hegemonialen Männlichkeit als generatives Prinzip der Männlichkeitskonstruktion, da mit Meuser davon ausgegangen wird, dass sich jede Männlichkeit im Konstruktionsprozess ihrer Geschlechtlichkeit an der hegemonialen Männlichkeit orientiert. Ist sie bestrebt, eine hegemoniale Männlichkeit zu verkörpern und die damit verbundenen Vorstellungen zu reproduzieren, so nutzt sie es als generatives Prinzip. Grenzt eine Männlichkeit sich explizit von der hegemonialen Männlichkeit ab, so liegt dennoch eine Orientierung daran vor, da sie die hegemoniale Männlichkeit als zentralen Punkt der Abgrenzung ausmacht (vgl. Meuser 2010a: 421). Diese Orientierung am Ideal der hegemonialen Männlichkeit zeichnet sich auch bei den Figuren ab. Wie die Figurenkonzeption insgesamt aussieht und welche Auswirkungen die Orientierung am Ideal sowohl für die Figuren als auch für die zulässigen Aussagen über Jelineks Form der Patriarchatskritik hat, wird in der Analyse erörtert.

4.

Vier Facetten der Aus- und Verhandlungen von Männlichkeit(en)

In diesem Kapitel sollen vier zentrale Aspekte der Aus- und Verhandlungen von Männlichkeit(en) fokussiert werden: Die ernsten Spiele des Wettbewerbs, das Gewalthandeln, die Abwertung des Weiblichen und die Relevanz des Körpers. Ausgangspunkt der folgenden Ausführungen bilden die zuvor dargestellten theoretischen Grundlagen, in denen die hier behandelten Aspekte zwar angelegt, in dieser Fokussierung bzw. Spezifizierung allerdings nicht besprochen werden. Die größtenteils aus sozialpsychologischer Perspektive betrachteten Aspekte sind für die Aus- und Verhandlungen von Männlichkeit von zentraler Bedeutung, da sie Felder, Bezugspunkte und Mittel bzw. Ressourcen darstellen, über die Männlichkeit in erster Linie hergestellt und verhandelt wird. Um der teilweise sehr komplexen Konzeption der Figuren des Untersuchungsgegenstandes adäquat zu begegnen, kommt diesen zentralen Aspekten der Männlichkeitskonstruktion in der Figurenanalyse besondere Beachtung zu. Mit der Fokussierung dieser vier essentiellen Facetten der Aus- und Verhandlungen von Männlichkeit ist die Analyse der Männlichkeitskonstruktion qualitativ abgesichert. Sie werden im vorliegenden Abschnitt konzise dargestellt, damit in der Analyse strukturiert hierauf Bezug genommen werden kann. Zuerst werden die von Bourdieu benannten und von Meuser ausführlich aufgegriffenen ernsten Spiele des Wettbewerbs referiert. Hierbei geht es um hierarchische Aushandlungsprozesse der Männlichkeiten untereinander auf verschiedenen gesellschaftlichen Machtfeldern genauso wie im privaten Freundeskreis. Im zweiten Abschnitt zu Gewalt wird auf die ernsten Spiele des Wettbewerbs rekur-

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riert, da (körperliche) Gewalt ein häufig eingesetztes Mittel ist, um die homosozialen Hierarchien herzustellen und aufrechtzuerhalten. Dieser Abschnitt behandelt jedoch auch andere Ursachen für Gewalt; beispielsweise Gewalt, die sich (vor allem) gegen Frauen richtet und damit männliche Herrschaft sichern soll. Der dritte Abschnitt zur Abwertung des Weiblichen und dem Abhängigkeits-Autonomie-Konflikt schließt an den vorherigen in dem Sinne an, dass die Abwertung des Weiblichen sich häufig über Gewalthandeln äußert. Er geht jedoch darüber hinaus und befasst sich mit dem von Rolf Pohl benannten Abhängigkeits-Autonomie-Konflikt, dem Männlichkeiten unterliegen. Hierbei stellt sich die Relevanz der Abwertung von Frauen und allem weiblich Konnotierten für die Männlichkeitskonstruktion deutlich heraus. Im vierten und letzten Abschnitt der Aus- und Verhandlungen von Männlichkeit wird die Rolle des materiellen Körpers thematisiert. Es wird erläutert, wie Geschlechtlichkeit über den Körper entsteht und wie Männlichkeiten ihren Körper auch ganz bewusst zur Konstruktion ihrer Geschlechtlichkeit einsetzen (können). Allen Aspekten liegt ein bürgerlich geprägtes Männlichkeitsbild bzw. -ideal zugrunde, welches sich im Kontext des Denksystems des 19. Jahrhunderts ausbreitete und verfestigte (vgl. Hausen 1976). Zu den »Bastionen männlichen Selbstverständnisses« gehören demnach »physische Kraft, Stärke, moralische und geistige Qualitäten (Mut, Wehrhaftigkeit, Ehre, Aktivität, Maßgeblichkeit, Vernunft, Affektkontrolle, Risikofreudigkeit, Leistungsdrang« (Szczepaniak 1998: 133). Dieses – in dieser Arbeit mit ›traditionell‹ beschriebene – Männlichkeitsideal hat heute keineswegs an Gültigkeit verloren (vgl. ebd.), wenngleich es aufgrund der gesellschaftlichen Veränderungsprozesse als krisenhaft erlebt wird (vgl. Meuser / Scholz 2011) und Männlichkeit sowie dessen Ideale sich aktuell in einem Wandel befinden. Auch in Jelineks Werk ist dieses bürgerliche Männlichkeitsideal als vorherrschend auszumachen. Diesem widmen sich schließlich auch die zentralen Thesen der Arbeit, welche eingangs benannt wurden. Im Hinblick auf die Verkörperung dieses Ideals kommt dem passing eine zentrale Stellung zu. Eine Männlichkeit kann die Attribute des Ideals für sich beanspruchen und bemüht sein, dementsprechend zu performen. Jedoch ist sie für eine authentische Verkörperung dieses Ideals auch auf die Anerkennung der geschlechtlichen Performanz durch andere angewiesen. Im Kontext der Untersuchung wird die Anerkennung oder Ablehnung der Verkörperung durch andere Figuren sowie durch die Erzählinstanz sichtbar werden. Wird die Performanz nicht als authentisch anerkannt und akzeptiert, so kann dennoch ein Streben nach dem Ideal vorliegen, eine Verkörperung dessen ist realiter allerdings nicht möglich. Auf diese Dissonanzen reagieren die Figuren in unterschiedlicher Weise. Die verschiedenen Strategien des Umgangs mit diesen Dissonanzen machen einen wesentlichen Faktor in der Analyse aus.

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Theoretische Grundlagen

Ein zentraler Aspekt der Männlichkeitskonstitution sei hier noch erwähnt, kann aber in der Untersuchung keine Berücksichtigung finden: (Zwangs-)Heterosexualität (vgl. u. a. Butler 1991; Connell 2015). Die untersuchten Erzähltexte verfügen nicht über ausreichende Anknüpfungspunkte für die Aushandlungen von Männlichkeit über den Aspekt der Heterosexualität. Die Figuren sind derart normativ heterosexuell, dass ihrer Sexualität bzw. der Richtung ihres Begehrens keinerlei Kommentierung folgt. Gleichzeitig wird die offenbar unhinterfragbare Heterosexualität nicht aktiv als Mittel zur Herstellung einer Männlichkeit genutzt. Die Heterosexualität schlägt sich auf einer Metaebene durchaus nieder, beispielsweise indem die Figuren sich heterosexuell aufeinander beziehen. Die Figuren grenzen sich jedoch nicht etwa dezidiert von Homosexualität ab, sie beteuern auch nicht vehement (nicht einmal der effeminierte Rainer Witkowski) die eigene Heterosexualität; sie ist schlicht als Norm vorausgesetzt. Dieses Ausmaß an Selbstverständlichkeit bietet keine adäquaten Anknüpfungspunkte, um die Männlichkeitskonstruktion in Abhängigkeit von ihrer sexuellen Orientierung zu untersuchen. Dieser obligatorische Aspekt einer Männlichkeitsperformanz wird im Folgenden daher nicht näher betrachtet, sondern ist nur implizit – dafür aber notwendig – in der Analyse der Figuren enthalten. 4.1

Die ernsten Spiele des Wettbewerbs

Pierre Bourdieu beschreibt in seinem Aufsatz zur männlichen Herrschaft die ernsten Spiele des Wettbewerbs folgendermaßen: Konstruiert und vollendet wird der männliche Habitus nur in Verbindung mit dem den Männern vorbehaltenen Raum, in dem sich, unter Männern, die ernsten Spiele des Wettbewerbs abspielen. Handle es sich um die Spiele der Ehre, deren Grenzfall der Krieg ist, oder um Spiele, die in den differenzierten Gesellschaften der libido dominandi in all ihren Formen, der ökonomischen, politischen, religiösen, künstlerischen, wissenschaftlichen usf., mögliche Handlungsfelder eröffnen. Von diesen Spielen rechtlich oder faktisch ausgeschlossen, sind die Frauen auf die Rolle von Zuschauerinnen oder, wie Virginia Woolf sagt, von schmeichelnden Spiegeln verwiesen, die dem Mann das vergrößerte Bild seiner selbst zurückzuwerfen, dem er sich angleichen soll und will; womit sie seine narzißtische Besetzung eines idealisierten Bildes seiner Identität verstärken. (Bourdieu 1997: 203; H. i. O.)

Mit der libido dominandi beschreibt Bourdieu den Wunsch von Männern, »die anderen Männer zu dominieren, und sekundär, als Instrument des symbolischen Kampfes, die Frauen« (Bourdieu 1997: 215). Er geht somit wie Connell von einer doppelten Dominanzlogik aus, wobei die homosoziale Dominanz in den ernsten Spielen des Wettbewerbs hergestellt wird. Bourdieu führt den Gedanken zu den ernsten Spielen des Wettbewerbs in seinen Arbeiten nicht weiter aus (vgl. Meuser 2006: 163), Michael Meuser greift

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diesen Ansatz jedoch auf, um die Spiele weiter mit der Konstruktion von Männlichkeit zu verknüpfen (vgl. Meuser 2001, 2003, 2006, 2008, 2010). Die ernsten Spiele des Wettbewerbs sind eine Art Raum, in dem, wie Bourdieu beschreibt, Dominanzprozesse ausgehandelt werden können. Es geht also um Distinktion, um Konkurrenz und Wettbewerb. Meuser geht darüber hinaus davon aus, dass homosoziale Räume für Männer gerade in Zeiten großer Verunsicherung als Ort dienen können, in denen die Männlichkeiten durch Bestätigung ihre habituelle Sicherheit zurückgewinnen können. In diesen Räumen werden sie in ihren Einstellungen, Werten und Verhaltensweisen bestätigt und versichert. Es geht also genauso um Konjunktion, womit Solidarität und Wettbewerb gleichermaßen zentrale Funktionen der ernsten Spiele des Wettbewerbs sind (vgl. Meuser 2003). Außerdem erweitert Meuser Bourdieus Aufzählung der Domänen, in denen die ernsten Spiele gespielt werden, um semi- und nichtöffentliche Handlungsfelder (vgl. Meuser 2008: 33), wie Freundeskreise oder Vereine; auch ein Wortgefecht kann ein ernstes Spiel sein (vgl. Meuser 2001: 20). Die ernsten Spiele sind ein zentraler Ort, an dem der männliche Habitus erworben wird; adoleszente Männlichkeiten erlernen die Spielregeln und lernen vor allem, diese Spiele zu lieben (vgl. Meuser 2006: 171; Meuser 2008: 42). Meuser ist der Auffassung, dass die ernsten Spiele des Wettbewerbs einer Strukturübung des männlichen Geschlechtshabitus im Sinne Bourdieus gleichkommen. Denn gemeint sind mit diesen Strukturübungen Spiele, die »häufig nach der Logik von Wette, Herausforderung oder Kampf strukturiert sind« (Bourdieu 2005a: 138). Durch die Strukturübungen eignen sich (junge) Männer die Strukturlogik hegemonialer Männlichkeit an, da nach dessen Logik die Ausbildung eines männlichen Habitus funktioniert. Hier liegt Meusers Annahme zugrunde, dass die hegemoniale Männlichkeit bei der Konstruktion von Männlichkeit als generatives Prinzip fungiert. Diese Strukturübungen stellen eine Form der Sozialisation dar und dienen somit der Aneignung und Inkorporierung eines männlichen Habitus. Die Beschaffenheit der ernsten Spiele des Wettbewerbs ändert sich im Verlauf der Sozialisation. Im Alter der Adoleszenz sind es häufig Praktiken des Risikohandelns, anhand dessen die jungen Männer die Spiele kennenlernen. Später erst betreten einige die großen Machtfelder der Ökonomie, des Militärs und der Politik und spielen hier die ernsten Spiele. Meuser stellt das Risikohandeln als kompensatorischen Akt angesichts einer fragilen Geschlechtsidentität heraus (vgl. Meuser 2006: 169). Eine »forcierte Männlichkeit« werde als »Mittel der Angstbewältigung« verstanden; sie gewinne »dort an Bedeutung, wo der Verlust traditioneller Männlichkeit besonders bedrohlich erlebt wird« (King zit. n. Meuser 2006: 169). Gleichzeitig betont Meuser, dass das Risikohandeln »kein Spezifikum in Zeiten einer Transformation der Geschlechterordnung darstellt« (Meuser 2006: 169), sondern dass riskante Praktiken und ernste Spiele bereits in der bürgerlichen Gesellschaft des 18. und 19. Jahrhunderts, in der sich die tra-

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Theoretische Grundlagen

ditionelle Männlichkeit konstituierte, zur Konstruktion einer Männlichkeit gehörten; Meuser nennt hier als Beispiel die Institution des Duells (vgl. Meuser 2006: 169; Meuser 2001: 27f.). Zwei Aspekte hinsichtlich der ernsten Spiele des Wettbewerbs sind im Hinblick auf die vorliegende Analyse besonders hervorzuheben: 1. Aus den riskanten Praktiken, welche häufig mit Gewalt und dem Riskieren der eigenen körperlichen Unversehrtheit einhergehen, resultiert nicht automatisch die Konstitution einer hegemonialen Männlichkeit, wenngleich die Mitglieder der homosozialen Gemeinschaften eine »hegemoniale Orientierung nachgerade einfordern« (Meuser 2001: 18) und die Spiele der Logik der hegemonialen Männlichkeit folgen (vgl. Meuser 2003: 92). Die Mehrheit der Männlichkeiten, die diese Spiele spielt, hat gar »keinen Zugang zu denjenigen ernsten Spielen des Wettbewerbs […], in denen […] über die Verteilung von gesellschaftlich relevanten Machtpositionen entschieden wird« (Meuser 2003: 92); sie verfügen meist nicht über den notwendigen hegemonialen Status, welchen dagegen prototypisch die Angehörigen gesellschaftlicher »Funktionseliten« (Meuser 2001: 22) innehaben. Es existieren offenbar aufgrund der gemeinsamen Geschlechtslage habituelle Homologien, »die quer liegen zu den sonstigen, trennenden sozialen Zugehörigkeiten« (Meuser 2003: 93); diese bleiben jedoch durch die Wahl der Mittel, mit denen der Wettbewerb ausgetragen wird, sichtbar (vgl. ebd.). Ein Hooligan etwa setzt andere Mittel in den ernsten Spielen des Wettbewerbs ein als ein HipHopper oder ein schlagender Verbindungsstudent (vgl. Meuser 2006: 170). Diese drei werden außerdem sehr wahrscheinlich gar nicht erst miteinander spielen, um Distinktion oder Konjunktion zu gewinnen. Daher möchte Meuser in modernen, sozial differenzierten Gesellschaften »eine milieu-, ethnisch-, generations- und möglicherweise auch lebensstilspezifische Solidarität« (Meuser 2003: 95) unter Männern unterscheiden. Dies ist im Hinblick auf die Hypothese dieser Arbeit, dass die Figuren ihre Männlichkeiten je nach Klassenzugehörigkeit unterschiedlich konstituieren, ein besonders interessanter Aspekt. Ernste Spiele über Klassengrenzen hinweg erscheinen hiermit zunächst als unwahrscheinlich, auch die gewählten Mittel wären gegebenenfalls grundlegend andere, womit ein Spiel gar nicht zustande käme. Ob sich dies auch in Jelineks Prosa so widerspiegelt, ist im Rahmen der Analyse zu prüfen. 2. Die eingespielte Interaktionskultur in geschlechtshomogenen Räumen wird durch Frauen bedroht, die Zugang zu diesen Räumen erhalten (etwa im Kontext exklusiv männlich konnotierter Berufe, die mittlerweile auch Frauen einen Zugang gewähren). Die spezifische homosozial geprägte Atmosphäre kann allerdings häufig dadurch aufrechterhalten werden, dass den Frauen »zugemutet wird, ›one ft he boys‹ zu werden. Dazu muß die Frau sich allerdings auf die männlich konnotierten Spiele des Wettbewerbs einlassen« (Meuser 2003:

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90). Diese Tatsache, die Meuser hier für geschlechtlich konnotierte Arbeitsplätze beschreibt, ist besonders im Hinblick auf die Figur Erika Kohut und ihre Interaktionen mit Walter Klemmer interessant. In der Analyse wird dementsprechend überprüft, ob auch Erika in der Lage ist, mit Walter ernste Spiele des Wettbewerbs zu führen. 4.2

Gewalthandeln

Zunächst soll kurz umrissen werden, welcher Gewalt-Begriff diesem Abschnitt zugrunde liegt. Wenngleich gerade im Bereich der Kategorie Geschlecht eine strukturelle Gewaltförmigkeit des Geschlechterverhältnisses sichtbar wird, soll diese Dimension hier nicht im Fokus stehen. Vielmehr wird eher von einer personalen Gewalt ausgegangen, die sowohl die physische, die psychische als auch die sexuelle Komponente von Gewalt berücksichtigt. Diese Gewaltformen wiederum werden in einem geschlechtsspezifischen Licht betrachtet: »Vergeschlechtlichte Gewalt meint demnach ›jede Verletzung der körperlichen oder seelischen Integrität einer Person, welche mit der Geschlechtlichkeit des Opfers und des Täters zusammenhängt und unter Ausnutzung eines Machtverhältnisses durch die strukturell stärkere Person zugefügt wird‹« (Hagemann-White zit. n. Meuser 2010c: 109). Diese Definition wirft für Meuser allerdings zu Recht die Frage auf, ob nur im Falle einer strukturell stärkeren Person als Akteur_in von vergeschlechtlichter Gewalt gesprochen werden kann (vgl. Meuser 2010c: 109). Im Folgenden wird auch solche homosoziale Gewalt fokussiert, bei der strukturell gleichgestellte Personen reziprok Praktiken der Gewalt ausüben (beispielsweise zwei gleichaltrige Männlichkeiten des Kleinbürgertums). Der Aspekt der strukturell stärkeren Person gilt dementsprechend im Rahmen dieser Arbeit nicht als obligatorisch, um Gewalthandeln als vergeschlechtlichte Gewalt zu definieren. Die Ausführungen von Michael Kaufman, Michael Meuser und Joachim Kersten zu geschlechtsspezifischer Gewalt liefern wichtige Anknüpfungspunkte für die vorliegende Arbeit, weshalb diese Ansätze im Folgenden zusammengefasst werden. Der Ansatz von Michael Kaufman geht davon aus, dass Männlichkeit grundlegend fragil ist. Ein Weg aus der permanenten Unsicherheit der Männer hinsichtlich ihrer biologischen und sozialen Geschlechtlichkeit sei die Gewalt (vgl. Kaufman 2001: 153). Kaufman begreift »Gewalt als einen Ausdruck der Zerbrechlichkeit von Männlichkeit« und betont dabei »ihre Bedeutung für die Aufrechterhaltung von Männlichkeit und männlicher Dominanz« (Kaufman 2001: 155). Während er Gewalt auf heterosozialer Ebene als Mittel zur Bestätigung der eigenen Männlichkeit ausmachen kann, befindet er die Gewalt auf homosozialer Ebene als Mittel zur Herstellung von Nähe und Distanz (im Sinne von Homo-

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Theoretische Grundlagen

feindlichkeit). Sie soll eine Realität schaffen, die alle Beziehungen zwischen Männern zu Machtbeziehungen macht (vgl. Kaufman 2001: 159). Die dritte Dimension, die Kaufman neben hetero- und homosozialer Gewalt hervorhebt, ist die Gewalt gegen sich selbst. Sie gehe aus der geschlechtstypischen Verleugnung und Blockierung verschiedener Emotionen hervor; Männlichkeiten scheitern daran, sichere Wege des emotionalen Ausdrucks bzw. der emotionalen Entlastung zu finden. Die Entladung dieser Emotionen wie Angst oder Schmerz erfolge dann häufig in Form von Gewalt – gegen sich selbst (durch Selbsthass o. ä.), gegen andere Männer oder gegen Frauen (vgl. Kaufman 2001: 163f.). Michael Meuser übt deutliche Kritik an Kaufmans Ansatz. Er ist der Auffassung, dass nicht jede Gewaltanwendung gegen Frauen auf eine fragile Männlichkeit zurückzuführen ist55, wenngleich er einräumt, dass eine fragile Geschlechtsidentität im Gewaltakt durchaus eine temporäre Bestätigung ihrer geschlechtlichen Performanz finden kann. Meuser bestätigt außerdem, dass alle Formen der heterosozialen Männergewalt ein Ausdruck männlicher Hegemonie sind. Auch wenn er richtig hervorhebt, dass damit noch nicht die individuellen Motive und Intentionen der einzelnen Akteure erfasst sind, wird hierin zumindest die heterosoziale Dominanzlogik und damit Gewalt als Mittel der Machtausübung (vgl. Meuser 2002: 73) sichtbar. Meuser kritisiert zudem die Begrenzung der Fragilitätsthese auf die heterosoziale Männergewalt. Das hohe Aufkommen homosozialer Gewaltdelikte gegen gleichaltrige Männer in der Phase der Adoleszenz deutet Meuser als »eine Strategie zur Bewältigung einer in dieser Phase in hohem Maße fragilen Geschlechtsidentität« (Meuser 2002: 60). Daher wird in der Untersuchung des Gewalthandelns – und der möglichen geschlechtsbezogenen Motive dafür – die Fragilität von Männlichkeit als generelles Strukturmerkmal von Männlichkeit angenommen. Allerdings werden sowohl hetero- als auch homosoziale Ausprägungen der Gewalt berücksichtigt. Die Beobachtung Meusers, dass insbesondere bei adoleszenten Männlichkeiten von einer Fragilität ihrer Männlichkeit ausgegangen werden kann, verspricht gute Anknüpfungspunkte der Fragilitätsthese an die Analyse der Figuren, da diese sich mehrheitlich im Stadium der Adoleszenz befinden. Die homosoziale Dimension, die Kaufman nach Meuser eher mit einer »analytischen ›Stiefmütterlichkeit‹« (Meuser 2002: 61; H. i. O.) behandelt, rückt Meuser dagegen ins Zentrum seiner Ausführungen zu männlichem Gewalthandeln. Er fragt danach, was Gewalt mit Männlichkeit zu tun hat, bzw. was der 55 Meuser nennt hier als Beispiel einen Zuhälter, der eine Frau schlägt und vergewaltigt, um sie zur Prostitution zu zwingen. Ein zweites Beispiel sind Massenvergewaltigungen in kriegerischen Auseinandersetzungen. In beiden Fällen gehe es nicht um eine kompensatorische Identitätsstrategie, sondern darum, den Willen der Frau zu brechen bzw. die Frauen zu erniedrigen und auch die Männer des feindlichen Kollektivs herabzusetzen (vgl. Meuser 2002: 60).

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soziale Sinn männlicher Gewalt ist (vgl. Meuser 2006a: 16). Als Ausgangspunkt nimmt er die oben beschriebenen ernsten Spiele des Wettbewerbs. In diesen Spielen formt sich der männliche Habitus, was zwar nicht in Form von Gewalthandeln geschehen muss, doch ist Gewalt gerade in der Phase der Adoleszenz eine recht übliche Form dieser ernsten Spiele (vgl. Meuser 2006a: 18). Die Gewalt dient in diesem Rahmen zur Aneignung einer erwachsenen Männlichkeit; in den gewalttätigen Auseinandersetzungen werde die Anerkennung als Mann gesucht, wobei nicht die Abwertung des anderen im Vordergrund stehe, sondern das Messen der Kräfte (vgl. ebd.). Homosoziale Gewalt hat demnach auch, sofern sie reziprok angelegt ist, das Potential der Vergemeinschaftung. Diese fundiert die habituelle Sicherheit, sie ist ein »kollektiver Akteur der Konstruktion […] von hegemonialer Männlichkeit« (Meuser 2003: 90). Das Risikohandeln in Form von reziproker Gewalt erzeugt durch das »Riskieren des eigenen Körpers« eine Anerkennung, die den eigenen geschlechtlichen Status bekräftigt (vgl. Meuser 2006: 168).56 Damit kann auch homosoziales Gewalthandeln letztlich als Mittel der Herstellung von Männlichkeit verstanden werden. Dies wird auch anhand von einseitig strukturierter homosozialer Gewalt deutlich. Denn mit einer Unterlegenheit des Angegriffenen geht die Gefahr einher, seine Männlichkeit in Abrede gestellt zu bekommen, wenn der Mann beispielsweise dauerhaft in der Rolle des Opfers gehalten wird (vgl. Meuser 2010c: 116). Das bedeutet im Umkehrschluss, dass die Männlichkeit im Falle der Überlegenheit bestätigt wird. Ein Mann hat jedoch auch die Möglichkeit, der Degradierung seiner Person zu entgehen, wenn er sich dem Kampf ›mannhaft‹ stellt; seine Verletzungen dienen dann als symbolischer Gewinn, als Zeichen der ›männlichen Ehre‹ (vgl. Meuser 2010c: 117; Meuser 2002: 72). Das Gewalthandeln nutzt somit in jedem Fall der Affirmation von Männlichkeit. Laut Meuser hat eine Frau dagegen nicht die Möglichkeit der Degradierung aus dem Weg zu gehen: Wenn eine Frau von Gewalt durch einen Mann betroffen ist, so geht für diese eine Degradierung ihrer Person sowie eine Verletzung ihrer personalen Integrität einher. In diesem Fall heterosozialer männlicher Gewalt ist Letztere für die Männer ein Mittel zur Ausgrenzung (vgl. Meuser 2002: 72) sowie (v. a. bei sexualisierter Gewalt) zur Inszenierung von Männlichkeit (Meuser 2010c: 113). Ob in den Erzähltexten für die weiblich gezeichneten Figuren in ähnlichen Situationen automatisch eine Degradierung ihrer Person folgt, ist erst noch zu untersuchen. Sofern sich bestätigt, dass Erika Kohut tatsächlich in der Lage ist, mit Walter Klemmer die ernsten Spiele des Wettbewerbs zu spielen, so wäre zunächst zu überprüfen, ob für Erika beispielsweise mit der Vergewaltigung eine Degradierung ihrer Person einherginge. 56 Vgl. zur Versicherung der eigenen Männlichkeit durch Gewalthandeln auch: Connell 2006: 105.

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Theoretische Grundlagen

Als weiteren Erklärungsansatz der heterosozialen männlichen Gewalt, die auch in den men’s studies verbreitet ist, nennt Meuser die Gewalt als ultima ratio, »wenn andere Formen der Machtausübung unwirksam bleiben« (Meuser 2010c: 114). Für die männliche Hegemonie ist zwar die Einwilligung der untergeordneten Frauen und Männer obligatorisch, Gewalt kann jedoch als ultima ratio eingesetzt werden, wenn die kulturell erzeugte Hegemonie versagt, was gleichfalls ein Zeichen für Legitimationsprobleme wäre (vgl. ebd.). Gewalt wird demnach eingesetzt, um die männliche Dominanz ganz im Sinne der libido dominandi zu sichern. Im Rahmen der Analyse wird dies berücksichtigt, indem untersucht wird, ob die Männlichkeiten in letzter Instanz, falls keine ihrer Machtbestrebungen fruchten, auch auf die ultima ratio der Gewalt zurückgreifen oder ob das Gewalthandeln andere Ursachen hat. Joachim Kersten veranschaulicht eine andere mögliche Ursache für Gewalthandeln von Männlichkeiten. Er vertritt die Annahme, dass gewalttätiges Handeln die Unmöglichkeit kompensiert, Scham als Emotion sozial zu verarbeiten (vgl. Kersten 2011). Er spricht vom Scham-Wut-Zyklus, welcher einen unkontrollierten Ausbruch beschreibt, »der eine empfundene fundamentale Beschämung in einen Wutausbruch überführt, der sich physisch entlädt« (Kersten 2011: 161). Kersten ist der Auffassung, dass gewalttätige Ausbrüche als Bewältigungsversuche eines »Geschlechterdramas« verstanden werden können, da in diesen Handlungen eine Konstruktion von maskuliner Heldenhaftigkeit zum Ausdruck komme, in dessen Vorfeld häufig eine Infragestellung der Männlichkeit des Täters stattgefunden hat (vgl. Kersten 2011: 162). Die in Abrede gestellte Männlichkeit bzw. die Angst vor der Verweiblichung löst dann eine Scham-WutReaktion aus, die in die Anwendung von Gewalt mündet. Diese Gewalt gelte häufig als Ersatz für den Wunsch, Respekt zu erfahren, der den Selbstwert aufrichten soll. Die Schuld für die eigene Gewalttätigkeit sei einfacher zu ertragen als die Scham über den bedrohten Selbstwert, in der die Angst mitschwingt, unmännlich zu erscheinen (vgl. Kersten 2011: 163). Es ist naheliegend, dass gerade die Unmöglichkeit, eine hegemoniale Männlichkeit zu verkörpern, dass also das defizitäre Erleben der eigenen Männlichkeit dazu führt, sich zu schämen und dass Gewalt die Scham auflösen und die Männlichkeit wieder aufrichten soll. Auch Anita Heiliger und Hanna Permien weisen darauf hin, dass das Scheitern von Jungen und Männern an diesem »irrealen Männerbild«, welches mit Macht- und Verfügungsansprüchen über andere ausgestattet ist, bei einem Teil der Jungen und Männer zur Anwendung von Gewalt gegen vermeintlich Schwächere führt. Damit soll die Wahrnehmung eigener Minderwertigkeit kompensiert werden (vgl. Heiliger / Permien 1995: 36). Ob sich diese Zusammenhänge in den zu untersuchenden Werken Jelineks bestätigen, ist im Rahmen der Analyse zu prüfen.

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Respekt und Ehre macht Kersten auch im Kontext der Bewerkstelligung von Geschlecht in der underclass als Motive für Gewalthandeln aus (vgl. Kersten 1997). Er unterscheidet zwischen öffentlicher und privater Bewerkstelligung von Geschlecht, wobei es in der öffentlichen Bewerkstelligung häufig um Zweifel am öffentlichen Respekt eines Mannes geht (vgl. Kersten 1997: 104). Da andere Ressourcen knapp sind, steht die männliche Ehre im Fokus der Auseinandersetzungen, welche – ebenfalls aufgrund der Ressourcenknappheit – mit dem eigenen Körper und Waffen geführt werden (statt mit Geld, Status oder Rechtsanwälten). Die Bewerkstelligung von Geschlecht als »konfrontative Auseinandersetzung mit gewaltförmigem Charakter« (Kersten 1997: 103) steht in engem Zusammenhang mit dem Anspruch auf Teilhabe an hegemonialer Männlichkeit. Kersten macht drei als männlich geltende Domänen aus, auf die die soziale und kulturelle Verbindlichkeit von hegemonialer Männlichkeit rekurriert: a. die Nachwuchssicherung innerhalb von Nahraumsbeziehungen zu Frauen als männlichem Besitz und die Sicherung des kulturellen (nationalen) Nachwuchses; b. die Kontrolle des sozialen Nahraums und dessen Schutz gegen äußere Feinde (z. B. Nebenbuhler); das Privileg des bewaffneten organisierten Beschützens der Gemeinschaft (Nation) in Form des Schutzmanns und des Soldaten; c. die Sicherstellung der Versorgung des sozialen Nahraums und der Gemeinschaft. (Kersten 1997: 107)

Diese Domänen, welche durchaus mit Aspekten des traditionellen Männlichkeitsideals übereinstimmen, formen laut Kersten die kulturellen Leitbilder für die Bewerkstelligung von Geschlecht. Die zentrale Rolle von Gewalt wird hier bereits sichtbar. Verfügen Männlichkeiten nicht über die entsprechenden Ressourcen, um diese Leitbilder zu verkörpern, beziehen sie sich dennoch auf diese; die Performanzen manifestieren sich nur entsprechend anders. So macht Kersten für die Männlichkeiten der underclass eine »risikoorientierte Lebensweise [als] ›Beweis‹ der Fähigkeit zum Kämpfen und Beschützen« aus (ebd.). Das dauerhafte Zurschaustellen von Risikobereitschaft werde zum öffentlich sichtbaren Beweis für die Ersatz-Fertigkeiten des Versorgers. Es wird deutlich, dass die nicht verkörperbaren Leitbilder von Männlichkeit durch gewalttätiges Verhalten ersetzt werden, sofern sie nicht ohnehin mit Gewalt assoziiert sind. Resümierend kann mit Kersten festgehalten werden: »Je knapper die ökonomischen und sozialen Ressourcen, umso enger werden die Möglichkeiten der Teilhabe an hegemonialer Männlichkeit mit Abgrenzung, Konfrontation und Überlegenheitsbeweise, auf einen permanenten ›display‹ von Risiko- und Kampfbereitschaft eingegrenzt« (Kersten 1997: 110; H. i. O.). Die Ausführungen Kerstens beziehen sich zwar auf Männlichkeiten der underclass, im Rahmen der Analyse soll jedoch geprüft werden, ob sich diese

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Theoretische Grundlagen

gewalttätigen Substitute nicht auch bei Männlichkeiten anderer Klassen finden, sofern ihnen die Verkörperung einer hegemonialen Männlichkeit versagt ist. In allen vorgestellten Ansätzen zur Erklärung des geschlechtsspezifischen Gewalthandelns wird der Bezug zur Herstellung von Männlichkeit bzw. zur Sicherung des männlichen dominanten Status deutlich hervorgehoben. Die Hypothese, auf die in diesem Abschnitt rekurriert wird, fokussiert den Zusammenhang von Männlichkeitskonstruktion und Gewalthandeln. Es wird davon ausgegangen, dass Gewalt ein zentrales Mittel zur Herstellung von Männlichkeit ist. In der Analyse wird dementsprechend eruiert, ob die gewalttätigen Handlungen der männlich gezeichneten Figuren der Jelinek’schen Erzähltexte ebenso Resultat der jeweiligen (klassenbedingten) Männlichkeitskonstruktion sind. Stellt sich beispielsweise heraus, dass die Gewaltanwendungen Mittel zur Kompensation einer als defizitär empfundenen Männlichkeit sind, so lässt sich darüber eine Aussage hinsichtlich der Patriarchatskritik Jelineks treffen. Es würde deutlich, dass Gewalt die ultima ratio ist, wenn die männliche Herrschaft im Zweifel steht, womit die Legitimation des Patriarchats insgesamt in Frage gestellt wäre. 4.3

Die Abwertung des Weiblichen und der Abhängigkeits-Autonomie-Konflikt

Die Abwertung von Weiblichkeit wurde bereits im Abschnitt zu männlichem Gewalthandeln angesprochen. Die hohe Gewaltaffinität von Männern wird als Folge einer Frauenabwertung begriffen, welche wiederum als ein »strukturelles Element männlicher Sozialisation gilt« (Meuser 2002: 61). Die Abwertung von und vor allem die Abgrenzung zu allem Weiblichen ist demnach zentral für die Herstellung einer Männlichkeit; sie kann sich nur in dieser Differenzierung überhaupt konstituieren. Bourdieu erkennt in der Konstruktion der Männlichkeit gegen Weiblichkeit eine »Art Angst vor dem Weiblichen« (Bourdieu 2005: 97; H. i. O.). Diese Angst, aus der die besagte Abwertung bis hin zu einer AbwehrKampf-Haltung gegen die Weiblichkeit resultiert, erläutert Rolf Pohl aus einer sozialpsychologischen bzw. psychoanalytischen Perspektive ausführlicher. Er hebt zunächst hervor, dass Männer in männlich dominierten Gesellschaften unter dem Zwang stünden, sich nicht nur als ein anderes, sondern auch als das überlegene Geschlecht zu positionieren (vgl. Pohl 2010: 16, 25). Im Zentrum des ideologischen Selbstverständnisses einer auf hierarchischen Geschlechtergegensätzen aufgebauten Kultur stehe, so Pohl, das Bild einer intakten, aber bedrohten autonomen Männlichkeit (vgl. Pohl 2011: 125). Diese Autonomie spiegelt sich schließlich in der Anatomie wider: Der Penis avanciert zum Phallus, indem er narzisstisch aufgewertet wird und unbewusst zum Symbol von Vitalität, Souveränität, Macht und Autonomie wird (vgl. Pohl 2007: 200; Pohl 2003: 29). In dieser phallischen Gestalt von »Größe, Unabhängigkeit und Transzendenz« benötige die

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männliche Sexualität »keinen Anderen und daher auch keine Objekte« (Pohl 2007: 200), der Phallus ist autonom (vgl. Pohl 2003: 33). Der Mann ist jedoch einem Dilemma unterworfen. Die vermeintlich autonome Männlichkeit verdankt ihre Existenz maßgeblich einer Frau: sie hat ihn zur Welt gebracht. Hinzu kommt im Kontext einer heteronormativen Gesellschaft die hohe sexuelle Abhängigkeit von der Frau. In ihrer genitalen Lustdimension ist die männliche Sexualität auf ein Objekt angewiesen. Jede sexuelle Lust und Erregung des Mannes löse somit tendenziell eine unbewusste Angst vor Abhängigkeit aus (vgl. Pohl 2007: 200). Die Idee einer vollkommenen Beherrschung und Kontrolle, die dem männlichen Autonomiewahn inhärent sei, werde als Illusion entlarvt (vgl. Pohl 2007: 201). Resultat ist ein Abhängigkeits-Autonomie-Konflikt, den Pohl auch »Männlichkeitsdilemma« nennt (vgl. ebd.). Die Angst heftet sich an das Weibliche und somit an Frauen, »denn durch sie, und insbesondere durch die weibliche Sexualität wird die männliche Integrität und der mit ihr verknüpfte Autonomieanspruch des männlichen Subjekts elementar infrage gestellt« (Pohl 2011: 125). Die Männer neigen laut der Psychoanalytikerin Jessica Benjamin dazu, zwischen »Abhängigkeit und Unabhängigkeit« eine »falsche Antinomie« (Benjamin zit. n. Pohl 2011: 125) herzustellen, die existentielle Ängste sowie extreme Abwehrreaktionen »der assoziativ mit Weiblichkeit verknüpften Gefahren« (ebd.) hervorrufen kann, wenn sie unterlaufen wird. Diese Abwehrreaktionen münden in der Regel in Gewalt (vgl. Pohl 2003: 34) oder im Extremfall in die Entwicklung »einer mehr oder weniger paranoid getönten, im Notfall kampfbereiten Abwehrhaltung, deren unbewusster Kern eine ambivalente, aus Angst, Lust und Hass gekennzeichnete Einstellung zu allem Bedrohlichen ist, das mit Frau und Weiblichkeit assoziiert oder davon abgeleitet wird« (Pohl 2011: 126). Die Abgrenzung von Weiblichkeit dient im Rahmen von Zweigeschlechtlichkeit der Herstellung einer Männlichkeit. Die vehemente Abwertung von Weiblichkeit ist darüber hinaus, wie gerade beschrieben, das Resultat eines Konflikts, welcher aus dem Bestreben nach Autonomie (von der Frau) und Überlegenheit (über die Frau) sowie dem zwanghaft heterosexuellen Begehren (nach der Frau) entsteht. Der Penis steht dabei im Zentrum dessen: Als Lustorgan ist er auf die Frauen angewiesen, als Phallus ist er Zeichen von Autonomie und Macht. In seiner dritten Funktion soll er schließlich auch in der Lage sein, diesen Konflikt zu lösen: »[I]m Falle tatsächlicher oder vermeintlicher Bedrohung der männlichen Integrität [kann er] zu einer Art sexualisierter Waffe […] werden« (Pohl 2003: 29). Doch sexualisierte Gewalt ist – wenngleich eine häufige – nicht immer die Folge der Weiblichkeitsabwehr. Eine Abwehrhaltung allem Weiblichen gegenüber, die Männlichkeit stabilisieren soll, kann sich auch in misogynen Tendenzen von Männern oder in allgemeiner (etwa verbaler oder körperlicher) Gewalt(bereitschaft) äußern (vgl. Pohl 2007: 202).

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Theoretische Grundlagen

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Weiblichkeit für Krisen unsicherer und fragiler Männlichkeiten verantwortlich gemacht wird. Weiblichkeit verkörpernde Menschen werden als Gefahr und akute Bedrohung der männlichen Identität ausgemacht und müssen im Notfall sogar tätlich bekämpft werden. Die Prosatexte Jelineks werden in der Analyse dahingehend geprüft, ob Tendenzen sichtbar werden, dass Figuren aufgrund des Abhängigkeits-Autonomie-Konflikts Gewalt anwenden oder anderweitige Weiblichkeitsabwehr zu erkennen ist. Hierüber können sodann Rückschlüsse auf die Männlichkeitskonstruktionen gezogen werden. Denn von dort ist schließlich weiter zu untersuchen, aufgrund welcher Ursachen und Krisen die eigene Männlichkeit von der Figur als besonders fragil oder unsicher erlebt wird, sodass Weiblichkeit bzw. Frauen als Auslöser dessen verantwortlich gemacht wurden.57 Hierbei ist hervorzuheben, dass Pohl Männlichkeit generell als fragiles Konstrukt beschreibt, das in Zeiten von inneren und äußeren Krisen immer wieder neu hergestellt oder repariert werden muss (vgl. Pohl 2011: 124f.). Das Ideal der Verkörperung von Autonomie und Macht ist vor allem im Kontext von binnengeschlechtlichen Hierarchien häufig in Frage gestellt, woraus schnell ein als krisenhaft erlebter Zustand entstehen kann. Die Assoziation der eigenen Identität mit Unterordnung und damit mit Weiblichkeit kann eine aggressive Weiblichkeitsabwehr hervorrufen, die schließlich nach außen gerichtet wird und sich somit nicht gegen sich selbst, sondern gegen andere als weiblich identifizierte Personen wendet. Eine mögliche Ursache für Weiblichkeitsabwehr kann also schlicht die Unterordnung der eigenen Männlichkeit unter eine hegemoniale Männlichkeit sein. In diesem Fall könnte die untergeordnete Männlichkeit den vom Patriarchat auferlegten Idealen nicht entsprechen und würde schließlich alles Weibliche dafür verantwortlich machen.

4.4

Relevanz des Körpers

Diskurse sind performativ und erzeugen demgemäß beständig das, was sie benennen (vgl. Butler 1997: 22). So sollen auch Körper in ihrer Materialität als performativ erzeugt verstanden werden. Zugrunde liegt dabei Butlers Annahme, dass nicht nur das soziale, sondern auch das biologische Geschlecht konstruiert wird. Das körperlich-biologische Geschlecht sei demnach nicht als vordiskursive, objektive Wirklichkeit zu verstehen, sondern im Kontext einer je epochenspezifischen Denk- und Wahrnehmungsweise. Der Diskurs des biologischen Geschlechts bringt letztlich durch seine performative Wirkung die Ma57 Pohl macht als Grund für die Weiblichkeitsabwehr (persönliche) Krisen aus: »Gerät der Mann in eine Krise, wird diese als Krise der Männlichkeit erlebt und die Schuld dafür häufig den Frauen angelastet« (Pohl 2010: 28).

Dimensionen von Männlichkeiten

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terialität der Körper als natürlich männlich oder weiblich erst hervor (vgl. Villa 2003: 86). Paula-Irene Villa zeichnet diesen Prozess gut nach: Wenn Biologie und Medizin, aber auch andere Wissenschaften wie Sozialwissenschaften und Philosophie (zumindest seit dem Ende des 18. Jahrhunderts) immer wieder zu verstehen gegeben haben, dass es von Natur aus zwei körperliche Geschlechter gibt, und wenn dieser Diskurs insofern hegemonial geworden ist, als er die Position des einzig Denkbaren eingenommen hat, dann werden sämtliche wissenschaftlichen Untersuchungen und unser aller Blick auch immer nur zwei von Natur aus unterschiedene Geschlechtskörper wahrnehmen. Wir sehen dann auch im Alltag stärkere Männer und schwächere Frauen (auch wenn unsere Erfahrungen konkret ganz anders sein mögen: Mütter, die monate- oder jahrelang 15-Kilogramm-Kleinkinder tragen; Spitzensportlerinnen, die schneller oder stärker als jeder ›Durchschnittsmann‹ sind), sehen unbehaarte Frauen im Vergleich zu behaarten Männern (obwohl wir alle wissen, dass Frauen viel Mühe darauf verwenden, ihre Körper haarlos zu machen). (ebd.)

Weit verbreitete Annahmen von vermeintlich natürlichen Geschlechtsunterschieden bzw. von natürlichen Beschaffenheiten der Geschlechtskörper sind das Ergebnis solcher Performativitäten. Ausgehend von dieser Auffassung wird es auch verständlich, wenn Männlichkeiten ihren Körper in seiner Materialität nutzen, um ihre Geschlechtlichkeit bzw. ihre geschlechtliche Identität herzustellen. Denn selbst wenn den einzelnen Akteur_innen die performative Beschaffenheit der spezifischen Geschlechtskörper nicht bewusst ist, so ist es das Ergebnis dessen sehr wohl. Es gehört zu den diskursiv geprägten allgemeinen Wissensbeständen, wie ein Mann idealerweise ist / zu sein hat, genauso wie eine Frau idealerweise ist / zu sein hat. Dies gilt nicht nur für die Sozialität der Geschlechter, sondern genauso für deren Materialität. Die Idealbilder von Männlichkeit und Weiblichkeit werden auch über den materiellen Körper hergestellt. Dies schlägt sich – mit Bourdieu gedacht – im geschlechtsspezifischen Habitus nieder. Meuser stellt fest, dass beim geschlechtlichen Habitus verdeckt ist, dass »soziale Praxis in Gestalt von Habitualisierungen in den Körper eingeschrieben worden ist. Das Unsichtbarmachen der Tatsache, daß der geschlechtliche Körper ein kulturell erzeugter ist, macht nachgerade die Kompetenz des doing gender aus« (Meuser 2010: 118; H. i. O.). Demgemäß werden die gesellschaftlichen Strukturen, inklusive der geschlechtsspezifischen Strukturen, im Laufe der Sozialisation und anderer Lebens- und Lernprozesse nicht nur kognitiv verinnerlicht, sondern gehen durchaus »in einem wörtlichen Sinne in Fleisch und Blut« über (vgl. Gugutzer 2002: 112). Robert Gugutzer spricht in diesem Zusammenhang von einer »leiblichen Disposition« (ebd.). Das Handeln wird wiederum durch diese leiblichen Dispositionen der Akteure geleitet, was Gugutzer »leibliche Praxis« nennt (vgl. Gugutzer 2002: 117). Diese leibliche Praxis – oder mit Bourdieu gesprochen, das durch den ›praktischen Sinn‹ angeleitete

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Theoretische Grundlagen

Handeln – erfolgt ohne Reflexionsprozess, sie läuft in der Regel automatisch ab. Dies ist in der Logik der Praxis begründet, die sich vor allem durch zwei Aspekte auszeichnet: Ökonomie und Zeit. Gugutzer fasst Bourdieus Ausführungen hierzu konzise zusammen: Das alltägliche Handeln vollziehe sich meist unter Zeitdruck, zumindest ein übermäßiges Abwägen und Überlegen hierfür sei ausgeschlossen. Die Ökonomie der praktischen Logik bzw. der Praxis meine somit vor allem eine Zeitersparnis, die der leiblich-praktische Sinn ermöglicht, weil dieser »mit der automatischen Sicherheit eines Instinkts funktioniert« und es gestatte, »augenblicklich auf alle möglichen ungewissen Situationen und Mehrdeutigkeiten der Praxis zu reagieren« (Bourdieu zit. n. Gugutzer 2002: 118). Auch die geschlechtsspezifischen Strukturen der Gesellschaft werden damit durch habitualisierte Handlungen anhand des Körpers sichtbar. Die Tatsache, dass vor jedem alltäglichen Handeln nicht jedes Mal ein Reflexionsprozess einsetzt, heißt nicht, dass der Körper nicht auch gezielt eingesetzt werden kann, um eine spezifische Erscheinung zu erzeugen. Die inkorporierten gesellschaftlichen Strukturen, Denk- und Wahrnehmungsmuster prägen nicht nur die Wahrnehmung der sozialen Umwelt, sondern auch die Wahrnehmung des eigenen Körpers (vgl. Gugutzer 2002: 119). Die Bewertung dessen wiederum sei Ausdruck der in einer Gesellschaft vorherrschenden Wissensbestände und Diskursmuster (vgl. ebd.). Demgemäß wird der eigene Körper im Hinblick auf die Performanz einer spezifischen Geschlechtlichkeit nach den in den Diskursen vorherrschenden Idealen bewertet. Da der Körper jedoch innerhalb bestimmter Grenzen modifizierbar ist, sogar als ein »gemäß den eigenen Wünschen gestaltbares, ›reflexives‹ Projekt« (Gugutzer 2002: 120f.) aufgefasst werden kann, können die Akteur_innen versuchen, sich diesen diskursiv erzeugten Idealen anzunähern. Bourdieu macht sogar ein körperliches Kapital aus (vgl. u. a. Bourdieu 2012: 329), welches wie die anderen Kapitalsorten verstanden werden kann. Dementsprechend kann auch Arbeit in den Körper investiert werden, um das Kapitalvolumen zu erhöhen. Das entstandene Körperkapital ist gleichermaßen symbolisches Kapital, da seine Wertigkeit von der Anerkennung anderer abhängig ist. Wie ein Körper bewertet wird, ist wiederum diskursiv geprägt: So sind in westlich-modernen Gesellschaften Jugendlichkeit, Schönheit, Fitness, Gesundheit oder Attraktivität (vgl. Gugutzer 2002: 121) maßgebende Orientierungspunkte, um ein Körperideal zu erreichen. Speziell für einen männlich klassifizierten Körper lassen sich neben diesen Aspekten mit Beate Hofstadler und Birgit Buchinger noch weitere ausmachen, bzw. lassen sich die genannten spezifizieren: »Das Ideal eines männlichen Körpers bedeutet Muskeln, Kraft, Stärke, gepaart mit Schönheit und Gesundheit. Dazu kommen Sportlichkeit, athletisches Aussehen, trainierter Körper, breite Schultern und entsprechende Proportionen« (Hofstadler / Buchinger 2001: 131). Sexuelle Potenz lässt sich ebenso als zentraler körperbezogener Wert für ein Männlich-

Dimensionen von Männlichkeiten

83

keitsideal ausmachen (vgl. Hofstadler / Buchinger 2001: 248). Bourdieu merkt an, dass symbolisches Kapital (und damit prinzipiell auch das körperliche) letztlich nur ein »anderer Name für Distinktion« sei (vgl. Bourdieu 1991: 22). Die Körperarbeit im Sinne seiner Aufwertung oder dem Streben nach der Performanz eines körperlichen Ideals dient demnach (auch) der Abgrenzung von anderen. Im Falle der Männlichkeit kann dies sowohl die Abgrenzung von Weiblichkeit als auch die Abgrenzung von anderen als männlich klassifizierten Körpern sein, wobei aus der Abgrenzung vermutlich eine Höherstellung des eigenen Körpers und damit der eigenen Identität resultieren soll. Es kann an dieser Stelle also festgehalten werden, dass zum einen unbewusste, vorreflexive Praktiken in den Körper eingeschrieben sind, anhand derer Männlichkeits- und Weiblichkeitsperformanzen sichtbar werden. Zum anderen ist aber auch zu konstatieren, dass Körper reflexiv und bewusst als Ressource genutzt werden können, um ein bestimmtes Bild von sich zu erzeugen bzw. einem angestrebten Ideal näher zu kommen. Die besondere Rolle des Körpers im Hinblick auf seine Reflexion im Kontext sozialer Interaktion wird auch von Connell mit ihrem Begriff der »körperreflexiven Praxen« (Connell 2015: 111; Connell 2013: 99) aufgegriffen. Connell geht davon aus, dass »Körper […] sowohl Gegenstand sozialer Praxis als auch Handelnde in der sozialen Praxis [sind]« (Connell 2013: 98; H. i. O.), wobei auch hier der performative Charakter von (geschlechtlichen) Körpern anklingt. Connell plädiert für eine theoretische Position, in der davon ausgegangen wird, dass Körper am sozialen Geschehen teilnehmen und dabei den Verlauf sozialen Verhaltens mitbestimmen (vgl. Connell 2015: 111f.). Es gilt jedoch: »Durch körperreflexive Praxen werden Körper in den sozialen Prozess mit einbezogen und zu einem Bestandteil von Geschichte, ohne damit aber aufzuhören, Körper zu sein« (Connell 2015: 116). Ihre Materialität löst sich dementsprechend nicht auf, sondern bleibe von Bedeutung (vgl. ebd.). Die durch körperreflexive Praktiken konstituierte Welt hat folglich eine körperliche Dimension, ist allerdings nicht biologisch determiniert (vgl. Connell 2015: 117). Aus Connells Forschung zur Konstruktion von Männlichkeit geht hervor, dass die bewusste körperliche Erfahrung bzw. die bewusste Reflexion des eigenen Körpers im sozialen Geschehen gleichzeitig die soziale Bedeutung des Körpers ins Spiel bringt (vgl. Connell 2015: 112–116). Die Reflexion und die Abwägung der sozialen Bedeutung des eigenen (Geschlechts-)Körpers in einer Interaktion können dabei Einfluss auf das weitere soziale Verhalten haben. Es kann beispielsweise im Fortgang geprägt sein von dem Erleben des Körpers als unzulänglich oder abweichend; etwa eine Unzulänglichkeit, den oben genannten geschlechtsspezifischen Idealen nicht zu entsprechen, woraus wiederum bestimmte Konsequenzen für späteres Handeln oder sogar für die Identität resultieren können.

84

Theoretische Grundlagen

Die Ausführungen zur Relevanz des Körpers für die Konstruktion von Männlichkeit machen den Bezug zum Gegenstand dieser Arbeit ersichtlich. Die hohe Körperbezogenheit bei der Herstellung der Männlichkeit bzw. der Abstreifung von Weiblichkeit ist auch bei den Figuren der untersuchten Erzähltexte auszumachen. Zum einen ist der Körper durch habituell gefestigte Handlungen unbewusst an der Konstitution von Männlichkeit beteiligt. Zum anderen kann er ganz bewusst eingesetzt werden, um Männlichkeit herzustellen, indem traditionell als männlich anerkannte Attribute oder Verhaltensweisen über den Körper ausgestellt werden. Hierbei ist der_die Akteur_in jedoch auf die Anerkennung der jeweils gewählten Attribute durch andere angewiesen (vgl. a. Gugutzer 2002: 122). Außerdem haben körperreflexive Praktiken Auswirkungen auf die Wahrnehmung des eigenen Körpers bzw. der körperlichen Handlungen mit seinen sozialen Bedeutungen und können so das soziale Verhalten beeinflussen. Im Kontext körperreflexiver Praxis kann es also dazu kommen, dass die Männlichkeit im Rahmen sozialen Geschehens ihres Körpers in seiner sozialen Bedeutung gewahr wird und ihr Verhalten daraufhin auf eine bestimmte Weise ausrichtet.58 Ob reflexiv oder unbewusst, das Handeln beeinflussend oder nicht, es lässt sich festhalten, dass »[m]ännliche Identität […] zu einem wesentlichen Teil über Körperlichkeit hergestellt [wird]« (Hofstadler / Buchinger 2001: 249).

4.5

Zusammenfassung: Vier Grundpfeiler traditioneller Männlichkeit

Die ernsten Spiele des Wettbewerbs, das Gewalthandeln, die Abwertung des Weiblichen sowie der Körper sind vier essentielle Felder bzw. Bereiche der Ausund Verhandlungen von Männlichkeit, in denen traditionelle Männlichkeit hergestellt wird. An dieser Stelle soll noch einmal zusammenfassend dargelegt werden, wie sie Eingang in die Analysen dieser Arbeit finden. Die ernsten Spiele des Wettbewerbs dienen den Männlichkeiten als homosozialer Raum für Wettbewerb, Konkurrenz und Distinktion. Er fungiert als Ort zur Aushandlung von Hierarchien auf homosozialer Ebene, genauso aber auch als Ort der Vergemeinschaftung in Zeiten von Verunsicherung. Hier können Männlichkeiten sodann Bestätigung finden und ihre habituelle Sicherheit zurückerlangen. Die Praktiken des Risikohandelns sind eine häufige Form der ernsten Spiele des Wettbewerbs, sie können als kompensatorischer Akt angesichts einer fragilen Geschlechtsidentität verstanden werden. In der Analyse ist im Hinblick auf die ernsten Spiele des Wettbewerbs einerseits zu prüfen, wie die 58 Mit der bestimmten Ausrichtung des Verhaltens ist nicht in erster Linie ein vermeintlich geschlechtsspezifisches Verhalten gemeint. Körperreflexive Praxis kann beispielsweise auch zu individueller Kompensation von erlebten Defiziten oder zu einer bewussten Abwehr des eigenen Körpers führen.

Dimensionen von Männlichkeiten

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männlich gezeichneten Figuren die ernsten Spiele des Wettbewerbs nutzen, um Männlichkeit herzustellen. Andererseits wird speziell danach gefragt, inwiefern eine Möglichkeit der ernsten Spiele über Klassengrenzen hinweg gegeben ist, und wie es um die Möglichkeiten der Beteiligung einer weiblich gezeichneten Figur an den ernsten Spielen bestellt ist. Die fragile Männlichkeit, die im Kontext der ernsten Spiele des Wettbewerbs anklingt, hebt auch Kaufman hervor, und macht sie als eine Ursache für vergeschlechtlichte Gewalt aus. Die defizitär erlebte Männlichkeit soll darüber wieder hergestellt und gefestigt werden. Die Fragilität der adoleszenten Geschlechtsidentität stellt auch Meuser nicht in Abrede, wenngleich er hier differenzierter vorgeht, indem er den im Abschnitt zu den ernsten Spielen ebenfalls aufgezeigten kompetitiven, vergemeinschaftenden Charakter von Gewalt bzw. Risikohandeln hervorhebt. Auch in dieser Dimension dient die Gewalt jedoch als Mittel zur Herstellung von Männlichkeit. Kersten macht Scham als Ursache von Gewalthandeln aus, welche beispielsweise durch eine als defizitär empfundene Männlichkeit ausgelöst und mit Gewalt kompensiert werden kann. Er stellt außerdem den Aspekt der mangelnden Ressourcen heraus. Kann eine Männlichkeit die verschiedenen Charakteristika eines traditionellen Männlichkeitsideals nicht erfüllen, so kompensiert sie dies häufig durch gewalttätige Substitute wie Risiko- und Kampfbereitschaft. In der Analyse wird nun einerseits auf diesen Aspekt eingegangen, indem untersucht wird, ob diese Substitute auch bei den Figuren der Romane zu finden sind, sofern sie keine Möglichkeit auf eine Teilhabe an der hegemonialen Männlichkeit haben. Andererseits werden in der Analyse weiblich gezeichnete Figuren als Betroffene von Gewalt dahingehend untersucht, ob sie mit der Gewalt automatisch eine Degradierung ihrer Person erfahren und ihre personale Integrität nachhaltig verletzt wird, wie Meuser dies postuliert. Diese Pauschalisierung soll in der Untersuchung kritisch überprüft werden. Es wurde außerdem deutlich, dass Männlichkeiten sich nur in Abgrenzung zu Weiblichkeit überhaupt konstituieren können. Die Relevanz der Untersuchung der Weiblichkeitsabwehr bzw. -abwertung steht somit außer Frage. Das beschriebene Männlichkeitsdilemma rangiert zwischen der angestrebten Autonomie der Männlichkeiten und deren Abhängigkeit von Weiblichkeit zur Befriedigung ihrer heterosexuellen Lust. Die Autonomiebestrebungen werden darüber hinaus dadurch geschwächt, dass die Existenz der Männlichkeiten maßgeblich von einer Frau abhängig ist. Daraus resultiert eine Angst, die sich auch in der Ausübung von Gewalt äußern kann. Alles Weibliche wird für krisenhafte und fragile Männlichkeit verantwortlich gemacht. In der Analyse wird dementsprechend untersucht, wo Weiblichkeitsabwehr bzw. der AbhängigkeitsAutonomie-Konflikt zu erkennen ist und ob Rückschlüsse auf Ursachen dessen

86

Theoretische Grundlagen

möglicherweise innerhalb einer defizitären oder fragilen Männlichkeitskonstruktion auszumachen sind. Der Körper als letzte Facette der Aus- und Verhandlungen von Männlichkeiten ist einerseits unbewusst an der Konstruktion von Männlichkeit beteiligt, kann aber andererseits auch bewusst als körperliches Kapital eingesetzt werden, um sich den Idealen einer traditionellen Männlichkeit zu nähern. Die Reflexion des eigenen Körpers kann die_den Akteur_in außerdem dazu veranlassen, das eigene Handeln neu / anders auszurichten. Im Rahmen der Analyse ist nun zu überprüfen, inwiefern der Körper selbst Handelnder in der sozialen Interaktion wird, inwiefern er also explizit an der Herstellung der Geschlechtlichkeit der Figuren beteiligt ist. Außerdem wird eruiert, wie die Figuren ihren Körper ganz gezielt nutzen, um ihre Männlichkeit auszustellen oder eventuell ihre weiblich konnotierten Anteile zu verbergen. Alle Facetten bieten auf die je benannte Weise zentrale Anknüpfungspunkte für die Analyse und werden dementsprechend über Connells Konzept und dessen Erweiterung hinaus die wesentlichen Referenzpunkte stellen.

III.

Dimensionen von Weiblichkeiten

In den einleitenden Worten zu den theoretischen Grundlagen wurde bereits darauf verwiesen, dass weiblich gezeichneten Figuren nicht pauschal die Performanz einer Männlichkeit abgesprochen wird. Dementsprechend findet Connells Konzept auch in der Analyse weiblich gezeichneter Figuren Anwendung. Auch die im vorangegangenen Abschnitt behandelten Facetten der Ausund Verhandlungen von Männlichkeiten können prinzipiell auf weiblich gezeichnete Figuren übertragen werden. Die Verkörperung einer hegemonialen Männlichkeit durch eine weiblich gelesene und / oder weiblich identifizierte Person ist nicht möglich. Es wurde im Abschnitt zu Connells Konzept deutlich, dass das Handlungsmuster der hegemonialen Männlichkeit nur unter sehr rigiden Voraussetzungen performt werden kann. Diese Möglichkeit besteht für weiblich gelesene Personen bereits insofern nicht, als dass sie mit Weiblichkeit assoziiert werden, die hegemoniale Männlichkeit sich jedoch nur unter Ausschluss aller Weiblichkeit konstituieren kann. Weiterhin ist die uneingeschränkte Dominanz über andere Männlichkeiten und über alle Weiblichkeiten ein zentrales Charakteristikum für die hegemoniale Männlichkeit. Eine auch nur entfernt mit Weiblichkeit assoziierte Männlichkeit kann daher keinen hegemonialen Status erreichen. Außerdem sind, wie im Folgenden deutlich wird, die Voraussetzungen und (Aus-)Wirkungen einer Männlichkeitsperformanz für als weiblich gelesene Menschen sehr komplex und radikal andere als für männlich

Dimensionen von Weiblichkeiten

87

gelesene Personen, weshalb eine verengende Konzentration auf Connells Konzept dieser Komplexität nicht gerecht werden kann. Aufgrund dieser Einschränkungen bedarf es differenzierterer Konzepte, die es vermögen, eben diese Performanzen im Untersuchungsgegenstand analysierbar zu machen. Als Grundlage dessen soll Jack Halberstams Arbeit zur female masculinity dienen (vgl. Halberstam 2006). Halberstam plädiert dafür, Männlichkeit nicht auf einen als männlich deklarierten Körper und dessen Effekte zu reduzieren. Mit der Begrifflichkeit female masculinity sind Menschen beschrieben, die bei ihrer Geburt als weiblich kategorisiert wurden und sich im Verlauf ihres Lebens männlich konnotierte Verhaltensweisen, einen männlichen Habitus oder / und äußerliche Merkmale, die mit Männlichkeit assoziiert werden, angeeignet haben. Dieses Konzept kann somit als solider Ausgangspunkt genutzt werden, um weiblich gezeichnete Figuren, die sich Männlichkeit aneignen, adäquat zu erfassen. Halberstam beschreibt in seiner Arbeit unterschiedliche female masculinities, welche jedoch nicht relevant für diese Arbeit sind. Die Basis, die Halberstam mit seinem Ansatz bietet, kann allerdings auch anderen Konzepten zugrunde gelegt werden und damit als wertvolle Hintergrundfolie erhalten bleiben. Mimi Schippers, welche bestrebt ist, Connells Konzept um die Facette der Weiblichkeiten zu erweitern, beschreibt mit den pariah femininities u. a. eben solche Verkörperungen von female masculinity. Genauso können Angela McRobbies Top Girls als Weiblichkeiten gelten, die sich in einem gewissen Rahmen männlich konnotierte Attribute aneignen und damit in ein Konkurrenzverhältnis mit anderen Männlichkeiten treten. Im Folgenden werden daher die Ansätze von Schippers und McRobbie eingehender beleuchtet, um schließlich Eingang in das Analysewerkzeug zu finden.59 Inwiefern diese weiblich gezeichneten Figuren die hegemoniale Männlichkeit genauso wie die männlich gezeichneten als generatives Prinzip ihrer Geschlechtskonstruktion nutzen, wird ein zentraler Punkt innerhalb der Analyse sein. 59 McRobbies Ausführungen beziehen sich auf eine postmoderne, neoliberale und dienstleistungsorientierte Gesellschaft. Die untersuchten Texte Jelineks sind in den 1980er Jahren entstanden und beziehen sich auf eine industriell geprägte Gesellschaft, die noch entfernt ist von neoliberaler Selbstoptimierung und der massiven Prägung auf die Konsumsphäre, wenngleich Jelinek letztere Entwicklungen durch die sich durchziehende Thematisierung des Fernsehens in ihren Texten bereits andeutet. Insgesamt lassen sich in McRobbies Ansatz trotz der zeitlichen Differenz zahlreiche Parallelen zu Jelineks Figuren erkennen, die beispielsweise die postfeministische Maskerade oder die phallische Frau betreffen, weshalb der Bezug auf diesen Ansatz für die Untersuchung der Gegenstände verspricht, gewinnbringend zu sein. Gleiches gilt für die Ausführungen von Mimi Schippers. Selbst wenn die von Schippers beschriebenen Akteurinnen im Verhältnis zu Jelinek und ihren Figuren divergierenden gesellschaftlichen Gegebenheiten ausgesetzt sind / waren, so ist die Form der Klassifizierung von Handlungsmustern, die Schippers vornimmt, dennoch von großer Relevanz für das Analyseinstrument dieser Arbeit.

88 1.

Theoretische Grundlagen

Die pariah femininities nach Mimi Schippers

Connell und Messerschmidt räumen ein, dass die Weiblichkeiten schnell aus dem Fokus der Betrachtung geraten sind, obwohl das Konzept der hegemonialen Männlichkeit »originally […] in tandem with a concept of hegemonic femininity« (Connell / Messerschmidt 2005: 848) formuliert wurde. Sie sind der Meinung, dass sowohl dem Zusammenspiel von Männlichkeiten und Weiblichkeiten als auch den »practices of women« (ebd.) eine größere Aufmerksamkeit gebühren sollte. Die feministische Soziologin Mimi Schippers folgt dieser indirekten Aufforderung und entwirft ein Konzept von »hegemonic femininity and multiple femininities« in Anlehnung an Connells Konzept. Sie nennt die komplementäre Form der hegemonialen Männlichkeit eine hegemoniale Weiblichkeit. Schippers schreibt hierzu: Hegemonic femininity consists of the characteristics defined as womanly that establish and legitimate a hierarchical and complementary relationship to hegemonic masculinity and that, by doing so, guarantee the dominant position of men and the subordination of women. (Schippers 2007: 94)

Hieran wird deutlich, dass sie mit hegemonialer Weiblichkeit das gleiche meint wie Connell mit der emphasized femininity. Connell nahm bewusst Abstand vom Begriff der »hegemonic femininity«, um die asymmetrischen Positionen von Männlichkeiten und Weiblichkeiten in einer patriarchal organisierten Geschlechterordnung hervorzuheben (vgl. Connell / Messerschmidt 2005: 848). In der vorliegenden Arbeit wird sich der Position von Connell angeschlossen; somit wird im Folgenden der Begriff emphasized femininity zur Bezeichnung entsprechender Weiblichkeiten genutzt. An dieser Stelle lässt sich das Plädoyer von Sylka Scholz für eine hegemoniale Weiblichkeit sinnvoll aufgreifen. Aufgrund von Untersuchungen im politischen Feld plädiert Scholz für die Erweiterung des Konzepts der hegemonialen Männlichkeit um die hegemoniale Weiblichkeit. Wenn Scholz von hegemonialer Weiblichkeit spricht, meint sie – anders als Schippers – eine Weiblichkeit, die »in ihrer sozialen Praxis des Politikmachens in zentralen Aspekten dem hegemonialen Männlichkeitskonstrukt folgt und es somit reproduziert und stabilisiert« (Scholz 2010: 397). Ihr exemplarisches Beispiel Angela Merkel sei dadurch jedoch noch keine Repräsentantin hegemonialer Männlichkeit, weshalb sie die Begrifflichkeit der hegemonialen Weiblichkeit einführen möchte. Charakteristisch für dieses Handlungsmuster sei die Aufkündigung des Einverständnisses mit der Subordination der Frau bzw. mit der männlichen Dominanz über die Frau. Diese Entwicklung gibt es tatsächlich – es gibt Frauen, die sich Zugang zur machtpolitischen Elite verschaffen können. Doch ist hierfür die Begrifflichkeit

Dimensionen von Weiblichkeiten

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irreführend gewählt, da sie eine strukturelle Dominanz von Weiblichkeit suggeriert, die nicht vorhanden ist (vgl. a. Walgenbach 2010: 414; Meuser 2010a: 425). Die Machtpositionen, die Frauen einnehmen können, sind nicht vergleichbar mit denen der männlichen Hegemonie (vgl. Vogel 2010: 412).60 Die wenigen Frauen, die in der Lage sind, eine Machtposition zu bekleiden, können dies nur unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen und auch hier werden sie weiterhin zum Objekt61 gemacht und entsprechend subordiniert. Eine umfassende gesellschaftliche Dominanz, die Connell für die hegemoniale Männlichkeit über Frauen als obligatorisch ausmacht, existiert für Weiblichkeiten nicht (vgl. Connell 1987: 183ff.; Meuser 2010a: 425). Als Gegenpol zur vermeintlichen hegemonialen Weiblichkeit, d. h. zur emphasized femininity, beschreibt Schippers die pariah femininities (vgl. Schippers 2007: 95).62 Sie nennt sie nicht untergeordnete Weiblichkeiten (»subordinate femininities«), weil sie nicht in erster Linie als unterlegen gelten, sondern von ihnen eher eine Kontaminierungsgefahr für die hegemonialen Geschlechterbe60 Scholz selbst thematisiert hierzu die weiterhin existente Gegenwärtigkeit des weiblichen Geschlechtskörpers (vgl. Scholz 2010: 397), aus welcher eine Objektivierung der Frau abgeleitet wird. Eine Gleichsetzung mit der Position einer hegemonialen Männlichkeit ist damit ausgeschlossen. Brigitte Aulenbacher schließlich weist darauf hin, dass »Frauen der Mittelschicht […] gehobene Erwerbspositionen zu einem historischen Zeitpunkt [erreichen], zu dem sie [die Erwerbspositionen, Anm. JS] ihre vormalige Stabilität und Sicherheit eingebüßt haben« (Aulenbacher 2010: 337); dies trifft auch auf das Feld der Politik zu (vgl. Meuser / Scholz 2011). Die von Scholz gewählte Figur Angela Merkel als Beleg für eine existente hegemoniale Weiblichkeit anzuführen, ist demnach mindestens schlecht gewählt. Daher muss davon ausgegangen werden, dass ein solches Handlungsmuster für Weiblichkeit nicht existiert. 61 Hier sei nur an die zahlreichen Kommentare und Presse-Artikel zu Angela Merkels Auftritt im tief ausgeschnittenen Kleid bei der Operneröffnung in Oslo 2008 erinnert; wobei dies nur exemplarisch für den öffentlichen Umgang mit Merkels Weiblichkeit stehen soll. 62 Mit dem Begriff Paria wurden Menschen bezeichnet, die als kastenlos eingestuft werden oder einer niedrigen Kaste in Indien angehören. Der Begriff wird von den betroffenen Dalits (Eigenbezeichnung, zu dt. etwa zerbrochen, zerrissen, vertrieben, zerstört) kritisiert, da sie durch derartige Bezeichnungen nicht als gleichberechtigte Menschen angesehen werden (vgl. http://dalit.de/kaste-und-unberuehrbarkeit/unberuehrbare-harijans-dalit/ (letzter Zugriff am 18.03. 2019)). Das Ausgestoßensein, das sich für die Dalits im Begriff Paria niederschlägt, möchte Schippers für die Weiblichkeiten beschreiben, die sich den gesellschaftlichen Normen nicht fügen (können / wollen), weil ihre geschlechtliche Performanz männlich konnotierte Aspekte aufweist. Den diskriminierenden Begriff Paria auszusparen und etwa durch dalit femininity zu ersetzen, würde den Kern der Problematik allerdings nicht treffen, da der Begriff Dalit zwar das Vertriebene, Ausgegrenzte verdeutlichen würde, die Wahl einer Eigenbezeichnung für solch eine Begrifflichkeit die Machtpositionen jedoch verschleiern würde. Nicht die Dalits selbst verstoßen sich aus der Gesellschaft, sie werden verstoßen. So sind es auch nicht die pariah femininities, die sich selbst sanktionieren, sondern sie werden sanktioniert. In der Begriffswahl also die Perspektive der Herrschenden zu spiegeln, kann demnach durchaus eine Möglichkeit des Umgangs mit der benannten Problematik darstellen.

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Theoretische Grundlagen

ziehungen ausgehe (vgl. Schippers 2007: 95). Gegenentwürfe zur emphasized femininity nennt Joachim Kersten auch »Protestweiblichkeit« (Kersten 1997: 111). Die Verachtung, die den Protestweiblichkeiten seitens des kulturellen Mainstreams entgegenschlägt (vgl. Kersten 1997: 111), stützt die Annahme einer Kontaminierungsgefahr. Wird der Geschlechtsentwurf direkt sanktioniert, sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass solch ein Entwurf angestrebt wird und damit reduziert sich auch die Gefahr der Kontaminierung. Bei der Betrachtung der pariah femininities wird deutlich, dass viele ihrer Attribute Bestandteile einer hegemonialen Männlichkeit sind: »women-desire for the feminine object (lesbian), authority (bitch), being physically violent (›badass‹ girl), taking charge and not being compliant (bitch, but also ›cockteaser‹ and slut)« (Schippers 2007: 95).63 Werden diese Attribute nun von einer Weiblichkeit verkörpert, werden sie abgewertet, stigmatisiert und sanktioniert. Auffällig ist, dass sobald eine Weiblichkeit eines dieser Charakteristika verkörpert, das gesamte Individuum zu einem bestimmten Typ von Person wird. Strebt eine Weiblichkeit beispielsweise nach Autorität, so wird sie zur bitch. Für Weiblichkeiten besteht folglich die Gefahr der Abwertung in eine pariah femininity, sobald sie nur ein Attribut der hegemonialen Männlichkeit für sich beanspruchen. Es wurde bereits konstatiert, dass es nicht Menschen, die sich als Mann definieren, vorbehalten ist, Männlichkeit zu verkörpern. An diesem Punkt wird nun deutlich, dass es jedoch einen Unterschied macht, ob Menschen, die als Frau wahrgenommen werden, sich Handlungsmuster einer hegemonialen Männlichkeit aneignen oder ob Menschen dies tun, die als Mann wahrgenommen werden. Im ersten Fall werden die Attribute negativ umgedeutet, während sie im zweiten Fall eine Aufwertung erfahren. Umgekehrt ist dies allerdings auch der Fall. Verkörpert eine als Mann wahrgenommene Person Merkmale einer emphasized femininity, so wird diese Person abgewertet (nach Schippers als »fag«, »pussy« oder »wimp« (vgl. Schippers 2007: 96)). Verkörpert eine als Frau wahrgenommene Person diese Charakteristika, so wird dies gesellschaftlich positiv gewertet. Es wird deutlich, dass in westlichen, patriarchal geprägten Gesellschaften die hegemonialen Verkörperungen hinsichtlich einer binären 63 Insgesamt ist zu den von Schippers gewählten Begrifflichkeiten anzumerken, dass sie sich bei der Entwicklung ihrer Weiblichkeiten eines nahezu vulgären Vokabulars bedient. Dies wird in ihrem Aufsatz nicht kommentiert; es ist möglich, dass hiermit eine Selbstaneignung der Begriffe im Sinne einer Resignifizierung verbunden ist, wonach die Begriffe keine beleidigende Wirkung mehr haben sollen. Solch eine Umdeutung durch Selbstaneignung vollzog sich auch mit dem Begriff queer, welcher als Beleidigung für Homosexuelle verwendet wurde und heute als positive Selbstzuschreibung für Lebensweisen abseits der Heteronormativität genutzt wird. Gleichzeitig kann davon ausgegangen werden, dass Schippers sich dieser Ausdrücke bedient, um die negativen Konnotationen herauszustellen, die im Patriarchat mit diesen Weiblichkeiten verbunden sind.

Dimensionen von Weiblichkeiten

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Geschlechtertrennung jeweils positiv bewertet werden, sofern sie von Menschen verkörpert werden, die dem entsprechenden Geschlecht zugeordnet werden. Weichen sie davon ab, werden sie sanktioniert und untergeordnet. Hieraus geht hervor, dass Frauen in jedem Fall untergeordnet sind bzw. eine Abwertung erfahren: Als emphasized femininity wird zwar honoriert, dass sie sich in die für sie vorgesehene Rolle im Patriarchat einfügt, sie bleibt als Frau jedoch im Rahmen der männlichen Herrschaft subordiniert. Als pariah femininity wird ihre Abweichung von den konventionalisierten Normen sanktioniert und ihre spezifischen Attribute werden als inadäquat abgewertet. Mimi Schippers arbeitet heraus, dass bestimmten Formen von Weiblichkeit aufgrund der Gefahr, die sie für die Stabilität einer männlichen Herrschaft darstellen, eine randständige Position in der Gesellschaft zugewiesen wird. Sie liefert mit den pariah femininities einen wertvollen Beitrag zur Klassifizierung von mit männlich konnotierten Attributen assoziierten Weiblichkeiten. Dies ist eine wichtige Ergänzung des Analysewerkzeugs, um Aussagen über die Jelinek’schen Figuren, die sich männlich konnotierte Verhaltensweisen oder Räume aneignen, treffen zu können und deren Figurenkonzeptionen letztlich im Hinblick auf Jelineks Gesellschaftskritik einordnen zu können.

2.

Angela McRobbies Top Girls

Die britische Kulturtheoretikerin und Kommunikationswissenschaftlerin Angela McRobbie konzentriert sich in ihrer Arbeit Top Girls. Feminismus und der Aufstieg des neoliberalen Geschlechterregimes in einem Kapitel auf die Analyse eines neuen Geschlechtervertrags. Nach den Erfolgen im Bereich der Gleichstellung und der umfassenden Integration von Geschlechterthemen in die Politik, entstehe ein neues Geschlechterregime, in dem junge Frauen die Möglichkeit bekämen, sich auf dem Arbeitsmarkt zu behaupten und generell öffentlich sichtbar(er) zu werden. Es wird suggeriert, dass Frauen jetzt anerkannt werden und ihr Platz in der Gesellschaft gesichert sei; sie hätten nun den Status eines Subjektes erreicht. Danach hätte der Feminismus keine Legitimation mehr im Patriarchat. Der Verzicht auf Kritik an Letzterem sei eine der Bedingungen für »eine postfeministische Vereinbarung über die Regulierung der Geschlechterverhältnisse« (McRobbie 2010: 91): ein neuer Geschlechtervertrag.64 64 An dieser Stelle sei bereits kurz erwähnt, dass sich dieser neue Geschlechtervertrag nach McRobbie nicht entwickelt hat, weil tatsächliche Gleichstellung erreicht worden sei. Im nächsten Abschnitt zur postfeministischen Maskerade wird vielmehr deutlich, dass der Vertrag nur eine Strategie darstellt, um die Differenzen zwischen den Geschlechtern weiterhin aufrecht zu erhalten.

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Theoretische Grundlagen

Im Rahmen der Analyse dieses Vertrags widmet sie sich vier Phänomenen bzw. Aufmerksamkeitsräumen: dem Mode- und Schönheitskomplex, der Bildungs- und Erwerbstätigkeit, dem Bereich der Sexualität, Fertilität und Reproduktion sowie dem Raum der Globalisierung. Ausgehend davon zeigt sie schließlich verschiedene Strategien auf, »mit denen sich der neue Geschlechtervertrag Frauen als ein Drängeln zur Aktivität anbietet« (McRobbie 2010: 122): die postfeministische Maskerade, die berufstätige Frau, die phallische Frau und die globale Frau.65 Die postfeministische Maskerade McRobbie konstatiert, dass die patriarchale Macht66 in den letzten Jahren einige Herausforderungen durch den Feminismus erfahren habe, weshalb diese Macht in Gefahr war (vgl. McRobbie 2010: 95). Sie macht eine dreifache Bedrohung des Symbolischen, d. h. der patriarchalen Autorität, aus: erstens durch die mittlerweile veraltete und damit nur noch als Phantasma anwesende Frauenbewegung, also durch Aktivismus; zweitens durch die aggressive Neupositionierung von Frauen aufgrund der ökonomischen Prozesse der weiblichen Individualisierung; drittens durch eine neuere Bedrohung, die aus der feministischen Theorie selbst entstanden ist und im Speziellen aus Butlers Arbeiten und deren Popularität. (McRobbie 2010: 96)

Diese Bedrohungen konnten einige Änderungen im Bereich des Symbolischen erzwingen, es mussten neue Strategien entwickelt werden, um seine Autorität, die patriarchale Macht aufrechtzuerhalten (vgl. McRobbie 2010: 95). Es trat einen beträchtlichen Teil seiner Aufgaben an die Konsumsphäre ab, welche somit zur neuen Instanz der Autorität und Bewertung für Frauen wurde (vgl. McRobbie 2010: 96). Dem Mode- und Schönheitskomplex kommt hiermit eine zentrale und regulative Rolle zu: Während die Öffnung des Arbeitsmarktes zu Störungen führte, die die heterosexuelle Matrix destabilisieren, kann das Modeund Schönheitssystem diese Störungen verwalten und überwachen. Hieraus trete »die postfeministische Maskerade als eine neue kulturelle Dominante« hervor (McRobbie 2010: 99). Sie führe ironisch in das Repertoire der Weiblichkeit zurück. Sie erkenne den Status des Weiblichen an, feiere ihn sogar, entwickle aber gleichzeitig neue Strategien zur Durchsetzung der Geschlechterdifferenz (vgl. McRobbie 2010: 100). Die überzeichnete Weiblichkeit, die das Mode- und Schönheitssystem anpreist, suggeriert eine freie Entscheidung – es 65 Der Begriff Frau wird im Verlauf der Arbeit im Kontext der ›berufstätigen Frau‹, der ›phallischen Frau‹ und der ›globalen Frau‹ nicht kursiv gesetzt, da diese Begriffe Kategorien darstellen. 66 Bei McRobbie wird damit in Anlehnung an Butler das Symbolische im Sinne Lacans verstanden (vgl. McRobbie 2010: 95).

Dimensionen von Weiblichkeiten

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erscheint nicht (mehr) als Zwang, sich attraktiv zu präsentieren. Die Frauen scheinen es für sich selbst zu tun und nicht, um den Anforderungen von Männern gerecht zu werden. Der Feminismus erscheint mit dieser neuen Freiheit als überflüssig. Es geht letztlich darum, »die Rivalität mit den Männern in der Arbeitswelt (also ihren Wunsch nach Männlichkeit) [zu] maskieren und die Konkurrenz, die sie nun darstellt, [zu] verbergen« (McRobbie 2010: 103). Die Frauen seien sich darüber bewusst geworden, dass ihre Konkurrenz zu Männern Konsequenzen hat; die Macht könnte sie unweiblich erscheinen lassen. Deshalb geben sie sich häufig »dumm und konfus« (Riviere zit. n. McRobbie 2010: 102), »um auf dem Terrain der hegemonialen Männlichkeit navigieren zu können, ohne ihre sexuelle Identität aufs Spiel zu setzen« (McRobbie 2010: 102f.).67 Die Maskerade diene als Rückversicherung männlicher Machtstrukturen, sie leiste Präventionsarbeit für das Symbolische, für die patriarchale Autorität, indem sie das »immer noch aktive Patriarchat« unsichtbar mache, »während die Anforderungen des Mode- und Schönheitssystems sicherstellen, dass Frauen in Wahrheit ängstliche Subjekte bleiben« (McRobbie 2010: 105). Die hoch gebildete berufstätige Frau Im zweiten Aufmerksamkeitsraum Bildungs- und Erwerbstätigkeit nehmen Bildung und Berufstätigkeit nach McRobbie die Funktion ein, »junge Frauen als kompetente Subjekte zu bestimmen, die davon absehen werden, bestehende Geschlechterhierarchien in Frage zu stellen, wenn sie in Erscheinung treten und eine Position der Sichtbarkeit einnehmen können« (McRobbie 2010: 109). Demnach wird auch hier der Feminismus überflüssig. An dessen Stelle tritt der Staat und vermittelt die neuen Werte einer weiblichen Wettbewerbspartizipation (vgl. McRobbie 2010: 112). Frauen werden nun danach beurteilt, welche Fähigkeiten und Qualifikationen sie besitzen, die ihnen eine Identität als weibliche Leistungssubjekte verleihen. Von der hoch gebildeten und berufstätigen Frau wird ein hohes Maß an Einsatzbereitschaft, Motivation und Begabung verlangt, eine neue Form sozialer Mobilität wird gefördert. Die zuvor beschriebene postfeministische Maskerade findet ihre Entsprechung in der hoch gebildeten und berufstätigen Frau; die beiden Phänomene schließen einander nicht aus, sondern verschränken sich regelmäßig (vgl. McRobbie 2010: 108). Denn die Erwerbsfähigkeit junger Frauen ermöglicht das schnelle Wachstum der Konsumsphäre erst. Von ihnen werde nicht nur erwartet, einen Beruf auszuüben, sie sollen sich über die finanzielle Eigenständigkeit auch 67 McRobbie führt hier das Beispiel Bridget Jones (Protagonistin des Romans Bridget Jones’s Diary (1996) und anderer Romane von Helen Fielding) an, ihre nervöse Gestik, ihr Flirtverhalten, »ihre Vorwürfe an sich selbst als Dummkopf« (Mc Robbie 2010: 102).

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Theoretische Grundlagen

den Zutritt zur Welt der weiblichen Güter erarbeiten (vgl. McRobbie: 109). Die hoch gebildete und berufstätige Frau kann nun zwar als Subjekt in der Arbeitswelt agieren und somit in ein gewisses Konkurrenzverhältnis zu Männern treten, muss sich jedoch zurückhalten, da ihr bei zu viel Macht, Sicherheit und Selbstbewusstsein ihre Weiblichkeit aberkannt wird und sie in der heterosexuellen Matrix nicht mehr als begehrenswert gilt. Dieser Anspruch mündet darin, dass die gebildete und berufstätige Frau ersichtlich fragil bleiben muss. Denn nur wenn sie eine konventionelle weibliche Verletzbarkeit an den Tag lege, könne sie sicher gehen, weiterhin für Männer attraktiv zu bleiben (vgl. McRobbie 2010: 117). McRobbie macht deutlich, dass eine zu emanzipierte, feministische Frau weniger begehrenswert erscheint als eine »nervös[e], unsicher[e] und gefallsüchtig[e]« (McRobbie 2010: 117).68 Da berufliches Ansehen mittlerweile zu einem wichtigen Bestandteil des Selbstbildes junger Frauen geworden ist, müssen diese der Doppelbelastung von Reproduktions- und Erwerbsarbeit gerecht werden. Angela McRobbie nennt dies in Anlehnung an Rosemary Crompton den »sozialen Kompromiss« (McRobbie 2010: 117). Zugunsten des Kompromisses werde von jeglicher Kritik an der männlichen Herrschaft abgesehen. Die Regierung ist sogleich zur Stelle und versucht Mittel und Wege zu finden, die Doppelbelastung bewerkstelligen zu können, ohne die männlich Sozialisierten miteinzubeziehen. Insgesamt entsteht durch die Rekonfiguration normativer Weiblichkeit in Form von Zurückhaltung, Fragilisierung und Mutterschaft zum Zweck der Anpassung an die männliche Herrschaft auch wieder ein »Prozess der Restabilisierung tradierter Geschlechterverhältnisse« (McRobbie 2010: 118).

Die phallische Frau »Die Strategie besteht darin, junge Frauen präventiv mit der Fähigkeit auszustatten, sich den Phallus anzueignen und so eine lizensierte Mimikry ihrer männlichen Pendants zu performen« (McRobbie 2010: 122). Phallische Frauen können sich scheinbar ›unweiblich‹ und aggressiv verhalten, ohne dafür bestraft zu werden; sie scheinen eine Art Gleichberechtigung erlangt zu haben, ohne die männliche Hegemonie dafür in Frage zu stellen. Nach McRobbie handelt es sich hierbei um eine Frau, die sich einen männlichen Habitus zulegt, die exzessiv trinkt, pöbelt, raucht, sich prügelt, unverbindlichen Sex hat, ihre Brüste in der Öffentlichkeit entblößt, verhaftet wird, Pornographie konsumiert, gerne in Stripclubs geht etc., die dabei aber weiterhin für Männer begehrenswert bleibt. (McRobbie 2010: 122) 68 McRobbie schildert hier als Beispiel den Film Working Girl (dt. Titel: Die Waffen der Frauen) (1988, 20th Century Fox, Regie: Mike Nichols).

Dimensionen von Weiblichkeiten

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Indem sie zwar Männlichkeit verkörpert, ihre Weiblichkeit, die sie in der heteronormativen Welt so begehrenswert macht, aber nicht aufgeben soll, bewegt sie sich auf einem schmalen Grat. Die phallische Frau entspricht einer selbstbewussteren Alternative zur postfeministischen Maskerade, da sie nicht die Maske der Unterwerfung aufsetzt, um ihr Begehrtwerden sicherzustellen. McRobbie nennt diese Strategie des neuen Geschlechtervertrags »eine Provokation gegen den Feminismus, eine triumphierende Geste des neu erstarkenden Patriarchats« (McRobbie 2010: 124). Das Symbolische nehme feministische Forderungen wie die nach sexueller Freiheit in sich auf. Als Folge würden Frauen zwar nicht mehr so arg bestraft, wenn sie ihrem Begehren nachgehen, dies sei aber losgelöst vom Begriff eines erneuerten Feminismus, stünde diesem sogar entgegen (vgl. ebd.). Den Frauen wird suggeriert, dass sie jegliche Freiheiten haben – innerhalb der männlichen Hegemonie. Dies restabilisiert das Patriarchat, da aufgrund des Freiheitsgefühls kein Bedürfnis nach Feminismus oder Emanzipation in irgendeiner Art aufkommt. Die Existenz der phallischen Frau führt dazu, dass geschlechtliche Identität sowohl in der Zweigeschlechtlichkeit als letztlich auch in der Heterosexualität verhaftet bleibt. Dennoch ist nicht von der Hand zu weisen, dass diese Strategie Frauen eine Teilhabe an männlicher Performanz ermöglicht, wenngleich sie nur innerhalb der männlichen Herrschaft und unter der Voraussetzung, dass die phallische Frau weiterhin von ihrem heterosexuellen männlichen Gegenüber begehrt werden kann, geduldet wird. Ähnlich wie Schippers dies für die pariah femininities beschreibt, ist hier langfristig dennoch von einer Gefahr für die männliche Herrschaft auszugehen, da entsprechende Handlungsmuster nicht mehr ausschließlich den als männlich wahrgenommenen Personen vorbehalten sind. Die globale Frau Diese Strategie des neuen Geschlechtervertrages bezieht sich auf nicht-weiße Frauen. Alle drei bisher geschilderten Strategien setzen ein weißes weibliches Subjekt voraus (vgl. McRobbie 2010: 126). Hier wird ein Muster von rassistischer Grenzziehung deutlich, denn es werden im Spiel mit Traditionen (vorgetäuschte weibliche Schwäche und Zerbrechlichkeit gepaart mit männlicher Ritterlichkeit, Macht und Kontrolle) »erneuerte Normen der weißen Heterosexualität« aufgerichtet, zu denen Schwarze Männlichkeiten und Weiblichkeiten qua gewaltsamen Ausschlusses im Lauf der Geschichte keinen Zutritt hatten (vgl. Mc Robbie 2010: 127f.). McRobbie beschreibt die globale Frau folgendermaßen: Die Modernität der heutigen globalen Frau zeigt sich in ihren neuen Freiheiten, in ihrer Erwerbsfähigkeit, in ihrer Freude und Teilhabe an der Schönheits- und Populärkultur

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Theoretische Grundlagen

sowie in ihrem angenehmen und zurückhaltenden Auftreten. Weder eignet sie sich eine ironische Weiblichkeit an, wie ihr postfeministisches Gegenüber, noch performt sie eine aggressive und mackerhafte Sexualität wie die phallische Frau. Globale Frauen verkörpern vielmehr ein Ineinandergreifen von Qualitäten, in denen sich das Natürliche und Authentische mit einer wesenhaft weiblichen Liebe zur Selbstverschönerung und das verspielt Verführerische mit dem Unschuldigen verschränken; hier kann eine Sexualität unterstellt werden, die jugendlich, latent und bereit zur Erweckung ist. (McRobbie 2010: 128)

Hier zeichne sich eine subtile Positionierung ab, die auf dem Feld normativer Weiblichkeit eine Reproduktion rassistischer Hierarchien ermöglicht. Nicht-weiße Frauen sind dennoch innerhalb der westlichen Konsumsphäre dazu aufgefordert, die postfeministische Maskerade nachzuahmen; auch sehnen sie sich nach den Mode- und Schönheitsprodukten, die zu der westlichen Weiblichkeit und Sexualität gehören, ohne jedoch »den Westen […] durch Migration und unkontrollierte Fruchtbarkeit« zu bedrohen (vgl. McRobbie 2010: 129).69 Im konsumorientierten Diskurs um die globale Frau manifestiert sich letztlich »eine Rekolonialisierung und Reproduktion rassistischer Hierarchien im Feld der normativen Weiblichkeit« (McRobbie 2010: 128). Anhand der Darstellung der vier Figurationen wurde deutlich, dass sie einander nicht ausschließen und damit nicht immer voneinander abzugrenzen sind – es können durchaus Mischformen dieser Strategien existieren. Dennoch stellt McRobbie der vorliegenden Untersuchung mit ihren Ausführungen vier Handlungsmuster für Weiblichkeiten an die Seite, die vor allem im Hinblick auf die phallische Frau vielversprechend für die Analyse der weiblich gezeichneten Figuren des Untersuchungsgegenstands sind.

3.

Zusammenfassung: Weiblichkeiten abseits der Norm

Übertragen auf das Konzept von Mimi Schippers machen McRobbies Typen zunächst den Eindruck, pariah femininities zu sein. Die postfeministische Maskerade kann genauso wie die anderen Strategien als Bedrohung für das Patriarchat wahrgenommen werden, da sie zu männlich geprägten Territorien Zutritt erlangen und sich dort niederlassen, sie nach Autorität streben oder sich physisch gewaltbereit zeigen. Die bloßen Tatsachen, dass diesen Frauen der Subjektstatus zuerkannt wird und dass sie sich eine Legitimation in der Ar-

69 McRobbie verweist hier auf globale Ströme junger Frauen, die »wenn sie es schaffen, vom Land in die Stadt, aus dem Osten in den Westen oder aus dem Süden in den Norden zu gehen, sich ebenfalls in Grenzgebieten wiederfinden« (McRobbie 2010: 129).

Dimensionen von Weiblichkeiten

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beitswelt verschafft haben, sprechen dafür, dass sie, wenn nicht schon jetzt, so doch früher oder später das Patriarchat bedrohen. Nach Angela McRobbie ist dies jedoch nicht der Fall, da alle Strategien des neuen Geschlechtervertrages vom Patriarchat – oder vom neuen kulturellen Bewertungshorizont des Mode- und Schönheitssystems als dessen Ersatz – selbst etabliert wurden, eben um die männliche Vorherrschaft zu schützen. Alle ausgemachten Strategien gelten demnach nicht als Bedrohung des bestehenden Systems, sondern sichern es im Gegenteil sogar ab, indem den Weiblichkeiten beispielsweise neue Freiheiten suggeriert werden, die sie davon Abstand nehmen lassen, die männliche Hegemonie anzugreifen. Selbst wenn sie also das Potential haben, das System umzustürzen oder zumindest zu gefährden, so tun sie es nach McRobbie nicht, sondern geben ihr Einverständnis in die herrschenden Zustände und stützen das Patriarchat, um ihre neu gewonnene Teilhabe zu sichern. Dies würde sie praktisch zu emphasized femininities machen: sie halten die Hierarchie mit aufrecht, aus der Dominanz- und Unterordnungsverhältnisse der Geschlechter hervorgehen. Die Frage nach der Existenz einer hegemonialen Weiblichkeit ist aus McRobbies Sicht dementsprechend obsolet. Denn die Weiblichkeiten, die sie beschreibt, sind genau die, die auch Sylka Scholz im Blick hat, wenn sie die hegemoniale Weiblichkeit als Begriff etablieren möchte. Da McRobbie aber davon ausgeht, dass bestehende patriarchale Machtverhältnisse durch diese Weiblichkeiten gefestigt werden, kann nicht von hegemonialer Weiblichkeit gesprochen werden, wenn davon ausgegangen wird, dass Connells obligatorischer Definitionsaspekt der umfassenden gesellschaftlichen Dominanz über die jeweils andersgeschlechtliche Gruppe Gültigkeit besitzt. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Frauen beispielsweise in Form der beruflich erfolgreichen Frau auch in ein Konkurrenzverhältnis mit Männern treten und letztere somit in ihrer Position – trotz der Unterordnung unter geltende Schönheitsnormen und gespielte Konfusionen – gefährden können. Die phallische Frau beansprucht mit ihrem weiblichen Phallizismus darüber hinaus etablierte männliche Handlungsmuster für ihre Weiblichkeit, was durch eine Dekonstruktion des Männlichkeitsbegriffs durchaus das Potential hat, die männliche Herrschaft zu destabilisieren. Als emphasized femininity können die Top Girls allerdings ebenfalls nicht betrachtet werden, weil in diesen Strategien die Funktion eines schmeichelnden Spiegels und die Unterstützung der männlichen Vorherrschaft bereits in allzu weite Ferne gerückt ist. Danach würden die pariah femininities wiederum als alternative Begrifflichkeit an Relevanz gewinnen. Aufgrund dieser Uneindeutigkeiten und der Möglichkeit der Mischformen, wird letztlich im Rahmen der Analyse im Einzelfall zu prüfen sein, welche Handlungsmuster einer Figur im Vordergrund stehen und welche Auswirkungen dies jeweils zur Folge hat.

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Theoretische Grundlagen

Die von Schippers und McRobbie benannten Handlungmuster bzw. Strategien geschlechtlicher Performanz stellen eine Erweiterung des Theoriegerüsts um spezifische Formen der Geschlechterperformanz dar, die nicht prinzipiell der emphasized femininity entsprechen. Diese Präzisierung des theoretischen Gerüsts ist notwendig, um den komplexen Figuren Jelineks in einer genderspezifischen Analyse gerecht werden zu können.

IV.

Interdependenzen von Geschlecht und Klasse

Nachdem in den vorangegangenen Abschnitten sowohl der klassentheoretische Ansatz Bourdieus als auch unterschiedliche geschlechtertheoretische Ansätze skizziert wurden, wird in diesem Abschnitt auf die interdependente Dimension dieser gesellschaftlichen Herrschafts- und Strukturkategorien eingegangen. Die Berücksichtigung mehrerer Kategorien in wissenschaftlichen Analysen gehöre »inzwischen zum common sense« (Degele / Winker 2010: 15; H. i. O.) vor allem in den Gender und Queer Studies. Der Begriff Intersektionalität wird von Nina Degele und Gabriele Winker als »kontextspezifische, gegenstandsgebundene und an sozialen Praxen ansetzende Wechselwirkungen ungleichheitsgenerierender sozialer Strukturen (d. h. von Herrschaftsverhältnissen), symbolischer Repräsentationen und Identitätskonstruktionen« (Degele / Winker 2010: 15) beschrieben. Wichtig hierbei ist, dass es sich nicht um eine bloße Addition von verschiedenen Ungleichheitskategorien handelt, sondern um die Wechselwirkungen zwischen diesen. Degele und Winker schlagen Intersektionalität als Mehrebenenanalyse vor (Degele / Winker 2007). Wie bereits aus dem obigen Zitat hervorgeht, unterscheiden sie folgende drei Ebenen: die Identitätsebene (Identitätskonstruktionen / agency), die Strukturebene (Gesellschaftsstrukturen / structure) und die Repräsentationsebene (symbolische Repräsentationen / Normen und Ideologien). Auf diesen drei Ebenen legen sie Kategorien fest, anhand derer die Wechselwirkungen der ermittelten Differenzkategorien analysiert werden können. Während sie auf der Struktur- und Repräsentationsebene deduktiv vorgehen und die Kategorien Klasse, race, Geschlecht und Körper festlegen, gehen sie auf der Identitätsebene induktiv vor und leiten die Kategorien, die die untersuchten Personen zur Identitätskonstruktion verwenden, aus dem Untersuchungsgegenstand ab. Der Ansatz der Mehrebenenanalyse soll in dieser Arbeit nicht rigide verfolgt werden, vielmehr soll das Grundgerüst der unterschiedlichen Ebenen und der Kategorien, die die Autorinnen ausgemacht haben, als Basis für eine intersektionale Analyse dienen. Die Kategorie Geschlecht wird zwar im Fokus der Arbeit stehen, doch würde eine isolierte Untersuchung dieser Kategorie essentielle

Interdependenzen von Geschlecht und Klasse

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Faktoren außer Acht lassen, die Auswirkungen auf die Konstruktion von Männlichkeit haben. Durch die Konzentration auf die interdependente Verschränkung von Klasse und Geschlecht sind im Hinblick auf Herstellungs- und Abgrenzungsprozesse der Männlichkeiten weitaus differenziertere Analyseergebnisse zu erwarten als es eine eindimensionale Analyse versprechen könnte. An gegebener Stelle werden zusätzlich induktiv weitere Strukturkategorien aufgegriffen, sofern sie sich als maßgeblich für die Männlichkeitskonstruktionen ausmachen lassen. Hinsichtlich der Dimension race sei bereits an dieser Stelle festgehalten, dass die untersuchten Figuren Jelineks allesamt der weißen Mehrheitsgesellschaft Österreichs der 1950er bzw. 1980er Jahre angehören. Dies ist aus der Unmarkiertheit ihrer Hautfarben und kulturellen Eigenheiten abzuleiten. Andere ethnische Gruppen werden dagegen als solche benannt (vgl. u. a. KS 51, 54, 143ff.: »Türken«, »ausländische Arbeitnehmer«). Es werden weder Hierarchien zwischen weißer Mehrheitsgesellschaft und marginalisierten Ethnien deutlich herausgestellt noch beziehen sich die Figuren bei der Konstituierung ihrer Geschlechterperformanzen abgrenzend auf andere ›Ethnien‹. Aus diesem Grund wird die Strukturkategorie race bzw. Ethnizität im Kontext der Analyse nur in dem reduzierten Maße berücksichtigt, als dass es sich bei den Figuren um weiße Geschlechter- und Klassenperformanzen handelt. In Anlehnung an den Intersektionalitätsbegriff von Degele und Winker ist auch die Hypothese der vorliegenden Arbeit zu verstehen, dass sich die Männlichkeiten in Abhängigkeit von ihrer Klassenzugehörigkeit unterschiedlich konstituieren. Es wird davon ausgegangen, dass die Orientierung am Ideal der hegemonialen Männlichkeit erhalten bleibt, die Attribute, auf die der Fokus bei der Konstitution einer Geschlechtlichkeit gelegt wird, könnten jedoch beispielsweise in Abhängigkeit von verfügbaren Ressourcen variieren. Diese Ressourcen hängen wiederum von der sozialen Positionierung innerhalb der gesellschaftlichen Strukturen ab, die Degele und Winker anhand ihrer ausgemachten Kategorien zu greifen suchen. Die Integration von unterschiedlichen Ungleichheitsdimensionen in das Konzept der hegemonialen Männlichkeit ist mit der marginalisierten und untergeordneten Männlichkeit bereits angelegt. Damit verweise hegemoniale Männlichkeit auf andere Ungleichheitsdimensionen als nur die geschlechtliche: »Hegemoniale Männlichkeit im Fordismus wie auch im Neoliberalismus kann ihre Macht nur auf der Grundlage von ungleichen Klassen-, Nationalitäts- und Ethnizitätsverhältnissen erringen« (Sauer 2010: 391; vgl. Meuser 2010a: 423). Nach Meuser ist die hegemoniale Männlichkeit durch die Praktiken der gesellschaftlichen Elite definiert (vgl. Meuser 2010a: 423); und diese Elite wird von der herrschenden Klasse, vom (weißen, männlichen) Bürgertum gestellt. Damit

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Theoretische Grundlagen

ist ein Zusammenhang von (hegemonialer) Männlichkeit und Klasse unmittelbar gegeben. Laut Ulrike Vogel stehe hierbei als Referenzpunkt nicht nur Erwerbstätigkeit im Zentrum der Betrachtung, sondern in Anlehnung an Bourdieu auch das ökonomische, das kulturelle und das soziale Kapital (vgl. Vogel 2010: 412). Meusers oben genannte Feststellung beantwortet auch die von Cornelia Koppetsch und Maja Maier 2001 in einem Aufsatz zu Männlichkeiten im Milieuvergleich aufgeworfene Frage danach, ob die hegemoniale Männlichkeit an höhere soziale Klassen gebunden ist oder ob sie in verschiedenen Milieus unterschiedlich definiert ist (vgl. Koppetsch / Maier 2001: 28). Ihrer weitergehenden Frage, ob sich hegemoniale Männlichkeit in unterschiedlichen Milieus je verschieden manifestiert (vgl. ebd.), kann zunächst mit den Gedanken zur Singularität der hegemonialen Männlichkeit begegnet werden. Von einer Singularität auf globaler Ebene soll in dieser Arbeit an Meuser und Scholz anschließend zwar nicht ausgegangen werden, doch sind unterschiedliche hegemoniale Männlichkeiten nicht in unterschiedlichen Klassen, sondern vielmehr auf unterschiedlichen Machtfeldern anzutreffen. Ein obligatorisches Merkmal der hegemonialen Männlichkeit bleibt weiterhin, dass sie der herrschenden Klasse zuzuordnen ist. Manifestationen der hegemonialen Männlichkeit im Sinne ihrer Wirkung als generatives Prinzip sind jedoch im Anschluss an Meusers Ansatz in allen Klassen und Milieus zu finden. Damit knüpft die zugrunde liegende Hypothese dieser Arbeit direkt an diese Auslegung der Frage von Koppetsch und Maier nach verschiedenen Manifestationen in unterschiedlichen Milieus an. Koppetschs und Maiers Annahmen zur Rolle der Leitbilder von Männlichkeit und Weiblichkeit kann sich ebenso angeschlossen werden. Sie gehen davon aus, dass diese Leitbilder eine wichtige Rolle als Legitimations- und Deutungsressourcen bei den Aushandlungsprozessen privater Beziehungen darstellen (vgl. Koppetsch / Maier 2001: 30). Sie zeigen schließlich auf, dass der Anspruch daran, die idealen Leitbilder der Geschlechterverhältnisse zu verkörpern, nicht aufgegeben wird, auch wenn die Alltagspraxis von dieser Performanz deutlich abweicht (vgl. Koppetsch / Maier 2001: 39f.). Wenngleich Koppetsch und Maier hier durchaus differenziertere Ideale zugrunde legen, so bestätigt dies doch Meusers Annahme vom Ideal der hegemonialen Männlichkeit als generativem Prinzip.70 Dieser dezidiert intersektionale Ansatz soll über die benannten theoretischen Ansätze hinaus verfolgt werden. Er vermag sowohl die Klassen- als auch die

70 Meusers Annahme müsste mit Koppetsch und Maier jedoch auf das traditionale und das konservativ-gehobene Milieu beschränkt werden (vgl. Koppetsch / Maier 2001: 30, 40). In dieser Arbeit soll die Hypothese jedoch nicht von vornherein derart eingeschränkt werden, weshalb die Annahme der hegemonialen Männlichkeit als generatives Prinzip weiterhin übergreifend für alle Klassen gelten soll.

Interdependenzen von Geschlecht und Klasse

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Geschlechtszugehörigkeit zu berücksichtigen, womit zwei der zentralen Hypothesen dieser Arbeit überprüft werden können. Petra Frerichs und Margareta Steinrücke ließen sich in ihrer Ende der 1990er Jahre durchgeführten Untersuchung zu Klasse und Geschlecht (vgl. Frerichs 1997; Steinrücke 2005) von drei Hypothesen leiten: 1. Der Klassenhypothese, der zufolge die Klassenzugehörigkeit, unabhängig von bzw. quer zum Geschlecht, die Lebenschancen und Verhaltensmöglichkeiten entscheidend bestimmt; 2. der Geschlechtshypothese, der zufolge die Geschlechtszugehörigkeit dafür entscheidend ist, bzw. der zufolge Frauen aufgrund ihrer stellungsspezifischen Gemeinsamkeit »die Unterschicht in jeder Klasse« bilden (wie Regina Becker-Schmidt […] das einmal treffend ausgedrückt hat); 3. die Klassengeschlechtshypothese, der zufolge jede Klasse und Klassenfraktion ihre eigenen Vorstellungen und Realisierungsformen von Männlichkeit und Weiblichkeit und von Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern hat […]. (Steinrücke 2005: 155; H. i. O.)

Die These der vorliegenden Arbeit, dass sich alle Männlichkeiten unabhängig von ihrer sozialen Lage am Ideal der hegemonialen Männlichkeit orientieren, kann also auch mit der Geschlechtshypothese der beiden Forscherinnen beschrieben werden. Die weiterführende These, dass die Männlichkeiten sich zwar an diesem Ideal orientieren, sie ihre Geschlechtlichkeit jedoch in Abhängigkeit ihrer jeweiligen Klassenzugehörigkeit anders konstituieren, ist wiederum in der Klassengeschlechtshypothese enthalten. Dementsprechend können die Annahmen von Frerichs und Steinrücke unterstützend herangezogen werden, um die zugrundeliegenden Thesen an Jelineks Prosatexten umfassend zu überprüfen. Anhand der Ergebnisse dessen lassen sich dann auch Aussagen über die Form der in den Texten eventuell enthaltenen Patriarchatskritik Jelineks treffen.71

71 Bestätigt sich entgegen der Annahme nur die Klassenhypothese, so müsste primär von einer Kapitalismuskritik ausgegangen werden. Die Patriarchatskritik wäre dann eher als sekundäres Ziel der spezifischen Figurenkonzeption einzuordnen.

Methodologie

Die kognitiven Theorien machen innerhalb der Literaturwissenschaft die jüngste Phase der literaturtheoretischen Auseinandersetzung mit Figuren aus. Im deutschsprachigen Raum sind dessen prominenteste Vertreter Ralf Schneider, Fotis Jannidis und Jens Eder (vgl. Jappe 2012: 5). Sie alle sehen den Text mitsamt seinen Figuren als Teil eines Kommunikationsprozesses, wobei sie alle große Aufmerksamkeit auf die Rezeption legen. Letztlich verfolgen sie jedoch jeder für sich unterschiedliche Schwerpunkte. Schneider (2000) interessiert sich in erster Linie dafür, ob und wie Figuren bekannten Personenoder Figurenkategorien zugeordnet werden können. Dabei orientiert er sich vornehmlich an einer empirisch ausgerichteten Rezeptionsforschung. Dagegen bemüht sich Jannidis den_die von der Autor_in intendierte_n Leser_in zu erfassen und richtet seine Arbeit daher auf die Theorie der ›Modell-Leser‹ (vgl. Jannidis 2004: 237). Er legt im Gegensatz zu Schneider große Aufmerksamkeit auf die darstellerischen Aspekte der Figur – geht jedoch auch darüber hinaus, indem er den Zusammenhang von Textinformationen und Leserwissen untersucht. Während Schneider und Jannidis sich auf eine bestimmte Fragestellung fokussieren, möchte Eder mit seiner Arbeit einen umfassenderen Beitrag zur integrativen72 Figurentheorie leisten, welcher es sich zum Ziel gesetzt hat, erstmals eine grundlegende und umfassende Systematik zur Figurenanalyse anzubieten. Er versteht Figuren als fiktive Wesen und damit als kommunikative Artefakte, welche »durch kommunikative Handlungszusam72 Eder ist der Auffassung, dass es ob der zunehmenden Interdisziplinarität im Bereich der Figurenforschung der systematischen Verknüpfung der verschiedenen Ansätze bedarf: »Erstens gilt es, die Forschungsergebnisse zu verschiedenen Einzelthemen – von der Ontologie bis zur Typologie der Figur – miteinander zu verknüpfen. Zweitens sollen die konkurrierenden Forschungsansätze miteinander in Verbindung gebracht werden, damit Argumente und Erkenntnisse ausgetauscht werden können. Und drittens ist es erforderlich, Untersuchungen aus Filmtheorie, Literaturwissenschaft und weiteren Disziplinen zusammenzuführen. Aus dem Verbinden und Vergleichen, Prüfen und Modifizieren, Verwerfen und Ergänzen der Forschungsergebnisse kann sich eine neue, adäquatere Theorie ergeben« (Eder 2008: 58).

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Methodologie

menhänge erschaffen werden, in denen fiktionale Texte hergestellt und rezipiert werden« (Jappe 2012: 9). Das Reden über bzw. die Analyse von Figuren konzentriere sich immer auf bestimmte Ebenen der kommunikativen Handlungen. Eder entwickelt daher ein Modell, das es vermag, die Aussagen über Figuren auf unterschiedlichen Ebenen zu untersuchen. Dies ist wichtig für die vorliegende Analyse, weil das Zusammenspiel der verschiedenen Ebenen notwendig ist, um die Figuren in Gänze zu erfassen und so Aussagen über Jelineks spezifische Figurenkonzeptionen und die darin enthaltene Gesellschaftskritik treffen zu können. Eine Art Vorwurf an die feministische Literaturwissenschaft bzw. die Gender Studies ist die Tendenz, die Fragen nach den inhaltlichen Aspekten gegenüber der Frage »nach den zum Tragen kommenden Darstellungsverfahren, also dem ›Wie‹, einseitig zu privilegieren« (Gymnich 2010: 267). Eders Modell stellt hingegen eine Möglichkeit dar, sowohl die inhaltlichen als auch die darstellerischen Aspekte und soziokulturellen Kontexte von Literatur einer genderorientierten Analyse zu unterziehen. Das Modell eignet sich außerdem für die vorliegende Untersuchung, weil Eder unterschiedliche Arten von Rezeptionsformen unterscheidet, während Schneider und Jannidis auf je eine Rezeptionsform fokussieren. Das Ziel der Arbeit, Jelineks Art der Patriarchatskritik in den Männlichkeitskonzepten ihrer Figuren sichtbar zu machen, verlangt nach der Analyse der Figuren im Sinne einer idealen Rezeption (vgl. Arten von Rezeptionsformen in dieser Arbeit), die Eders Ansatz bietet. Eders Modell wurde in erster Linie entwickelt, um Filmfiguren zu untersuchen. Eder selbst proklamiert allerdings an unterschiedlichen Stellen seiner Arbeit die Übertragbarkeit des Modells auch auf Figuren außerhalb des Filmgenres (vgl. Eder 2008: 14, 131, 153). Die Anwendbarkeit seines Modells auf literarische Figuren wird unter der Voraussetzung einiger Modifikationen darüber hinaus in Characters in Fictional Worlds postuliert (vgl. Eder / Jannidis / Schneider 2010: 50). Auch Lilith Jappe und Gerhard Lüdeker halten es für wahrscheinlich, dass die Übertragung auf die Analyse fiktionaler Narrative anderer Medien möglich und interessant sein könnte (vgl. Jappe 2012: 8; Lüdeker 2009: 1). Offenbar gibt es trotz der außerordentlichen Anwendungsorientierung des Modells bis heute keine ausführliche Anwendung von Eders Modell auf narrative Texte.73 Diese Arbeit stellt daher eine Erprobung des Analysemodells auf Figuren in Erzähltexten dar. Nach einer ausführlichen Rezeption des methodischen Konzepts zeichnet sich ab, dass nahezu alle74 Facetten 73 Abgesehen von etwaigen existenten, aber unveröffentlichten Studienabschlussarbeiten. 74 Die Wahrnehmung der Figur durch die Rezipierenden beim ersten Auftritt beispielsweise ist nicht so einfach vom Medium Film auf den Erzähltext übertragbar, weil hier der erste Gesamteindruck einer Figur nicht ›auf einen Blick‹ erfolgen kann.

Zum kognitionswissenschaftlichen Ansatz

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seines Modells ohne größere Umstände auf Literatur anwendbar sind. So können selbst zunächst schwieriger übertragbar erscheinende Aspekte der Figurenanalyse wie die Beschreibung von Darstellungsmitteln (Kameraeinstellungen, Mimik, Gestik oder Kostüme) auf die Rezeption von literarischen Figuren übertragen werden, da hier vor allem die Erzählinstanz und andere Figuren diese vermittelnde Position einnehmen. Eder definiert Figuren als wiedererkennbare fiktive Wesen mit einem Innenleben, genauer : mit der Fähigkeit zur Intentionalität. Ihre Merkmalskonstellation muss demnach so spezifisch sein, dass man sie innerhalb der dargestellten Welt – auf welche Weise auch immer – identifizieren, wiedererkennen und von anderen Wesen unterscheiden kann. Dabei muss zu ihren Merkmalen die Fähigkeit zu objektbezogenen inneren Vorgängen wie z. B. Wahrnehmungen oder Emotionen gehören. (Eder 2008: 173)

Wiedererkennbarkeit, die Fähigkeit zur Intentionalität sowie objektbezogene innere Vorgänge sind demnach also grundlegende Merkmale einer Figur nach Eder. Diese Definition deckt sich mit dem Figur-Begriff innerhalb der vorliegenden Arbeit. Auch Jelineks Figuren erfüllen diese Kriterien, womit die grundlegendsten Voraussetzungen für die Übertragbarkeit des Modells auf die epische Prosa Jelineks erfüllt sind. Inwiefern das Modell auch in anderen Hinsichten geeignet ist, die zentralen Hypothesen der Arbeit zu prüfen, wird im Abschnitt zum Analysewerkzeug geschildert. Am Ende der Arbeit gilt es, abschließend zu evaluieren, ob Eders Modell solch einer Übertragung auf literarische Texte umfassend standhält. In diesem Kapitel wird zunächst erläuternd auf die kognitionswissenschaftliche Grundlage eingegangen. Im Anschluss daran wird Eders Modell ausführlich beschrieben sowie die Verknüpfung mit den theoretischen Grundlagen der Arbeit veranschaulicht. Hieraus kann letztlich ein Analysewerkzeug zur Untersuchung der Jelinek’schen Figuren entwickelt werden, das die zentralen Hypothesen zu verifizieren oder zu falsifizieren vermag.

I.

Zum kognitionswissenschaftlichen Ansatz

Das Verstehen und Interpretieren von Figuren ist in hohem Maße abhängig von der kulturellen und individuellen Prägung der rezipierenden Person, sowie vom zeitlichen Kontext der Entstehung des Werks und dessen Rezeption (vgl. Eder 2008: 26). Bei einer Figurenanalyse kann der Fokus somit nicht ausschließlich auf den gegebenen Textinformationen liegen, sondern der Schwerpunkt der Betrachtung muss auf die Interaktion der lesenden Person mit dem Text gelegt werden, um adäquate und valide Aussagen über Figuren treffen zu können. Der

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Methodologie

kognitionswissenschaftliche Ansatz in der Literaturwissenschaft bietet die Möglichkeit zur Berücksichtigung dieser Interaktionen. Grundannahme dieses Ansatzes ist, dass bei der Rezeption und dem Verstehen von Texten und somit auch von Figuren Informationen verarbeitet werden. Bezüglich der Strukturen des Textverstehens wird weiterhin angenommen, dass »Leser bei der Rezeption mentale Modelle vom fiktionalen Raum, von den Figuren und von den Geschehensverläufen entwickeln« (Schneider 2010: 74). Die Textinformationen interagieren mit den mentalen Dispositionen (vgl. Eder 2008: 186) der_des Rezipient_in. Es können bei dieser Interaktion einerseits neue Informationen gesammelt und nach und nach mit bestehendem Wissen verbunden werden (bottom up processing). Gleichzeitig leiten andererseits einmal aktivierte Wissensstrukturen die Wahrnehmung neu eintreffender Informationen (top down processing) […]. (Schneider 2010: 74)

Die Wissensbestände sind in größeren Strukturen wie Kategorien, Schemata, Exempla, Prototypen, Stereotypen oder Modellen gespeichert. Erhält der_die Rezipierende beim Lesen nun eine Textinformation, wird diese beispielsweise einem bestimmten Schema zugeordnet und weiteres Wissen aus diesem Schema wird aktiviert. Diese Aktivierung von Weltwissen und die Interaktion zwischen top down und bottom up processing ermöglicht die Bildung von Inferenzen über die explizit gegebenen Textinformationen hinaus (vgl. Schneider 2010: 74). Es gibt nach Eder zwei Wege der Bildung von mentalen Figurenmodellen: Die Typisierung und die Individualisierung. Während die Individualisierung eher dem bottom up processing folgt, verläuft die Typisierung vorwiegend top down. Gibt der Text typentsprechende, nicht widersprüchliche Informationen, ordnen die Rezipierenden die Figur bei der Typisierung relativ schnell in eine bestimmte Kategorie ein; die neu eintreffenden Informationen werden schließlich in diese Kategorie integriert. Die Modellbildung orientiert sich hierbei vorwiegend an bereits vorhandenen Gedächtnisinhalten. Bei der Individualisierung hingegen werden die einzelnen Textinformationen gesammelt, woraus schließlich sukzessive ein Figurenmodell entwickelt wird, welches die Figur nicht in eine bereits vorhandene Kategorie im Gedächtnis einordnet. Die Figur wird als Individuum gesehen und erscheint hierdurch mehrdimensional (vgl. Eder 2008: 229f.). Da jedoch in den wenigsten Fällen alle eintreffenden Informationen über eine Figur in eine bereits existierende Kategorie integrierbar sind und die_der Leser_in ein Modell genauso selten vollständig ohne bestehende Kategorien und Schemata bildet, sind individualisierte Typen eine häufige Zwischenstufe der Figurenmodellbildung: »Eine Typisierung wird angeboten, wird dann aber durch weitere Informationen modifiziert, die nicht genau zum Typus passen« (Eder 2008: 230).

Zum kognitionswissenschaftlichen Ansatz

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Im Rahmen der Analyse wird häufig auf diese hybride Form der Modellbildung zurückgegriffen. Jelineks Figuren erscheinen auf den ersten Blick recht eindimensional und somit leicht einer Kategorie bzw. einem Stereotyp zuzuordnen zu sein. Im Verlauf der Figurenanalyse zeigt sich aber, dass die Charaktere durchaus auch mit individuellen Eigenschaften ausgestattet sind, die einen Bruch mit der Kategorie ausmachen. Wie im Vorausgegangenen bereits angedeutet, bezieht die_der Leser_in bei der Rezeption bereits im Gedächtnis vorhandene Strukturen, in denen Informationen gespeichert sind, in die Bildung der mentalen Figurenmodelle mit ein. Die Wissensstrukturen, die zur Verarbeitung und Einordnung von Informationen über Figuren genutzt werden, sind die gleichen mentalen Dispositionen, die auch zur Verarbeitung und Einordnung von Menschen genutzt werden. Das heißt, Figuren können als »mimetische Analoga zum Menschen« (Eder 2008: 28) verstanden werden.75 Bei der Rezeption von Figuren werden also weitgehend die gleichen kognitiven Strukturen genutzt wie bei der sozialen Wahrnehmung von Personen. Implizite Persönlichkeitstheorien Eders Ausführungen folgend können Figurenmodelle als textgesteuerte Prozesse der sozialen Wahrnehmung verstanden werden (vgl. Eder 2008: 194). Somit können Personenschemata, also Annahmen über physische, psychische und soziale Eigenschaften eines Menschen, sowie diverse Menschenbilder, soziale Kategorien von und alltagspsychologische Theorien über Menschen sowie Rückschlüsse vom Verhalten auf die Persönlichkeit eines Menschen genauso auf Figuren übertragen werden. (Alltags-)psychologische Theorien, auf die Eder und auch Schneider sich beziehen, sind implizite Persönlichkeitstheorien. Diese bieten sich im Rahmen des kognitionswissenschaftlichen Ansatzes besonders an, um die Vorgänge bei der mentalen Modellbildung zu erläutern.76 Vor dem Hintergrund des Gegenstandes dieser Arbeit sei an dieser Stelle speziell eine implizite Persönlichkeitstheorie genannt, mit der Schneider arbeitet: die dichotome Gender-Konstruktion, die Annahme von der Komplementarität der Geschlechter (vgl. Schneider 2000: 176ff.). Die Kategorie Gender beeinflusse die Konstruktion von Figurenkonzeptionen in fiktionalen Texten; die Figuren stünden entweder im Einklang mit binären, polaren Gender-Konstruktionen oder seien diesen widersprechend angelegt. Hierbei seien religiöse, 75 S. hierzu auch Mart&nez 2011, v. a. die Abschnitte zu ›Figur und Person‹ sowie ›Figur als kognitive Konstruktion‹ (Mart&nez 2011: 145ff.). 76 Auch Jannidis (2004: 185ff.) und Mart&nez (2011: 146) heben die Relevanz von ›Alltagspsychologie‹ für die Bildung mentaler Modelle hervor.

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Methodologie

medizinische (psychische und physische) und ökonomische Diskurse an der Ausformung der Frauen- und Männerbilder beteiligt gewesen, weshalb eine weite Verbreitung dieser Wissens- und Bewertungsstrukturen anzunehmen sei (vgl. Schneider 2000: 180). Diese dichotomen Gender-Konstruktionen können jedoch noch weiter expliziert werden. Denn es gibt ein breites Spektrum an akzeptierten Performanzen von Männlichkeit und Weiblichkeit, das sich weiterhin im Rahmen »gängiger gender-Konstruktionen« (ebd.) bewegt; schließlich wird einer Figur oder Person bei einigen Devianzen nicht zwangsläufig pauschal die Männlichkeit bzw. Weiblichkeit abgesprochen. Dies wird in der Analyse noch konkreter sichtbar werden.77 Figurenmodelle – eine hybride Konstruktion Fiktive Figuren ausschließlich als Analoga zum Menschen anzusehen, würde zu kurz greifen (vgl. Eder 2008: 191). Die Figurensynthese ist in der bereits erwähnten sozialen Wahrnehmung, »aber auch in medienbezogenem Wissen und kommunikativen Zielen [fundiert]« (Eder 2008: 227). Demgemäß sei ein Figurenmodell vielmehr eine »hybride Konstruktion« (ebd.). Figuren werden folglich nicht ausschließlich als Menschen mit verschiedenen Eigenschaften und Verhaltensweisen betrachtet, sondern es wird auch das spezifische Wissen über den Mediendiskurs und individuelle Produktionsbedingungen mit in die Modellbildung einbezogen. Beispielsweise ist es möglich, in einer Figur eine indirekte Bedeutung wahrzunehmen, sie folglich als Symbol oder medialen Typus zu deuten oder Schlüsse auf ihre kommunikativen Kontexte zu ziehen, indem auch ihre Entstehungsbedingungen in die Figurenanalyse miteinbezogen werden. Sobald beispielsweise bekannt ist, dass Elfriede Jelinek die Autorin der analysierten Texte ist, entstehen bestimmte Assoziationen zu den Figuren. Jelinek gilt als feministische Autorin, die sich kritisch mit den Herrschaftsverhältnissen 77 Neben impliziten Persönlichkeitstheorien werden im Zuge der Thesenüberprüfung auch psychoanalytische Interpretationen herangezogen, sofern sie plausibel am Text zu belegen sind. Denn es ist kein Widerspruch, einen kognitionswissenschaftlichen Ansatz mit psychoanalytischen Interpretationen zu verbinden. Eders Modell soll als flexible Heuristik verstanden werden, die sich in verschiedenste Richtungen als anknüpfungsfähig erweisen will. Somit fordert das Modell konsequenterweise keine spezifische theoretische Herangehensweise an die Figuren. Es soll vielmehr an das eigene Erkenntnisinteresse angepasst werden. Psychoanalytische Ansätze können – gerade im Hinblick auf die ablaufenden bottom up-Prozesse – sogar recht gut in dieses kognitionswissenschaftlich fundierte Modell integriert werden. Bereits bestehende Wissensbestände, beispielsweise zu Freuds Gedanken zum Penisneid oder Lacan’sche Ansätze zur Kastrationsangst oder zum Phallus insgesamt, können – gerade wenn sie an einigen Stellen so plakativ daherkommen wie bei Jelineks Klavierspielerin – leicht zentraler Bestandteil der mentalen Modellbildung einer Figur werden.

Eders Modell zur Figurenrezeption

109

im Patriarchat auseinandersetzt. Ganz gleich wie die Kritik im Einzelnen aussieht, ob sie vor den gesellschaftlichen Verhältnissen resigniert und ihre Kritik daher in der bloßen Abbildung der Verhältnisse sieht oder ob sie die Verhältnisse durch Überzeichnung und Brechung explizit angreift – so oder so fließt dieses Wissen über die Autorin unweigerlich in die Analyse der Figuren ein, womit es die Entstehung des Figurenmodells beeinflusst. Neben dem Wissen um die Autorin nimmt im Medium des Romans bzw. des Erzähltextes die Erzählinstanz eine zentrale Rolle ein. Sie beeinflusst die vermittelten Informationen maßgeblich. Die Figuren sind hier nicht direkt zugänglich, sondern alle inneren Vorgänge und äußerlichen Attribute werden durch die Erzählinstanz vermittelt. Diesen Umstand gilt es unbedingt zu berücksichtigen, wenn die Figuren bzw. Figurenmodelle analysiert werden. Die Aussagen einer unzuverlässigen Erzählinstanz beispielsweise sind anders zu bewerten als die einer zuverlässigen. Die medialen Dispositionen der_des Rezipierenden – etwa das Wissen über die Autorin oder über das Erzählen – beeinflussen daher die Vorstellung von einem fiktiven Wesen zusätzlich und unterscheiden sich in diesem Punkt von der sozialen Wahrnehmung realer Personen (vgl. Eder 2008: 227). Doch auch »bei einer Figurensynthese mit hohem Input an medienspezifischen Faktoren besteht […] eine fundamentale und irreduzible Analogie zur sozialen Wahrnehmung realer Personen, sonst könnte gar kein Figurenmodell gebildet werden« (ebd.). Abschließend lässt sich festhalten: Ohne die Rekonstruktion der Wahrnehmung von Figuren und das Aufdecken der Relevanz der mentalen Dispositionen der Rezipierenden durch den kognitionswissenschaftlichen Ansatz könnte nicht über Figuren gesprochen werden, wie es in den meisten Interpretationen und Abhandlungen über Figuren getan wird. Erst die Sichtbarmachung der Prozesse, die bei der Rezeption von Figuren ablaufen, macht es möglich, strukturierte und fundierte Analysen durchzuführen. Denn die mentalen Repräsentationen fiktiver Wesen, die mentalen Figurenmodelle also, bilden den Kern jeder Figurenanalyse (vgl. Eder 2008: 80f.). Welche unterschiedlichen Aussagen über diese Figurenmodelle getroffen werden können und welche Kategorien hierfür sinnvoll sind, wird im Abschnitt zum Modell der Figurenrezeption ausführlich beschrieben.

II.

Eders Modell zur Figurenrezeption

1.

Arten von Rezeptionsformen

Ein elementarer Aspekt zur Strukturierung der Figurenanalyse ist das Ziel: Je nach Ziel der Analyse ergeben sich unterschiedliche Rezeptionsformen und dementsprechend auch unterschiedliche Fragestellungen zu den Figuren. Eder

110

Methodologie

macht drei unterschiedliche Rezeptionsformen aus: die empirische, die intendierte und die ideale Rezeption. Wird untersucht, wie die Figuren von den Rezipient_innen zu einer bestimmten Zeit wahrgenommen wurden oder werden, dann spricht Eder von der empirischen Rezeption. Wenn der Fokus darauf gelegt wird, wie die Produzent_innen des Textes die Figuren ›gemeint‹ haben, wie die Figur also erlebt werden ›sollte‹, dann spricht Eder von der intendierten Rezeption. Steht jedoch im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses, wie die Figur unter Berücksichtigung kommunikativer Regeln und Handlungsziele erfasst werden sollte, so spricht Eder von der idealen Rezeption (vgl. Eder 2008: 113). Ohne diese Unterscheidungen zwischen empirischer, intendierter oder idealer Rezeption könnte die Thesengenerierung ins Uferlose geraten, weil die Thesen ohne klare Zielformulierung mehrere Bedeutungen erlangen würden (vgl. Eder 2008: 119f.). Für die Analyse muss also im Vorhinein festgelegt werden, welches Ziel verfolgt wird. Je nach Erkenntnisinteresse eignet sich eines der drei Rezeptionsphänomene am besten. Hieraus folgt schließlich die Auswahl spezifischer Verfahrensmodelle zur Figurenanalyse. Besteht Interesse an einer empirischen Figurenrezeption, so liege es nahe, die »avanciertesten wissenschaftlichen Rezeptionstheorien mit Informationen über die tatsächlichen Rezipienten, ihre Mentalität und ihre impliziten Alltagstheorien zu verbinden« (Eder 2008: 113). Liegt der Fokus auf einer intendierten Rezeption, so ist es nach Eder ratsam, das »implizite, alltagstheoretische Rezeptionsmodell« der Produzierenden zu ermitteln und herauszufinden, »von welchen Eigenschaften der Zielgruppe sie ausgingen« (Eder 2008: 114). Hinsichtlich einer idealen Rezeption sollten sowohl die Intention der Produzenten und ihre impliziten Vorstellungen über die Zielgruppe als auch die tatsächlichen Rezeptionsvoraussetzungen dieser Zielgruppe berücksichtigt und auf Grundlage der Kommunikationssituation und ihrer Gelingenskriterien miteinander in Verbindung gebracht werden. (ebd.)

Was Eder hier für eine ideale Rezeption sehr abstrakt beschreibt, bringt er an einer anderen Stelle seiner Arbeit noch einmal praxisnah auf den Punkt: An einem Beispiel veranschaulicht er, wie die Analyse eines Films auf eine ideale Rezeption zielen kann: Der_Die Analysand_in »sieht seine Interpretation als Vorschlag an andere Zuschauer, den Film und seine Hauptfigur auf eine bessere, interessantere, reichere Weise zu erleben« (Eder 2008: 533). Genau das soll in dieser Arbeit geschehen: Es wird das Ziel einer idealen Rezeption verfolgt. Die vorliegende Interpretation der Jelinek’schen Prosatexte und ihrer Figuren ist als Vorschlag einer alternativen Lesart zu verstehen; als Angebot, die Werke Jelineks in einem neuen Licht zu betrachten, die Herrschaftsverhältnisse noch detail-

111

Eders Modell zur Figurenrezeption

lierter zu beleuchten und so die Gendersensibilität für Jelineks Schaffen weiter auszubauen.

2.

Die Uhr der Figur

Neben den verschiedenen Formen der Figurenrezeption sind die von Eder ausgemachten Kategorien von Figuren das zweite grundlegende Strukturelement der Figurenanalyse: die Figur als fiktives Wesen, die Figur als Symbol, die Figur als Symptom und die Figur als Artefakt. Eder gewinnt diese Kategorien, indem er Konzepte verschiedener Figurentheorien modifiziert, integriert, ergänzt und zu einem umfassenderen System verbindet (vgl. Eder 2008: 129f.). Diese Herleitung soll allerdings nicht Bestandteil dieser Arbeit sein. Was Eder letztlich erhält, ist Die Uhr der Figur, ein Instrument zur Analyse von Figuren, welches es verspricht, die gesamte Vielfalt von Figuren zu erfassen (s. Abb. 3). Analyse der Gestaltung

Analyse von Ursachen und Wirkungen sowie soziokultureller Kontexte Symptom

Artefakt

Symbol

Fiktives Wesen

Analyse indirekter Bedeutungen

Analyse von Körper, Persönlichkeit und Sozialität

Abb. 3: Das Grundmodell: Die Uhr der Figur (Eder 2008: 141)

Auf den vier Kategorien des Modells liegt im Folgenden der Fokus. Die Figur als fiktives Wesen, diegetische Figuren also, bilden den Standardfall; die Rezeption dieser Figuren fokussiert sich dabei auf die mentale Modellbildung. Bei artifiziellen Figuren dagegen ist die Figur als fiktives Wesen nur schematisch wahrnehmbar, es steht die Artefakt-Ebene im Vordergrund. Es kommt hierbei eher auf die Darstellungsweise der Figuren an. Für symbolische Figuren dagegen ist es von besonderer Relevanz, welche Bedeutung sie vermitteln. Bei symptomatischen Figuren schließlich werden die Kontextbezüge zur außermedialen Realität beleuchtet, bei diesem Figuren-Typus ist auch die Ebene der Figur als fiktives Wesen nicht unerheblich, da sie ihr als Basis zugrunde liegt (vgl. Eder 2008: 144f.). Eine Figurenanalyse kann ihren Schwerpunkt nun auf einen der vier Typen legen, muss dies aber nicht tun. Es ist durchaus möglich, die Kategorien miteinander zu verbinden. Es gibt auch vielfältige Mischformen (vgl. Eder 2008: 146).

112

Methodologie

Die Symbolik und Symptomatik von Figuren wird beispielsweise häufig gemeinsam behandelt (vgl. Eder 2008: 151). Die Handlung, die Figurenkonstellation und die Motivation sind zentrale Kontexte der Figurenanalyse, die zugleich die Verknüpfung der vier Kategorien deutlich machen. Während die Figurenkonstellation die Figuren in Beziehung zu anderen Charakteren setzt und damit durch Handlungsfunktionen, Kontraste oder Interaktionen die Relevanz der Figur als Symbol beeinflusst, bildet die Motivation der Figuren ihren Persönlichkeitskern als fiktives Wesen und zugleich die Schnittstelle mit der Handlung (vgl. Eder 2008: 147f.). Aufgrund des engen Bezugs dieser Kontexte zu den Figurentypen werden diese Beziehungen im Anschluss an die Figurentypen noch genauer beleuchtet. In den folgenden Abschnitten soll daher in Anschluss an Eder danach gefragt werden, welche Grundstrukturen Figuren als fiktive Wesen, als Artefakte, Symbole und Symptome haben (vgl. Eder 2008: 150). Oder unter Berücksichtigung der Rezeptionsebene: »Welche Arten von Eigenschaften und Relationen können Figuren durch Rekonstruktion der empirischen, intendierten oder idealen Rezeption zugeschrieben werden?« (ebd.). 2.1

Die Figur als fiktives Wesen

Zentrale Fragen der Kategorie der Figur als fiktives Wesen, welches als die grundlegendste der vier Kategorien gelten kann, sind: Was ist die Figur? Welche Eigenschaften und Beziehungen hat sie als Wesen in der fiktiven Welt? Es geht also in erster Linie um die physischen, psychischen und sozialen Merkmale, sowie um das Verhalten der Figur. Diese Merkmale bilden den Inhalt des Figurenmodells. Die Figur wird hier verstanden als Teil einer dargestellten Welt bzw. Geschichte (vgl. Eder 2008: 126). Stets beeinflusst durch die eigenen sozialen und mentalen Dispositionen kann anhand der vier Faktoren Körper, Psyche, Sozialität und Verhalten die Analyse der Figur als fiktives Wesen durchgeführt werden. Da die Analyse dieser Arbeit die Männlichkeitskonstruktionen der Jelinek’schen Figuren untersucht, sind alle vier Faktoren zu berücksichtigen: Für die Konstruktion einer Männlichkeit sind sowohl die Körperlichkeit als auch die Psyche von Bedeutung. Insbesondere die Sozialität und das Verhalten bzw. der Habitus bieten zahlreiche Anknüpfungspunkte für die Sichtbarmachung der spezifischen Männlichkeitskonzepte. Aufgrund der hohen Komplexität und Fülle an Eigenschaften von Figuren schlägt Eder zwei Verfahren vor, die die Analyse übersichtlicher zu gestalten vermögen: »erstens die Suche nach besonders zentralen, auffälligen, wirkungsmächtigen Eigenschaften und zweitens die Zuordnung der Figur zu einem bestimmten Typus« (Eder 2008: 308). Auch hierbei nimmt er Bezug auf die vier

Eders Modell zur Figurenrezeption

113

Faktoren Körperlichkeit, Psyche, Sozialität und Verhalten. Dementsprechend macht er unterschiedliche körperliche (z. B. Sexualität, Krankheit, Deformation, Kraft etc.), psychische (z. B. Motivation, Emotion, mentale Fähigkeiten etc.), soziale (z. B. soziale Rolle, Status, Wertsysteme etc.) und verhaltensbezogene (z. B. prosoziale und antisoziale Interaktion) Eigenschaften aus, auf die sich bei der Analyse fokussiert werden kann. Mit solch einer Übersicht über Eigenschaften können auch Ausblendungen von bestimmten Eigenschaften und deren Bedeutung aufgegriffen werden. Kommen bestimmte Eigenschaften gar nicht vor, so hat dies genauso Konsequenzen für die Interpretation der Lektüre (vgl. Eder 2008: 183f.). Die vier Eigenschaftskategorien sind außerdem von Relevanz hinsichtlich der Bildung von Figurentypen. Eder macht Körpertypen, Persönlichkeitstypen und soziale Typen als übergeordnete Kategorien aus. Besonders die sozialen Typen werden in der Analyse dieser Arbeit von Bedeutung sein, da die Merkmale dieser Typen beispielsweise auch an das Geschlecht und die soziale Lage geknüpft sind (vgl. Eder 2008: 308f.). Es lässt sich festhalten, dass sich die mentalen Figurenmodelle, welche beeinflusst sind durch die mentalen Dispositionen der Rezipierenden, bei der Analyse der Figuren als fiktive Wesen an die soziale Wahrnehmung von Personen anlehnen. Daher ist es auch sinnvoll, bei der Analyse der Eigenschaften und Beziehungen von Figuren Modelle, Konzepte und Theorien zu nutzen, die auf Personen ausgerichtet sind (beispielsweise Alltagspsychologie, Persönlichkeitstheorien, sozialwissenschaftliche Theorien, aber auch philosophische Theorien oder religiöse und mythische Ideen (vgl. Eder 2008: 305)). So können Figuren adäquat als Teil der dargestellten Welt und Geschichte analysiert werden.

2.2

Die Figur als Artefakt

Die Kategorie der Figur als Artefakt ist besonders relevant für die Untersuchung der Darstellung der Figuren, nämlich für das Wie der Figurendarstellung (vgl. Mart&nez / Scheffel 2005). Die zentrale Frage ist demnach: Wie wird die Figur dargestellt und welche ästhetischen Strukturen hat sie? Diegetische Eigenschaften, wie sie im vorherigen Abschnitt zur Figur als fiktives Wesen beschrieben wurden, können Figuren sich im Rahmen der Erzählung auch gegenseitig geben. Hier liegt der Unterschied zu den ArtefaktEigenschaften. Denn diese beziehen sich auf die spezifische Struktur der diegetischen Eigenschaften. Es wird also eine Metaebene angesprochen, zu der die Figuren selbst keinen Zugang haben (vgl. Eder 2008: 373). Für diese spezifische Struktur des Figurenmodells macht Eder acht weitgehend dichotome Aspekte

114

Methodologie

aus.78 Die einzelnen Elemente werden hier nicht spezifiziert, werden bei der Analyse jedoch an geeigneter Stelle Berücksichtigung finden. Hier soll nur ausführlicher Bezug zum Prozess der Typisierung und Individualisierung genommen werden.79 Individualisiert ist eine Figur nach Eder, »wenn sie keinem Typus entspricht, sondern dem allgemeinen Bild vom menschlichen Individuum mit seiner einzigartigen, vielfältigen Konstellation körperlicher, psychischer und sozialer Eigenschaften« (Eder 2008: 376). Eine Figur ist dagegen umso mehr typisiert, »je mehr ihre Eigenschaftskonstellation einem verbreiteten Typus entspricht« (Eder 2008: 375). Dabei macht Eder vier unterschiedliche Typen aus: – inhaltliche Typen, die sich durch die spezifische Konstellation ihrer Eigenschaften auszeichnen; – strukturelle Typen, deren Position und Funktion innerhalb der Erzählung von Belang sind (beispielsweise Held, Protagonist, Gegenspieler); – soziale Typen, welche eher aus dem Umgang mit der sozialen Realität stammen (beispielsweise Metzger, aufopferungsvolle Mutter); – und mediale Typen, deren Herkunft wiederum auf den Umgang mit medialen Artefakten zurückzuführen ist (beispielsweise Cowboy, Mad Scientists) (vgl. Eder 2008: 376). Aus dieser Unterscheidung ergibt sich jedoch keine klare Abgrenzung der Typen. Nach Eder kann eine Figur durchaus mehreren Arten von Typen zugleich entsprechen.

78 Die Struktur des Figurenmodells setzt sich zusammen aus: Umfang und Detailliertheit; Selektivität, Dimensionalität und Fokussierung; Kohärenz und Konsistenz; Typisierung und Individualisierung; Einfachheit und Komplexität; Modalität, Medialität und Perspektivität; Realismus und Artifizialität sowie Kontextualisierung und Entwicklung. Ausgehend hiervon listet Eder zahlreiche Artefakt-Eigenschaften auf: Es handelt sich um polare Gegensatzpaare zu jedem dieser strukturellen Merkmale: typisch – individualisiert, realistisch – nicht-realistisch, komplex – einfach, kohärent – inkohärent, dynamisch – statisch, transparent – opak, geschlossen – offen, ganzheitlich – fragmentarisch, flach – rund, eindimensional – mehrdimensional, »buchstäblich« – symbolisch, psychologisch – transpsychologisch (vgl. Eder 2008: 375). 79 Hierbei ist anzumerken, dass die Prozesse der Individualisierung und Typisierung, die im Kontext der mentalen Modellbildung beschrieben wurden, von diesen Prozessen der Individualisierung und Typisierung zu unterscheiden sind. Im Abschnitt zum kognitionswissenschaftlichen Ansatz bezogen sich besagte Prozesse auf die Informationsverarbeitung des Menschen bei der Wahrnehmung und mentalen Modellbildung einer Figur. In diesem Abschnitt beziehen sich diese Prozesse auf die Darstellung und Konzeption einer Figur. Sie ähneln sich somit zwar in ihrer Struktur, beschreiben jedoch mit den gleichen Bezeichnungen unterschiedliche Phänomene.

Eders Modell zur Figurenrezeption

115

Außerdem ist bei typisierten Figuren zwischen Stereotypen, Archetypen und funktionellen Typen zu unterscheiden. Unter Stereotypen versteht Eder »soziale Schemata […], die der Wirklichkeit nicht entsprechen und die soziale Machtverteilung beeinflussen, indem sie die Realität vereinfachen oder gänzlich verzerren« (Eder 2008: 379). Er fügt einer neutralen Bedeutung des Stereotyps als kognitive Einheit somit noch eine ideologische Komponente hinzu, wodurch er Stereotype letztlich als »ideologisches soziales Schema« (Eder 2008: 379) begreift. Archetypen sind Figuren, die genau genommen keinen spezifischen Figurentypus mit bestimmter Eigenschaftskonstellation bilden, sondern sie nehmen eine bestimmte Funktion in der Handlung ein oder erfüllen die Steuerung der Anteilnahme. Nach Eder muss für die Beschreibung der Archetypen nicht auf die Archetypentheorie von Jung zurückgegriffen werden, sondern es kann »darunter einfacher ein[…] Figurentyp [verstanden werden], dessen Eigenschaftskonstellation transhistorisch und transkulturell verbreitet ist« (Eder 2008: 378; H. i. O.). Unter funktionellen Typen versteht Eder Figuren, die schnell erfasst werden können. Es genügt, sie kurz »anzuspielen« (ebd.). So kann die Erzählung sich beispielsweise schneller auf zentrale Handlungsstränge fokussieren. Nebenrollen werden auch häufig durch funktionelle Typen besetzt, weil sie nicht so viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Die Kategorie der Figur als Artefakt befasst sich also mit dem Gemachtsein der Figur sowie mit der Figur in Relation zu ihrer Darstellung und Vermittlung (vgl. Eder 2008: 138). Die womöglich zentralste Artefakt-Eigenschaft für die vorliegende Analyse bildet die individualisierte bzw. typisierte Figur. Je nach Konstellation dieser Artefakt-Eigenschaften ergeben sich schließlich verschiedene Figurenkonzeptionen, die je nach spezifischer Konstellation unterschiedliche Wirkungen erzielen können. Figuren, die Jelinek selbst als »Pappkameraden« (Jelinek in Wendt 1992) oder »Prototypen« (Jelinek 1984: 16) bezeichnet, sind prädestiniert dafür, beispielsweise als soziale Typen Eingang in die Analyse zu finden. Die Annahme, die der Arbeit zugrunde liegt, ist jedoch, dass solch eine eindimensionale Rezeption der Figuren denselben nicht gerecht wird. Daher werden in der Analyse stets auch die Individualisierungsprozesse der Figuren in den Blick genommen. 2.3

Die Figur als Symbol

Die Analyse der Figur als Symbol ist auf die oben dargestellten Aspekte angewiesen. Die vier Faktoren, die zur Analyse der Figur als fiktives Wesen ausgemacht wurden – Körperlichkeit, Psyche, Sozialität und Verhalten – sind hier genauso von Belang wie die Darstellungsweise und die Artefakt-Eigenschaften

116

Methodologie

der Figur. Die Motivation und Konstellation, auf die später noch eingegangen wird, bilden außerdem die Grundlage für die Untersuchung der Figur als Symbol und als Symptom (vgl. Eder 2008: 723). Eder macht vier unterschiedliche Formen von Bedeutung aus: 1. eine referentielle Bedeutung in Form einer dargestellten Welt und ihrer Bewohner ; 2. eine explizite Bedeutung in Form allgemeiner Botschaften, die durch den Film auf offensichtliche Weise vermittelt werden, etwa indem Figuren eine »Moral von der Geschicht’« aussprechen; 3. eine implizite Bedeutung in Form abstrakter Themen, die ebenfalls beabsichtigt, aber nicht so offensichtlich ist; sowie 4. eine unbeabsichtigte, symptomatische Bedeutung, die zu den anderen in Spannung steht und auf individuelle oder soziokulturelle Ursachen zurückgeführt wird. (Eder 2008: 523; H. i. O.)

Die explizite und implizite Bedeutung betreffen die Ebene der Figur als Symbol; es geht hierbei also um indirekte und übergeordnete Bedeutungen. Eder verwendet den Begriff Symbol somit in einem weiteren Sinne, sodass eine Figur als Symbol gedeutet wird, wenn sie Zeichen, Sinnbild oder Ausdruck für etwas anderes ist (vgl. Eder 2008: 529). Die zentralen Fragen dieser Kategorie lauten demnach: Wofür steht die Figur? Welche indirekten Bedeutungen vermittelt sie? Welche Schlüsse auf übergeordnete Bedeutungen lösen die Figuren bei den Zuschauenden aus? (vgl. Eder 2008: 124, 522). Um die Figur als Symbol zu untersuchen, stellt Eder eingangs folgende grundlegende Frage: »Welche Dinge können eigentlich auf welche Weise durch Figuren symbolisiert, ausgedrückt, exemplifiziert, personifiziert, metaphorisch oder metonymisch vermittelt werden?« (Eder 2008: 536). Eders Antwort: thematische Gedanken, Aussagen oder Fragen; menschliche Eigenschaften oder Probleme, Tugenden oder Laster ; Ideen oder Prozesse; latente Bedeutungen im Sinne der Psychoanalyse; soziale Rollen und Archetypen; soziale Gruppen; mythische oder religiöse Figuren; und reale Einzelpersonen (vgl. Eder 2008: 537). Diese unterschiedlichen Arten von Bedeutungen können wiederum unterschiedliche Funktionen haben. Zum einen können sie der Verdichtung von komplexen Zusammenhängen dienen, sie können Bezüge zur Realität der Rezipierenden herstellen oder sie vermögen es, nur schwer ausdrückbare Dinge – wie beispielsweise Tabus – auszudrücken (vgl. Eder 2008: 537f.). Schließlich macht Eder noch deutlich, dass symbolische Figuren innerhalb der Handlung und Figurenkonstellation in ganze Bedeutungsgefüge eingelassen sind. Es werden drei unterschiedliche Gefüge ausgemacht: Figuren können offene Netzwerke von Themen vermitteln, sie können Teil binärer Oppositionen oder komplexerer Bedeutungsverhältnisse sein oder die Konstellation kann abgestufte Reihen von Figuren und Bedeutungen aufweisen (beispielsweise vom good girl zum good-bad girl hin zum bad girl) (vgl. Eder 2008: 539).

Eders Modell zur Figurenrezeption

117

Bezüglich der Figur als Symbol kann festgehalten werden, dass übergeordnete bzw. indirekte Bedeutungen von Figuren sehr vielfältig sein können. Eder gibt hierzu jedoch gute Anhaltspunkte, die eine strukturierte Untersuchung der Figur als Symbol ermöglichen. Es kann dabei von dem allgemeinen Schema ausgegangen werden, dass »die Repräsentation des fiktiven Wesens auf verschiedene Weise Repräsentationen von etwas anderem aktiviert« (Eder 2008: 151). So entstehen symbolische Inferenzen zu den Figuren, die bestimmte Vorstellungen über durch die Figur repräsentierte soziale Gruppen, Archetypen, Tugenden, Laster o. ä. vermitteln, woraus schließlich die spezifische Bedeutung einer Figur für die Rezipierenden resultiert. Bei der Analyse der Jelinek’schen Figuren wird vor dem Hintergrund des Erkenntnisinteresses vor allem die Figur als Symbol einer sozialen Gruppe sowie einer sozialen Rolle von Relevanz sein, da davon auszugehen ist, dass Jelinek anhand ihrer Figuren beispielsweise die soziale Gruppe des Kleinbürgertums sowie soziale Rollen der Frau bzw. des Mannes symbolisiert. 2.4

Die Figur als Symptom

Im vorangegangenen Abschnitt ging es um die Bedeutungen, die Figuren haben können. Es gibt darüber hinaus vielfältige Möglichkeiten, wie die Bedeutungen der Figuren von den Rezipierenden erschlossen werden können. Dabei setzen manche Schlüsse unmittelbare Bezüge zur außermedialen Realität voraus, etwa zu Produzent_innen oder sozialen Gruppen, und betreffen deshalb zugleich die Figur als Symptom (vgl. Eder 2008: 538). Wenn Eder von einer Figur als Symptom spricht, dann meint er das in einer sehr allgemeinen, alltagssprachlichen Bedeutung: »Figuren können […] charakteristische Anzeichen für Gegenstände oder Vorgänge sein, mit denen sie kausal verknüpft sind« (Eder 2008: 541; H. i. O.). Diese Kausalbeziehung hat zwei Seiten. Zum einen können die Ursachen der Figuren analysiert werden, zum anderen deren Wirkungen auf die Rezipierenden. Im Gegensatz zur Figur als Symbol stehen hier also nicht die indirekten Bedeutungen im Fokus, sondern die Kausalbeziehungen zur Realität, die allerdings auch mit den indirekten Bedeutungen der Figuren in Bezug stehen können und sich genauso auf die Figur als Artefakt oder als fiktives Wesen auswirken können. Werden Figuren als Symptome untersucht, soll entweder herausgefunden werden, warum sie bestimmte Eigenschaften als Artefakt, fiktives Wesen und Symbol haben, oder wie sich das auf ihre Zuschauer auswirkt; es kann auch beides betrachtet werden (vgl. Eder 2008: 542).

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Methodologie

Die Grundfragen sind demnach: Welche individuellen und soziokulturellen Ursachen auf Seiten der Filmemacher und Zuschauer sind für die intendierte und empirische Rezeption der Figur verantwortlich? Welche Folgen für bestimmte Zuschauer(gruppen) oder die Gesellschaft könnte die Figur haben? Und welche dieser Ursachen und Wirkungen werden in der empirischen, intendierten und idealen Rezeption von den Zuschauern jeweils erfasst? (Eder 2008: 543)

Um die Zusammenhänge von Bedeutung, Produktion und Rezeption adäquat erfassen zu können, greift Eder auf die Kritische Diskursanalyse zurück. Demnach entstehen bei der Rezeption nicht nur mentale Situations- bzw. Figurenmodelle, sondern auch Modelle des kommunikativen Kontextes (vgl. Eder 2008: 543). Kontextmodelle seien »subjektive Vorstellungskomplexe über die Kommunikation und ihre Rahmenbedingungen« (Eder 2008: 544).80 Bereits während der Rezeption werden solche Kontextmodelle der Ursachen, Rahmenbedingungen und Folgen dessen, was rezipiert wird, gebildet; und letztlich auch Kontextmodelle der Figuren selbst. Die Analyse der Figur als Symptom kann sich nun auf die kommunikativen Ursachen und / oder Wirkungen von Figuren fokussieren. Bei beiden Richtungen ist darüber hinaus zu berücksichtigen, ob die Untersuchung sich auf die Produzent_innen bzw. die Rezipient_innen bezieht oder auf die soziokulturellen Kontexte, in denen die Figuren entstehen bzw. in denen sie wirken (vgl. Eder 2008: 545f.). Zu den Ursachen der Figuren sei festgehalten, dass sie über die individuellen Dispositionen der Autor_innen hinausgehen können. Denn die Urheber_innen der Figuren sind auch von »kollektiven mentalen Dispositionen ihrer Zeit und Kultur« (Eder 2008: 547) geprägt; d. h. soziokulturelle Kontexte und spezifische Rahmenbedingungen sind in besonderem Maße zu berücksichtigen. In diesem Sinne können Figuren auch als Anzeichen für solche überindividuellen, soziokulturellen Kontexte analysiert werden (vgl. ebd.). Ziel einer Figurenanalyse als Symptom kann darüber hinaus auch eine Kombination aus verschiedenen Erklärungen für die Figuren-Merkmale sein, eine Kombination aus individuellen und kollektiven Dispositionen etwa. Genauso kann es das Ziel sein, individuelle oder kollektive Wirkungen der Figuren zu untersuchen. Zusammenfassend lässt sich zur Kategorie der Figur als Symptom sagen, dass das fiktive Wesen hier vorwiegend in kausale Zusammenhänge mit seinen kommunikativen Kontexten gesetzt wird. Hierbei sind Ursachen und Wirkungen der Figur sowohl auf soziokultureller Ebene als auch auf Produktions- bzw. 80 Kontextmodelle dienen in erster Linie »dem pragmatischen Management der Kommunikation und Rezeption und helfen unter anderem dabei, die Verhältnisse zwischen expliziter Information und impliziten Ergänzungen, konkreten Details und abstrakten Themen […] zu erfassen und zu regulieren« (Eder 2008: 544).

Eders Modell zur Figurenrezeption

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Rezeptionsebene von besonderer Bedeutung. Hinsichtlich der Produzent_innen bzw. Autor_innen sind die mentalen Dispositionen als Ursachen der Figurenkonstruktion relevant, bezüglich der Rezipierenden sind die Wirkungen der Figuren beispielsweise als Vorbilder zu berücksichtigen. Im Hinblick auf allgemeinere soziokulturelle Kontexte der Produktion und Rezeption müssen kollektive mentale Dispositionen einbezogen werden – hier können Figuren beispielsweise als überindividuelle Anzeichen für Menschenbilder oder ganze Mentalitäten gesehen werden (vgl. Eder 2008: 151).

3.

Motive und Konstellation

Die grundlegenden Eigenschaften der Figur als fiktives Wesen – Körperlichkeit, Sozialität, Psyche und Verhalten – erhalten durch die Motivation erst eine gewisse Kohärenz. Denn die Motivation stellt einen Zusammenhang zwischen den einzelnen Eigenschaften her. Außerdem verbindet sie äußere Aktionen mit inneren Prozessen, die häufig eine soziale Ausrichtung aufweisen (vgl. Eder 2008: 428). Die Motivationen der Handlungen der einzelnen Figuren sind somit notwendig, um die Fragen dieser Arbeit zu beantworten: Die Fragen zur Männlichkeitskonstruktion lassen sich nur beantworten, wenn deutlich wird, inwiefern einzelne Handlungen mit der Performanz von Männlichkeit zusammenhängen bzw. inwiefern sie eventuell auch unabhängig davon auftreten. Eder macht zwei unterschiedliche Arten von Motiven aus: diegetische und außerdiegetische Motive. Die diegetischen Motive beziehen sich auf die Regeln der fiktiven Welt. Es geht also um die inhaltliche Ebene, wobei die Figur beispielsweise auf Grundlage ihrer praktischen Rationalität handelt, von früheren Beziehungsmustern beherrscht wird, von Trieben und Affekten gelenkt wird o. ä. (vgl. Eder 2008: 430). Außerdiegetisch motivierte Handlungen oder Verhalten können beispielsweise sozialen oder medialen Stereotypen entsprechen oder dazu gedacht sein, bestimmte Wirkungen bei den Rezipierenden hervorzurufen (vgl. Eder 2008: 430f.). Diese alltagspsychologischen und dramaturgischen Erklärungen können aber durchaus nebeneinander bestehen, nicht selten verschmelzen sie sogar miteinander (vgl. Eder 2008: 432). Eder unterscheidet neben diesen zwei Arten noch vier Formen der Motivation: – Das Bedürfnis »betont den Zustand eines Mangels, der durch Handeln ausgeglichen werden soll«, – der Wunsch »betont eine Präferenz, die aber nicht unbedingt durch Handeln verfolgt werden muss«, – das Motiv »betont den Aspekt der Handlungserklärung« – und das Ziel betont das »angestrebte Handlungsergebnis« (Eder 2008: 436).

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Methodologie

Eder fasst alle vier Formen schließlich der Übersichtlichkeit halber unter dem Begriff ›Motive‹ zusammen. Die Unterscheidung sollte an dieser Stelle dennoch transparent gemacht werden, weil die Motive eine wesentliche Grundlage für die Bewertung und Deutung der Figuren und deren Verhalten ausmachen (vgl. Eder 2008: 427). Für die Männlichkeitskonstruktionen beispielsweise kann es einen gravierenden Unterschied machen, ob es sich explizit um ein zu stillendes existentielles Bedürfnis handelt, das eine Handlung hervorruft, oder um einen dezenten Wunsch, auf den möglicherweise gar kein Handeln folgt. Je nachdem ist das Motiv für die Männlichkeitsperformanz und dessen Lenkung durch gesellschaftliche Konventionen unterschiedlich zu gewichten. Eder zeigt die »soziale[n] Bedürfnisse und Motive, die oft durch Gruppenzugehörigkeiten und Rollen geprägt sind« als besonders relevant auf (Eder 2008: 720). Wie die Handlungsmotivationen der männlich gezeichneten Figuren auf ihre Rolle als Mann oder ihren Anspruch daran, eine Männlichkeit zu verkörpern, zurückzuführen sind, wird ein zentrales Moment der Analyse sein. Die Konstellation der Charaktere ist für die Analyse von Bedeutung, weil diese die Sichtbarmachung der Beziehungen der Figuren als fiktive Wesen und als Artefakte untereinander ermöglicht. Figuren können in Kontrast zueinander stehen, miteinander konfligieren, in einem bestimmten Machtverhältnis zueinander stehen, eine bestimmte Position in einer sozialen Hierarchie einnehmen o. ä. Die Figuren sind in ihrer Bezugnahme aufeinander geprägt von ihren sozialen Motiven sowie von ihrer sozialen Gruppenzugehörigkeit (vgl. Eder 2008: 501). Die Konstellation bildet ein fiktives Moral- und Sozialsystem, ist hierauf allerdings nicht beschränkt; sie ist auch ein System von Figuren als Artefakte (vgl. Eder 2008: 721). Wie die Figuren als fiktive Wesen in einem Sozialsystem angeordnet sind, ist aufgrund der zentralen Hypothesen besonders relevant. Sie können sich in diesem System unterschiedlich verhalten: dogmatisch, opportunistisch, angepasst, kritisch oder unabhängig (vgl. Eder 2008: 502). In diesem Kontext sind auch die Machtverhältnisse wichtig, in denen die Figuren ihren Platz einnehmen. Denn die Interaktionen zwischen den Figuren sind geprägt von diesen Verhältnissen. Die Frage ist demnach, mit wieviel Macht eine Figur gegenüber einer anderen ausgestattet ist, inwiefern sie also ihren Willen bzw. ihr Verhalten durch physische, soziale oder mentale Mittel beeinflussen kann, beispielsweise mittels »Überzeugung, körperlichem Zwang, Manipulation, Verführung, sozialer Sanktionierung usw.« (Eder 2008: 502). Die Wertestruktur, die Eder im Kontext der Konstellation ebenfalls beschreibt, bezieht sich auf die Bewertung der Figuren durch andere Figuren, die Erzählinstanz, die Produzierenden und auf dieser Grundlage letztlich durch die Rezipierenden (vgl. Eder 2008: 503), wobei sich in dieser Arbeit auf die Bewertung durch andere Figuren sowie die Erzählinstanz beschränkt wird. Moral,

Die Uhr der Figur in der Analyse der Jelinek’schen Figuren – Ein Analysewerkzeug

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Schönheit, Klugheit, Kraft, Macht usw. sind Werte, auf die im Rahmen der Wertestruktur Bezug genommen wird (vgl. ebd.). Es werden hierbei sowohl die Eigenschaften der Figuren als auch ihre Interaktionen bewertet. Die Art der Bewertung bestimmter Verhaltensweisen, die als männlich konnotiert ausgemacht werden können, ist in besonderem Maße gewinnbringend für die Analyse der Männlichkeitskonstruktionen, da hieraus Schlüsse gezogen werden können hinsichtlich des angestrebten Männlichkeitsideals der Figuren bzw. des transportierten Ideals der Erzählinstanz.

III.

Die Uhr der Figur in der Analyse der Jelinek’schen Figuren – Ein Analysewerkzeug

Im Folgenden werden einzelne Aspekte des Modells Die Uhr der Figur herausgegriffen, um exemplarisch zu veranschaulichen, wie das Modell im Detail für die Untersuchung der Jelinek’schen Erzähltexte fruchtbar gemacht werden kann. Schließlich wird gezeigt, an welchen Stellen auf die theoretischen Grundlagen zurückgegriffen wird bzw. wie diese sich mit dem Modell Die Uhr der Figur verknüpfen lassen. Marion Gymnich wägt in ihrer Abhandlung über »Konzepte literarischer Figuren und Figurencharakterisierung« (vgl. Gymnich 2004) verschiedene Ansätze der Literaturwissenschaft aus Sicht der gender-orientierten Erzähltextanalyse ab. Sie favorisiert schließlich einen rezeptionsorientierten und kognitionswissenschaftlichen Ansatz für eine Analyse von literarischen Figuren aus gendertheoretischer Perspektive. Eders Modell reiht sich hier ein. Zur Erinnerung: Es wird beim kognitionswissenschaftlichen Ansatz davon ausgegangen, dass die Informationsverarbeitung, die durch die Wahrnehmung von Figuren einsetzt, auf eine sehr ähnliche Weise erfolgt wie die Wahrnehmung von realen Personen. Diese Voraussetzung bietet eine basale Grundlage zur Entwicklung eines Analysewerkzeugs, das einen genderspezifischen und gesellschaftskritischen Schwerpunkt aufweist. Von dieser Prämisse ausgehend kann problemlos auf soziologische, gendertheoretische und psychologische Theorien, Konzepte und Ansätze, die auf reale Menschen ausgerichtet sind, zurückgegriffen werden, um die Figuren zu untersuchen. Eders Modell vermag es, alle für diese Untersuchung relevanten Aspekte einer Figur zu berücksichtigen. Es bleibt nicht bei der Analyse der Figur als fiktives Wesen stehen, sondern es ermöglicht auch die Untersuchung von Figuren als Artefakte. Die Art und Weise, wie Figuren dargestellt werden, wie die Vermittlung durch die Erzählinstanz erfolgt, kann also in der Analyse genauso berücksichtigt werden. Dies ist wichtig, weil die Erzählinstanz eine wesentliche

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Methodologie

Rolle für die Vermittlung der geschlechtlichen Performanz der Figuren spielt. Außerdem sind die Figur als Symbol und als Symptom besonders relevante Kategorien vor dem Hintergrund der Interpretation der Figuren im Kontext ihrer Geschlechterkonstruktionen und der darin enthaltenen Gesellschaftskritik. Durch die Berücksichtigung der indirekten Bedeutungen und kommunikativen Kontexte können Aussagen über die Absichten und Wirkungen der Figurenkonzeptionen gemacht werden, die es anschließend erst ermöglichen, eine alternative Lesart der Jelinek’schen Prosa aufzuzeigen. Die Universalität des Ansatzes ermöglicht dementsprechend eine umfassende Analyse, die alle Interessen dieser Arbeit abdeckt. Mithilfe dieses Modells ist darüber hinaus eine systematische Ordnung der Ergebnisse gegeben, die für die Vergleichbarkeit der Figuren untereinander unabdingbar ist, wenn letztlich umfassende, werkübergreifende Aussagen über die Geschlechterkonstruktionen in Jelineks epischer Prosa getroffen werden sollen. Eders Modell wird im Rahmen der Analyse als Orientierung dienen, d. h. nicht jede Figur wird innerhalb jeder Kategorie bis ins Detail eingeordnet. Vielmehr soll es, auch im Sinne Eders, als »flexible Heuristik« verstanden werden, »deren Anwendung jeweils den Erkenntnisinteressen der Analyse angepasst werden kann« (Eder 2008: 143). Das Modell bildet somit eine gute Ausgangsbasis für die anstehende Analyse. Die einzelnen Kategorien und Aspekte der Figuren können mit den im Theorieteil referierten Grundlagen unterfüttert werden, sodass letztlich ein solides Analysewerkzeug entsteht. Folgendes Schaubild vermag es, die Zusammenhänge vereinfacht zu veranschaulichen (s. Abb. 4).

Analysewerkzeug

Symptom Artefakt

analysiert

Figur

Symbol

Fiktives Wesen

werden integriert

gendertheoretische Konzepte

Eders Analysemodell

Abb. 4: Grafische Darstellung der Zusammenhänge: Analysewerkzeug – Figur – Modell – Theoretische Grundlagen

Die theoretischen Grundlagen haben Einfluss auf die Untersuchung der Figur in allen vier Kategorien des Analysemodells. Je nach Zielformulierung liegt der Fokus auf spezifischen Gesichtspunkten der Figur, welche bei der Analyse jeweils durch adäquate theoretische Ansätze unterfüttert werden müssen, um eine

Die Uhr der Figur in der Analyse der Jelinek’schen Figuren – Ein Analysewerkzeug

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aussagekräftige Untersuchung gewährleisten zu können. Ist das Ziel der Untersuchung, wie in der vorliegenden Arbeit, eine gender- und klassenspezifische Analyse der Figuren, werden dementsprechend die gender- und klassentheoretischen Konzepte und Ansätze in das Analysemodell integriert. Diese lenken schließlich die Analyse der Figuren als fiktives Wesen, als Artefakt, als Symbol und als Symptom. Hieraus ergibt sich ein Analysewerkzeug, mit welchem die Figuren im Hinblick auf die zentralen Fragestellungen analysiert werden können. Explizit auf den vorliegenden Gegenstand bezogen: Um zu eruieren, wie Jelinek ihre Figuren konzipiert, und um herauszufinden, ob darüber ihre Patriarchatskritik transportiert wird, werden die Figuren als Symptom des soziokulturellen Kontexts untersucht. In dieser Analyse der Figur als Symptom wird dann auf die theoretischen Grundlagen zurückgegriffen, um die Fragen nach den Wirkungen von Jelineks Figuren in ihrer geschlechtsspezifischen Konzeption beantworten zu können. Im Folgenden werden fünf spezifische Aspekte von Eders Modell herausgegriffen, um exemplarisch aufzuzeigen, wie die theoretischen Konzepte der Gender Studies mit Eders Modell verknüpft werden können. Im Abschnitt zur Figur als Artefakt wurde die zentrale Stellung der Typisierung von Figuren hervorgehoben. Hier finden soziale Rollen, soziale Typen sowie Stereotype eine besondere Berücksichtigung. Jelineks Figuren befinden sich in einem Netz aus sozialen Beziehungen, in welchem sie unterschiedliche soziale Rollen einnehmen: Sie sind Tochter, Sohn, Vater, Freund_in, (verschmähte_r) Geliebte_r. Genauso nehmen sie aufgrund ihrer sozialen Lage eine bestimmte Position ein: Sie sind Teil des Bürgertums, des Kleinbürgertums oder der Arbeiterklasse. Diese Positionen lassen sich weiter spezifizieren, denn einige verfügen über viel ökonomisches Kapital, während andere am Existenzminimum leben. Einige Figuren besitzen dagegen ein enormes kulturelles Kapital, während andere bemüht sind, dieses erst zu akkumulieren usw. Außerdem stehen soziale Typen bzw. Rollen gemäß eines intersektionalen Ansatzes in direkter Verbindung mit der Geschlechtlichkeit der Figuren, wenn sie ihnen nicht sogar inhärent ist (vgl. Vater, Sohn, Tochter, Geliebte_r). Um die Figuren also adäquat als soziale Typen bzw. in ihren sozialen Rollen analysieren zu können, ist die Berücksichtigung einschlägiger Ansätze der Gender Studies obligatorisch. Die Kategorie des Stereotyps ist darüber hinaus von besonderer Relevanz, da durch die Abbildung desselben vorherrschende Denkmuster reproduziert und verfestigt werden. Die Darstellung geschlechtlicher Stereotype im Speziellen trägt demnach dazu bei, die Machtstrukturen zwischen den Geschlechtern zu manifestieren und damit das Patriarchat mit all seinen Auswirkungen aufrechtzuerhalten. Auch Jelinek bedient sich geschlechtlicher Stereotype, um ihre

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Methodologie

Figuren zu konzeptionieren. Durch die explizite Sichtbarmachung werden diese jedoch nicht verfestigt. Jelineks Verfahren zielt vielmehr darauf, die Mythen, die sich um Männlichkeit ranken, zu destruieren, indem sie die Männlichkeiten an ihren eigenen Anforderungen, diesem Bild zu entsprechen, scheitern lässt. Die Stereotype werden hier zur radikalen Überzeichnung der Männlichkeiten genutzt, was die Verhältnisse derart zuspitzt, dass sie letztlich ad absurdum geführt werden – so eine zentrale These der Arbeit. Zweitens ist die Untersuchung der Motive der Figuren im Hinblick auf ihre Geschlechterkonstruktion von Bedeutung. Es ist notwendig, Handlungen auf ihre Ursachen bzw. Auslöser zurückzuführen. Es muss dabei getrennt werden zwischen Handlungen, die beispielsweise aufgrund von rationaler Abwägung interessengeleitet vollzogen werden, und Handlungen, die rein mechanisch einer Rolle, Routine oder Gewohnheit folgen (vgl. Eder 2008: 430). Wenngleich Interessen ebenfalls von der Sozialisation in einem bestimmten Geschlecht beeinflusst sein können, so ist eine Handlung, die rein mechanisch männlich konnotierte Handlungen durchführt, weil die Figur so in ihrer männlichen Rolle verhaftet ist und dementsprechend nur einer Gewohnheit folgt, anders zu bewerten. Denn im ersten Fall findet ein Reflexionsprozess über die Handlung statt, im letzten Fall bleibt dieser jedoch aus. Wenn eine Handlung also mit einem hohen Maß an Bewusstsein stattfindet, kann hier eine ausdrückliche Orientierung an geschlechtlich konnotierten Werten und Normen vorliegen. Im Fall einer mechanischen Handlung kann dies auch vorliegen, allerdings wäre der Vorgang nicht bewusst und hätte so deutlich weniger Einfluss bzw. anderen Einfluss auf die Männlichkeitskonstruktion der Figur, als wenn eine explizite Entscheidung für dieses Verhalten vorliegt. Handlungen, die entstehen, weil die Figuren von Wünschen, Bedürfnissen oder Zielen geleitet sind, die einen direkten Rückschluss auf ihre Geschlechterkonstruktion zulassen, sind demnach in der Analyse von besonderem Wert. Ein Bespiel soll hier der Veranschaulichung dienen: Wenn Hans Sepp vor Sophies Pachofens Augen mit seinen Muskeln spielt und diese absichtlich in ihr Sichtfeld rückt, dann möchte er sich über seinen starken Körper in Szene setzen (vgl. AUS 218). Dieser soll Kraft ausstrahlen und damit einen attraktiven Mann mimen, welcher Sophie beschützen kann. Gleichzeitig grenzt Hans sich über die Betonung seiner Körperlichkeit vom intellektuellen Rainer ab und erhofft sich durch eine Beziehung zur bürgerlichen Sophie einen Klassenaufstieg, was seine Handlung motiviert und seine Männlichkeitskonstruktion zusätzlich spezifiziert. Als Drittes sei auf die Relevanz der indirekten Bedeutung von Figuren eingegangen. Eine Figur kann beispielsweise bestimmte Eigenschaften exemplifizieren oder für etwas anderes stehen. Dies ist dahingehend für die Analyse dieser Arbeit wichtig, da eine einzelne Figur beispielsweise die personifizierte tradi-

Die Uhr der Figur in der Analyse der Jelinek’schen Figuren – Ein Analysewerkzeug

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tionelle Männlichkeit darstellen oder auch für einzelne männlich konnotierte Eigenschaften stehen kann. Auch hier sind soziale Gruppen und Typen von Belang, einzelne Figuren können die gesamte Gruppe der Männer oder der männlichen Arbeiter symbolisieren. Wenn die Geschlechtlichkeit bzw. die Konstruktion des Geschlechts einer Figur untersucht werden soll, so ist die Betrachtung der Figur als Symbol unter Hinzuziehung von gendertheoretischen Ansätzen unerlässlich für eine adäquate Erfassung der Figuren. Die enorme Überzeichnung des Fabrikdirektors in Lust könnte beispielsweise darauf hinweisen, dass er für etwas anderes stehen soll. Er könnte etwa für ein repressives Männlichkeitsbild stehen, welches geprägt ist von der sexuellen Triebhaftigkeit und der Unterdrückung der Frau und seiner Arbeiter. Dies wird im Exkurs der Analyse ausführlich geprüft. Als Viertes werden die Ursachen und Wirkungen der Figur als Symptom betrachtet. Wie im entsprechenden Abschnitt oben bereits erläutert, geht es hierbei um die kommunikativen bzw. soziokulturellen Kontexte der Figur. Eine Figur entsteht immer aus bestimmten Gründen. Die_Der Autor_in hat bestimmte Absichten, sie_er verfolgt bestimmte Ziele damit, sie_er ist aber auch durch bestimmte mentale Dispositionen geprägt, welche die Figurenkonzeption beeinflussen. Elfriede Jelinek sagt von sich selbst, dass ihr Blick »der eines Naturforschers [ist], der aus großer Entfernung auf gesellschaftliche Prozesse schaut, um sie präzise beschreiben zu können« (Jelinek im Interview mit Löffler, zit. n. Höfler 1991: 155).81 Dieses Zitat offenbart Jelineks Absichten und damit die Ursachen ihrer Figuren. Es geht ihr um die Abbildung von gesellschaftlichen Prozessen. Sie ist als kapitalismuskritische und feministische Autorin dabei jedoch auch bestimmten Dispositionen unterlegen, die ihren Blick speziell in die Richtung von Klassen- und Geschlechterverhältnissen lenken. Demnach ist die Berücksichtigung von gendertheoretischen Ansätzen zur genaueren Untersuchung der Ursachen der Figuren von großer Relevanz, bildet allerdings nicht den Fokus der Arbeit. Vielmehr ist die Wirkung der Jelinek’schen Figuren ein zentraler Untersuchungsgegenstand, sie steht vor allem im Hinblick auf den soziokulturellen Kontext im Fokus. Noch einmal zur Erinnerung: Ziel der Arbeit ist es, der dominanten Rezeption der Erzähltexte Jelineks, die die männlich gezeichneten Figuren entweder unberücksichtigt lässt oder ihnen eine eindimensionale Struktur attestiert, mit dieser Arbeit eine alternative Lesart an die Seite zu stellen. Figuren als kulturelle Artefakte können nur durch geteiltes Wissen verstanden werden und so eine gewisse Wirkung entfalten. Wenn Jelineks Fi81 Zur Einordnung von Jelineks Selbstauskunft, eine Naturforscherin zu sein, s. S. 16 im Punkt Erkenntnisinteresse, und im weiteren Sinne zu den Zielen ihrer Arbeiten S. 37f. im Abschnitt zu Jelineks ästhetischen Verfahren in dieser Arbeit.

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Methodologie

gurenkonzeptionen nun mit diesem Wissen, d. h. in diesem Falle mit den theoretischen Grundlagen dieser Arbeit, mit neuen, alternativen Dispositionen also, betrachtet werden, so können die Konzeptionen auch andere, alternative Wirkungen entfalten. Mit anderen Worten: Diese Arbeit soll deutlich machen, wie die Figuren in Jelineks Erzähltexten in der Rezeption wirken können, wenn gendertheoretische Konzepte als Grundlage der Rezeption dienen. Dann, so die These, wird sichtbar, dass Jelinek ihre Figuren so konzipiert, dass sie hierüber ihre Kritik an den herrschenden Verhältnissen formuliert. Als Letztes wird auf die Möglichkeit eingegangen, herrschende Machtverhältnisse mit Eders Analysemodell sichtbar zu machen. Vor allem die Untersuchung von Stereotypen und der Figurenkonstellationen gestattet es, einen Blick auf die Machtverhältnisse zwischen den Figuren zu werfen. In diesem Kontext sind vor dem Hintergrund der zentralen Hypothesen der Arbeit gendertheoretische Ansätze relevant, die die geschlechtsspezifischen Herrschaftsmechanismen und deren Auswirkungen in den Fokus nehmen. Die geschlechtsspezifische Analyse der Konstellationen ermöglicht es, Thesen über traditionelle Männlichkeits- und Weiblichkeitsperformanzen, die von einer hierarchischen Geschlechterordnung zugunsten der Männlichkeiten ausgehen, auf ihre Validität zu prüfen. Bei der Rekonstruktion der geschlechtlichen Stereotype ist außerdem ein Rückschluss auf deren Wirkungen sinnvoll, da sie das Potential haben, die geschlechtsspezifischen Machtverhältnisse auch außerhalb der Geschichten in der Gesellschaft, im sozialen Miteinander zu reproduzieren und damit zu festigen. Durch die Erläuterung des Modells in den vorherigen Abschnitten zur Methodologie und insbesondere durch die Beleuchtung der letzten fünf spezifischen Aspekte konnte ersichtlich werden, dass Eders Modell es vermag, die kognitiv und sozial verankerten Auffassungen von Geschlecht sowohl bei der Konzeption der Figuren durch die Autor_in und der Entwicklung der Figurenmodelle durch die Rezipierenden als auch bei der Wirkung der Figuren im soziokulturellen Kontext strukturiert zu berücksichtigen. Es wird unter Hinzuziehung dieses Modells möglich, anhand der Konzeptionen der Figuren bzw. anhand der geschlechtlichen Konstruktionen der Figuren zu eruieren, inwiefern Jelinek hierüber das gesellschaftliche Herrschaftssystem kritisiert.

Analyse

Das im Teil zur Methodologie erarbeitete Analyseinstrument kommt im Analyseteil nun zur Anwendung. Die im zweiten Teil vorgeführten gendertheoretischen Ansätze und Konzepte stellen die grundlegenden Dispositionen dafür dar, die Figuren Jelineks in einem anderen Licht zu betrachten, alternative Wirkungen der Figuren zu ermöglichen, und Jelineks Figurenkonzeptionen daraufhin neu einordnen zu können. Im letzten Abschnitt wurde bereits exemplarisch veranschaulicht, wie Jens Eders Uhr der Figur zur Analyse der Jelinek’schen Prosa sinnvoll genutzt werden kann, um die Männlichkeitskonzeptionen der Figuren zu evaluieren. In diesem Teil findet sich eine ausführliche Figurenanalyse von insgesamt sechs Figuren aus zwei Prosawerken. Aufgrund der im Abschnitt zum Untersuchungsgegenstand beschriebenen Besonderheiten von Die Klavierspielerin und Die Ausgesperrten findet sich außerdem eine Perspektivierung der Figurenkonstruktionen auf das Prosawerk Lust, um die Ergebnisse zu überprüfen. Zur Erinnerung: Die Arbeit untersucht aus einer gendertheoretischen Perspektive, wie genau sich Jelineks Patriarchatskritik in ihren Figurenkonzeptionen niederschlägt. Die Grundannahme hierbei ist, dass Jelinek ihre (männlichen) Figuren im Rahmen patriarchaler Lebensbedingungen mit dem Anspruch ausstattet, allein aufgrund ihrer biologischen Zugehörigkeit zur gesellschaftlich dominanten Gruppe eine Machtposition innezuhaben. Dieser Anspruch lässt – so die These – die männlich gezeichneten Figuren allesamt einen hegemonialen Status im Sinne Connells anstreben. Mit Meuser wird weiter angenommen, dass die hegemoniale Männlichkeit als Ideal für alle Männlichkeitskonstruktionen als generatives Prinzip wirkt. Das heißt, alle Männlichkeiten orientieren sich bei der Konstruktion ihrer Männlichkeit am Ideal der hegemonialen Männlichkeit. Eine Männlichkeit, die sich nicht nur an den Werten und Normen dieses Ideals orientiert, sondern diese als Performanz explizit anstrebt, soll hier mit dem Begriff ›traditionelle Männlichkeit‹ beschrieben sein. Meusers Ausführungen zustimmend lässt sich die These aufstellen, dass die männlich gezeichneten Figuren

128

Analyse

zum Scheitern verurteilt sind. Sie profitieren nicht ausschließlich vom Patriarchat – durch die patriarchale Dividende etwa (vgl. Connell 2006: 100) –, sondern sie laufen Gefahr, durch Abweichung vom Ideal an den Anforderungen, die das Patriarchat mit der Verkörperung einer hegemonialen Männlichkeit an sie stellt, zu scheitern. Dieses Scheitern – so eine weitere These – führt zu einem defizitären Erleben der eigenen Geschlechtlichkeit, welches es zu kompensieren gilt, wozu die Figuren auf die Anwendung von (vergeschlechtlichter) Gewalt zurückgreifen. Übergreifend gilt die Annahme, dass sich auch die weiblich gezeichneten Figuren am Ideal der hegemonialen Männlichkeit orientieren, wenn sie bestrebt sind, eine Männlichkeit zu performen. Die These vom Scheitern gilt demgemäß äquivalent zu den männlich gezeichneten Figuren auch für die weiblich gezeichneten. Diese Annahmen werden in der folgenden Analyse anhand von zwei weiblich und vier männlich gezeichneten Figuren untersucht. In diesem Zusammenhang wird schließlich auch das subversive Potential der Figurenkonzeptionen ausgeleuchtet, das durch die Abweichungen vom Ideal entstehen kann. Durch Subversionen hegemonialer Männlichkeiten in Form von scheiternden Figuren wird die Patriarchatskritik Jelineks transportiert. Sie machen – wie zu zeigen ist – deutlich, dass Jelinek anhand ihrer Figurenkonzeptionen das Patriarchat als Herrschaftsform kritisiert und letztlich sogar ad absurdum führt.

I.

Die Klavierspielerin

Im Folgenden werden die Protagonistin Erika Kohut und ihr Geliebter Walter Klemmer hinsichtlich ihrer Aneignung von Männlichkeit untersucht. Die Figur Erika verspricht ob ihrer sexuellen Komplexität über einiges subversives Potential zu verfügen, welches sich beispielsweise in der Aneignung traditionell männlich konnotierter Verhaltensweisen oder Räume äußert. Die Männlichkeit der Figur Walter dagegen wird sowohl auf der histoire- als auch auf der discoursEbene im Sinne G8rard Genettes (vgl. Martinez / Scheffel 2005: 23) häufig persifliert und damit gebrochen. Da die explizite Thematisierung der Klassenzugehörigkeit der Figuren im Vergleich zu Die Ausgesperrten deutlich geringer ausfällt, wird hierauf in der Analyse nur an wenigen Stellen Bezug genommen. Im Abschnitt Kompositionsglieder der Jelinek’schen Patriarchatskritik werden dann jedoch romanübergreifende Vergleiche angestellt, um valide Aussagen über die klassenbedingte Geschlechterperformanz bzw. die geschlechterbedingte Klassenperformanz der Figuren treffen zu können.

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Die Klavierspielerin

1.

Erika Kohut – Resultat eines Zwiespalts »Vielleicht hält die Kohut sich auch für eine Frau […]«

Erika Kohut ist Ende Dreißig (vgl. KS 7) und Klavierlehrerin am Wiener Konservatorium. Sie wohnt mit ihrer herrschsüchtigen Mutter zusammen in einer Mietwohnung und hat kaum ein Sozialleben, das über ihr Klavierspiel hinausgeht. Ihre Mutter kontrolliert sie dermaßen, dass sie emotional abstirbt und unfähig wird, sexuelle Lust zuzulassen.

1.1

Erika als weiblich gezeichnete Figur

Für »[d]ie Klavierlehrerin Erika Kohut« (ebd.) wird stets das weibliche Pronomen genutzt. Der Figur wird ein weiblich konnotierter Vorname gegeben und auch die Berufsbezeichnung Klavierlehrerin macht bereits in den ersten vier Wörtern des Romans deutlich, dass es sich um eine weiblich gezeichnete Figur handelt. Wenn die Erzählinstanz verallgemeinernd am Beispiel von Walter Klemmer und Erika Kohut über Männer und Frauen spricht, nimmt Erika stets die Position der Frau ein, woraus hervorgeht, dass auch die Erzählinstanz Erika als Frau ausmacht (vgl. beispielsweise die Situation von Walter und Erika im Putzraum (KS 244ff.)); die Verkörperung eines weiblichen fiktiven Wesens scheint also prinzipiell nicht in Frage gestellt zu werden. Genauso lassen die Beschreibungen ihres Äußeren keinen Zweifel zu: Sie sei zwar nicht »hübsch« oder »schön« (KS 30, 85), urteilt die Erzählinstanz, dennoch wird durch die Betonung ihrer exzessiven Kleiderkäufe wiederholt implizit hervorgehoben, dass sie sich um klassisch feminine Bekleidung und somit klassisch feminines Aussehen bemüht. Außerdem »behänge und bemale« (KS 11) sie sich – wenn auch »wie ein Clown« (ebd.). Die Clown-Assoziation der Mutter Kohut deutet eine wenig authentische, eher künstlich überzogene Weiblichkeit an, doch immerhin bezeichnet sie Erika an anderer Stelle indirekt als ein »hübsches Mädel« (KS 12). Auch Walter findet sie »nicht häßlich« und sie habe »keinen sichtbaren Körperfehler« (KS 221). Was ihre Körperproportionen angeht, so entdeckt Walter allerdings ein »körperliche[s] Ungenügen[…]« an ihr : Ihr Oberkörper sei etwas zu dünn, ihr Unterkörper dafür etwas zu dick. Insgesamt findet er aber : »das Fräulein Kohut ist eine ganz delikate Frau« (KS 67). Auch Walter Klemmer nimmt Erika also als Frau und heterosexuelles Bezugsobjekt wahr und bewertet ihre äußere Erscheinung. Als Erika beginnt, sich »fesch aus[zu]staffieren« (KS 130) und durch die extreme Steigerung ihrer Femininität eine »Metamorphose« (KS 206) durchzumachen, wird sie als lächerlich empfunden und Leute beginnen sogar, sich

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Analyse

Sorgen um sie zu machen (vgl. ebd.). Dies spricht genauso wie die Assoziation mit einem Clown für eine mangelnde Authentizität ihrer Verkörperung von Weiblichkeit. Die ständige Konfrontation der eigenen körperlichen Konstitution mit bewertenden Blicken und Kommentaren anderer (vor allem von Männern) ist eine spezifisch weibliche Erfahrung. Erika erfährt regelmäßig Bewertungen durch andere Figuren oder die Erzählinstanz. Diese Tatsache allein ist schon ein gewichtiges Indiz für die Weiblichkeit der Figur. Die Soziologin Nina Degele macht klare männliche Attraktivitätserwartungen an Frauen sowie Konkurrenz unter Frauen82 hinsichtlich ihrer äußerlichen Schönheit aus (vgl. Degele 2004: 138). Dies gilt auch bei Jelinek: Die Frau bedarf »stets des Schmuckes, um sich zur Geltung zu bringen« (KS 243); und so scheint auch bei Erika die Kleidung immer die »Hauptsache« zu sein (vgl. ebd.). Demnach verhält sich die Figur Erika den Rollenerwartungen entsprechend, die an Frauen gestellt werden: Sich schön zu machen, um anderen (Männern) zu gefallen, um bestimmte Erwartungen zu erfüllen, und sich dabei den Blicken und Bewertungen anderer auszusetzen. So ist es auch nicht verwunderlich, dass Erika im Rahmen der heteronormativen Erwartungen an eine heterosexuelle Liebschaft beginnt, immer femininer sein zu wollen. Denn: »Ist er Mann, ist sie Frau« (KS 274). Die Herstellung von Geschlecht und die vermeintliche Abhängigkeit dessen von der komplementären Gestaltung der Interaktionen zwischen den beiden gesellschaftlich akzeptierten Geschlechtern stechen hier besonders hervor. Erika bemüht sich folglich im Rahmen der heterosexuellen Matrix, sich entsprechend der traditionellen Anforderungen an Weiblichkeit für Walter attraktiv zu machen, indem sie versucht, eine Weiblichkeit zu performen, die den geltenden Normen entspricht. Dies tut sie nicht nur über die Modifizierung ihres Äußeren. Erika entspricht auch auf psychischer Ebene häufig den Anforderungen einer emphasized femininity. So ist sie die gesamte Geschichte über immer wieder begleitet von Unterwerfungsphantasien, denen sie sich hingeben möchte. Besonders die Unterwerfung unter Walter Klemmer und die für sie damit verbundene Willenlosigkeit reizen sie (vgl. KS 217). Sie verspürt den Wunsch zu gehorchen und bei Zuwiderhandlung bestraft zu werden (vgl. KS 105 und 108). Insgesamt ist ihr sexuelles Begehren masochistisch geprägt. Die Passivität der Figur wird in der Situation der ersten sexuellen Handlung zwischen Erika und Walter auf der Toilette besonders sichtbar : »Gemäß dem 82 Erikas Konkurrenz zu anderen Frauen wird mehrfach betont. So »beargwöhnt [sie] junge Mädchen, deren Körperausmaße sie abschätzt und ins Lächerliche zu ziehen trachtet« (KS 130) und ist eifersüchtig auf Mädchen, die sich für Walter interessieren (vgl. KS 167). Einem Mädchen fügt sie sogar erheblichen körperlichen Schaden zu, um sie ihrer Schönheit zu entledigen, weil sie sich Walter angebiedert hatte (vgl. KS 169).

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Anlaß gibt sich Erika als Person sofort auf« (KS 178). Sie wartet nun nur noch auf einen »Hinweis oder einen Befehl« (KS 179), bewegt sich nicht und »setzt ihren Ehrgeiz darein, stehenzubleiben, wo er sie abgestellt hat. Millimetergetreu wird er sie dort wiederfinden, wenn ihm nach ihrer Inbetriebnahme zumute ist« (KS 180). Die Wortwahl, die eine Verdinglichung der Figur zur Folge hat, steigert die Passivität Erikas noch. Ihr Bedürfnis passiv und willenlos zu sein wird schließlich in ihrem Verlangen, für Walter ein »Instrument«, ein »Gegenstand«, ein »Werkzeug« zu sein (KS 216), zugespitzt: sie möchte benutzt werden (vgl. ebd.). Unterwürfigkeit und Passivität sind – wenn im Falle von Erika auch in äußerst zugespitzter Form – besonders stereotype Charakteristika von Weiblichkeit. An dieser Stelle soll jedoch bereits darauf hingewiesen werden, dass die geschilderte Szene auf der Toilette bzw. Erikas Wunsch danach, benutzt zu werden, nicht so eindimensional sind, wie es zunächst anmutet. Was die Herrschaftsverhältnisse angeht, kehrt sich die Toilettenszene um, sodass Erika schließlich zur Inhaberin von Macht wird. Genauso soll Walter Erika zwar wie einen Gegenstand behandeln, dies allerdings nur zu ihren Bedingungen, sodass sie die Kontrolle und somit die Macht über die Situation behält. Hier finden sich bereits erste Hinweise auf die Aneignung von Männlichkeit, auf die im Punkt Aneignung und Zuschreibung von Männlichkeit noch explizit eingegangen wird. Konkretisiert wird Erika Kohuts sexuell geprägtes Begehren nach Unterwürfigkeit wird in dem Brief, den sie an Walter Klemmer schreibt: Sie wünscht sich Befehle von Walter, sie selbst möchte gehorchen (vgl. KS 216). Sollte sie seinen Forderungen und Aufgaben nicht nachkommen, so möchte sie von ihm bestraft werden, das sei ihr sehnlichster Wunsch (vgl. KS 218). Auch auf ihr Bitten und Flehen soll er nicht eingehen (vgl. KS 221), soll auf ein ›Nein‹ von ihr nicht reagieren (vgl. KS 229). Sie möchte geschlagen werden, mit dem Handrücken ins Gesicht (vgl. KS 228); viele »saftige Ohrfeigen« und Fausthiebe in den Magen soll Walter ihr geben (vgl. KS 229, 219). Sie möchte außerdem gefesselt und geknebelt werden, so sehr, dass sie bewegungsunfähig ist und keinen Laut mehr von sich geben kann (vgl. KS 218 bzw. 221). Er soll sie seine Sklavin nennen (vgl. KS 219f.), sie möchte ihre Wehrlosigkeit »so richtig fühle[n]« (vgl. KS 228). Er soll sie verspotten, ausgelöscht werden möchte sie (vgl. 219, 222). Auch ihre Kleider soll in Zukunft Walter aussuchen (vgl. KS 233). Insgesamt wirkt ihr Ersuchen, das sie Walter mit dem Brief vorlegt, wie eine Entmündigung ihrer Person. Vom akuten Begehren körperlicher Gewalt, über ergebenes Füßeküssen (vgl. KS 222) und dem Verlangen der Wehrlosigkeit, gehen die Unterwürfigkeiten bald in eine phallische Richtung. Walter soll ihr in den Mund ejakulieren, so heftig, dass ihr »die Zunge fast abbricht und sie eventuell erbrechen muß« (KS 230). Ebenso soll er auf sie urinieren, so oft, bis sie sich nicht mehr dagegen

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sträubt (vgl. ebd.). Sie bittet ihn, bei den Fesseleien eine Dreieckbadehose zu tragen, die »mehr ent- als verhüllt« (KS 227). Der Penis soll als Phallus qua Sichtbarkeit die männliche Überlegenheit Walters hervorheben. Zuletzt möchte Erika an seinem »steinharte[n]« Phallus sogar ersticken (vgl. KS 230). Sie möchte sich Walter in ihrer Rolle als unterworfene Frau vollends ergeben, möchte sich und ihren Körper bis zum Letzten in der Passivität wissen. Das Vokabular, das sie in ihrem Brief verwendet, unterstreicht die Dominanzverhältnisse zwischen Walter und Erika zusätzlich. Während sie sich von ihm eine körperliche Heftigkeit und Härte wünscht, die wie im Falle der Ejakulation eine triebhafte animalische Männlichkeit markiert, formuliert Erika ihre Bedürfnisse mit zahlreichem ›bitte‹ und sehr vorsichtigem »bitte sei so gut« (KS 219), was ihre Unterwürfigkeit besonders betont. Doch auch hier sei bereits auf die Mehrdimensionalität der Szene hingewiesen. Erika gibt die Regeln vor. Alles, was sie in dem Brief schildert, soll nach ihren Bedingungen geschehen, womit sie die Kontrolle über die Situation behält, sich also nur nach ihren eigenen Konditionen unterwirft. Der Brief ist als Vertrag zu verstehen, der Erika zur »Herrin« (KS 55) macht. Hierauf wird ebenfalls im Punkt Aneignung und Zuschreibung von Männlichkeit noch weiter Bezug genommen. Parallel zu diesen Forderungen der exzessiven Gewaltausübung gegen Erika und ihren Körper wird im Roman auch ihr Wunsch nach Geborgenheit, Hinwendung und Beachtung (vgl. KS 265) geschildert. Eines Abends auf dem Nachhauseweg gibt sie sich sogar einer naiv-romantisch anmutenden Träumerei von ihr als Braut und Walter als Bräutigam hin (vgl. KS 203), welche die traditionellen Werte einer heterosexuellen Beziehung – stereotyp vor allem seitens der Frau – bis zur letzten Konsequenz in Erika aufscheinen lässt. Walter will sie hier lediglich – schließlich habe er »kraft Ausdauer […] ein Recht erworben« (KS 205) – besitzen, was bald in explizite Gewaltabsichten mündet. Die Gegenüberstellung der beiden Wünsche bzw. Bedürfnisse verstärkt die Naivität Erikas bis ins Absurde. Sowohl Erikas oben benanntes Bestreben, sich als Frau äußerlich in Szene zu setzen, als auch die fehlende Authentizität hierbei, können bereits als Hinweise darauf gelesen werden, dass sie eine Art Mangel an Weiblichkeit zu verzeichnen hat. Auch das Verlangen der maßlosen Unterordnung unter Walter, die sie in dem Brief schildert, kann als Kompensation von mangelhafter Weiblichkeit interpretiert werden. Insgesamt wird Erika zwar in vielen Punkten als weibliche Figur dargestellt, die von anderen Figuren auch als eine solche wahrgenommen und beurteilt wird. Jedoch wird gleichzeitig an einigen Stellen im Roman hervorgehoben, dass ihre Weiblichkeit in Schutt eingegraben sei (vgl. KS 89), Erika nicht als Frau erkannt wird (vgl. KS 88), und sie und andere Frauen auf einem Foto scheinbar nicht demselben Geschlecht angehören (vgl. KS 103). Es zeichnet

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sich also eine Form der Entweiblichung Erikas ab, die nun im Folgenden genauer beleuchtet wird.

1.2

Entweiblichung – oder: Die Unmöglichkeit einer weiblichen Identität

Die Schriftstellerin Ria Endres schrieb 1983 in einer Rezension im Spiegel (Endres 1983) über Erika Kohut, dass in ihr das »Stigma ungelebter Weiblichkeit als Lebensschicksal« liegt. Was Endres zu dieser Aussage veranlasst haben könnte, wurde im Vorangegangenen bereits angedeutet. Im Folgenden soll nun eingehender analysiert werden, warum genau Erikas Weiblichkeit ungelebt bleibt und wie das Ausleben einer Weiblichkeit auch durch andere Figuren verhindert wird. Oben wurde beschrieben, dass Erika bemüht ist, sich durch Kleider, Schminke und Schmuck als weiblich in Szene zu setzen. Doch die Tatsache, dass andere Leute dies als lächerlich empfinden (vgl. KS 206), ihre Mutter die Schminke mit einem »Clown« (KS 11) assoziiert und Walter Klemmer es als »Putz« (KS 206) – als etwas künstlich und grob Aufgetragenes – bezeichnet, macht deutlich, dass sie hierbei wenig authentisch auf andere wirkt. Eine glaubhafte Weiblichkeit wird ihr damit abgesprochen. Dies wird auch daran sichtbar, dass anderen Frauen bzw. Mädchen, die sich modisch kleiden und sich um ihre äußerliche Attraktivität bemühen, die Glaubhaftigkeit ihrer Weiblichkeit nicht in Abrede gestellt wird (vgl. KS 167). Als Erika zur Welt kam, »gab der Vater den Stab an seine Tochter weiter und trat ab« (KS 7). Die naheliegende Assoziation des Stabes mit dem Phallus kann als Vorverweis darauf gelesen werden, was die_den Leser_in mit der Figur Erika erwarten wird.83 Denn die psychoanalytisch gedeutete Überreichung des phallisch besetzten Stabes impliziert die Übernahme der Machtposition des Vaters, des (Ehe-)Mannes. Auch zahlreiche Sekundärliteratur erkennt, wie Erika von der Mutter nach dem Abtreten ihres Vaters in die Rolle des Ehemannes gedrängt wird. Sie soll nun Ehemann-Ersatz, d. h. Partner und Ernährer sein (vgl. Appelt 1989; Arteel 1990; Heberger 2002; Masanek 2005; Lange-Kirchheim 2007; Endres 2008; Lücke 2008; Schmid-Bortenschlager 2012 u. a.). Da Mutter Kohut ihre Tochter phallisch besetzt hat (vgl. Janz 1995: 71), ist es Erika unmöglich, sich als weiblich zu identifizieren. Die Ansprüche der Mutter auf der einen und die des patriarchalen Systems auf der anderen Seite würden schließlich dazu führen, dass sie weder der männlichen noch der weiblichen Geschlechterrolle gerecht werden könne (vgl. Szczepaniak 1998: 129; Vis 1998: 388). 83 Zur Interpretation des »Stabes« als Phallus siehe auch: Janz 1995; Heberger 2002; Masanek 2005.

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Auch die fehlende Ablösung von der Mutter wird als Ursache für Erikas mangelnde Ausbildung einer eigenen weiblichen Identität ausgemacht (vgl. Vis 1998: 383). Hinzu kommt die Abwesenheit ihres Vaters, welche ihr aus psychoanalytischer Sicht ebenso die Erfahrung einer weiblichen Identität versagt (vgl. Masanek: 2005: 135); denn ohne Vater konnte sie nie lernen, dass sie durch Ermangelung eines Penis die Kastrierte – und somit eine Frau – ist. Die »Entwicklung zur ›normalen‹ Weiblichkeit« ist ihr somit versperrt (Appelt 1989: 117). Erikas Mangel an Weiblichkeit, den sie direkt nach der Geburt durch den »Stab« ihres Vaters mitbekommen hat, scheint ihr selbst schon in ihrer Jugend bewusst zu sein. Denn sie muss sich bemühen, um von einem Nachwuchsmusiker, mit dem sie musiziert, überhaupt »als Frau erkannt zu werden, um im Notizbuch seines Geistes einen Eintrag als weiblich zu erhalten« (KS 88). Hierfür spielt sie »sehr gewandt« (ebd.) für ihn auf dem Klavier – vergeblich. Denn er beurteilt sie nur nach ihrer »schrecklichen Plumpheit im täglichen Gebrauchsleben« (ebd.). In den Formulierungen »als Frau erkannt zu werden« und dem »Eintrag als weiblich« drängt sich Erikas Defizit bezüglich ihrer Weiblichkeit geradezu auf. Als Erika vor dem Metro-Kino ein paar ihrer Schüler dabei ertappt, wie diese sich Filmplakate von einem Softporno anschauen und die abgebildeten Frauenkörper hierauf bewerten, urteilt die Erzählinstanz: […] man würde nicht glauben, daß sie und die Frauen auf den Fotos ein und demselben Geschlecht angehören, nämlich dem schönen, ja der Unkundige würde sie sogar zu verschiedenen Kategorien der Spezies Mensch zählen. Wenn man nach dem äußeren Anschein ginge. (KS 103)

Erika ist demnach so weit vom Weiblichen entfernt, dass sie nicht einmal der gleichen Kategorie der Spezies Mensch wie Frauen zuzurechnen ist. Sie wird hier in aller Deutlichkeit von der Erzählinstanz entweiblicht, indem ihr jede äußerliche Gemeinsamkeit mit Frauen abgesprochen wird. Erikas Schüler fühlt sich offenbar unwohl: Er hadert mit sich, daß er ihren weiblichen Stolz verletzt hat, weil er nackte Frauen musterte. Vielleicht hält die Kohut sich auch für eine Frau und ist nun schwer verwundet. (KS 104)

Zunächst erkennt er an, dass sie über einen weiblichen Stolz verfügt. Dies scheint aber nicht zwangsläufig zu bedeuten, dass Erika auch eine Frau ist. Denn er zieht lediglich in Erwägung, dass Erika sich für eine hält. Er spricht ihr hier vielmehr das Frausein ab, sodass es nahezu absurd wirkt, dass Erika eine Frau ist und somit eine Weiblichkeit verkörpern könnte.

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Auch wenn im Punkt Erika als weibliche Figur herausgestellt wurde, dass Erika durchaus weiblich konnotierte Attribute aufweist, konnte nun festgestellt werden, dass die weiblichen Attribute, über die Erika tendenziell verfügt, häufig negiert werden oder ihr sogar prinzipiell in Abrede gestellt werden. Auch abseits dieser negierten weiblichen Attribute weist die Figur Erika Kohut mannigfaltige Aspekte auf, die im Kontext von Zweigeschlechtlichkeit die Verkörperung einer Männlichkeit suggerieren; so zum Beispiel die oktroyierte Rolle des Ehemannes sowie die fehlende Kastrationserfahrung. Die bereits erwähnten Szenen, in denen es den Anschein macht, dass Erika sich durch Passivität und Unterwürfigkeit durchaus weibliche Attribute aneignet, weisen – wie angekündigt – noch weitere Dimensionen auf. Daher folgt nun im nächsten Punkt die nähergehende Betrachtung dieser und anderer Szenen, die veranschaulichen, dass Erika sich auch zahlreiche männliche Attribute aneignet bzw. ihr solche zugeschrieben werden. 1.3

Aneignung und Zuschreibung von Männlichkeit

Elfriede Jelinek spricht im Interview mit Neda Bei und Branka Wehkowski von einer »Herrschaftsanmaßung« bzw. einer »phallischen Anmaßung« Erikas (Bei / Wehkowski 1984: 3). Hinsichtlich der Figur Erika ist folglich auch von der Autorin eine Art Männlichkeitsaneignung intendiert. Denn Herrschaft, Machtausübung und -demonstration sowie Autonomie sind typische Attribute einer traditionellen Männlichkeit. Erikas Streben nach Macht und Herrschaft stellt jedoch aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht eine Anmaßung dar, da diese Attribute für Frauen nicht vorgesehen sind (vgl. Wilke 1993: 127). Ihre Ansprüche auf Macht und Herrschaft, jedoch auch ihr zartes Streben nach Autonomie, werden hier untersucht. Im Weiteren werden in diesem Punkt Erika Kohuts spezifische Aneignung männlich konnotierter Räume sowie männlich konnotierter Verhaltensweisen ausführlich in den Blick genommen. Erika »möchte Schwäche zeigen, doch die Form ihrer Unterlegenheit selbst bestimmen« (KS 209). Sie möchte zwar »Instrument« und »Gegenstand« für Walter Klemmer sein, ihre »Fesseln« möchte sie allerdings selbst auswählen (vgl. KS 216). Erika möchte sich – so groß ihr Verlangen danach auch ist – nur zu ihren ganz eigenen Bedingungen unterwerfen, sodass sie weiterhin die Kontrolle über das hat, was geschieht. So hat sie einen Weg gefunden, ihren Bedürfnissen nachzukommen, ohne eine gewisse Vorherrschaft einzubüßen. Auch Walter bemerkt beim Lesen des Briefs, dass er wohl dadurch, »daß er ihr Herr wird, ihrer niemals Herr werden kann […]. Indem sie bestimmt, was er mit ihr tut, bleibt immer ein letzter Rest von ihr unergründlich« (KS 219). Der sadomasochistische Vertrag – und nichts anderes ist der Brief an Walter – soll Erikas

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Vormachtstellung sichern. Sie kehrt die klischeehafte Geschlechterzuteilung von Domina und Sklave um: Nicht die Frau, sondern Walter Klemmer ist die Domina; und nicht der Mann ist der Sklave, sondern Erika Kohut. Die Domina aber dient dem Sklaven, welcher wiederum die Regeln festlegt. Wenn also Erika den masochistischen Vertrag aufsetzt, macht sie sich zum eigentlichen Herrn der Beziehung und Walter gleichzeitig zur Frau (vgl. Lange-Kirchheim 2007: 272). Sie zielt mit dem Brief auf eine Umkehrung der gesellschaftlichen, patriarchalen Gesetze; es sei ein Versuch, ihrem Schicksal als Frau zu entkommen (vgl. Appelt 1989: 125). Die Machtverhältnisse stehen somit zu Erikas Gunsten, während sie gleichzeitig die Unterworfene mimt. Auch in der Toilettenszene, in der Erika sich zunächst äußerst passiv verhält, greift sie schließlich, getrieben von ihrem »plötzlich überlegene[n] Willen« (KS 181) nach seinem Penis und hält Walter auf einer Armlänge Abstand. Sie verbietet ihm, sie zu berühren und auch zu sprechen (vgl. KS 183). Mit Zähnen und Fingernägeln tut sie ihm sogar »mit Absicht« weh (ebd.) und bricht die sexuelle Interaktion ab, noch bevor Walter zum Höhepunkt kommt. Er darf sich nicht masturbierend selbst zum Orgasmus bringen, da Erika ihm auch dies untersagt. Es stellt sich heraus, dass die Toilettenszene, in der die Machtverhältnisse zunächst deutlich zu Walters Gunsten verteilt waren, eine plötzliche Kehrtwendung erfährt. Erika ergreift die Initiative und dreht ihre passive Position abrupt in eine aktive und dominante um. Walter bleibt nichts übrig, als sich ihr zu fügen, sofern er weiterhin sexuelle Handlungen mit ihr vollziehen will. Denn sie droht ihm, sich ihm zu entziehen, sollte er ihren Anweisungen jetzt nicht Folge leisten: »Finger weg, sonst sehen Sie mich nie wieder in solcher und ähnlicher Situation, Herr Klemmer« (KS 184). Sie geht hier noch über den schnellen Abbruch der Stimulation hinaus und erniedrigt Walter, indem sie die Toilettentür weit aufsperrt, sodass potentiell vorbeilaufende Menschen direkt Walters erigierten Penis erblicken würden. »Erika findet ihn [den Penis, Anm. JS] bereits lächerlich klein« (KS 185), was ihm seine Potenz und Männlichkeit absprechen soll. Die akute Machtdemonstration und -ausübung Erikas bleibt allerdings nur von kurzer Dauer. Noch in der Toilette »hat sie sich leider wieder ganz in ihr Schneckenhaus zurückgezogen« (KS 186). Doch daran, dass Walter erwägt, den »Kampf« später so darzustellen, als hätte er ihn gewonnen (vgl. KS 198), wird evident, dass Erika diesen Machtkampf für sich entschieden hat. In ihren ausschweifenden Kleiderkäufen werden ihre Autonomiebestrebungen sichtbar. Denn diese Käufe treffen in keiner Weise auf das Wohlwollen der Mutter Kohut. Sie zerschneidet sogar eins von Erikas Kleidern, als Erika von einem verschwiegenen Ausflug zum Prater erst spät nach Hause kommt. Die Mutter macht die teuren Kleider auch verantwortlich für das fehlende Eigenheim der beiden (vgl. KS 8); darüber hinaus werden im Tragen der Kleider Erikas Bestrebungen sichtbar, einen Mann fürs Leben zu finden und sich damit von der

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Mutter zu lösen (vgl. KS 207), weshalb die Mutter dies um jeden Preis verhindern möchte (vgl. KS 12). Die Kleider seien »Indizien für Egoismus und Eigensinn« (KS 154). In den Kleidern manifestiert sich demnach Erikas Emanzipation von der Mutter, die als zarte Autonomiebestrebungen Erikas beschrieben werden können, wenngleich sie lediglich im Kaufen und (seltener) im Tragen der Kleider begriffen sind. Die Mutter macht die Kleider als Bedrohung aus und versucht diese durch Zerstörung der Kleider oder beständige Maßregelung ihrer Tochter einzudämmen, denn sie sei »ihr ganzes Eigentum« (KS 208). Erika weiß um die Funktion der Kleider und möchte sie einfach besitzen (vgl. KS 13); sie haben für sie somit einen symbolischen Wert, sie stehen für ihre Unabhängigkeit. a. Erikas selbstverletzendes Verhalten An zahlreichen Stellen im Roman wird Erikas komplexes Verhältnis zu ihrem Körper sowie ihrer Sexualität beschrieben. Beim Sex hat sie nie etwas gespürt, ist empfindungslos, sie begehrt nichts (vgl. KS 79 bzw. 277). Ihr Unterleib – stellvertretend für ihre Geschlechtlichkeit – tritt stets gemeinsam mit Angst auf (vgl. KS 91); so hat sie ein sehr angstvolles Verhältnis zu ihrer Geschlechtlichkeit bzw. darüber hinaus zu ihrer Sexualität. Ihre Vulva wird als »verdorrt« (KS 37), als »verwesende Klumpen organischen Materials« (KS 200), »poröse, ranzige Frucht« (KS 201) und »ungelüftete Innenwelten« (KS 246) beschrieben, welche Erika verachtet und vernachlässigt (vgl. KS 201). Die negativen Konnotationen zu ihrer Vulva lassen vor allem im Hinblick auf die Vernachlässigung den Schluss zu, dass hier eine Abkehr von einer aktiven weiblichen Sexualität hervorgehoben werden soll. Die Vulva als Zeichen von (biologischer) Weiblichkeit wird durch die Assoziationen mit Verwesung und Absterben vollständig negiert, womit auch die Trägerin der Vulva ihre Weiblichkeit einbüßt. Neben der regelmäßigen Selbstverletzung ihres Körpers (vgl. KS 47, 90ff., 253) lässt sich vor allem im Kontext der Verachtung ihrer Vulva die Verstümmelung derselben als ausdrückliche Abkehr von ihrer eigenen Weiblichkeit, als eine Art Entledigung des vermeintlich eindeutigen Anzeichens für Weiblichkeit, interpretieren (vgl. KS 90ff.).84 Marlies Janz dagegen interpretiert die Szene, in der Erika ihre Vulva mit einer Rasierklinge verletzt, zwar einerseits auch als Versuch der Einnahme einer Position, in der Erika nicht mehr Objekt, sondern Subjekt und somit autonom und 84 In dieser Szene wird auch die generelle Unterordnung der Frau unter den Mann mit Erreichen der Geschlechtsreife hervorgehoben: Sobald das Mädchen ihre Menstruation bekommt, muss sie die Pappkrone, mit der sie Prinzessin spielte, gegen »das beliebte Zellstoffpaket« (KS 91) tauschen, womit ein Menstruations-Hygieneartikel umschrieben ist. Da Erika die Binde hier jedoch nicht zum Zwecke der Menstruation nutzt, geht es auch hier nicht um die Betonung ihrer (biologischen) Weiblichkeit.

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selbstbestimmt ist. Allerdings sieht Janz darin keine Abkehr von ihrer Weiblichkeit, sondern vielmehr eine selbstermächtigende Aneignung einer Weiblichkeit, eine »symbolische Selbstkastration[…]«, mit der »sie sich selbst zur ›Frau‹, zur ›Kastrierten‹, macht und so ihre ›Weiblichkeit‹ herstellt« (Janz 1995: 76). Verschiedene andere Analysen hingegen interpretieren die Selbstverstümmelung als Abkehr von der traditionellen Weiblichkeit. Szczepaniak spricht diesbezüglich von einer Dekonstruktion der Weiblichkeit am Körper der Frau (vgl. Szczepaniak 1998: 125). Inge Arteel sieht in der Verstümmelung von Erikas Vulva ähnlich wie Janz die Überwindung ihres Objektstatus, da auch der »›phallischste‹ Mann [damit] nichts mehr anfangen [kann]« (Arteel 1990: 105). In dieser Auslegung entzieht Erika sich dem Begehren des heterosexuellen Mannes. Arteel geht jedoch weiter und versteht die Zerschneidung ihres Geschlechts letztlich im Gegensatz zu Janz als Versuch, »das biologische Zeichen ihrer Weiblichkeit durchzustreichen« (Arteel 1990: 103). Annegret MahlerBungers (1988a) und Hedwig Appelt (1989) interpretieren die Selbstverstümmelung der Vulva sogar als Suche nach dem Phallus im Körperinneren; sie gehen also davon aus, dass die symbolische Existenz einer Männlichkeit gar nicht in Zweifel steht, sondern nur gefunden werden muss. Hieraus erschließt sich, dass bei diesem Ansatz nicht die Abkehr von einer Weiblichkeit zentral ist, sondern die Sichtbarmachung ihrer ohnehin existenten Männlichkeit. Bezug zu Erikas Vulva wird ebenfalls in der Szene, in der Erika eine PeepShow besucht, hergestellt: »Erika hat ein Gefühl von massivem Holz dort, wo der Zimmermann bei der echten Frau das Loch gelassen hat« (KS 55). Zunächst wird also festgestellt, dass Erika keine »echte« Frau ist. Sie verfügt über kein Loch, keine Vulva also, sondern besitzt an dieser Stelle massives Holz, welches einerseits als ein bloßer Verschluss der sexualisierten Körperöffnung gesehen werden kann, womit Erika geschlechtslos würde.85 Andererseits kann das massive Holz aber auch als Penis-Analogie und damit als Vermännlichung verstanden werden, was im Kontext der Aneignung männlicher Räume und Verhaltensweisen durch den Besuch der Peep-Show plausibel erscheint. Die biologisch eindeutige Weiblichkeit wird Erika allerdings in beiden Fällen abgesprochen. Folgt man bezüglich der Metapher des »massiven Holzes« der Deutungsmöglichkeit der Geschlechtslosigkeit, könnte letztlich auch die Interpretation der Selbstverletzung der Vulva um eine neue Perspektive erweitert werden: Erika produzierte demnach mit dem Schnitt in die Vulva ein Loch, wo der Zimmermann ihr keines gelassen hatte. In dieser Logik wäre die Selbstverletzung der Versuch einer Aneignung von Weiblichkeit. Auch Masanek ist in diesem Kontext 85 Vgl. zur psychischen Geschlechtslosigkeit Erikas: Janz 1995.

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der Auffassung, dass Erika versucht, sich mit dieser Selbstverletzung zu kastrieren (vgl. Masanek 2005: 135), sich also einer vorhandenen Männlichkeit zu entledigen, um Weiblichkeit zu erfahren. Stellt man andererseits die bloße Tatsache der Verstümmelung der Vulva in den Fokus, so handelt es sich sicherlich um eine deutliche Abkehr von Weiblichkeit. Folgt man Mahler-Bungers und Appelt hinsichtlich der Suche nach dem innenliegenden Phallus, so bleibt an der Existenz einer Männlichkeit kein Zweifel, womit Erika von einer Abkehr von Weiblichkeit bereits weit entfernt wäre. Was trotz der Vielzahl an Auslegungen zum Akt der Selbstverletzung der Vulva in jedem Fall festgehalten werden kann, ist, dass hier eine bedeutend aktive Handlung der Protagonistin hinsichtlich der Modifizierung ihrer Geschlechtlichkeit sichtbar wird. Hiermit wird zum einen die Beliebigkeit und Absurdität der gesellschaftlichen Konventionen für Geschlecht(-smerkmale) ironisch betont und zum anderen die Hybridität bzw. Androgynität (vgl. Appelt 1989: 120) der Figur Erika besonders hervorgehoben. b. Aneignung von männlich konnotierten Räumen Wenn man sich der Deutung des massiven Holzes als metaphorische Umschreibung für einen Penis anschließt, so entsteht im Kontext von Erikas PeepShow-Besuch eine männlich konnotierte Zuschreibung, die über eine Entweiblichung klar hinausgeht. Der Begriff der Zuschreibung ist hier allerdings nicht ganz treffend, denn es ist kein_e zuschreibende_r Akteur_in eindeutig auszumachen. Es wird vielmehr ein Gefühl Erikas beschrieben: sie hat das »Gefühl von massivem Holz« (KS 55) zwischen den Beinen. Es handelt sich hierbei folglich weder um eine Zuschreibung von außen – etwa durch die Erzählinstanz – noch um eine direkte Aneignung durch Erika. Es scheint vielmehr der Ort an sich zu sein, der eine Art Vermännlichung hervorruft. So wird auch gleich zu Beginn des Besuchs die »Extrawurst« (KS 53) erwähnt, die Erika stets haben möchte. Die Extrawurst kann hier genauso wie das Holz als Analogie zum Penis verstanden werden, als ein Penis also, den Erika sich allein durch die Tatsache zulegt, dass sie eine Peep-Show besucht. »So gut wie nie verirrt sich eine Frau hierher« (ebd.), eine Peep-Show ist folglich ein äußerst männlich konnotierter Raum. Es wird in dieser Szene eine heterosexistisch aufgeladene Stimmung beschrieben, in der Erika als Frau kurzzeitig mit einer Sexarbeiterin verwechselt wird (vgl. KS 55). Erika geht wie selbstverständlich an den anstehenden Männern vorbei und in eine Kabine hinein (vgl. ebd.), um dort eine Frau zu beobachten (vgl. KS 57). Diese Selbstverständlichkeit im Verhalten – selbst den mit dem Raum vertrauten Männern gegenüber – zeugt von einer klaren Aneignung des Raumes. Genauso spricht das Verhalten der anwesenden Männer für eine authentische Bemächtigung des Raumes durch Erika; sie

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lassen sie einfach passieren. Die Tatsache, dass Erika ein Papiertaschentuch vom Boden aufnimmt und den Geruch tief inhaliert (vgl. KS 56), belegt zudem, dass sie den männlich konnotierten Raum mit seinen männlich konnotierten Attributen in sich aufnimmt und ihn sich somit aneignet. An einem Abend geht Erika nach der Arbeit einen anderen Weg, auf der Suche nach einem »prächtige[n] Wolf, ein[em] böse[n] Wolf« (KS 48), den sie »mit Blicken einladen« (ebd.) will. Sie scheint also auf einer dunklen Straße auf der Suche nach einem sexuellen Objekt zu sein; die Männer aber, die ihr zuzwinkern, seien nicht der Wolf, den sie sucht, und somit weist Erika sie autonom und selbstsicher von sich. Dunkle Straßen gelten gemeinhin als unsicherer Ort für Frauen, da sie hier vermeintlich Gefahr laufen, einen (sexuellen) Übergriff zu erleben. Auch die Erzählinstanz bemerkt: »Die Welt scheint, kaum ist die Dunkelheit hereingebrochen, zu einem Großteil aus männlichen Teilnehmern zu bestehen« (KS 141). Damit wird verdeutlicht, dass Erikas Aneignung dieses Raumes den Normen widerspricht. Darüber hinaus kehrt sie das übliche Geschehen auf dunklen Straßen um, indem sie als Frau sich auf die Suche nach sexuellen Kontakten macht, was sonst vornehmlich Männern zugerechnet wird. Ein letzter Raum, der hinsichtlich Erikas Aneignung hervorgehoben werden soll, sind die Praterauen (vgl. KS 138ff.). Der Prater als einziger Ort in Wien mit einem offiziellen »Straßenstrich« (Berger 2012) ist durchaus ein sexuell aufgeladener Ort. Besonders die Auen scheinen bei Dunkelheit kein sicherer Ort (für Frauen) zu sein: »Hier, im Abseits, befinden sich nur mehr jene, die beruflich hier sein müssen. Oder die ihrem Hobby, dem Vögeln oder eventuell dem Berauben und Töten der von ihnen gevögelten Person nachgehen« (KS 139). Doch das schreckt Erika keineswegs ab: »Sie war schon öfter hier. Sie kennt sich aus« (ebd.). Sie ist folglich vertraut mit diesem unsicheren, männlich konnotierten und männlich dominierten Raum und eignet sich ihn für ihre Zwecke an, womit sie ein Risiko eingeht. c. Aneignung von männlich konnotierten Verhaltensweisen Insgesamt lässt sich sagen, dass mit dem Aneignen unsicherer und männlich konnotierter Räume ein gewisses Risikoverhalten Erika Kohuts sichtbar wird. Erhöhtes Risikoverhalten ist nach Joachim Kersten ein typisches Merkmal für Männlichkeit, bzw. für die Zurschaustellung von Männlichkeit beim Fehlen anderer Ressourcen (vgl. Kersten 1997: 107). Erika macht sich also mit der Bemächtigung dieser Räume gleichzeitig männlich konnotierte Verhaltensweisen zu eigen. Nicht nur Risikoverhalten lässt sich im Kontext von Erikas Raumaneignung als männlich konnotierte Verhaltensweise ausmachen. An Erikas Spaziergang durch die dunklen Straßen auf der Suche nach einem geeigneten Mann für sexuellen Kontakt beispielsweise lässt sich darüber hinaus die stereotyp

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männliche Annahme von der generellen Verfügbarkeit des begehrten Objekts erkennen, derer sie sich bemächtigt. Hier fällt eine deutliche Steigerung der Autonomie auf, wenn man berücksichtigt, dass ihr Autonomiebestreben vorher symbolisch vom weiblich konnotierten Kleiderkauf umgeben war. Die Zurückweisung der Männer, die für sie nicht infrage kommen, in Verbindung mit der Annahme, dass ihr ohnehin alle zur freien Verfügung stünden, stärkt den Eindruck einer autonomen Figur. Somit lässt sich eine Aneignung von männlich konnotierten Attributen und damit eine Art Vermännlichung Erikas verzeichnen.86 Mit dem Besuch der Peep-Show und dem Beobachten des kopulierenden Paares auf der Jesuitenwiese im Prater lassen sich gleich zwei männlich konnotierte Verhaltensweisen ausmachen: Voyeurismus und die Objektivierung bzw. die Fragmentarisierung anderer (Körper).87 Nach Laura Mulvey ist der voyeuristische Blick per se ein männlicher, ein male gaze88. Mulvey schreibt, dass »die Lust am Schauen in aktiv / männlich und passiv / weiblich geteilt« (Mulvey 1994: 55) ist. Sobald also Erika einen aktiven Part hierbei einnimmt, eignet sie sich auch eine Form von Männlichkeit an. Marlies Janz sieht darin die Einnahme einer »›phallischen‹ Position« (Janz 1995: 75), bezeichnet Erika sogar als »›phallische[…]‹ Frau« (Janz 1995: 72).89 Sie eignet sich demnach mit dem Voyeurismus nicht nur eine männlich konnotierte Verhaltensweise an, sondern nimmt dezidiert eine männliche Machtposition ein. Interpretiert man Erikas unbändigen Drang zum Urinieren in den Praterauen beim Beobachten des heterosexuellen Paares als eine Art Ejakulation, die auf höchste Lust folgt, so wird die Vermännlichung komplettiert. In der Peep-Show macht sie andere Frauen zum »Objekt ihrer Schaulust« (KS 58). Sie adoptiere den männlichen Blick auf den weiblichen Körper (vgl. Wilke 1993: 133): Erika tut es den anderen anwesenden Männern gleich und reduziert die Frauen auf ihre Körper. Sie distanziert sich dabei von den beobachteten Frauen und befindet sich in einer machtvolleren Position, da sie sich durch deren Objektivierung über die anderen Frauen erhebt. Wenn die Erzählinstanz hervorhebt, dass Erikas »Loch […] nun ganz Besitz von ihr ergriffen [hat]« (KS 86 Autonomie stellt einen Zustand dar, der Männern von Kindheit an als besonders erstrebenswert nahegebracht wird (vgl. zum männlichen Autonomiewunsch auch Pohl 2004), weshalb hier ein kausaler Zusammenhang von Autonomiestreben und Männlichkeit plausibel ist. 87 Vgl. zum Voyeurismus als männliche Eigenschaft, bzw. zur Internalisierung des männlichen Blicks durch Erika außerdem Burger 1990, Arteel 1990, Fischer 1991, Janz 1995, Szczepaniak 1998, Lücke 2008, Kaplan 2009. 88 Fischer 1991, Lange-Kirchheim 2007, Kaplan 2009 und Hochreiter 2012 sprechen diesbezüglich von Erikas männlichem bzw. phallischem Blick. 89 Hier ist allerdings nicht die phallische Frau im Sinne Angela McRobbies (vgl. McRobbie 2010) gemeint.

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Analyse

201), wird eine sexuelle Triebsteuerung Erikas suggeriert, die sonst in der Regel der Beschreibung von Männern vorbehalten ist. Die Erzählinstanz attribuiert hier in ihrer Beobachtung männlich konnotierte Eigenschaften auf die Figur Erika, womit noch einmal deutlich wird, dass die Erzählinstanz eine wesentliche Funktion bei der Vermittlung der geschlechtlichen Performanz einnimmt. 1.4

Die Frau mit der phallischen Anmaßung – Ein Resümee

Erika Kohut befindet sich in einem Dilemma. Sie ist zwischen der Sehnsucht, von Walter begehrt und dadurch in einem heterosexuellen Kontext als Frau anerkannt zu werden, und dem Bedürfnis, in der Konkurrenz zu ihm Männlichkeit herzustellen, hin und her gerissen. Erika hat die misogynen und patriarchalen Denkmuster vollständig inkorporiert und kommt so über die Männerprojektionen von Weiblichkeit nicht hinaus (vgl. Janz 1995: 83; Szczepaniak 1998: 128). Bei ihren Bemühungen, die Rollenerwartungen an eine traditionelle Frau zu erfüllen, indem sie sich äußerlich attraktiv gestaltet und sich der Passivität und Unterordnung hingibt, stößt sie schnell an ihre Grenzen. Mangelnde Authentizität ihrer Weiblichkeit sowie ihre Unfähigkeit, sich endgültig unterzuordnen und auf den Herrschaftsanspruch zu verzichten, stehen ihr im Wege. Der Herrschaftsanspruch wurde ihr schließlich schon bei ihrer Geburt von ihrem Vater mitgegeben. So ist sie immer wieder bestrebt, männlich konnotierte Räume einzunehmen und sich männlich konnotierte Attribute anzueignen. Denn diese versprechen ihr eine Machtposition. Doch auch hier übernimmt sie aus Mangel an Alternativen die Normen und Sichtweisen der patriarchalen Gesellschaft. Sie ist unfähig, eine eigene, von den gesellschaftlichen Konventionen unabhängige Identität zu bilden (vgl. Vis 1998: 37), was sich aus der Beziehung zu ihrer Mutter sowie dem abwesenden Vater erschließen lässt (vgl. Masanek 2005: 135 und Arteel 1990: 87). So erklären sich alsdann Erikas Aneignung männlich konnotierter Verhaltensweisen und die Einnahme von männlich konnotierten Räumen: Ihr Voyeurismus und der male gaze Erikas, die erhöhte Risikobereitschaft, die Kontrollsucht, das Autonomiestreben, die Triebsteuerung sowie das Machtbedürfnis insgesamt sind allesamt Attribute einer hegemonialen Männlichkeit, wie sie von einer traditionell orientierten Gesellschaft gefordert werden. Es fällt also auf, dass die Faktoren, die für eine hegemoniale Männlichkeit Gültigkeit besitzen, auch für Erika zu Orientierungspunkten werden. Ein Versuch Erikas, ihre Zerrissenheit aufzulösen und beide Positionen miteinander zu vereinen, stellt der sadomasochistische Vertrag dar : Erika könnte sich der Unterlegenheit hingeben und somit eine Weiblichkeit leben, während sie gleichzeitig die Kontrolle über die Situation und die Herrschaft über

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Walter behielte, womit sie parallel eine Männlichkeit lebbar machte. Doch Walters Ablehnung des Vertrages zerschlägt auch diesen Versuch. An vielen Stellen passt Erika in ihrer männlichen Performanz. Nicht zuletzt die ausgiebigen Machtspiele mit Walter Klemmer, auf die im Punkt Kompositionsglieder der Jelinek’schen Patriarchatskritik noch ausführlicher eingegangen wird, belegen dies. Sie ist durchgehend bemüht, sich eine Vormachtstellung anzueignen. Auch wenn Erika Walter am Ende des Romans nicht vollständig unterliegt, wäre es zu weit gegriffen, von der Erarbeitung einer Vormachtstellung, d. h. eines hegemonialen Status, durch Erika zu sprechen. Dass dies für tendenziell weiblich wahrgenommene Personen generell nicht möglich ist, wurde im Theorieteil ausführlich diskutiert. So scheitert Erika am Patriarchat. Die Tatsache, dass sie in den meisten Fällen als Frau gelesen wird, macht es ihr unmöglich, ihre Machtposition tatsächlich als eine solche auszuleben. Eine Hypothese dieser Arbeit besagt, dass das Scheitern dazu führt, das erlebte Defizit zu kompensieren. Dies kann bei der Figur Erika an verschiedenen Stellen vermutet werden, wenn man ihre psychischen Merkmale und ihren Habitus betrachtet: Zunächst könnte die Kompensation des Defizits die Motivation für ihre zahlreichen Selbstverletzungen sein, vor allem für die Verstümmelung ihrer Vulva. Denn die Weiblichkeit, die auf eine Art an ihr haftet, ist es, durch welche sie in erster Linie am Patriarchat und in der Verkörperung einer Männlichkeit scheitert. Je nach Auslegung des Primärtextes ist Erika bei der Verstümmelung entweder bemüht, sich jeglicher Weiblichkeit zu entledigen und Weiblichkeit somit insgesamt zu negieren oder die Selbstverletzung stellt den Versuch dar, den vorhandenen – innenliegenden – Phallus und damit ihre Männlichkeit sichtbar zu machen. Beide Interpretationen führten dazu, dass sie damit ein Scheitern am Patriarchat abwenden kann, da sie sich so in die Kategorie Mann des binären Geschlechtersystems der erzählten Welt einfügen ließe. Auf der anderen Seite sind die exzessiven Kleiderkäufe und das übermäßige Schminken zu nennen, welche durch exponierte Weiblichkeit somit auch das Potential besitzen, eine Reaktion auf das Defizit zu sein. Dies kann in Verbindung mit dem Begehren, völlig wehrlos zu sein, der außerordentlichen Unterwerfung sowie dem Verlangen, von Walter benutzt zu werden, als eine Art Resignation auf das empfundene Defizit gelesen werden. Denn mit übertriebener Weiblichkeit und Unterwürfigkeit erfüllt sie letztlich genau die Anforderungen des Patriarchats an eine emphasized femininity und würde so dem defizitären Erleben aus dem Weg gehen. Der sadomasochistische Vertrag stellte letztlich einen Mittelweg dar. Er könnte als der Versuch gelten, das empfundene Defizit zu kompensieren, indem sie sich eines Teils ihrer Männlichkeit bemächtigt, während sie sich gleichzeitig einige traditionell weiblich konnotierte Attribute erhält – doch Walter ›unterschreibt‹ dieses Abkommen nicht.

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Letztlich verkörpert Erika aufgrund ihres dynamischen Wesens weder eine emphasized femininity noch eine hegemoniale Männlichkeit – und auch der Versuch eines Mittelwegs scheiterte. Ihr Versuch, sich über Schminke und neue Kleider sexuell attraktiv und vor allem weiblich zu präsentieren, kann als Form der postfeministischen Maskerade verstanden werden. Sie wirkt dadurch in ihrer recht machtvollen Position weniger bedrohlich für den jungen Walter und versucht so, eine emphasized femininity zu mimen, die sie aber nicht verkörpern kann. Erika Kohut ist ein Hybrid – und so kann sie nur am Patriarchat scheitern, da Hybride in den rigiden (Geschlechter-)Strukturen des Patriarchats nicht vorgesehen sind.

2.

Walter Klemmer – Über die Unmöglichkeit zu Herrschen »Hat er recht verstanden, daß er dadurch, daß er ihr Herr wird, ihrer niemals Herr werden kann?«

Walter Klemmer ist ein junger Student an der technischen Hochschule (vgl. KS 32). Er ist sportlich, hübsch und blond (vgl. ebd.), »in Maßen modisch« und »in Maßen intelligent« (KS 68). Es scheint nichts Besonderes an ihm zu sein: »Nichts steht bei ihm vor, nichts ist übertrieben« (ebd.) – ein Durchschnittstyp, »Klemmer ist die Norm« (KS 218). An zahlreichen Stellen wird seine Jugendlichkeit, Sportlichkeit und Fitness hervorgehoben, womit die Erzählinstanz eine sehr körperbezogene Figur suggeriert: Er sei »schrecklich intakt und unbeschwert« (vgl. KS 78). Walter tritt als Klavierschüler in Erika Kohuts Leben. Er ist »heimlich« in sie »vernarrt« (vgl. KS 67). Denn er findet, dass Erika genau die richtige Frau ist, um für spätere Lieben zu lernen: »Der junge Mann fängt klein an und steigert sich rasch« (ebd.). Obwohl die Erzählinstanz später anmerkt, dass Walter in Erika verliebt ist (vgl. KS 68), wird bereits hier angedeutet, dass er sie nur für seine Zwecke nutzen will und es ihm nicht ernsthaft um sie als Person geht. Im Folgenden wird die geschlechtliche Performanz von Walter untersucht. Hierbei wird vor allem auf Walters Frauenbild sowie sein Verhältnis zu seinem Körper und seine Intellektualität rekurriert. Dass die Figur Walter eine männliche ist, scheint außer Frage zu stehen. Doch an einigen Stellen im Roman wird deutlich, dass die Performanz dieser Männlichkeit nicht ohne Brüche erfolgt. Diese Bruchstellen werden in diesem Abschnitt in erster Linie anhand von Walters Potenz-Versagen und der Verweiblichung der Figur aufgezeigt.

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2.1

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Walters männliche Performanz

Die Verkörperung einer traditionellen Männlichkeit funktioniert grundsätzlich über die Herstellung bzw. Beanspruchung von Vorherrschaft hinsichtlich verschiedener Strukturkategorien. Walter ist allerdings noch jung, studiert und wohnt außerdem noch bei seinen Eltern. Er hat also weder das Alter noch die nötige Autonomie oder die ökonomischen Ressourcen erreicht, um in der homosozialen Konkurrenz mit anderen Männern eine sichere Vormachtstellung zu erreichen. Um Walters Verkörperung von Männlichkeit beschreiben zu können, muss also in erster Linie untersucht werden, wie Walter trotz seiner eingeschränkten Möglichkeiten bemüht ist, seine männliche Vorherrschaft zu produzieren. Angelika Schneider konstatiert, dass Freizeitsport und Sexualität die zentralen Bereiche sind, in denen sich männliche Identität als scheinbar autonomes Subjekt im Spätkapitalismus ausbildet (vgl. Schneider 1995: 93). Folglich liegt auch Walters Fokus auf seiner Profilierung durch seinen Körper (vor allem durch die Betonung seiner Sportlichkeit) sowie seiner deutlichen Abwertung bzw. Unterordnung von Frauen, die ihm zur Abgrenzung vom weiblichen Geschlecht dient. Die Sportarten, die Walter ausübt (Kampfsport und Wasserpaddeln), dienen darüber hinaus als zusätzliche Differenzverstärker zum Weiblichen (vgl. Lange-Kirchheim 2007: 273). Gleichzeitig ist er bemüht, sich durch intellektuelle Auseinandersetzungen hervorzuheben. Anhand dieser Aspekte kann Walter bereits jetzt Macht und Vorherrschaft und somit Männlichkeit für sich beanspruchen. Die im Roman geschilderten Interaktionen mit anderen Figuren beschränken sich jedoch auf seine Kontakte zu Erika, weshalb die Herstellung seiner Männlichkeit lediglich in dieser heterosozialen Perspektive untersucht werden kann. a.

Abgrenzung von Weiblichkeit – Anforderungen an die Frau und deren Missbilligung Walter beruft sich bezüglich der Geschlechter auf vermeintlich qua Natur vorgegebene Machtverhältnisse. Für ihn scheint nur relevant zu sein, dass Erika eine Frau ist und er ein Mann. Aus diesem Unterschied folgt für ihn eine biologistische Rangordnung, an der es sich zu orientieren gilt. Neben dem von ihm ausgemachten biologischen Unterschied bedient er sich außerdem an der Schöpfungsgeschichte der Bibel: »Er sagt zu Erika: damit das gleich klar ist. Nichts Schlimmeres als eine Frau, welche die Schöpfung neu schreiben will« (KS 267f.). Aus dem Kontext dieser Bemerkung lässt sich folgern, dass Walter der Auffassung ist, dass Frauen laut Schöpfungsgeschichte Männern per se untergeordnet sind. Es gäbe hiernach nichts Schlimmeres als Frauen, die sich emanzipieren und autonom vom Mann agieren (wollen).

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Aus diesem Geschlechterbild ergeben sich seine Vorstellungen der geschlechtsspezifisch verteilten Rollen und Aufgaben, woraus wiederum Walters rigide Erwartungen an Frauen resultieren. Um seine Ansprüche zu legitimieren, beruft er sich, wie oben erwähnt, auf vermeintlich natürliche Dispositionen der Geschlechter, die durch Religion und Kultur gestützt würden. Ein Kommentar der Erzählinstanz macht den Tenor deutlich: »Und doch muß sie [Erika, Anm. JS] lernen, daß sie das Wild und der Mann der Jäger ist« (KS 201). Ähnlich befindet Walter : »er ist der Reiter, schließlich ist sie das Pferd!« (KS 182). Er rechnet Erika der Gruppe der Frauen zu und leitet aus dieser Gegebenheit ab, dass Erika sich ihm – als Vertreter der Gruppe der Männer – gegenüber auf eine bestimmte Art zu verhalten hat. Der Mann erscheint hier als der dominante Part, der sich durch Machtausübung und Kontrolle auszeichnet, während die Frau in der Passivität objektiviert, unterworfen und bis hin zum (Wild-)Opfer stilisiert wird. Walter merkt an, dass ein Mann eine Frau schnell satt habe, weshalb man »sich als Frau eben abwechslungsreich zubereiten können« muss (KS 217). Wie bereits im Abschnitt zu Erika Kohut beschrieben, ist dies eine weit verbreitete Erwartung an Frauen der westlichen Gesellschaften. Genauso habe sie den Mann freudig aufzunehmen (vgl. KS 277) – selbst wenn der Sexualkontakt gegen ihren Willen geschieht, schließlich habe er »ein Recht erworben« (KS 205). Walter achtet Erikas Willen in der Regel nicht: Sobald sie denselben formuliert und Forderungen an ihren Umgang miteinander stellt (vgl. den Brief an Walter) wiegelt er diese Bedürfnisse ab, indem er wütend wird und sogar Gewalt anwendet. Zwei tragende Säulen heterosexueller Männerphantasien seien Beherrschbarkeit und vollständige Kontrolle (vgl. Lange-Kirchheim 2007: 274). Wenn Walter sich also durch potentielle Entmachtung und Kontrollverlust – was beides durch den Brief folgen könnte – bedroht fühlt, wird er akut in seiner Männlichkeit angegriffen, worauf er mit Wut und Gewalt reagiert. Die Annahme der Allgemeingültigkeit seiner Ansichten ist evident, denn es bedarf hier keiner weiteren Argumentation durch Walter ; er beruft sich auf seine »reine Vernunft« (KS 182). Diese Werte und Auffassungen scheinen ihm in seiner Sozialisation als Mann als gesellschaftliche Konventionen vermittelt worden und damit für Walter obligatorisch und unanfechtbar zu sein, weder hinterfragt noch reflektiert er sie. Vernunft und Leistung sind nach LangeKirchheim Männlichkeitsstereotype (vgl. Lange-Kirchheim 2007: 273). Wenn Walter sich also auf seine reine Vernunft bezieht, kann er sich gleichzeitig von Weiblichkeit distanzieren und sich in der männlichen Opposition verorten. So empfindet er den Mann in sich als »mißbraucht« (KS 184) und reagiert mit Aggressionen, wenn Erika sich auf sexueller Ebene für einen Moment autonom und selbstbestimmt gibt, indem sie Walter sexuelle Aktivität und einen Orgasmus untersagt. Der Mann müsse »nach Spiel und Sport sauber geputzt ins

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Futteral zurückgelegt werden« (ebd.).90 Die Frau ist also für das Wohlergehen des Mannes zuständig, sie ist für die Sorgearbeit verantwortlich. Er will ihr sodann erklären, »was man alles mit einem solchen Mann nicht machen darf« (KS 185). Er hebt beständig hervor, wie eine Frau sich zu verhalten hat und versucht Erika vehement, wenn nötig auch unter Zwang per Gewalt (vgl. KS 205), an seine Vorstellungen einer heterosexuellen bzw. heterosozialen Beziehung anzupassen. Seine Anstrengungen der Normierung Erikas gipfeln schließlich in ihrer Vergewaltigung. Er schließt hier mit der Frage, »ob sie so etwas noch einmal mit einem Mann probieren werde« (KS 278). Walter ist der Ansicht, Erika habe seinen Gewaltausbruch persönlich herausgefordert, »indem sie über ihn und seine Begierde zu herrschen wünschte« (KS 274). Mit »so etwas« meint er wohl ihren Versuch der Entmachtung eines Mannes durch die eigene Machtaneignung sowie die Unterordnung eines Mannes durch sexuelle Emanzipation (vgl. Toilettenszene und Brief an Walter). Indem er Letzteres verhindert, sichert er seine Macht und Männlichkeit. Walters Erwartungen an adäquates Verhalten einer Frau gründen in seinem generellen Geschlechterbild. Im Vordergrund steht für ihn dabei auf der einen Seite der Mann als Inhaber von Macht, der sich durch Aktivität und Stärke auszeichnet und der durchaus über die Legitimation zur Triebhaftigkeit verfügt. Auf der anderen Seite stehen die Objektivierung bis hin zur Verdinglichung und Fragmentarisierung von Frauen sowie die umfassende Missbilligung des weiblichen Geschlechts und dessen Wertlosigkeit. Walter instrumentalisiert Erika zu einem »Versuchsmodell« (KS 68), an der er das Lieben lernen möchte. Sie soll einen »Gegenstand« aus sich machen, den nur er »verwerten« kann (vgl. KS 177). Er macht Erika im Zuge der Vergewaltigung zu seinem »Besitz« (KS 268), welchen er sich in »werkzeughafter Manier« (KS 269) aneignet. Sowohl aus den gewählten Vokabeln als auch aus Walters Handlungen spricht eine klare Objektivierung Erikas, die in eine Verdinglichung mündet. Die Tatsache, dass er das, was unter Erikas Kleidung ist, endlich besitzen will (vgl. KS 204), kommt einer Fragmentarisierung ihrer Person gleich. Erika wird hier von Walter nicht mehr im Ganzen wahrgenommen, sondern auf ihren Körper reduziert. In spätestens einem halben Jahr habe er »Erika gierig verpraßt und kann sich dem nächsten Genuß zuwenden« (KS 194). Diese Warenhaftigkeit bezieht sich nicht nur auf Erika. Er habe schon Frauen »besessen und dann zu Billigpreisen wieder abgestoßen« (KS 126). Frauen werden insgesamt als Ware mit geringem Wert betrachtet; als Gut, über das der Mann frei verfügen kann. Da in der 90 Interessant ist hier, wie die phallische Männlichkeit an dieser Stelle als verdinglicht dargestellt wird (vgl. Schneider 1995: 93), was der von Walter postulierten männlichen Aktivität und Dominanz widerspricht.

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erzählten Welt eine Komplementarität der zwei91 Geschlechter suggeriert wird, folgt aus der Betonung der Wertlosigkeit der Frau automatisch die Annahme einer Wertsteigerung des Mannes. Insgesamt scheint Walter davon überzeugt zu sein, dass er durch diesen Verbrauch der Frauen als Konsumgüter seine Männlichkeit entwickelt, was jedoch durch Jelineks satirische Sprachspiele ständig relativiert wird (vgl. Szczepaniak 1998: 145f.). So wird seine Männlichkeit, die unter anderem auf eben diesem Kriterium basiert, in Frage gestellt und subvertiert. Die allgemeine Missbilligung von Frauen wird auch durch die Erzählinstanz betont, indem sie Walters Vorgehen folgendermaßen beschreibt: »Die Handlungsweise Klemmers wälzt sich lustvoll in weiblicher Mißbilligung« (KS 274). Um Letztere bis zum Äußersten zu treiben, lässt er sich mit der Vergewaltigung noch Zeit und trinkt vorher noch ein Glas Wasser (vgl. KS 275). Damit wird noch einmal hervorgehoben, dass Walter Frauen und Weiblichkeit keinerlei Wert zuspricht, worüber er seine Macht auskostet. Er fühlt sich vollständig über das weibliche Geschlecht erhaben und blickt verachtend darauf hinab. Sabine Wilke spricht diesbezüglich sogar von Walter Klemmers »Frauenhass[…]« (Wilke 1993: 135). Dieses Bild der Frau wirkt besonders konstituierend auf Walters Männlichkeitskonstruktion. Er zwingt Erika in seine Vorstellung der Rolle einer Frau, weil er diese für die Bestätigung seiner Rolle als Mann benötigt (vgl. Arteel 1990: 111). Er setzt Frauen und Männer stets in Kontrast zueinander und grenzt sich selbst somit von Weiblichkeit ab. Dabei geht er von der Annahme aus, dass Frauen per se unterlegen sind, sodass er als Mann zwangsläufig als Machtinhaber hervorgeht. Indem er also die strukturelle Unterdrückung der Frau im Patriarchat für sich nutzt, kann er mit geringem Aufwand Macht und Vorherrschaft über Frauen herstellen und verkörpern. Sobald diese männliche Vorherrschaft einmal angezweifelt wird, bedient er sich der ultima ratio, der körperlichen Gewalt (vgl. KS 272). b. Der Einsatz des Körpers Neben seinem auf Biologismen und Religion gründenden Frauenbild legitimiert er – vor allem im Zweifelsfall – seine Vormachtstellung durch die Demonstration seiner physischen Überlegenheit. In diesem Abschnitt wird zunächst analysiert, wie Walter versucht, die Machtverhältnisse zwischen ihm und Erika über seinen Körper zu regeln. Es wird außerdem dargestellt, wie Walter seinen Körper insgesamt nutzt, um Männlichkeit herzustellen und aufrechtzuerhalten. Hierzu wird auch ausführlicher Bezug zu seiner Triebhaftigkeit genommen. 91 Die Annahme, dass es nur zwei Geschlechter gibt, bezieht sich lediglich auf die Logik des Romans, der erzählten Welt, nicht auf die theoretische Grundlage dieser Arbeit.

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Schon zu Beginn der Beziehung zu Erika wird über eine Art metaphorischen Vorverweis angedeutet, dass Walters Körper bezüglich der Dominanz über Erika zunehmend eine Rolle spielen wird: »Dieser Vogel Erika wird schon noch seine Schwingen wachsen fühlen, dafür sorgt der Mann« (KS 69). Während seine körperliche Stärke zunächst noch dazu dient, Erika im Notfall zu schützen (vgl. KS 73), wendet sich die Funktion seines Körpers schnell in eine Art Kompensationswerkzeug. Walter, dessen Sportlichkeit permanent hervorgehoben wird, kompensiert Rückschläge hinsichtlich seiner Herrschaft über Erika zunehmend mit seinem Körper. Nachdem er sich das erste Mal von Erika abgewiesen fühlt, sind seine Kompensationshandlungen noch eher zaghaft gegen Gegenstände gerichtet. Er »malträtiert die Mauer unter dem blinden Hoffensterchen mit einer Schuhspitze« (KS 123), dreht einen Wasserhahn so fest zu, »daß sein Nachfolger am Hähnchen dieses garantiert nicht wieder aufdrehen kann« (KS 124) und »zertrampelt elefantös zwei weiße Kachelfliesen« (KS 126). Schließlich verspürt er den Drang, sich im Paddelklub körperlich »bis zur Erschöpfung abzuarbeiten« (vgl. KS 127), was dafür spricht, dass ihm der Körper eine Möglichkeit für Kompensationshandlungen bietet. Artur Pełka macht Sport als bedeutenden Tropus von Männlichkeit insgesamt aus (vgl. Pełka 2002: 292) und auch Monika Szczepaniak befindet, dass Sport eine der Substanzen von Walters Männlichkeit ist (vgl. Szczepaniak 1998: 143). Walters sportliche Betätigung dient folglich seiner Männlichkeitsherstellung bzw. -sicherung, womit er temporäre Unterlegenheitsmomente durchaus kompensieren kann. Aus den geschilderten Handlungen spricht zwar Wut über eine ungewohnte Zurückweisung, allerdings noch keine ausgereifte Aggression aufgrund von Machtentzug. Gleichzeitig wird mit diesen Formen der Gewaltausübung eine Art Lächerlichkeit erzeugt, da seine Taten keineswegs bedrohlich wirken. Bei seinem nächsten Versuch, Erika nahe zu kommen, geht er bereits einen Schritt weiter : In der Toilettensituation ist er voller Gier (vgl. KS 177). Er schüttelt seine Hemmung, Scheu und Zurückhaltung ab und möchte Erika jetzt »verwerten« (ebd.). Er möchte Erikas Grenzen missachten und sich notfalls auch gegen ihren Willen nehmen, wonach es ihm verlangt. Hierzu setzt er »die ganze Härte seines Geschlechts ein« (KS 181), was zusätzlich unterstreicht, dass es um eine männliche Dominanz, um patriarchale Machtverhältnisse geht, die er durch seinen Körper aufrechterhalten will. Um sich selbst seine Vormachtstellung zu bestätigen, betrachtet er seinen erigierten Penis, welcher ihm seine männliche Potenz und die damit konnotierte Dominanz auf »siebzehn Zentimetern« (KS 182) attestiert. Erika kehrt diese vermeintlich natürlich vorherbestimmten Machtverhältnisse jedoch um. Die plötzliche Übermacht Erikas erzeugt Frustration und Wut in ihm. Er sieht sich beherrscht. Auch diese Unterlegenheit agiert er körperlich aus: Mit einigen sportlichen Übungen und »spielerischen

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Genickschläge[n] und Klapse[n] mit der flachen Hand auf die Wangen« (KS 186) Erikas kompensiert er diese Situation.92 Er scheint nachhaltig beeindruckt von dieser Unterwerfung, denn er möchte sich jetzt das, was unter Erikas Kleidung ist (vgl. KS 204), wenn nötig unter Zwang aneignen (vgl. KS 205). »Er will unter den von ihm gedemütigten Blicken seiner Lehrerin endlich sein eigenes Fleisch verwirklichen« (ebd.). Wie nah sein Körper in Verbindung mit seinen Vorstellungen von Macht und Dominanz steht, wird hier besonders deutlich. Nachdem Walter Erikas Brief gelesen hat, beschließt er, »Hochleistungsgeliebter« zu werden (vgl. KS 241). Nach anfänglicher heftiger Abwehr des Briefes scheint er sich nun der Herausforderung anzunehmen und möchte ein für alle Mal die Vorherrschaft über Erika sicherstellen. Der Begriff »Hochleistungsgeliebter« ist eine erneute Anspielung auf den körperlichen, sportiven Zustand Walters. Die Hervorhebung seiner Fitness und Leistungsfähigkeit lassen bereits eine körperliche Auseinandersetzung vermuten. Er wird beweisen, dass er »auch brutal« (KS 244) sein kann. Daraufhin ist es jedoch Erika, die zuerst die Initiative ergreift und eine sexuelle Handlung im Putzraum forciert. Walter scheitert hier per nicht-erigiertem Penis – sein Körper lässt ihn im Stich. Es folgen zahlreiche metaphorische Umschreibungen seines schlaffen Gliedes (»Kein gerader Pfad der Lust«, »das weiche Würmchen«, »die Schlange im Gras«, »dieses tonlose Horn«; KS 248), die die Tragweite dieses Ereignisses für Walter besonders hervorheben. Sein PotenzVersagen löst enorme Aggressionen in ihm aus. Er referiert »aufgeregt« (KS 248), wie groß sein Penis sonst wird und versucht damit sein Versagen auszugleichen. Nachdem er vergeblich seinen Penis in ihren Mund »[ge]stopft« (KS 249) hat, um eine Erektion zu verursachen, »kreischt […] [er] vor Wut« (ebd.). Zentraler Bestandteil einer traditionellen Männlichkeit ist die sexuelle Potenz (vgl. Connell 2006; Hofstadler / Buchinger 2001: 248). Ist diese nicht mehr intakt bzw. kommt diese dem Besitzer auch nur temporär abhanden, geht damit ein enormer Männlichkeitsverlust einher. So erlebt auch Walter Klemmer sein sexuelles Versagen als Verlust seiner Männlichkeit und zieht daraufhin los, um einen Flamingo zu töten. Das Ausmaß seines Unvermögens scheint so groß zu sein, dass er es mit der Performanz einer besonders archaischen Männlichkeit kompensieren muss: Walter wird zum Jäger (vgl. a. Arteel 1990: 108). Aus Mangel an Flamingos im Park macht Walter ein heterosexuelles Paar als Ziel aus. Die gesamte Szene wird mit einer deutlich überspitzten Dramatik be92 Das verwendete Vokabular deutet bereits auf den Charakter der Auseinandersetzungen mit Erika hin. Es handelt sich hierbei zwar um »Spiele«, allerdings um die ernsten Spiele des Wettbewerbs im Sinne Bourdieus. Vgl. den entsprechenden Punkt in Kompositionsglieder der Jelinek’schen Patriarchatskritik.

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schrieben, sodass sich eine ironische Lesart dieser archaischen Männlichkeit geradezu aufdrängt. So wendet Walter schließlich nicht dem Paar gegenüber Gewalt an, sondern richtet seine Wut gegen das von ihnen zurückgelassene Kleidungsstück. Er wirkt insgesamt wenig authentisch in dieser archaischen Manier, weshalb auch die Wiederherstellung seiner Männlichkeit (noch) nicht bewerkstelligt werden konnte. Er spürt in seinem Inneren einen »Ballon von Gewalt« (KS 261), der bestätigt, dass er seinen Männlichkeitsverlusts noch nicht nivellieren konnte. Schließlich geht er zum direkten »Angriff« (KS 262) über – er sucht Erika auf. Gegen diese richtet er die körperliche Gewalt, die er als Jäger nicht auszuüben vermochte. Er will damit die patriarchalen Machtverhältnisse und somit seine Männlichkeit endgültig wieder herstellen. »Jetzt zu meinen Bedingungen« (KS 268), droht Walter. Seine Bedingungen scheinen in erster Linie die Unterordnung Erikas durch körperliche Gewalt zu sein. Das registriert auch Erika: Sie versucht zu herrschen, und nackte Gewalt nur hindert sie daran. Der Mann ist stärker. Erika geifert, daß er ja nur mit nackter Körperkraft herrschen könne, und wird dafür doppelt und dreifach geschlagen. (KS 272)

Walter nutzt seinen Körper als Ressource, um seine Vorherrschaft wieder herzustellen bzw. abzusichern. Die körperliche Gewalt gilt als ultima ratio (vgl. Meuser 2002: 56), wenn die Legitimation der männlichen Herrschaft in Frage gestellt ist. Durch ihr Geifern versucht Erika auch in der körperlichen Unterlegenheit noch, genau dies herauszustellen: Walter sei ihr nicht tatsächlich, sondern nur körperlich überlegen. Die Gewaltanwendung mündet in der Vergewaltigung Erikas. Die Männlichkeit, die durch die Potenz-Problematik verloren schien, ist damit aus seiner Sicht wieder hergestellt. Walter ist überzeugt von seinem Sieg: Er fühlt sich, als könnte er Bäume ausreißen und »pißt kräftig gegen einen Baum« (KS 279). Auch zuletzt wird seine Machtposition also über körperliche Stärke und die Demonstration seines Phallus betont. Das Urinieren in der Nähe von Erikas Wohnort kann zusätzlich als eine Art »Territorialisierungsakt« verstanden werden, als »Markierung des eigenen kleinen Reichs« (Kaplan 2009: 155), womit die Aneignung Erikas betont wäre, gleichzeitig aber auch Walters Nähe zum Animalischen. Er sichert seine Vormachtstellung zwar qua Körper ab, Erikas Einwand, dass er nur mit nackter Körperkraft herrschen könne, suggeriert jedoch, dass hieraus keine umfassende Überlegenheit Walters resultiert. Dieser Verweis mindert letztlich die Gültigkeit seiner Herrschaft. Die Ressource Körper scheint somit nur eingeschränkt dazu in der Lage zu sein, eine tatsächliche Vorherrschaft herbeizuführen.

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Zur Triebhaftigkeit »Ja, Klemmer horcht im Zweifelsfall immer nur auf seinen Körper, der sich nie täuscht und mit der Sprache des Körpers zu ihm und auch zu anderen spricht« (KS 205). Körper und Geist scheinen bei Walter trennbar zu sein; sein Körper erscheint autonom von seinem Geist. Das Zitat transportiert durch die Hervorhebung der Autonomie seines Körpers eine Unfähigkeit zur Reflektion bzw. eine Neigung zu instinktgeleitetem Handeln – oder anders formuliert: die Triebhaftigkeit der Figur Walter. Sexuelle Triebhaftigkeit ist als Sinnbild sexueller Potenz obligatorisch für eine traditionelle Männlichkeitskonstruktion. So macht auch die Betonung von Walters Triebhaftigkeit einen großen Teil seiner Männlichkeitsperformanz aus. Die Hervorhebung funktioniert an vielen Stellen durch Analogien zu Tieren oder tierischem Verhalten. Walter will Erika bereits zu Beginn ihrer Beziehung »mit seinen tierischen Instinkten konfrontieren« (KS 68). Dies vermittelt schon früh einen Eindruck von Walters Vorstellungen von Männlichkeit und dessen Beziehung zum begehrten Sexualobjekt. Für ihn steht außer Frage, dass er mit tierischen Instinkten ausgestattet ist – schließlich ist er ein Mann. Mit Walters »rammelige[r] Wut« (KS 181) wird eine deutliche Analogie zu Hasen ausgemacht, welche mit einem besonders trieb- und instinkthaften Sexualtrieb assoziiert werden. Als Walter im Putzraum keine Erektion bekommt und daraufhin in den Park geht, wird er schließlich als »waidwundes Jagdtier« (KS 256) beschrieben, welches für jeden eine potentielle Gefahr darstellt. Es wird hier suggeriert, dass Walter jede Zurechnungs- und Reflexionsfähigkeit abhandengekommen ist und somit die Triebhaftigkeit die Oberhand gewonnen hat. Sein Bedürfnis, ein Tier zu töten, ist instinkt- bzw. triebgeleitet. Er handelt hier nicht vernunftbasiert, sondern ist getrieben von der Begierde, sein Versagen sowie den unbenutzten Sexualtrieb auszugleichen: »Unbenutzte Triebe werden bei ihm rasch bösartig, was eine Frau hervorgerufen hat« (KS 255). Für seine ausbleibende Erektion macht er Erika verantwortlich. Die Fokussierung der Triebhaftigkeit und die Verschiebung der Schuldfrage ermöglichen es, dass sein eigenes Unvermögen und seine eigene Verantwortung für den Männlichkeitsverlust in den Hintergrund treten. Außerdem wird seine Triebhaftigkeit im Kontext der heterosexuellen Bezugsobjekte hervorgehoben. Hier wird beständig seine Gier betont, von der er geleitet wird. Eine Gier, »die keine Grenze kennt und, erkennt sie sie doch, nicht respektiert« (KS 177). Hier ist also der pure Trieb im Spiel, der Walters sexuelle Lust befriedigen soll. Damit geht durch vermeintlich fehlende Reflexionsfähigkeit auch eine Art Macht- und Verantwortungslosigkeit einher. Nach der Vergewaltigung, mit der er sich wie ein »Triebtäter« (Endres 2008: 207) für seinen Männlichkeitsverlust rächt, entschuldigt er sich bei Erika. Wenn die Entschuldigung auf den ersten Blick noch als Bruch mit seiner unreflektierten Männ-

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lichkeit gelesen werden kann, wird schnell deutlich, dass auch sie von Triebhaftigkeit geprägt und damit wenig überdacht ist: »Er erklärt sein Benehmen damit, daß es ihn überkommen habe« (KS 278). Die Befriedigung der Triebe wird hier als Legitimation für massive Gewaltanwendung genutzt, woraus die Sicherstellung der körperlichen Überlegenheit resultieren soll. Dadurch dass Walter sich auf seine Triebhaftigkeit beruft bzw. davon geleitet wird, ist er auch einer gewissen Abhängigkeit von Frauen ausgeliefert. Er befindet sich im Abhängigkeits-Autonomie-Konflikt: Auf der einen Seite ist Walter bestrebt, völlig autonom von Frauen zu sein und verkörpert hiermit ein klassisch männliches Attribut. Auf der anderen Seite ist er aufgrund der Zwangsheterosexualität im Patriarchat zur Befriedigung seiner Triebe auf Frauen angewiesen. Dies ist ein paradoxer Zustand, weil es unmöglich ist, beide Zustände gleichermaßen zu erreichen. Da das Patriarchat jedoch die aktive Heterosexualität von Walter genauso fordert wie seine Autonomie, kann er an diesem Dilemma im Patriarchat nur scheitern.

c. Intellektualität als Mittel im Kampf um Vorherrschaft Im letzten Abschnitt wurde bereits darauf eingegangen, dass Walters Körper bzw. sein sexueller Trieb von seinem Geist bzw. seinem Intellekt abgespalten ist. Diese Spaltung ermöglicht es, dass es nicht paradox anmutet, wenn Walters Männlichkeit sich gleichzeitig durch Triebhaftigkeit auf der einen und Vernunft sowie Intellektualität auf der anderen Seite auszeichnet. Während seine Triebhaftigkeit sich in erster Linie durch seinen Penis und sexuelle Akte bzw. diesbezügliche Kompensationshandlungen manifestiert, werden seine intellektuellen Fähigkeiten vor allem in konfrontativen Konversationen mit Erika (vgl. KS 119ff. bzw. 187ff.) respektive in seinem Verhältnis zu Erika insgesamt sichtbar. Walter, der »Geradlinige[…]« (KS 205), trennt »Wesentliches vom Unnötigen« und ist zur Abstraktion fähig (KS 121). Er wird überwiegend als rationale, vernunftgeleitete Figur beschrieben. Während Walter von der Gruppe der Frauen als launenhaft spricht, was ihn als Mann noch ins Grab bringe (vgl. KS 190), macht er einen deutlichen Kontrast zwischen dem Mann als vernunftgeleitetem Wesen und der Frau als emotionalem Wesen auf. Er stellt die Norm dar (vgl. KS 218) und somit sind Erikas Forderungen im Brief aus seiner Perspektive unvernünftige Bedürfnisse, denen er nicht nachkommen will und kann. Er wägt ab und befindet, dass es nur eine Prüfung sein kann, wie weit er »betreffs Liebe« (KS 223) gehen würde. Erikas Wünsche befinden sich für ihn außerhalb jeglicher Vorstellungskraft, was für seine starre, normative Rationalität spricht. Auf geistiger Ebene kann er sich keinerlei Leidenschaftlichkeit hingeben. Alles Leidenschaftliche spielt sich bei Walter im triebhaften Bereich – und somit abseits seines Geistes – ab.

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Analyse

Besonders anhand der zweiten intellektuellen Auseinandersetzung mit Erika (vgl. KS 187ff.) wird deutlich, dass Intellektualität bzw. verstandesmäßige Überlegenheit konstitutives Element von Walters Männlichkeitsperformanz ist. Er ist hier besonders bemüht, Erika durch die Demonstration seiner geistigen Überlegenheit unterzuordnen, indem er ihre Argumentation als unreflektiert und unzulänglich entlarvt. Die Tatsache, dass er aus dem intellektuellen Streit als »freche[r] Sieger« (KS 195) hervorgeht, verschafft ihm einen Höhenflug (vgl. KS 196). Interessanterweise wird Walter von der Erzählinstanz jedoch als »in Maßen intelligent« (KS 68) betitelt und auch im Kontext der Sekundärliteratur wird er vorwiegend als »tumbe[r] Jüngling« (Endres 1983: 206), »wenig intelligent« (Heberger 2002: 138), als »kraftstrotzendes Riesenbaby, intelligent und idiotisch zugleich« (Burger 1990: 28) oder als »beschränkte[r] Mann« (Endres 2008: 71) beschrieben. Trotz dieses Sieges auf intellektueller Ebene wird Walter nicht so rezipiert, als sei er Erika geistig überlegen oder auch nur ebenbürtig. Den »Besserwisser« (KS 117) Walter reizt es, seine Lehrerin »zur Schülerin zu machen« (KS 195). Doch das gelingt ihm nicht so recht: Erika verunsichert Walter mit ihrem geistigen Potential: »Er gewinnt an Befangenheit« (KS 171), wenn sie ihm etwas erklärt. Erika stellt für ihn eine Provokation dar, weil sie ihm auf dem Gebiet der Musik überlegen ist (vgl. Szczepaniak 1998: 144). Um dies zu kompensieren, reduziert er sie schließlich wieder auf ihren ältlichen Körper. Obwohl Körper und Geist bei Walter gespalten sind und somit Triebhaftigkeit überhaupt nur parallel zu Rationalität existieren kann, vermag Walter sich mittels seines Körpers über Erikas Geist zu erheben, wenn er seinen jungen Körper gegen ihren alten aufwiegt, sobald er sich intellektuell unterlegen fühlt. Eine tatsächliche Unterlegenheit Erikas stellt sich auf intellektueller Ebene allerdings hierüber nicht ein. Es wurde deutlich, dass Walter bemüht ist, über die geistige Konstituiertheit beständig die vermeintlichen zwei Pole Mann und Frau hervorzuheben. Insgesamt versucht er, Erika an Intellekt überlegen zu sein und nimmt für dessen Beweis auch zahlreiche Auseinandersetzungen in Kauf; mehr noch, diese Unterordnung reizt ihn (vgl. KS 195). Intellektualität dient ihm also als Mittel der Abgrenzung (von der Frau) und der damit verbundenen Erhabenheit (über die Frau), woraus hervorgeht, dass die Intellektualität ein wichtiges Element seiner Männlichkeitskonstruktion ist. Walters männliche Performanz stützt sich maßgeblich auf vier Säulen: seinen (sportiven) Körpers bzw. seine Triebhaftigkeit, seine vehemente Abgrenzung und Missbilligung von Frauen, seine vermeintlich überlegene Intellektualität sowie seiner heterosexuellen Kompetenz. Alle Säulen sollen direkt oder indirekt der Sicherung seiner männlichen Vorherrschaft dienen. Über weite Teile funktioniert dies im Rahmen der erzählten Welt auch. Der folgende Abschnitt wird

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jedoch aufzeigen, dass er einen großen Teil seiner Vormachtstellung einbüßt, indem subtile und offensichtliche Verweiblichungen respektive Entmännlichungen Walters im Roman Platz finden.

2.2

Brechung der Figur – oder: Die Verweiblichung Walter Klemmers

Im Vorangegangenen wurde ausführlich beschrieben, inwiefern Walter sich eine Männlichkeit aneignet und wie er diese ausgestaltet. Die widerspruchsfreie Verkörperung einer Männlichkeit scheint zunächst unumstritten. Doch bei genauer Analyse zeigen sich Brüche, die seine makellose Männlichkeit ins Wanken bringen. Die Tatsache, dass Walter Erika intellektuell nicht unterordnen kann, und auch die temporäre Erektionsstörung deuteten dies im vorangegangenen Abschnitt bereits an. Es wurde herausgestellt, dass Walter dazu neigt, seine männlichen Privilegien auszuleben, indem er versucht ist, qua Körper, Intellekt und Unterordnung von Frauen Vorherrschaft herzustellen, die für ihn der Inbegriff von Männlichkeit ist. Bei all diesen Herstellungs- und Erhaltungsprozessen seiner Männlichkeit soll die Sicherung eben dieser stets auch über die Abgrenzung zum Weiblichen funktionieren. Dass diese Abgrenzung nicht immer erfolgreich ist, wird an einigen Stellen deutlich. Die Erzählinstanz nimmt hier derart ironisch Bezug auf Walters Männlichkeit, dass die Figur einer Verweiblichung unterliegt. Bereits die Bezeichnung »fleißiges Lieschen« (KS 32), mit der Walter eingeführt wird, kann ob der weiblichen Konnotation als deutliche Offensive gegen Walters Männlichkeit gewertet werden, welche wiederum als Anfang einer Dekonstruktion seiner geschlechtlichen Performanz interpretiert werden kann. Walter versteht sich als guter Liebhaber, der sich mit Frauen auskenne (vgl. KS 203); er wird sogar als »Fachmann« in Sachen heterosexueller Interaktion beschrieben (KS 204). Als er überlegt, wie er Erika sexuelle Lust verschaffen wird, bestückt die Erzählinstanz dies allerdings mit »Hausfrauenvokabular« (»doch erst Klemmer wird den Waschgang »Kochen« einschalten« (ebd.)) und entlarvt seine Männlichkeit damit als Prätention (vgl. Lange-Kirchheim 2007: 274). Er wird als Liebhaber disqualifiziert und gleichzeitig effeminiert. Die für ihn so wichtige Säule der heterosexuellen ›Fachkenntnis‹ und Expertise im sexuellen Umgang mit Frauen schwindet durch die Verwendung von Ironie und Verweiblichung durch die Erzählinstanz. Genauso verweist die »Liebesplazenta« (KS 124), die er ausspuckt, durch die Anspielung auf weiblich konnotierte Reproduktionsorgane ebenfalls auf weibliche Aspekte der Figur Walter. Das Ausspucken unterstreicht hierbei sein Bestreben, sich der damit verbundenen Weiblichkeit zu entledigen bzw. sich von ihr zu distanzieren; eine Nähe zum Weiblichen bleibt jedoch erhalten.

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Analyse

Dass die (Wieder-)Herstellung seiner Männlichkeit durch die Entledigung der Weiblichkeit, wenn überhaupt, nur vorübergehend gelingt, wird deutlich, wenn Walter mit Erika im Putzraum ist und eine Erektionsstörung hat. Diese Szene ist besonders relevant im Hinblick auf die Verweiblichung der Figur. Sein Männlichkeitsverlust, der mit der ausbleibenden Erektion einhergeht, wird von der Erzählinstanz stereotyp weiblich beschrieben: »Hysterisch zerrt, klopft und schüttelt er« (KS 245), »[a]ufgeregt berichtet« (KS 248) er von der eigentlichen Größe seines Geschlechts und gegen Ende seiner Niederlage »kreischt« (KS 249) er noch vor Wut. Der Eindruck der Hysterie, der an dieser Stelle vermittelt wird, untermauert durch die Assoziation letzterer mit stereotypisierten Bildern von Weiblichkeit zweifelsfrei, dass Walter durch die ausbleibende Erektion einen Teil seiner Männlichkeit einbüßt. Dies wird im Folgenden besonders im Kontext seiner Kompensationshandlung zum Ausdruck gebracht. Er fühlt sich von Erika beleidigt, woraufhin er sie zwar gekränkt habe, »aber ein Todesopfer […] zur Sühne trotzdem gefordert [wird]« (KS 255). Der Flamingo, den er nun im Park sucht, deutet durch seine rosa Farbe bereits an, was jetzt vollzogen werden soll: Es gilt, die Assoziation seiner Person mit Weiblichkeit, die ihm seine temporäre Impotenz beschert hat, wieder zu tilgen – stellvertretend hierfür soll der rosafarbene Flamingo sterben. In diesem Abschnitt wird besonders metaphorisch gearbeitet: »Da er der Frau nicht Herr werden konnte, muß er jetzt den Rücken krumm machen und unermüdlich Holz sammeln« (KS 256). Er wird also vom Jäger zur weiblich konnotierten Sammlerin. Sein Versagen geht mit einem Männlichkeitsverlust einher, den es jetzt zu nivellieren gilt. Er sucht im Park eine bessere Waffe als »morsches Holz« (ebd.), als seinen erschlafften Penis also. Die Penisanalogien gehen von einem »Stöckchen« (ebd.), über ein »dürres Ästchen« (ebd.) und einen »Knüttel« (KS 258) hin zu einem »Baumstamm« (KS 261).93 Seine Potenz als Sinnbild seiner Männlichkeit scheint sich also sukzessive wieder zu steigern. Er will »nicht ohne Beute aus dieser Nacht hervorgehen« (KS 260), möchte also wieder zum Jäger und somit zum Mann werden. Er findet aber keinen Flamingo im Park und nimmt deshalb Vorlieb mit der zurückgelassenen Jacke des Paares. Dennoch wird er anschließend wieder als »Herr der Situation« (KS 260) beschrieben, er scheint seine Männlichkeit also durch seinen prinzipiell tatenlosen Streifzug weitgehend zurückerlangt zu haben. Das verwendete Vokabular suggeriert, dass die ursprünglichen Zustände wieder hergestellt sind (vgl. KS 259). Der zurückgebliebene »Ballon von Gewalt« (KS 261) jedoch verrät bereits das Gegenteil. Das Jagdverhalten, das eigentlich der Demonstration und damit der Sicherung seiner Männlichkeit dienen soll, funktioniert hier genau entgegengesetzt. Seine Männlichkeit wird demontiert, indem hervorgehoben wird, dass Walter eben nicht der Jäger ist, der er vermeintlich zu sein bestimmt ist, sondern 93 Vgl. zum Stock als Phallussymbol auch Szczepaniak 1998: 145.

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durch Erikas Einfluss zur Sammlerin wird – an Männlichkeit also stark einbüßt. Um die Umkehrung der Verhältnisse und damit die Verweiblichung Walters zu vollenden, wird Erika schließlich sogar als »Jäger« bezeichnet (KS 256). Die geschlechtliche Performanz der Figur Walter wird an dieser Stelle mit den Mitteln der Ironie und Übertreibung derart karikiert, dass sie letztlich subvertiert wird. Die Absurdität traditioneller Anforderungen an Männlichkeit wird an zahlreichen Stellen im Roman anhand von Jelineks ästhetischen Verfahren aufgezeigt. Hierzu sollen noch zwei kurze Beispiele angeführt werden, die Walters Männlichkeitsperformanz ironisieren und somit brechen: Walter, schwer gekränkt durch seinen Potenzverlust, jedoch durch gesellschaftliche Konventionen gezwungen, die männliche Coolness zu bewahren, kauft sich zu diesem Zweck ein Eis. Leider nur ein »halbflüssiges Softeis« (KS 262), welches von der Erzählinstanz noch grotesk als »lauwarm und schlapp« (ebd.) beschrieben wird (vgl. Lange-Kirchheim 2007: 274f.). Diese ironischen und symbolhaften Wortspiele bewirken einen Bruch in der Männlichkeitsperformanz der Figur. Walters Siegeszug nach der Vergewaltigung wird durch die groteske Darstellung und ironische Kommentare ähnlich ins Absurde überspitzt wie sein Streifzug durch den Park auf der Suche nach dem Flamingo. Angelika Schneider fühlt sich an den »bad guy im Western« (Schneider 1995: 92) erinnert, als Walter »als Herausforderung mitten auf der Straße« heimgeht (KS 279). Spätestens hier werde die Persiflage seiner Figur deutlich (vgl. Schneider 1995: 92). Mannigfaltige stereotype Attribute einer Männlichkeit wie extremes Risikoverhalten, dauernde Kampfbereitschaft (vgl. Kersten 1997: 107), permanente Coolness und fehlender Zugang zu Emotionen (vgl. Lange-Kirchheim 2007: 274), der allzeit bereite und potente Mann (vgl. Heberger 2002: 98) sowie der perfekte Liebhaber werden hier durch Überspitzung, Groteske und explizite Effeminierung zur Brechung der Männlichkeitsperformanz der Figur geführt. Walters zunächst zweifellos anmutende Männlichkeit hält einem prüfenden analytischen Blick nicht stand. Durch die Sichtbarmachung der Brüchigkeit seiner geschlechtlichen Performanz war es möglich, die Absurdität der patriarchalen Anforderungen an Männlichkeiten und damit Jelineks Kritik am Herrschaftssystem in den Vordergrund zu rücken. 2.3

Das privilegierte »Riesenbaby« – Ein Resümee

Die Analyse von Walter Klemmer hat ergeben, dass seine Männlichkeit durchaus Bruchstellen aufweist. Die Figur ist zwar deutlich männlich gezeichnet, doch die ironischen Kommentare der Erzählinstanz auf der discours-Ebene bewirken wie auch einige Szenen auf der histoire-Ebene einen Verlust an Männlichkeit. Er reproduziere die »Mechanismen der kapitalistisch-patriarchalischen Gesellschaft, so wie sie Jelinek analysiert hat« (Wilke 1993: 126). Dies lässt sich aus

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Analyse

seinem Verhältnis zu seinem Körper und aus seinem Anspruch auf traditionell separierte Geschlechterrollen, die sich für Walter auf Grundlage der Biologie und der Schöpfungsgeschichte manifestieren, ableiten. Aus dieser Reproduktion ergibt sich Walters Männlichkeitsperformanz, welche auf den Säulen des (sportiven) Körpers bzw. seiner Triebhaftigkeit, seiner kategorischen Abgrenzung und Missbilligung von Frauen, seiner vermeintlich überlegenen Intellektualität sowie seiner heterosexuellen Kompetenz als Liebhaber basiert. Wie die einzelnen Aspekte seiner Männlichkeitskonstruktion in der Analyse verdeutlicht werden konnten, soll hier noch einmal resümiert werden. Walter stellt seine Männlichkeit durch die Abwertung von und die Abgrenzung zu Weiblichkeit her. Er wertet Frauen ab und reduziert sie häufig auf ihren Körper, dies geht bis zur Fragmentarisierung Erikas auf einzelne Körperstellen; er objektiviert sie, um sich in eine aktive Rolle zu versetzen. Sein Subjektstatus hänge laut Veronika Vis von einem beherrschbaren und eroberbaren Objekt ab (vgl. Vis 1998: 28). Er ist stets bemüht, die vermeintlich diametral angelegten Geschlechterpositionen hervorzuheben, wobei die männliche der weiblichen klar übergeordnet sei. Er erklärt Erika regelmäßig, was die Aufgaben von Frauen seien und wie sie sich ihm – dem Mann – gegenüber zu verhalten habe. Sie habe ihn wertzuschätzen, während Walter ständig die Wertlosigkeit von Frauen betont. Durch diese Kontrastierung grenzt Walter sich von Frauen ab und kann sich somit in der Rolle als Mann bestätigen (vgl. Arteel 1990: 111). Es kann außerdem festgehalten werden, dass Körper und Geist bei Walter voneinander getrennt gedacht sind. Sein Körper agiert autonom von seinem Geist. Dementsprechend wird an zahlreichen Stellen im Roman seine Triebhaftigkeit betont, welche ihm heterosexuelle Aktivität und Potenz attestiert und die es ihm außerdem ermöglicht, sich der Verantwortung für sexuelle Übergriffe zu entziehen. Hiermit hat er ebenfalls Attribute für sich in Anspruch genommen, die ihm eine traditionelle Männlichkeit garantieren sollen. In Situationen, in denen ihm eine Unterlegenheit droht, nutzt er die Ressource Körper, um seine Männlichkeit aufrechtzuerhalten, indem er mit körperlichen Auseinandersetzungen pauschale Überlegenheit und damit wiederum Männlichkeit demonstriert. Auf geistiger Ebene ist er ebenso bemüht, eine Überlegenheit herzustellen. So nutzt er jede Gelegenheit, um sich auf intellektueller Ebene mit Erika zu messen. Hieran wird deutlich, dass die Figur zumindest in dieser Hinsicht mehrdimensional ist. Er reduziert seine Männlichkeitskonstruktion nicht auf die Präsentation seines Körpers oder die Demonstration seiner körperlichen Stärke, sondern ist durchaus daran interessiert, auch auf intellektueller Ebene ein Machtverhältnis zu seinen Gunsten herzustellen. Brüche in seiner Männlichkeitsperformanz werden vor allem hinsichtlich seiner Abgrenzung zu Weiblichkeit sichtbar. Die Erzählinstanz nimmt an ver-

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schiedenen Stellen ironisch Bezug auf Walter und seine Männlichkeit, wodurch diese an Authentizität verliert. Hier seien noch einmal besonders Walters Erektionsstörung und der darauffolgende Versuch der Wiederherstellung seiner Männlichkeit erwähnt. Walters ausbleibende Erektion wird in zahlreichen Metaphern hervorgehoben, sodass sowohl die Tragweite dessen für Walter als auch die Absurdität dessen auf der Hand liegen. Die Anforderung des Patriarchats an den (zwangs-)heterosexuellen Mann, beständig potent zu sein, wird hier genauso ironisch kommentiert wie die Annahme, dass die Verkörperung einer betont archaischen Männlichkeit diesen Verlust kompensieren kann. So bekommt Walter, der vermeintliche Jäger, im dunklen Park sogar Angst, dass ihm seine Brieftasche gestohlen wird. Die Bewahrung seiner Männlichkeit ist somit einem beständigen Kampf ausgesetzt und keineswegs unhinterfragt gegeben. Walter sucht sogar die Auseinandersetzungen, um seine fragile Männlichkeit zu stärken und sie somit überhaupt existent zu wissen. Er scheint trotz seiner recht privilegierten Position ein Defizit zu verspüren, das er permanent kompensieren muss. Walter ist gefangen in der Ideologie eines Männlichkeitskults und seines Versprechens von Autonomie, Identität, Freiheit und Herrschaft (vgl. Schneider 1995: 92). Im Bestreben diese versprochenen Ideale unreflektiert zu erreichen, muss er immer wieder scheitern, da seine Ressourcen und Voraussetzungen nicht den Anforderungen des Patriarchats zur Erreichung dieses idealen Zustands entsprechen. Sein Scheitern ist allerdings kein dauerhaftes. Zumindest temporär kann er im Hinblick auf Rückschläge beispielsweise durch Potenzversagen oder intellektuelle Unterlegenheit immer wieder die Oberhand gewinnen. Die Männlichkeitsverluste, die er erleidet, sind nicht irreversibel. Er scheint Erika in ihrer Männlichkeit nicht bezwingen zu können, weshalb er sie schließlich auf ihre Weiblichkeit zurückwirft, um sie hier endgültig körperlich unterzuordnen. Seine ultima ratio besteht nicht nur in der Ausübung körperlicher Gewalt zum Zwecke der Unterordnung, sondern in Erikas Fall zusätzlich in der zwanghaften Fremdzuweisung einer geschlechtlichen Performanz, die sie ob der gesellschaftlichen Strukturen unterzuordnen vermag. Dass Walter über Erika nicht herrschen kann, stellt sowohl Walters Männlichkeit als auch die Strukturen des Patriarchats als Persiflage heraus. Walter ist somit kein bedingungsloser Inhaber von Macht. Seine Fragilität zwingt ihn immer wieder in Aushandlungsprozesse um die Position seiner Männlichkeit. Aufgrund dessen und aufgrund seiner rigiden Abgrenzungsmechanismen, verkörpert er daher vielmehr eine unsichere, untergeordnete Männlichkeit, wenngleich er die Maskerade einer hegemonialen Männlichkeit recht gut beherrscht.

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II.

Analyse

Die Ausgesperrten

Im Folgenden liegt der Fokus auf der Analyse von vier Romanfiguren: Otto Witkowski, Kriegsinvalide, Familienvater und Hobbyfotograf, seinen Zwillingen Anna und Rainer Maria Witkowski, welche um jeden Preis den Klassenaufstieg erreichen wollen, sowie dem jungen Starkstrommonteur Hans Sepp, welcher als Vertreter der Arbeiterklasse der Nachkriegszeit und unter dem Einfluss der Zwillinge seine Defizite erst entdeckt. Der Roman legt einen deutlichen Schwerpunkt auf die Klassenzugehörigkeit der Figuren. Er stellt dem absteigenden Kleinbürgertum der Witkowskis und der Arbeiterfamilie Sepp mit Sophie Pachofen den funktionellen Typus einer bürgerlichen Figur entgegen, die die Kluft zwischen den Klassen und das Streben nach Distinktion und Aufstieg der Figuren in besonderem Maße hervorhebt. Daher werden im Rahmen der Analyse neben den Verhandlungen von Männlichkeitsperformanz und -aneignung die Strategien der einzelnen Figuren hinsichtlich ihrer Positionierungsversuche im sozialen Raum eingehend beleuchtet.

1.

Otto Witkowski – Prototyp einer gescheiterten Männlichkeit »Seine frühere Ausstrahlung von Autorität zieht seine Frau auch heute wieder hinter ihm her.«

Otto Witkowski ist Vater der Zwillinge Anna und Rainer, Ehemann von Margarethe (Gretl) und ehemaliger SS-Offizier. Er kehrte aus dem Krieg als Invalide zurück, da er dort ein Bein verlor. Seitdem hat Witkowski verschiedene Berufe ausgeübt, um seine Familie zu ernähren und ist mittlerweile Nachtportier in einem bürgerlichen Hotel (vgl. AUS 101). Er sieht sich trotz des ökonomischen Defizits und obwohl seine Frau Gretl Geld hinzuverdienen muss als »Familienerhalter« (AUS 183). Sein Hobby ist die pornografische Aktfotografie, welche er exzessiv und ›fantasievoll‹ ausübt, indem er sich für Gretl immer neue, erniedrigende Szenarien und Posen überlegt, die er ablichten kann. Er hält auch nach dem Krieg noch an den Idealen des Nationalsozialismus fest und ist stolz auf seine Vergangenheit. Die »Sozis« seien nicht die »Witkowski’sche Leibpartei, weil man kein Arbeiter ist« (AUS 100); er leugnet also seinen Klassenabstieg mit Ende des Krieges und vertritt weiterhin die Werte der nationalsozialistischen Partei, weil diese ihn »so groß gemacht hat, daß er über sich selbst hinauswuchs« (AUS 101). Witkowski beschreibt sich immer wieder als Frauenheld und ist auch sonst recht überzeugt von sich: Er meint, für ihn sei das Beste gerade gut genug (vgl. AUS 245), auch Vergleiche mit Gott scheut er nicht (vgl. AUS 250). Otto Wit-

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kowski ist immer wie »aus dem Schachterl« geholt (AUS 204); er achtet sehr auf sich, seine Hemden sind »scharf gebügelt« und er kauft sich jede Woche eine neue Krawatte – alles, um seinem Ruf als Frauenheld gerecht zu werden (vgl. ebd.). Wenngleich er immer wieder betont, dass er seine Frau sexuell noch besser befriedigen kann, als ein Mann mit zwei Beinen, hat er mit dauerhaften Erektionsproblemen zu kämpfen. An zahlreichen Stellen des Romans wird außerdem geschildert, dass Otto sowohl seiner Frau als auch seinen Kindern gegenüber sehr aggressiv und gewalttätig ist. An manchen Tagen schlägt er unvermittelt brüllend auf seine Kinder ein (vgl. AUS 34) und auch seine Frau behandelt er als verfügbares Objekt, indem er sie regelmäßig schlägt und sexuell malträtiert. Er wird als grober Mann beschrieben (vgl. AUS 42), welcher Behaglichkeit zerstört, wo er sie vorfindet (vgl. AUS 33). Otto Witkowski erscheint als eine überaus aggressive und dominante Männlichkeit, welche nach Kriegsende seine gesellschaftliche Machtposition weitgehend eingebüßt hat. Im Folgenden wird daher untersucht, welche Auswirkungen der Verlust seiner Machtposition auf seine Männlichkeit hat und wie Otto versucht, diesen Verlust vor allem im Kontext seiner Familie zu kompensieren. Die Untersuchung wird sich in erster Linie auf die Aspekte seiner Männlichkeit fokussieren, die als Kriterien für das Handlungsmuster einer hegemonialen Männlichkeit obligatorisch sind: unversehrte Körperlichkeit, Demonstration (hetero-)sexueller Potenz, Ausübung von Macht und Vorherrschaft, Abwertung von Weiblichkeit und die Verfügung über verschiedene Kapitalsorten, in erster Linie über ökonomisches Kapital. 1.1

Die Relevanz der (Nicht-)Ernährer-Rolle

Witkowski, welcher im Zweiten Weltkrieg eine ökonomisch gut abgesicherte Position als SS-Offizier innehatte, war nach dem Krieg mit dem Klassenabstieg konfrontiert (vgl. a. Sonnleitner 2008: 86), er verlor seine Stellung als Offizier. Zusätzlich erschwert ihm die körperliche Einschränkung durch den Verlust eines Beines den Wiedereinstieg ins Berufsleben. Vom »sadistischen Glamour der SS-Uniform« sei er nun »auf den Hund einer servilen Lakaientracht« gekommen (vgl. von Matt 1995: 339). Dementsprechend ist er jetzt, nachdem er bereits in vielen Berufen scheiterte (vgl. AUS 32), Nachtportier in einem bürgerlichen Hotel. Die Elite, die die Offiziere der SS vermeintlich darstellten, sei verschwunden; Rainer meint jedoch, dass sein Vater bereits im Krieg ein Versager gewesen sei (vgl. ebd.). Otto selbst findet hingegen, »[e]r macht seine Arbeit ehrlich und braucht sich nicht zu schämen« (ebd.). Auch Sophie gegenüber betont er seine Berufstätigkeit, die ihm keine Zeit lasse, noch häufig solch »fesche Bauxerl« wie sie zu besitzen (AUS 256). Er scheint bemüht zu sein, durch

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Analyse

solche Aussagen seinen Selbstwert aufrechtzuerhalten. Otto versucht außerdem seiner Familie gegenüber die Wertigkeit seiner Portiertätigkeit zu erhöhen, indem er die Macht betont, die mit seinem Beruf einhergeht, die aus den vielen zu verwaltenden »Schlüsseln von Zimmern, zu denen er jederzeit Zugang habe« (AUS 184), folgt. Dies wirkt lächerlich im Vergleich zu der Macht, die er zuvor im Krieg über ganze Menschenleben hatte. Die Versuche Ottos, das defizitäre Erleben seiner ökonomisch prekären Position zu kompensieren, persiflieren die Figur, sodass sie für die übrigen Familienmitglieder deutlich an Bedrohlichkeit verliert (vgl. AUS 35).94 Hinsichtlich seines beruflichen Misserfolgs wird auch von »Schicksal« und »Pech« gesprochen (AUS 32), womit einerseits die strukturelle Ebene der Diskriminierung von versehrten Personen geleugnet wird95, Otto andererseits aber auch die Möglichkeit bekommt, sich aus der Verantwortung für seine Situation zu ziehen. Insgesamt scheint er sich trotz fehlenden ökonomischen Kapitals (vgl. AUS 47 und 101) – ihnen droht sogar die Armut (vgl. AUS 33) – einen gewissen Stolz bewahrt zu haben: er lasse sich nichts anbieten und esse »nicht aus fremden Töpfen« (ebd.), da er »immer noch genug eigene Töpfe« habe (AUS 250). Er verkörpert hier eine nahezu stereotype Eigenschaft der unteren Klassen, nicht als bedürftig zu gelten bzw. diesem Anschein entgegenzusteuern, indem eigene materielle Ressourcen behauptet werden, um sich deutlich von der bedürftigen Unterschicht abzugrenzen. Gleichzeitig scheinen das vorhandene Auto96, die wöchentlich neue Krawatte sowie das eher kostspielige Hobby der Aktfotografie den Zweck zu haben, eine gewisse Illusion aufrechtzuerhalten, um sich nicht mit der Arbeiterklasse identifizieren zu müssen, sondern an seiner kleinbürgerlichen Identität festhalten zu können. Mit diesen sichtbaren Gütern erhält er nicht nur sich selbst die Illusion, sondern kaschiert den sozialen Abstieg in erster Linie vor seiner Umwelt (vgl. Strobel 1998: 63). Den eigenen Wagen beispielsweise können »sie sich [eigentlich] gar nicht leisten« (AUS 142). Auch wurde er schon einmal »wegen betrügerischer Krida« (ebd.), wegen dem Nichtzahlen seiner Schulden also, verurteilt. Witkowski versucht folglich mit 94 Schmid-Bortenschlager behauptet dagegen, dass Otto aufgrund seiner Position als Vater und Ehemann, das »unangefochtene Recht […] [besitze], die Familie völlig zu beherrschen« (Schmid-Bortenschlager 2012: 19). Diese Behauptung ist in Anbetracht der Tatsache, dass Rainer und Anna ihren Vater schikanieren, wann immer es ihnen möglich ist (vgl. AUS 35), allerdings nicht zu halten. 95 Hierbei scheint es sich in der Tat nur um Ottos körperliche Versehrtheit zu handeln, da es als »Pech« bezeichnet wird, dass »andere, die dasselbe taten [wie Otto], heute wieder hochkommen und er nicht« (AUS 32). Es geht also nicht um Kriegsverbrechen, die das berufliche Vorankommen einschränken. 96 Vgl. zum Autobesitz (Sonnleitner, 2008: 86): »Wer in den fünfziger Jahren ein Auto sein Eigen nennen konnte, hatte es ökonomisch geschafft«. Dies wirke im Kontext der prekären Situation der Familie Witkowski paradox.

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allen Mitteln, den Anschein eines wenigstens kleinbürgerlichen Daseins zu bewahren; er schließt die erniedrigende Gegenwart praktisch von seiner Wahrnehmung aus (vgl. Strobel 1998: 61). Auch seine Kinder scheint er lediglich auf dem Gymnasium zu belassen – obwohl die Familie das Einkommen weiterer Familienmitglieder durchaus gebrauchen könnte –, weil eine Lehre mit einem Klassenabstieg assoziiert werden würde. Auf den bloßen Gedanken daran reagiert Witkowski mit heftigen Aggressionen und droht mit körperlicher Gewalt (vgl. AUS 184). Die fast zwanghafte Aufrechterhaltung der Illusion wird besonders greifbar, wenn Rainer mit seinen Eltern in einer Einkaufspassage seine Freundin Sophie mit ihrer Mutter sichtet. Als Otto und Gretl erfahren, dass die Familie Pachhofen reich ist, möchte Otto sie sogleich begrüßen und stellt fest, dass sie »Elternkollege[n]« (AUS 247) sind. Der Begriff ›Kollege‹ suggeriert eine Ebenbürtigkeit, die eine gemeinsame Klassenzugehörigkeit zur Folge hätte, was Witkowski in seiner Illusion bestätigt. Der enorme Drang, die Familie zu begrüßen, unterstreicht Ottos Druck, seine Illusion permanent zu stabilisieren. Dass Otto nicht die »Sozis« wählt, sondern die »[K]apitalkräftigen« unterstützt (AUS 100), obwohl er selbst über kein Kapital verfügt, deutet ebenso darauf hin, dass er sich seines Klassenabstiegs immer noch nicht bewusst geworden ist. Paradoxerweise stützt er weiterhin Strukturen und ist Verfechter von Idealen, die ihn in seiner aktuellen Position benachteiligen. Margarethe Witkowski ist nun gezwungen, das mangelnde ökonomische Kapital für die Familie anzuhäufen. Sie arbeitet, obwohl sie früher Lehrerin war (vgl. AUS 35), als Haushaltshilfe für bürgerliche Familien. Dies »belastet die Beziehung zu ihrem Ehemann« (Strobel 1998: 63); neben der Eifersucht, die Gretls Tätigkeit verursacht, spielt hier vermutlich auch Ottos Anspruch mit hinein, selbst der Familienernährer zu sein. Die Rolle als Ernährer ist ein zentraler Aspekt der traditionellen Männlichkeitskonstruktion (vgl. u. a. Kersten 1997: 107). Er betont an verschiedenen Stellen, dass er der »Familienerhalter« ist (AUS 183; AUS 15: »wer erhält die Familie, wenn nicht ich«). Faktisch verliert er mit Ende des Krieges jedoch im Kontext seiner Familie an Macht: Die Familienmitglieder sind nicht in dem Maße ökonomisch von ihm abhängig, wie Otto dies behauptet, wenn er sich Familienerhalter nennt. 1.2

Eifersucht – Symptom einer defizitär empfundenen Lage

Die Tatsache, dass Otto seit dem Krieg ein Bein fehlt, lässt ihn seinen Körper als sehr defizitär empfinden. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass die körperliche Unversehrtheit bzw. die Ausstrahlung eines gesunden und fitten, kräftigen Körpers ein elementarer Bestandteil seiner Männlichkeitskonstruktion ist. Solch ein Körper symbolisiert im Kontext der Herstellung einer homosozialen Hierarchie die Fähigkeit eines Mannes, seine Frau und Familie beschützen, aber auch

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körperlich maßregeln zu können, genauso strahlt er eine Art Kampfbereitschaft sowie die Wettbewerbsfähigkeit einer Männlichkeit aus. Otto betont immer wieder, dass er trotz des fehlenden Beines durchaus in der Lage ist, mit anderen Männern zu konkurrieren (vgl. AUS 36) – vor allem hinsichtlich seiner sexuellen Potenz. Er fühlt sich wohl gezwungen, dies hervorzuheben, da mit einem unversehrten Körper offenbar auch die Annahme von uneingeschränkter sexueller Potenz einhergeht, welche Otto in logischer Konsequenz abgesprochen würde. Dies gilt es zu vermeiden, da die Potenz ein unerlässlicher Teil seiner Männlichkeitskonstruktion ist. Tatsächlich wird die Figur mit deutlichen Potenzstörungen gezeichnet (vgl. AUS 102: »Auch sonst kriegt er kaum mehr einen hoch«). Die Störungen sind auch Otto selbst durchaus bewusst: Um seine Frau weiterhin befriedigen zu können, bringt er von der Arbeit Witze und Anekdoten mit, die Gretl erregen sollen, »wenn sein Schwanz allein nicht ausreicht« (ebd.). Dennoch ist er immer wieder bemüht, diese Erektionsstörungen zu leugnen und seine Potenz zu betonen, um sich die Verkörperung seines Männlichkeitsideals imaginieren zu können. Als Otto Gretl wieder einmal Untreue vorwirft, stellt er fest: »[…] ich bin als Krüppel noch immer mehr Mann als ein anderer Mann, der zwei Beine hat und doch kein Mann ist. Soll ich es dir sofort beweisen?« (AUS 36). An anderer Stelle betont er, dass er eine starke Hand hat, »sogar doppelt« (AUS 104), um die Kinder zu züchtigen (AUS 48). Solche Beispiele veranschaulichen durch Suggerieren eines starken und intakten Körpers sowohl Ottos angestrebtes Männlichkeitsideal als auch sein durch das Nicht-Erfüllen dieser Anforderungen erlebtes Defizit in besonderem Maße. Dass Otto nicht müde wird zu betonen, dass er das Ideal einer hegemonialen Männlichkeit verkörpern kann, stellt sein Defizit umso mehr heraus. Das vehemente Hervorheben seiner vermeintlichen Stärke und Potenz lässt die Figur insgesamt verzweifelt und lächerlich erscheinen. Die Persiflage wird durch einen ironischen Kommentar zu Ottos Eifersucht vollendet: »Die Mutter findet in der Religion Trost und Hilfe […], der Papa toleriert das stillschweigend, obwohl der Herrgott auch ein Mann ist […]« (AUS 185). Ein besonders anschauliches Beispiel für Ottos Konkurrenz zu anderen Männern ist die Ausflugsszene mit Rainer nach Zwettl. Die Rivalität ist hier auf Rainers unversehrten Körper und damit verbundener Männlichkeit zurückzuführen. Ziel seines Ausflugs mit Rainer sei eigentlich »eine demonstrative Unterweisung in die männliche Rolle« (Strobel 1998: 106). Strobel argumentiert hier plausibel, dass diese »beschworene männliche Zusammengehörigkeit […] [nur] seine Rivalität mit dem Sohn, den väterlichen Neid auf ihn [verdeckt]« (ebd.). Otto fühlt sich Rainer massiv unterlegen.

Die Ausgesperrten

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Zu Beginn der Szene verdächtigt Otto Rainer, mit seiner eigenen Mutter geschlafen zu haben, weil dieser nicht auf Ottos Angriffe auf die Mutter – ganz gleich ob verteidigend oder bestärkend – reagiert (vgl. AUS 145f.). Hier wird Ottos wahnhafte Eifersucht auf die Spitze getrieben, sodass er auch einen Inzest in Betracht zieht. Seine Eifersucht ist schlicht auf jedes Wesen, das er als männlich identifiziert, gerichtet. Denn jedes männliche Wesen, jede Männlichkeit ist eine weitere potentielle Bedrohung für Ottos versehrte Männlichkeit. In Verbindung mit dem Ende der Szene, der penetranten Präsentation des – endlich einmal – erigierten Penis, wird die Fixierung Ottos auf den Phallus schließlich besonders evident. Er steht symbolisch für die Macht und Dominanz, die für Otto mit Männlichkeit einhergeht, die er selbst permanent einbüßt und als defizitär erlebt, und die er Rainer durch einen jugendlichen und potenten Körper unterstellt. Zu seiner eingeschränkten Potenz und seinem versehrten Körper kommen Ottos mangelnde berufliche Qualifikation und sein fortgeschrittenes Alter hinzu (vgl. Strobel 1998: 57f.). Andere Berufe, um die er sich beworben hatte, wurden an »cleverer[e]« (AUS 32) Konkurrenten vergeben. Außerdem schrumpfe Otto »aus natürlichen Altersgründen langsam ein« (ebd.). Otto besteht somit neben den sexuellen und körperlichen auch berufliche homosoziale Konkurrenzkämpfe nicht mehr, wenngleich er dies fortwährend vorgibt. Resultat seines erlebten Defizits ist wahnhafte Eifersucht. Regelmäßig traktiert er seine Frau mit Vorwürfen der Untreue. Verbale Übergriffigkeiten stellen hierbei die Regel dar, welche von Ansprüchen auf ihren Körper begleitet werden, wenn Otto die mühsam selbst geschneiderte neue Schürze seiner Frau zerschneidet, weil sie damit vermeintlich »ihre Brüste, ihre Hüften und ihren Arsch betonen [will], soweit sie vorhanden sind« – Körperteile, die »für den Vati da [sind] und sonst für keinen« (AUS 36). Wenngleich Gretl »in der Rolle der vortrefflichen Ehefrau« (Vis 1998: 369) bemüht ist, Otto in ihrer Treue, seiner Potenz und damit in seiner Männlichkeit zu versichern (»Aber nein, Otti, ich lieg mit keinem anderen Mann im Bett als mit dir, womit ich ausgefüllt bin« (AUS 142)), münden seine Vorwürfe schließlich in Schlägen mit einer Reitpeitsche und sogar in der Androhung von Mord. Gretl durchlebt Ottos exzessive Gewaltausbrüche nicht nur aus einer Eifersucht heraus, die aus Ottos Wahrnehmung seines versehrten, alternden und damit aus der Konkurrenz mit anderen Männern geratenen Körpers resultiert. Die Eifersucht ist genauso das Ergebnis seines geleugneten Klassenabstiegs. Aufgrund seiner mangelhaften beruflichen Qualifikation muss Otto zusehen, wie seine Familie von bürgerlichen Familien subventioniert wird, während er nicht mehr in der Lage ist, den Lebensunterhalt für die Familie allein zu bestreiten. Die simple Tatsache, dass seine Frau arbeiten geht und damit zum Lebensunterhalt beiträgt, kollidiert bereits mit seiner Vorstellung von Männ-

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lichkeit, in der der Mann der Ernährer ist. Dass es darüber hinaus noch bürgerliche Familien sind, für die Gretl arbeitet, löst Aggressionen in Otto aus, da ihm dies sein Unvermögen direkt vor Augen führt. Es lässt ihn wie einen »lebendig gebratenen Ochsen« (AUS 33) brüllen. Hier verschränken sich also verschiedene Ansprüche an die Verkörperung einer traditionellen Männlichkeit, die Otto nicht erfüllen kann. Die Eifersucht ist das Ergebnis seiner Unzulänglichkeit auf Ebene der sexuellen Potenz und körperlichen Unversehrtheit, seiner mangelnden beruflichen Qualifikation, aus der das Versagen im Anspruch, der alleinige Ernährer seiner Familie zu sein, resultiert, wie auch der vehementen Leugnung seines Klassenabstiegs. 1.3

Gewalt und Vergewaltigung

Mit dem Scheitern an der Verkörperung einer traditionellen Männlichkeit geht der Verlust seiner früheren Machtposition einher. Otto ist nach dem Krieg konfrontiert mit dem Verlust seiner Befehlsgewalt, weshalb er in der Gewaltausübung und Schikanierung seiner Familie die Kompensation dieses Verlusts sucht (vgl. Lücke 2008: 61; Heberger 2002: 45). Marlies Janz spricht diesbezüglich davon, dass Otto den Faschismus des Nationalsozialismus als alltäglichen Faschismus an seiner Frau und seinen Kindern weiter praktiziert (vgl. Janz 1995: 42), er sei ein Wiederholungstäter, nur das Objekt habe gewechselt (vgl. Szczepaniak 1998: 89). Wie Veronika Vis ausführt, dient ihm dies dazu, seine Macht unter Beweis zu stellen. Er speist hieraus sein Selbstbewusstsein (vgl. Vis 1998: 368). Ottos Kompensationsstrategie der exzessiven Gewaltanwendung wird im Folgenden in erster Linie an seinem Umgang mit Gretl veranschaulicht. Er belegt Gretl mit Ausdrücken wie »blöde Kuh« (AUS 16), »Trampel« (AUS 17) und »Hure« (AUS 17, 142), gibt ihr Befehle zu ihrer Körperhygiene (vgl. AUS 17), droht ihr mit körperlicher Gewalt (»Ich möchte dir jedesmal die Hirnschale einditschen« (AUS 17f.)) oder wendet sie an, indem er sie mit Gegenständen bewirft (vgl. AUS 17) oder sie mit der Reitpeitsche schlägt (vgl. AUS 142). Gretl schreie im Schlafzimmer oft um Hilfe (vgl. AUS 38), was dafür spricht, dass sie regelmäßig sexualisierte Gewalt erfährt. Auch während seines Wutausbruchs, kurz bevor er mit Rainer nach Zwettl fährt, um dort seine Frau zu betrügen, hören die Kinder aus dem Schlafzimmer ein »leises Au, was aber genügt hat zu erfahren, daß sie wieder einmal geprügelt worden ist wegen Eheverfehlungen« (AUS 142). Gemäß Heidi Strobel aktiviert Otto immer wieder die Teile seines Selbstbildes, die seine Macht und Überlegenheit demonstrieren sollen: »Mit Gewalt setzt er sich als das Oberhaupt der Familie ein« (Strobel 1998: 62). Gretl ist derweil kontinuierlich bemüht, Otto in seiner Vormachtstellung noch zu bestärken und in der Aufrechterhaltung seiner Macht zu unterstützen (vgl. a.

Die Ausgesperrten

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Schmitz-Burgard 1994: 200). An einer Stelle bittet sie um Erbarmen, wenn sie Otto anhält, »heute nacht kein Requisit [zu] benutzen, das schmerzt« (AUS 260). Dieser antwortet aus einer dominanten Position heraus, dass er sich das noch überlegen wird. Die Machtverhältnisse werden an dieser Stelle besonders herausgestellt. Otto Witkowski befindet sich in der absoluten Machtposition, während Gretl seine Position noch stützt, indem sie sich besonders unterwürfig verhält. Folgt man Schmitz-Burgard, geht es Gretl bei der Einnahme besonders passiver Rollen darum, es Otto zu ermöglichen, sich von seiner Potenz überzeugen zu können (vgl. Schmitz-Burgard 1994: 201). Konterkariert wird seine dominante Position im Kontext der Ehe jedoch anhand der Szene, in der Gretl Witkowski Ottos Fotoaufnahmen unterbrechen muss, weil in der Küche der Milchreis anbrennt (vgl. AUS 99–103): Er entsinnt sich seiner Tätigkeiten im Krieg und seines Engagements gegen die Kommunisten, putzt seine Pistole und betrachtet dabei Aktaufnahmen seiner Ehefrau. Dann geht [d]er Exoffizier […], einem jähen Entschluß folgend (was man als Offizier können muß: Entschlußfreudigkeit!), in die Küche, um seine Frau zu vergewaltigen, worauf er plötzlich Lust hat, aber als die Kuh wie immer eine ungeschickte Bewegung macht, rutscht er auf den Fliesen aus und kracht zu Boden. (AUS 102)

Er ist beim Aufstehen auf Gretl angewiesen, mit ihrem »patentierte[n] Hochziehgriff« (AUS 103) hilft sie ihm auf und klemmt ihm die Krücken unter die Achseln. Gretl ist offenbar die Stärkere der beiden. Otto steht somit »nur aufrecht, solange die Frau ihm […] zur Seite steht, solange sie sich ihm […] unterwirft und demütig seine Hand leckt« (von Matt 1995: 340). Die Machtverhältnisse sind somit andere als Otto sich und seinem Umfeld glauben machen möchte. Die versuchte Vergewaltigung und die tätlichen Übergriffe Ottos sind nicht als sexuell motiviert zu verstehen; sie nützen nicht in erster Linie etwa der Demonstration von sexueller Potenz, sondern sie dienen der Wiederaneignung von Macht bzw. der Demonstration von vermeintlicher Macht und Vorherrschaft. Er kann seine Macht nur über seine Frau ausüben und setzt an ihr seine Lust am Töten Unterlegener in kompensierter Form fort, so Johann Stangel (vgl. Stangel 1988: 186). Er ist stets bemüht, seine Frau und Weiblichkeit insgesamt abzuwerten und zu negieren97, indem er sich durch exzessive Gewaltausübung mit seiner Männlichkeit über sie erhebt. Gretl dient ihm hierbei als Komplizin, die ihre Rolle der emphasized femininity bis zur Perfektion beherrscht, ihre 97 Otto ist genauso bestrebt, alles, was auf Weiblichkeit hinweist, aus seinem Bewusstsein zu verdrängen. So sind Anna und Gretl angehalten, die ›Spuren‹ ihrer Menstruation, blutige Watte etwa, stets sofort zu entsorgen (vgl. AUS 206; Vis 1998: 369). Gretl badet sogar während ihrer Menstruation in Unterwäsche. (vgl. AUS 23; Strobel 1998: 112f.).

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Analyse

Überlegenheit kaschiert und ihn somit in seiner Dominanz-Illusion bestärkt: »Seine frühere Ausstrahlung von Autorität zieht seine Frau auch heute wieder hinter ihm her« (AUS 103). Vollendet wird die Subversion seiner Machtposition schließlich, als Otto Gretl nach dem Vergewaltigungsversuch seine körperlichen Leiden mitteilt. Er verbirgt schließlich »den grau gewordenen Kopf an ihrer Brust und muß weinen« (ebd.). Dies ist die einzige Stelle, an der Otto Schwäche zulässt und seine körperlichen und seelischen Gebrechen einräumt. Laut Heidi Strobel »regrediert [er] angesichts seiner real erfahrenen Hilflosigkeit und Unfähigkeit zum kleinen Kind« (Strobel 1998: 69f.). Er gibt kurzfristig alle Macht an Gretl ab, indem er sie in ihrer Rolle als Mutter anruft. Wie Alexandra Heberger richtig bemerkt (vgl. Heberger 2002: 47), wird Ottos Moment der Schwäche jedoch direkt von der Erzählinstanz zynisch kommentiert: »Es schluchzt der schwere Mann, mit so vielem ist er fertig geworden, so viele hat er fertiggemacht, und jetzt wird er selbst mit vielem nicht fertig. So ein Pech.« (AUS 103f.). Die verwendete Comic-Sprache verhöhne Otto zusätzlich (vgl. Heberger 2002: 47): »Mein armer armer Otti. Streichel streichel tätschel patsch« (AUS 104). Otto, welcher in der Performanz seines Männlichkeitsideals derart eingeschränkt und faktisch sogar seiner Ehefrau unterlegen ist, agiert die aus dem erlebten Defizit resultierenden Aggressionen in Form von körperlicher Gewalt gegen Kinder und Ehefrau bis hin zu dem Versuch der Vergewaltigung von Gretl aus, um sich wieder ein Stück Dominanz und Macht anzueignen. An dem kurzen Moment von emotionaler und körperlicher Schwäche wird außerdem deutlich, wie tief die Ideale einer hegemonialen Männlichkeit in Otto verhaftet sind. Er hat sie vollständig inkorporiert und sieht sich daher mit Zwängen konfrontiert, die sich aus dem Streben nach diesem Ideal ergeben. Da er bei aller Leugnung und Suggestion aber anerkennen muss, dass er bereits rein körperlich nicht in der Lage ist, diese Ideale in Form eines intakten, unversehrten Körpers sowie einer unangefochtenen Machtposition98 zu erfüllen, bricht er hier unter der Last der Zwänge zusammen. An dieser Szene wird die Wechselseitigkeit von Ottos »Macht- und Ohnmachtsgefühlen« (Strobel 1998: 54), die Heidi Strobel hinsichtlich der Figur Otto ausmacht, besonders deutlich: Er erlebt sich als ohnmächtig, obwohl es die Macht war, die er demonstrieren wollte.

98 Auch Heidi Strobel erkennt, dass Ottos Machtposition keineswegs unhinterfragt angenommen wird, »sondern sie muß immer wieder neu, durch alltägliche Schikanen und Aggressionen, gesetzt werden gegen den Widerstand von Frau und Kindern« (Strobel 1998: 62).

Die Ausgesperrten

1.4

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Künstlertum als Kompensation

Zunächst könnte angenommen werden, dass Otto sich der Aktfotografie hingibt, um kulturelles Kapital zu akkumulieren, da ihm der Weg zu mehr ökonomischem Kapital versperrt ist. Durch die Anhäufung von kulturellem Kapital wäre er gegebenenfalls wieder in der Lage, eine Position in den höheren Klassen einzunehmen. Der Wert von kulturellem Kapital ist Otto durchaus bewusst, da er seine Kinder aus reinen Prestigegründen im Gymnasium belässt und nicht in die Lehre schickt, um ökonomisches Kapital zur Familie beizusteuern (vgl. AUS 35). Er weiß: »In dieser neuen Zeit macht Wissen frei und nicht die Arbeit« (ebd.). Das Zitat spielt auf das nationalsozialistische Motto ›Arbeit macht frei‹ an (vgl. Janz 1995: 44; Heberger 2002: 73) und verdeutlicht, dass Otto die neuen Umstände erkennt und somit eventuell auch auf der Suche nach neuen Möglichkeiten zur Erreichung einer herrschenden Position ist. Anhand seiner Fotografie möchte er sich also hervorheben, deshalb könne er Gretl nicht angezogen fotografieren, das könne jeder »Sonntagsfotograf« (AUS 15). Er bezeichnet sich außerdem als »Fotospezialist« und »Künstler« (AUS 16, 204), was seine Fotografie als persönliche Expertise ausweisen und somit seinen Wert erhöhen soll. Er ist beleidigt, als Gretl die künstlichen Szenen einmal ›spielen‹ nennt (vgl. AUS 203) und korrigiert sie damit, dass es eine »ernsthafte Tätigkeit« (ebd.) sei. Auf Aussagen, die den Wert seines Hobbys schmälern könnten, reagiert er erbost, was bestärkt, dass es einen wichtigen Teil seiner Identität ausmacht. Hinsichtlich der Kapitalakkumulation zum Zwecke des Klassenaufstiegs sei dahingestellt, inwiefern die Pornofotografie Ottos kulturelles Kapital tatsächlich erhöhen bzw. ihn in ernstzunehmende Konkurrenz zur intellektuellen Fraktion der herrschenden Klasse stellen würde. Zumal seine Form der ›Kultur‹ der seiner Kinder entgegengesetzt wird, die sich durch die Rezeption existentialistischer Lektüre den Aufstieg erhoffen, welche durchaus im ›Trend‹ der Zeit lag (vgl. Sonnleitner 2008: 85f.). In der Szene, in der Otto sein Künstlerdasein betont und seine Expertise hervorhebt, wird dann jedoch bald deutlich, dass Otto den künstlerischen Wert seiner Fotografie vorschiebt, um eine Legitimierung für die Erniedrigung seiner Frau zu erreichen. Denn es geht ihm zuallererst darum: Erniedrigung – um die Suggestion von Unterwerfung, welche ihn als Erzeuger dieser Szenarien in eine machtvolle Position versetzt. Es handelt sich bei seiner Fotografie nicht in erster Linie um eine Kapitalakkumulation, sondern im Fokus steht – wie dies u. a. Schmitz-Burgard (1994) und Strobel (1998) überzeugend darlegen – eine Fortführung seiner Taten, eine Ersatzhandlung für seine Kriegsverbrechen, die ihm

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unter den aktuellen Gegebenheiten nur in dieser abgewandelten Form eine Machtaneignung und -demonstration erlauben.99 Du mußt einen angstvollen Gesichtsausdruck machen. Widerstände zu brechen ist immer besonders geil, auch ich habe im Krieg oft Widerstände gebrochen und zahlreiche Personen rein persönlich liquidiert. (AUS 16)

Die Verbindung der Fotoserien zu seinen Tätigkeiten im Nationalsozialismus wird hier besonders evident. Später überlegt Otto auch, ob er Gretl nicht mit den Wasserfarben der Kinder »Schnitte, Risse und kleine Löcher in der Haut beibringen [könnte]« (AUS 37). Dies deutet darüber hinaus auf sein Bedürfnis hin, mit der Fotografie an alte Erfahrungen im Krieg anzuknüpfen. Sein Bedürfnis danach resultiert zum einen aus dem bloßen Machterlebnis, welches mit der Fotografie durch die Erniedrigung seiner Frau und der Erinnerung an seine Tätigkeiten im Krieg einhergeht, wenn er seine Frau in besonders unterwürfigen und schutzlosen Posen ablichtet. Zum anderen stellt Hiltrud Gnüg fest, dass Ottos Potenzwahn obszöne Blüten treibt (vgl. Gnüg 1980: 198); mit den obszönen Blüten ist die Pornofotografie beschrieben, die aus seinem Zwang sich als potenten Mann darzustellen, resultiert. Hiermit stellt Gnüg Ottos sexuelles Interesse an der Inszenierung seiner Frau heraus. Es erregt ihn sexuell (vgl. AUS 15f.). Da Ottos Impotenz auf den Machtverlust mit Ende des Krieges zurückgeführt wird, scheinen die Fotoserien Abhilfe zu schaffen: Er glaubt, es [die Erektionsproblematik, Anm. JS] liegt daran, daß die starken Reize, die ihn als jungen Mann in den besetzten Ostgebieten überfluteten, in den letzten Jahren nur sehr abgeschwächt stattfinden. Wer einmal Leichenberge aus nackten Personen, auch Frauen, besichtigte, den reizt die heimische Hausfrau nur noch wenig. Wer einmal am Drücker der Macht war, der läßt rapide nach, wenn das Äußerste an Gewalt das Drücken von fremden Händen im Hotel ist. (AUS 102)

Otto ist nicht mehr in der Lage, durch mäßige Reize stimuliert zu werden, sondern er ist auf etwas angewiesen, was mit den Reizen des Krieges vergleichbar ist; und dies erreicht er im Ablichten seiner Frau – in nachgestellten Szenen der Angst, des Widerstandbrechens, der Unterwürfigkeit, der Verletzbarkeit (vgl. AUS 16, 37, 98, 99, 203). Schmitz-Burgard folgend kann festgehalten werden, dass die Pornofotografie im Roman »the links between fascism, misogyny, and patriarchy« (Schmitz-Burgard 1994: 201) aufzeigt. Geld und Körper sind dem Invalidenrentner als Ressourcen seiner Männlichkeitsperformanz abhandengekommen. Die Fotografie ermöglicht es ihm nun, sich eine Machtposition zu imaginieren, die er früher einmal innehatte. Er 99 Schmitz-Burgard konstatiert: »In Jelinek’s novel, Austrian postwar society permits a smooth transition from warfare to hobby : porno photographic shots replace human target shooting as a means of sexual arousal and the assertion of power« (Schmitz-Burgard 1994: 195f.).

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dominiert hierbei Menschen, objektiviert sie bis hin zur Fragmentarisierung des Körpers auf einzelne Körperteile (»Nahaufnahmen ihrer Genitalien« (vgl. AUS 166)); gleichzeitig kann er sich vormachen, dass er der Verursacher der Angst und Unterwürfigkeit auf den Bildern ist. All diese Aspekte sind elementar für seine Identität als SS-Offizier gewesen, jedoch sind diese Erfahrungen von uneingeschränkter Macht genauso Attribute seines Ideals einer Männlichkeitsperformanz. Durch die Suggestion des ultimativen Despoten, die die Fotografie unter Mithilfe der emphasized femininity Gretl zu erzeugen in der Lage ist, kann er seinem Ideal ein Stück näherkommen und erlebt sich und seine Männlichkeit – temporär – nicht als defizitär. So idealisiert er die Pornografie als Kunst, womit er die symbolische Liquidation seiner Frau, seiner neuen Gegnerin nach dem Krieg, rechtfertigen und seine Insuffizienz überbrücken kann (vgl. MahlerBungers 1988: 112f.). 1.5

Otto als Frauenheld

Otto Witkowski betont neben seiner vermeintlichen sexuellen Potenz auch stetig seinen Erfolg bei Frauen. Er entsinnt sich: »Heute muß ich mich mit einem Bein plagen, damals flogen mir die Frauen zu, was der Zauber der Montur machte. Die fesche Uniform« (AUS 16f.). Heidi Strobel betont, dass nicht er es ist, der begehrt wurde, sondern »seine Funktion als Träger symbolischer Macht« (Strobel 1998: 56). Nun, nach Ende des Krieges, trägt er seine Uniform nicht mehr und verfügt somit auch nicht mehr über die einstige symbolische Macht. Da er seine Wirkung auf Frauen hier im Präteritum formuliert, ist davon auszugehen, dass er sich der Tatsache, dass die Frauen ihm heute nicht mehr zufliegen und dies tatsächlich nur die Wirkung der Uniform war, eigentlich bewusst ist. Doch er legt sein gepflegtes Auftreten, wie »aus dem Schachterl« (AUS 204), nicht ab. Er scheint hier genauso wie hinsichtlich oben benannter Aspekte bemüht zu sein, eine Illusion aufrechtzuerhalten. Aus diesem Grund trägt er auch jeden Tag scharfgebügelte Hemden und kauft jede Woche eine neue Krawatte, »schließlich ist man ein Frauenheld und hat auch diesen Ruf« (AUS 204). Ihm wird hiermit gleichzeitig ein stereotyp weibliches Verhalten zugeschrieben: Jelinek kehre das Dispositiv »männlicher Blick – weibliches Objekt« um (vgl. Schmid-Bortenschlager 2012: 16), indem die Relevanz seines Aussehens derart hervorgehoben wird. Es ist interessant, dass Otto, welchem als Männlichkeit eigentlich eine unhinterfragte Subjektposition zukommt, letztere vollständig einzubüßen scheint. Es geht nun darum, sich als Mann in Szene zu setzen, sich als begehrenswert zu inszenieren, sich äußerlich attraktiv zu gestalten, um von Frauen und auch von Männern als Mann (an-)erkannt zu werden. Er benötigt das Außen, um seinen Selbstwert aufzubauen und seine Männlichkeit bei all ihrer Fragilität zu stabilisieren. Die Zuschreibung einer stereotyp weiblichen Verhaltensweise, die ihm paradoxerweise dazu dienen soll,

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seine Männlichkeit herzustellen, hat das Potential zur Subversion der Geschlechtlichkeit der Figur. In Anbetracht von Ottos verzweifeltem Kampf um Männlichkeit wird die Figur dadurch zur bloßen Parodie auf Männlichkeit. Wenn er im Einkaufszentrum auf Sophies Mutter trifft, ist sein zweiter Gedanke – nach dem Bedürfnis, sich ihr als ›Kollege‹ vorzustellen – der Frage nach seinem Erfolg als Mann bei Mutter Pachhofen gewidmet. Auch hier wird deutlich, dass er auf seine Wirkung auf Frauen – vor allem auf bürgerliche Frauen – großen Wert legt. Sein Ziel ist es, als machtvoller, sexuell potenter Mann begehrt zu werden. Schließlich fährt Otto mit seinem Sohn Rainer in ein Ausflugslokal nach Zwettl, um hier eine sexuelle Erfahrung mit einer anderen Frau zu machen und sich seine Bestätigung als Mann einzuholen (vgl. AUS 144ff.) sowie seine Autonomie von Gretl zu beweisen. Die junge Arbeiterin einer Zuckerfabrik, Frieda, ist Mitte Zwanzig und lässt sich von Otto einladen. Otto fasst ihr ungeniert unter den Rock und an die Brüste, was sie – offenbar ganz passive Frau – geschehen lässt. Sie scheint auf Ottos Annäherungsversuche einzugehen, nennt ihn »Herr« und »Meister« (AUS 147) und meint, er könne ihr vielleicht noch etwas beibringen (vgl. ebd.). Sie kichert selbst dann noch unterwürfig, wenn Otto einen Witz auf ihre Kosten macht. Ihr Verhalten deutet darauf hin, dass Frieda als schmeichelnder Spiegel im Sinne Virginia Woolfs (vgl. Bourdieu 1997: 203) fungiert. Otto wird durch die Interaktion mit Frieda zu einem begehrenswerten Mann stilisiert: Es wird festgestellt, dass alles, »was unter dem Dirndlrock [ist,] all die Jahre nur auf ihn gewartet hat« (AUS 147). Er ist also auch als Kriegsinvalide noch in der Lage, eine junge »Höchstensmittzwanzigerin« (AUS 146) zu reizen. Otto inszeniert sich in dieser Interaktion als zahlungskräftig, er spendiert ihr Sachertorte, Wein, Kaffee und einen überteuerten Likör (vgl. ebd.). Auch seine sexuelle Potenz betont er deutlich: »wenn ich auch versehrt bin, ich stehe noch meinen Mann« (ebd.). Otto erreicht also sein Ziel. Er fühlt sich als potenter, begehrenswerter Mann, der durch finanzielle Ressourcen auch als Ernährer fungieren kann; er bekommt die kompensatorische Bestätigung, die er aufgrund seiner Minderwertigkeit benötigt (vgl. Lücke 2008: 62). Frieda erkennt ihn als ihr klassenmäßig überlegen an, womit er sich gleichzeitig von der Arbeiterklasse distanzieren kann. Genauso kann er sich davon überzeugen, von seiner Frau Gretl autonom zu sein, auf die er sonst eigentlich außerordentlich angewiesen ist, sowohl zur sexuellen Befriedigung als auch um seine Autorität zu behaupten. Die Interaktion scheint für Ottos Männlichkeitswiederherstellung also zunächst als Erfolg verbucht werden zu können. Allerdings bricht die Interaktion ab, es kommt nicht zum Vollzug des Geschlechtsverkehrs, was Otto dazu verleitet, seinem Sohn seine sexuelle Potenz in überzeichneter Form vorzuführen: »Mit Leichtigkeit hätte ich die aufs Kreuz gelegt und nur einen Finger und noch was anderes dazu benötigt, speichelt der Papa und steckt eine Hand oben in die

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Sonntagshose hinein« (AUS 148). Es folgt die Szene, in der Otto neben seinem Sohn im Auto masturbiert und über »weibliche Muschis« (ebd.) und deren Beschaffenheit referiert. Heidi Strobel ist der Auffassung, dass Jelinek »[m]it der demonstrativen Masturbation Witkowskis vor den Augen seines Sohnes […] männliche Autonomie als eine Imagination, die jede Abhängigkeit von der Frau zu verleugnen sucht« zeigt (Strobel 1998: 109). Denn schließlich suche Otto die Bestätigung seiner Männlichkeit narzisstisch bei einem anderen Mann und nicht im Begehren einer Frau. Dieser Argumentation ist zuzustimmen, denn wenngleich Otto sich die Bestätigung seiner Potenz gern von Frieda eingeholt hätte, ist es faktisch letztlich Rainer, der ihm seine Mannhaftigkeit – in Form eines »Prachtexemplar[s]« (AUS 148) von einem Penis – bescheinigen soll. Was Frieda unterließ, soll schließlich sein Sohn kompensieren. Auch beim Urinieren am Straßenrand muss Rainer daneben stehen, damit er »seinen Schweif dabei bewundert« (AUS 150). Wenn er später auf dem Fest für die Maturant_innen Sophie erzählt, dass er früher auch solche Mädchen wie sie »besessen« (AUS 256) hat, macht er für das Ausbleiben solcher Eroberungen heute nicht etwa sein Alter, seine mangelnde Potenz oder seine machtlose gesellschaftliche Position verantwortlich, sondern schiebt den Zeitfaktor im Kontext seiner Berufstätigkeit vor, die ihm immerhin noch die Illusion der Funktion als Ernährer sichern kann. Es lässt sich insgesamt festhalten: Wenn Otto im Krieg ein Frauenheld war, so ist er schon lange keiner mehr. Er tut jedoch allerhand, um dieses Bild von sich bewahren zu können. Er pflegt penibel sein Äußeres, inszeniert sich als besonders kundig im Umgang mit Frauen im heterosexuellen Kontext, weiß es vermeintlich, ihnen Avancen zu machen, und meint, eine Frau durchaus sexuell befriedigen zu können. Er drängt Frauen in die Passivität und objektiviert sie, wodurch er sich als aktive und dominante Männlichkeit hervortun sowie Autonomie von seiner Ehefrau suggerieren kann. Außerdem gibt er sich als spendabler Mann, der auf einige ökonomische Ressourcen zurückgreifen kann und somit einen guten Ernährer und mindestens einen Kleinbürger abgibt. Doch das Wissen um den gesamten Charakter der Figur, die Einbettung der jeweiligen Szenen in den gesamten Roman sowie die Kommentare der Erzählinstanz erwirken ein Bewusstsein von den Illusionen, die Otto hier erzeugt, wodurch die Figur in ihren Bemühungen lächerlich wirkt – Otto als Frauenheld wird zur Persiflage. 1.6

Der defizitäre Gewalttäter – Ein Resümee

Otto Witkowski hat gemäß der heterosexuellen Konventionen nach Jahren des Daseins als Frauenheld eine Frau geehelicht, hat seine sexuelle Potenz durch das Zeugen von Zwillingen bescheinigt, hatte einen vollständig intakten und un-

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versehrten Körper und eine berufliche Position inne, die ihn ökonomisch und im Kontext des Nationalsozialismus auch sozial in eine gehobene Position versetzte und ihn somit zu einem Teil der oberen Klassen machte. Seine frühere Berufstätigkeit war außerdem unzweifelhaft mit einem hohen Maße an Macht und Autorität verbunden. Es kann also festgehalten werden, dass Witkowski vor dem Hintergrund des NS-Regimes dem Ideal der hegemonialen Männlichkeit sehr nahe kam. Zum Zeitpunkt der Handlung des Romans ist der überzeugte Nationalsozialist jedoch gealtert, Invalidenrentner und Nachtportier in einem Hotel. Mit dem Ende des Krieges erfolgte für die Witkowskis also der Klassenabstieg, weshalb der Familienvater nun nicht mehr in der Lage ist, seine Familie allein zu ernähren; Gretl muss als Haushaltshilfe in bürgerlichen Familien Geld hinzuverdienen. Wenngleich er seine Frau und seine Kinder regelmäßig erniedrigt und zu unterwerfen sucht, respektieren Anna und Rainer ihn nicht als Autorität und Machtinstanz; sie schikanieren ihn, wann immer es ihnen möglich ist (vgl. AUS 35). Eine Machtposition nimmt er in der Familie demnach nicht ein. Lediglich Gretl ist bemüht, Otto in seiner Position als Mann und Familienoberhaupt zu bestärken und so nimmt sie jede Erniedrigung durch sein Hobby der Pornofotografie, körperliche und seelische Gewalt unterwürfig hin. Als emphasized femininity stellt sie im Rahmen der Handlung einen funktionellen Typus dar, welcher Otto und den patriarchalen Zuständen als Komplize dient, um die Ideale, an denen Otto selbst scheitert, paradoxerweise als erstrebenswerte aufrechtzuerhalten. Zudem ist Ottos sexuelle Potenz deutlich eingeschränkt, was dazu führt, dass er seine Frau nicht mehr ausreichend befriedigen kann. Ihm ist dies als Defizit bewusst, obwohl Gretl ihm regelmäßig versichert, dass er sie vollständig »ausfüllt« (AUS 142). Das fehlende Bein bescheinigt ihm zusätzlich, dass er mit anderen, unversehrten Männern nicht mehr konkurrieren kann, was sein defizitäres Empfinden verstärkt und häufig in einem eifersüchtigen Ausbruch mündet. Seine Eifersucht ist jedoch nicht auf die sexuelle Komponente beschränkt, sondern resultiert auch aus Ottos nicht zu erfüllendem Anspruch auf eine Zugehörigkeit zur oberen Klasse sowie seinem Ehrgeiz, Familienernährer zu sein. Es wird evident, dass Otto seine privilegierte, hegemoniale Machtstellung vollständig eingebüßt hat. Dennoch hält er an seinen alten, patriarchalen Werten und Idealen fest, ohne zu reflektieren, dass genau diese das defizitäre Erleben seiner Person bedingen. Um die kognitiven Dissonanzen aufzulösen, die ihm durch die Diskrepanz zwischen seinen Idealen und seiner tatsächlichen Performanz entstehen, ist er stets bemüht, sich in Illusionen zu flüchten, die ihm bestätigen, dass er die Ideale

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noch genauso verkörpert wie er dies zweibeinig während des Krieges tat. Seine Strategien hierbei sollen noch einmal zusammengefasst werden: Er grenzt sich mehrfach deutlich von der Arbeiterklasse ab und leugnet das finanzielle Defizit der Familie, indem er sich dennoch Luxusgüter wie ein Auto leistet. Auf diese Weise bestreitet er den real stattgefundenen Klassenabstieg. Mit seinem Hobby der Pornofotografie gelingt es ihm außerdem, sich eine Machtposition zu imaginieren, die seiner Position im Krieg sehr nahe kommt. Als ausgemachter Despot im Kontext der Fotografie ist er in der Lage, seine aktuelle Position zu leugnen und sein Bedürfnis nach Macht – zumindest temporär – zu befriedigen. Im Hinblick auf sein Machtstreben ist außerdem die Fixierung auf seinen Phallus zu nennen, dessen Demonstration in erigiertem Zustand seine unbändige Macht und Dominanz herausstellen soll. Genauso behauptet er, dass er sexuell noch die gleichen Leistungen erbringen kann wie andere unversehrte Männer, obwohl er faktisch unter massiven Potenzstörungen leidet. Seine Männlichkeit kann er zudem immer wieder bestärken und aufwerten, indem er die Weiblichkeit seiner Frau abwertet und erniedrigt. Durch die körperlichen und seelischen Gewaltakte gegen seine Frau findet er einen simplen Weg, seine Männlichkeit aufzuwerten. Denn entwertete Weiblichkeit lässt Männlichkeit in einem binären Geschlechtersystem zwangsläufig höherwertig erscheinen. Eine ziemlich gelungene Illusion scheint zunächst die Szene mit Frieda im Ausflugslokal zu sein. Es gelingt Otto hier über weite Strecken, sein Ideal einer Männlichkeit zu verkörpern – sowohl hinsichtlich seiner Klassenzugehörigkeit, seiner Autorität als auch seiner sexuellen Potenz und Autonomie. Frieda bestätigt ihn in seiner Performanz. Als die Runde frühzeitig auseinanderbricht, sucht Otto nach einer Kompensationshandlung, die er in der sexuellen Nötigung Rainers findet. Es wurde ersichtlich, dass die Illusionen, die Otto sich macht, ihn der Verkörperung seines Ideals keineswegs näher bringen. Sowohl seine große Verzweiflung, mit allen Mitteln eine ideale Männlichkeit zu verkörpern, als auch die Beschreibungen und Kommentare der Erzählinstanz machen ihn zur Persiflage auf traditionelle Männlichkeit. Ottos Bestreben, den Schein auf allen Ebenen zu wahren, stellt die Brüche der Figur in ihrer Männlichkeitskonstruktion sowie die Absurdität ihrer Männlichkeitsperformanz deutlich heraus. Auf den womöglich zentralsten Bruch der Figur soll an dieser Stelle noch einmal rekurriert werden – die einzige Situation, in der die Figur zur Reflektion fähig scheint: Nach seinem gescheiterten Vergewaltigungsversuch lässt Otto einen Moment der Schwäche zu, in dem er befürchtet, seine Kinder könnten ihn so sehen (vgl. AUS 104); er ist sich seiner Schwäche in dieser Situation bewusst. Spätestens hier wird den Rezipierenden deutlich, dass Gretl die Stärkere in der Beziehung ist. Otto ist auf sie angewiesen, doch Gretl ist so sehr in ihrer betonten Weiblichkeit verhaftet, dass ihr nichts anderes in den Sinn kommt, als ihren Mann in seiner Herrschaft zu stützen.

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Analyse

Somit bleiben die patriarchalen Strukturen bestehen. Die Szene macht greifbar, was Otto für Leid aussteht, dadurch dass er das Ideal einer hegemonialen Männlichkeit so sehr inkorporiert hat und damit dessen Zwängen unterliegt. Sein verzweifelter Kampf um Männlichkeit gegen die defizitäre Wahrnehmung seines Selbst könnte Mitleid dafür aufkommen lassen, dass er nicht in der Lage ist, sich von den Idealen, die er schlicht nicht erfüllen kann, zu lösen. Doch das tragische Potential der Figur wird durch den Kommentar der Erzählinstanz jäh zerschlagen: »So ein Pech.« (AUS 104). Andererseits hat die Szene die Möglichkeit, subversives Potential aufzuzeigen. Die Figur Otto, der Despot, das »Negativ-Klischee des Machos« (Schmid-Bortenschlager 2012: 16), der aggressive Familienvater, hat einen weichen Kern. Jelinek zeichnet diese männliche Figur mit einer rigorosen Aggressivität und Rücksichtslosigkeit, als ein Paradebeispiel eines Patriarchen, doch dann bricht sie die Figur mit dieser Szene, in der Otto sich – Geborgenheit und Schutz suchend – sogar weinend an die Brust seiner Frau legt und sich seine Abhängigkeit von Gretl eingesteht. Abschließend lässt sich festhalten, dass Otto seine Männlichkeit als besonders defizitär erlebt, da er eine traditionelle Männlichkeit anstrebt. Er scheitert auf multiplen Ebenen an den Anforderungen des Patriarchats an Männlichkeiten. Seine Verhandlungsstrategie dieses Defizitempfindens sind die Illusionen, die ihm dazu dienen sollen, seine kognitiven Dissonanzen aufzulösen: die Abwertung von Weiblichkeit, die Betonung seiner vermeintlichen Potenz, die ihm Männlichkeit attestiert, die massive Ausübung von Gewalt, durch die er noch in der Lage ist, seine Frau und temporär auch seine Kinder unterzuordnen und die Leugnung des Klassenabstiegs. So kann er eine Macht für sich beanspruchen, die ihm suggeriert, dass sein vehement verfochtenes Männlichkeitsideal in greifbare Nähe rückt. Diese Strategie ist es jedoch letztlich, die ihn als Persiflage auf traditionelle Männlichkeit ausstellt.

2.

Hans Sepp – Starkstrommonteur auf Abwegen »wenigstens ist der Prolet höflich«

Hans Sepp ist der älteste der räuberischen Jugendbande, jedoch genauso wie die anderen – Anna, Rainer und Sophie – »ohne jede Reife« (AUS 7). All seine Kenntnis im Umgang mit Frauen scheint er aus den konsumierten Hollywoodfilmen zu beziehen, die starre Geschlechterbilder propagieren (vgl. a. Mahler-Bungers 1988: 114f.; Heberger 2002: 72). Er ist gelernter Starkstrommonteur (vgl. AUS 26) und somit Teil der Arbeiterklasse. Sein Verhältnis zur Arbeiterklasse stellt sich im Verlauf der Handlung als eine Abkehr von derselben dar. Sein Vater starb als Verfechter der Arbeiterbewegung im Konzentrations-

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lager Mauthausen (vgl. AUS 25). Seine Mutter hält die Werte der Arbeiter_innen weiterhin hoch und ist stets bemüht, diese auch Hans wieder nahezubringen. Hans dagegen – stark beeinflusst von Rainer – möchte zunächst Sportlehrer werden und im Verlauf der Handlung »endgültig höher hinaus« (AUS 174), indem er die Arbeitermittelschule bzw. das Abendgymnasium besuchen möchte. Laut Erzählinstanz ist Hans jedoch »mehr die Hände« (AUS 11) der Bande, womit sich bereits früh andeutet, dass er aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse auf seine Körperlichkeit und Tatkräftigkeit reduziert wird; seine Hände werden Synonym für seine Identität (vgl. Heberger 2002: 104f.). Im Rahmen der Analyse dieser Figur werden folgende Aspekte untersucht: Hans’ Ressourcen bzw. seine Position im Klassenverhältnis, sein Frauenbild sowie seine Instrumentalisierung für bestimmte Zwecke durch die anderen Figuren. Seine Verfügung über unterschiedliche Ressourcen wird dabei im Zentrum der Untersuchung stehen, da sich hieraus ableiten lässt, welche Privilegien Hans für seine Männlichkeitskonstruktion nutzen kann und welche Defizite ihn in seiner angestrebten Männlichkeitsperformanz einschränken. Hierzu wird auch sein Konkurrenzverhältnis zu Rainer analysiert. Es wird außerdem gezeigt, dass sich aus seiner Position im Klassenverhältnis und seinen rigiden Vorstellungen von der geschlechtlichen Rollenverteilung erhebliche Dissonanzen bezüglich seiner Männlichkeit ergeben, wobei vor allem von Interesse ist, wie er damit jeweils umgeht. Zuletzt wird auf Hans’ Instrumentalisierung eingegangen. Jedes Mitglied der Jugendbande hat individuelle Gründe dafür, Hans zu instrumentalisieren. Diese Gründe werden erläutert und die Folgen dessen für Hans’ Männlichkeit analysiert. Im Resümee wird schließlich zusammenfassend dargelegt, was die Besonderheiten dieser Männlichkeitsperformanz sind, sowie ob und inwiefern diese Männlichkeit an den Anforderungen des Patriarchats scheitert. 2.1

Die (mangelnden) Ressourcen

Hans verfügt aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse über wenig bis keine Ressourcen ökonomischer oder kultureller Art. In den unteren Schichten erfolgt häufig eine Fokussierung auf den Körper, welcher zum männlichkeitsgenerierenden Moment wird, da er die einzige verlässliche Ressource darstellt, die den Akteuren der Arbeiterklasse bleibt (vgl. Kersten 1997: 104). So wird auch im Roman deutlich, dass Hans sich meist über seine Körperlichkeit und seine Fitness profilieren möchte, was auch Alexandra Heberger konstatiert: »Da Hans außer seinem Körper nichts zu bieten hat, präsentiert er sich selbst als Mythos und reduziert sich somit auf seine Körperlichkeit« (Heberger 2002: 105). Auch die anderen Figuren nehmen Hans in Folge einer klassenmäßigen Stereotypisierung lediglich über seine Körperlichkeit und dessen Funktionalisierung wahr.

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Analyse

Er entwickelt jedoch unter Rainers Einfluss ein Bewusstsein für seine gesellschaftliche Lage und ist bestrebt, sich auch kulturelles Kapital anzueignen. Im Folgenden wird nun auf die einzelnen vorhandenen bzw. defizitären Ressourcen von Hans eingegangen, um von hier aus einen Bezug zur Relevanz dieser Ressourcen für seine Männlichkeitskonstruktion herzustellen. a. Die Ressource Körper Die Ressource Körper hat unterschiedliche Facetten, die es zu untersuchen gilt: das bloße Äußere, was Stärke ausstrahlen und begehrt werden kann, die Betonung der körperlichen Stärke und Fitness, die Funktionalisierung des Körpers als Werkzeug sowie die Fokussierung auf dessen sexuelle Potenz und Triebhaftigkeit. Neben der Berücksichtigung dieser Aspekte wird außerdem analysiert, inwiefern sich die Konkurrenz zu Rainer im Kontext der Körperlichkeit niederschlägt. Das Äußere und die Fitness Es wird an zahlreichen Stellen betont, dass vor allem Anna und Sophie sich auf Hans’ Körper beziehen. Anna streichelt Hans an seinen Oberarmen (vgl. AUS 12), sie findet Hans schön und Sophie würde das auch bald tun (vgl. AUS 9). Anna weiß Hans zu schätzen, weil er mehr Körper sei und weniger Bücher gelesen hat (vgl. AUS 117). Sie kann dem intellektuellen Druck, unter dem sie sonst steht, entgehen, wenn sie davon ausgeht, dass der Arbeiter auf seinen Körper reduziert ist. Sophie möchte, dass Hans sich vor ihr auszieht, als sie ihm einen Anzug ihres Bruders schenkt (vgl. AUS 67). Hans, der den Anzug gern haben möchte, tut dies auch. Er bezahlt mit seinem Körper für den Anzug und für Sophies Aufmerksamkeit, er »prostituiert« sich (vgl. Heberger 2002: 90, 106). Es wirkt zunächst so, als würde Sophie dies nicht aus Erregung durch Hans’ attraktiven Körper tun, sondern vielmehr, als würde sie Hans’ Körper lediglich nutzen, um bei ihm ein Schamgefühl zu produzieren und ihn unterzuordnen; als spielte sie – möglicherweise aus Langeweile – ein Machtspiel mit ihm.100 Nach einem der Überfälle scheint Sophie Hans allerdings aus einer anderen Perspektive wahrzunehmen: »Sophie […] sieht Hans heute mit neu aufgewachten Augen, weil er eine harte Schlaghand hat, Sophies Augen suchen den Muskel […], sie suchen und sie finden ihn auch« (AUS 218). Sophie ist von Hans’ Körper beeindruckt; Johann Stangel erklärt dies folgendermaßen: Sophies sexuelle Neigung zu Hans Sepp […] gründet in der körperlichen Gestalt des kräftigen Arbeitersohnes, der im Aussehen wirkungsvoll mit Rainer kontrastiert, […] und zeigt die Attraktion des für das Großbürgertum als exotisches Stimulans reiz100 Auch Bärbel Lücke sieht in Sophies Handeln »faschistische[…] Methoden zur Erniedrigung von Menschen (Hans) zu ihrem eigenen Genuss« (Lücke 2008: 63f.).

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vollen, fremdartig gesunden und primitiv natürlichen Proletariers […]. (Stangel 1988: 139)

Demnach wäre es tatsächlich die Andersartigkeit von Hans, die Sophie an ihm reizt. Sie scheint erregt zu sein, was in einer Käfermetapher zum Ausdruck kommt: Über Sophies Beine wandern winzige Käfer in langer Prozession und kriechen ihr unter den Tennisrock, wo sie eine Art Wühlarbeit beginnen. Die anderen sollen fortgehen, und nur Hans soll dableiben, das sagen die Käfer und das sagt Sophie auch gleich. (AUS 219)

Hierauf folgt die Szene, in der Sophie Hans nötigt, vor ihr zu masturbieren, welche in Anbetracht von Sophies sexueller Erregung möglicherweise schlicht ihrer sexuellen Befriedigung dienen soll, die sie in diesem Fall durch die Erniedrigung von Hans erfährt.101 Sophie reduziert Hans somit auf seinen Körper und bedient sich an diesem. Nicht nur andere Figuren, sondern auch Hans selbst bezieht sich regelmäßig, wie bereits angedeutet, auf seinen »Trumpf« (Janz 1995: 43; Heberger 2002: 106), den Körper, und ist bestrebt, seine äußeren Vorzüge hervorzuheben. So fragt er Sophie einmal, ob sie seine Muskeln spüren kann, sie wüchsen nur für sie (vgl. AUS 62) und an anderer Stelle »schiebt er einen Bizeps ins Bild und spannt diesen an, damit die rohe Kraft, die in dem Muskel haust, von Sophie gesehen und erkannt wird« (AUS 218). Hier wird genauso wie bei der Figur Otto ersichtlich, dass Jelinek das Dispositiv »männlicher Blick – weibliches Objekt« umkehrt: »Bei allen männlichen Figuren ist das Aussehen wichtig, sie werden immer wieder als hübsch, jung, attraktiv, sportlich dargestellt« (Schmid-Bortenschlager 2012: 16).102 Hans wird dementsprechend mit einer stereotyp weiblichen Eigenschaft ausgestattet. Er macht außerdem Schattenboxen, führt imaginäre Ringkämpfe und tut so, als ob er Fußball spielt, wenn er die anderen Jugendlichen beeindrucken möchte (vgl. AUS 94). Er versucht bei allem Mangel an Ressourcen, seiner Identität durch die Demonstration von körperlicher Stärke und Fitness Ausdruck zu verleihen und so seinen Selbstwert aufzubauen. Die Neologismen, die Jelinek für seine körperlichen Aktivitäten nutzt (»schattenboxt«, »fußballspielt« (AUS 94)) verweisen laut Heberger auf die Absurdität seines Benehmens (vgl. Heberger 2002: 105); die Erhebung seines Selbstwertes durch die Darstellung seiner körperlichen Fitness wird somit persifliert. 101 Diese Annahme würde auch Sophies Charakter entsprechen, welcher von Reinheit geprägt ist. Physisch gelebte Sexualität würde diesem Charakter entgegenstehen. 102 Hierbei ist zu sagen, dass diese Charakterisierung für Otto nur eingeschränkt gilt. Dieser wird nicht als hübsch, jung, attraktiv oder sportlich dargestellt. Die Umkehrung des Dispositivs vollzieht sich dennoch, wie im Abschnitt zu Otto herausgestellt werden konnte.

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Funktionalisierung des Körpers Wie bereits erwähnt ist Hans »mehr die Hände« (AUS 11) der jugendlichen Bande, seine Fäuste sind manuelle Arbeit schließlich gewohnt (vgl. AUS 8). Die Fokussierung auf seine Körperlichkeit wird schon auf den ersten Seiten des Romans besonders deutlich. Es wird beschrieben, wie er sich körperlich mit dem Opfer des Überfalls auseinandersetzt. Er bediene sich hier »männliche[r] Spielarten der Gewalt« wie Fausthiebe und Kopfstöße. Diese Form der körperlichen Gewalt wird der von Sophie entgegengesetzt, welche lediglich mit den Füßen gegen das Schienbein tritt. Die vermeintlich männlichen Spielarten von Gewalt sind folglich intensiver, risikoreicher – da durch die Kopfstöße auch eine eigene Verletzungsgefahr besteht – und eher animalischer Natur (vgl. »Rammbock« (AUS 8)). Das Animalische, Triebhafte und bloße Funktionieren von Hans in dieser gewaltvollen Situation wird von der Erzählinstanz mit der Beschreibung von Hans als »geistlose Maschine« (AUS 9) weiter bestärkt; ihm wird jegliche Reflektionsfähigkeit abgesprochen. Er wird auf seinen Körper reduziert, dessen Hände wie Hämmer auf das Opfer einschlagen (vgl. ebd.). Durch die Gleichsetzung seiner Hände mit Werkzeugen wird die Funktionalisierung seines Körpers auch durch die Erzählinstanz hervorgehoben. Schließlich muss Hans, der immer noch »wild um sich dresch[t]« (ebd.), vom Opfer weggezogen werden. Als fehlte ihm jede Aufmerksamkeit für die Situation, tut er scheinbar willenlos und triebhaft das, was ihm aufgetragen wurde. Inwiefern die Instrumentalisierung von Hans – auch über seinen Körper hinaus – von den anderen Figuren vollzogen wird, wird später in diesem Teil der Arbeit noch beleuchtet. Sexualität und Triebhaftigkeit Ein weiterer zentraler Aspekt der Verhandlung von Hans’ Körper ist seine Sexualität. Hans ist zunächst noch Jungfrau (vgl. AUS 90), er und Anna kommen sich aber schnell näher. Hans hat dabei ein mulmiges Gefühl, denn man könne allein mit einem Mädchen »schwerer bestehen als im Rudel der Kollegen« (AUS 86). Hier deutet sich der Effekt der Vergemeinschaftung im Rahmen der ernsten Spiele des Wettbewerbs an, die Hans offenbar zur Behauptung seiner Männlichkeit im homosozialen Kontext durchführt. Im animalisierten Rudel gegenseitig in ihrer Männlichkeit bestärkt, ist es nun mit Anna allein im Zimmer eine andere Probe, auf die seine Männlichkeit gestellt wird. Seine Hollywood-Filme haben ihn gelehrt, dass er auf ein ›Nein‹ einer Frau nicht hören darf (vgl. AUS 89). Er hat es aus den »richtig aufregenden Filmen« (AUS 97) und hinterfragt es daher nicht weiter – für ihn scheint Sex somit immer eine Art Vergewaltigung zu sein. Es gilt, seine Potenz und seine Fähigkeiten als Liebhaber unter Beweis zu stellen. Hierbei hat Hans zunächst Probleme, sein Penis wird nicht »ganz hart« (AUS 90) und so gelingt es ihm nicht, Anna zu penetrieren. Seine aus den Filmen

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abgeschaute Triebhaftigkeit mündet in Verbindung mit dem Drang zur Kompensation seines Unvermögens schnell in gewalttätigen Handlungen: […] und weil es nicht so geht, wie er gern möchte, wird er brutal, nein natürlich nicht zu sich, sondern zur Anna. Er knickt ihr das Kreuz ab, walkt sie durch, drückt ihr das Genick nach hinten, daß es knackt, au weh, du tust mir ja weh, jaja ich tu dir weh, weil ich so stark bin und es gar nicht merke, wenn ich Schmerzen verursache. (ebd.)

Gemäß Heidi Strobel kann hier angenommen werden, dass Hans’ Aggression aus seiner narzisstischen Kränkung heraus entsteht, dem gewünschten Rollenbild nicht entsprechen zu können (vgl. Strobel 1998: 130). Schließlich bestätigt Anna ihm seine Stärke, was »erlösend« (AUS 90) auf ihn wirkt: Sein Penis wird hart, er kann in Anna eindringen und nun endlich seine »wild[e]« Männlichkeit (AUS 88; Strobel 1998: 130) beweisen. Es wird einerseits deutlich, welchen großen Stellenwert die sexuelle Potenz für seine Männlichkeit hat, und andererseits, wie eng die sexuelle Potenz mit einem als stark empfundenen Körper zusammenhängt. Als Hans die Bestätigung von Anna bekommt, dass er »so stark« (AUS 90) ist, erregt ihn das. Für Hans ist Männlichkeit untrennbar mit Stärke assoziiert und so gibt ihm die indirekte Bestätigung seiner Männlichkeit schließlich ausreichend Selbstvertrauen, um auch auf sexueller Ebene die von einer Männlichkeit vermeintlich geforderten Leistungen zu erbringen. Erkennbar wird jedoch auch, dass Hans in seiner Potenz nicht autonom ist, er ist auf Annas bestärkende Worte angewiesen, um den Geschlechtsakt vollziehen zu können. Seine potente Männlichkeit wird hier also – wenn auch eher subtil – schnell wieder untergraben. Hans ist der Ansicht, dass Sophie es bevorzugt, dass er eher zum Schweigen neigt und auf das »Gequatsche« (AUS 90), zu dem Rainer neigt, gern verzichtet. So nutzt er auch in der sexuellen Interaktion mit Anna seinen Körper als Kommunikationsmittel und verzichtet auf die verbale Kommunikation: Er mahlt mit den Kiefern, was »Leidenschaft, Erregung und gleichzeitig Einsamkeit suggerieren soll« (AUS 87). Er übernimmt hier typische Handlungsweisen eines lonesome cowboys, eines Ideals, das von Hollywoodfilmen um John Wayne, Henry Fonda u. a. (vgl. ebd.) propagiert wird, und möchte so das Bild eines »aggressiv-machistischen Mannes« (Strobel 1998: 129) von sich erzeugen, das ihn geheimnisvoll und begehrenswert sowie wagemutig und triebhaft zugleich erscheinen lassen soll. Zudem kann er durch die hervortretenden Muskeln im Gesicht erneut seine Stärke zur Schau stellen; denn Stärke wird im Kontext seiner Männlichkeitskonstruktion durch den Körperbau und nicht durch den Verstand vermittelt (vgl. Strobel 1998: 129). Auch indem er auf seine Unbeholfenheit mit Gewalt reagiert, nutzt er seinen Körper, um seinen Unmut zu kommunizieren.

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Hans wirkt lächerlich in dieser Interaktion. Er ist unerfahren, stellt sich »ungeschickt« (AUS 89) und »nicht sehr gekonnt« (AUS 88) an, und greift zur Orientierung bei seiner Männlichkeitsperformanz schließlich auf plakative Vorbilder zurück, die er aus Western-Filmen kennt. Diese Figuren symbolisieren die absolute Autonomie, er ist jedoch am Ende auf Anna und ihre Bestätigung seiner Männlichkeit angewiesen, um den Sexualakt überhaupt vollziehen zu können. Er erscheint wie eine Karikatur dieser Hollywood-Figuren, was seine Figur letztlich zur Persiflage auf Männlichkeit werden lässt. In seiner Unbeholfenheit erscheint er darüber hinaus triebhaft und animalisch: Er sei »wie ein Tier in der Wildnis« (AUS 86), wird als »gierige[s] Raubtier« (AUS 88) beschrieben und mit einem »Wolf« (ebd.) verglichen. Genau mit diesem Verhalten »paßt [er] sich einem Mann an« (ebd.). Es wird evident, dass die Triebhaftigkeit und das Grobe, mit dem er Anna in dieser sexuellen Interaktion gegenübertritt, exakt das ist, was er mit Männlichkeit gleichsetzt. Er sucht bei aller Unbeholfenheit »im sexuellen Akt ausschließlich die Anerkennung seiner aktiven, aggressiven Männlichkeit« (Strobel 1998: 131).

Konkurrenz zu Rainer Hans als ausführendes Organ wird gleich zu Beginn mit Rainer in ein Konkurrenzverhältnis gesetzt, indem letzterer als das »Hirn der Bande« (AUS 11) beschrieben wird. Die beiden Figuren bilden eine Kontrastrelation und zeigen somit zwei unterschiedliche Performanzen von Männlichkeiten auf. Der Kontrast von Körper(-kraft) versus Intellekt – Hans versus Rainer – wird die gesamte Handlung über aufrechterhalten. Als Hans mit Rainer »Haklziehen«103 möchte (AUS 64), um seine körperliche Überlegenheit zur Schau zu stellen, blickt Rainer »mit dem Hühnerarm« (ebd.) ihn nur angeekelt an. Hans ist enttäuscht, dass sein »stundenlang[es]« Training nicht gewürdigt wird, womit der Kontrast zwischen den Klassen sichtbar wird. Hans muss lernen, dass der körperlichen Stärke im (Klein-)Bürgertum kein großes Gewicht eingeräumt wird. Somit verliert seine Ressource an Wert, da es die herrschenden Klassen sind, die über die Wertigkeit von verfügbaren Mitteln entscheiden. Dieser Rückschlag könnte ein Grund dafür sein, warum Hans sich schließlich um die Akkumulation kulturellen Kapitals bemühen möchte. 103 Das Haklziehen kann als eine Form ritualisierten Gewalthandelns verstanden werden. Vgl. auch Meuser 2008: 39: »In vielen adoleszenten und postadoleszenten männlichen Subkulturen sind gewaltförmige Auseinandersetzungen, in denen der eigene Körper zum Spieleinsatz wird, eine übliche Form der ernsten Spiele des Wettbewerbs. Je nach sozialem Kontext erfolgt das Gewalthandeln mehr oder minder ritualisiert«. Zu den ernsten Spielen des Wettbewerbs zwischen Hans und Rainer s. den entsprechenden Punkt in Kompositionsglieder der Jelinek’schen Patriarchatskritik.

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Neben Rainers »Hühnerarm« wird später noch sein Oberkörper, der ebenfalls »eher einem Huhn gleicht« (AUS 112) erwähnt. Rainers Körper wird an dieser Stelle in Kontrast zu Hans Oberkörper gesetzt, welcher »keine einzige weiche Stelle« (ebd.) aufweist. Wenn dann bemerkt wird, dass Rainer aber immerhin mehr als nur »gack« (ebd.) sagen könne, wird hiermit wieder Rainers Intellekt über Hans’ »muskelprotzende[…]« (Gnüg 1980: 199) Körperlichkeit erhoben. Hans fängt daraufhin an, über sein geplantes Musikstudium zu referieren. Rainer sieht sich hierdurch auf intellektueller Ebene provoziert und wird aggressiv, was den betont ›unkörperlichen‹ Rainer interessanterweise dazu veranlasst, Hans mit körperlicher Gewalt zu drohen. Er kann nicht dulden, dass Hans kulturelles Kapital anhäuft, da dies wiederum das einzige Gut ist, über das Rainer verfügt. Hans soll schließlich die »Drecksarbeit verrichte[n]« (AUS 111), während Rainer die Pläne für die Überfälle schmiedet. Auch in der Konkurrenz zueinander hinsichtlich der Liebe Sophies droht Rainer Hans erneut mit körperlicher Gewalt. Hier wird besonders deutlich, dass Hans Rainer auf dieser Ebene nicht ernst nimmt und sich überlegen fühlt (vgl. AUS 253): »Rainer […] sagt, er tritt den Hans in die Eier, welcher antwortet, daß er das einmal sehen möchte. Und jetzt drah di, denn mir möchten allein sein« (ebd.). Zuletzt wird auch Hans’ Reaktion auf die Nachricht, dass Sophie nach der Matura die Stadt verlässt, als eine körperliche beschrieben: Er schlägt sich massiv mit der Faust gegen den Kopf (vgl. AUS 256). Den seelischen Schmerz, den ihm seine verschmähte Liebe verursacht, kompensiert er mit körperlicher Gewalt. Rainer hingegen droht zunächst mit Suizid und beginnt anschließend Camus zu zitieren, womit die Kontrastrelation zwischen Körperlichkeit und Intellekt, zwischen Hans und Rainer, ein letztes Mal belegt wäre. Hans, der sich eigentlich bewusst ist, dass der Ressource Körper bei den Jugendlichen anderer Klassen kein großes Gewicht beigemessen wird, ist dennoch bemüht, die Konkurrenzsituationen mit Rainer durch körperliche Auseinandersetzungen für sich zu entscheiden; und auch Rainer springt hierauf an und fordert ihn sogar an zwei Stellen gleichermaßen zum Kampf heraus. Dies bestätigt Hans in seinem Überlegenheitsgefühl, da der Wert des Körpers so wieder erhöht wird, Rainer ihm auf dieser Ebene aber nicht die Stirn bieten kann. Anna, Sophie und Rainer reduzieren Hans auf seinen Körper – aber auch er selbst erkennt darin seine wichtigste Ressource und somit versucht er, sich über seinen Körper in Szene zu setzen, indem er dessen Stärke und Fitness beständig hervorhebt. Für Vertreter_innen der Arbeiterklasse recht typisch hat er ein funktionalisiertes Verhältnis zu seinem Körper bzw. nutzt er seinen Körper als Werkzeug. Er weiß, was sein Körper als Ressource hergeben kann und das nutzt er auch. Auch seine Freunde – geleitet von der stereotypen Annahme des res-

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sourcenarmen Arbeiters – finden in Hans nur seinen Körper als Werkzeug, das es zu eigenen Zwecken zu verwenden gilt. An Hans’ Verhältnis zu Sexualität, welche nach der anfänglichen Unbeholfenheit schnell mit Triebhaftigkeit und Animalischem zu assoziieren ist, wird außerdem sein Männlichkeitsideal herausgestellt, welches durch karikative Bezüge zu Hollywood-Figuren wie dem lonesome cowboy persifliert wird. In der Konkurrenz zu Rainer wird letztlich besonders deutlich, dass Hans dem Typus der Arbeiterklasse entspricht, der seine Identität und Männlichkeitsperformanz in erster Linie über seinen Körperbezug herstellt.

b. Hans’ kulturelles Kapital Gemäß seiner Klassenzugehörigkeit verfügt Hans über wenig kulturelles Kapital. Die durchgehend aufgezeigte Konkurrenz zu Rainer, welcher stets bemüht ist, seine Intellektualität hervorzuheben, betont dieses Defizit von Hans zusätzlich. Während Rainer ein Kopfmensch ist, ist Hans ein Tatmensch (vgl. AUS 201); ein Pragmatiker also, dessen händische Tätigkeiten im Kontext der Handlung immer wieder in den Fokus rücken. Wenn die Jugendlichen sich in einen intellektuellen Austausch begeben, ist Sophie darauf bedacht, Hans lieber eine handwerkliche Aufgabe zuzuteilen (vgl. AUS 63), schließlich ist er das Werkzeug der Bande. Er wird in solchen Gesprächen nicht wahrgenommen bzw. sogar aktiv ausgeschlossen. Hans selbst betrachtet sich in der Regel nicht als unfähig, an solchen Unterhaltungen teilzuhaben; er möchte sich sogar ganz explizit einbringen, wenn ihm das Thema am Herzen liegt. In einer anderen Situation sucht er jedoch selbst nach etwas Handwerklichem, was ihm in dem Moment mehr Sicherheit verschaffen kann: »Hans taxiert eine Schreibtischlampe aus Chromstahl, wohl deshalb, weil der Strom sein Spezialgebiet ist, vielleicht kann er hier Elektrisches verbessern, um an Terrain zu gewinnen« (AUS 218). Dann spannt er seine Muskeln an, um sich darüber zu profilieren. Es wird evident, dass Hans sich seiner ›Andersartigkeit‹ durchaus bewusst ist. Er sieht Letztere allerdings nicht durchgehend als Defizit an. Er versucht hier nicht mehr, Sophies Aufmerksamkeit über Gespräche zu wecken – durch den Versuch einer Teilhabe also –, sondern nutzt seine eigenen (körperlichen) Qualitäten, um Sophie für sich zu gewinnen. Auch hier orientiert er sich an den Superhelden aus seinen amerikanischen »Machismofilmen« (Gnüg 1980: 199), »die ironischerweise ebenso wie er auf ihre körperliche Kraft reduziert werden« (Heberger 2002: 72). Er übernimmt bereitwillig die Mythologien zu Männlichkeit, die ihm das Kino liefert (vgl. Jandl 1989: 29), womit er seine kognitiven Dissonanzen vermindert, die ihm durch die Diskrepanz zwischen dem gesellschaftlichen Ideal, welches Anna, Rainer und Sophie ihm vermitteln, und seiner Verkörperung einer Männlichkeit entstehen: »[B]ezieht er sein Ideal-Ich aus den imagi-

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nären Vor-Bildern der Leinwand« (Mahler-Bungers 1988: 114f.), so sind seine inneren Widersprüche deutlich reduziert.104 Zwei Kompensationsstrategien Hans ist hin und hergerissen, was seine Positionierung angeht, und bedient sich daher zweierlei Strategien: An einigen Stellen möchte er kulturelles Kapital anhäufen, um etwas aus sich zu machen, was er noch nicht ist, er möchte »höher hinaus« (AUS 174). An anderen Stellen ist er bestrebt, Kunst und Kultur abzuwerten und seine eigenen Kompetenzen dagegen aufzuwerten. Das Abwerten von etwas, was man nicht hat und nicht erreichen kann, ist eine typische Strategie der unteren Klassen zur Selbsterhaltung und zur Reduzierung kognitiver Dissonanzen. Zunächst denkt Hans »überheblich« (AUS 25) darüber nach, womit Anna und Rainer die Orangen und Bananen in dem Geschäft dichterisch vergleichen würden und befindet dann, dass er der Natur noch näher und »noch nicht verdorben von Kunst und Literatur« ist (ebd.). Er hebt sich hier bewusst von Rainer und Anna als Vetreter_innen der Intellektuellen ab und erhebt sich über sie; er meint sogar, er lebe damit »am Puls der Zeit« (ebd.), sieht seine Ablehnung der Kunst und Kultur sogar als aktuell valide an. Als Anna sich mit ihrem Musikgeschmack brüsten will, macht Hans sich darüber lustig (vgl. AUS 95). Er scheint sich durch seine Unkenntnis der klassischen Musik nicht unterlegen zu fühlen, sondern wirkt im Gegenteil sehr selbstsicher in der Situation, wenn er Anna sogar danach fragt, ob sie »diese oder diese oder diese Schallplatte« (ebd.) kenne. Er erscheint hier recht unbedarft und reflektiert nicht, dass nicht er es ist, der die Wertigkeiten von bestimmter Musik festlegt, sondern die herrschende Klasse, an der Anna sich in ihrem Geschmack orientiert. Er stellt sich außerhalb dieses Wertesystems und versucht seinen Geschmack zur Norm zu erheben, indem er seine Musik auf- und Annas Musik abwertet, wodurch er wiederum seinen Selbstwert erhält und Dissonanzen reduziert, die durch die Abweichung von seinem eigentlichen Ideal entstehen. Hans beginnt im Verlauf der Handlung »Kunst zu schätzen, ohne zu wissen, was Kunst bedeuten kann« (AUS 84). Er beginnt also ein Bewusstsein für die Relevanz eines Kunstsinns in den oberen Klassen zu entwickeln. So weiß er, dass bestimmte Arten von Kunst als höherwertig eingestuft werden als andere und dass seine kulturellen Werte diesen hochwertigen nicht entsprechen. Hans hört zwar nicht auf, seine Kompetenzen, Fähigkeiten und Interessen zu schätzen und hochzuhalten (»hoch der Rock’n’Roll« (AUS 26)), doch sein Bedürfnis »höher 104 Laut Heidi Strobel reflektieren die »Leinwandikonen der Western-Filme […] Hans […] das eigene soziale Milieu, indem sie Verhaltensmuster vorführen, die eher in der proletarischen Kultur verwurzelt sind« (Strobel 1998: 145).

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hinaus« (AUS 174) zu kommen und sich durch Bildung und einen anderen Beruf mehr kulturelles Kapital anzueignen, steigt beständig. Er bekommt das Gefühl, dass sein altes Leben unerträglich ist und möchte ein neues anfangen (vgl. AUS 138). Unter starker Beeinflussung von Sophie, Anna und Rainer zitiert er die drei sogar gegenüber seiner Mutter, wenn er sich von der Arbeiterklasse und seinem Beruf abgrenzen möchte: Die Handarbeit ist eine primitive Stufe der Erwerbstätigkeit, die einmal ganz aufhören wird, sagt der Rainer. Er, die Anna und die Sophie sagen, daß sich die Kultur von den Menschen überhaupt erst entwickelt hat, wie sie gelernt haben, immer mehr die Arbeit, die man mit der Hand macht, zu trennen von der Methode, sich diese Arbeit mit Werkzeugen und anderen Hilfsmitteln zu erleichtern. Ohne die Arbeit des Kopfes hätte es keine Kultur gegeben, die das Wichtigste ist. (AUS 174f.)

Hier wird deutlich, dass Hans in der Manipulation durch seine drei Freunde eine Art Bewusstsein für die Relevanz der Kultur bekommt. Die Beeinflussung seiner Freunde ist es auch, die ihm den Klassenaufstieg möglich erscheinen lässt (vgl. AUS 28). Im Tenor des Existentialismus der individuellen Selbstverwirklichung möchte Hans sich nun in Eigeninitiative fortbilden: »denn der Wille ist es allein, der zählt. Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg« (AUS 83). Er möchte nicht in der Masse untergehen, wie sein Vater dies für die Sache der Arbeiter tat (vgl. AUS 227). Hans sieht für sich eine andere Zukunft: Er wird nicht in der Masse verschwinden, »sondern in einem Abendgymnasium zu voller Größe auflaufen« (ebd.). Er möchte sich also durch Bildung individualisiert und von der Masse abgehoben den Klassenaufstieg ermöglichen. Dass seine Wahl hinsichtlich seines neuen Berufs zunächst auf den Sportlehrer fällt, verdeutlicht, dass er sich bei seinem angestrebten Klassenaufstieg an seinen bereits vorhandenen Ressourcen bedienen möchte. Seine körperliche Fitness soll ihm den Aufstieg erleichtern. Hans scheint jedoch endgültig den Bezug zu seinen realen Möglichkeiten verloren zu haben, wenn er nun das Abendgymnasium statt der Arbeitermittelschule besuchen möchte, um anschließend »Wirtschaftsboss im Imperium von Sophies Vater« (AUS 227) zu werden. Hans scheint durch die Manipulation durch die Freunde von einer leichten Überwindbarkeit der Klassengrenzen auszugehen, sodass ihm die Selbstverwirklichung durch sozialen Aufstieg selbst bis in die herrschende Klasse hinein realistisch erscheint.105 Interessant ist hier, dass Hans sich eher auf der wirtschaftlichen Seite des Systems sieht, er also eher bestrebt ist, ökonomisches statt kulturelles Kapital zu akkumulieren (vgl. AUS

105 Das ist bemerkenswert, da Hans eigentlich ein sensibles Bewusstsein für die Klassenunterschiede und -grenzen zu haben scheint. Als Sophie Hans von einer Aktion berichtet, bemerkt er : »Du kannst so was doch nicht machen, denn du bist aus einer Familie, die so etwas nicht gewöhnt ist« (AUS 196).

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224). Sein Ziel ist somit letztlich nicht die Anhäufung kulturellen Kapitals, dieses soll ihm nur als Mittel dienen, später über viel Geld zu verfügen. Hans wird in den Interaktionen mit seinen Freunden mit seinen vermeintlichen Defiziten konfrontiert. Es wird ihm vor Augen geführt, dass er lediglich über Ressourcen verfügt, die in der herrschenden Klasse kaum Gültigkeit bzw. Wertigkeit besitzen. Er scheint erst im Verlauf der Handlung ein Bedürfnis nach kulturellem Kapital zu entwickeln – vorher schien er ein Männlichkeitsideal der Arbeiterklasse anzustreben. Er beginnt erst im Verlauf der Handlung das Ideal des hegemonialen Mannes anzustreben, womit zahlreiche Defizite für Hans einhergehen. Er greift zur Kompensation seiner nun neu verspürten Defizite zwar zur körperlichen Gewalt,106 es ist jedoch auch festzuhalten, dass er bemüht ist, andere Strategien zu entwickeln, die seine Dissonanzen verringern. Er schwankt hierbei noch zwischen der rigorosen Negation der Validität dieser neuen Werte und dem Versuch, die empfundenen Defizite durch einen Klassenaufstieg zu nivellieren. Wenn Heberger davon spricht, dass Hans seine Intelligenz ganz bewusst negiert und diesen Mangel durch sexuelle Potenz zu kompensieren sucht (vgl. Heberger 2002: 104f.), so beleuchtet dies nur einen Teil seiner Strategien. Denn wie im Vorangegangenen deutlich wurde, ist Hans durchaus auch bemüht, sich durch Weiterbildung den Klassenaufstieg zu sichern. Von einer bewussten Negation der Intelligenz ist hier nicht mehr zu sprechen. c. Hans’ ökonomisches Kapital Die Wichtigkeit des ökonomischen Kapitals für Hans wird im Roman vor allem durch den Mangel daran geschildert. An zahlreichen Stellen wird deutlich, dass Hans und seine Mutter über äußerst wenige finanzielle und materielle Mittel verfügen. So wird im Hause Sepp häufig Erdäpfelgulasch gegessen (vgl. AUS 30); Kartoffeln sind günstig und somit erschwinglich für die Arbeiterklasse. Hinzu kommt, dass es sich um Gulasch handelt, was in der Regel mit einer Schöpfkelle serviert wird. Dies ist nach Bourdieu typisch für die Arbeiterklasse, die nicht den Eindruck aufkommen lassen möchte, »man müsse streng bemessen oder ab106 Interessant ist, dass Hans sich dezidiert gegen Gewalt ausspricht (vgl. AUS 115). Zum einen kann der Ausspruch dem geschuldet sein, was auch die Erzählinstanz anmerkt: Das glaube man nur einem, »der über große Körperkräfte verfügt und es somit nicht nötig hat« (ebd.). Seine Stärke und somit Männlichkeit müsste er demnach nicht durch körperliche Gewalt beweisen. Zum anderen kann Hans sich auch zu solch einer Aussage veranlasst sehen, weil er einer sozialen, kleinbürgerlichen Erwünschtheit entsprechen möchte. Fest steht jedenfalls, dass er gegenüber den Opfern der Raubüberfälle massive Gewalt anwendet, dass er Anna im Kontext sexueller Handlungen gewalttätig gegenübertritt und dass er Sophie den Mundwinkel blutig schlägt (vgl. AUS 97).

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zählen« (Bourdieu 2012: 313), und so die Verfügung über ausreichend Nahrung suggerieren. Ein weiterer Beleg für den Mangel an materiellen Werten ist die verhältnismäßig häufige Thematisierung der Kleidung von Hans (vgl. AUS 11, 26, 66). Hans’ Befürchtung, sich nach dem Zerreißen seines Hemdes nun mit seiner Mutter auseinandersetzen zu müssen (vgl. AUS 11f.), ist ein Beispiel hierfür. Im Haushalt ist offensichtlich nicht genügend Geld vorhanden, um nachlässig mit Kleidung und anderen Gütern umgehen zu können. Als Hans seinen Sonntagsanzug anzieht, um Sophie zu beeindrucken, merkt diese lediglich an, dass dieser ihm deutlich zu klein sei (vgl. AUS 66). Hans schämt sich daraufhin und versucht Ausreden für den zu kleinen Anzug zu finden. Die Scham resultiert zum einen daraus, dass er eigentlich Rainer und dessen Jeans ausbooten wollte, was nicht funktionierte, und zum anderen daraus, dass er vermutlich nur diesen einen Anzug besitzt, aus dem er längst herausgewachsen ist. Der Mangel an finanziellen Mitteln wird besonders hervorgehoben, wenn Sophie ihm dann generös einen der vielen Anzüge ihres Bruders schenkt – eine Geste, die die materielle Kluft zwischen den Klassen zusätzlich betont. Gemäß des finanziellen Notstands ist der finanzielle Gewinn Hans’ Hauptmotiv für die Überfälle (vgl. AUS 8). Er bemerkt, dass er auf diese Weise schnell zu Geld gelangen kann. Zunächst denkt er sogar, dass er sich nicht in das bestehende System integrieren muss, um vermögend zu werden (vgl. AUS 28). Das Abgleiten in die Kriminalität ist ein häufiges Verhaltensmuster der unteren Klasse, die sich aufgrund akuter Ressourcenknappheit gezwungen sieht, materielle Bedürfnisse durch kriminelle Handlungen zu stillen. Auch Rainer merkt an: »ein Mord, ein Überfall sind nicht Wahnsinn, sondern der vernünftige Schluß, wenn man eine Existenz führt, deren materielle Basis unsicher ist« (AUS 197).107 Auch wenn Hans darauf sagt, dass man seine Mitmenschen nicht absichtlich versehren darf (vgl. ebd.), »verläßt er sich [dennoch, Anm. JS] auf seine Fäuste«, denn so beginne »sich irgendwann ein Vermögen anzusammeln und vermehrt sich« (AUS 28). Diese Anhäufung von ökonomischem Kapital soll ihm die Annäherung an das angestrebte (Männlichkeits-)Ideal garantieren. Neben einer gewissen Machtposition, die damit einherginge, würde es ihm möglich werden, seiner angestrebten Rolle als Ernährer endlich gerecht zu werden. Schließlich fiel es ihm schon zu Beginn der Handlung nicht leicht, den Pullover von Sophie anzunehmen: »Trotzdem ist er der Mann und sie die Frau. Und das wird auch so bleiben, dafür sorgt er« (AUS 26). Später will er dann studieren, »damit Sophie geheiratet und der Feuteuil gekauft werden kann« (AUS 224). Für 107 Vgl. hierzu auch Connell 2006: 105: »Der [sic!] Gewalt der großstädtischen Jugendbanden ist ein überzeugendes Beispiel dafür, wie sich eine marginalisierte Männlichkeit in einem Kampf von unterdrückten gegen mächtigere Männer zu behaupten versucht«.

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Hans hängt die Verfügung über ökonomisches Kapital also unmittelbar mit seiner Männlichkeitskonstruktion zusammen. Die hohe Relevanz der materiellen Ressourcen für Hans’ Männlichkeitskonstruktion soll noch an zwei weiteren Szenen exemplifiziert werden. Als Hans mit den anderen Jugendlichen im Lokal ist, bestellt er »was noch Teureres« (AUS 114) als Sophie, während die Zwillinge gar nichts bestellen. Er finanziert das aus »heimlichen Überstunden« (ebd.). So kann er anderen – in erster Linie Sophie – suggerieren, dass er über ausreichend finanzielle Mittel verfügt. Hans geht auch hinsichtlich seiner Kleidung davon aus, dass diese ihm Erfolg bei Frauen verschaffen kann, solange die Kleidung Wohlstand ausstrahlt: »Wartet nur, bis ich meinen neuen Pullover anhabe, dann schwenkt ihr gleich zu mir um« (AUS 117). Hans geht davon aus, dass er eine gute Partie für heterosexuelle Frauen ist, wenn er über seine Kleidung, andere materielle Güter oder bares Geld suggerieren kann, dass er über finanzielle Mittel verfügt. Denn so kann er anderen vermitteln, dass er die Rolle des Ernährers problemlos einnehmen kann (vgl. Kersten 1997: 107). Es wird sichtbar, dass Hans in seiner defizitären finanziellen Situation stets bemüht ist, das Gegenteil zu suggerieren. Zeitgleich macht er sich daran, ökonomisches Kapital durch kleinkriminelle Handlungen anzuhäufen, um dem Schein auch Fakten folgen lassen zu können. Hans, der zur Vermehrung seines Kapitals auch schon Automaten geknackt hat (vgl. AUS 194f.), will nun jedoch »ein ordentliches Leben führen« (AUS 195). Er möchte wieder die Schule besuchen, um später ökonomisches Kapital akkumulieren zu können. Denn fest steht, dass die Verfügung über ökonomisches Kapital und die damit verbundene Ernährer-Rolle für Hans und seine Männlichkeitskonstruktion unerlässlich sind. Sein reges Interesse an Sophie ist vermutlich mit einer alternativen Strategie verbunden: Schlägt sein Plan wider Erwarten fehl, hätte er noch Sophie, die für ihn zumindest die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs darstellt (vgl. u. a. Lorenz 1990: 113f.; Vis 1998: 378). d. Hans’ soziales Kapital Hans, welcher früher offenbar in der Jugendgruppe der österreichischen Arbeiterpartei organisiert war (vgl. AUS 76), kehrt der Arbeiterklasse zunehmend den Rücken. Er verkörpert laut Schmid-Bortenschlager und Strobel einen »Prototyp[en] der neuen sozialistischen Aufstiegsideologie« (Schmid-Bortenschlager 2012: 18), den »›neuen Typus‹ Arbeiter« (Strobel 1998: 141), bei dem Individualisierungsprozesse aufgrund der Frustration und Orientierungskrise der Nachkriegszeit von besonderer Bedeutung waren (vgl. Strobel 1998: 141f.). Hans’ Mutter beobachtet seine Entwicklungen mit großem Unmut und ist immer wieder bemüht, ihn wieder von ihren alten Werten zu überzeugen. Sie muss zusehen, wie er sich weigert, »gegen seine Unterdrücker aufzustehen« (AUS 78),

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denn er ist bereits fest davon überzeugt, dass er seinen »Weg allein gefunden« (AUS 76) hat und nur für sich selbst verantwortlich ist. Er sei »eine Einzelperson, die sich andere Einzelpersonen, Frauen nämlich, zu Willen macht. Ich bin nur mir selbst verantwortlich, und die Frau, die ich liebe, ist ebenfalls nur mir verantwortlich« (AUS 78). Er leugnet hier nicht nur die strukturelle Ebene der gesellschaftlichen Machtverhältnisse, indem er denkt, er kann sich allein aus der Subordination befreien. Er bringt auch eine geschlechtsspezifische Dimension mit ins Spiel: Er verknüpft seine eigene Unterdrückung mit der Unterdrückung von Frauen, wobei er in diesem Falle selbst der Akteur, der Unterdrücker – und damit in einer machtvollen Position – ist. Er geht im Kontext dieser Behauptung von einer Höherwertigkeit des Mannes aus, welcher über der Frau steht, während letztere dem Mann zu dienen hat. Ihr kommt dabei gleichzeitig keine individuelle Identität zu, denn ihre (berufliche) Selbstverwirklichung scheint sich in Hans’ Augen lediglich auf ihren Mann zu beziehen. Hans’ Frauenbild wird im nächsten Abschnitt noch ausführlicher betrachtet. Während er sogar beginnt, sich nach der Arbeit schnell umzuziehen, damit ihn niemand mit der Arbeiterklasse in Verbindung bringt (vgl. AUS 169), wird seine Mutter nicht müde, die Wichtigkeit der Gruppe zu betonen: »Man muß sich zu einer Gruppe zusammenschließen, ein einzelner vermag nichts, nur vereint wird man stärker« (AUS 171). Sie lädt schließlich auch zwei ehemalige Genossen von Hans ein, damit er mit ihnen plakatieren geht. Doch Hans möchte von politischem Engagement nichts mehr wissen (vgl. a. Sonnleitner 2008: 88) und befindet, »daß der Individualist sich befreien muß und nicht die Gruppe, die fühllos und anonym ist, man verschwindet in ihr und taucht nicht mehr auf« (AUS 172). Und das gilt es nach Hans ausdrücklich zu verhindern, womit eine Arbeit in der Partei für ihn überflüssig geworden ist. Er will sich von der Masse abheben, indem er sich auf dem Abendgymnasium weiterbildet (vgl. AUS 227). So überzeugend die Mutter Sepp auch argumentiert, wenn sie sagt, »daß dieser Freiheitsbegriff [des Existentialismus, Anm. JS] verwaschen ist, man befindet sich nicht im luftleeren Raum, sondern ist gesellschaftlich bedingt« (AUS 228), bleibt Hans bei seiner durch Rainer geprägten Ansicht, dass man sich jederzeit von der Ausbeutung befreien könne, wenn man einen Willen hat, »auf den einzelnen kommt es immer an« (AUS 230). In Hans scheinen zwar »Restelemente einer alltäglichen Arbeiterkultur« durch, »die sich in informell-solidarischen Bezügen in Betrieb und Nachbarschaft […] – in der Solidarität mit dem Schwächeren [bekundet]« (Strobel 1998: 147), indem er beispielsweise eine Katze vor dem Ertrinken rettet (vgl. AUS 97). Dennoch ist er bestrebt, sich mit allen Mitteln von der Arbeiterklasse loszusagen. Er schäme sich seines Zuhauses und wolle den proletarischen Geist seiner Mutter vergessen, indem er klassenmäßig aufsteigt (vgl. Gnüg 1980: 198). Er nutzt hierzu die Ansichten Rainers, welche wiederum durch einen falsch bzw.

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nur halb verstandenen Existentialismus geprägt sind (vgl. Heberger 2002: 45; von Matt 1995: 341), bei denen es Rainer einzig um den sozialen Aufstieg geht. Hans, in dem das Bewusstsein für seine vermeintlich missliche Lage erst durch Rainer geweckt wurde, folgt ihm und entwickelt genauso ein Bedürfnis nach Aufstieg. Dieser scheint ihm ungeachtet der Klassengrenzen unter Berufung auf Individualismus bzw. die Einzelpersönlichkeit durchaus möglich. Dafür verzichtet er auch auf sein soziales Kapital, das er im Rahmen seiner Sozialisation in der Arbeiterklasse angehäuft hatte. Die vehemente Abwendung von der Arbeiterklasse ist für Hans ein Mittel zur Erreichung des hegemonialen Männlichkeitsideals. Eine Reduzierung seiner Defizite, die er aufgrund seines neuen Ideals verspürt, ist innerhalb der Arbeiterklasse nicht möglich. Denn die Zugehörigkeit zu dieser Klasse ruft aus der Perspektive seines neuen Ideals einige dieser Defizite erst hervor. Da kommt ihm die Lösung sehr gelegen, die Rainer ihm mit der Möglichkeit der Überwindung der Klassengrenzen serviert, und so strebt er einen sozialen Aufstieg an. Dabei ist es unerheblich, ob Hans die Grundgedanken des Existentialismus verstanden hat, für ihn ist die individuelle Selbstverwirklichung nur Mittel zum Klassenaufstieg und damit zur Annäherung an sein Männlichkeitsideal. 2.2

Zur Selbstverständlichkeit stereotyper Geschlechterrollen

Hans Gedanken und Äußerungen vermitteln den Rezipierenden, dass er sehr starre Vorstellungen von den Geschlechterrollen hat, die sich zudem sehr an traditionellen Rollenbildern orientieren. Dass er sich selbst als Ernährer inszenieren möchte, wurde oben bereits ausführlich dargelegt. Er geht dabei davon aus, dass auch die Frauen großen Wert auf das finanzielle Vermögen eines Mannes legen. Das wird daran deutlich, dass er glaubt, dass die Frauen auf ihn aufmerksam werden, wenn er einen teuren Pullover trägt (vgl. AUS 117). Neben dem Ernährer-Modell gibt es noch weitere Aspekte, die sein Rollenbild eines Mannes maßgeblich bestimmen, die im Folgenden ausgeführt werden. Er ist der Ansicht, dass es im Kontext einer heterosexuellen Interaktion darum geht, als Mann die Frau zu erobern. So möchte er Sophie für sich gewinnen (vgl. AUS 115), indem er auf unterschiedliche Arten auf sich aufmerksam macht, wenn er beispielsweise seinen Körper in Szene setzt und sich schweigsam gibt, weil er glaubt, dass Sophie dies bevorzugt. Gleichzeitig geht er davon aus, dass diese Frauen sogleich in seinen Besitz übergehen. Mehr noch: Er nimmt an, dass Frauen, die schlicht an ihm vorbeigehen, ihm gehören (»Er sieht aber ganz gut, wenn eine weibliche Schönheit an ihm vorbeigeht. Dann glaubt er, sie gehört ihm« (AUS 117)). Er ist der Auffassung: »Jeder Mann möchte alle Frauen der Welt besitzen, eine Frau aber nur den Mann, den sie liebt und dem sie treu bleibt« (ebd.). Hieraus spricht ein sehr eindimensionales Bild von Frauen,

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welches auch von ihrer permanenten Verfügbarkeit für den Mann ausgeht. Das eindimensionale Bild bestätigt sich, wenn er meint, dass Frauen sich nicht für Politik, sondern lediglich für »Mode, Männer und Sauberkeit« (AUS 77) interessieren, und dabei völlig außer Acht lässt, dass Sophie und Anna sich durchaus für Politisches und vor allem Anna sich nicht für Sauberkeit interessiert, da sie sich äußerlich als explizit ungepflegt inszeniert (vgl. u. a. AUS 7, 10). Heidi Strobel sieht hier sogar einen Bruch in seiner machistischen Ausstrahlung: Interesse bekundet er in erster Linie an »Mode« […] und an Frauen […]. Seine machistische Ausstrahlung wirkt demnach gebrochen durch Verhaltensstandards, die traditionell Frauen zugesprochen werden: nämlich sich um »Mode, Männer und Sauberkeit« […] zu kümmern. (Strobel 1998: 144)

Wenn Hans für sich selbst die gleichen Verhaltensstandards beansprucht, die er eigentlich Frauen zuweist, führt er seine eigene rigide Geschlechtertrennung ad absurdum. Gerade im Kontrast zu Anna wirkt Hans in den Bemühungen um seine trainierte und gepflegte Erscheinung der von ihm beschriebenen Weiblichkeit näher als Anna.108 Wenn Hans sagt, jeder Mann möchte alle Frauen der Welt besitzen, scheint hier neben Allmachtphantasien auch die Konkurrenz zu anderen Männern durch. So geht es auch in den Auseinandersetzungen mit Rainer nicht ausschließlich um eine festzulegende homosoziale Hierarchie, sondern es erscheint so, als würde der, der in diesen Auseinandersetzungen als der Stärkere hervorgeht, automatisch Sophie zugesprochen bekommen. Es geht hierbei also nicht um Sophie und ihren Willen, sondern darum, sich gegen den Nebenbuhler durchzusetzen. Sophie wird zur Ware, zur bloßen Trophäe degradiert, über die Männlichkeiten verfügen können. Dass Hans Sophie – hier stellvertretend für die Frau an sich – als Ware wahrnimmt, wird bestätigt, wenn er hofft, dass er Sophie »nächstes Mal vielleicht vollständig in Betrieb nehmen kann« (AUS 226). Sophie wird von Hans als willenlos und in vollständiger Passivität wahrgenommen; sie wird zum Objekt, zu einem Gegenstand. Die Objektivierung erreicht ihren Gipfel, wenn Hans sie auf dem Schulfest packt und herumschleudert, um Sophies Tanzpartner zu zeigen, wie man eine Frau behandle (vgl. AUS 251f.). Er reduziert sie hier nicht mal mehr auf ihren Körper, es geht ihm nicht um Sophie. Sondern hier erscheint es so, als würde Sophie ihm lediglich als Hilfsmittel dienen, um eine besonders gelungene Selbstdarstellung seiner selbst zu erreichen. Im Fokus steht dabei seine Konkurrenz zu anderen Männlichkeiten und damit letztlich seine Position in der homosozialen Hierarchie. Seine Vorstellung mit Sophie auf der Tanzfläche dient in erster Linie der Demonstration 108 Vgl. zur Verkörperung traditionell weiblicher Eigenschaften durch die männlich gezeichneten Figuren auch Schmid-Bortenschlager 2012: 16.

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seiner Männlichkeit. Diese profiliert sich in dem Moment über das Verfügen und Erobern von Frauen. Hans’ Behauptung, dass er sich Frauen »zu Willen« (AUS 78) macht, wurde bereits im Abschnitt zu Hans’ sozialem Kapital erörtert. Alexandra Heberger führt hierzu überzeugend aus, dass die Behauptung des Einzelpersondaseins und ›zu Willen-Machens‹ anderer Frauen von Hans gleich zweifach dekonstruiert wird, »da Hans einerseits nicht individualisiert wird, sondern Abbild der Reden seiner Freunde und der Trivialmedien ist und andererseits, indem er sich vor Sophie prostituiert« (vgl. Heberger 2002: 72). Seine eigene Prostitution, welche nicht aus seinem freien Willen heraus geschieht, stellt seine Behauptung als lächerlich heraus. Er ahne nicht, dass Sophie ihn hiermit zur »Hure« macht, sondern setze in seinem »Machismo« voraus, dass jede Frau ihm unterlegen sei (vgl. Janz 1995: 43). Obwohl Heberger anmerkt, dass Jelinek hiermit die Prostitution nicht als geschlechtsspezifisches, sondern als gesellschaftliches Phänomen ausmacht (vgl. Heberger 2002: 106), ist nicht von der Hand zu weisen, dass diese Szene Hans unter Berücksichtigung des ›zu Willen-Machens‹ in gewisser Weise verweiblicht. Sonst ist Hans Frauen gegenüber eigentlich höflich, was seine Mutter ihm beigebracht hat (vgl. AUS 61). Auch Gretl Witkowski merkt an: »Wenigstens ist der Prolet höflich« (AUS 85). Darüber hinaus – und hier zeigt sich ein weiterer Teil seiner Männlichkeitskonstruktion – fühlt Hans sich als Beschützer von Frauen. Über das Beschützen kann er sich über die Frau erheben und gleichzeitig seine Stärke hervorheben. Er möchte Sophie für den Rest ihres Lebens beschützen (vgl. AUS 225) und genauso weckt es in Hans Mitleid, wenn Anna ihn weinend nach der Arbeit aufsucht. Ein Mitleid, das er schnell als »männliche[n] Reflex, schwächliche Dinge zu schützen« (AUS 258) ausmacht. Er sieht Anna schließlich mit den Augen eines »männlichen Beschützers, der stärker ist« (ebd.). Dadurch dass Hans dieses Gefühl als Reflex ausmacht, naturalisiert er es als eine Art Instinkt, der ihn als Mann unwillkürlich beeinflusst. Somit ist das Beschützen für ihn ein essentieller Teil eines Mannes, der an Männlichkeit deutlich einbüßen würde, würde ihm der Beschützerinstinkt abgehen, da er schließlich zu seiner Natur gehört. Zuletzt wird im Kontext seiner Vorstellungen von den Geschlechtern und seinem Verhältnis hierzu noch auf Hans in seiner Rolle als Liebhaber bzw. auf seine sexuellen Kompetenzen eingegangen. Sicherheit auf dem Terrain der Sexualität sind als bedeutende Attribute seiner Männlichkeitskonstruktion auszumachen. Da er über diese Kompetenz zu Beginn der Handlung noch nicht verfügt – schließlich ist er hier noch Jungfrau – nutzt er Anna als »Vorübung auf Sophie« (AUS 117). Denn letztere möchte er erobern. Dabei geht er davon aus, dass es auch ihrem Ideal einer Männlichkeit entspricht, dass der Mann über ausreichend sexuelle Erfahrungen verfügt (vgl. AUS 91). Er benutzt Anna und

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ihren Körper lediglich als Mittel zur Aneignung sexueller Kompetenzen, um sich seinem Männlichkeitsideal anzunähern (vgl. a. Strobel 1998: 130). Er betont schon vor dem Sexualkontakt, dass er Anna jetzt aber nicht liebe (vgl. AUS 88), nur weil er intim mit ihr wird. Die Abwendung von jeglicher Emotionalität entspricht ebenfalls seinem traditionellen Männlichkeitsideal. Hans’ Verhältnis zu den Frauen in seiner Rolle als Liebhaber erscheint zunächst ambivalent. Während er Anna wie einen Gegenstand behandelt, den er nur benutzen will, um sexuelle Fertigkeiten zu erwerben, denkt er voller Zärtlichkeit an Sophie und möchte sie beschützen. Doch auch dieser schlägt er später auf den Mund und küsst sie daraufhin, wobei er sich ebenfalls an einem Hollywood-Film orientiert (vgl. AUS 97). Die Abfolge ›erst schlagen, dann küssen‹ ist analog zu Unterwerfung und anschließender Inbesitznahme zu verstehen, womit Hans’ Verhältnis zu Frauen recht treffend beschrieben ist. Die körperliche Gewalt gegen Sophie kann darüber hinaus den Übergang von Hans zu neuen Idealen beschreiben. Die Gewalt kompensiert hier nicht in erster Linie Männlichkeitsdefizite oder ist ausschließlich Anzeichen seines Verhältnisses zu Frauen, sondern soll die Einnahme einer neuen Position mit neuen Idealen markieren. Denn Rainer bemerkt an anderer Stelle, dass man eine Führungsrolle einnehmen könne, wenn man Sophie auf den Mund schlägt (vgl. AUS 62). Hans’ Schlag kann somit als Versuch der Einnahme dieser Führungsrolle verstanden werden. Das ist – wie beschrieben – auch der Grund, warum er Sophie später auf der Tanzfläche herumschleudert: Er möchte in der Konkurrenz zu ihrem Tanzpartner seine Führungsposition und Machtstellung demonstrieren. Seine durch den Einfluss von Hollywood-Filmen völlig verzerrten Vorstellungen zu kompetentem Umgang mit Frauen resultieren also darin, dass er sie rabiat und rücksichtslos als Hilfsmittel zur Herstellung seiner Männlichkeit nutzt. Es bleibt die Frage nach seiner Liebe zu Sophie (vgl. AUS 76, 230). Doch vermutlich ist sein Bedürfnis, mit Sophie eine Ehe einzugehen (vgl. AUS 171, 224), um seine Zukunft mit ihr zu verbringen, auch nur seinem Willen nach sozialem Aufstieg geschuldet (vgl. Lorenz 1990: 113f.). Hans erachtet Frauen also als Objekte, als Besitz, welchen er erobern, beschützen und ernähren will. Er benutzt sie als Hilfsmittel bzw. Werkzeuge, um seine Männlichkeit zu konstituieren und so seinem Ideal einer traditionellen Männlichkeit näher zu kommen. In seinem Frauenbild spiegelt sich ein traditionelles binäres Geschlechterbild, das allerdings an verschiedenen Stellen durch die Dekonstruktion der Figur bzw. ihrer Handlungen brüchig wird. 2.3

Die Instrumentalisierung von Hans

Oben wurde bereits angedeutet, dass Hans von den anderen Figuren für ihre Zwecke instrumentalisiert wird. Hans verfügt selten über eine eigene Meinung.

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Wenn er sie dann doch hat, scheint durch, dass er sie von Rainer, Anna oder Sophie übernommen hat oder aus Hollywood-Filmen ableitet. Hans ist somit in keiner Weise ein autonomes Subjekt, welches unabhängig handelt oder denkt. Rainers Ziel ist es, Hans alles zu erklären, »bis er ein nur mehr willenloses Werkzeug geworden ist« (AUS 20), sodass er frei über ihn verfügen und ihn für seine Profilierung nutzen kann. Hans wird für Rainer also genau das, was die Frauen für Hans sind: Werkzeuge. Rainer möchte ihn von anderen Arbeitern fernhalten, weil sonst aus der Solidarität miteinander eine Stärke entstünde, die Rainer in seiner Vormachtstellung bedrohen würde (vgl. AUS 53). Er soll ein Empfänger von »Botschaften, Mahnungen, Befehlen, Ermutigungen« (AUS 53) sein, und diese sollen alle von Rainer kommen. So wird Rainer äußerst wütend, wenn Hans im Jazzkeller plötzlich den Musikern hilft, die Instrumente zu tragen. Er schlägt ihm hier sogar den getragenen Klarinettenkasten über den Kopf (vgl. AUS 111). Dabei hat Rainer sein Ziel eigentlich schon erreicht. Denn in einer Szene wirft Hans einen Packen bereits beschrifteter Kuverts seiner Mutter in den Küchenherd: Er weiß nicht genau, warum er das jetzt tut, aber er muß es irgendwie machen, eine Stimme in ihm, die Rainer gehört, schafft ihm das an. Rainers Stimme ist in seinem Ohr, und Sophies Bild ist in seinem Herzen. Sie leiten ihn und führen ihn an. (AUS 81)

Hans scheint also schon zu dem willenlosen Werkzeug geworden zu sein, was Rainer aus ihm machen möchte. Rainer merkt hinsichtlich der Beziehung zwischen Hans und Sophie an, dass Hans kein Subjekt ist, sondern ihr »bewußtloser Spielball« (AUS 220), »ein Objekt für Sophie und sonst nichts« (AUS 199). Sophie spielt tatsächlich ihre Spiele mit ihm, wenn er sich für bestimmte Güter oder Zuneigung prostituieren muss, womit Sophie sich sexuell befriedigt und ihre Macht demonstriert. Sie will, dass es Hans möglichst peinlich ist (vgl. AUS 222), wenn er vor ihr onaniert. So kann sie ihn besonders erniedrigen, was hier ihr primäres Ziel zu sein scheint. Sie droht ihm, dass er gehen muss und nicht wiederkommen darf, wenn er es nicht tut (vgl. AUS 221). Auf eine perfide Art spielt sie hier also ihre Machtposition aus, die sie in Anbetracht der Tatsache innehat, dass Hans sie will – sei es aus ehrlicher Zuneigung oder für den sozialen Aufstieg. Das räumt sie auch ein: »Hans sagt, er tut alles, was sie will, und sie weiß das, soll es aber nicht ausnützen, das ist unfair. Ich nütze es aber gerne aus« (AUS 222). Sogar Anna, welche aufrichtig in ihn verliebt zu sein scheint, ist der Ansicht, dass Hans ein ideales Werkzeug wäre und die Arbeiterklasse verlassen sollte, um richtiger Teil der Bande zu sein (vgl. AUS 53). Später degradiert auch sie Hans zum Objekt, wenn sie ihn ihr Eigentum nennt, welches sie überwacht (vgl. AUS 217).

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Hans verliert in Interaktion mit seinen Freunden jegliche Autonomie und wird als verfügbares Objekt angesehen, welches zu bestimmten Zwecken benutzt werden kann. Er erfährt hierdurch eine Art Verweiblichung. Denn genau das, was er selbst in Frauen sieht, sehen die anderen in ihm. Und so wird auch Hans benutzt, wie er Anna und Sophie benutzt. Hinsichtlich der Anerkennung seiner Männlichkeit erfährt er durch diese Figurenkonstellation erhebliche Einbußen. Hans selbst scheint das kaum wahrhaben zu wollen. Er hebt in einem Gespräch mit seiner Mutter hervor, dass die Gruppe seine besonderen Fähigkeiten zu schätzen weiß; er glaubt, hierdurch unersetzlich geworden zu sein (vgl. AUS 171). Er bemerkt nicht, dass seine individuellen Fähig- und Fertigkeiten von der Gruppe auf seine Körperlichkeit reduziert und instrumentalisiert werden. Nicht nur die recht offensichtliche Verweiblichung, die aus der parallelen Anordnung der Handlungen und Sichtweisen sowie der Figurenkonstellation resultiert, entfernt ihn von seinem Männlichkeitsideal. Mit der Objektivierung und der Degradierung zu einem Werkzeug geht ein großes Autonomie-Defizit einher, welche jedoch ein wichtiges Element der traditionellen Männlichkeit ist. Zu dem Mangel an ökonomischen und kulturellen Mitteln gesellt sich nun also noch ein Mangel an Selbstbestimmung, welcher es Hans zusätzlich unmöglich macht, das Ideal einer hegemonialen Männlichkeit zu verkörpern. 2.4

Auf dem Weg zur traditionellen Männlichkeit? – Ein Resümee

Im Vorangegangenen wurde deutlich, dass sich das Männlichkeitsideal von Hans zu Beginn der Handlung noch nicht explizit am Ideal der hegemonialen Männlichkeit orientiert. Hans scheint zunächst gut mit einem Ideal zurechtzukommen, dass an die Ressourcen der Arbeiterklasse angelehnt ist. Doch in dem Kontakt zu Rainer bildet sich immer mehr ein Bedürfnis nach dem Ideal der hegemonialen Männlichkeit heraus, er macht eine Art Wertewandel durch. Ihm scheint die Erreichung dieses neuen Ideals allerdings nur möglich, wenn er sich endgültig von der Arbeiterklasse lossagt. Denn die Zugehörigkeit zu dieser scheint ihm die Orientierung an seinem neuen Ideal aufgrund akuter Ressourcenknappheit zu verunmöglichen. Hans beginnt, sich in seiner Männlichkeitskonstruktion nach diesen neuen Werten zu richten. Die wesentlichen Aspekte seiner Männlichkeit machen nun die Funktion des Mannes als Beschützer, Ernährer und Eroberer mit unbändiger sexueller Potenz aus. Mit diesem neuen Ideal werden für Hans in seiner sozialen Position allerhand Defizite sichtbar. In der Orientierung am Ideal der hegemonialen Männlichkeit kann Hans nur scheitern. Er verfügt aktuell – als Arbeiter – nicht über ausreichend kulturelles und ökonomisches Kapital, um diesem Ideal auch nur entfernt zu entsprechen. Diese Defizite sind Hans durchaus bewusst, weshalb er einige Strategien entwickelt, um die Dissonanzen,

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die durch die Abweichung vom Ideal entstehen, aufzulösen. Er stellt sich zur Reduzierung seiner Dissonanzen zeitweilig außerhalb des geltenden Wertesystems, indem er sich bemüht, die Kultur der herrschenden Klassen abzuwerten, um damit seine eigenen Werte hochzuschätzen. Später reiht er sich in dieses System wieder ein, indem er nun bestrebt ist, selbst kulturelles und ökonomisches Kapital zu akkumulieren, um den Klassenaufstieg zu erreichen. Da diese Anhäufung jedoch noch in der Zukunft liegt, neigen seine Kompensationsstrategien eher zur Suggestion. Hans vermittelt seinem Umfeld durch teure Getränke und Kleidung, dass er über Geld verfügt, was ihn in der Wahrnehmung seiner Person der Rolle des Ernährers – und damit seinem Männlichkeitsideal – unmittelbar näherbringen soll. In erster Linie setzt Hans zur Erreichung seiner Ideale seinen Körper ein, da dieser die einzige Ressource ist, auf die er momentan verlässlich zugreifen kann. Er demonstriert seine körperliche Stärke vor allem in der homosozialen Konkurrenz zu anderen Männlichkeiten. Frauen gelten ihm dabei als Werkzeuge sowohl zur Demonstration seiner Überlegenheit als auch zur Stabilisierung seiner Männlichkeit. Im heterosozialen Kontext der Sexualität ist er bemüht, seine Triebhaftigkeit hervorzuheben sowie seine sexuelle Potenz und Kompetenz zu beweisen. Beides sind ebenfalls elementare Aspekte seiner Männlichkeitskonstruktion. Sein Körper avanciert zum männlichkeitsgenerierenden Moment. Bereits in den sexuellen Interaktionen mit Anna, aber auch anhand der Instrumentalisierung von Hans durch die anderen Figuren wird deutlich, dass Hans keineswegs ein autonomes Subjekt ist, welches frei denkt und handelt. Er ist hinsichtlich seiner Erektionsfähigkeit von Anna abhängig und wird darüber hinaus anhand der karikativen Verkörperung eines lonesome cowboys als Persiflage auf die angestrebte Männlichkeit entlarvt. Auch im Kontext der übrigen sozialen Interaktionen wird Hans zum Werkzeug gemacht, womit er objektiviert wird. Darüber hinaus wird er von Sophie dazu gezwungen, sich für Güter und Aufmerksamkeit zu prostituieren, indem er seinen Körper als Zahlungsmittel einsetzen muss. Er erfährt durch die Wahrnehmung seiner Person als verfügbares Objekt eine Art Verweiblichung, welche in seinem Fall mit einem großen Mangel an Selbstbestimmung einhergeht. Hans verfügt folglich nicht nur über erhebliche Defizite hinsichtlich seines angestrebten Männlichkeitsideals, die durch seine Klassenzugehörigkeit und damit zusammenhängenden Ressourcenmangel bedingt sind. Auch abseits dessen wird durch Verweiblichung und Persiflage zusätzlich hervorgehoben, dass Hans einer hegemonialen Männlichkeit in keiner Weise entspricht. Er scheitert daher auf multiplen (strukturellen) Ebenen an den Anforderungen des Patriarchats an eine hegemoniale Männlichkeit, welcher er sich dennoch annähern möchte.

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Anna Witkowski – Zwischen Tradition und Emanzipation »Sie dagegen trägt nur dreckige Jeans und viel zu große Männerpullover, damit ihre innerliche Haltung einen äußeren Ausdruck hat.«

Anna Witkowski ist die Zwillingsschwester von Rainer, die Tochter von Gretl und Otto Witkowski und genauso Teil der Bande wie Hans und Rainer. Sie geht aufs Gymnasium und lernt Klavier am Wiener Konservatorium. Nach der Schule möchte sie gern nach Amerika gehen, was ihr jedoch verwehrt wird, da sie das benötigte Stipendium nicht bekommt. Sie hat wie ihr Bruder großes Interesse an existentialistischer Lektüre. Sie wird als Anarchistin beschrieben (vgl. AUS 9), die gegen die Polizei und jegliche Machtinstanzen ist. Sie ist außerdem sehr dünn, hat eine bulimische Essstörung und ein absichtlich ungepflegtes äußeres Erscheinungsbild. Abseits dessen fällt sie durch ihre große Wut auf, die zeitweise in körperlicher Gewalt, zeitweise in Sprachlosigkeit mündet. Anna verfügt über ein pragmatisches, funktionalisiertes Verhältnis zu ihrem Körper und ihrer Sexualität, was sich ändert, wenn sie mit Hans intim wird. Anna wird nicht als typisch weibliche Figur gezeichnet. Im Gegenteil erscheint es, als hätte die Figur zahlreiche subversive Momente, welche das traditionelle Konstrukt von Weiblichkeit brechen, indem sie sich männlich konnotierte Verhaltensweisen aneignet. Im Folgenden werden daher verschiedene Aspekte der Figur untersucht, um herauszufiltern, inwiefern Anna sich eine Männlichkeit aneignet. Hierzu zählen die Bedeutung der Betonung ihres kulturellen Kapitals, Annas Gewalttätigkeit sowie ihr funktionalisiertes Verhältnis zu ihrem Körper. Annas Beziehung zu Hans stellt letztlich einen markanten Bruch in der Performanz der Figur dar. Die Ergebnisse werden dann abschließend dahingehend geprüft, ob die von Anna verkörperte Männlichkeit eine Machtposition im Patriarchat einnehmen kann bzw. ob und wie diese Männlichkeit an den Anforderungen des Patriarchats scheitert. 3.1

Der spezifische Einsatz von Intellektualität

Die Intellektualität Annas wird bei Weitem nicht in dem Ausmaß hervorgehoben, wie dies bei Rainer der Fall ist. Effekt dessen ist, dass Annas Verhältnis zu ihrem Körper und ihre Beziehung zu Hans deutlicher im Fokus stehen. Dennoch scheint Anna ähnlich intellektuell zu sein wie ihr Bruder. Sie ist die, die seine Texte versteht (vgl. AUS 121), sie redet mit ihm über Philosophisches und Literarisches (vgl. AUS 19) und versucht sich im Klavierspiel auszudrücken; hierzu nimmt sie Unterricht am renommierten Wiener Konservatorium (vgl. AUS 9). Ihre Bestrebungen, sich über die Hervorhebung von akkumuliertem

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kulturellem Kapital von unteren Klassen (inklusive ihrer eigenen) abzuheben, werden ähnlich vehement beschrieben wie bei Rainer. Es sei unbestritten, dass Anna in ihren jungen Jahren durch das Musikstudium und die Rezeption unterschiedlichster Literatur bereits ein hohes Maß an kulturellem Kapital akkumuliert hat. Bemerkenswert ist hierbei allerdings, dass Anna nur in wenigen Fällen bemüht ist, diese Karte auszuspielen. Sie neigt viel mehr dazu, sich selbst über die Abwertung anderer Werte und Personen bzw. die Abgrenzung von anderen aufzuwerten, sie habe ein »unstillbares Bedürfnis nach Distinktion« (Sonnleitner 2008: 86). Im Folgenden werden diese Abgrenzungsmechanismen nun genauer beleuchtet. Um dies ausführlich tun zu können, wird jedoch zunächst veranschaulicht, dass Anna von Neid auf Personen erfüllt ist, die durch Konsum am Kapitalismus teilhaben können, weil sie über ausreichend finanzielle Mittel verfügen. Dieser Neid ist es, der ein Symptom von Annas defizitärem Empfinden ist und der sie zur Kompensation dieser Defizite zwingt, welche sich dann wiederum als die benannten Abgrenzungs- und Abwertungsmechanismen niederschlagen. a. Neid auf Konsument_innen Im Roman scheint an verschiedenen Stellen durch, dass Anna, welche als Anarchistin bezeichnet wird und durchaus mit antikapitalistischen Zügen ausgestattet ist, von großem Neid auf Personen geprägt ist, die die Möglichkeit haben, am Konsum teilzuhaben. Die Erzählinstanz entlarvt Anna: »Sie windet sich immer vor Neid, wenn sie sieht, eine Schulkollegin hat ein neues Kostüm mit einer weißen Bluse an oder neue Stöckelschuhe« (AUS 10). Das ist jedoch nicht das, was Anna ihren Freunden gegenüber kundtut. Hier ist sie vielmehr bestrebt, die Schulkolleginnen abzuwerten, indem sie ihnen Oberflächlichkeit vorwirft und sich intellektuell über sie erhebt. Anna gibt nicht zu, dass sie ein Bedürfnis nach materiellen Werten verspürt (AUS 11), da dies nicht in das Bild passt, was sie von sich zu zeichnen beabsichtigt. Doch der Keim nach solchen materiellen Bedürfnissen, die sich gut in den Kapitalismus einfügen, wurde schon in der Kindheit der Zwillinge gepflanzt. Schon früh hatten Rainer und Anna das Bedürfnis nach einem eigenen Auto für die Familie, um sich von anderen (Arbeitern) im öffentlichen Nahverkehr abheben zu können (vgl. AUS 47). Die Bedeutsamkeit finanzieller Mittel – und damit ökonomischen Kapitals – für die Abgrenzung und den damit erhofften Klassenaufstieg ist Anna folglich durchaus bewusst. Denn das ist es, woraus der Neid resultiert. Er ist das Ergebnis bzw. ein Symptom der als defizitär empfundenen Klassenlage. b. Abgrenzung und Abwertung von anderen (Werten) Die Akkumulierung kulturellen Kapitals ist aus Annas sozialer Position heraus eine geringere Hürde als die Anhäufung ökonomischen Kapitals. Da eine Ver-

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mehrung von Kapital für den Klassenaufstieg und die damit einhergehende Abgrenzung von anderen jedoch unerlässlich ist, entscheidet sich Anna für die Akkumulierung kulturellen Kapitals. Marlies Janz merkt an, dass es Anna nicht um bloße (Weiter-)Bildung geht, sondern um die Akkumulation von Herrschaftswissen und den damit verbundenen sozialen Aufstieg (Janz 1995: 44). Es geht ihr nicht darum, sich beliebig privat weiterzubilden, um über mehr Kapital zu verfügen, sondern sie möchte der herrschenden Klasse angehören – um jeden Preis. Den Neid auf diejenigen, die am Konsum partizipieren können, gilt es zusätzlich zu kompensieren. Ihre Strategie ist es schließlich, sowohl die Güter der anderen bzw. schon das Bedürfnis nach diesen Gütern als auch die Werte der anderen vehement abzuwerten, um die Dissonanzen zu nivellieren, die für Anna aus diesem sozialen Missverhältnis entstehen. So verachte sie beispielsweise prinzipiell Menschen mit Eigenheimen und Autos (vgl. AUS 19),109 eben weil sie über diese Güter nicht verfügen kann. Die Abgrenzung nach oben zur Reduzierung ihrer Dissonanzen ist für sie also von besonderer Relevanz. Doch auch die Abgrenzung nach unten zur (eigenen) Arbeiterklasse ist ihr von großem Wert: Als Sophie ihren Freunden Käsebrote serviert, kommentiert die Erzählinstanz: »Dienen macht Spaß, wenn man es nicht muß. Anna würde sich eher die Hand abhacken lassen, als jemandem Käsebrote zu überreichen« (AUS 250). Hieran wird ersichtlich, wie Anna einen Freundschaftsdienst mit einer Dienstleistung und diese wiederum mit Unterordnung verbindet. Um nicht als untergeordnet zu gelten, distanziert sie sich vehement davon. Plausibel ist auch Heidi Strobels Auslegung von Annas Verhalten: Hiernach bewältige Anna die Frustration, die ihr aus dem Mangel an Mitteln entsteht, ihre materiellen Bedürfnisse zu stillen, mit einem zweifachen Verfahren: Das eigentlich Idealisierte, nämlich das Leben von Bedürfnissen, die dem Körper entstammen, wird mit Weiblichkeit verknüpft und als minder entwertet. Die Existenz, die im Geist wurzelt, wird umgekehrt als überlegen, als männlich entgegengesetzt. (Strobel 1998: 123)

Die Tatsache, dass Anna sich daran macht, kulturelles Kapital zu akkumulieren, ist dieser Interpretation nach gleichbedeutend mit einer Aneignung von männlich konnotierten Attributen. Ihr Konsumverzicht zeige sich damit nicht mehr als Mangel an Geldmitteln, sondern ist durch die Furcht motiviert, mit der Befriedigung ihrer Bedürfnisse durch den Konsum von Waren gleichzeitig auf eine einengende weibliche Geschlechtshaltung festgelegt zu werden (vgl. ebd.). Dieses zweifache Verfahren stellt somit eine komplexe Strategie Annas zur Ab109 Dass sie selbst schon früh ein Bedürfnis nach Distinktion in Form eines Familienautos hatte, verdeutlicht in diesem Kontext die Kompensationslogik Annas. Sie verachtet diese Menschen, weil sie sich Statussymbole anschaffen, die für Anna nicht erreichbar sind.

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grenzung dar, welche sie gleichzeitig der Verkörperung einer Männlichkeit näher bringt. Wenn Anna und Rainer zu einer Feier eingeladen werden, lehnen sie diese Einladungen ab, weil solche Veranstaltungen »dumme, sinnlose Vergnügungen« (AUS 20) seien. Sie schieben hier das Argument der fehlenden Intellektualität vor, doch die Erzählinstanz berichtet, dass Anna und Rainer schlicht nicht tanzen können und »es nicht aushalten, etwas nicht besser zu können als die anderen« (ebd.). Ähnlich verhält es sich, wenn sie mit ihren Freunden im Schwimmbad sind: »Anna und Rainer machen viele Bewegungen, denen man ansehen soll, daß sie gut schwimmen können. Sie können es aber nicht« (AUS 153) Auch hier wird es als »grauenhaft« (ebd.) für die beiden beschrieben, wenn sie etwas nicht besser können als andere. Sie fühlen sich körperlich unterlegen, was sie in diesem Fall kompensieren, indem sie einen »Muskelprotz« »begiften« (AUS 154), weil er Sartre und Camus nicht kennt. Dass die Werte der »Welt des Buches« (ebd.) hier nicht gelten, wird als ungerecht beschrieben, da die Werte, die im Schwimmbad gefragt sind, »in Wahrheit nur letztklassig« (ebd.) seien. Anna und Rainer deklarieren ihr Wertesystem als Wahrheit, als Norm, was ihre Stärken trotz fehlender Nachfrage in diesem Kontext aufwerten soll. Annas Strategien zur Kompensation ihres Defizitempfindens reichen folglich von bloßem Fernbleiben über den Versuch der Imitation hin zur expliziten Abwertung der Aktivität und dessen Akteur_innen, indem sie sowohl der Tätigkeit den intellektuellen Gehalt als auch den Akteur_innen pauschal die Intellektualität abspricht. Die Aufwertung ihrer Stärken durch die Abwertung der anderen wirkt ob des Kontextes, in dem ihre Intellektualität schlicht nicht gefragt ist, wie eine Verzweiflungstat und damit lächerlich. Die Musik soll ein letztes Beispiel für Annas Abgrenzungsmechanismen sein: Anna möchte gern ihre eigene Musik haben, »die keiner versteht, nur sie allein, und die sie erklären kann« (AUS 19). Der Fokus liegt hierbei auf dem Erklären: Sie möchte sich damit über andere erheben und ihr Wissen kundtun, womit sie sich als überlegen profilieren kann. Bezüglich der »heiße[n] Scheibe vom Elvis, Tuttifrutti« meint sie, dass man sie »rein bildungsmäßig schon ablehnen« (ebd.) müsse. So lehnt sie auch die Musik von ihrem geliebten Hans ab, bezeichnet sie pauschal als »unseriöse Musik« (AUS 95) und rät Hans, er solle dringend dazulernen und sich bilden, um weiterzukommen. Die darauf folgende Erwähnung des Abonnements von Sophies Eltern »fürs Philharmonische« (ebd.) erzeugt einen Kontrast zur Musikvorliebe von Hans, was die unterschiedlichen Geschmäcker der Klassen (vgl. Bourdieus Klassen- und Habituskonzept in dieser Arbeit) besonders hervorhebt. Anna distanziert sich von der breitenwirksamen Populärkultur, während sie sich mit der klassischen Musik ausdrücklich identifiziert. Sie weiß um den Wert derselben in den höheren Klassen und mit der Distanzierung von allem, was diesen Werten nicht entspricht, glaubt sie sich ein

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Stück näher am Klassenaufstieg. Darüber hinaus reproduziere die kommerzielle Massenkultur stereotype Geschlechtsrollenzuweisungen (vgl. Strobel 1998: 120): Anna lehne das gemeinsame Foto ihrer Klassenkameradinnen mit dem doppelseitigen BRAVO-Poster eines angehimmelten Stars ab (vgl. AUS 19), da sie es als eine Herabsetzung ihrer Person und ihres Anspruchs empfindet (vgl. Strobel 1998: 120). Mit der Verweigerung einer Teilhabe an dieser massenkulturellen Aktion verweigert Anna letztlich auch die Teilhabe an der Reproduktion der stereotypen weiblichen Geschlechtsrolle. Mit ihrem paternalistischen Verhalten Hans gegenüber eignet sie sich im Kontext der Musik sogar eine männlich konnotierte Verhaltensweise an. Im Glauben an die Möglichkeit des Klassenaufstiegs gibt sie vor, nichts von der Gleichheit aller Menschen zu halten: »Die Gleichheit kann nur dem gefallen, der nicht in die Klasse der Starken aufzusteigen vermag. Er entschädigt sich durch Herabsetzung dieser Starken und glaubt, dann sind auch diese schwach« (AUS 55). Dieser Ausspruch wirkt in Anbetracht der Tatsache, dass Anna die meiste Zeit damit zubringt, die Stärken anderer herabzusetzen, um sich selbst aufzuwerten, wie besonders bittere Selbstironie. In Gegenwart ihrer Mitschüler_innen ist Anna bemüht, sich als eine der Starken zu inszenieren, indem sie sich explizit von ihresgleichen, den Minderprivilegierten, abgrenzt. Dies mutet vor allem vor dem Hintergrund, dass sie Anarchie propagiert, paradox an. Die Selbstbezeichnung als Anarchistin dient vermutlich in erster Linie der Reduktion ihres defizitären Empfindens auf multiplen Ebenen; in einer herrschaftslosen Gesellschaft hätte sie keinen Mangel an Ressourcen zu verzeichnen. Anna verfolgt also ähnlich wie Hans unterschiedliche Strategien zur Kompensation ihres Defizitempfindens. Einerseits postuliert sie – in der Hoffnung defizitäre Gefühle zu reduzieren – eine herrschaftsfreie Gesellschaft und die Annahme der Gleichheit aller Menschen, wenn sie sich Anarchistin nennt. Auf der anderen Seite ist Anna bemüht, ihre Defizite auszugleichen, wenn sie sich zwar in das extrem hierarchische Gesellschaftssystem einfügt, hierbei jedoch sich selbst auf- und andere abwertet, wenn sie beispielsweise Schulkolleginnen mit neuer Kleidung attestiert, oberflächlich zu sein und »nichts im Gehirn« zu haben (vgl. AUS 10). Damit stelle sie die eigentlichen Positionen auf den Kopf, wodurch sie als handlungsmächtiges überlegenes Subjekt erscheine (vgl. Strobel 1998: 122) und damit (vielleicht sogar sich selbst) eine herrschende Position vortäuschen kann.

3.2

Annas große Wut

Während Hans als Pragmatiker und Rainer als Geistreicher vorgestellt werden, ist es der Zorn, der Anna beschreibt (vgl. AUS 11). Auch Anna selbst referiert

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gegen Ende des Romans: »ihr Charakter ist blinder Haß gegen die ganze Welt« (AUS 255). Auch wenn die Erzählinstanz zu Beginn anmerkt, dass ihre Wut wohl aus dem Generationskonflikt herrührt (vgl. AUS 19), scheint insgesamt eher Annas soziale Position die zentrale Ursache zu sein, wenn die Wut sie überkommt; denn auch sie ist »de facto proletarisiert« (vgl. Sonnleitner 2008: 86). Hierzu soll eine exemplarische Szene herangezogen werden: Wenn ihre musikalischen Fertigkeiten, die sie mit ihrer Chance auf einen Klassenaufstieg verbindet, von einem Medizinstudenten schwer beleidigt werden, wird sie wütend und es kommt sogar »Mordlust« (AUS 112) in ihr auf. Sie meinte »bereits an einem Endpunkt angekommen« (AUS 112) zu sein, das Musikstück zu beherrschen und somit der herrschenden Klasse näher zu sein. Doch der Medizinstudent, welcher auch Jazzpianist ist, desillusioniert Anna nun mit seinen Bemerkungen. Heidi Strobel macht Kunst und Kultur als bestimmend für Annas Idealbildung aus, auf der Verwirklichung dieser Maxime ruhe ihr Selbstwertgefühl (vgl. Strobel 1998: 118). Wird ihre Kompetenz diesbezüglich bestritten, wird ihr parallel die Möglichkeit zum Klassenaufstieg abgesprochen, was sie in Rage versetzt. Darüber hinaus zeugen seine Bemerkungen von Sexismus, was Anna zusätzlich beleidigen soll: »Aber wenn ich dir sonst was beibringen kann, gern, Mausi, melde dich wieder, wenn dir ein Busen gewachsen ist« (AUS 112). Doch Anna fühlt sich in erster Linie angegriffen, weil er ihren sozialen Status abwerten möchte, nicht weil sie ihre Weiblichkeit bedroht sieht. Denn ihre Weiblichkeit ist nichts, worum sie primär kämpft. Im Gegenteil verschleiert sie durch ihr äußeres Erscheinungsbild möglicherweise vorhandene und mit Weiblichkeit assoziierte Körperrundungen, wenn sie weite Männerpullover trägt. Sie kanalisiert ihre Wut dann, indem sie dem Jazzpianisten ein halbes Glas Bier über den Schoß schüttet, was in keinem Verhältnis zu der erwähnten Mordlust steht. Die gemäßigte Reaktion auf solche Herabsetzungen ihrer Person scheint charakteristisch für Anna zu sein, was nun im Folgenden eingehend analysiert wird. Eine Benachteiligung, die ihre Ursache in ihrer Klassenlage hat, erfährt Anna, wenn Sophie das USA-Stipendium zugesprochen bekommt und Anna somit leer ausgeht: Die Schule gehe dabei »auch nach Herkunft und so« (AUS 236). Langfristig mündet dies zwar für Anna in Sprachlosigkeit,110 zuerst wird ihre Wut jedoch körperlich kanalisiert. Nachdem sie sich mit der Faust gegen die Stirn geschlagen hat, zertritt sie einen Käfer und Ameisen. Anschließend »beschädigt [Anna, Anm. JS] einen Gegenstand, nämlich eine Rebe, durch Abschälung ihres Stieles« (AUS 238). Als sie sich dann zuletzt gegen das Töten einer Katze entscheidet, weil sie vom Erbrechen zu geschwächt ist, beißt sie sich in 110 Auch Veronika Vis macht die Sprachstörung Annas als Reaktion auf ihre soziale Benachteiligung aus (vgl. Vis 1998: 376).

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ihren Handknöchel, »so daß fast Blut kommt« (AUS 240). Annas Wut richtet sich gegen die Natur, welche – qua Geburt in eine beherrschte und minderprivilegierte Klasse – verantwortlich für ihre Position ist, und gegen sich selbst, womit sie nach außen keine bemerkenswerten Auswirkungen hat. Die Kompensationsstrategien auf Annas soziale Benachteiligung wirken zudem fast erbärmlich, wenn sie mit Rainers Familien-Massaker am Ende des Romans kontrastiert werden. Annas Machtlosigkeit als weiblich Sozialisierte, welche stereotyp eher zur Selbstdestruktion neigen, wird hiermit zusätzlich unterstrichen (vgl. a. Lorenz 1990: 113). Die nach außen gerichtete Reaktion gegen die Natur an dieser Stelle bleibt im Prinzip effektlos. Während eines Überfalls »hackt« (AUS 8) sie hasserfüllt auf ein Opfer ein und denkt dabei: »wie gut, daß ich endlich meinen starken Haß irgendwo herauslassen kann, ohne daß ich ihn gegen mich selbst richten muß, wo er am falschen Ort wäre« (AUS 8). Lediglich wenn Anna an den Überfällen teilhat, ist sie offenbar im Stande, ihre Wut durch exzessive körperliche Gewalt zu kanalisieren. Sie scheint wie in einem Rauschzustand zu sein und genießt ihre Taten. Um ihre Genugtuung zu spüren, leckt sie »Salz vom Opferschweiß und Blut aus den Opferkratzern von ihrer rechten Hand, ihrer Schlaghand« (AUS 10). Die Tatsache, dass sie Gefallen an ihrem Tun findet, zeugt von Skrupellosigkeit und in der Tat tiefsitzendem Hass auf das gesellschaftliche System, welches ihre soziale Benachteiligung hervorbringt. Ein anderes Opfer möchte sie zusätzlich am Penis verletzen, was sie schließlich nach Rainers Einwänden nur symbolisch durch Bespucken tut (vgl. AUS 212). Sie geht hier noch einen Schritt weiter als sonst, wenn sie das Opfer nicht nur körperlich unterordnet und ausraubt, sondern explizit in seiner Männlichkeit, welche sich vor allem über den Phallus, sexuelle Potenz und die Abwertung von allem Weiblichen konstituiert, schwächen möchte. Indem sie ihm zuletzt noch ein »kümmerliches Gerät« (AUS 213), einen mangelhaften Phallus also, attestiert, wertet sie ihn ab und versucht sich selbst so aus ihrer Unterordnung zu erheben. In periodische Sprachlosigkeit verfällt Anna, wenn sie mit ihren Freunden im Schwimmbad ist, wo sie sich auf unsicherem Terrain bewegt. Hier ist nicht ihre Intellektualität gefragt, sondern Körper und Sportlichkeit. Die Sportlichkeit geht Anna vollständig ab und auch körperlich ist sie »kümmerlich« (AUS 154) ausgestattet: Sie »hält […] sich beide Hände vor, weil sie über keinen Busen verfügt« (AUS 157). Anna kann sich in dieser Situation nicht über ihren Intellekt profilieren und damit nicht über die anderen erheben. Dies ist allerdings ihr einziges Mittel, um sich nicht übermäßig defizitär zu fühlen. In diesem knapp bekleideten Zustand wird ihre Aufmerksamkeit zusätzlich auf die ihr zugeordnete Weiblichkeit gelenkt, deren äußere Sichtbarkeit zumindest andere von ihr erwarten. Sie weiß, dass dies gesellschaftliche Anforderungen an sie als Frau sind, kann jedoch auch hiermit nicht dienen und verfällt somit in Sprachlosigkeit.

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Ihre Unzulänglichkeit macht sie hier nicht mehr wütend, sondern mündet in vollständiger Resignation. Während sie in der Szene im Jazzkeller nicht auf die Provokation des Medizinstudenten hinsichtlich ihrer vermeintlich nicht vorhandenen Weiblichkeit reagiert, fühlt sie sich im Schwimmbad sichtlich unwohl, weil an ihrem Körper keine stereotyp weiblichen Merkmale abgelesen werden können. Dieses Unwohlsein deutet auf eine innere Zerrissenheit Annas hin. Hier manifestieren sich die mütterlichen Anforderungen an Anna, zwei unvereinbare Positionen zu verkörpern: die »›angenehme‹ autonome Lebensgestaltung einerseits und […] [die] fremdbestimmte, unbefriedigende Mühsal andererseits«, wie sie von Strobel beschrieben werden (Strobel 1998: 111). Anna steht somit zwischen der weiblichen Emanzipation – die sie durch Bildung zu realisieren versucht – und der traditionellen Frauenrolle, welche zwangsläufig in Konflikt miteinander geraten (vgl. Strobel 1998: 116). Daher ist Anna die meiste Zeit damit beschäftigt, ihre Weiblichkeit insgesamt zu leugnen bzw. zu verschleiern, um nicht zu werden wie ihre Mutter111, und um nicht der unterdrückten Gruppe der Frauen allgemein zugerechnet zu werden. Im Schwimmbad wird sie jedoch auf ihren Körper und auf die gesellschaftlichen Anforderungen an denselben zurückgeworfen und merkt schmerzlich, dass sie diesen Anforderungen nicht gerecht werden kann. Immer wieder untrennbar mit dieser Weiblichkeit verbunden und darauf zurückgeworfen geht sie – möglicherweise als verzögerte Reaktion auf die Schwimmbadsituation – mit dem letzten Opfer der Bande auch in eine geschlechtliche Auseinandersetzung, wenn sie seinen Phallus aus der Hose holt und bespuckt. Sie ist hier als Teil der unterdrückten Gruppe der Frauen bemüht, die herrschende Gruppe der Männer durch eine Art symbolische Kastration zu entmachten. Hierzu bedient sie sich einer für Männlichkeiten typischen Strategie: der Ab- bzw. Entwertung des anderen Geschlechts. Es scheint folglich neben ihrer Wut auf die herrschende Klasse auch eine Wut auf das Frauen unterdrückende Geschlecht – den Mann – zu existieren, welche sie in der Auseinandersetzung mit dem Überfallopfer von der gesellschaftlichen auf eine individuelle Ebene überführt. Anna ist in ihrer Position als weibliche Kleinbürgerin, welche nach Kriegsende mit ihrer Familie realiter in die Arbeiterklasse abgestiegen ist, zweifach unterdrückt. Aus dieser doppelten Benachteiligung heraus ist Anna die Möglichkeit einer tatsächlichen Aktion, die Rainers Massaker standhalten könnte, verwehrt (vgl. Stangel 1988: 147).

111 Annas Mutter war zunächst auch bemüht, den Weg einer emanzipierten Frau einzuschlagen, wurde Lehrerin und wollte ihren Weg selbstbestimmt gehen. Doch durch die Heirat mit Otto war sie schließlich gezwungen, die traditionelle Rolle der vorbildlichen Ehefrau anzunehmen. Daraus erschließt sich auch der große Druck, den Gretl auf Anna ausübt. Anna soll es einmal ›besser haben‹.

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Es bleibt zu konstatieren, dass zwar Annas Wut enorm ist, ihre Reaktionen darauf allerdings häufig wirkungslos bleiben, wenn die Gewalt sich – einer stereotypen weiblichen Sozialisation entsprechend – lediglich gegen sie selbst oder gegen die Natur richten. Wenn Anna sich allerdings mit den Opfern der Raubüberfälle auseinandersetzt, geht sie direkt in die körperliche Konfrontation hinein. Ihre Formen der Gewalt werden hier mit Mut assoziiert (vgl. AUS 7) und sind eher mit den »männliche[n] Spielarten der Gewalt« (AUS 8) von Hans gleichzusetzen als mit Sophies zarten Schienbeintritten (vgl. ebd.). Sie scheint hier – mit den Straftaten ohnehin in die Illegalität gedriftet – eine Möglichkeit gefunden zu haben, die aus ihrer gesellschaftlichen Lage hervorgerufene Wut kompensieren zu können, ohne sich um die ihr damit abgesprochene Weiblichkeit zu sorgen. Wie Annas Verhältnis zur Weiblichkeit im Detail beschaffen ist, soll im Anschluss untersucht werden.

3.3

Verhältnis zu Körper und Sexualität

Im Vorangegangenen wurde bereits angedeutet, dass Anna ein ambivalentes Verhältnis zur Weiblichkeit hat. Im Folgenden wird daher noch einmal ausführlicher ihre Weiblichkeit bzw. ihre Aneignung von Männlichkeit analysiert und die daraus resultierenden Folgen für ihren Körperbezug und für das Ausleben ihrer Sexualität betrachtet. a. Äußeres Erscheinungsbild Anna ist »innen und außen sehr unsauber« (AUS 7) und trägt dreckige Jeans sowie zu große Männerpullover, um ihre innere Haltung auszudrücken (vgl. AUS 10). Diese Beschreibungen von Anna deuten bereits auf den ersten Seiten des Romans an, dass Anna sowohl etwas Auflehnendes bzw. Untypisches als auch männlich Konnotiertes in ihrem Charakter hat. Im Verlauf des Romans wird sie häufig durch Hans’ Augen beschrieben und dabei mit Sophie kontrastiert. Sophies Teint sei »rein, und das blonde Haar ist auch rein, es ist seidig, deins ist oft so fettig und strähnig [und darüber hinaus »dunkelbraun« (AUS 118), Anm. JS], so hängt es dann herab auf etwas, das man mit Mühe als Schultern erkennt, was aber ein mageres Knochengestell ist. Ein angezogener Kleiderbügel« (AUS 118). Später stellt er sich Sophies Körper vor : »Ihr Körper ist sicher weißer und weicher als der von Anna, der dunkler und härter ist« (AUS 226). Anna wird im Kontrast zu Sophie als das negativ besetzte Dunkle und Dreckige beschrieben, mit dem man Sexualität erfahren kann, während im Kontrast dazu stets Sophies Reinheit betont wird. Es wirkt wie eine Heilige und Hure-Kontrastierung, wobei Anna den Part der Hure einnimmt. Diese Kontrastierung deutet bereits auf ihr Verhältnis zur Sexualität hin, welche

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demnach von Selbstbestimmung und Promiskuität geprägt wäre; beides Attribute, die Männlichkeiten vorbehalten sind. Es wird hervorgehoben, dass Anna besonders »dürr« (AUS 77) sei und zudem seien ihre Geschlechtsmerkmale »kümmerlich« (AUS 154) ausgefallen. Annas Körper ist also in keiner Weise ein stereotyp weiblich geformter. Im Gegenteil, alles was auf Weiblichkeit hinweisen könnte, wird zusätzlich im zu großen Männerpullover verschleiert. Genauso wird jeder Beweis für die Existenz ihrer Menstruation sofort beseitigt (vgl. AUS 206). Das fordert zwar ihr Vater von ihr, fügt sich aber gut in ihre Strategien hinsichtlich ihrer Geschlechtlichkeit, denn im Schwimmbad ist sie schließlich auch bemüht, ihre (mangelnde) Weiblichkeit zu verhüllen. Und so wird es auch an dieser Stelle bestätigt: »Solche Materialien haben spurlos vernichtet oder entfernt zu werden. Anna täte das sowieso von allein, sie muß ohnedies jede Spur von ihrem Körper unverzüglich beseitigen« (ebd.).112 Hieraus geht hervor, dass Anna ihre Geschlechtlichkeit und damit die Weiblichkeit ablehnt bzw. leugnet. Ihr Körper macht durch seine Dürre, die »kümmerlichen« sogenannten sekundären Geschlechtsmerkmale und zusätzlich durch die weite Kleidung einen androgynen bis maskulinen Eindruck, wodurch die gesamte Figur eine leichte Vermännlichung erfährt. Ähnlich interpretiert Heidi Strobel Annas männlich konnotierte Kleidung als den »Ausdruck ihres Wunsches nach Verwischen der sozialen Geschlechtsrolle« (Strobel 1998: 124). Der männliche Kleidungsstil, der in Annas Logik mit »Tiefsinn und Geist« verknüpft sei, würde sie in logischer Konsequenz zu einer überlegenen Position erheben (vgl. Strobel 1998: 122). Mit einem Verwischen der gesellschaftlich sanktionierten Geschlechterrollen, an deren rigiden Anforderungen sie bislang scheitert, wäre es Anna möglich, den angestrebten Subjektstatus zu erreichen (vgl. Strobel 1998: 124), da es ihr ein selbstbestimmteres Leben ermöglichte. Die Ablehnung ihrer Weiblichkeit geht ebenso aus ihrem Versuch der Selbstdefloration hervor.113 Anna versucht sich ihr Jungfernhäutchen selbst zu 112 Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass die Tabuisierung der Menstruation hier keinen Einzelfall darstellt, »sondern ein kennzeichnendes Merkmal der Körperkultur der prüden 50er Jahre« war (Strobel 1998: 112). 113 In der Schilderung des Versuchs der Selbstdefloration wird auf einer Metaebene deutlich gemacht, welche patriarchalen Mythen sich um Weiblichkeit ranken, mit denen sich junge Frauen konfrontiert sehen. Die Formulierung der Erzählinstanz »Um eine Haut loszuwerden, die dort unten gewachsen sein soll« (AUS 24, Hervorhebungen JS) formuliert bereits eine Kritik. Es gibt das sogenannte ›Jungfernhäutchen‹ nicht, es gibt keine Haut, die den Vulvaeingang nahezu verschließt, um durch eine Penetration eingerissen und damit geöffnet zu werden. Mit der Thematisierung der vaginalen Corona in Form dieses Mythos wird Jelineks Kritik an der patriarchalen Unterdrückung der Frau herausgestellt. Anna unterliegt an dieser Stelle diesem patriarchalen System und hinterfragt den Mythos nicht. Daher sucht sie ihrerseits Wege, mit der weiblich konnotierten ›Jungfräulichkeit‹ umzugehen.

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entfernen, scheitert daran aber aufgrund vermeintlich fehlender Anatomiekenntnisse und schneidet sich versehentlich in den Damm (vgl. AUS 24). Die Entjungferung geht somit mit einer Verstümmelung der Vulva einher, welche als Abkehr von Weiblichkeit zu deuten ist. Der Versuch der Selbstdefloration an sich ist zudem als eine Autonomiebestrebung Annas zu bewerten. Anna bemüht sich hier mit vierzehn Jahren unabhängig von anderen um eine selbstbestimmte Sexualität. Das Streben nach Selbstbestimmung und Autonomie statten die Figur zusätzlich mit männlich konnotierten Attributen aus. »Anna lehnt Verschönerungen ihrer Person ab« (AUS 207). Mit Verschönerungen sind wahrscheinlich solche Dinge gemeint, wie sie auch ihr Psychiater schon empfohlen hat: »Sag mal Kind, warum ziehst du dich nicht schön an und machst dir Locken, weil du im Prinzip ein hübsches Mädel bist und in die Tanzschule gehen solltest. Schau, wie du daherkommst, wobei einem jungen Burschen vor dir graust« (AUS 10). Diese Verschönerungen sollen sie einer Weiblichkeit näherbringen, die Anna attraktiv – im Sinne von: in die zweigeschlechtliche Norm passend – für junge Männer machen soll; eine Weiblichkeit, die Anna ablehnt. Sie hat vielmehr eine »Ideologie der bewußten Schlampigkeit entwickelt« (Gnüg 1980: 200), die ihre äußere Erscheinung von einer weiblichen entfernt. Anna negiert ihren Körper, weil er sie auf ihre Geschlechtlichkeit zurückwirft, von welcher sie sich allerdings lossagen möchte, weil diese sie – genau wie ihre soziale Lage – in einer untergeordneten Position gefangen hält. b. Essverhalten Nach Veronika Vis lässt sich in der Essstörung sowohl eine Auswirkung Annas sozialer Benachteiligung als auch die Auseinandersetzung mit ihrer Geschlechtsrolle verorten (vgl. Vis 1998: 371). Wie oben bereits angedeutet wurde, ist Anna bemüht, jede Spur ihres Körpers zu beseitigen. Erbrechen und Hungern, die Verweigerung der Nahrungsaufnahme sollen für Anna langfristig den gesamten Körper und damit alles Weibliche verschwinden lassen (vgl. a. MahlerBungers 1988: 121), sodass sie sich mit diesem als weiblich deklarierten Symbol nicht mehr konfrontieren muss. Die bulimische Essstörung kann als autoaggressives Verhalten betrachtet werden, welches ihre Wut auf ihre gesellschaftlich unterdrückte Position als Frau kanalisieren soll und gleichzeitig eine Weiterführung der väterlichen Ablehnung von Weiblichkeit ist (vgl. Strobel 1998: 117; Schmitz-Burgard 1994: 211). Nach Heidi Strobel grenzt Anna sich hiermit darüber hinaus von »ihrem Körper als Repräsentanten der abgewerteten Seite der Mutter« (Strobel 1998: 115) ab (vgl. a. Mahler-Bungers 1988: 115). Sie stehe zwischen den unvereinbaren Anforderungen der Emanzipation und der traditionellen Frauenrolle. Annas Reaktion hierauf sei Auflehnung und die Ablehnung, »die der Weiblichkeit zugeschriebene Opferrolle zu übernehmen« (vgl.

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von Braun zit. n. Strobel 1998: 116). Dies tut sie, indem sie sich der Weiblichkeit in Form ihres Körpers insgesamt entledigen will. Den Widerstand gegen die Oktroyierung der weiblichen Opferrolle auf sie legt Strobel jedoch bald wieder als Ursache für Annas Magersucht ab. Sie ist schließlich der Ansicht, dass Jelinek das Krankheitsbild als selbstdestruktives Agieren Annas [entwirft], das in Verlängerung ihrer Demütigung durch den Weiblichkeit verachtenden Vater die eigene physische Reifung zu verhindern sucht, und damit letztlich die weiblichen Anteile der Sexualität zum Schweigen bringen will. (Strobel 1998: 118)

Ob es die Ablehnung der weiblichen Opferrolle ist oder die Selbstdestruktion als Verlängerung der Demütigung durch den Vater, das Ergebnis bleibt das gleiche. Anna setzt sich durch ihre Essstörung mit der ihr zugeschriebenen Weiblichkeit und der damit verbundenen untergeordneten und verachteten Geschlechterrolle auseinander, welche sie für sich ablehnt: »Anna weigert sich […] eine Frau zu werden« (Vis 1998: 370; vgl. hierzu a. Janz 1995: 42). Aus der Ablehnung der Geschlechtlichkeit resultiert ein funktionalisiertes Verhältnis zu ihrem Körper. Sie nutzt ihn – wenn überhaupt – als Gebrauchsgegenstand; insgesamt erscheint er ihr jedoch als überflüssiges »Anhängsel« (AUS 23). Aus dem zuvor Beschriebenen geht hervor, dass Anna ihren Körper lediglich als »Quelle von Schmerz und Ohnmachtsgefühlen« (Strobel 1998: 92) wahrnehmen kann. Damit erklärt sich für Strobel auch die zögerliche körperliche Entwicklung: »Nur unzulänglich können demnach beide [Anna und Rainer, Anm. JS] ein realistisches Selbstbild und ein positives Körperbild ausbilden: ›Sie entwickeln sich körperlich nur schwer und zögernd.‹« (Strobel 1998: 93).114 Strobel führt überzeugend aus, dass Anna sich aus diesem Grund »in imaginäre Bilder ihrer eigenen Grandiosität und Vollkommenheit [flüchtet], um ihr Selbstwertgefühl aufrechtzuerhalten« (Strobel 1998: 92). Zu ihrem Körper fehlt ihr der entsprechende positive Zugang, um darüber identitätsstiftende Attribute zu akquirieren. c. Sexualität In Zusammenhang mit ihrer Sexualität scheinen auch Annas Sprachstörungen zu stehen. Denn erstmals trat ihre Sprachlosigkeit auf, nachdem sich viele Mütter beim Klassenvorstand beschwert hatten, dass Anna »die kindlichen Seelen diverser Mitschüler vergiftet«, indem sie »schweinische […] Witze […]« (AUS 24) erzähle. Seitdem setzt sie das Sprechen offenbar mit einer »verpönten sexuellen Triebregung« (Janz 1995: 42) gleich, die es zu unterdrücken gilt, und 114 Dies kann in Annas Fall allerdings auch konkret mit der Essstörung zusammenhängen, da körperliche Entwicklungen hierdurch tatsächlich verzögert werden können.

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Analyse

lebt ihre Sexualität nur noch in funktionalisierter Form aus.115 Diese Funktionalisierung ihrer Sexualität, die mit ihrem funktionalisierten Verhältnis zu ihrem Körper einhergeht, wird im Folgenden am Beispiel der sexuellen Interaktion mit ihrem Mitschüler Gerhard Schwaiger belegt. Darüber hinaus soll ihr Verhalten bzw. ihre Rolle bei den Raubüberfällen ergänzend als Beleg für das genannte Verhältnis dienen. Anna sitzt im Unterricht und ist desinteressiert am behandelten Stoff, weshalb sie die Person, die sich eine Nadel unter den Fingernagel stößt, mit einer sexuellen Interaktion auf dem Bubenklosett belohnen möchte (vgl. AUS 55). Sexuelle Handlungen werden also aus Langeweile bzw. Desinteresse am Unterricht vollzogen, nicht aus Lust, Liebe oder Triebbefriedigung. Doch abseits dessen liegt in ihrem sexuellen Verhalten der Beweis einer aktiven, initiativen und autonomen Sexualität. Auch Strobel betont, dass Anna »gegen diesen Rollenaspekt sexueller Passivität« rebelliert und daher versucht, »jene kulturell der männlichen Geschlechtsrolle zugeschriebenen, ›aktiven‹ Komponenten in ihre Sexualität zu integrieren« (Strobel 1998: 126). Das Ausleben der Sexualität wird folglich für andere Zwecke jenseits der sexuellen Befriedigung funktionalisiert. Die Leichtfertigkeit, mit der Anna auf diese sexuelle Interaktion aktiv zusteuert, zeugt zudem davon, dass dies nicht das einzige Mal ist, dass sie solche Situationen forciert, was den Verdacht auf Promiskuität bestärkt. Ihr Mitschüler Gerhard Schwaiger ist es nun, der sich die Nadel unter den Fingernagel rammt, und Anna geht tatsächlich mit ihm auf die Toilette. Sie ekelt sich vor Gerhard, möchte den Sexualakt dann aber dennoch vollziehen: »Versprochen ist versprochen« (AUS 57). Anna ist sehr bestimmt und gibt Gerhard Anweisungen, was ebenfalls auf diesbezügliche Routine hinweist. Indem sie ihn beschimpft, setzt sie ihn deutlich herab. Sie erscheint emotional unterkühlt und unberührt. Gerhard dagegen beteuert seine Liebe zu ihr und möchte nun eine Beziehung mit ihr eingehen. Anna dagegen wehrt seine Bitten um Liebe und Zuneigung ab und muss sogar ihren Brechreiz unterdrücken (vgl. AUS 58f.). Neben Annas Demonstration der sexuellen Selbstbestimmung und Autonomie, welche sie mit ihrem funktionalisierten Körper realisieren kann, findet auch ein Rollentausch der traditionellen Geschlechterrollen statt. Während Anna ihn verbal erniedrigt, sich distanziert und aktiv präsentiert, ist es Gerhard, der mit dem Geschlechtsakt liebevolle Emotionen verbindet. Anna nimmt eine männlich konnotierte Rolle ein, während Gerhard den weiblich konnotierten Part übernimmt. Anna funktionalisiert ihre Sexualität darüber hinaus, um im Sinne des Existentialismus etwas Sinnloses zu tun. Denn eine Bedeutung im Sinne einer sexuellen Befriedigung hat dieser Akt für Anna keineswegs. 115 Ihr sexuelles Verhältnis zu Hans, welches sich anders zu gestalten scheint, wird im Abschnitt »Anna und die Liebe« separat betrachtet.

Die Ausgesperrten

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Ähnlich zeigt sich ihr funktionalisiertes Verhältnis zu ihrer Sexualität und ihrem Körper, wenn Anna letzteren nutzt, um die Opfer der Raubüberfälle in die Falle zu locken. In einer Szene in der Straßenbahn (vgl. AUS 71ff.) verhält es sich zunächst so, dass Anna von einem Bankangestellten als verfügbares Objekt angesehen wird; er berührt sie ungefragt an Po und Brust. Doch Anna dreht diese Situation zu ihrem Vorteil: Sie scheint sich von ihrem Körper zu distanzieren und gedanklich auf Überfall ›umzuschalten‹. Ihr Körper dient nunmehr lediglich der Ablenkung des Mannes, damit Rainer ihm die Brieftasche stehlen kann. Beim nächsten Überfall (vgl. AUS 208ff.) erklärt sie sich schon im Vorhinein bereit, »als ewig lockendes Weib zu fungieren« (AUS 208), was hier bedeutet, ein verfügbares Objekt zu mimen, um auf ein Opfer zu treffen. Sie stellt sich in einem Kostüm vor eine Bar und wartet auf potentiell Auszuraubende. Einem Linzer Kleideragenten nähert sie sich schließlich an und gibt sich als naives junges Mädchen, das Angst hat, so spät noch nach Hause zu gehen. Anna lässt sich auch hier auf körperliche Nähe ein, die der Agent von ihr beansprucht. Sie fordert sogar selbst Küsse von ihm ein, um ihn dabei in ein Haustor drängen zu können, damit sie beim folgenden Raub unbeobachtet sind. Schließlich gibt sie Rainer, Hans und Sophie ein Zeichen, damit diese den Überfall einleiten. Anna hat keine Hemmungen, ihren Körper zu instrumentalisieren und die ohnehin vorherrschenden Geschlechterverhältnisse für ihre Zwecke zu gebrauchen. Sie kennt die patriarchalen Anforderungen an Frauen und weiß, wie sie sich hier einfügen muss, damit Männer sich überlegen fühlen und Vertrauen fassen. Anna setzt stereotype Weiblichkeit bewusst ein und nutzt ihren Körper dafür pragmatisch und funktional. Sie entwickelt jedoch dabei weder einen Bezug zu Weiblichkeit noch zu ihrem Körper. Sie ist nicht auf die Unversehrtheit ihres Körpers bedacht, sondern setzt ihn ein, indem sie die stereotypen Bilder der Männer bedient, die diese von Frauen haben. Es geht ihr auch bei diesen sexuellen Handlungen nicht um sexuelle Befriedigung, sondern lediglich um die Erreichung ihres Ziels. Mit dieser Funktionalisierung spaltet Anna einerseits ihren Körper von ihren Emotionen, von ihrem Geist und damit von sich ab. Dabei trennt sie sich gleichzeitig auch von potentiell in ihrem Körper vorhandener Weiblichkeit. Andererseits eignet sie sich mit der Funktionalisierung ihres Körpers und ihrer Sexualität gleichzeitig eine sexuelle Selbstbestimmung an, welche in ihrem Fall mit Autonomie einhergeht: Denn sie ist nicht auf sexuelle Befriedigung bedacht und somit auch nicht von einem Gegenüber abhängig. Die resultierende Autonomie wiederum ist stark mit Männlichkeit assoziiert, wodurch die Figur vermännlicht wird. Gerade auch vor dem Hintergrund, dass Anna in der zweiten geschilderten Szene zur Eroberin wird, was eigentlich Männern vorbehalten ist, rückt dieses Verhalten Anna in die Nähe des Männlichen.

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Analyse

Es wurde deutlich, dass Anna bemüht ist, sich jeglicher Weiblichkeit zu entledigen, was sie durch Kleidung, aber auch durch eine ausgeprägte Essstörung umzusetzen versucht. Die Ablehnung der Weiblichkeit ist in erster Linie das Ergebnis der Verweigerung, eine untergeordnete Rolle in der Gesellschaft, die ihr von ihrer Mutter als Negativ-Beispiel vorgelebt wird, einzunehmen. Daraus resultiert ein funktionales Verhältnis zu ihrem Körper und zu ihrer Sexualität. Mittels der Beschreibungen durch Hans und anderen kann die Figur vor allem im Kontrast zu Sophie, aber auch in der (promisken) Auslebung ihrer Sexualität, mit der klassischen Hure assoziiert werden. Sie setzt Weiblichkeit in Form ihres Körpers und ihrer Sexualität lediglich ein, wenn sie hieraus einen angemessenen Nutzen ziehen kann. Wenn sie die Demonstration ihrer Autonomie oder die Akkumulation ökonomischen Kapitals bzw. die parallele Erniedrigung einer Männlichkeit zum Ziel hat, ist ihr das Ausspielen von Weiblichkeit paradoxerweise ein akzeptables Mittel, um ihrer untergeordneten Position zu entkommen. 3.4

Anna und die Liebe

Bisher erschien Anna als Figur, die sich ihrer Weiblichkeit entledigt und weibliche Attribute negiert. Sie eignet sich dafür männliche Verhaltensweisen und Attribute an und inszeniert sich sogar in sexuellen Interaktionen in einer männlich konnotierten Rolle. Anna übernimmt eine Machtposition, wobei man durchaus von einer phallischen Anmaßung sprechen kann. Ihr Verhältnis zu Hans hat dann allerdings – wie im Folgenden gezeigt wird – massive Auswirkungen auf ihre Geschlechterperformanz. Sie schätzt vor allem seine Andersartigkeit: Sie macht ihn als das ›Andere‹ aus, indem sie betont, dass er Gegenstände anders anfasst (vgl. AUS 84), eine andere Beziehung zu den Gegenständen entwickelt als ihr Bruder oder Sophie (vgl. AUS 64) und dass er »weniger Bücher gelesen hat« als die anderen und »mehr Körper ist« (AUS 117). Sein Körper wird zusätzlich von der Erzählinstanz als das ›Andere‹ ausgemacht, wenn hervorgehoben wird, dass in Annas Umfeld sonst keine Muskeln vorkommen (vgl. AUS 84). Es reizt sie, dass ihm »mit Reden über Literatur […] nicht beizukommen [ist]« (AUS 86). Heidi Strobel behauptet, dass Anna sich zu Hans hingezogen fühlt, weil er all das repräsentiert, was sie für sich selbst möchte (vgl. Strobel 1998: 129): Anna sucht in Hans […] diese ›wilde‹, »gierige« […] Körperlichkeit, aktives Begehren und aggressives Durchsetzungsvermögen zugleich, symbolisiert in der Metapher des ›Wolfes‹, das ihr aufgrund der sozialen Geschlechtszuschreibung als Frau verwehrt bleibt. (ebd.)

Die Ausgesperrten

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Laut Strobel denke Anna, sie könne mit und durch Hans an diesem aktiven Begehren partizipieren (vgl. Strobel 1998: 131). Hierbei ist zwischen aktivem Begehren und aktiver Sexualität zu unterscheiden. Es wurde bereits ausgeführt, dass Anna für sich durchaus einen Weg gefunden hat, sich eine aktive Sexualität anzueignen und auch zu leben, wenngleich es ihr dabei nicht primär um die Befriedigung sexueller Lust geht. Die Partizipation an aktiver Sexualität ist ihr mit einem Hans folglich genauso möglich wie mit einem Gerhard, dies ist somit kein Alleinstellungsmerkmal. Über ein aktives Begehren verfügt Anna jedoch tatsächlich nicht. Sich dieses zusätzlich zur aktiven Sexualität anzueignen, wäre also durchaus eine plausible Motivation für Anna, sich für Hans zu interessieren. Insgesamt ist es einleuchtend, dass Anna sich der von Hans verkörperten Eigenschaften bemächtigen will (vgl. Strobel 1998: 130). Sie möchte seine Eigenschaften besitzen, was ersichtlich wird, wenn Anna Hans als ihr Eigentum beschreibt (vgl. AUS 217), womit sie sich eine seiner Eigenschaften bereits angeeignet hat. Denn auch Hans ist der Meinung, Frauen seinen Besitz nennen zu können (vgl. AUS 117). Darüber hinaus könnte es Anna in Anbetracht ihrer regelmäßigen Sprachlosigkeit vor allem um aggressives Durchsetzungsvermögen gehen, das sie sich aneignen möchte. Das Bedürfnis nach Aneignung von traditionellen Eigenschaften einer Männlichkeit zeugt überdies von Annas Streben nach der Verkörperung einer Männlichkeit bzw. zumindest erneut von dem Verwischen der sozialen Geschlechtsrollen. Strobel führt darüber hinaus als Motivation für Annas Interesse an Hans überzeugend den unbewussten Wunsch auf, sich an der Mutter zu rächen. Schließlich verachte Gretl Hans genauso wie Otto als »unkultivierten Rohling« (Strobel 1998: 129). Es sei »ein Protest gegen deren asketisches Lebensmodell der Disziplin und des Triebverzichts, das sie für die Tochter propagiert« (Strobel 1998: 130).116 Ein weiterer Grund für Anna die Nähe von Hans zu suchen, findet sich darin, dass sie hier dem Druck der Intellektualität entgehen kann. Hans ist nach dem Ausziehen nur Körper und »sonst nichts« (AUS 84), was ein neues Gefühl sei, »nicht wie sonst, wo auch der Geist noch dabei ist und stets unpassend dazwischenfunkt« (ebd.). Annas einzige Möglichkeit vor dem Hintergrund ihrer sozialen Position ist es, sich durch die Demonstration kulturellen Kapitals von anderen abzuheben und so einer untergeordneten Position zu entgehen. Wenn sie mit dem Arbeiter Hans zusammen ist, benötigt sie solch eine Kompensationsstrategie nicht, da Hans ihr bereits klassenbedingt unterlegen ist. Die Strategie scheint jedoch von Anna derart habitualisiert zu sein, dass sie zunächst auch in dem Verhältnis zu Hans noch bestrebt ist, ihm mit »diversen intellek116 Paradoxerweise erfüllt Anna mit der Essstörung, vor allem mit dem Hungern, auf anderer Ebene diese asketischen Erwartungen der Disziplin und des Triebverzichts der Mutter.

214

Analyse

tuellen Leistungen« zu imponieren (ebd.). Auch wenn sie beobachtet, dass Hans Spaß mit Sophie hat, will sie sich vor Hans über das Klavierspielen profilieren (vgl. AUS 95), um sich in sein Blickfeld zu rücken. Erst allmählich möchte sie »ganz Fühlen« (AUS 117) sein und fügt sich in die stereotype weibliche Geschlechterrolle ein, indem sie sich den Normen ihrer Umwelt unterordnet, sich zum Objekt macht und ihren Intellekt ausklammert (vgl. Vis 1998: 376). Sie möchte beim ersten Sexualkontakt mit Hans zwar »auf herb machen, aber doch genügend Weiche zeigen, damit er sich nicht fürchtet« (AUS 84). Anna kennt die Konventionen im patriarchal geprägten Geschlechtersystem genau und kann sich in die für sie vorgesehene Rolle der Frau einfügen. Hierbei fungiert sie als schmeichelnder Spiegel (vgl. Bourdieu 1997: 203), der Hans nicht verschrecken möchte. Sie strahlt eine Herbheit aus, in der sie sich an Jean Seberg orientiert, welche für ihre verführerischen und zugleich burschikosen Rollen bekannt war. Ihr Bedürfnis ist es jedoch eigentlich »sich weich [zu] schmiegen, aber das darf man nie, denn sonst glauben sie gleich, man kann sich bei ihr alles erlauben« (AUS 86). Anna möchte sich folglich gern schwach zeigen und sich fallen lassen, kann dies aber nicht, weil sie sich so in eine untergeordnete Position begeben würde und verfügbar erscheinen würde. Durch die Herbheit und damit assoziierte Härte macht sie sich unangreifbar und eignet sich gleichzeitig ein männlich konnotiertes Attribut an. Anna erscheint hier zerrissen. Sie begeht den schmalen Grat zwischen einer emphasized femininity, die Hans in seiner Männlichkeit bestärkt, und ihrem Selbst, welches über weite Strecken mit einer Männlichkeit assoziiert ist, und welches es gewohnt ist, sich auch im Kontext der Sexualität selbstbestimmt und unabhängig zu präsentieren. Anna möchte die Heterosexualität mit Hans leben, die ihr im traditionellen Geschlechterarrangement aber unweigerlich eine untergeordnete Rolle zuweist, und gleichzeitig eine Position innehaben, die mit Macht assoziiert ist. So ist sie einerseits bemüht, ihre Zuneigung zu Hans zu verbergen und übt sich in Gleichgültigkeit (vgl. AUS 93). Andererseits nimmt sie immer mehr die Rolle eines schmeichelnden Spiegels an und unterwirft sich Hans. Sie verhält sich passiv, wirkt verunsichert und möchte es ihm recht machen (vgl. AUS 113, 119, 255). Veronika Vis ist der Auffassung, dass Anna sich diesem übermächtigen Bild von Sexualität unterwirft, obwohl es nicht ihrer wirklichen Verfassung entspricht (vgl. Vis 1998: 377). Denn wie beschrieben ist es Annas eigentliches Ziel, ihre aktive Sexualität mit aktivem Begehren zu verbinden und damit eine Machtposition zu erreichen. Begleitet ist ihre Zerrissenheit weiterhin von dem Bedürfnis, sich von anderen abzuheben. Sie will eine Perversion leben, »weil eine Perversion gut ist und nicht das, was alle machen« (AUS 89). Dabei stößt sie schnell an ihre Grenzen, denn im sexuellen Kontakt ist sie ganz ohne ihren Intellekt schnell »wie eine Million andere auch« (ebd.). Es quält sie, dass ihre Individualität damit verloren geht

Die Ausgesperrten

215

und so erinnert sie Hans bei einer späteren sexuellen Interaktion daran, dass er »nicht sehr bald eine Frau finden wird, die theoretisch so viel weiß wie sie« (AUS 119). Sie hebt sich hier nun doch wieder über ihre Intellektualität von der Masse ab. Am Ende scheint sie ihren Intellekt allerdings endgültig aufgegeben zu haben und sich ganz der körperlichen Leidenschaft und Passivität hingegeben zu haben. Sie fühlt sich durch Hans befriedigt (vgl. AUS 166) und heult beim Geschlechtsverkehr wie ein Wolf, was sie triebhaft wirken lässt (vgl. AUS 165). Die Metapher des Wolfes wird nun auch für Anna verwendet, was dafür spricht, dass Anna sich tatsächlich die Eigenschaften von Hans angeeignet hat; die Triebhaftigkeit suggeriert eine Lust, ein Begehren, das vorher nicht da war. Auch Rainer zeigt sich von Annas Wendung überrascht: »Ist das noch meine Schwester, die ich wie meine Westentasche kenne, die solche Laute von sich gibt?« (AUS 161). Schließlich steht sie weinend vor Hans und bittet ihn um eine Beziehung (vgl. AUS 258). Nichts zeugt mehr von ihrer Selbstbestimmung und Herbheit, die ihr die phallische Anmaßung ermöglichte. Anna scheint gescheitert zu sein an dem Versuch, eine hybride Form der Geschlechtlichkeit zu leben. Als sie sich auf Hans und damit auf eine heterosexuelle Beziehung in einem binären Geschlechtersystem eingelassen hat, dauert es nicht lange, bis sie ihre Widerstände und damit ihr subversives Potential aufgibt und sich ganz der Rolle einer emphasized femininity hingibt. Der Preis für das aktive Begehren bestand in Annas Reise »von der Verweigerung in die Akzeptanz des Körperlichen« (Vis 1998: 377). Mit der Akzeptanz des Körperlichen erlangt sie zwar die Möglichkeit, aktiv begehren zu können, allerdings nimmt sie damit vollständig die Rolle einer emphasized femininity ein und die Subversion, soziale Geschlechtsrollen zu verwischen, erlischt. Es erscheint im zweigeschlechtlichen, heterosexuellen Kontext der Handlung schlicht unmöglich zu sein, aktives Begehren mit einer subversiv umgedeuteten Geschlechterperformanz zu verknüpfen. Die Verfügung über aktives Begehren, welches Frauen eigentlich vorenthalten ist, ermöglicht ihr allerdings paradoxerweise keine Teilhabe an männlichen Privilegien. Die Performanz einer männlichen Geschlechtsrolle wird ihr vielmehr verunmöglicht, sodass ihr nur die traditionelle weibliche Geschlechtsrolle und damit die Passivität bleiben. Anna gibt ihren Anspruch auf eine Machtposition zugunsten eines aktiven Begehrens letztlich zumindest im Geschlechterverhältnis auf; ursprünglich war die Bemächtigung des aktiven Begehrens allerdings an das Ziel geknüpft, genau eine solche Machtposition zu erreichen. Im Kontext der sozialen Position im Klassengefüge hat sie sich mit Hans jedoch immerhin eine Arbeitermännlichkeit gesucht, über die sie sich mühelos erhaben fühlen kann. Heidi Strobel hält fest, dass Anna letztlich als »Reinszenierung der mütterlichen Existenz« endet (Strobel 1998: 132). Die Hoffnungen auf Emanzipation

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Analyse

und Selbstverwirklichung scheinen begraben zu sein, sie möchte Hans jetzt helfen, sich fortzubilden (vgl. Strobel 1998: 132; Lorenz 1990: 115). Sie verschreibt sich und ihr Leben damit – ebenso wie ihre Mutter zuvor – ihrem Geliebten.

3.5

Die gebrochene phallische Frau – Ein Resümee

Angela McRobbie beschreibt in ihrem Werk Top Girls – Feminismus und der Aufstieg des neoliberalen Geschlechterregimes die phallische Frau. Sie ist dadurch kennzeichnet, dass sie »sich einen männlichen Habitus zulegt, […] exzessiv trinkt, pöbelt, raucht, sich prügelt, unverbindlichen Sex hat« (McRobbie 2010: 122). Wie in der Analyse deutlich wurde, scheint dieser Typus exakt die Figur zu beschreiben, die Anna im Roman verkörpert. Wenn McRobbie schreibt, dass diese Frauen heute in diesem Verhalten »ermutigt und beglückwünscht« (McRobbie 2010: 122) werden, so trifft dies nicht auf Anna zu, welche sich bereits in den späten 1950er Jahren so verhält. Sie ist permanent mit dem Vorwurf der Unweiblichkeit konfrontiert (vgl. u. a. AUS 10). McRobbie geht davon aus, dass das Verhalten einer phallischen Frau heute der Restabilisierung des Patriarchats dient. In Annas Verhalten ist allerdings eine tatsächliche phallische Anmaßung zu erkennen, die zu dieser Zeit das Potential hatte, eine »radikale Neuordnung der Geschlechterhierarchie« (McRobbie 2010: 122) zu bewirken. Anna negiert ihre Weiblichkeit auf multiplen Wegen und eignet sich parallel dazu eine Männlichkeit an, die an zahlreichen sozialen Interaktionen belegt werden konnte. Der Weiblichkeit hingegen bedient sie sich lediglich, wenn sie dies für ihre Zwecke als nützlich erachtet. Das Potential der Figur hinsichtlich der Subversion der Geschlechterverhältnisse, das als klare Kritik am bestehenden System gelesen werden sollte, scheint somit außer Frage zu stehen. Als sie jedoch mit Hans eine sexuelle Beziehung eingeht, erfolgt ein eklatanter Bruch der Figur hinsichtlich ihrer Geschlechterperformanz. Die Wirkungslosigkeit der Reaktionen auf Annas große Wut warf bereits den Gedanken auf, dass Anna aufgrund ihrer weiblichen Sozialisation über keinerlei gesellschaftliche Macht verfügt. Sie ist nur in Ausnahmesituationen – wie den illegalen Überfällen – in der Lage, sich auf körperlicher Ebene von dieser Sozialisation loszusagen, welche ihr Zurückhaltung und Schüchternheit lehrte. Als Anna dann mit Hans intim wird, ist es zunehmend die traditionelle Rolle der Frau, die Anna einnimmt. Im ursprünglichen Bestreben, durch die Aneignung eines aktiven Begehrens eine Machtposition zu verfestigen, muss sie erkennen, dass dies für sie als weiblich Sozialisierte nicht möglich ist. Das eigentlich Männern vorbehaltene aktive Begehren zwingt Anna durch ihre Aneignung dessen paradoxerweise in eine weiblich konnotierte Rolle.

Die Ausgesperrten

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Sie wird zur emphasized femininity, unterwirft sich Hans, gibt sich passiv, während sie gleichzeitig als schmeichelnder Spiegel für ihn fungiert. Anna scheint zerrissen zu sein. Sie ist einerseits bestrebt, sich ihre Autonomie und Dominanz zu bewahren und die Weiblichkeit, die ihr anhaftet, zu negieren. Auf der anderen Seite wirkt sie schwach und ergibt sich den gesellschaftlichen Widerständen, die sich gegen ihre Geschlechterperformanz erheben. Sie gibt ihren Anspruch auf eine Machtposition im Geschlechterverhältnis auf. Dies kann sie jedoch nur, weil sie in dem Verhältnis zu Hans hinsichtlich der Klassenlage weiterhin eine Machtposition innehat. Denn um eines geht es Anna zweifelsfrei: Macht und Dominanz. Anna scheitert an den Anforderungen des Patriarchats sowohl an Männlichkeit als auch an Weiblichkeit, da sie versucht, eine hybride Form der Geschlechterperformanz zu leben. Hybridität ist im rigiden, binär organisierten Geschlechtersystem allerdings nicht vorgesehen und somit erlebt Anna ihre Performanz als dauerhaftes Defizit. Sie negiert Weiblichkeit und entledigt sich dieser, wo sie nur kann. Dennoch möchte sie im Kontext der heterosexuellen Matrix eine Beziehung mit Hans eingehen. Die gesellschaftlichen Konventionen scheinen jedoch so tief in ihr verankert, dass sie nicht umhin kann, als im Ausleben dieser Beziehung auf eine traditionelle Weiblichkeit zurückzugreifen – sie wird zur emphasized femininity. Hinsichtlich ihrer Männlichkeitsperformanz ist Anna äußerst facettenreich: Sie propagiert promiskes Verhalten, besteht auf ihre sexuelle Autonomie, dominiert andere, suggeriert Emotionslosigkeit, wendet sich voll und ganz ihrem Geist zu, gibt sich ihrem Umfeld gegenüber paternalistisch und neigt unter bestimmten Umständen zu exzessiver körperlicher Gewalt. Durch ihr Bedürfnis nach einer Beziehung zu Hans scheitert sie in ihrer Männlichkeitsperformanz letzten Endes an den an sie gestellten Erwartungen im Rahmen der Zwangsheterosexualität und kann ihre Männlichkeit nicht mit einer Beziehung zu Hans in Einklang bringen. Auch wenn Anna dem Druck des Patriarchats am Ende unterliegt, zeigt die Performanz der Figur dennoch eine Möglichkeit auf abseits der rigiden Anforderungen im Kontext der Zweigeschlechtlichkeit. Damit birgt sie großes subversives Potential.

218 4.

Analyse

Rainer Maria Witkowski – »Tragödie des intellektuellen Kleinbürgers«117 »ein Angeber, der mehr scheinen will als er ist«

Benannt nach Rainer Maria Rilke scheint ihm mit der Namensgebung bereits der Weg gewiesen worden zu sein, denn heute meint Rainer, er sei ein Poet. Außerdem ist auch er großer Verfechter der existentialistischen Lektüre von de Sade und Camus. Er ist der Sohn von Otto und Margarethe Witkowski und Zwillingsbruder von Anna. Rainer wird als das Hirn der Bande bezeichnet (vgl. AUS 11); er meint, die Jugend-Bande anzuführen. Er ist außerdem fest davon überzeugt, dass die bürgerliche Sophie und er füreinander bestimmt sind. Rainer wird als Kleinbürger beschrieben, ist aber faktisch mittlerweile der Arbeiterklasse zuzuordnen, da sein Vater und damit die Familie mit dem Kriegsende ihre privilegierte soziale Position eingebüßt haben (vgl. Sonnleitner 2008: 86). Er ist stets bemüht, sich durch seinen Intellekt hervorzuheben und seinen vermeintlichen ökonomischen Wohlstand zu betonen. Obwohl er vorgibt, keine Auseinandersetzungen mit anderen nötig zu haben, ist er realiter aufgrund seiner Position und den daraus resultierenden erlebten Defiziten unausweichlich permanent mit der Behauptung einer übergeordneten Position befasst. Hierfür begibt er sich allerdings nicht in traditionelle männlich konnotierte Auseinandersetzungen, wie im Abschnitt Kompositionsglieder der Jelinek’schen Patriarchatskritik noch deutlich werden wird. Mit Hans steht er dennoch in direkter Konkurrenz, wenn Sophie beginnt, sich für Hans’ Männlichkeit zu interessieren. Rainer merkt, dass nicht er, sondern die herrschende Klasse darüber entscheidet, welche Geschmäcker eine Validität besitzen und damit zum Ideal avancieren. Im Folgenden wird daher Rainers Betonung seiner Intellektualität bzw. sein Klassenkampf beleuchtet sowie seine Erprobung von traditioneller Männlichkeit und sein Verhältnis zur Weiblichkeit analysiert. Darüber hinaus ist besonders bei der Figur Rainer auffällig, dass sie auf verschiedenen Ebenen verspottet wird. Daher wird hierauf ebenfalls ein Fokus liegen. Im abschließenden Resümee wird letztlich zusammengefasst, ob und inwiefern Rainers Männlichkeitsperformanz an den Anforderungen des Patriarchats scheitert und was hierbei ausschlaggebende Momente sind.

117 Jelinek über Rainer Witkowski im Tip-Interview mit Thomas Honickel (Honickel 1983: 160).

Die Ausgesperrten

4.1

219

Klassenkampf

Wie bereits angedeutet wurde, ist Rainer kein realer Teil des Kleinbürgertums mehr. Seine finanziellen Mittel bewegen sich am absoluten Minimum, was an zahlreichen Stellen des Romans deutlich wird. Wie er dennoch versucht, die Armut zu verschleiern, wird im Folgenden aufgezeigt. Letztlich bleibt ihm als verlässliches Mittel zur Distinktion nur die Akkumulation kulturellen Kapitals, wobei er sich sehr ehrgeizig zeigt. a. Rainers ökonomisches Kapital Lediglich von seiner Großmutter und seiner Tante bekommt er gelegentlich Geld für das Ministrieren (vgl. AUS 179). Seine restlichen Einkünfte scheint er aus den Raubüberfällen zu beziehen. Er stellt in einer Szene fest, dass kriminelles Verhalten die logische Konsequenz einer unsicheren materiellen Basis sei (vgl. AUS 197). Wenn Rainer auch ständig vorgibt, die Überfälle zu begehen, um etwas vollständig Sinnloses zu tun und dadurch frei zu werden, hat er offenbar erkannt, dass seine eigene materielle Basis instabil ist. Daher ist die Erzeugung dieser Grundlage wohl seine tatsächliche Motivation für die Überfälle. Dies wird auch sichtbar, wenn er unvorsichtig sagt: »Und denkt euch, wieviel Geld wir erbeuteten, was wollen wir denn jetzt tun mit dem vielen Geld, so schöne Dinge kann man dafür einkaufen und dann besitzen« (AUS 218). Rainer benötigt diese finanziellen Mittel als Grundlage für einen tatsächlichen Klassenaufstieg – und sei es nur, um davon Bücher zu kaufen, die sein kulturelles Kapital erhöhen (»Doch vom Geld wird er seinen Teil nehmen, er benötigt ihn zum Bücherkauf« (AUS 106)). Rainer befindet sich in einem Dilemma: Zu seiner Konstruktion eines Intellektuellen gehört es einerseits, die materiellen Dinge als wertlos zu erachten. Er muss, um als authentisches Mitglied der herrschenden Klasse zu gelten, die große Bedeutung der materiellen Ressourcen leugnen, da sie schließlich eh im Überfluss vorhanden wären. Andererseits ist die materielle Basis für seinen Klassenaufstieg obligatorisch, weshalb er sich häufig nicht erwehren kann, seinen Fokus doch auf materielle Güter zu legen. Ihm fehlt die »gewisse Lässigkeit im Umgang mit ökonomischem und anderem Kapital« (Fröhlich / Rehbein 2009: 143), die habituelle Sicherheit, die er bräuchte, um in der herrschenden Klasse ›anzukommen‹. Dieser innere Konflikt bringt Rainer in Rage: Sophie schickt Rainer Schulaufgaben machen, um ihn zu reizen, dann darf er sich überlegen, was er sich mit dem erbeuteten Geld Schönes kaufen wird. Rainer brüllt, das Geld ist ihm scheißegal, so wie Sophie Geld scheißegal ist, er ist genau wie Sophie und empfindet auch genauso. (AUS 198)

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Analyse

Er möchte sich mit der bürgerlichen Sophie auf einer Stufe wissen, was ihm jedoch nicht gelingt. Schließlich kann ihm das Geld nicht »scheißegal« sein, weil er über keines verfügt. Um diesen Mangel zu kompensieren, betont er an verschiedenen Stellen den vermeintlichen Wohlstand der Familie Witkowski. So erzählt er in der Schule »oft die Anekdote, daß sein Vater einen Jaguar E fährt und schon oft ins Ausland geflogen ist« (AUS 152), wahlweise teilt sich in seinen Erzählungen sein Vater auch einen Porsche mit seinem Cousin (vgl. AUS 250), außerdem seien seine Eltern erst vor kurzem in der Karibik gewesen (vgl. AUS 161f.), und seinen Freunden berichtet er schließlich sogar von seinem vermeintlichen Geburtstagsgeschenk zum 18. Geburtstag: »ein Sportauto« und »eine Amerikareise« (AUS 67). Von dem Geld für das Ministrieren will er sich modische Schuhe oder einen Pullover kaufen: »Das ist ihm leider das Wichtigste, diesem veräußerlichten Burschen« (AUS 179), kommentiert die Erzählinstanz. Es geht ihm darum, nach außen sichtbaren Wohlstand auszustrahlen, ähnlich wie sein Vater also eine Illusion zu erzeugen. Gleichzeitig macht Rainer sich immer wieder vor, dass ihm der Luxus nicht wichtig ist, was er auch Sophie mitteilen möchte, damit diese nicht falsch von ihm denkt (vgl. AUS 246). Das Verfügen über materielle Ressourcen suggeriert unterdessen, dass Rainer als Ernährer fungieren kann, was für seine Männlichkeitskonstruktion wichtig zu sein scheint. Denn er erfindet die Geschichte um das Sportauto in dem Moment, in dem Hans sich vor den anderen ausziehen soll. Hans’ sportlicher Körper rückt damit in den Vordergrund und Rainer merkt, dass es nicht (mehr) seine intellektuellen Werte sind, die Sophie beeindrucken. Er versucht daraufhin, seine Männlichkeit begehrenswert zu machen, indem er zunächst den eigentlich von Hans verkörperten Pragmatismus postuliert (»Rainer sagt in den luftleeren Raum hinein, […] daß man handeln muß, handeln, handeln und nochmals handeln« (AUS 67)) und seine nicht vorhandene Sportlichkeit anschließend in das Sportauto projiziert, welches zeitgleich seinen finanziellen Wohlstand suggerieren kann (vgl. ebd.). Es ist ein Balanceakt, den Rainer hier wagt: ausreichend Anekdoten über materielle Güter zu streuen, ohne dabei den Anschein zu erwecken, dass er diesen Gütern irgendeine Relevanz einräumt. So weiß er auch, wie er sich zu verhalten hat, wenn Sophie ihr Portemonnaie vergessen hat: Scheiße, jetzt hab ich mein Portemonnaie vergessen, merkt Sophie. Geh, leihst du mir bis morgen ein Geld, ich hab den Hans eingeladen. Rainer, der weiß, daß er nicht kleinlich sein darf, um dadurch nicht klein zu erscheinen, zahlt es gleich, nicht ohne Hans deutlich zu zeigen, das er es ist, der für ihn zahlt. (AUS 199, H. i. O.)

Er macht hier Hans gegenüber deutlich, dass er Sophies Versorger sein kann, der darüber hinaus sogar noch für Hans bezahlt. Einen anderen Mann für sich

Die Ausgesperrten

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bezahlen zu lassen scheint einer Verweiblichung gleichzukommen – schließlich ist es eigentlich die Frau, die ernährt und versorgt wird, wodurch Rainer sich hier als überlegen erlebt. Wenn Sophie Rainer nach Geld für das Taxi fragt, macht die Erzählinstanz deutlich, wie Rainers Verhältnis zu Geld tatsächlich ist: Leise weinend kramt Rainer in seiner kleiner [sic!] Börse, Sophie kriegt das Geld, das für Rainer ein hoher Betrag ist, den er sicher nie wiedersieht. Für Sophie ist Geld nämlich überhaupt nichts, weil es selbstverständlich vorhanden ist. Während Rainer noch lang seinem schönen Zwanziger nachschaut, auch als er schon längst das Haus verlassen hat. (AUS 44)

Rainer hat also ein großes Bewusstsein für seine soziale Position und weiß genau, worauf es ankommt. Allerdings gelingt ihm der Balanceakt zwischen dem Kampf um Klassenaufstieg und der Suggestion, bereits ein Teil der herrschenden Klasse zu sein, nicht immer. Häufig wirkt er ob seiner defizitären Lage wütend bis verzweifelt, nicht selten lächerlich. Alexandra Heberger sieht in Rainers Verhalten »utopische Identifikationsversuche mit dem Besitzbürgertum« (Heberger 2002: 74), wovon er letztlich ausgeschlossen bleibt (vgl. Heberger 2002: 75). b. Rainers kulturelles Kapital Sein Bedürfnis nach Distinktion, nach Unterscheidung von der Unterschicht, ist unstillbar (vgl. Sonnleitner 2008: 86). So ist es neben seinem Identifikationsversuch mit dem Besitzbürgertum zudem sein höchstes Anliegen, durch die Demonstration seiner Intellektualität bzw. der Akkumulation von kulturellem Kapital eine Machtposition zu suggerieren, mit der er sich erhaben fühlen kann. Hierdurch soll sein empfundenes Defizit, welches er aufgrund seiner tatsächlichen Klassenlage verspürt, nivelliert werden. Sonnleitner bringt es auf diese konzise Formel: Das fehlende reale Kapital, das der Vater als SS-Offizier zu verteidigen hatte und noch immer verteidigt, wird kompensiert durch das symbolische Kapital, durch das Sozialprestige der Bildung, das Rainer nun dem philosophischen und literarischen Wissen zuordnet. (Sonnleitner 2008: 86)

Daher wird Rainer nicht müde, seinen Mitmenschen zu erzählen, wie gebildet er ist. Er möchte Hans »alles erklären, bis er nur mehr ein willenloses Werkzeug geworden ist« (AUS 20) und somit nur noch unter Rainers Einfluss steht. Deshalb soll Hans sich auch nicht mit anderen Menschen der Arbeiterklasse umgeben, weil dieser Kontakt das Potential für eine Solidarität hätte (vgl. AUS 53), die Rainer als selbst ernannten »Anführer« (ebd.) einschränken würde. Rainer geht wohl aufgrund von Hans’ Klassenzugehörigkeit von fehlender Bildung und damit potentiell einhergehender Manipulierbarkeit aus.

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Analyse

Doch auch Sophie will er in einem Moment nicht gehen lassen, weil sonst niemand da ist, »dem […] [er] alles erklären kann« (AUS 12); die bürgerliche Sophie entzieht sich dieser Situation allerdings sofort. Sie macht sich sogar regelmäßig lustig über Rainer, indem sie den höheren Wert von ökonomischem im Vergleich zu kulturellem Kapital betont. Sie unterstellt ihm, dass auch er lieber über ökonomisches Kapital verfügen und sich darüber abheben würde (vgl. AUS 63, 128). Da sie über ausreichend finanzielle Mittel verfügt und gleichzeitig Rainers Kapitalform abwertet, demonstriert sie ihre Machtposition. Denn schließlich würde sie ihn als Teil der dominanten Fraktion des Bürgertums weiterhin beherrschen, selbst wenn ihm der Aufstieg über kulturelles Kapital gelingen würde. Hieran wird auch deutlich, dass Rainers Umfeld durchaus bewusst ist, dass er den materiellen Wohlstand nur suggeriert und hierüber nicht tatsächlich verfügt. Dies lässt die Figur in ihrem Streben, Teil des Besitzbürgertums zu sein, zusätzlich lächerlich erscheinen. Rainer fürchtet sich vor der Mittelmäßigkeit (vgl. AUS 102f.). Daher ist es sein höchstes Ziel, sich als Individuum von der Masse abzuheben und zu einer Art Elite zu gehören: dem Bürgertum, letztlich wenigstens dem Bildungsbürgertum. Aus diesem Grund hat er, wie seine Schwester auch, Strategien entwickelt, welche ihm diese Abgrenzung nach unten ermöglichen: Er wertet seine Werte und Ressourcen auf und die der anderen ab. Da diese Strategien bereits ausführlich durch die Analyse von verschiedenen Szenen (im Schwimmbad, bei der Tanzeinladung) im Abschnitt zur Figur Anna dargestellt wurden, sollen hier nur zwei weitere kurze Beispiele der Veranschaulichung dienen. Als die vier Freunde unterwegs sind, um Sophies Mutprobe für die Zugehörigkeit zur Bande zu absolvieren, sind die »Zwillinge […] nicht so ganz in ihrem Element« (AUS 95). Die Natur ist angesichts der Tatsache, dass die beiden überall Künstlichkeit verbreiten wollen (vgl. AUS 94), nichts für sie. Die Bewegung an der frischen Luft strengt sie an, ihre »Lungen rasseln« (AUS 95). Rainer reagiert hierauf nicht etwa mit Flucht aus der Situation, sondern profiliert sich über seinen Intellekt sowie über übermäßigen Alkohol- und Nikotinkonsum: »Zuviel Alkohol, zuviel Zigaretten, prahlt Rainer und will über Camus debattieren, um sich ins rechte Licht zu setzen« (ebd.). Neben seiner Profilierung über seinen Intellekt ist es hier auch die Demonstration von Risikoverhalten, welches aus dem Konsum von körperschädigenden Stoffen abzuleiten ist, worüber er in diesem Fall vor allem in Konkurrenz zu Hans’ Männlichkeit treten möchte. Zusätzlich wird Rainers Lächerlichkeit durch die Bemerkung unterstrichen, dass die bürgerliche Sophie, die aufgrund ihrer tatsächlichen Zugehörigkeit zur herrschenden Klasse keinerlei Abgrenzungsmechanismen benötigt, sich statt ins »rechte« lieber ins »echte Licht« (ebd.) setzen möchte, um sich zu bräunen. Mit ihrer Sorglosigkeit wird die Kluft zwischen den Klassen noch deutlicher.

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In einem Gedicht über die herrschende Klasse verachtet Rainer »alle fetten Leute, angepatzt mit dicken Ringen, die nichts als Geldverdienen im Sinn haben« (AUS 107). Hier wird eine stereotypisierte dominante Fraktion der herrschenden Klasse beschrieben, von der Rainer sich durch die Abwertung einer Fokussierung auf Akkumulation ökonomischen Kapitals distanziert. Dies tut er, um seine Dissonanzen zu reduzieren. Denn wie oben bereits deutlich wurde, ist ihm die Bedeutung von Geld im Kontext seines angestrebten Klassenaufstiegs durchaus bewusst. Die große Relevanz der Intellektualität für Rainers Klassenkampf wird besonders plakativ sichtbar, wenn er in Sophies Garten sitzt und ihm ein Wort nicht einfällt. Er schlägt daraufhin mehrfach »wild« gegen einen Baum (vgl. AUS 121). Zum einen stellt er sich damit gegen die Natur, der er im übertragenden Sinne seine wenig privilegierte Stellung zu verdanken hat. Zum anderen spricht aus seiner körperlich gewalttätigen Reaktion aber auch die Angst davor, dass ihm die einzige Ressource, welche ihm den Klassenaufstieg ermöglichen kann, abhandenkommt. Die gewalttätige Reaktion ermöglicht ihm hierbei durch die männlich-dominante Konnotation immerhin das Suggerieren einer machtvollen Position. Insgesamt geht es Rainer um die Einnahme einer Machtposition. Die Ausübung wirklicher Macht sieht er vornehmlich im Kontext der Klassenlage als realisierbar an. Er geht von der Überwindbarkeit der Klassengrenzen aus und ist daher bestrebt, ein Teil der herrschenden Klasse zu werden. Aufgrund seiner sozialen Herkunft ist er hier jedoch mit zahlreichen Hindernissen konfrontiert. Er kennt die Anforderungen der Gesellschaft an die Zugehörigkeit zur herrschenden Klasse und verspürt daher zahlreiche Defizite. Er entwickelt schließlich Strategien zur Reduzierung dieser defizitären Wahrnehmung von sich und seiner Stellung im gesellschaftlichen Machtgefüge. Einerseits suggeriert er den familiären Wohlstand zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit, andererseits akkumuliert er kulturelles Kapital und hebt dieses permanent in seinem sozialen Umfeld hervor. Dies soll ihn zum Intellektuellen und damit zu einem Teil der herrschenden Klasse machen. Nach Marlies Janz geht es Rainer genauso wie Anna darum, Herrschaftswissen zu akkumulieren, nicht um bloße (Weiter-)Bildung also, sondern um den sozialen Aufstieg um jeden Preis (vgl. Janz 1995: 44). Sofern ihm Werte und Ressourcen der anderen hinsichtlich seiner angestrebten Position gefährlich erscheinen, wertet er diese als nicht erstrebenswert oder minderwertig ab. Doch auch die Verfügung über viel kulturelles Kapital reicht nicht zum Klassenaufstieg, wie die Erzählinstanz deutlich macht: eine echte Teilhabe an Kunst und Kultur sei erst möglich, wenn man sich diese Sachen in Form von Kunstgegenständen »irgendwie angeeignet« (AUS 45) hat. Das

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Analyse

heißt, auch hier ist die Verfügung über ökonomisches Kapital nötig, um objektiviertes Kulturkapital zu akkumulieren. Erst dann ist es möglich, Teil der herrschenden Klasse zu sein. Rainer erscheint somit in aussichtsloser Lage, weshalb er seine Hoffnung in eine Beziehung zu Sophie setzt, um den gesellschaftlichen Aufstieg zu erreichen (vgl. Strobel 1998: 103). Wenn Rainer merkt, dass seine Kompensationsstrategien ihm gerade nicht den gewünschten Erfolg bescheren, um sich in eine Machtposition zu imaginieren, dann greift er auch auf Attribute einer traditionellen Männlichkeit zurück, um wenigstens in irgendeiner Form Macht auszuüben. Er inszeniert sich dann als Ernährer, prahlt mit seinem Risikoverhalten oder übt körperliche Gewalt aus. Marlies Janz beschreibt ihn als »Repräsentant[en] des Kleinbürgertums«, der sich mit dem Bürgertum identifiziert (vgl. Janz 1995: 42). Rainer beansprucht mit allen Mitteln eine Machtposition, die er schlicht nicht innehat und die er aufgrund seiner sozialen Position auch nicht einzunehmen vermag. Durch seine verzweifelten Reaktionen auf dieses Unvermögen wirkt die Figur – auch auf die anderen Figuren – meist lächerlich, fast bemitleidenswert. 4.2

Abwendung von Körperlichkeit und Sexualität

Rainers Verhältnis zu seinem Körper und seiner Sexualität ist das Resultat eines komplexen Konglomerats aus seiner Prägung durch die Beziehung seiner Eltern, seiner Intellektualität, seinem Bedürfnis nach Liebe und Nähe und seinem Wunsch danach, Teil der herrschenden Klasse zu sein. Rainer trägt eine »schöne moderne Plexiglassonnenbrille in Karofasson und hat sich die Haare weit ins Gesicht gekämmt. Es stellt den Cäsarenhaarschnitt dar, er schaut aber nicht aus wie aus dem alten Rom, sondern wie aus dem neuen Wien« (AUS 108). Außerdem möchte er sich von dem Geld seiner Großmutter und seiner Tante einen Pullover oder modische Schuhe kaufen (vgl. AUS 179). Rainer macht sich äußerlich auf eine Weise zurecht, die mit der Verkörperung von Wohlstand assoziiert werden kann. Daraus ist abzuleiten, dass er auch in seiner äußeren Erscheinung darauf bedacht ist, den Anschein der Zugehörigkeit zur herrschenden Klasse zu erwecken. Das muss er wohl auch; denn Rainer spiegele »in seiner körperlichen Kümmerlichkeit drastisch seine sozialen Verhältnisse und den gesellschaftlichen Stellenwert seiner Schicht« (Stangel 1988: 139). Somit ist er gezwungen, über Kleidung und Körperpflege einen gehobenen Status zu suggerieren. a. Liebe und Nähe Sein Wunsch danach zur herrschenden Klasse zu gehören, ist eng verzahnt mit seinem Bedürfnis nach Liebe und Nähe. Es ist auffällig, dass Rainer sich aus-

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gerechnet in die bürgerliche Sophie verliebt. Denn diese bietet ihm Möglichkeiten, in die herrschende Klasse aufzusteigen (vgl. Lorenz 1990: 113f.). Die Motivation wäre hier eine ähnliche wie bei Hans, wenngleich sie konkreter geschildert wird, wenn in Erwägung gezogen wird, dass er sich mit Sophie Kunstgegenstände – objektiviertes Kulturkapital also – aneignen könnte, die tatsächlich einen Klassenaufstieg versprechen (vgl. AUS 45). Vor diesem Hintergrund würde es sich nicht um aufrichtige Liebe handeln, sondern wäre eine Strategie, die Rainers Berechnungen zum Klassenaufstieg folgt. Trotz seiner wahrscheinlichen Absichten betont er die Reinheit seiner Liebe zu Sophie (vgl. AUS 127). Als er ihr dann körperlich näher kommen möchte, merkt er, dass er nasse Füße bekommt (vgl. ebd.). Die nassen Füße stellen eine Wortwörtlichmachung dar : Die Erzählinstanz verweist auf seine mehrfach geflickten Schuhe – ein Hinweis auf die Relevanz seiner Klassenzugehörigkeit auch in der Liebe. Die kaputten Schuhe lenken seine Gedanken schließlich von der Sexualität mit Sophie ab. Generell ist Rainer hinsichtlich seiner körperlichen Anziehung zu Sophie und damit zur Sexualität per se hin und her gerissen. Er liebt Sophie nicht nur, weil sie ihm den Klassenaufstieg verspricht, sondern auch weil sie sich von anderen Frauen dahingehend unterscheidet, dass sie endgültig unkörperlich geworden ist (vgl. Mahler-Bungers 1988: 121). Rainer weist einerseits »den Gedanken an einen geschlechtlichen Akt […] weit von sich fort« (AUS 156), andererseits onaniert er nachts im Dunkeln, um »eine Spannung abzuführen« (AUS 164), was im Zusammenhang mit der beschriebenen Widerwilligkeit dieses Aktes eine Triebhaftigkeit vermittelt, die im Kontext von Rainers Intellektualität widersprüchlich anmutet. Dem sexuellen Trieb wird hier eine Macht zugeschrieben, derer auch Rainer nicht ›Herr‹ werden kann. Trotz der generellen Ablehnung des sexuellen Aktes möchte er mit Sophie schlafen; hierbei soll jedoch alles »ganz anders« ablaufen als beim Geschlechtsverkehr seiner Eltern (vgl. AUS 148). Rainer distanziert sich ausdrücklich von den sexuellen Praktiken seines Vaters, die er als gewaltvoll und erniedrigend für seine Mutter wahrnimmt. b. Rainers Verhältnis zu seinen Eltern Sowohl die Beziehung der Eltern zueinander, in erster Linie die sexuell übergriffigen und erniedrigenden Handlungsweisen seines Vaters der Mutter gegenüber, als auch die Beziehung seines Vaters zu ihm sind die Hauptursachen für Rainers komplexes Verhältnis zu seiner eigenen Sexualität und Körperlichkeit. Die regelmäßigen Schläge seines Vaters haben Rainer dazu veranlasst, sich von seinem Körper abzuspalten: »Das Kind rudert dann hilflos in der Luft herum, doch der Kindesinhalt erhebt sich aus dem Körper und begibt sich ein Stück höher hinauf […]« (AUS 34). Um die körperliche und psychische Gewalt durch seinen Vater ertragen zu können, trennt Rainer Körper und Geist von-

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Analyse

einander. Er will nur Geistmensch sein, ein »intellektueller Dichterfürst«, der über allem Körperlichen steht (vgl. Vis 1998: 370). In seiner Kindheit musste er häufig dabei zusehen, wie sein Vater seine Mutter schlug (vgl. AUS 32) und auch aus dem Schlafzimmer hören Rainer und Anna Hilferufe, die auf sexualisierte Gewalt hindeuten (vgl. AUS 38). Für Rainer ergibt sich daraus die Ablehnung seiner Geschlechtlichkeit. Er leugnet, einen Penis zu haben, da sein Vater einen besitzt (vgl. AUS 180).118 Er lehnt eine Identifikation mit seinem Vater so sehr ab (vgl. Vis 1998: 369; Strobel 1998: 95), dass es ihn dazu veranlasst, das Symbol seiner Männlichkeit – zwar »kümmerlich ausgefallen« (AUS 154), aber faktisch vorhanden – zu verneinen. Er ignoriert die geschlechtliche Konnotation seines Körpers, wenn er sich verbietet in nacktem Zustand an sich herunterzuschauen. Parallel dazu intellektualisiert er seine Körperlichkeit und enthebt sie damit jeglicher sexueller Konnotation: »[A]lles, was man tut, geschieht zur Ehre eines höheren Wesens« (AUS 181). Rainers Berührungspunkte mit sexuellen Interaktionen beschränken sich auf die seiner Eltern; er kennt sie dementsprechend nur als gewaltvoll und erniedrigend für die Frau. Die Prägung durch das Verhalten seines Vater ist enorm: »Rainer glaubt, daß es einer Degradierung der Frau gleichkommt, wenn sie Körperliches über sich ergehen lassen muss« (AUS 38). Das bringt ihn dazu, neben seinem auch den Körper und damit auch die Geschlechtlichkeit von Frauen generell zu leugnen. Er stilisiert seine Mutter als Heilige und beschreibt sie als »körperlos wie der liebe Gott« (AUS 181). Auch Sophie idealisiert er als »körperloses Wesen«, »ein[en] Engel« (AUS 216); ihre ›Unkörperlichkeit‹ ist schließlich auch ein Grund für seine Liebe zu ihr (vgl. Mahler-Bungers 1988: 121). Darüber hinaus nimmt er den Frauen auf seinen Pin-Up-Fotos den Körper, indem er sie abschneidet und nur ihre Köpfe aufhängt (vgl. AUS 156, 181). Wenn Marlies Janz schreibt, dass Rainer hiermit seine Verklemmungen ausagiert (vgl. Janz 1995: 42), greift das sehr kurz. In der empfundenen Machtlosigkeit seinem Vater gegenüber scheint ihm die Negierung des eigenen und des weiblichen Körpers vielmehr der einzige Weg zu sein, sich selbst vor der Identifikation mit einem Täter – seinem Vater – zu bewahren, und die Frauen vor Erniedrigung zu schützen. c. Nahrungsaufnahme und Erbrechen Rainer lehnt auch andere Attribute wie betonte Fitness, körperliche Stärke oder herzhafte Nahrung ab, die als stereotyp männliche auszumachen sind. Die Nahrungsaufnahme Rainers soll hier näher veranschaulicht werden. Veronika Vis hat sich ausführlich dem Verhältnis der vier Jugendlichen zum Essen ge118 »Mittlerweile weiß Rainer, daß es den Schwanz gar nicht gibt, weil der Vater einen hat, und was es nicht gibt, das kann auch die Mutter daheim nicht verunehren« (AUS 180).

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widmet. Sie ist der Auffassung, dass mit Rainers Verweigerung der »herzhaften Kost« gleichzeitig die Identifikation mit dem männlichen Prinzip verweigert wird (vgl. Vis 1998: 372): »Manchmal ißt Rainer nur Suppe und verweigert feste Kost, obwohl Männer sonst herzhafte Kost lieben« (AUS 38). Rainer wird hier durch die Erzählinstanz als untypische Männlichkeit markiert bzw. als deutliche Abweichung von ›vollwertigen‹ Männern dargestellt. Die Körperlichkeit gehe im Text übergangslos in die Schilderung der Nahrungsverweigerung über (vgl. ebd.), wodurch sich Körperlichkeit bzw. Sexualität und Nahrungsaufnahme in einem direkten Zusammenhang präsentieren (vgl. Vis 1998: 372). Für Rainer ist beides mit einem Ekel verbunden, was sich nicht selten in Brechreiz äußert (vgl. Vis 1998: 372f.). Er erbricht tatsächlich, nachdem er Anna und Hans beim Geschlechtsverkehr belauscht hat: »Obwohl vielleicht Anna schwanger geworden ist, ist es Rainer, der erbrechen muß, eine biologische Merkwürdigkeit ersten Ranges« (AUS 167). Es wirkt so, als würde Rainer stellvertretend für Anna die von ihm erwarteten Konsequenzen des Sexualaktes tragen; er geht dabei offenbar von einer Erniedrigung und Schmerzen für die Frau aus, weil ihm die Alternativen zum Sexualleben seiner Eltern fehlen. Er erfährt Sexualität durch seine Eltern als etwas körperlich Abstoßendes und für die Frau Erniedrigendes (vgl. Vis 1998: 380); daher reagiert er mit Übelkeit. Rainer ist so angewidert von heterosexueller Interaktion, so wie er sie in der Familie kennenlernte, dass er seine Geschlechtsmerkmale, welche indirekt auf Sexualität sowie auf seinen Vater verweisen, leugnet und auch auf andere Attribute einer traditionellen Männlichkeit verzichtet. Es wird deutlich, dass Rainer seiner (männlich konnotierten) körperlichen Konstitution als Mittel der Machtausübung den Rücken kehrt. Da Rainer seinen Körper insgesamt negiert, ist er auch nicht bestrebt, hierüber eine Machtposition herzustellen. Mit dieser Ablehnung seines Körpers wird auch die exzessive Hinwendung zur Intellektualität als männlichkeitsgenerierendes Moment plausibel. Da ihm – wie auch seiner Schwester – der Körper nur als Quelle von Schmerz und Ohnmachtsgefühlen wahrnehmbar ist, flüchtet er sich in die Welt von seiner »eigenen Grandiosität und Vollkommenheit, um […] [sein] Selbstwertgefühl aufrechtzuerhalten« (Strobel 1998: 92). Er bemüht sich primär über den Klassenkampf um die Besetzung einer Machtposition, nicht jedoch über die Demonstration körperlicher Überlegenheit oder sexueller Potenz. Heberger hält fest: Herrschaft und Gewalt werden zum Symbol für Männlichkeit, und phallokratische Obszönität wird zum Sinnbild pornographischer Sprache. Dekonstruiert wird dieser Mythos durch die Figur Rainers, der den Koitus als männliches Konzept ablehnt, leugnet und negiert. (Heberger 2002: 100)

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Rainer stellt somit ein extremes Gegenbild zu den patriarchal geprägten Machtverhältnissen dar. Die Figur beeindruckt, indem sie die Abwertung von Weiblichkeit explizit nicht als männlichkeitsstiftend instrumentalisiert. Im Gegenteil fasst Rainer den »Begriff vom Verhältnis der Geschlechter zueinander vollkommen anders als sein Vater« (Strobel 1998: 107). Rainer scheint fast feministische Züge aufzuweisen, da ihn die (sexuelle) Erniedrigung der Frau wortwörtlich zum »[E]rbrechen« bringt (AUS 167). 4.3

Exploration traditioneller Attribute

Da Rainer seinen Vater als sadistisch-destruktiv und damit als bedrohlich erfährt, kann er diesen, so Strobel, nicht als Vorbild wählen und so auch keine geschlechtliche Identität finden (vgl. Strobel 1998: 100). Er lehnt die Attribute betonte Körperlichkeit, Stärke und Potenz, über die sein Vater sich hervortut, vehement ab (vgl. Vis 1998: 370), weshalb er seinen Körper nur in Ausnahmefällen einsetzt, um eine Machtposition einzunehmen bzw. dieselbe zu behaupten. Daher eignet er sich die führende bzw. herrschende Position in seinem Umfeld in der Regel über die Demonstration seiner intellektuellen Überlegenheit an. Aufgrund seiner tatsächlich minderprivilegierten sozialen Position und seines Mangels an Ressourcen bedient er sich dazu häufig der Abwertung anderer Güter und Werte. Statt zu werden wie sein Vater möchte Rainer ein Geistmensch werden (vgl. ebd.). Er eignet sich somit Macht an, nicht indem er die körperliche Auseinandersetzung sucht, sondern indem er finanziellen Wohlstand suggeriert und nicht müde wird, seine Intellektualität zu betonen. Durch die Abwendung vom Körper konstituiert sich seine Männlichkeit anders als beispielsweise die von Hans. Rainers Suche nach einer geschlechtlichen Identität, die ihm durch die Unmöglichkeit der Identifikation mit seinem Vater deutlich erschwert ist, lassen ihn verschiedene Attribute von Männlichkeit ausprobieren. Sophies Zuneigung zu Hans bestärkt die Exploration gerade der traditionellen Attribute. Im Folgenden sollen daher vier Attribute einer traditionellen Männlichkeit, die Rainer für sich exploriert, veranschaulicht werden: Das Risikoverhalten, die Triebhaftigkeit, die Emotionslosigkeit und zuletzt die ernsten Spiele des Wettbewerbs bzw. die Konkurrenz zu Hans. Rainer suggeriert an verschiedenen Stellen der Handlung ein Risikoverhalten, wenn er betont, dass er viel trinkt und raucht (vgl. AUS 95) oder Auto ohne Führerschein fährt (vgl. AUS 139), was in »Tod oder Verletzung oder Bestrafung von Rainer« (ebd.) münden könnte. Rainer gerät jedoch schnell an die Grenzen dieser Facette von Männlichkeit, wenn Sophie ihn bittet, mit ihm die Bombe in der Schule zu zünden. Rainer rechtfertigt sich hier lange, warum er das nicht

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machen kann und erklärt, welche Gefahren er hierbei eingehen würde (vgl. AUS 238f.). Er kämpft damit, dass Sophie ihn für feige hält, was ihm ein weiteres Attribut von traditioneller Männlichkeit abspricht – den Mut. Er wird hier in direkte Konkurrenz zu Hans gesetzt, indem Sophie meint, dass Hans sicher mutig genug ist, die Bombe zu zünden. Rainer bedient sich zur Kompensation seines Defizits nun wieder des Intellekts und unterstellt Hans, sofern er sich auf die Sache einlässt, Dummheit statt Mut. Die Komponente der Triebhaftigkeit und der sexuellen Kompetenz nutzt er auf sehr spezifische Weise, um darüber Männlichkeit herzustellen. Niemand außer seiner Schwester darf wissen, dass er noch keinerlei Erfahrungen im sexuellen Kontext gesammelt hat. So lauscht er dem Sex von Hans und Anna, um eventuell etwas lernen zu können, was er dann bei Sophie anwenden kann. So könnte er eine souveräne, potente und erfahrene Männlichkeit inszenieren. Da er bereits jetzt vortäuscht, Erfahrungen gesammelt zu haben (vgl. AUS 147, 240f.), nutzt er die sexuelle Kompetenz und Erfahrung zur Konstitution seiner Männlichkeit. Sogar die Triebhaftigkeit, die – berücksichtigt man, dass er seinen Fokus auf den Intellekt und damit auf den Mann als Vernunftwesen legt – eigentlich allen Aspekten seiner Männlichkeitskonstruktion widerspricht, versucht er sich an einer Stelle als männlich konnotiertes Attribut anzueignen, um eine Männlichkeit zu verkörpern, die Sophie begehrt.119 Er sagt zu Sophie: Du sollst lieber das fremde und unbekannte Tier in mir zähmen. Jetzt würde ich noch einen Geschlechtsakt vollführen, doch dieser degradiert die Frau. Aus diesem Grund benötige ich solche Zähmung. (AUS 254)

Er – ausgestattet mit einem egalitären Anspruch an die Geschlechterverhältnisse – fordert Sophie hier auf, ihn seiner Triebhaftigkeit zu entledigen, womit er deren Existenz überhaupt nur beanspruchen und so für seine Männlichkeitskonstruktion nutzen kann. Indem er Sophie ganz reflektiert darum bittet, ihm etwas Tierisches zu nehmen, was Frauen erniedrigt und über das auch Hans und sein Vater verfügen, kann er sich unterdessen auch über Hans erheben und von seinem Vater distanzieren, da diese die Gleichheit der Geschlechter keineswegs postulieren. Bezüglich der Triebhaftigkeit geht Rainer also einen klugen Weg, indem er sich dieser zwar bemächtigt und somit Männlichkeit aneignet, dieses Attribut allerdings als keineswegs erstrebenwert evaluiert und sich dann mit dem Wunsch der Befreiung hiervon sogar noch über andere Männlichkeiten erheben kann. Hinsichtlich der sexuellen Kompetenz insgesamt scheitert Rainer jedoch in der Austestung alternativer männlicher Attribute. Denn er traut sich nicht, 119 Rainer geht davon aus, dass Sophie eine triebhafte Männlichkeit bevorzugt, weil sie sich zu Hans hingezogen fühlt.

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Sophie nach einem Kuss zu fragen (vgl. AUS 156). Er ist nicht der Eroberer, der aber für die männlich Sozialisierten als gesellschaftliche Norm gesetzt ist (vgl. Strobel 1998: 106). Dementsprechend grenzen auch seine Mitschüler_innen ihn aus. Die Identität, die er für sich gewählt hat, wird weder von seinen Altersgenoss_innen noch von seinem Vater bestätigt.120 Dieser will ihn durch eine Art Initiationsritual in die »soziale Gemeinschaft ›der Männer‹ vom Schlage eines Witkowski« aufnehmen (vgl. Strobel 1998: 109), als er mit ihm in das Ausflugslokal nach Zwettl fährt. Doch Rainer lässt sich auf dieses Männerbündnis, welches von Triebhaftigkeit, Potenzdemonstrationen und Abwertung von Weiblichkeit geprägt ist, nicht ein; eine »Männlichkeit in dieser Form anzuerkennen, ist ihm unmöglich« (ebd.). Einhergehend mit der viel betonten Intellektualität ist es auch die Emotionslosigkeit, die Rainer bei der Konstruktion seiner Männlichkeit erprobt. So übt er vorm Spiegel einen besonders emotionslosen Gesichtsausdruck, damit Gemütsveränderungen äußerlich unerkennbar werden (vgl. AUS 161). Rainer möchte sich hiermit eine Außenwirkung aneignen, die ihn unnahbar, gleichgültig und damit unverletzlich erscheinen lässt. Denn solch eine Gleichgültigkeit (»er ist ja deswegen so stark, weil ihn nichts kümmert« (ebd.)) suggeriert eine starke, privilegierte Position, ähnlich wie dies schon hinsichtlich des Balanceaktes der finanziellen Mittel deutlich wurde: Wen Geld nicht kümmert, der muss zwangsläufig darüber verfügen. Wen gar nichts kümmert, der ist über alles erhaben, der ist unantastbar und muss daher zwangsläufig herrschend sein. Absolute Abgeklärtheit und Emotionslosigkeit sind traditionell männlich konnotierte Attribute, die er sich problemlos aneignen und damit Überlegenheit vermitteln kann. Diese Erprobung eines traditionellen Attributes von Männlichkeit kann für Rainer jedoch nur solange erfolgreich sein, wie er sich vom Dichten abwendet, da Emotionalität hierfür besonders relevant ist (vgl. AUS 60). Rainers Männlichkeitskonstruktion zeichnet sich besonders durch sein spezifisches Verhältnis zu den ernsten Spielen des Wettbewerbs aus. Die Äußerung der Erzählinstanz, dass Rainer keine Freunde hat121 und auch keinen Wert auf Kameradschaft legt (vgl. AUS 38), spricht eher dagegen, dass er an den ernsten Spielen des Wettbewerbs überhaupt teilnimmt. Dennoch deuten seine permanenten Versuche, Hans unterzuordnen, durchaus darauf hin, dass Rainer 120 Strobel zitiert diesbezüglich Cornelia Helfferich, welche auf Krappmann Bezug nehmend herausstellt, dass die Jugendlichen bei identitären Aushandlungsprozessen aufeinander angewiesen sind: »Beide haben jeweils eine gewisse Macht, dem Anderen die gewünschte Identität zu bestätigen oder sie zurückzuweisen; beide sind jeweils auf den Anderen angewiesen, was die Bestätigung der eigenen Identität angeht« (Helfferich 1994: 79 zit. n. Strobel 1998: 106). 121 Zu seiner Schwester Anna, Hans und Sophie unterhält er jedoch durchaus etwas, was man als Freundschaft bezeichnen kann.

Die Ausgesperrten

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an homosozialen Hierarchieaushandlungsprozessen interessiert ist. Allerdings handelt Rainer eine Hierarchie lediglich über Intellektuelles aus. Auf körperlicher Ebene steht er hierfür nur in absoluten Ausnahmefällen zur Verfügung, wohl wissend, dass er hier nur verlieren kann. Er neigt eher dazu, nicht in direkte Auseinandersetzungen zu gehen, sondern pauschal seine intellektuelle Überlegenheit zu postulieren und parallel dazu die Relevanz der körperlichen Konstitution zu negieren. Es geht ihm zuvorderst um die Demonstration seiner intellektuellen bzw. klassenmäßigen Überlegenheit. Rainer stellt Macht weder im Kontext von Körperlichkeit noch im heterosozialen Kontext von männlicher Überlegenheitsdemonstration her, sondern versucht, seine Machtposition eher über die Klassenlage zu erreichen, weshalb er sich in einem kontinuierlichen Klassenkampf befindet. Dementsprechend ist es die Intellektualität, die Rainer nutzt, um sich nach unten von Hans abzugrenzen. Rainers Bedürfnis mit Hans eine homosoziale Hierarchie auszuhandeln, ist vor allem vor dem Hintergrund seiner Bildungsbeflissenheit interessant. Denn Rainer ist Hans bildungsmäßig weit überlegen, weshalb er Hans gar nicht als ernstzunehmende Konkurrenz wahrnehmen dürfte. Es ist davon auszugehen, dass seine große Angst vor dem endgültigen Klassenabstieg und Sophies Interesse an Hans ihn dazu zwingen, sich solchen Aushandlungsprozessen dennoch zu stellen. Auch die Erzählinstanz gibt einen Hinweis, warum es gerade Hans ist, mit dem Rainer sich in diese Prozesse begibt: Aber in den Jazzkellern sind diese Bürger zweiter Klasse und mit nur wenig Aussichten immer die einzigen, die Rainer zuhören, wenn er einen langen Vortrag hält, sei es über Gott, sei es über die moderne Jazzmusik und deren Aufbau. (AUS 200)

Hans, den Rainer ebenfalls im Jazzkeller kennenlernte, ist somit einer der wenigen, denen gegenüber Rainer sich hinsichtlich seiner Intellektualität überhaupt profilieren kann. Er wird nicht müde hervorzuheben, dass Hans Rainer zuhören soll, wenn er bildungsmäßig vorwärts kommen möchte (vgl. AUS 68). Er definiert sich über Camus’ Helden in Der Fremde und grenzt sich dabei deutlich von Hans ab: Hans müsse noch alles wichtig finden, um eine Basis zu schaffen. Rainer hingegen sei bereits so weit, dass ihn nichts mehr scheren muss (vgl. AUS 116). Sogar wenn explizit Hans’ Qualitäten als Schläger gelobt werden, versucht Rainer, sich mit der Intellektualität über das Körperliche zu erheben und damit auf das hingewiesene Defizit zu reagieren: »Rainer sagt, daß ein Intellektueller in einem neuen schwarzen Rollkragenpulli nicht so fest schlagen muß, weil er anderes und Qualitätvolleres zu bieten hat« (AUS 219). Der paradoxe Einsatz des Körpers Die körperliche Auseinandersetzung ist, wie bereits erwähnt, für Rainer eher untypisch. Durch das große Interesse Sophies an Hans und dessen Körper sieht

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Rainer sich allerdings an einigen wenigen Stellen gezwungen, sich dennoch auf dieser Ebene mit Hans zu messen. So übt er an einzelnen Stellen körperliche Gewalt aus oder droht diese an und eignet sich somit zumindest temporär dieses männlich konnotierte Attribut an. Die erste Herausforderung von Hans zum Kräftemessen tut Rainer noch ab und blickt nur angeekelt (vgl. AUS 64). Eine Kontrastrelation wird hergestellt, indem Rainer hierbei als »Gymnasiast mit dem Hühnerarm« (ebd.) bezeichnet wird. Rainers Bildung und kraftloser Körper werden neben Hans, den »Depp[en]«, und sein »stundenlang[es]« Training (ebd.) gestellt, was Rainers Intellekt als Ressource unterstreicht und seine körperliche Konstitution abwertet. Später im Jazzkeller sieht Rainer seine Führungsposition unmittelbar bedroht, was ihn dazu verleitet, Hans einen Klarinettenkasten auf den Kopf zu schlagen (vgl. AUS 111). In der Furcht um seine vermeintliche Machtposition wendet er direkte körperliche Gewalt an. Hieran zeigt sich, dass auch Rainer in der ultima ratio der körperlichen Gewaltanwendung offenbar eine Alternative zur Demonstration seiner Intellektualität findet, die er nutzen kann, um seine Position zu behaupten. Ebenso droht er Hans mit körperlicher Gewalt, wenn dieser von seinen Plänen einer gebildeteren Zukunft berichten möchte (vgl. AUS 113). Rainer hat Angst um seine Position, die Hans ihm streitig machte, wenn er neben den idealen körperlichen Bedingungen auch noch die geistigen Anforderungen an eine hegemoniale Männlichkeit erfüllen würde. Zuletzt reißt Rainer Hans Sophie aus den Armen und droht ihm, ihm »in die Eier« (AUS 253) zu treten, wobei mit den »Eiern« symbolisch auch die gesamte Männlichkeit von Hans bedroht wird. Hans nimmt dies wiederum nicht ernst und provoziert ihn; ein Lehrer schreitet schließlich schlichtend ein. Rainer ist eifersüchtig; er muss fürchten, dass Hans ihm den Weg in die herrschende Klasse verstellt – denn dieser geht für ihn im einfachsten Fall über Sophie. Es ist also auch hier das Bangen um eine Machtposition, das Rainer veranlasst, trotz der Negierung seines Körpers körperliche Gewalt auszuüben bzw. anzudrohen. Sophies Interesse an Hans verunsichert Rainer in seiner Männlichkeitsperformanz. Er merkt, dass die männlich konnotierten Attribute, die er für seine geschlechtliche Konstitution wählte, nicht die sind, die Sophie als ideal betrachtet. Er erprobt verschiedene alternative Komponenten einer traditionellen Männlichkeit zum einen, um sich für Sophie attraktiv zu machen und zum anderen, weil er auf der Suche nach einer für ihn lebbaren Männlichkeitsperformanz ist. Er kann hierbei jedoch nicht gut auf seinen Körper als Ressource zurückgreifen; sowohl weil er selbst seinen Körper negiert als auch aufgrund der Tatsache, dass sein Körper in keinerlei Weise einem geltenden Ideal entspricht. Auch auf die Triebhaftigkeit greift er nur mit einem Trick zurück, da er die Degradierung der Frau für die Herstellung seiner Männlichkeit nicht in Kauf nehmen möchte. Hinsichtlich des Risikoverhaltens kommt Rainer schnell an

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seine Grenzen, genauso wie die vorgetäuschte Emotionslosigkeit für ihn nur funktionieren könnte, wenn er sich vom Dichten lossagen würde; denn hierfür benötigt er Gefühle in besonderem Maße (vgl. AUS 60). Er bemüht sich also, sich neue männlich konnotierte Attribute anzueignen, die ihm die Verkörperung einer Form von Männlichkeit ermöglichen sollen, scheitert darin aber – keines davon wirkt authentisch auf die anderen, keines davon kann er sich wirklich stimmig aneignen. Die alternative Männlichkeit, die er verkörpert, wird entgegen seiner Hoffnungen von Sophie genauso wenig begehrt – und sie ist als bürgerliche heterosexuelle Frau ein Indikator für die Ideale und Normen des Patriarchats, welche in der herrschenden Klasse entstehen. Rainer scheitert somit auch mit seiner alternativen Männlichkeitsperformanz an den Anforderungen des Patriarchats. Als enorme Flexibilität hinsichtlich der Geschlechterrollen könnte man es Rainer auslegen, dass er die Anforderungen an seine eigene Geschlechtsrolle nun einfach auf Sophie überträgt. Er kann aufgrund mangelnder finanzieller Mittel keine Familie versorgen und aufgrund der Negierung seiner Sexualität keine Familie gründen (vgl. Strobel 1998: 104). Er wünscht sich nun von Sophie Geborgenheit und materielle Versorgung; sie soll ihn ernähren (vgl. ebd.). Für Rainer funktioniert die Machtaneignung über die Konstruktion einer bestimmten Männlichkeit nicht, weil er seine biologisch determinierte Männlichkeit ablehnt. Auch über den Phallus hinaus bevorzugt Rainer Werte, die nicht in erster Linie Teil einer traditionellen Männlichkeitskonstruktion sind. Die traditionellen Attribute, die er für seine Männlichkeitsperformanz erprobt, erweisen sich für ihn als wenig praktikabel. Die Tatsache, dass Veronika Vis Rainer bei der Identitätssuche mangelnde Alternativen attestiert (vgl. Vis 1998: 370), zeugt von einer eingeschränkten Sichtweise auf die Männlichkeitskonstruktion von Rainer. Denn: Was er darstellt, ist eine alternative Männlichkeitsperformanz, die sich an vielen Stellen außerhalb der geschlechtlichen Konventionen bewegt. So gilt auch seine Demonstration vermeintlichen finanziellen Wohlstands letztlich weniger der Darbietung eines Ernährers, sondern der Vortäuschung, Teil der herrschenden Klasse zu sein. Seine Identitätssuche scheitert also, wie Vis das behauptet (vgl. ebd.), wenn überhaupt nur, weil Rainer an den Anforderungen des Patriarchats scheitert, welches lediglich die traditionelle Männlichkeit als hegemoniale zulässt und eine alternative Geschlechterkonstruktion aus ihrem System ausklammert. Aus diesem Blickwinkel hat die Figur großes Subversionspotential. 4.4

Männer- und Frauenbilder

Obwohl Rainer sich mit Mädchen noch Zeit lassen möchte (vgl. AUS 41), hat er an vielen Stellen eine sehr klare Vorstellung von Frauen. Sein Frauenbild

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Analyse

zeichnet sich im Roman in erster Linie über sein Verhältnis zu Sophie und zu seiner Mutter ab. Insgesamt gibt es nur wenige Aussagen, die Rainer über Frauen trifft, diese sind dann aber sehr reduzierend. Aus einigen Äußerungen Rainers wird zusätzlich deutlich, wie er Frauen auch im Verhältnis zu Männern verortet. Oben wurde bereits Rainers egalitärer Anspruch an die Geschlechterverhältnisse erwähnt, welches an dieser Stelle der Arbeit noch eingehender beleuchtet wird. Es wird dabei ein Bruch sichtbar zwischen Rainers Bild von Frauen, seiner Vorstellung von der geschlechtlichen Rollenverteilung und seiner fast emanzipatorischen Auffassung der Geschlechterverhältnisse. Rainers Frauenbild besteht aus sehr pauschalisierenden und objektivierenden Meinungen über Frauen: »Eine Frau will immer etwas in sich hineinhaben, oder sie gebiert ein Kind, das aus ihr herauskommt. Das ist das Bild von der Frau für Rainer« (AUS 31). Die Frau wird hier auf ihre Reproduktionsfähigkeit und ihre passive Sexualität beschränkt. Sie scheint über die Reproduktion hinaus keine Handlungsmöglichkeiten zu haben. Rainer geht damit davon aus, dass Frauen über keinerlei Autonomie verfügen. Außerdem vertritt er die recht gängige Ansicht, dass Frauen mit zunehmendem Alter »welk[en]« (ebd.), während Männer mit zunehmendem Alter »fesch« (ebd.) bleiben.122 Frauen verlieren somit mit ihrer Reproduktionsfähigkeit im Alter auch ihre Attraktivität, sie sind nicht mehr begehrenswert. Sich für Männer attraktiv und begehrenswert zu inszenieren, scheint jedoch die Hauptaufgabe für Frauen zu sein. Sie sollen Männern zur Verfügung stehen, dementsprechend sieht auch Rainer Sophie als seinen Besitz an (vgl. AUS 154). Er, als »Führer«, will auch sie in Zukunft führen (vgl. AUS 129), woraus ganz unverhohlen Rainers Frauenbild als passive, handlungsunfähige Person spricht; Frauen sind für ihn »passive Dulderinnen« (Vis 1998: 373). Andererseits ist er der Ansicht, dass lediglich Anna und Sophie ihn intellektuell verstehen können (vgl. AUS 121). Er stellt den »diskursiven gemeinsamen Austausch mit Sophie heraus, in dem er sie als Subjekt ernstnimmt« (Strobel 1998: 108). Das widerspricht der objektivierten Darstellung von Frauen, die sonst in Rainers Schilderungen überwiegen. Rainer kennt die gängigen Konventionen für die Verkörperung einer Frau oder eines Mannes. Daran orientiert er sich sodann, wenn er sich Lügen über seine sexuelle Biografie ausdenkt. Er inszeniert sich als Frauenheld123, welcher verschiedene »Mädeln« hatte, »die leider zu früh von Rainer verlassen werden mußten« (AUS 147). Er ist hierbei der aktive Part, der Frauen verlässt, er ist autonom. Dagegen sind Frauen auch in dem Feld der Sexualität die passiven Verlassenen, die nicht in der Lage sind, ihr Leben und ihre Sexualität aktiv in die 122 Er bezieht sich hierbei auf seine Eltern. 123 Später beschreibt er sich auch als Herzensbrecher, dem man nicht widerstehen könne (vgl. AUS 240f.).

Die Ausgesperrten

235

Hand zu nehmen.124 Schließlich gründe ihre Existenz nur darauf, Männern zur Verfügung zu stehen, damit diese sich darüber profilieren können. So sieht Rainer auch Sophie als eine Art Trophäe an, wenn er sich demonstrativ auf ihren Bauch legt, um ihre Freunde neidisch zu machen (vgl. AUS 128). Es geht ihm dabei nicht in erster Linie um die Nähe zu Sophie, sondern um deren Instrumentalisierung. Er kann Sophie benutzen, um damit bestimmte Zwecke, nämlich die Überlegenheit über andere bürgerliche Jugendliche, zu erfüllen. Mit Rainers klassischem Frauenbild geht auch der Anspruch an eine klassische Rollenverteilung einher. Er berichtet Sophie gleich zu Beginn der Handlung: »er ist das Raubtier und sie die Beute des Raubtiers« (AUS 22). Rainer wäre demzufolge der Jäger bzw. Eroberer, während Sophie die Passive, zu Erobernde ist. Ihre Aufgabe ist es somit zu warten, dass sie gefangen wird, während Rainer autonom und selbstbestimmt auf die Jagd geht. Es ist der »Mann« in ihm, der ihm sagt, er muss Sophie bekommen (vgl. AUS 60). Das Erobern einer Frau ist ihm als Teil der gesellschaftlichen Anforderungen an eine Männlichkeitskonstruktion durchaus bekannt, er kann das sowohl bei seinem Vater als auch bei seinen Mitschüler_innen beobachten. An seiner Aussage wird deutlich, dass auch Rainer die fest in der Gesellschaft sanktionierten traditionellen Anforderungen und Zwänge an die Geschlechter deutlich spürt und davon beeinflusst ist. Schließlich bemüht er sich, sich durch Selbstbezeichnungen wie »Raubtier« an diesen Konventionen zu orientieren und sie in seine Performanz mit einzubauen. Doch er ist dabei hin und her gerissen. Denn der »Künstler« in ihm rät ihm dagegen, er solle der »einsame Wolf, der du bist« bleiben (ebd.). Sein Geist bzw. sein Intellekt ist es also, der ihn vom Erobern abhält und ihn eher als Einsamen stilisiert. Er wäre hierbei weiterhin ein Raubtier, allerdings nicht auf der Jagd. Es würde ihm einen Teil einer bedrohlichen und mächtigen Männlichkeitskonstruktion bewahren, jedoch würde er seine heterosexuelle Bezogenheit auf ein Objekt ablegen. Hinsichtlich der traditionellen Rollenverteilung ist darüber hinaus interessant, was bereits oben kurz benannt wurde: Rainer kann die an ihn gestellten Anforderungen der Familiengründung und die Rolle des Ernährers nicht erfüllen. Es wurde durchaus sichtbar, dass ihn dies auch defizitär fühlen lässt. Er ist allerdings in der Lage, sich von den traditionellen Geschlechterrollen zu lösen und diese nach außen zu verlagern, indem er genau diese männlich konnotierten Attribute dann in Sophie sucht. Dass Rainer die heterosexuelle Bezogenheit auf ein Objekt in Form von konkreter körperlich-sexueller Handlung tatsächlich ablehnt, wurde ebenfalls oben bereits erläutert. Hinzu kommt Rainers Ansicht, dass der sexuelle Akt die Frau an sich degradiert (vgl. AUS 38). Die Beziehung seiner Eltern hat ihn in 124 Vgl. zur Leugnung von aktiver weiblicher Sexualität auch Vis 1998: 373f.

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Analyse

dieser Hinsicht stark geprägt. Er kann nicht ertragen, dass eine Frau derart erniedrigt wird, wie seine Mutter täglich durch seinen Vater. Aus diesem Grund wendet er sich auch konsequent gegen seinen Vater, den autoritären Patriarchen, indem er ihm droht, sein Leben zu zerstören und selten mit ihm direkt spricht (vgl. AUS 200, 204 bzw. 183). Er fühlt sich zum Beschützer berufen (vgl. AUS 201), was allerdings der Mutter wieder eine Passivität attestiert. Rainer kann aufgrund mangelnder alternativer Vorbilder nur davon ausgehen, dass Sexualität auf die Weise funktioniert, die seine Eltern ihm vorleben, weshalb er Sexualität in der Regel pauschal negiert. Wenn er doch den Wunsch verspürt, mit Sophie intim zu werden, dann will er dafür sorgen, dass es ganz anders wird. Seine Vorstellungen über Sexualität gehen »vollends in Klischees« (Vis 1998: 377) auf; »[f]ür ihn soll Sexualität, wenn es um ihn selbst geht, etwas Unsagbares, etwas Erhabenes sein« (ebd.). Er stellt sich bei Annäherungsversuchen sehr unbeholfen an und tut übereilt auch Dinge, die Sophie nicht möchte (er beißt ihr recht unvermittelt in die Brustwarze (vgl. AUS 129)). Er ist außerdem fest davon überzeugt, dass er es ist, der sie entjungfern wird (vgl. AUS 123). Hieraus geht wiederum eher ein Bild hervor, was Rainer als aktiven Eroberer ausstellt, während Sophie kein Selbstbestimmungsrecht über ihren Körper zugestanden wird. Ihm von Sophie aufgezeigte Grenzen akzeptiert er allerdings: Sophie sagt, sie müsse sich nun umziehen. »Ich geh mit. Nein das gehst du nicht. Und gleich bleibt er da« (AUS 46). Er nimmt sie als Subjekt ernst (vgl. Strobel 1998: 108) und lässt das Attribut des Eroberers wieder fallen. Nach seinem Annäherungsversuch bei Sophie wird ihm übel: Der Rasen hebt sich Rainer entgegen, es kommt von der Übelkeit, die Übelkeit kommt von seiner Aggression, die Aggression kommt von der Gier auf Sophie, die Gier auf Sophie rührt daher, daß Sophie so ein hübsches Mädchen ist. (AUS 129)

Er kann die Gier auf Sophie nicht verarbeiten, da er die Konsequenz dieser Gier mit Sophies Degradierung gleichsetzt, welcher er in jedem Fall aus dem Wege gehen will. Er reagiert darauf mit einer Übelkeit, die als konkrete körperliche Abwehr der sexuellen Erregung zu deuten ist. Rainers feministische Züge, die aus der Ablehnung der Erniedrigung und Abwertung von Weiblichkeit resultieren, können nach diesem Abschnitt der Analyse nur noch bedingt bestätigt werden. Wenngleich Rainer Sophies Grenzen meistens wahrt, wird er in Sophies Garten zudringlich, indem er ihr das Kleid hochschiebt und in ihre Brustwarze beißt. Nach Heidi Strobel wird er hier mit seinen durchbrechenden Trieben konfrontiert (vgl. Strobel 1998: 105). Kurzzeitig kann er sich diesen nicht erwehren und beißt unvermittelt in die Brustwarze. Bald darauf besinnt er sich jedoch wieder und lebt seine Triebe nicht weiter aus; allein weil er sie mit seinem Vater und der traditionellen männlichen

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Geschlechtsrolle verbindet, die er so sehr ablehnt. Er reagiert mit Aggression und Übelkeit auf seine eigene sexuelle Erregung, weil er damit eine Demütigung von Sophie verbindet, die es zu unterbinden gilt. Es zeichnet sich ab, dass Rainer diesbezüglich hin und her gerissen ist. Er hat den Anspruch an sich, Frauen als gleichwertig zu behandeln und weder seine Männlichkeit über deren Abwertung zu konstituieren noch seine Triebe durch die Objektivierung einer Frau zu befriedigen. Er ist sogar in der Lage, Anforderungen an seine Männlichkeit von sich zu lösen und auf Sophie zu projizieren. Dennoch ist er insgesamt stark geprägt vom eindimensionalen traditionellen Frauenbild und den traditionellen Geschlechterrollen, welche immer wieder in Konflikt mit seinen egalitären Ansprüchen geraten. 4.5

Die Verspottung des Herrn Professor

Um sich über Rainer lustig zu machen, nennen ihn seine Mitschüler_innen »Herr Professor« (AUS 21), weil er beständig dabei ist, anderen Dinge zu erklären, die sie nicht verstehen oder schlicht nicht hören möchten. Hieran wird gut sichtbar, dass Rainers habituelle Unsicherheit zu einem Mangel an Authentizität führt, wodurch Rainer von anderen Figuren nicht ernst genommen wird. Im Folgenden wird herausgearbeitet, wie die Figur darüber hinaus an zahlreichen Stellen verspottet wird. Sophie erhebt sich häufig über Rainer, wenn sie seine Werte und Ressourcen abwertet, indem sie ihm Geldgier unterstellt und sein Interesse an Kultur als bloße Kompensation seines finanziellen Defizits hinstellt (vgl. AUS 63, 128). Wenn Rainer über seinen freien Willen referiert, hebt sie die Lächerlichkeit dessen hervor, indem sie sagt, »daß der Intellektuelle den freien Willen selbst dann noch betont, wenn er nichts mehr zu fressen hat« (AUS 65). Die Relevanz der finanziellen Mittel steht für Sophie außer Frage, während Rainer bemüht ist, die Leugnung des Wertes von Geld als Kompensationsstrategie zu nutzen, um der permanenten Konfrontation mit seinem Defizit zu entgehen. Sophie, die über mehr als genug Geld verfügt, kann das nur lächerlich finden. Auch als Rainer Sophie sein neues Gedicht vorlesen möchte, stellt sie ihn bloß: Sophie: Das ist auch das einzige, wodurch du dich aus der Masse heraushebst. Weil du halt über keine materiellen Mittel verfügst, mit deren Hilfe du dich natürlich viel lieber über die Masse heben würdest. (AUS 63)

Sie durchschaut, dass es gerade das Geld ist, worum es Rainer geht, weshalb sie dies zur Degradierung Rainers immer wieder betont. Er versucht dennoch weiterhin, diese Relevanz für sich zu leugnen: »Rainer : Du kotzt mich heute wirklich an. Was ist schon Geld pfui Teufel« (ebd.). Sophie ist amüsiert davon, dass Rainer sich von ihren Bemerkungen provozieren lässt, so trägt sie ihm

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später auf, er solle sich nach den Hausaufgaben überlegen, was er mit dem erbeuteten Geld anfangen könne (vgl. AUS 198). Schließlich treibt sie es auf die Spitze, wenn sie Rainer um Geld bittet, damit er die Rechnung von Sophie und Hans bezahlt. Rainer hat seine Rolle jedoch bereits wieder gefunden und gibt sich großzügig, um Sophie in ihren Vorwürfen nicht zu bestätigen. Heidi Strobel stellt hierzu heraus, dass Sophie Rainers Omnipotenzphantasien als infantiles Gehabe entlarvt, ihn weder bewundert noch bestätigt (vgl. Strobel 1998: 103) – sie macht ihn lediglich lächerlich. Auch Hans nimmt Rainer häufig nicht ernst. Wenn Rainer meint, er könne Hans Befehle wie das Auflöffeln eines auf den Boden geworfenen Eisbechers erteilen, reagiert Hans nur mit: »Ich werde dir gleich zeigen, wer was auflöffelt« (AUS 197). Hans ist lange nicht die Marionette, die Rainer gern in ihm sehen möchte. Im Gegenteil droht Hans ihm hier implizit mit Gewalt. Hans springt Sophie auch zur Seite, wenn sie sich über Rainer lustig macht. Er scheint zu bemerken, dass Rainer derartige Provokationen reizen und springt auf den Zug mit auf, indem er ständig seine Zustimmung zu Sophies Äußerungen repetiert (»[…] und Hans schließt sich ihr an. Er ist ihrer Meinung. Er sagt, ich bin Sophies Ansicht«; »Hans sagt, er ist Sophies Meinung«; »Hans sagt, er ist derselben Ansicht wie sie. Er unterschreibt das völlig«; »Ich muß da ganz Sophie recht geben, sagt Hans«; »Ich stimme Sophie da völlig zu, sagt Hans«, AUS 198f.). Rainer nimmt Sophie und Hans in dieser Situation »in einer Abart von Einverständnis [wahr], das sich aber auf einer tiefen Ebene abspielt und nicht auf seiner« (ebd.), was ihn zusätzlich provoziert. Als Rainer dann Sophies und Hans’ Rechnung im Lokal begleicht, versucht er sich als Versorger zu profilieren und sich durch Suggerieren der Verfügung über finanzielle Mittel dieser Lächerlichkeit wieder zu entziehen. Allerdings interessiert das weder Sophie noch Hans. In der Darstellung seiner Handlungen durch die Erzählinstanz wird die Persiflage der Figur besonders deutlich. Dies wird hier an einigen Beispielen exemplarisch belegt: Im Abschnitt zum Klassenkampf wurde bereits die Szene zitiert, in der Rainer über Camus debattieren möchte, »um sich ins rechte Licht zu setzen. Sophie will sich ins echte Licht setzen, um zu bräunen« (AUS 95). Alexandra Heberger beobachtet hier sehr aufmerksam: »Wenn Rainer philosophische Ideale zitiert, überführt Jelinek diese häufig […] durch die Figur Sophies in die Realität, um sich darüber lustig zu machen« (Heberger 2002: 76). In einer anderen Szene kommt Rainer in das Caf8, in dem sich Sophie und Hans treffen, und winkt in alle Richtungen, was allerdings niemand erwidert (vgl. AUS 196). Rainer möchte sich hier über seine Popularität in der bürgerlichen Klasse profilieren, was fehlschlägt und damit lächerlich wirkt. Durch die

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Perspektive der Erzählinstanz wird dieser jämmerliche Versuch einer Profilierung erst entlarvt. Als er bei Sophie zu Hause sitzt, wird seine Überlegung geschildert, wie eine Führungsposition eingenommen werden kann. Er kommt zu dem Schluss: Man kann eine Führungsrolle vielleicht bekommen, wenn man Sophie kurz und hart auf den Mund schlägt, sodaß dieser blutet. Nein, das geht nicht, sie öffnet gerade eine Packung Kekse, seine Lieblingssorte mit Schokoladenüberzug. Rainer frißt sich halb blöd. (AUS 62)

Es handelt sich hierbei um eine überspitzte Darstellung von der tatsächlich mangelnden Einsatzbereitschaft Rainers hinsichtlich einer Führungsposition. Die ironische Inszenierung seines Gedankengangs verdeutlicht sehr anschaulich, dass Rainer kein pragmatisch Handelnder ist, der tatsächlich den Aufstieg bewältigen kann, sondern ein Opfer seiner eigenen Gier nach Luxusgütern – in diesem Falle Kekse mit Schokoladenüberzug. Dies wird mit Hans kontrastiert, der Sophie später kurz entschlossen auf den Mund schlägt und sie anschließend sogar küsst (vgl. AUS 97); beides Aktionen, die laut Rainer einen Aufstieg versprechen. Rainers Handlungen dahingehend bleiben jedoch aus. Er scheint nicht in der Lage zu sein, den Weg zum Klassenaufstieg praktisch anzutreten, was durch die Kontrastierung mit der Figur Hans besonders hervorgehoben wird. Auch die exponierte intellektuelle Stellung, mit der er sich den Klassenaufstieg erhofft, wird gleich zu Beginn der Handlung von der Erzählinstanz relativiert: Außer der Literatur, die jeder beherrscht, der reden kann, und nicht einer mehr und der andere weniger, die aber gewisse Leute, die es sich nicht leisten können, mit einer besseren Methode über ihre Umgebung hinauszuwachsen, für sich gepachtet haben, hat sich Rainer leider noch nichts untertan machen können. (AUS 20)

Rainers intellektuelle Kompetenzen erscheinen damit wertlos. Denn sie sind hinsichtlich seines angestrebten Klassenaufstiegs wenig wirksam, da sie ihn laut Erzählinstanz keineswegs von der Masse abheben können. Auch bemerkt die Erzählinstanz, dass es Rainers eigene Idee war, dass er der Anführer der Bande ist (vgl. AUS 53). Sein Anspruch auf eine Führungsrolle ist somit ungebrochen. Die Tatsache jedoch, dass die Erzählinstanz hervorhebt, dass es Rainers eigene Idee war, bestätigt erneut seine mangelnde Authentizität in dieser Hinsicht. Wenngleich er sich durchgehend als Führernatur ausgibt, können die praktischen Handlungen Rainers – exemplarisch hierfür dient der ausbleibende Schlag auf Sophies Mund – dies in der Praxis nicht bestätigen. Es wird deutlich, dass die Figur Rainer sowohl durch die Darstellung als auch durch die Kommentare seitens der Erzählinstanz als auch durch Interaktionen mit anderen Figuren zur Persiflage eines verzweifelt um Aufstieg bemühten Ex-

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Analyse

Kleinbürgers wird. Rainer wird trotz all seiner Bemühungen nicht authentisch für die anderen Figuren; er wirkt lächerlich in seinem verzweifelten Kampf um Anerkennung, Intellektualität und Macht, um eine Führungsrolle und Sophie. Diese findet schließlich sogar : »Langsam degenerierst du graduell, Rainer, aber wirklich« (AUS 252). 4.6

Der frustrierte Ex-Kleinbürger – ein alternativer Geschlechterentwurf ? – Ein Resümee

Im Vorangegangenen wurde ausführlich dargestellt, in welchem Verhältnis Rainer zu seiner Klassenzugehörigkeit, seinem Körper sowie zu seiner Sexualität steht. Außerdem konnte gezeigt werden, wie Rainer verschiedene traditionelle Attribute einer Männlichkeit ausprobiert, welches Frauenbild der Figur zugrunde liegt und wie dieselbe aufgrund mangelnder Authentizität ins Lächerliche gezogen wird. Es geht ihm in erster Linie darum, eine Machtposition einzunehmen und sich damit von der Masse abzuheben. In Anbetracht seiner mangelnden körperlichen Fähigkeiten versucht er, diese Machtposition vor allem über seinen Geist zu realisieren. Seine wichtigste Ressource ist seine Intellektualität, darüber grenzt er sich von Hans und anderen Figuren ab, um sich über sie zu erheben. Dies mündet in sein unbändiges Bestreben nach dem Klassenaufstieg. Hierbei stellte sich heraus, dass Rainers instabile materielle Basis in ein Dilemma führt. Denn um Teil der herrschenden Klasse zu sein, muss er einen ständigen Balanceakt vollführen: Er muss eigene materielle Güter suggerieren, ohne ihnen jedoch eine tatsächliche Relevanz einzuräumen. Er hat ein großes Bewusstsein für sein ökonomisches Defizit, was ihn schließlich auch dazu verleitet, seinen Fokus auf seine intellektuellen Fähigkeiten zu legen. Er wird nicht müde, sich vor den anderen Figuren über seinen Intellekt zu profilieren und deren Werte parallel dazu abzuwerten. Für seine verzweifelten Bemühungen, die Relevanz des Geldes zu leugnen, und die krampfhafte Betonung seiner Intellektualität, wird er sowohl von anderen Figuren als auch von der Erzählinstanz lächerlich gemacht. Sein Wille zum Klassenaufstieg ist trotz der vielen Demütigungen und Frustrationen ungebrochen. Da er seiner körperlichen (männlich konnotierten) Konstitution keine Relevanz als Mittel der Machtherstellung einräumt und er seinen Körper insgesamt negiert, kann er über diesen keine Machtposition herstellen. Daher erscheint die Hinwendung zum Geiste und damit zur Intellektualität hinsichtlich seines Strebens nach Macht plausibel. Er geht damit primär den Weg über den Klassenkampf, nicht über körperliche Überlegenheit oder sexuelle Potenz, wenn er seine Machtposition herstellen möchte. Die Ursachen für seine Abwendung von Körperlichkeit und Sexualität präsentieren sich als sehr komplex. Im Fokus dessen stehen seine Beziehung zu

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seinem Vater und die Beziehung seiner Eltern zueinander. Die Resultate sind die Ablehnung seines Penis sowie anderer männlich konnotierter Attribute, in der Konsequenz sogar die Leugnung seiner körperlichen Geschlechtlichkeit. Er intellektualisiert seine Körperlichkeit und enthebt sie damit ihrer sexuellen Konnotation. Sein Ziel hierbei ist es, nicht Teil der herrschenden Geschlechterverhältnisse zu werden, welche eine Degradierung der Frau zur Folge haben. Diese gilt es für Rainer unbedingt zu vermeiden, da er die Herabsetzung seiner Mutter durch den Vater seit seiner Kindheit als traumatisierend erlebt. Besonders hervorzuheben ist daher, dass die Abwertung von Weiblichkeit für Rainer nicht als männlichkeitsstiftend instrumentalisiert wird. Wenngleich er davon ausgeht, dass Frauen sehr passiv und wenig selbstbestimmt sind, sind deutliche egalitäre Ansprüche an die Geschlechterverhältnisse seitens der Figur zu verzeichnen. Er kann die Vorstellung, eine Frau zu erniedrigen, schlicht nicht ertragen und reagiert mit Übelkeit und Erbrechen. Seine Männlichkeit konstituiert er somit in erster Linie über das Suggerieren von finanziellem Wohlstand und der Betonung seiner Intellektualität. Als er feststellt, dass Sophie Hans zugeneigt ist und seine Abweichung vom ihrem Ideal – welches das gesellschaftlich geltende ist – ihn defizitär empfinden lässt, erprobt Rainer Attribute einer traditionellen Männlichkeit. Dies tut er vor allem, wenn seine übrigen Kompensationsstrategien nicht fruchten. Er stilisiert sich dann als Versorger, gibt erhöhtes Risikoverhalten vor oder wendet körperliche Gewalt an. Doch er wirkt hierbei nicht authentisch, er verfügt über keinerlei habituelle Sicherheit – weder in eher arbeiternahen Verhaltensweisen, wenn er sich im Risikoverhalten oder der Gewaltanwendung an Hans orientiert, noch in bürgerlichen Strategien, wenn er finanziellen Wohlstand behaupten möchte, ohne dabei den realen klassenbedingten Mangel daran zu entlarven. Rainers Fokussierung auf den Klassenkampf resultiert möglicherweise schlicht aus der Tatsache, dass er ob seiner körperlichen Konstitution gar nicht konkurrenzfähig mit anderen Männlichkeiten ist und sich aus diesem Grund auf seinen Intellekt konzentriert. Die Machtaneignung durch die Konstruktion einer Männlichkeit funktioniert jedoch darüber hinaus nicht, weil Rainer seine biologisch determinierte Männlichkeit ablehnt. Auch abseits seines Phallus sind seine fokussierten Werte nicht die einer traditionellen Männlichkeit. Er bewegt sich damit in großen Teilen bewusst außerhalb der geschlechtlichen Konventionen, außerhalb der traditionellen Geschlechterverhältnisse und außerhalb der homosozialen Kämpfe um Hierarchie. Rainer scheitert an den Anforderungen des Patriarchats an Männlichkeiten zum einen, weil er in dem Versuch einer Verkörperung einer traditionellen Männlichkeit nicht authentisch wird. Zum anderen wird der alternative Männlichkeitsentwurf, den seine Figur letztlich darstellt, nicht begehrt und somit nicht als gültige Alternative zur traditionellen Männlichkeit akzeptiert. Dies wird vor

242

Analyse

allem anhand der Verspottung der Figur sichtbar, die auf unterschiedlichen Ebenen stattfindet. Die Figur zeigt dennoch großes Potential auf, die gesellschaftlichen Konventionen für die Geschlechter zu subvertieren, welches bei den untersuchten männlich gezeichneten Figuren Jelineks sonst in diesem Maße nicht zu finden ist. Die dauerhafte Ablehnung Rainers durch Sophie, die mangelnde Akzeptanz seines alternativen Männlichkeitsentwurfs sowie der an der mangelnden habituellen Sicherheit gescheiterte Versuch, sich Attribute einer traditionellen Männlichkeit anzueignen, können als Gründe dafür gelten, warum die Handlungen der Figur schließlich in einen Amoklauf, das Auslöschen seiner gesamten Familie, münden (vgl. Vis 1998: 368, 371; Sonnleitner 2008: 88). Indem er seinen Vater stellvertretend für die patriarchale Macht tötet, kann er sich symbolisch aus den geschlechtlichen, sexuellen, familiären und klassenbedingten Zwängen befreien. Die Morde an seiner Mutter und seiner Schwester können dementsprechend als Versuch der Befreiung derselben aus dem patriarchalen System gelesen werden.

III.

Perspektivierung der Figurenkonstruktionen: Ein Exkurs zu Lust

Im Fokus der Perspektivierung steht die Figur Hermann aus Lust. Hermann ist Papierfabrikdirektor einer kleinen Stadt im Alpental. Er ist mit Gerti verheiratet, mit der er einen Sohn hat. Aus Angst vor Krankheiten wie HIV kann er sein sexuelles Begehren nicht mehr außerhalb der Ehe ausleben und ist deshalb auf seine Ehefrau zurückgeworfen. Das Buch handelt daher von »einer fortgesetzten Vergewaltigung einer Frau« (Karasek im Literarischen Quartett vom 10. 03. 1989). Außerdem geht es darum, wie der kleine Ort, in dem die Handlung spielt, von Hermann als Arbeitgeber abhängig ist und wie Gerti versucht, sich von ihrem Mann zu lösen, indem sie sich in ein Liebesabenteuer mit dem jungen Studenten Michael stürzt. Das Holzschnitthafte und Plakative der Figuren wird in Lust besonders hervorgehoben. Die Figur Hermann kann als Typus Mann gelesen werden, anhand dessen Jelinek ihre Patriarchatskritik ausformuliert. Anna Weber bemerkt in ihrer Kritik zu Lust in Die Tageszeitung vom 8. April 1989: Es fällt schwer, sich ein Bild von den Protagonisten zu machen. Nichts liegt der Autorin ferner, als uns mit Personalien – Farbe der Augen, des Haares, Körpergröße und Körpervolumen, Beschaffenheit von Haut und Händen – zu behelligen. Es interessiert sie etwas anderes. (Weber 1989 in Bartsch / Höfler 1991: 232)

Perspektivierung der Figurenkonstruktionen: Ein Exkurs zu Lust

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Ihrem Text fehle es an »psychologischer Raffinesse« (Hage 1989 in Die Zeit, zit. n. Hartwig 2007: 77) und auch Marcel Reich-Ranicki fehlten die Gefühle im Text (vgl. Hartwig 2007: 76). Doch das ist auch nicht das, was Jelinek interessiert. Ihr Ziel ist eine dezidierte Patriarchatskritik (vgl. Luserke 1999: 94). Das eigentliche Thema in Lust bildet nach Anja Meyer eine Machtanalyse: »die Dekonstruktion des ›Weiblichen‹ und ›Männlichen‹ am Beispiel von Sexualität« (Meyer 1994: 120). Hierfür werden keine differenziert ausgearbeiteten Charakterfiguren benötigt. Im Gegenteil würden diese die Kritik an bestehenden Herrschaftsverhältnissen nur durch vermeintliche Individualität verschleiern. Die auftretenden Figuren mögen als »Zombies« anmuten (vgl. Luserke 1993: 96), tatsächlich sind sie jedoch »Bedeutungsträger« (ebd.), Prototypen, Schablonen; und vor dem Hintergrund der Kritik werden sie zu Karikaturen, Parodien, einer Persiflage auf die vorherrschenden Verhältnisse. Ihre Darstellung ist so eindringlich, einprägsam und plakativ, dass Chamayou-Kuhn die Namen der Figuren sogar als Eponomasien125 gelten lässt (vgl. Chamayou-Kuhn 2012: 31). Die vorangegangene Analyse befasste sich mit den beiden realistischen Romanen Jelineks. Die Figurenkonstruktionen gaben Einblick in das Innere der Charaktere, wodurch die_der Leser_in auch über die Motivationen für erfolgte Handlungen informiert war. Die Rezipierenden können an vielen Stellen verfolgen, was Walter dazu veranlasst, sich für Erika zu interessieren. Auch über Ottos Motivation, seine Frau zu traktieren, konnten zuverlässige Aussagen getroffen werden. Patriarchale Strukturen und Denkmuster werden in der Darstellung des Inneren der Figuren sichtbar. Konflikte, die Anna oder Rainer aus ihrer Sozialisation entstehen, konnten identifiziert und ihre Handlungen darauf zurückgeführt werden. Es konnte herausgestellt werden, dass die Figuren ihre soziale Position in der Regel als defizitär erleben und daraus Kompensationsstrategien entwickeln, die ihnen helfen sollen, ihre Dissonanzen zu reduzieren. Lust selbst ist im Paratext nicht einmal als Roman ausgezeichnet. Anja Meyer beobachtet demgemäß, dass Jelinek hier auf »typische Elemente wie beispielsweise eine durchgängige Erzählhandlung oder eine Personenentwicklung« verzichtet hat (Meyer 1994: 119). Andreas Isenschmid verzeichnet außerdem eine »radikal[e]« Veränderung seit den Romanen Die Klavierspielerin und Die Ausgesperrten: »So human anrührende Elemente realistischen Erzählens wie Personen und Handlungen begegnen uns in Lust kaum« (vgl. Isenschmid 1989 in Bartsch / Höfler 1991: 240). Es ist ganz offenbar so, dass Jelineks Stil sich weiter entwickelt hat. Ihre Figuren haben kein differenziertes Innenleben mehr. Sie werden comichaft, bis zur Groteske ins Extrem überzeichnet. Sie werden zu 125 Die rhetorische Figur der Eponomasie bezeichnet die Ersetzung eines Begriffs durch den Eigennamen einer (literarischen) Figur, welcher dann stellvertretend für den Begriff steht (zum Beispiel Don Juan für einen besonderen Liebhaber).

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Analyse

Schablonen von männlicher und weiblicher Geschlechterperformanz. Die Figuren wirken statischer, die Dynamik eines Rainer Witkowski und dessen relativ flexible Reaktion auf unterschiedliche Situationen sind in Lust nicht mehr vorhanden. Hermann agiert und reagiert statisch, in starren Bahnen einer patriarchal geprägten Männlichkeitsperformanz. Mit Meyers Worten: Die Figuren sind »als RepräsentantInnen ihrer Geschlechtszugehörigkeit und ihrer gesellschaftlichen Klasse in ein festes Korsett eingeschnürt« (Meyer 1994: 124). Im Falle der Figur Hermann schlägt sich bereits im Namen nieder, was die Rezipierenden erwartet: »Hermann, der schon in seinem Namen sich verdoppelnde und vergrößernde ›Mann‹« (Janz, 1995: 114), dessen Name »Heeresmann« bedeutet (vgl. Lücke 2008: 84), führt tatsächlich einen Krieg um Vorherrschaft – Kämpfe sowohl auf der Ebene der Geschlechter als auch der Klassen. Hierbei ist er nicht als differenziertes Individuum auszumachen, sondern ›Her(r)-Mann‹ gilt gemäß seines Namens als Prototyp eines Patriarchen, eines männlichen Machthabers (vgl. Chamayou-Kuhn 2012: 31), der männlichen Herrschaft, als die Verkörperung eines Männlichkeitswahns (vgl. Meyer 1994: 125). Was bei Jelineks weitgehendem Verzicht auf klassische narrative Muster in Lust erhalten bleibt, sind »personale[…] Kristallisationspunkte[…], an denen sie ihre sprachlichen und politischen Erkundungen durchführt« (Schmid-Bortenschlager 2012: 12). Es sind demnach eben keine mehrschichtigen, d. h. keine detaillierten, individualisierten, Figuren mit einem ausgefeilten Innenleben mehr, sondern lediglich benannte Prototypen und Schablonen, die in der Gestalt einer Figur erscheinen. So stellt Hermann solch einen Kristallisationspunkt dar, an dem Jelinek ihre Patriarchatskritik exerziert. Er wird den Rezipierenden in erster Linie als Mann, Vater und Direktor der Papierfabrik bekannt. Seine gesellschaftliche Stellung ist es, die für Jelinek relevant ist. Rainer oder Walter sind sicherlich genauso typenhafte Sozialcharaktere; Jelinek macht hier allerdings sichtbar, dass sie durch ihre gesellschaftliche Stellung individuell geprägt sind. Der Fabrikdirektor bleibt dagegen in der plakativen, reduzierten Abbildung einer traditionellen Männlichkeit verhaftet. Durch ihre Zuspitzung prangert Jelinek die herrschenden Verhältnisse an, wobei sie jedoch keine Alternativen aufzeigt. Es geht ausschließlich um das Destruieren der vielen Mythen, die sich um Männlichkeit und Weiblichkeit ranken. Da Hermann nicht individualisiert wird, wird sein Scheitern an den Anforderungen des Patriarchats zusätzlich auf einer abstrakteren Ebene sichtbar. Ein Hadern mit dem System oder ein Verzweifeln an den gesellschaftlichen Bedingungen wird nicht geschildert. Dennoch reagiert er auf die gleichen Bedingungen wie Otto, Rainer, Walter oder Hans. Er lebt im selben System, welches geprägt ist von dem Zwang, eine traditionelle Männlichkeit zu repräsentieren, die versucht ist, sich über Weiblichkeitsabwehr, die ernsten Spiele des Wettbe-

Perspektivierung der Figurenkonstruktionen: Ein Exkurs zu Lust

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werbs und andere hierarchisierende Prozesse eine herrschende Position in der Gesellschaft anzueignen. Jelinek spitzt die Darstellung der Figur hier konsequent zu. Er wird zum plakativen Stereotyp eines überzeichneten patriarchalen Gewalttäters. Der Papierfabrikdirektor ist ein strenger, egoistischer Patriarch, der sich nimmt, was er braucht, um seine Männlichkeit herzustellen. Er wirkt in seinem maßlosen Sexualtrieb so animalisch, dass von Trieb und Perversion sowie von menschlicher »Natur« nicht mehr zu sprechen ist (vgl. Philippi 1989 in Bartsch / Höfler 1991: 235). Die zahlreichen Metaphern für Gertis Vergewaltigungen unterstreichen die Rohheit, mit der sie vonstattengehen. Es ist keine Sexualität, die hier gelebt wird, auch nicht von Seiten des Fabrikdirektors. Es ist die pure Machtdemonstration Hermanns. Die Vergewaltigungsszenen werden häufig nur fragmentarisch wiedergegeben. Hiermit ist nicht gemeint, dass nur Ausschnitte der Vergewaltigungen geschildert werden, sondern es werden hierbei lediglich relevante Körperstellen und -öffnungen beschrieben, die von Hermanns Penis penetriert werden, wobei für diesen ebenfalls mannigfaltige Synonyme gefunden werden, die sein Vorgehen bildlich untermalen. Diese plakative Überzeichnung ist es erst, die die gesellschaftlichen Strukturen als solche sichtbar machen. Der Prosatext Lust bewegt sich in seiner Kritik somit auf einer anderen Ebene als die beiden realistischen Romane Die Ausgesperrten und Die Klavierspielerin. Dennoch wird auch an der Figur Hermann auf subjektiver inhaltlicher Ebene deutlich, dass er sowohl an den gesellschaftlichen Begebenheiten als auch an den Anforderungen des Patriarchats an eine hegemoniale Männlichkeit scheitert. Dies wird im Folgenden konzise zusammengefasst. Im Anschluss daran wird außerdem aufgezeigt, wie Jelinek ein Scheitern bereits auf der discours-Ebene im Text implementiert.

1.

Hermann, der hyperpotente Fabrikdirektor

Hermann ist ein »patriarchal-kapitalistisches Doppelmonster« (Isenschmid 1989 in Bartsch / Höfler 1991: 241), das seine Herrschaft sowohl zu Hause gegenüber seiner Ehefrau Gerti als auch als Direktor der Papierfabrik den Arbeitern gegenüber ausübt. In zahlreichen Schilderungen der Erniedrigung seiner Frau wird in einem Nachsatz die Unterdrückung der Arbeiter kommentiert (vgl. hierzu a. Weber 1989 in Bartsch / Höfler 1991: 233; Heberger 2002: 92): Der Direktor hält die Frau mit seinem Gewicht nieder. Um die freudig von der Mühe zur Ruh wechselnden Arbeiter niederzuhalten, genügt seine Unterschrift, er muß sich nicht mit seinem Körper drauflegen. (LU 19f.)

246

Analyse

Durch dieses Arrangement des Textes wird »ein direkter Zusammenhang zwischen sozialer und sexueller Gewalt hergestellt« (Szczepaniak 1998: 146). Laut Heberger wird hiermit der Mythos der »phallokratisch-patriarchalische[n] Männerherrschaft« etabliert, dessen »hyperpotente Machtinstanz« Hermann ist (vgl. Heberger 2002: 92). Hermann nimmt als Direktor der Papierfabrik die mächtigste Position im Ort ein. Die Abhängigkeit der Arbeiter wird im Text explizit benannt: »Sie alle sind abhängig vom Direktor, diesem großen Kind von milder Laune« (LU 81). Er hat einen Werkschor eingerichtet, in dem die Arbeiter vermeintlich freiwillig mitsingen, sich damit letztlich aber sehr wahrscheinlich schlicht den Arbeitsplatz sichern (vgl. Schmid-Bortenschlager 2012: 19). Er ist darüber hinaus der reichste Mann des Ortes (»er muß der erste dieser österreichischen Sparkasse bleiben« (LU 42)), welcher problemlos den Versorger seiner Familie verkörpern kann. Während andere Bewohner des Ortes zum Verkauf oder zur Versteigerung ihres Hauses gezwungen sind, kann er seiner Gerti ein Haus bauen und dieses auch unterhalten (vgl. LU 39). An vielen Stellen dieser Art wird hervorgehoben, dass Hermann durch die Verfügung über ökonomisches Kapital eine Machtposition innehat. Doch auch sein kulturelles Kapital wird betont: Neben der Leitung des Werkschors ist es die klassische Musik, die ihn begeistert; außerdem spielt er Geige und hält auch seinen Sohn dazu an (vgl. LU 16, 19, 21). Hermann und seine Familie können in Anbetracht ihrer akkumulierten Kapitalien sicherlich zum Bürgertum gerechnet werden. Hinsichtlich seiner gesellschaftlichen Stellung kann er somit zumindest im Mikrokosmos dieses kleinen Ortes in den Alpen als hegemoniale Männlichkeit gelten. Ein weiterer Aspekt, der seine Männlichkeitskonstruktion bestimmt, ist – neben der Ausübung sexueller Gewalt und der damit verbundenen Machtposition – vor allem Hermanns Potenz. Er wird als »allzeit bereit« beschrieben (vgl. Heberger 2002: 93): »sein Stachel schläft nie an seinen Hoden« (LU 20). Mehrmals täglich nimmt er sich Gerti und vergewaltigt sie. Dabei spielen ihm die patriarchal geprägten Gesetze in die Hände, denn Vergewaltigung in der Ehe ist zu dieser Zeit noch kein Straftatbestand, sondern der Geschlechtsverkehr gilt als eheliche Pflicht der Ehepartner_innen. So erinnert Hermann Gerti durchaus an diese Pflichten, wenn sie zarten Widerstand leistet (vgl. LU 26). In einer enormen metaphorischen Vielfalt beschreibt die Erzählinstanz sowohl die Vergewaltigungen als auch den Phallus Hermanns, was die Ausübung seiner sexuellen Macht deutlich ins Zentrum des Prosatextes rückt. Er betrachtet seine Ehefrau als Objekt, das er zu seinem Besitz zählt und über das er zu seiner Befriedigung frei verfügen kann. Er prahlt mit ihr genauso wie mit seinen anderen Besitztümern (vgl. LU 37). Bei Gerti dient dies in erster Linie der Demonstration seiner Heterosexualität, welche obligatorisch ist für seine Männlichkeitsperformanz.

Perspektivierung der Figurenkonstruktionen: Ein Exkurs zu Lust

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Nachdem Gerti einmal ausbrechen wollte und dabei ironischerweise in die Arme des jungen Studenten Michael geriet126, schlägt, vergewaltigt und erniedrigt Hermann sie, bis sie blutet (vgl. LU 152ff.); am Frühstückstisch trägt sie dann eine Sonnenbrille (vgl. LU 155), um ihre Verletzungen vor ihrem Sohn zu verbergen. Hermann sieht sich hier mit einem temporären Macht- und Kontrollverlust konfrontiert, einer zarten Selbstbestimmungstendenz seiner Frau, worauf er zur Kompensation mit exzessiver Gewalt reagiert, die seine täglichen Vergewaltigungen noch in den Schatten stellt. Auch als Gerti erneut zu Michael flüchtet, folgt er ihr, um Gerti durch Vergewaltigung wieder in seinen Besitz zu nehmen. Dies tut er in demonstrativer Weise direkt vor den Augen Michaels: Und dieser Mann [Hermann, Anm. JS] wendet den Blick nach oben, wo er sonst niemanden gewöhnt ist. Die Blicke der Männer treffen sich auf halber Strecke, sie sind beide motorisiert. Fast gleichzeitig, einen Augenblick lang, spüren sie, wie sich ihre Körper gegens Sterben auflehnen. Michael knickt sich zur Vorbeugung um ein paar winzige Grade ab. (LU 236f.)

Diese Szene ist vor allem vor dem Hintergrund der ernsten Spiele des Wettbewerbs von Relevanz. Beide Männer kennen die Konventionen der ernsten Spiele des Wettbewerbs zur Aushandlung der homosozialen Hierarchie untereinander. Aus der Schilderung der Szene geht hervor, dass Michael und Hermann ebenbürtig sind (nachdem Hermann den Blick nach oben wendet, treffen sich die Blicke doch auf halber Strecke). Sie müssen sich nicht in eine tätliche Auseinandersetzung um die vorherrschende Machtposition begeben, spüren aber die potentielle Möglichkeit einer solchen Auseinandersetzung in der Situation (die Körper lehnen sich kurzzeitig gegen das Sterben auf). Michael erkennt an, dass Gerti Hermanns rechtmäßiger Besitz ist, er erhebt keinen Widerspruch (vgl. Schmid-Bortenschlager 2012: 20). Er möchte für »die paar lustigen Zentimeter« nicht »aus dem Gleichgewicht gebracht […] werden« (LU 237). Die Sexualität mit Gerti ist ihm die Auseinandersetzung mit Hermann schlicht nicht wert. Zur Vorbeugung, als Signal und Geste an Hermann also, verbeugt er sich schließlich minimal. Hermann vergewaltigt Gerti letztlich vor Michaels Augen, um auch den letzten Zweifel auszuräumen, Michael könnte Anspruch auf Hermanns Besitz erheben. Die Figur Hermann verkörpert somit zunächst auf allen Ebenen der gesellschaftlichen Macht eine führende Position, die sich auf Unterdrückung und Gewalt gründet. Er erscheint als hegemoniale Männlichkeit. Doch auch die 126 Luserke sieht in der Beziehung Michael–Gerti die Herausarbeitung des Machtmechanismus, »dem die Frau zu entfliehen sucht, den sie aber aufsucht, da sie nicht fliehen kann« (Luserke 1993: 96f.). Es gibt demnach für Gerti keine Möglichkeit, der Unterdrückung zu entfliehen, da dies ein gesellschaftlich verankertes patriarchales Machtverhältnis ist, und kein individuelles, dem sie als Ehefrau des Direktors speziell unterliegt.

248

Analyse

Darstellung dieser gewalttätigen, triebhaften, immer wieder als gottgleich (vgl. LU 33, 34, 55, 72, 120, 135) dargestellten Figur erfolgt nicht ohne Brüche. 1.1

Brüche durch die Konzeption

Ohne Frage ist Hermann als Direktor der Mächtigste in der Fabrik und herrscht damit über die Arbeiter, die in der Fabrik beschäftigt sind. Doch die Fabrik wird gleich mehrfach in ihrer machtvollen Stellung geschmälert. So ist die Ware, die der Direktor herstellen lässt, ohne großen Wert127, das Prestige der Fabrik letztlich kaum existent. Außerdem wird angedeutet, dass der Mutterkonzern, dem die Papierfabrik gehört, die Fabrik bald schließen wird, weil sie »unwegrentabel« geworden sei (vgl. LU 99). Hermann ist somit erstens ebenso »angestellter Stellvertreter von nicht näher definierten und nicht klar durchschaubaren internationalen Konzern-Interessen« (Schmid-Bortenschlager 2012: 19). Er ist in seiner Abhängigkeit vom großen Konzern keineswegs so autonom, wie er sich im Verhältnis zu den Arbeitern präsentiert. Zweitens ist seine Anstellung durch die drohende Schließung der Fabrik genauso von Unsicherheit geprägt wie die Beschäftigung seiner Arbeiter. Zusätzlich gibt es im benachbarten Bundesland eine weitere Fabrik, die einem Konkurrenzkonzern gehört, welcher mächtiger ist als der hiesige (vgl. LU 81), womit seine Machtstellung ein weiteres Mal deutlich geschmälert wird. Im Hinblick auf seine »nimmermüde[…]« Potenz (Lücke 2008: 84) ist festzuhalten, dass Hermann große Angst vor Aids hat. Er ist daher nicht in der Lage, seinen Trieb seiner Männlichkeit entsprechend auszuleben und damit Potenz und indirekt auch seine Heterosexualität zu demonstrieren: »Wenn nur nicht die Angst vor der neuesten Krankheit wäre, die Werkstätte des Herrn würde nimmermehr schweigen« (LU 19). Denn ein wichtiger Faktor einer traditionellen Männlichkeit ist schließlich auch die uneingeschränkte Gesundheit. Diese bliebe ihm jedoch in Zeiten, in denen eine Aufklärung über die Risiken der HIVInfektion noch aussteht, versagt, wenn er seine Potenz angemessen demonstrieren wollte. Er befindet sich in einem Dilemma, seine Partnertausch-Inserate und Bordellbesuche müssen daher ausbleiben (vgl. LU 20, 56). So bleibt ihm lediglich Gerti für die Aufrechterhaltung der Potenz als obligatorisches Attribut seiner Männlichkeitskonstruktion. Dahingehend ist er allerdings mehr denn je mit der Abhängigkeit von seiner Ehefrau konfrontiert.128

127 »Und ein paar hundert Überschüssige produzieren Papier, eine Ware, die noch schneller entwertet, als der Mensch durch den Sport abgenützt wird« (AUS 170). 128 Sonst ist es hauptsächlich die Zwangsheterosexualität, die ihm die Abhängigkeit von Frauen vor Augen führt.

Perspektivierung der Figurenkonstruktionen: Ein Exkurs zu Lust

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Der Abhängigkeits-Autonomie-Konflikt wird in diesem Prosatext besonders deutlich. Gerti »regeneriert« ihn (LU 44) und bietet ihm eine »Heimat« für seinen Penis (LU 131). Sie bewahrt ihn in sich auf, »damit er in der Aufbewahrungshalle bewahrt bleibt vor dem Feuersturm« (LU 217). »Ist es nicht so, daß er sich auch ein wenig in ihr verbergen und ausruhen möchte?« (LU 87) – ja, es zeichnet sich tatsächlich ab, dass Hermann nicht nur bezüglich seiner Triebbefriedigung von Gerti abhängig ist, sondern auch hinsichtlich eines Geborgenheitsgefühls und eines gewissen Schutzes vor der Außenwelt. Wenn die Erzählinstanz beschreibt, dass die Männer »[m]it ihren mächtigen Geschlechtspaketen […] auf der Suche nach einem lieben Schoß [sind], in dem sie auf Dauer wohnen möchten« (LU 172), dann hat das zwar eine nicht zu leugnende sexuelle Komponente, jedoch schwingt auf semantischer Ebene unweigerlich auch der Wunsch nach Geborgenheit und Rast mit. So wirft er denn auch in einem seltenen Moment der Selbstreflektion sein »großes Gesicht in die Schürze der Frau« (LU 50). Er verspürt hier Reue für seine Taten, für seinen Umgang sowohl mit seiner Frau als auch mit seinen Arbeitern (vgl. LU 49f.) und sucht in diesem Moment der Schwäche den Schutz und die Geborgenheit bei seiner Ehefrau. Ein anderes Mal entschuldigt er sich sogar, »beinahe verlegen« (LU 87), bei seiner Frau für sein Verhalten ihr gegenüber. Hermann befindet sich ganz deutlich im Dilemma des Abhängigkeits-Autonomie-Konflikts. Er ist sowohl zur sexuellen Triebbefriedigung als auch zur Ruhe auf seine Frau angewiesen, muss allerdings aufgrund seiner Ideale rigide nach Autonomie streben; denn dies ist ein obligatorisches Attribut seiner Männlichkeitskonstruktion. Dieses Autonomiestreben ist in seinem Fall gepaart mit einer enormen Degradierung und Unterwerfung der Frau, welche der Kompensation dient, da er diesen Widerspruch für sich anders nicht auflösen könnte. Ein letzter Bruch hinsichtlich der Performanz als hegemoniale Männlichkeit wird anhand seines fortgeschrittenen Alters aufgezeigt. Sein diesbezügliches Defizit wird in erster Linie in seiner Konkurrenz zu Michael und dem Begehren Gertis hervorgehoben: »Hat der Direktor schon seine Versicherung angerufen, damit die Frau ihn durch einen jüngeren Bürger nicht einfach ersetzen kann?« (LU 125). Denn Gerti »möchte nichts als Jugend« (LU 138) und die findet sie in Michael. Seine Jugendlichkeit lässt sie sogar den Sexualakt als lustvoll empfinden, obwohl er dem mit dem Direktor recht ähnlich ist; sie kommt hier sogar zum Höhepunkt (vgl. Schmid-Bortenschlager 2012: 20). Hermann bemüht sich, dieses Defizit durch simplen Glauben zu kompensieren: »Keine Kraft könnte es mit dem heftigen Geschlecht des Direktors aufnehmen, er muß nur daran glauben« (LU 138). Der besondere Wert der Jugendlichkeit wird im Text beständig hervorgehoben (vgl. LU 138, 162, 176, 185), was bestätigt, dass Hermanns Männlichkeitsperformanz in dieser Hinsicht kategorisch im Scheitern begriffen ist.

250

Analyse

Mit dem fortschreitenden Alter droht außerdem eine Einschränkung seiner Potenz: »Er muß dauernd fürchten, daß er seine Form verliert und durch einen liebenswürdigen Fremden ersetzt wird« (LU 171). Er scheint hier zu glauben, dass er Gerti nur wegen seiner hyperpotenten Sexualität halten kann und diese eben an Jugendlichkeit gebunden ist. Wenn Gerti Hermann nun für den jugendlichen und damit eventuell potenteren Michael verlässt, bedeutet das gleichzeitig, dass der Direktor seine sexuelle Macht nicht mehr ausüben kann, was ihn in seiner Machtposition insgesamt weiter schwächen würde. Diese Furcht entlarvt auch, dass Gerti dem Direktor nicht so bedingungslos als Besitz zusteht, wie dies sonst in der Handlung suggeriert wird. An Hermanns defizitärem Alter laufen folglich unterschiedliche Attribute seiner Männlichkeitskonstruktion zusammen und drohen verloren zu gehen; dies gilt insbesondere für seine Potenz, damit indirekt für die Demonstration seiner Heterosexualität, seine sexuelle Macht und sein Besitztum Gerti insgesamt. Hermann scheitert ganz subjektiv an den Anforderungen des Patriarchats an eine hegemoniale Männlichkeit. Lediglich auf dem Feld der Ökonomie bliebe ihm eine Restmacht, die jedoch durch die Konkurrenz und die drohende Schließung durch den Mutterkonzern auch weitgehend nivelliert wird. 1.2

Kompensationsstrategien und der Faktor Gerti

Hermanns Kompensationsstrategien bestehen neben dem benannten schlichten Glauben an seine Allmacht in erster Linie in der exzessiven Gewaltausübung. Wenn Gerti ihm untreu wird, verprügelt und vergewaltigt er sie und nimmt sie gewalttätig vor Michaels Augen wieder in Besitz. Die permanente Gewalt in der Beziehung der beiden kann als Kompensation des generellen AbhängigkeitsAutonomie-Konflikts verstanden werden. Indem der Direktor Gerti regelmäßig erniedrigt und unterordnet, kann er sich trotz der bestehenden Abhängigkeit in Bezug auf die Befriedigung unterschiedlicher Bedürfnisse (sexuelle Triebe und Geborgenheit) eine völlige Autonomie von seiner Ehefrau suggerieren. Ein besonders wichtiger Faktor bei der Kompensation seiner Defizite ist darüber hinaus seine Ehefrau Gerti. Sie stellt eine mustergültige emphasized femininity dar, die ihn in seiner Vormachtstellung stützt – und dafür auch sexuelle und körperliche Gewalt erduldet –, sofern sie dafür angemessen materiell entlohnt wird. Wurde im Vorangegangenen die Abhängigkeit Hermanns betont, so ist an dieser Stelle hervorzuheben, dass auch Gerti ihren Direktor braucht. Denn Gerti liebt »den Luxus und die sozial herausgehobene Stellung« (Lücke 2008: 85). So erträgt sie die Erniedrigungen, wenn es im Anschluss dafür Schmuck, Cremes oder Kleidung gibt. Sie wird zur »Komplizin« (vgl. Janz 1995: 112) der patriarchal geprägten Zustände, sie erhält sich in der Unterdrückung, indem sie ihrem Mann ihre Unterwerfung ermöglicht. Gerti ist »zurechtgestutzt

Perspektivierung der Figurenkonstruktionen: Ein Exkurs zu Lust

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auf das ›weibliche‹ Rollenverhalten« (ebd.), welches genau diese Komplizenschaft vorsieht, um das Patriarchat zu stärken. Widerstand von Gertis Seite findet nur sehr verstohlen statt: »Sie nimmt heimlich Kontrazeptiva, um ein weiteres Kind zu verhindern, sie trinkt, sie hat schon mehrmals das Haus verlassen, ist aber immer wieder, wie ein verloren gegangenes Gepäckstück, zurückgebracht worden« (Schmid-Bortenschlager 2012: 20). Jedoch schadet dieser Widerstand ihrem Ehemann letztlich nicht. Gerti ermöglicht es Hermann also erst, seine Defizite zu kaschieren und sich weiter zu suggerieren, dass er das Ideal einer hegemonialen Männlichkeit verkörpern kann. Das einzige subversive Potential bietet Gerti mit ihrer Liebschaft mit Michael. Hier signalisiert sie ganz deutlich, dass es die Jugend ist, die von Wert ist. Damit begehrt sie – leider nur indirekt – gegen Hermann auf. Immerhin empfindet er hierdurch ein Defizit, was Gerti im Anschluss nicht wieder nivelliert.

2.

Das Scheitern am Patriarchat als Scheitern des Patriarchats

Ein subjektives Scheitern Hermanns an den Anforderungen des Patriarchats an die Verkörperung einer traditionellen Männlichkeit ist nach den vorangegangenen Ausführungen nicht mehr von der Hand zu weisen. Im Verhältnis zu den Figuren aus Die Klavierspielerin oder Die Ausgesperrten wird das Scheitern allerdings nicht so detailliert geschildert. Dies ist darauf zurückzuführen, dass Lust sich in erster Linie durch ein weitaus komplexeres Scheitern auf einer übergeordneten Ebene auszeichnet. Dieses Scheitern ist nicht in erster Linie in einer individualisierten Handlung verankert, sondern wird durch Jelinek in Lust installiert, indem alles, worauf das Patriarchat basiert, ad absurdum geführt, destruiert und als Mythen entlarvt wird.129 Ein Scheitern wird also dadurch manifest, dass der gesamten Existenz einer Männlichkeit (in diesem Falle Hermann) bereits auf basalerer Ebene die Grundlage entzogen wird. Das Scheitern an den Anforderungen des Patriarchats wird in Lust zum Scheitern des Patriarchats per se. Jelinek destruiert hier bereits auf der discours-Ebene die Mythen, die den Bedingungen für die männliche Herrschaft zugrunde liegen. Vor diesem Hintergrund wird auch die gesamte Figur Hermann in ihrer Männlichkeitskonstruktion ad absurdum geführt. Dieses in der Forschungsliteratur ausführlich behandelte Verfahren Jelineks wird nun im Folgenden kompakt wiedergegeben. 129 Die Destruktion von Mythen, auf denen das Patriarchat und der Kapitalismus basieren, führt Jelinek auch in ihrer anderen Prosa vor (vgl. hierzu Szczepaniak 1998; Heberger 2002 u. a.). In Lust fokussiert sie sich jedoch vollständig darauf und zur Unterstreichung dessen verzichtet sie beispielsweise auf die psychologischen Aspekte der einzelnen Figuren. Sie stellt in Lust die discours-Ebene über die histoire-Ebene.

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Analyse

Der entscheidende ästhetische Griff Jelineks besteht nun darin, daß sie nicht diese Trivialität inszeniert, sondern bis in den materialen Bereich der Sprache hinein völlig destruiert und die Trivialmythen als vom Patriarchat verabreichte Sedativa entlarvt, deren erschreckende Realität darin liegt, herrschaftsstabilisierend zu wirken. (Luserke 1999: 94)

Marlies Janz beschreibt ausführlich, wie Jelinek die Mystifikation sozialer und sexueller Gewalt in Lust u. a. durch Wortspiele und Hölderlin-Zitate denunziert und persifliert (vgl. Janz 1995: 114ff.), womit sie über eine bloße Decouvrierung hinausgeht. Darüber hinaus verhöhne Jelinek die Macht der Medien und der audiovisuellen Pornoindustrie als »Selbstvergottung des männlichen Geschlechts« (Janz 1995: 119). Die Reproduktion vorgegebener sprachlicher Muster der »›Heiligung‹ männlicher Sexualität« im erzählerischen Diskurs impliziere als solche bereits deren Entlarvung und bedürfe somit keiner zusätzlichen Kommentierung mehr : »Nachahmung und Destruktion fallen in eins, und die sprachliche Anstrengung von Lust besteht eben darin, beides kurzuschließen« (Janz 1995: 120). Auch Alexandra Heberger erkennt in Jelineks Prosatext – gerade im gezielten Einsatz der Hölderlin-Zitate – die Dekonstruktion des »Mythos sexueller und sozialer maskuliner Herrschaft« (Heberger 2002: 118f.). Mit der extremen Überzeichnung der Verhaltensweisen der Figur Hermann als ›gottgleich‹ dekonstruiere Jelinek darüber hinaus die »traditionell christlich determinierte Geschlechterhierarchie« (Heberger 2002: 94). Sie parodiere außerdem das durch die Pornoindustrie etablierte Männerbild, indem sie es auf Hermann, den Vater einer bürgerlichen Familie überträgt. In diesem Kontext wirke die kontextuelle und sprachliche Übertreibung des PornoGenres pervertiert und unrealistisch. (vgl. Heberger 2002: 93). Jelinek zerstört durch dieses Vorgehen mit dem Männerbild auch den Mythos von den traditionellen Geschlechterrollen. Die Strukturen von Kapitalismus und Christentum bilden auch nach Anja Meyer die Themen in Lust. Unter anderem würden Männlichkeit und Weiblichkeit, genauso wie Sexualität auf ihre Konnotationen in den genannten Machtdiskursen überprüft und von Jelinek ad absurdum geführt (vgl. Meyer 1994: 121). Mit der Decouvrierung und Destruktion von Mythen wie dem männlichen Schöpfertum oder der Selbstvergottung männlicher Sexualität sowie deren Rückführung auf das Christentum und den Kapitalismus, dekonstruiert Jelinek letztlich die Basis, auf der das Patriarchat fußt, womit die Grundlage für eine männliche Herrschaft verloren geht. Eine Figur wie Hermann scheitert somit nicht mehr nur an den Anforderungen des Patriarchats an eine Männlichkeitskonstruktion, wodurch Jelinek das Streben nach einem Ideal einer hegemonialen Männlichkeit bereits ad absurdum geführt hätte. Der Prosatext Lust geht darüber hinaus, indem Jelinek dem Patriarchat selbst den Boden unter

Perspektivierung der Figurenkonstruktionen: Ein Exkurs zu Lust

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den Füßen wegzieht, wenn sie deren Säulen als komplexe Konstrukte aus Mystifikationen und Ideologien entlarvt und destruiert.

3.

Das »patriarchal-kapitalistische[…] Doppelmonster« – Ein Resümee

Es konnte festgehalten werden, dass Jelinek nach den realistischen Romanen Die Klavierspielerin und Die Ausgesperrten im Erzähltext Lust zwar einen abgewandelten (Erzähl-)Stil etabliert, indem sie den Figuren die individuelle Seele nimmt. Dies ändert aber – wie an der Figur Hermann belegt – keineswegs etwas an der Validität der Hypothesen, die dieser Arbeit zugrunde liegen. Denn diese konnten auch an der Figur Hermann verifiziert werden. Hermann scheitert ähnlich wie Otto oder Walter an den Anforderungen des Patriarchats an ein Männlichkeitsideal, welches unerreichbar scheint. Er kann dem Ideal trotz seines ökonomischen und kulturellen Kapitals aufgrund seiner abhängigen Beschäftigung und seines Alters letztlich nicht entsprechen. Auch abseits dessen wird seine Allmacht gebrochen, indem zwei Momente der Selbstreflektion Hermanns geschildert werden. Er zeigt hier Reue für sein Verhalten, mit welchem er den patriarchalen Zwängen, die ihm Herrschaft versprechen, nachgibt. Da Hermann dieses Ideal jedoch – Michael Meusers Ansatz entsprechend – genauso anstrebt wie die anderen Männlichkeiten, muss er das defizitäre Erleben seiner Männlichkeit ebenfalls kompensieren. Hermann tut dies im Ausüben exzessiver Gewalt gegen Weiblichkeiten. Durch die Abwehr und Abwertung von Weiblichkeit kann er parallel eine Unabhängigkeit von seiner Ehefrau Gerti vortäuschen, welche wiederum einem obligatorischen Attribut der hegemonialen Männlichkeit entspricht. Trotz der Kompensationsbestrebungen scheitert Hermann letztlich am angestrebten Ideal. Durch Jelineks geändertes Erzählverfahren werden die Mythen und Ideologien nicht in erster Linie auf der histoire-Ebene anhand der Figuren destruiert, sondern durch Neukontextualisierung, Wortwörtlichmachungen, Zitatmontagen und zahlreiche andere Stilmittel (vgl. u. a. Heberger 2002: 95ff.; Lücke 2008: 82f.) vornehmlich auf der discours-Ebene ad absurdum geführt und zerstört. Hinsichtlich der Patriarchatskritik geht Jelinek in Lust also einen Schritt weiter : Hier scheitern nicht nur die Männlichkeiten am Patriarchat, sondern die Grundsäulen des Patriarchats werden als absurde Mythen entlarvt und damit destruiert – dem Patriarchat wird jede Existenzgrundlage genommen. Hermanns Männlichkeitsperformanz scheitert somit nicht, sondern wird letztlich grundsätzlich unlebbar.

Kompositionsglieder der Jelinek’schen Patriarchatskritik

Im Interview mit Gunna Wendt beschreibt Jelinek ihre Art zu Schreiben: Meine Texte sind ja nicht in dem Sinne erzählend. Wenn man eine erzählende Prosa schreibt, könnte ich mir denken, daß man da mit Routine etwas anfangen kann. Aber meine Texte sind ja eher nach kompositorischen Prinzipien gebaut, wo das Wort selbst eben das Klangmaterial ist. Das sind eigentlich Sprachkompositionen, was viel zu wenig erkannt worden ist in der Rezeption. (Jelinek in Wendt 1992)

Was die musikalische Schriftstellerin hier für die discours-Ebene behauptet, ist auch auf die histoire-Ebene übertragbar. Jelineks Patriarchatskritik lässt sich in den Texten – so konnte es in der Analyse herausgefiltert werden – in verschiedenen Formen ausmachen. Die Figuren stehen als Symptome für ihre soziokulturellen Kontexte und bilden somit Teile der einzelnen Glieder einer Gesamtkomposition, die die Kritik an der männlichen Herrschaft letztlich erklingen lässt. Im Folgenden werden sechs dieser Kompositionsglieder umfassend beleuchtet, nachdem die ausgemachten Handlungsmuster der einzelnen Figuren noch einmal präzise resümiert wurden. Als zentrales Ergebnis der Analyse kann festgehalten werden, dass die betrachteten Figuren die hegemoniale Männlichkeit als generatives Prinzip ihrer Männlichkeitskonstruktion nutzen. Das Ideal der hegemonialen Männlichkeit stellt für alle untersuchten Männlichkeiten eine Orientierungsfolie dar, wobei Rainer diese Folie anders nutzt. Rainers spezifischer Verhandlung von Männlichkeit wird in diesem Teil der Arbeit daher ein eigener Abschnitt gewidmet. Was am Ende der Analyse der Figuren als Symptom steht, sind allerdings keine Verkörperungen hegemonialer Männlichkeit, sondern unterschiedliche Performanzen diverser Handlungsmuster von Männlichkeit. Im Folgenden werden die Handlungsmuster der einzelnen Figuren durch eine konzise Beschreibung der geschlechtlichen Performanzen noch einmal zusammenfassend auf den Punkt gebracht.

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Kompositionsglieder der Jelinek’schen Patriarchatskritik

Erika Kohut Erika Kohut ist trotz ihrer phallischen Anmaßung keine phallische Frau im Sinne Angela McRobbies. In der Analyse wurde evident, dass Erika hin und her gerissen ist zwischen der Verkörperung einer emphasized femininity und ihrem damit unvereinbaren Anspruch auf Macht und Autonomie. Sie eignet sich männlich konnotierte Räume und Verhaltensweisen an und versucht, sich von ihrem Körper mit seinen weiblichen Konnotationen zu lösen. Es wurde deutlich, dass die Faktoren, die für eine hegemoniale Männlichkeit Gültigkeit besitzen, auch für Erika zu Orientierungspunkten werden. Eine hegemoniale Männlichkeit verkörpert sie allerdings nicht, da sie – wie in der Analyse ausführlich dargelegt – an den Anforderungen des Patriarchats an die Verkörperung einer hegemonialen Männlichkeit scheitert. Erikas Bestrebungen, sich über Schminke und neue Kleider Weiblichkeit anzueignen, können darüber hinaus im Sinne der postfeministischen Maskerade verstanden werden. Erika nutzt diese Attribute in ihrer Zerrissenheit, um weniger bedrohlich für Männer zu sein, um ihre Konkurrenzposition zu verschleiern, und damit doch eine betonte Weiblichkeit zu mimen. In der Analyse wurde Erika daher als Hybrid eingestuft. Die Machtposition, die Erika als Klavierlehrerin und in den intellektuellen Auseinandersetzungen mit Walter einnimmt, entfernen sie von einer emphasized femininity. Somit stellt sie am ehesten eine pariah femininity nach Mimi Schippers oder – mit Joachim Kersten gesprochen – eine Protestweiblichkeit dar. Ihre Macht und Autorität stellen eine Bedrohung für die Aufrechterhaltung des Patriarchats dar, weshalb sie in ihrer Form von Weiblichkeits- bzw. Männlichkeitsperformanz sanktioniert und letztlich untergeordnet wird. Walter Klemmer Walter Klemmer beherrscht die Maskerade einer hegemonialen Männlichkeit recht gut – verkörpern kann er jedoch keine, da er aufgrund seiner ökonomischen Situation und seines Alters keine Autonomie für sich beanspruchen kann. Sein oberstes Ziel, uneingeschränkt zu herrschen und Macht auszuüben, kann er nicht erreichen. Dennoch begibt er sich regelmäßig in Machtkämpfe, die ihm eine Position sichern sollen, aus der heraus er dominant sein kann. Im Rahmen der Analyse wurde herausgestellt, dass Walters Männlichkeit zahlreiche Brüche aufweist. Diese entstehen nicht nur durch Kommentare der Erzählinstanz, sondern auch auf inhaltlicher Ebene, wenn Walter mit seiner Erektionsstörung kämpft oder Walter der Jäger auf der Jagd zur Sammlerin wird. Er scheint ein Bedürfnis entwickelt zu haben, sich von Weiblichkeit zu distanzieren bzw. sie vehement abzuwerten. Mit einer ausgeprägten libido dominandi ausgestattet möchte er, wenn er schon nicht an der Spitze der Männlichkeiten steht, zumindest die Frauen dominieren. Er hat ein sehr klares und rigides Bild von den Geschlechterrollen, welche für ihn binär und komplementär organisiert sind

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und sich in ihrer Konstitution an traditionellen Werten und Normen zu orientieren haben. Walter strebt die Verkörperung einer traditionellen Männlichkeit an, kann den Ansprüchen aber nicht gerecht werden. Da er dennoch so überzeugt ist von der Richtigkeit und Natürlichkeit dieser traditionellen Werte, ist er bestrebt, das patriarchal geprägte Herrschaftssystem zu stützen, wahrscheinlich in der Hoffnung, mit Erlangung einer autonomeren Position auch das Ideal der hegemonialen Männlichkeit erreichen zu können. Walter verkörpert somit das Handlungsmuster einer komplizenhaften Männlichkeit. Er unterstützt das zweigeschlechtlich organisierte Herrschaftssystem mit all seinen Mitteln und profitiert davon durch die patriarchale Dividende. Otto Witkowski Die Figur Otto Witkowski erscheint in der Analyse als ein Paradebeispiel einer gescheiterten Männlichkeit. Einst eine hegemoniale Männlichkeit verkörpernd ist Otto nun ein gebrochener Mann. Mit dieser Position möchte er sich jedoch nicht zufrieden geben. Er ist bestrebt, Illusionen aufrechtzuerhalten, die ihm die Fassade eines sexuell potenten, ökonomisch gut aufgestellten, körperlich unversehrten Mannes garantieren sollen. Er schlägt seine Zwillinge regelmäßig und auch seine Ehefrau traktiert er mit Schlägen und erniedrigenden Fotografien. In einem Moment der Reflektion wird deutlich, dass Otto seine Männlichkeit selbst als defizitär erlebt, er vergräbt seinen Kopf an Gretls Brust und beweint seine seelischen und körperlichen Gebrechen, die ihn an seinem Männlichkeitsideal scheitern lassen. Otto lässt sich letztlich einer komplizenhaften Männlichkeit zuordnen. Er scheitert zwar auf multiplen Ebenen an den Anforderungen, die das Patriarchat an die Verkörperung einer idealen Männlichkeit stellt, jedoch hält er die traditionellen Werte und Normen dieses Herrschaftssystems weiter aufrecht.130 Damit leistet er seinen Beitrag zur männlichen Vorherrschaft, ohne zu reflektieren, dass dessen Normen es sind, an denen Otto selbst scheitert. Die Figur lässt sich jedoch noch spezifischer einordnen. Otto reagiert auf das Gefühl der Machtlosigkeit mit Aggression, er erhebt dennoch einen Anspruch auf einen Teil der männlichen Macht und treibt seine männlich konnotierten Verhaltensweisen daher ins Extrem – eine Art Überkompensation. Connell beschreibt solch ein Handlungsmuster in Anlehnung an Alfred Adler als protestierende Männlichkeit oder Protestmännlichkeit (vgl. Connell 2015: 170f.). Er ist zwar Verlierer, aber dennoch weiterhin Teil des hegemonialen Systems. Mit Connell passt in diese Praxis der protestierenden Männlichkeit auch der Sinn für 130 Ein Beispiel hierfür ist, dass er sich als Ernährer und Versorger der Familie inszeniert, obwohl er längst nicht mehr in der Lage ist, seine Familie allein zu ernähren. Der Mann als Ernährer bleibt dennoch Teil seines Selbstbildes, was für ihn seinen Anspruch auf Macht rechtfertigt, obwohl ihm jegliche Grundlage dafür fehlt.

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Selbstdarstellung bzw. Ottos Gedanken um seine äußere Wirkung, die herkömmlich weiblich konnotiert sind. Es geht hierbei darum, mit aller Kraft die Männlichkeitsfassade aufrechtzuerhalten (vgl. ebd.). Ottos Handlungsmuster lässt sich somit eindeutig mit männlichem Protest bzw. als Protestmännlichkeit beschreiben. Hans Sepp Wenngleich Hans Sepp zu Beginn der Handlung bereits einige Attribute einer traditionellen Männlichkeit für sich beansprucht hat, so ist es der Kontakt mit Rainer, der ihn dazu bringt, das Ideal der hegemonialen Männlichkeit und damit eine unhinterfragbare Machtstellung anzustreben. Sein Körper dient ihm dabei als unerlässliche Ressource. Er mimt den Beschützer genauso wie den sexuell potenten Liebhaber. Doch die mangelhafte Verfügung über kulturelles und ökonomisches Kapital halten ihn in seiner Position des Proletariers gefangen. Aus dieser Position heraus ist es ihm nicht möglich, ernsthaft mit anderen Männlichkeiten um eine Vormachtstellung zu konkurrieren. Daher ist es neben der wenig überzeugenden Vortäuschung wirtschaftlichen Wohlstandes sein Körper, der über Gewalt und Triebhaftigkeit seine Männlichkeit sichern sollen. Hans hinterfragt zu keinem Zeitpunkt die traditionellen Normen für die zwei vorgesehenen, komplementär gedachten Geschlechterrollen, die im Patriarchat etabliert wurden. Im Gegenteil stützt er dieses Herrschaftssystem sowohl in seinem Umgang mit Anna und Sophie als auch in seiner eigenen Männlichkeitskonstruktion. Auch Hans verkörpert demnach das Handlungsmuster einer komplizenhaften Männlichkeit in Form des männlichen Protests, obgleich der Protest bei Hans bei weitem nicht so ausgeprägt ist wie bei Otto. Anna Witkowski Der Figur Anna Witkowski ein Handlungsmuster zuzuordnen schien zunächst recht simpel zu sein. Anna entspricht in zahlreichen Aspekten dem Muster einer phallischen Frau nach McRobbie. Sie agiert zunächst über weite Handlungsstränge in einem habituell als männlich zu verortenden Rahmen. Im Kontext der Raubüberfälle schlägt sie zu und traktiert ihre Opfer ohne Mitleid, empfindet sogar große Lust daran, anderen Schmerzen zuzufügen. Wenn sie nicht gerade von der Sprachlosigkeit überwältigt wurde, erzählt sie anzügliche Witze und pöbelt gegen Mitschüler_innen oder ihren Bruder. Auch was ihre Sexualität angeht, ist diese eher auf unverbindliche Interaktionen ausgerichtet und neigt zur Promiskuität. Ihre phallische Anmaßung hat zunächst somit tatsächlich das Potential eine »radikale Neuordnung der Geschlechterhierarchie« (McRobbie 2010: 122) herbeizuführen. Sie erscheint als stereotype phallische Frau. Doch ihre sexuelle und später (für sie) auch emotionale Beziehung zu Hans führt einen Bruch in ihrer Performanz herbei. Anna, die sich eigentlich ihre Autonomie und

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Dominanz bewahren möchte und die Weiblichkeit, die ihr anhaftet, vehement negiert (vgl. Punkt IV der Kompositionsglieder der Jelinek’schen Patriarchatskritik), möchte sich nun Hans unterwerfen und mit ihm eine Beziehung führen. Eine Beziehung im Kontext der heterosexuellen Matrix scheint für sie allerdings nur möglich, wenn sie sich als emphasized femininity den patriarchalen Normen unterordnet. Ihre Männlichkeitsperformanz wird durch ihre Subordination unter einen Mann im Rahmen einer heterosexuellen Beziehung massiv eingeschränkt, sie verliert ihre sexuelle Selbstbestimmung und Unabhängigkeit. Somit verkörpert Anna letztlich eine gebrochene phallische Frau bzw. eine gebrochene Protestweiblichkeit. Dennoch zeigt die Figur Möglichkeiten abseits der rigiden Zweigeschlechtlichkeit und den dementsprechend starren Verhaltensrollen auf, was ein großes subversives Potential birgt. Rainer Witkowski Die Analyse zu Rainer Witkowski machte deutlich, dass die Figur im Kontext der Jelinek’schen Figurenkonzeptionen eine Ausnahme darstellt. Daher wird ihr in Punkt 2 dieses Teils der Arbeit ein eigener Abschnitt gewidmet. Es kann jedoch bereits hier festgehalten werden, dass der Figur keines der im Theorieteil vorgestellten Handlungsmuster zuzuordnen ist. Daher muss das Analyseinstrumentarium um ein weiteres Handlungsmuster erweitert werden. Anja Buschmeyer ergänzt Connells Konzept in ihrer Arbeit zur Männlichkeitskonstruktion von Erziehern um die alternative Männlichkeit (vgl. Buschmeyer 2013: 98ff.). Es handelt sich hierbei um Männlichkeiten, die sich bewusst vom Ideal der hegemonialen Männlichkeit abwenden, es möglicherweise sogar dezidiert ablehnen und sich feministisch positionieren. Dieses Handlungsmuster stellt einen Gegenentwurf zur komplizenhaften Männlichkeit dar, wobei anzumerken ist, dass die alternativen Männlichkeiten dennoch von der patriarchalen Dividende profitieren. Trotz der Wirkmächtigkeit des Ideals der hegemonialen Männlichkeit für Rainer lassen sich die Praktiken der Figur dennoch einer alternativen Männlichkeit zuordnen. Nach dieser ersten resümierenden Einordnung der Figuren in geschlechtsspezifische Handlungsmuster werden nun im Folgenden die Ergebnisse aus der Analyse systematisch und werkübergreifend aufbereitet. Es wurden sechs Kompositionsglieder ausgemacht, die entscheidende Erkenntnisse über die zugrundeliegende Frage nach Jelineks Formen der Patriarchatskritik und dessen Funktionsweise bereithalten.

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I.

Kompositionsglieder der Jelinek’schen Patriarchatskritik

Zur Kastration von traditionellen Männlichkeiten131

Im Rahmen der Analyse wurde deutlich, dass Jelinek ironisch und bissig Kritik an den patriarchalen Herrschaftsverhältnissen übt, indem die männlich gezeichneten Figuren in den untersuchten Werken als Persiflage einer traditionellen Männlichkeit herausgestellt werden. Bei nahezu allen untersuchten Figuren wirkt das Ideal der hegemonialen Männlichkeit als generatives Prinzip ihrer Männlichkeitskonstruktion.132 Es ergeben sich jedoch nicht etwa unhinterfragte Machtinhaber aus der Orientierung an diesem Ideal, sondern im Gegenteil scheitern die Figuren auf multiplen Ebenen an den verinnerlichten Anforderungen, die das Patriarchat an die Verkörperung einer Männlichkeit stellt: sie werden symbolisch kastriert. Dabei ist (symbolische) Kastration zu verstehen als Verlust des Phallus, als ein Erleiden eines grundlegenden Mangels. Der Phallus wiederum ist hier als Signifikant in seiner symbolischen Bedeutung zu begreifen: als symbolische Repräsentation von kultureller und symbolischer Macht und Männlichkeit an sich (vgl. Lacan nach Rendtorff 1996, Bischoff 2001). Wenn Jelinek ihre Figuren im Hinblick auf ihre soziale Lage nicht mit der Möglichkeit ausstattet, das benannte Ideal zu erreichen, nimmt sie ihnen kulturelle und symbolische Macht. Der Machtverlust wird dann noch verstärkt, wenn die Erzählinstanz beispielsweise die Unmöglichkeit, die Klassenschranken zu überwinden, herausstellt. Jelinek überzeichnet die Männlichkeiten in der Prosa, indem sie die Ansprüche auf die traditionellen Eckpfeiler von Männlichkeit und auf die uneingeschränkte Herrschaftsausübung bis ins Extrem treibt. Die Überspitzung deutet bereits darauf hin, dass Jelinek damit ihren Anstoß am Herrschaftssystem formuliert. Ihre Figuren sind allerdings letztlich nicht in der Lage, eine uneingeschränkte traditionelle Männlichkeit zu verkörpern, da den Akteuren auf inhaltlicher Ebene die Möglichkeit einer ungebrochenen Performanz genommen wird, indem sie kastriert werden. Der traditionellen Männlichkeit als Verkörperung der hegemonialen Männlichkeit sollte aufgrund der patriarchalen Herrschaftsverhältnisse das Herrschen eigentlich inhärent sein. Mit dem Einsatz von Mitteln wie Ironie, Groteske und Dekonstruktion hindert die Erzählinstanz sie jedoch daran. Jelinek stellt die Männlichkeiten – vor allem in ihrer Verzweiflung daran – als Persiflage auf Männlichkeit heraus und entlarvt die männliche Herrschaft gleichzeitig per se als Absurdität, als Paradoxie.

131 Vgl. zu diesem Kapitel auch Schwanke 2017a. 132 Rainer Witkowski bildet hierbei – wie bereits erwähnt – eine Ausnahme, auf die im nächsten Unterkapitel ausführlicher eingegangen wird.

Zur Kastration von traditionellen Männlichkeiten

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Im Folgenden wird noch einmal an einigen prägnanten Beispielen veranschaulicht, wie sich die symbolischen Kastrationen der männlich gezeichneten Figuren in den Werken vollziehen. In der Analyse zu Walter Klemmer wurde deutlich, dass Walter häufig seinen Körper einsetzt, um sich gegen Erika zu behaupten. Dies tut er einerseits, indem er seine körperliche Überlegenheit durch Vergewaltigung Erikas demonstriert, andererseits, indem er im Falle des eigenen Unterlegenheitsgefühls bemüht ist, Erikas Körper als alt zu disqualifizieren und seinen eigenen damit aufzuwerten. Sein Körper erscheint als Allzweckwaffe. Walter zieht ihn sowohl in körperlichen als auch in intellektuellen Auseinandersetzungen heran, um seine Männlichkeit aufzuwerten. Doch seinen Bemühungen, eine hegemoniale Männlichkeit zu performen, wird mit Brüchen begegnet, die einerseits durch die Erzählinstanz und andererseits durch die Handlung selbst herbeigeführt werden. Diese Brüche stellen eine symbolische Kastration der Figur dar. Walter, der athletische, gesunde und fitte junge Mann hat mit Erektionsstörungen zu kämpfen. Ihm wird die Potenz, d. h. die Macht genommen. Die Erzählinstanz zelebriert dieses Versagen nahezu durch eine Vielzahl an metaphorischen Umschreibungen für das schlaffe Glied. Walter beteuert dabei fast histrionisch133 seine außerordentliche Potenz, doch die sexuelle Interaktion wird aufgrund von Walters Versagen letztlich abgebrochen. Nach anfänglicher Theatralik ist er bemüht, seinen Männlichkeitsverlust zu nivellieren, indem er mit Aggression auf die Erektionsstörung reagiert. Er strebt nun eine besonders archaische Männlichkeitsperformanz an: Er möchte einen Flamingo töten, er möchte zum Jäger werden. Doch auch dies funktioniert nicht, denn auf sarkastische und persiflierende Weise kastriert hier die Handlung den jungen Walter Klemmer. Er findet keinen Flamingo. Stattdessen wird er zur Sammlerin, die auf der verzweifelten Suche nach einem Knüppel, einer Waffe, einem Phallusersatz ist. Die Situation endet in einer Groteske, zu Lasten von Walters Männlichkeit. Mit dem Ziel, die symbolische Kastration rückgängig zu machen, vergewaltigt er Erika. Auch bei seinem Abgang hiernach wird mit einer persiflierenden Darstellung seiner Figur gearbeitet. Spätestens hier wird durch Überzeichnung und Karikierung die Persiflage seiner Figur deutlich, wodurch der vermeintliche Sieg negiert und die Figur symbolisch kastriert bleibt. Allein die Wahl eines Flamingos zur Tilgung der weiblichen Konnotationen die an Walters Performanz haften, deutet auf die Effeminierung der Figur durch die Erzählinstanz hin. Doch auch an zahlreichen anderen Stellen wird mit die133 Vgl. histrionische Persönlichkeitsstörung: kennzeichnend sind u. a. dramatisch-theatralisches, manipulatives, extravertiertes Verhalten; Affektlabilität; Ichbezogenheit. Vgl. ICD10, F60.4; Sachse 2016.

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Kompositionsglieder der Jelinek’schen Patriarchatskritik

sem stilistischen Mittel gearbeitet, um die Figur zu verweiblichen und damit zu brechen. Dies stellt einen satirischen Umgang mit Walters Männlichkeitsperformanz dar. Durch die Arbeit mit Effeminierung wird mit der absurden Angst der Männlichkeiten vor allem Weiblichen gespielt, mit der massiven Weiblichkeitsabwehr, die laut Rolf Pohl einer jeden Männlichkeit per se inhärent sei (vgl. Pohl 2011: 124). Jelinek nutzt die Macht dieses ›Gespenstes‹, die Angst vor der »weiblichen Kontamination« (Pohl 2011: 127), um die Männlichkeit Walters zu denunzieren und damit zu kastrieren. Hieran wird auch noch einmal deutlich, dass die Handlung in einem patriarchal organisierten zweigeschlechtlichen System angesiedelt ist, welches die Gleichsetzung von Verweiblichung und Abwertung bzw. Unterordnung überhaupt erst ermöglicht. Die vom Patriarchat selbst implementierte Verknüpfung nutzt die Erzählinstanz ihrerseits zur Denunziation der Figuren. Diejenigen, die eigentlich vom Mittel der Effeminierung profitieren wollten, sind es nun, die damit untergeordnet werden, womit Jelinek einmal mehr die Absurdität der Funktionsweisen des Patriarchats aufgezeigt hätte. Die Kastration der Figur Otto Witkowski erfolgt weniger über Effeminierung – weniger über die Kategorie Geschlecht also – als vielmehr über andere Strukturkategorien wie die ökonomische Position und die körperliche (Un-)Versehrtheit. Die Analyse von Ottos Umgang mit seiner ökonomischen Position ist besonders aufschlussreich gewesen. Er leugnet auch Jahre nach Kriegsende immer noch seinen Klassenabstieg in die Arbeiterklasse und leistet sich Luxusgüter, die in seiner faktischen sozialen Position paradox anmuten. Anhand von Gretls Job in bürgerlichen Haushalten wird auf mehrfache Weise deutlich, dass Otto seiner gesellschaftlichen Machtstellung beraubt wurde. Dass Gretl als Ehefrau überhaupt eine berufliche Tätigkeit ausüben muss134, dass sie von einer Lehrerin zur Haushaltshilfe wurde, und dass sie ihre Tätigkeit auch noch in bürgerlichen Haushalten ausübt, führt den Rezipierenden explizit vor Augen, wie es um die Familie Witkowski steht. Wenn Otto dann mehrfach betont, dass er der Familienerhalter ist oder sich besonders großzügig gibt, zeugt das davon, dass er sich eine Illusion aufrecht erhalten möchte. Mit dem Wissen um Ottos tatsächliche wirtschaftliche Situation wirken seine Handlungen und Äußerungen lächerlich und lassen die gesamte Figur als Persiflage erscheinen. Dieser Effekt tritt genauso ein, wenn Otto über seine enorme sexuelle Potenz spricht. Den weiblichen Figuren gegenüber stellt er sich als äußerst potenter 134 Das Bürgertum erreicht eigentlich einen Distinktionsgewinn darüber, dass die Ehefrau Hausfrau sein kann und aufgrund des wirtschaftlichen Wohlstands nicht arbeiten muss (vgl. Behnke 2000: 130).

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Liebhaber dar. Tatsächlich ist Otto aber weitgehend impotent, was wahrscheinlich auch seine Eifersucht auf andere Männer begründet. Diese körperliche Einschränkung wird begleitet von dem Verlust eines Beines im Krieg. Die körperliche Unversehrtheit als obligatorischer Bestandteil von Ottos Männlichkeitsideal kann er nicht erfüllen. Er erscheint somit nicht nur aufgrund seines ökonomischen Defizits als kastriert, sondern auch aufgrund seiner körperlichen Verfassung. Besonders hervorgehoben werden soll an dieser Stelle die Szene, in der Otto beim Versuch, seine Frau zu vergewaltigen, stürzt. Sein Motiv dieser Handlung war die Demonstration seiner Macht und Überlegenheit. Das Ergebnis ist jedoch der Beweis dafür, dass Otto über keinerlei Macht verfügt. Die gesellschaftliche Position Ottos wird durch die gesamte Szene, abgerundet durch den Kommentar der Erzählinstanz, eindrucksvoll auf den Punkt gebracht: er ist eine symbolisch kastrierte, von jeglicher Macht enthobene Männlichkeit, die eine Illusion lebt. So ist auch die Aktfotografie kein zufällig gewähltes Hobby von Otto. Sie soll dem Zweck dienen, an alte Machterfolge anzuknüpfen – die Kastration rückgängig zu machen. Es geht ihm mit der Nachstellung von erniedrigenden Szenarien darum, sich selbst als Erzeuger derselben in eine machtvolle Position zu versetzen. Er möchte hiermit an die ›Erfolge‹ seines Kriegseinsatzes anknüpfen und das Machterleben fortführen. Erfolg und Macht sind es auch, die Otto antreiben, wenn er die junge Frau in der Gaststätte für sich gewinnen will. Die Masturbationsszene auf der anschließenden Heimfahrt ist ein besonders anschaulicher Beleg dafür, wie die Figuren symbolisch kastriert werden, wie ihnen Macht und Männlichkeit entzogen wird. Die absurde Reaktion Ottos lässt darüber hinaus eine eindrucksvolle Persiflage auf Männlichkeit entstehen. Die Verzerrung der Figur und ihrer Handlungen ins Komisch-Absurde bewirkt eine massive Herabsetzung seiner Männlichkeit, was einer symbolischen Kastration gleichkommt. Alle Handlungsstrategien Ottos sind mit Hinblick auf seinen Versuch zu deuten, seine Kastration – sowohl auf Ebene der körperlichen Versehrtheit als auch in ökonomischer Hinsicht – rückgängig zu machen, um seine Machtposition zurückzugewinnen. In Anbetracht von Ottos verzweifeltem, überzeichnetem Kampf um Männlichkeit wird die Figur zur bloßen Parodie auf Männlichkeit. Die symbolische Kastration von Hans erfolgt zuvorderst über die Darstellung seiner subordinierten sozialen Position in der Arbeiterklasse. Früher orientierte Hans sich noch nicht explizit am Ideal der hegemonialen Männlichkeit, was aus den Gesprächen mit seiner Mutter abzuleiten ist. Doch in dem Kontakt mit Rainer, welcher in ihm das Bedürfnis nach etwas Neuem weckt, beginnt er, eine traditionelle Männlichkeit anzustreben. Hierdurch wird auch die Sichtbarkeit der symbolischen Kastration erhöht, denn eine entmachtete Position wird au-

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Kompositionsglieder der Jelinek’schen Patriarchatskritik

genfälliger, wenn die Macht ins Sichtfeld rückt und einen Kontrast herstellt. Hans richtet seine Männlichkeitsperformanz nun an neuen Werten aus. Stark von Rainer geprägt ist es nun die Bildung, über die er zu mehr Kapital kommen möchte, um in der Klassenhierarchie aufzusteigen. Hiervon verspricht er sich offenbar eine Annäherung an die hegemoniale Männlichkeit. Für ihn ist der Klassenaufstieg weniger über die Akkumulation von kulturellem Kapital realistisch als viel mehr über sein wirtschaftliches Vorankommen. Der Mann als Ernährer ergänzt damit nun sein Bild einer idealen Männlichkeit. Mit seinem neuen Ideal ist er als genuine Arbeitermännlichkeit fortan mit allerhand Dissonanzen konfrontiert. Da Hans’ Kapitalsteigerungen noch in ferner Zukunft liegen, übt er sich in Suggestion, was die Wahrnehmung seiner Person der Rolle des Ernährers – und damit seinem Männlichkeitsideal – unmittelbar näherbringen soll. Dieses Ziel erreicht er allerdings nicht, denn durch die symbolische Kastration der Figur hinsichtlich ihrer tatsächlichen sozialen Position ist Hans weiterhin auf seinen Körper angewiesen. Die Reduzierung seiner Männlichkeitsperformanz auf seinen Körper verweist durch die Objektivierung bereits dezent auf die Effeminierung der Figur. Der als Karikatur eines lonesome cowboys inszenierte Hans wird in nahezu allen sozialen Interaktionen mit anderen Figuren zum Werkzeug und damit zum Objekt gemacht. Wenn Sophie Hans über Objektivierung und Erniedrigung entmachtet, findet eine aktive symbolische Kastration durch eine andere Figur statt. Hier geht es also nicht in erster Linie um Hans’ soziale Position, sondern um seine Instrumentalisierung zu Sophies eigenem Genuss, die das kastrierende Moment herbeiführt. Diese Instrumentalisierung wirkt auf zwei Arten kastrierend: Zum einen ist es die plakative Entmachtung, zum anderen findet durch die Objektivierung eine Art Effeminierung statt – beides führt zur Unterordnung von Hans. Wie in der Analyse deutlich werden konnte, wird an zahlreichen Stellen mit der Effeminierung von Hans durch seine Objektivierung gearbeitet, meist indem er auf seinen Körper bzw. seine Körperlichkeit reduziert wird. Dies ist somit neben Otto auch für die Figur Hans Sepp ein zentrales Mittel der symbolischen Kastration. Mit dem Mittel der Effeminierung wird folglich bei allen drei Männlichkeiten gearbeitet, um eine symbolische Kastration zu erzielen. Während es bei Walter eher die Erzählinstanz ist, die ihn immer wieder in die Nähe des Weiblichen rückt, sind es bei Hans die anderen Figuren, die ihm einen Objektstatus zuweisen. Diese Reduzierung auf seinen Körper nimmt Hans temporär sogar an, weil der Körper seine einzige Ressource ist, auf die er zugreifen kann, um Männlichkeit herzustellen. Bei Otto wiederum ist es so, dass er sich selbst in einen Objektstatus begibt, um hierüber seine Männlichkeit zu bestätigen. Pa-

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radoxerweise trägt dies jedoch zu seiner symbolischen Kastration bei; er sägt damit an seinem eigenen Ast. Anhand der drei Figuren wurde deutlich, dass Jelinek die Figurenkonzeptionen so anlegt, dass die Figuren das Ideal der hegemonialen Männlichkeit anstreben, um dann sichtbar zu machen, dass sie dieses Ideal nicht erreichen können. Diese Unerreichbarkeit wird zum einen veranschaulicht, indem Jelinek die Figuren in sozialen Positionen konzeptioniert, die eine Verkörperung des Ideals ausschließen. Andererseits bettet sie die Figuren in komplexe Handlungskonstellationen ein, um die Figuren auch situativ zu kastrieren. So scheitert Otto zwar aufgrund seiner wirtschaftlichen Lage und seiner körperlichen Versehrtheit am Ideal der hegemonialen Männlichkeit, doch die Szene seines Sturzes sowie die Szene mit Rainer im Ausflugslokal bzw. im Auto stellen erst die eigentliche symbolische Kastration dar. Dies gilt ähnlich für Walter: Walter ist Erika zwar bildungsmäßig unterlegen und auch ökonomisch ist er nicht unabhängig – schließlich lebt er bei seinen Eltern – doch ist es erst die Erzählinstanz, die Walter an zahlreichen Stellen durch ironische oder zynische Kommentare disqualifiziert und damit kastriert. Im Falle von Hans ist es mit Sophie eine andere Figur, die die symbolische Kastration aktiv vollzieht. Die symbolische Kastration vollzieht sich also auf vier unterschiedlichen Ebenen: Es ist ein Konglomerat aus Vermittlung, situativen Ereignissen, konkreten Handlungen und der grundlegenden Charakterisierung bzw. Positionierung der Figuren. Alle Strategien dienen letztlich dem Zweck der Patriarchatskritik. Denn mit der Kastration auf symbolischer Ebene zeigt Jelinek die Absurdität des patriarchalen Herrschaftssystems auf: Die männlich gezeichneten Figuren, die von dem System profitieren sollten, scheitern selbst daran. Durch die Figurenkonzeptionen wird die männliche Herrschaft hinterfragt und letztlich dekonstruiert. Schließlich deklariert das System, in welchem die Minderwertigkeit und Objekthaftigkeit von Frauen tief verankert ist, alle Abweichungen vom rigiden Ideal einer hegemonialen Männlichkeit als defizitär, minderwertig und sanktioniert sie.

II.

Rainer als Versuch einer heterotopischen Figurenkonzeption?

Von Michael Meusers Ansatz ausgehend wurde in dieser Arbeit angenommen, dass die hegemoniale Männlichkeit für alle Figuren als generatives Prinzip ihrer Männlichkeitskonstruktion fungiert. Nach der Analyse kann festgehalten werden, dass dies auf alle untersuchten Figuren zutrifft – mit einer Ausnahme: Rainer Witkowski. Es konnte nur ein gravierender Aspekt ausgemacht werden,

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Kompositionsglieder der Jelinek’schen Patriarchatskritik

den Rainer mit traditionellen Männlichkeiten gemeinsam hat: Das Bestreben, eine Machtposition einzunehmen. Er versucht dies allerdings nicht über die Verkörperung einer traditionellen Männlichkeit zu erreichen, sondern über die Akkumulation von kulturellem Kapital. Rainer betont stets seine Intellektualität und möchte sich durch seine geistigen Fähigkeiten über andere erheben. In seinen verzweifelten Bemühungen um intellektuelle Dominanz wirkt er allerdings lächerlich, was die Figuren und auch die Erzählinstanz immer wieder hervorheben. Hieran wird bereits ersichtlich, dass Rainers Männlichkeitsperformanz nicht auf die gewünschte Akzeptanz und Zustimmung trifft. Auch wenn Rainer von der Wirkmächtigkeit des Ideals der hegemonialen Männlichkeit beeinflusst und geprägt ist, so grenzt er sich doch in einigen Punkten dezidiert davon ab. Diesen Abgrenzungen wird in diesem Abschnitt noch einmal nachgegangen. In der Analyse der Figur konnte herausgearbeitet werden, dass Rainer sich von Sexualität und Körperlichkeit abwendet. Die Ursachen hierfür liegen vor allem in seiner Beziehung zu seinem Vater sowie in der Beziehung seiner Eltern zueinander. Doch die im Rahmen der Handlung genannten Gründe für seine Identitätskonstitution sollen an dieser Stelle in den Hintergrund rücken. Denn wichtig ist vor allem: Mit der vehementen Abwendung von Körperlichkeit und Sexualität fallen zwei elementare Aspekte einer Männlichkeitskonstitution für Rainer weg. Durch das Intellektualisieren seines Körpers enthebt er ihn seiner sexuellen Konnotation. Die Demonstration der sexuellen Potenz zum Beweis der eigenen Überlegenheit stellt für ihn also keine Möglichkeit der Männlichkeitskonstruktion dar. Dies gilt genauso für die körperliche Stärke: Davon abgesehen, dass Rainer aufgrund seiner körperlichen Konstitution ohnehin nicht besonders konkurrenzfähig wäre, liegt es ihm fern, sich körperlich mit anderen Männlichkeiten zu messen und hierüber eine Machtposition einzunehmen. Rainer leugnet letztlich sogar die Existenz seines Penis (vgl. AUS 180), was in Anbetracht der Tatsache, dass der Penis in der erzählten Welt durchaus als Phallus und damit als Repräsentant von Macht verstanden wird, eine besonders aufschlussreiche Handlung der Figur ist.135 Die Weiblichkeitsabwehr bzw. Abwertung von allem Weiblichen ist bei den Jelinek’schen Figuren ein zentrales Thema. Auch Rainer ist geprägt durch traditionelle Geschlechterstereotype. Dies wird evident, wenn er an verschiedenen Stellen phrasenartig referiert, wie passiv die Frau ist, während er als Mann den aktiven Führer darstellt. Parallel dazu nimmt er allerdings ausschließlich Anna und Sophie als ernstzunehmendes Gegenüber wahr und gesteht ihnen einen Subjektstatus zu. Schließlich ist er sogar so flexibel in seiner geschlechtlichen 135 Es ist kein Zufall, dass Anna ausgerechnet den Penis des überfallenen Mannes attackieren möchte (vgl. AUS 213).

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Performanz, dass er in Anbetracht seines eigenen Unvermögens Sophie in der Rolle der Ernährerin akzeptieren würde und von ihr materiell versorgt werden möchte. Für seine schon fast egalitären Ansprüche an die Geschlechterverhältnisse spricht außerdem, dass es ihn buchstäblich zum Erbrechen bringt, wenn eine Frau sexuell erniedrigt wird. Weil er Geschlechtsverkehr generell als erniedrigend für die Frau erlebt, lehnt er sexuellen Kontakt insgesamt ab (AUS 156). Seine Gedanken an Intimität mit Sophie idealisiert er, damit hierbei keinerlei Ähnlichkeiten mit dem Verkehr seiner Eltern zu erkennen sind. So kann er sich weiterhin von der Männlichkeit seines Vaters abgrenzen. Daran dass er sich dennoch Geschichten über seine sexuelle Biografie ausdenkt, wird deutlich, dass Rainer die gesellschaftlichen Konventionen und Ideale einer jungen Männlichkeit durchaus kennt und auch verinnerlicht hat. Er ist somit an einigen Stellen darum bemüht, sich in der Fremdwahrnehmung dem Ideal einer hegemonialen Männlichkeit anzunähern. So stehen bei der Figur Rainer immer wieder widersprüchliche Handlungen und Aussagen einander gegenüber, die deutlich machen, dass Rainer sich in seiner Männlichkeitsperformanz ausprobiert. Als er feststellt, dass Sophie Hans begehrt, erprobt er verschiedene Attribute einer traditionellen Männlichkeit. Neben seinen mangelnden Ressourcen lässt ihn auch seine mangelnde habituelle Sicherheit an der Verkörperung einer traditionellen Männlichkeit scheitern – es fehlt ihm an Authentizität. Rainer ist versucht, einen alternativen Männlichkeitsentwurf (vgl. Buschmeyer 2013: 101) zu leben. Ein Entwurf, der in seinem Falle nicht auf sexueller Potenz, körperlicher Stärke und dem Ernährer-Prinzip beruht, sondern der sich – ganz dem Geiste verschrieben – auf die Abwendung von Körperlichkeit stützt und auf die (sexuelle) Abwertung von Frauen verzichtet. Ein Entwurf, der jedoch nicht intelligibel136 ist, da er im traditionellen zweigeschlechtlichen und heteronormativen Kosmos dieser Geschichte nicht vorgesehen ist. Was Reinhard Winter und Gunter Neubauer für das Jahr 2005 festhalten, scheint für Rainer schon in den 1950er Jahren zu gelten: Die traditionellen Männlichkeitsperformanzen seien überwiegend nicht mehr tragfähig. Daher stünden nun vor allem Jungen vor der Aufgabe, Lösungen zu erarbeiten, sich auf die Suche nach Alternativen zu begeben (vgl. Winter / Neubauer 2005: 223). Letztlich tut Rainer genau dies. Sein Versuch, eine Alternative zu verkörpern, bleibt jedoch ein Versuch. Denn Rainer scheitert dabei, diese Alternative konsequent zu leben. Die anhaltende Ablehnung und Verspottung seiner Männlichkeit verunsichert ihn, steigert aber auch seine Wut. Da auch die traditionelle Männ136 Intelligibel ist hier im Sinne Butlers zu verstehen: das, was »sozial sinnvoll, verstehbar, (über-)lebenstüchtig ist. Das, was intelligibel ist, ist sozial anerkannt, weil es den vorherrschenden Diskursen entspricht« (Villa 2003: 158).

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lichkeit für ihn keine Option darstellt, bleibt für ihn kein Ausweg mehr. Er begeht Mord an seiner gesamten Familie, was ihn letztlich von allen geschlechtlichen, sexuellen und klassenbedingten Zwängen – letztlich aus der patriarchalen Herrschaft – befreien soll. Die Figur Rainer bildet damit den Entwurf einer heterotopischen Figurenkonzeption: Die Figur stellt den Versuch dar, eine geschlechtliche Performanz zu leben, die aufgrund der Herrschaftsverhältnisse eigentlich nicht intelligibel ist. Rainer verkörpert eine Männlichkeit, die sich den herrschenden Normen nicht unterwirft, sondern die bestrebt ist, eine Utopie lebbar zu machen. Sein Versuch, diese Alternative dem patriarchalen System entgegen zu leben, ist daher als subversiv einzuordnen. Mit dieser Subversion in Form einer alternativen Männlichkeitsperformanz und der notwendigen Konsequenz des Familien-Massakers formuliert Jelinek eine Kritik an den herrschenden Zuständen, wie sie deutlicher kaum sein könnte: Der Versuch einer heterotopischen Figurenkonzeption muss unter den herrschenden Bedingungen in einer Dystopie enden.

III.

Der Körper als Ressource zur Sicherung männlicher Vorherrschaft137

Im Abschnitt zu den Kastrationen wurde dargelegt, dass Jelinek den Figuren auf multiplen Wegen ihre Macht entzieht bzw. sie gar nicht erst damit ausstattet. Indem Jelinek dies tut, höhlt sie Begrifflichkeiten wie Mann / Frau und damit verbundene Dualismen aus. Mit einem Machtentzug rüttelt sie an den Grundfesten der Männlichkeiten, denn das Patriarchat schreibt den Männlichkeiten einen strengen Eigenschaftskatalog vor, an welchem sie sich zur Konstitution ihrer Geschlechtlichkeit ausschließlich zu bedienen haben. Die Machtausübung bzw. das Herrschen über andere gehören obligatorisch dazu. Entwendet Jelinek den männlich gezeichneten Figuren durch ihre Konzeption solch ein zentrales Attribut, sodass eine bruchfreie Männlichkeit nicht performt werden kann, bringt dies das System zum Kollabieren. Denn eine lebbare Alternative gibt es nicht. Prinzipiell ist alles abseits des Ideals ein ›ungültiger Pfad‹. Wenn diesen Männlichkeiten die Zugänge zu einer hegemonialen Position verwehrt werden, etwa durch die Unüberwindbarkeit der Klassenschranken oder intellektuelle Unterlegenheit, und ihre Vorherrschaft somit in Frage gestellt ist, dann reagieren sie in aller Regel mit kompensatorischer Gewalt, um die Macht zurückzuerlangen und damit diese ultimative Männlichkeit dennoch zu verkörpern. Der Psychoanalytiker Alfred Adler nannte solch eine Überkompensation mittels 137 Vgl. zu diesem Kapitel auch Schwanke 2017b.

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Aggression ›männlichen Protest‹ (vgl. Connell 2015: 62).138 Die Männer protestieren bzw. reagieren damit gegen bzw. auf eine empfundene Schwäche und daraus resultierender Angst vor Unterlegenheit, die zu einer übertriebenen Betonung »der männlichen Seite« führe (vgl. ebd.). Die angewendete Gewalt findet vor allem auf heterosozialer Ebene statt, denn das oberste Gebot ist, die Vorherrschaft über Weiblichkeiten zu sichern, womit durch Komplizenschaft mit den Herrschenden der ›ungültige Pfad‹ immerhin zu einem ›Trampel-Pfad‹ erklärt wäre. Die Ausübung von Gewalt kann selbstverständlich auch auf psychischer oder ökonomischer Ebene funktionieren. Wenn aber ein Walter Klemmer einer Erika Kohut intellektuell nicht das Wasser reichen kann oder ein Otto Witkowski aufgrund seiner schmalen Invalidenrente in der Familie nicht den Ernährer mimen kann, so bleibt ihnen nur der männliche Protest in Form der vermeintlich natürlichen körperlichen Überlegenheit der Männer, mit der sie ihre Vorherrschaft gewährleisten können. Diese Überlegenheit über den weiblichen Körper funktioniert über die Einschreibung bestimmter Attribute in den männlichen Körper, die als überlegen wahrgenommen werden: die Demonstration von Stärke, Jugendlichkeit, Fitness, Sportlichkeit und nicht zuletzt die Zurschaustellung der sexuellen Potenz und Triebhaftigkeit. Diese Herstellung von Männlichkeit, über den als biologisch männlich deklarierten Körper mit seinen zugewiesenen Eigenschaften, dient den Männlichkeiten zur Legitimation ihrer Vorherrschaft, welche in Kraft tritt, sobald Weiblichkeiten körperlich überwältigt wurden. Otto Witkowski kann als ein Paradebeispiel für die Relevanz des Körpers bei der Konstitution von Männlichkeit dienen. Wenn er sich nicht gerade in Illusionen über sein männliches Dasein flüchtet oder Gretl exzessiv verprügelt, wird er nicht müde, zu betonen, was er trotz seines versehrten Körpers noch alles zu tun in der Lage ist. Er hebt immer wieder hervor, dass er trotz des fehlenden Beines durchaus fähig ist, mit anderen Männern zu konkurrieren – vor allem hinsichtlich der sexuellen Potenz. Tatsächlich steht er jedoch kurz vor der Impotenz. Die permanente Betonung seines vermeintlich intakten, durch Stärke und Potenz ausgezeichneten Körpers, lassen Otto letztlich – vor allem in An138 Adler beginnt seine Argumentation mit der Polarität in der Familie zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit. Er geht davon aus, dass die eine Seite der Polarität von der Kultur abgewertet und mit Schwäche assoziiert wird. Kinder werden aufgrund ihrer Unterlegenheit gegenüber Erwachsenen somit in eine weiblich konnotierte Position gedrängt. Daraus entstehen ein Gefühl von Weiblichkeit und Zweifel daran, ob sie je eine Männlichkeit erlangen können. Diese »›kindlichen Werturteile‹ hinsichtlich der Männlich-WeiblichPolarität« bleiben als Motiv auch im späteren Leben bestehen, sodass im Falle einer Schwäche oder Unterlegenheit eine Überkompensation stattfindet, um sich der assoziierten Weiblichkeit zu entledigen und (wieder) eine Machtposition einzunehmen (vgl. Connell 2015: 61f.; Neuer 1926).

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betracht der zahlreichen Brüche in dieser Hinsicht – schlicht verzweifelt und lächerlich erscheinen. Otto wird zur Persiflage einer traditionellen Männlichkeit, die sich zur Sicherung der männlichen Vorherrschaft auf die Ressource Körper beruft. Hans Sepp wird sogar ausschließlich über seinen Körper definiert. Er strahlt eine enorme Stärke aus, dementsprechend wird er bei den Überfällen auch zum ausführenden Organ. Er wendet immer wieder Gewalt an, was er auch zu Kompensationszwecken tut, wenn Defizite in Bezug auf seine Männlichkeit sichtbar werden. Neben der Prügel für die Opfer der Raubüberfälle tritt Hans in Erscheinung, wenn er Sophie den Mundwinkel blutig schlägt, Rainer zum »Haklziehen« (AUS 64) herausfordert oder Anna bei eigenem sexuellem Unvermögen brutal traktiert. All diese Handlungen sollen ihn zum Machtinhaber erheben und somit seine Männlichkeit (wieder-)herstellen. Er versucht bei allem Mangel an Ressourcen auf anderen Ebenen, seiner Identität durch die Demonstration von körperlicher Fitness Ausdruck zu verleihen und so seinen Selbstwert zu erhöhen. Er bedient sich zur Konstruktion seiner Männlichkeit maßgeblich seiner einzig verlässlichen Ressource: seines Körpers. Wie wichtig der Körper zur Konstitution eines hegemonialen Status insgesamt ist, wird insbesondere an der Figur Rainer Witkowski deutlich. Er profiliert sich, wie ausführlich herausgearbeitet wurde, über seine Intellektualität und Klugheit, über das Referieren existentialistischer Lektüre und das Verfassen von Poesie. Doch selbst er hat die Normen und Konventionen des patriarchalen Herrschaftssystems derart verinnerlicht, dass er Hans mehrfach körperliche Gewalt androht. Dies geschieht vor allem in Situationen, in denen er sich Hans unterlegen fühlt; wenn er beispielsweise merkt, dass Hans’ körperorientierte Männlichkeitsperformanz temporär auf größere Resonanz trifft als seine eigene. Auch die Erzählinstanz nutzt immer wieder Rainers Körperlichkeit, um ihn zu degradieren, indem sie ihm Kümmerlichkeit und Schwäche attestiert. Es ist also männlicher Protest in Gestalt der ultima ratio, der Gewalt, die den Männlichkeiten ob des offensichtlichen Legitimationsproblems des Patriarchats zur Vorherrschaft verhelfen soll. Es mag zunächst den Eindruck erwecken, dass diese Strategie auch funktioniert, wenn etwa Walter Erika vergewaltigt oder Otto seine Frau Gretl mit unterschiedlichsten Requisiten sexuell malträtiert. Doch solch ein erster Eindruck täuscht. Denn es ist immerhin auch Gretl, die ihren patentierten Hochziehgriff anwenden muss, wenn Otto beim Versuch, sie zu vergewaltigen, stürzt und nicht mehr hochkommt. Und es ist Erika, die Walter mit ihrem Brief einen sadomasochistischen Vertrag vorlegt, der ihre Herrschaft über ihn sichern soll. Nicht zuletzt ist es Anna Witkowski, die die Aushöhlung der Begriffe Mann / Frau massiv vorantreibt. Anna, die sich nichts sehnlicher wünscht als einen Klassenaufstieg und damit einhergehende gesellschaftliche Macht, eignet sich

Der Körper als Ressource

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ein körperliches Verhalten an, das man durchaus als männlich konnotiert beschreiben kann. Sie schlägt massiv auf die Opfer der Überfälle ein. Und es verschafft ihr offenbar tatsächlich das erhoffte Machterleben: Genussvoll leckt sie sich Schweiß und Blut des Opfers von ihrer »Schlaghand« (AUS 10). Jelinek tut hier also zweierlei: An der Figur Anna wird zum einen der Konstruktionscharakter von komplementären Begriffspaaren wie Mann / Frau besonders evident. Indem Jelinek weiblich gezeichneten Figuren temporär körperliche Macht und Stärke verleiht, zeigt sie auf, wie willkürlich solche rigiden geschlechtlichen Festschreibungen eigentlich sind. Zum anderen kastriert der Machtentzug die männlich gezeichneten Figuren nicht nur, sie sind außerdem in der Konstruktion ihrer Männlichkeit enorm irritiert. Sie wähnen sich zwar trotz Figuren wie Anna oder Erika, welche die rigiden Geschlechtergrenzen sprengen, weiterhin in Sicherheit bezüglich der Gültigkeit von obligatorischen Attributen einer hegemonialen Männlichkeit. Jelinek lässt sie aber nicht all diese Eigenschaften verkörpern, woraus eben jenes Defizitempfinden resultiert, das es über körperliche Gewalt zu kompensieren gilt. Mit der Betrachtung des Körpers bzw. der körperbezogenen Handlungen der Figuren wird die massive Kritik Jelineks am Patriarchat deutlich, indem sie hierüber berechtigte Zweifel an der Legitimation desselben formuliert. Trotz ihrer festen Verankerung in der Zweigeschlechtlichkeit kritisiert Jelinek darüber hinaus die Kategorien Mann und Frau im Speziellen, indem sie diese Begrifflichkeiten aushöhlt bzw. die Willkürlichkeit ihres Inhalts aufzeigt. Jelinek zeichnet gebrochene Männlichkeiten, die im verzweifelten Kampf um den Status einer hegemonialen Männlichkeit zum Scheitern verurteilt sind. Sie alle sind aufgrund verschiedener Positionierungen in der Gesellschaft nicht in der Lage, diese hegemoniale Stellung einzunehmen und damit uneingeschränkte Macht auszuüben. Wenn sie schon auf homosozialer Ebene nicht fähig sind, zu herrschen, so fühlen sie sich umso mehr gezwungen, die Herrschaft über Frauen zu erlangen bzw. aufrechtzuerhalten. Dafür bleibt ihnen nur die Anwendung körperlicher Gewalt, da Jelinek ihnen andere Möglichkeiten der Herrschaftsausübung bereits genommen hat. Nahezu jeden Macht- bzw. Männlichkeitsverlust kompensieren die Figuren mit der Anwendung körperlicher Gewalt. Hiermit sollen die Defizite, die sie verspüren, weil sie das Ideal der hegemonialen Männlichkeit nicht erreichen können, wenigstens reduziert werden. In der Handlungspraxis der massiven Gewaltanwendung lässt sich die Verunsicherung darüber ablesen, wie die Männlichkeiten den Begriff Mann nun füllen sollen, damit sie unhinterfragte Herrscher im System verkörpern können. Die Akteure sind verzweifelt, ihre Männlichkeit fragil. Die Performanz einer traditionellen Männlichkeit, die bislang ein recht zuverlässiges Indiz für Hegemonie war, können sie schlicht nicht verkörpern. Sie sind arm, körperlich versehrt, ungebildet, kümmerlich und impotent. Die vermeintliche Überlegenheit des als

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Kompositionsglieder der Jelinek’schen Patriarchatskritik

männlich deklarierten Körpers muss nun Abhilfe schaffen, um ihre männliche Vorherrschaft zu legitimieren. Gerade indem die Männlichkeiten so vehemente Verfechter des patriarchalen Herrschaftssystems sind, des Systems also, das sie selbst in der homosozialen Dimension massiv unterordnet und sie hier am Herrschen hindert, hebt Jelinek die Paradoxie dieser Herrschaftsform hervor. Das Patriarchat kann nur weiter existieren, wenn die Männlichkeiten, die davon selbst untergeordnet werden, dieses System durch Komplizenschaft mit den tatsächlichen Herrschern aufrechterhalten. Mit dem kategorischen Scheitern der Männlichkeiten entlarvt Jelinek somit die Absurdität des Patriarchats.

IV.

Die Negierung des Körpers als Möglichkeit des Ausbruchs aus patriarchalen Machtverhältnissen

In der Analyse wurde anhand der Figuren Erika und Anna ersichtlich, dass sie auf multiplen Wegen darum bemüht sind, ihre Körper von ihrer Identität abzuspalten, ihn seiner Geschlechtlichkeit zu entledigen bzw. ihn insgesamt zu negieren. Der Kommunikationswissenschaftler Michael Schenk stellt 1993 in einem Aufsatz über Jugendgewalt die These auf, dass im Prozess der Mannwerdung – ganz ähnlich wie bei Anna und Erika – systematisch der Kontakt zum eigenen Körper unterbunden wird, wodurch eine Art Körperlosigkeit hergestellt wird (vgl. Schenk 1993: 167). Die männliche Sozialisation instrumentalisiere den Körper. Er soll sowohl Leistung erbringen als auch schmerzresistent sein. Insgesamt funktioniere die Austreibung des Körpers auf verschiedenen Wegen von banalen Aufforderungen (nicht zu weinen beispielsweise) hin zu komplexen Erziehungsleistungen (vgl. Schenk 1993: 167). Die Produktion der Körper- und Gefühlslosigkeit stellt einen gesellschaftlichen Prozess dar, der Jungen befähigen soll, »ihren Mann zu stehen« (ebd.). Es zeichnet sich hier eine Position ab, die die Körperlosigkeit als elementaren Aspekt einer Männlichkeitskonstruktion ausmacht.139 Es ist auffällig, dass Anna und Erika eine hohe Selbstaufmerksamkeit

139 Eine Position, die Anita Heiliger und Hanna Permien aufnehmen, wenn sie versuchen, eine Erklärung für männliches Gewalthandeln zu finden (vgl. Heiliger / Permien 1995: 35). Auch Michael Meuser greift diese Position auf und erweitert sie um eine weitere Perspektive. Meuser ist der Auffassung, dass die Fokussierung auf eine Sichtweise, die Gewalthandeln ausschließlich als eine defizitäre Form des Mannwerdens begreift, zu kurz greift. Denn so gerate der Aspekt der Vergemeinschaftung im Kontext homosozialer Männergewalt aus dem Blick (vgl. Meuser 2002: 61f.). Dieser Punkt könnte eine Rolle spielen, wenn Anna aus ihrer Bande heraus Gewalt ausübt. Es ist jedoch wahrscheinlicher, dass Anna Gewalt ausübt, nicht aus Vergemeinschaftungszwecken, sondern aus Gründen der Kanalisierung ihrer Wut sowie der Aneignung einer Männlichkeit über die Demonstration von Mut, Kraft und Stärke. Daher liegt der Fokus in diesem Abschnitt nicht auf Meusers hinzugefügter Per-

Die Negierung des Körpers als Möglichkeit

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hinsichtlich ihres Körpers haben. Sie scheinen sich der Wirkung und sozialen Bedeutung ihrer Körper und deren Praktiken bewusst zu sein.140 Es ist daher anzunehmen, dass Erika und Anna – ähnlich wie Schenk dies für Jungen beschreibt – mit der Abspaltung ihres Körpers von ihrer Identität darauf zielen, den Körper von seiner sozialen Bedeutung zu lösen, und sich so eine männlich konnotierte Position anzueignen bzw. eine Männlichkeit zu performen und damit ihrer gesellschaftlich untergeordneten Stellung zu entgehen. Wie Chamayou-Kuhn festhält, ist der Körper für Jelinek »Resultat von Machtdispositiven, kulturellen und symbolischen Zuschreibungen, die nur in dem Kontext von diskursiv festgelegten Ideologien (so etwa das Patriarchat, der Kapitalismus, der Neoliberalismus usw.) ihre Berechtigung erhalten« (Chamayou-Kuhn 2012: 37). Die Konnotationen von Unterordnung und Schwäche, die ihren vergeschlechtlichten Körpern im Patriarchat anhaften, wären es demnach, von denen sich Erika und Anna lossagen wollen, wenn sie ihren Körper negieren. Außerdem sei es im Geschlechterdiskurs der bürgerlichen Gesellschaft typisch, so Meuser, Körperlichkeit insgesamt mit Weiblichkeit zu verknüpfen. Dabei wurde ein weiblich konnotiertes Körperverständnis implizit als Norm gesetzt (vgl. Meuser 2002: 62). Körperbezogenheit hätte demzufolge automatisch eine weibliche Komponente. Um sich dieser Weiblichkeit und der damit verbundenen Unterordnung zu entziehen, gälte es demgemäß, sich von der eigenen Körperlichkeit abzuwenden. Ob es nun also mit Unterordnung und Schwäche konnotierte Attribute eines als weiblich deklarierten Körpers sind, oder ob es die Körperlichkeit an sich ist, die mit Weiblichkeit verknüpft ist – fest steht: Die Wirkmächtigkeit des biologisch begründeten Herrschaftssystems ist enorm und Erika und Anna suchen einen Weg, sich diesen Zuschreibungen zu entziehen. In der Analyse der Figur Rainer wurde evident, dass er sich gerade nicht von seinem Körper abwendet, um damit eine hegemoniale Männlichkeit zu konstituieren, sondern vielmehr, um sich damit von seinem Vater und von traditioneller Männlichkeit insgesamt frei zu machen. Schenks Ausführungen sind also differenziert zu betrachten und nicht zu pauschalisieren. Erikas und Annas Abwendung von ihrer Körperlichkeit kann jedoch durchaus mit Schenks und Chamayou-Kuhns Ausführungen begründet werden. Wie im Folgenden belegt wird, sind sie bestrebt, damit einer systematischen Unterordnung zu entgehen. Sie wenden sich von ihrem biologisch als weiblich deklarierten Körper ab bzw. negieren ihn, um damit aus den patriarchalen Zwängen auszubrechen. Es gibt durchaus Indizien dafür, dass Erika Kohut ihren Körper im Kontext der geschlechtlichen Performanz nutzt. Es darf jedoch nicht außer Acht gelassen spektive, sondern auf der Körperlosigkeit bzw. der Negierung der weiblich konnotierten Körper von Erika und Anna. 140 Vgl. hierzu Connells Ausführungen zu körperreflexiven Praktiken (Connell 2015: 114; Connell 2013: 98).

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werden, dass es zahlreiche Momente gibt, die deutliche Belege dafür sind, dass Erika ihren vergeschlechtlichten Körper negiert bzw. sich davon abspaltet. Hierfür spricht beispielsweise Erikas Empfindungslosigkeit beim Sexualkontakt (vgl. KS 79, 277). Besonders hervorzuheben ist aber ihr Verhältnis zu ihrer Vulva. Die einzige Aufmerksamkeit, die sie ihr schenkt, ist die einer Selbstverletzung. Die Vulva als naturalisiertes Anzeichen von biologischer Weiblichkeit wird hiermit negiert, woraus eine Negierung bzw. Abkehr von Weiblichkeit per se abzuleiten ist. Die Selbstverstümmelung ist als Anzeichen einer Entledigung des vermeintlich eindeutigen Beweises von Weiblichkeit zu verstehen. Erika ist damit bestrebt, aus den patriarchalen Machtverhältnissen und Zwängen auszubrechen und einen Subjektstatus einzunehmen. Diese Verletzung ist im Rahmen der Figurenkonzeption so zentral, dass es zu kurz greifen würde, Erikas Genitalverstümmelung nur als Resultat ihres komplexen Verhältnisses zu ihrer Sexualität anzusehen. Die Bedeutung dessen für Erikas geschlechtliche Performanz sollte daher nicht unterschätzt werden. Neben der Aneignung von männlich konnotierten Räumen und Verhaltensweisen ist es somit auch die Abkehr von ihrem weiblich konnotierten Körper, der ihr einen Ausbruch aus ihrer untergeordneten Position im patriarchal organisierten Herrschaftssystem ermöglichen soll. Noch deutlicher wird die Negierung des eigenen Körpers an der Figur Anna Witkowski. Sie ist die meiste Zeit intensiv darum bemüht, ihren weiblich konnotierten Körper zu leugnen, um einer weiblich konnotierten und damit untergeordneten Position zu entgehen. Anna wird gleich zu Beginn der Prosa als Figur eingeführt, die keinen großen Wert auf Körperhygiene legt. Ihre Kleidung suggeriert zum einen aufgrund ihrer männlichen Konnotation eine Abkehr von ihrer zugewiesenen Geschlechtsrolle, zum anderen aufgrund ihrer Übergröße einen Zustand der Körperlosigkeit. Auch die Tatsache, dass Anna fast pedantisch unverzüglich alle Spuren ihrer Menstruation beseitigt, zeugt von der Leugnung bzw. Abspaltung von weiblich konnotierten Körpervorgängen. Dies beschreibt einen inneren Zwang Annas: Sie negiert ihren Körper, weil er mit einer Geschlechtlichkeit verknüpft ist, von welcher sie sich lossagen möchte, weil diese sie – genauso wie ihre soziale Lage – in einer untergeordneten Position gefangen hält. Ebenso kann ihre Essstörung als Zeichen der Negierung ihres Körpers interpretiert werden. Mit der Verweigerung der Nahrungsaufnahme soll letztlich die physische Reifung verhindert werden, womit die weiblichen Anteile ihrer Sexualität zum Schweigen gebracht werden (vgl. Strobel 1998: 118). Annegret Mahler-Bungers geht hierbei noch einen Schritt weiter : Sie ist der Auffassung, dass das Hungern und Erbrechen für Anna langfristig den gesamten Körper verschwinden lassen sollen (vgl. Mahler-Bungers 1988: 121). Die Tilgung von

Die Negierung des Körpers als Möglichkeit

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Weiblichkeit als Ziel des spezifischen Essverhaltens ist jedoch beiden Positionen inhärent. Was für Anna bleibt, ist ein sehr funktionalisiertes Verhältnis zu ihrem Körper, das sich auch in ihrem Sexualleben widerspiegelt. Sie kennt allerdings auch die gesellschaftliche Bedeutung und Bewertung weiblicher Körper und nutzt diese Objektivierung aus: Sie bietet ihren objektivierten Körper an, um Opfer für die Raubüberfälle anzulocken. Sie hat sich also dermaßen von ihrem Körper distanziert, dass er für sie nur noch als eine Art Werkzeug fungiert. Während bei Erika also vor allem selbstverletzendes Verhalten eine Abspaltung und Negierung ihres Körpers hervorbringen soll, sind Annas Strategien vielseitiger. Beide Figuren kämpfen jedoch gegen ihre Unterordnung, die sie vor allem an der ihr und ihrem Körper zugeschriebenen Weiblichkeit festmachen. Die Negierung ihres materiellen Körpers ist somit als Zeichen einer Auseinandersetzung mit ihrer gesellschaftlichen Position zu sehen. Die Beseitigung ihres Körpers soll ihnen als Möglichkeit dienen, aus den patriarchalen Verhältnissen auszubrechen und somit der gesellschaftlichen Unterdrückung zu entgehen. Der von Schenk beschriebene, für die männliche Sozialisation typische Prozess, einen Zustand der Körperlosigkeit zu erreichen, trifft also auch auf Erika und Anna zu; wenn auch zunächst mit einer anderen Intention, denn Erika und Anna möchten primär einen körperlosen Zustand erreichen, um einer Weiblichkeit zu entgehen, erst sekundär, um damit Männlichkeit herzustellen. In dem geschlechtlich binären Kosmos der erzählten Welt geht das eine aber vielleicht mit dem anderen einher. Aus der Abwendung von Weiblichkeit folgte dann direkt die Hinwendung zum anderen Pol der Geschlechter, zur Männlichkeit. Festzuhalten bleibt: Selbst wenn Erika und Anna sich von ihrem Körper lossagen, um ›ihren Mann zu stehen‹, so schaffen sie es höchstens temporär, ihrer Position zu entkommen und sich in eine Machtposition zu begeben. Dennoch ist die recht konsequente Negierung des eigenen Körpers wegen seiner gesellschaftlichen Konnotationen durchaus als subversives Spiel mit den rigiden traditionellen Geschlechterbildern zu verstehen. Jelineks Patriarchatskritik äußert sich somit zum einen über diese Subversion eines statischen Verständnisses der Kategorie Geschlecht. Wenn Erika und Anna temporär dazu in der Lage sind, ihre Körper zum Verschwinden zu bringen, zeugt dies von einer weitaus dynamischeren Auffassung der Geschlechter und ihrer vermeintlich obligatorischen Attribute. Zum anderen erwächst den weiblich gezeichneten Figuren aus dem Leid, dem Hass und dem Ekel ihren Körpern gegenüber eine immense Kraft. Die Unterdrückung einer ganzen gesellschaftlichen Gruppe wird in den Körper projiziert, dem Materie gewordenen Beweis dieser Unterdrückung. Mit der Zerstörung bzw. Negierung dieser geschlechtlich konnotierten Hülle bietet Jelinek eine Utopie an, mit der sich die weiblich ge-

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Kompositionsglieder der Jelinek’schen Patriarchatskritik

zeichneten Figuren aus eigener Kraft zumindest temporär aus der Subordination befreien und damit den patriarchalen Verhältnissen den Rücken kehren können. Über diese Akte der Selbstbestimmung formiert sich bei allem Leid, aller Negativität und Morbidität ein Moment der Hoffnung, das Patriarchat zu überwinden.

V.

Die ernsten Spiele des Wettbewerbs – eine Strukturübung des männlichen Habitus

Im vierten Teil der Dimensionen von Männlichkeiten in dieser Arbeit wurde das Prinzip der ernsten Spiele des Wettbewerbs ausführlich dargelegt. In den Analysen der Figuren wurde schließlich deutlich, dass die Spiele für einige Figuren tatsächlich von hoher Relevanz für die Konstruktion einer Männlichkeit sind. Im Folgenden werden diese Dynamiken noch einmal nachgezeichnet, um zu veranschaulichen, dass und wie Erika, Walter und Hans sich dieses Elementes bedienen, sowohl um sich Männlichkeit per se anzueignen als auch um eine Hierarchie untereinander auszuhandeln.

1.

Erika und Walter

Bereits die Tatsache, dass Erika Walters Klavierlehrerin ist, deutet an, dass die beiden in einem hierarchischen Verhältnis zueinander stehen, in welchem Erika ob der sozialen Positionen zunächst Walter beherrscht (vgl. Luserke 1993: 30). Im Folgenden wird nun anhand von zwei Beispielen näher ausgeführt, dass die beiden Figuren sich in einem stetigen Kampf um Vorherrschaft befinden. Dieser Kampf findet sowohl auf (sexuell-)körperlicher als auch auf intellektueller Ebene statt. Der Brief, den Erika Walter übergibt, ist als sadomasochistischer Vertrag zu verstehen (vgl. Appelt 1989; Wilke 1993; Meyer 1994; Janz 1995; Lange-Kirchheim 2007), der es zum Ziel hat, Walter symbolisch zu kastrieren (vgl. Janz 1995: 79) und Erika gleichzeitig vor der Kastration zu schützen (vgl. Lange-Kirchheim 2007: 272). In der stereotypisierten Vorstellung solcher BDSM-Beziehungen macht der Mann die Frau zur vertraglichen Domina und verpflichtet so die Domina, dem Mann zu dienen, wobei ihre Dominanz letztlich Suggestion ist, da er die Regeln aufstellt. Wenn also Erika den masochistischen Vertrag aufstellt, macht sie sich selbst zum eigentlichen Herrn der Beziehung, ›Herrn‹ Walter Klemmer aber in Umkehrung der Geschlechteropposition zur Domina, zur Frau, zum Sklaven. (ebd.)

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Auch Walter bemerkt, »daß er dadurch, daß er ihr Herr wird, ihrer niemals Herr werden kann« (KS 219), da sie die Regeln vorgibt, zu denen Walter sie unterwerfen darf. Er lehnt diese Forderungen also zunächst ab (vgl. KS 218). Abgesehen davon, dass er den Charakter des sadomasochistischen Vertrags ohnehin nicht erkennt, ist es für ihn kein richtiger Kampf, kein Wettbewerb, aus dem er als echter Sieger hervorgehen kann.141 Denn nur in einem echten Wettbewerb, einem echten Duell (vgl. KS 189) kann Walter seine Männlichkeit unter Beweis stellen. Jede Herausforderung ist für ihn ein Kampf zum Beweis seiner Männlichkeit. Umso mutiger und überlegener empfindet er dann schließlich die Ablehnung dessen, denn die Ablehnung suggeriert, dass er bereits männlich genug ist.142 Wenn Erika sich ihm so kampflos hingibt, reizt ihn das nicht. Es geht ihm um die Jagd nach Erika (vgl. KS 170).143 Das Messen, die Konkurrenz, Kämpfe um Überlegenheit sind das, was für ihn den Reiz an Erika ausmachen. Es reize ihn, sie zur Schülerin zu machen, sie unterzuordnen, das Machtverhältnis zu seiner Lehrerin umzudrehen (vgl. KS 195). Dennoch bekommt Erika letztlich den Liebesbeweis, den sie benötigt, um Walter unterzuordnen144, wenngleich die Unterordnung nicht über die Erfüllung des Vertrages erfolgt. Erika schuf eine Situation, aus der sie nur als Siegerin hervorgehen konnte. Lehnt er den Vertrag ab, ist er qua Liebesbeweis unterlegen. Ginge er ihn ein, wäre er qua Verweiblichung unterlegen. In der Szene im Putzraum beginnt dann die Zuspitzung der Machtkämpfe zwischen Walter und Erika. Während Walter die im Brief formulierte Herausforderung nun doch als »Hochleistungsgeliebter« (KS 241) annehmen möchte, tritt Erika in Trachtenkleidung in den Wettbewerb ein. Alexandra Heberger interpretiert dies als den Versuch, »in das vom Mann scheinbar verinnerlichte Stereotyp des Jägers zu schlüpfen« (Heberger 2002, 98). Auch wenn Erika ihr Ziel, Walter zu erobern, in dieser Szene nicht erreicht, weil die Interaktion wegen Walters ausbleibender Erektion und Erikas Erbrechen abgebrochen wird, so ist es doch Walter, der seine Niederlage deutlich spürt. Nach einem ebenfalls ge-

141 Vgl. KS 223: »Die Schläge will sich diese Frau allein durch ihre Anwesenheit schon verdient haben, das ist etwas wenig.« 142 »Klemmer leckt sich [zwar] nervös über die Lippen im Angesicht von Verfügungsgewalt« (KS 224) und es erregt ihn auch körperlich (vgl. KS 231), doch er bleibt bei seiner Ablehnung: »Ich liebe dich so sehr, […] daß ich dir niemals weh tun könnte, nicht einmal um den Preis, daß du es wünschst« (KS 223). 143 »[U]nter ihm vergehend, ekelt sie ihn mehr an, als er sagen kann« (KS 247); er möchte sie nicht mal mehr mit einer Zange anrühren (vgl. KS 234) und schwört sogar, »daß die Liebe vorhin da war, doch jetzt vorbei ist« (ebd.). 144 »Erika und Klemmer sind damit okkupiert auszuloten, wer wen mehr liebt und dadurch der Schwächere in diesem Paar ist« (KS 209). Ein unmissverständlicher Liebesbeweis wäre somit der endgültige Beleg für die Überlegenheit der jeweils anderen Person.

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scheiterten Kompensationsversuch im Park, sucht er Erika ein letztes Mal auf, um ihren letzten Machtkampf auszutragen. Als Walter sie anruft, freut Erika sich schon ihres »Liebessieges« (KS 266). Doch was folgt, ist Walters Demonstration seiner körperlichen Überlegenheit. Er möchte die durch Erika ins Wanken gebrachte Ordnung im Patriarchat wieder herstellen, indem er Erika durch körperliche Gewalt wieder ihrer weiblichen Rolle zuordnet. Walter schlägt und schubst Erika (vgl. KS 269), während sie ihn provoziert: Sie habe sich mehr erwartet (vgl. KS 270). Erika wird indes von »nackter Gewalt« am Herrschen gehindert (vgl. KS 272). Das hält sie allerdings nicht davon ab, Walter vorzuwerfen, dass er nur »mit nackter Körperkraft« (ebd.) herrschen könne. Die körperliche Gewalt gilt als ultima ratio zur Sicherstellung der männlichen Vorherrschaft (vgl. Meuser 2002: 56); es wird also evident, dass Walter Klemmer keine andere Möglichkeit mehr hat, seine Vorherrschaft zu sichern. Auch Erika erkennt dies und äußert es trotz ihrer körperlich unterlegenen Position. Walter antwortet mit weiteren Schlägen. Er fühlte sich durch den Brief zu einem Machtkampf herausgefordert, weil Erika über ihn und sein Begehren herrschen wollte (vgl. KS 274); sie wollte ihm seine Machtposition, die er aus seiner Sicht als Mann qua Natur innehat, streitig machen. Um diesen Machtwechsel doch noch abzuwenden, vergewaltigt er Erika (vgl. KS 277f.). Es macht den Anschein, als ordne Walter Erika damit final unter, als degradiere er ihre Person und stelle somit die patriarchalen Machtverhältnisse wieder her. Doch Marlies Janz beobachtet hier richtig, dass Erika ihre Unterwerfung und Vergewaltigung mit dem Brief selbst ankündigt bzw. sogar einfordert, wodurch die Machtergreifung durch die Vergewaltigung bereits im Vorfeld als eine Art Schutzmaßnahme gegen Walters krude Gewaltanwendung am Ende unterlaufen und damit unwirksam wird. Denn mit dem Brief wird die Gewalt nicht nur zugelassen, sondern auch weiterhin von Erika kontrolliert (vgl. Janz 1995: 81). Es wäre jedoch auch falsch, davon zu sprechen, dass Erika am Ende der Handlung Walter dominiert. Dafür ist die Wirkmächtigkeit der patriarchalen Strukturen durch ihre körperliche Unterordnung zu präsent. Am ehesten ist wohl von einer Art Remis zu sprechen. Die angeführten Beispiele zeigen zahlreiche Parallelen zu den ernsten Spielen des Wettbewerbs im Sinne Bourdieus auf. Obwohl die beiden sie zwar im Mikrokosmos des Romans nur untereinander und nicht auf den Machtfeldern der Politik oder Wirtschaft austragen und obwohl es auf den ersten Blick eine heterosexuelle Interaktion ist, stellen die Auseinandersetzungen der beiden bei näherer Betrachtung dennoch Kämpfe um Dominanz und homosoziale Vorherrschaft und somit um Männlichkeit und Anerkennung unter Männern dar. Nicht nur äquivalent genutztes Vokabular, sondern auch der ausgeprägte Wett-

Die ernsten Spiele des Wettbewerbs

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kampfgeist des Sportlers Walter sowie der tatsächliche Verlust von Männlichkeit nach einer Niederlage sprechen dafür. Es wurde evident, dass Erika eine bestimmte Art von Dominanz und Männlichkeit verkörpert, die auch Walter anerkennt, wenn er sie als Gegner_in in den ernsten Spielen akzeptiert. Sie hat in erster Linie vor dem Hintergrund ihres Berufs eine Art Vormachtstellung inne, die ausreicht, um Walter herauszufordern. Auch ihre Aneignung männlich konnotierter Räume und Verhaltensweisen, die Aneignung eines männlichen Habitus, spricht für eine Konkurrenz durch Erika als Rival_in in den ernsten Spielen, die sonst Männern vorbehalten sind (vgl. Bourdieu 1997: 203). Wenn sie die Machtkämpfe verliert, büßt sie gleichermaßen Macht, Dominanz und Autonomie ein. Sie hat somit genauso eine Männlichkeit zu verlieren wie Walter. Paradox erscheint es, dass Walter Erika beim Versuch der Wiederherstellung der patriarchalen Machtverhältnisse als Frau wahrzunehmen scheint, den Kampf mit ihr aber überhaupt nur führt, weil er sie als (männliche_n) Gegner_in in den ernsten Spielen des Wettbewerbs akzeptiert hatte. Ihre männliche Performanz wurde in diesem Rahmen akzeptiert, sie schien nahezu als Männlichkeit zu passen. Erst als Walter nach seiner Erektionsstörung tatsächlich befürchten muss, dass er seine Männlichkeit einbüßt, ordnet er Erika den Frauen und damit den in der erzählten Welt per se Unterlegenen zu. Dies scheint seine eigentliche ultima ratio zu sein. Er scheitert somit letztlich nicht direkt an Erika, die ihm durch ihre Männlichkeitsperformanz gefährlich wird, sondern an den Anforderungen, die das Patriarchat an ihn stellt. Sobald er diesen nicht genügen kann, versucht er, sein Defizit zu kompensieren, indem er Erika der Kategorie Frau zuordnet und in dieser Rolle schließlich endgültig unterordnet. Dies funktioniert in seiner Logik aufgrund der prinzipiellen Unterlegenheit der Frau im Patriarchat. Gegen einen Mann von Erikas Format kommt er nicht an.

2.

Hans und Rainer

Auch in Die Ausgesperrten lässt sich die Relevanz der ernsten Spiele des Wettbewerbs im Sinne Bourdieus erkennen. Im Vergleich zu Die Klavierspielerin sind die Spiele zwischen Hans und Rainer zwar nicht so ausgeprägt und präsent, jedoch sollen sie dem gleichen Zweck dienen: der Aus- und Verhandlung von Männlichkeit. Wenn Hans sich mit Rainer in eine Auseinandersetzung begibt, so dient diese regelmäßig der Abgrenzung voneinander sowie der Aushandlung einer hierarchischen Struktur untereinander. Hans macht Rainer dabei als zentralen Referenzpunkt aus: Rainer ist es, auf den Hans sich bezieht, wenn er bemüht ist, seine Männlichkeit kompetitiv herzustellen. Diese Bezugnahmen gibt es in zweierlei Hinsicht: auf körperlicher sowie auf intellektueller Ebene. Im

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Kompositionsglieder der Jelinek’schen Patriarchatskritik

Folgenden werden die Besonderheiten der ernsten Spiele des Wettbewerbs zwischen Hans und Rainer noch einmal konzise zusammengefasst. Es mutet gewohnheitsmäßig an, als Hans Rainer zum »Haklziehen« herausfordert, um ihm zu beweisen, dass er stärker ist (vgl. AUS 64). Da der Körper Hans’ einzige Ressource ist, ist es im Kontext seiner Figurenkonzeption nur konsistent, dass er zur Demonstration seiner Überlegenheit auf dieselbe zurückgreifen möchte. Als Rainer ihm die Teilnahme am ernsten Spiel jedoch verweigert, bleibt Hans enttäuscht zurück. Er kann nur auf diese Weise ernsthaft mit anderen Männlichkeiten konkurrieren. Wenn Rainer ihm diese Auseinandersetzung nun verwehrt, ist es um seine Chancen der Teilhabe an den ernsten Spielen des Wettbewerbs schlecht bestellt. Es ist davon auszugehen, dass dies auch der Grund ist, warum Hans sich später auch auf intellektueller Ebene mit Rainer messen möchte. In der Analyse wurde ausführlich dargestellt, dass Rainer sich in erster Linie in intellektueller Hinsicht profiliert. Es geht ihm stets darum, eine Machtposition einzunehmen. Da auch Rainer nur über wenige Ressourcen verfügt, ist es die Intellektualität, die ihn der angestrebten Position näherbringen soll. Da Hans nun festgestellt hat, dass er in dem Klassenkontext, in dem er sich mit seiner Bande bewegt, mit seiner körperlichen Kraft nicht ausreichend anerkannt wird, lässt er sich gelegentlich dazu hinreißen, auf Rainers intellektuelle Provokationen einzugehen. Wie in der Analyse dargelegt, bedient Hans sich hierbei zweierlei Strategien: Zum einen versucht er das Wertesystem von Rainer als ungültig abzuwerten, indem er sich vehement davon abgrenzt. Zum anderen versucht er teilzuhaben an diesem Wertesystem und übt sich – vergeblich – in einem intellektuellen Habitus. Er versucht also, Rainer auf intellektueller Ebene herauszufordern. Für Rainer scheinen die intellektuellen zwar die einzigen Spiele zu sein, die er für sich aufgrund seiner Klassenzugehörigkeit überhaupt in Betracht zieht, doch auch hier wird deutlich, dass Rainer nicht bereit ist, einen aufrichtigen Kampf, ein ernstes Spiel mit Hans auszutragen. Seine halbherzigen Provokationen sind nicht mit einer aufrichtigen Herausforderung zu einem ernsten Spiel gleichzusetzen. Rainers Absagen an Hans können mehrere Ursachen haben: Zum einen ist die Wahrscheinlichkeit, die Spiele über Klassengrenzen hinaus auszutragen, recht gering (vgl. Meuser 2003: 95). Dies wäre eventuell noch aus Hans’ Perspektive möglich, da dieser sich hiervon einen Gewinn an symbolischem Kapital versprechen könnte. Solch eine Anhäufung bliebe für Rainer jedoch aufgrund der unterschiedlichen sozialen Positionen der beiden aus.145 Zum anderen wird 145 Vgl. zur Wahl der Gegner in den ernsten Spielen des Wettbewerbs Bourdieu 1997: 204: »Nun ist aber das fundamentale Gesetz aller ernsten Spiele […] das Prinzip gleicher Ehre. Die Herausforderung, weil sie zur Ehre gereicht, zählt nur, wenn sie sich an einen Mann von Ehre richtet, der imstande ist, eine Erwiderung zu geben, die, insofern sie auch eine Form von Anerkennung einschließt, Ehre macht. Anders gesagt, wirklich Ehre machen kann nur

Die ernsten Spiele des Wettbewerbs

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im Rahmen der Handlung deutlich, dass Rainer sich als überlegen verstanden wissen möchte, ohne dafür aber in eine echte Auseinandersetzung gehen zu müssen. Daher finden keine ernstzunehmenden Diskussionen oder Schlagabtausche statt, sondern Rainer konstatiert meist gleich zu Beginn, dass er der Informiertere, Klügere, Belesenere, Intellektuellere ist; nicht umsonst wird er sarkastisch »Herr Professor« (AUS 21) genannt.146 An seiner Verweigerung der Teilnahme an den ernsten Spielen sowohl auf intellektueller als auch auf körperlicher Ebene wird deutlich, dass Rainer sich den Spielen insgesamt entzieht. Es geht ihm nicht darum, das von Meuser konstatierte vergemeinschaftende Moment zu erleben und sich mit seinen vermeintlichen Geschlechtsgenossen verbunden zu fühlen. Im Gegenteil fühlt er sich lediglich aufgrund der gesellschaftlichen Konventionen gelegentlich zu den ernsten Spielen des Wettbewerbs herausgefordert und lässt sich dann zu diesen halbherzigen Provokationen hinreißen. Den gesellschaftlichen Druck, einem bestimmten (auch körperlichen) Männlichkeitsideal zu entsprechen, verspürt also auch Rainer. Die Spiele sind jedoch nicht obligatorischer Bestandteil seiner Männlichkeitskonstruktion, wie es auch schon für seinen Körper, die Weiblichkeitsabwehr und die Gewaltausübung festgehalten werden konnte. Hans dagegen erkennt die Spiele sehr wohl als Teil seiner Männlichkeitskonstruktion an und möchte diese trotz seiner mangelhaften Ressourcen nutzen, um sich in der Männlichkeitshierarchie einen möglichst hohen Rang zu sichern. Hans hat eine hohe Bereitschaft, diese Spiele zu spielen, weil das Spielen an sich für ihn bereits einen Männlichkeitsbeweis darstellt. Die Spieleinsätze sowie der Ausgang der Spiele hätten nun das Potential, Hans noch einen zusätzlichen Männlichkeitsgewinn zu verschaffen. Da Rainer aber nur wenig Motivation verspürt, an den Spielen teilzunehmen, und sie ohnehin schon klassenbedingt unterschiedliche Präferenzen bei den Spieleinsätzen hätten (Körperkraft vs. Intellekt), fehlt Hans ein adäquates Gegenüber. So kann er seinen Körper zwar einsetzen, ihn jedoch nicht angemessen als Attribut und Beweis seiner Männlichkeit hervorheben. So bleibt er zum einen trotz seiner die Anerkennung, die von einem Mann (im Gegensatz zu einer Frau) gezollt wird, und zwar von einem Ehrenmann, d. h. von einem Mann, der als ein Rivale im Kampf um die Ehre akzeptiert werden kann. Die Anerkennung, auf die die Männer in den Spielen Jagd machen, in denen das symbolische Kapital erworben und eingesetzt wird, hat desto größeren symbolischen Wert, je reicher derjenige, der sie zollt, selbst an symbolischem Kapital ist.« Meuser hierzu: »In der bürgerlichen Gesellschaft war die Standeszugehörigkeit das Kriterium, das darüber entschied, wer als Rivale und damit als ›Ehrenmann‹ in Frage kam« (Meuser 2008: 35). Der Arbeiter Hans käme somit für den kleinbürgerlichen Rainer als Ehrenmann nicht in Betracht. 146 Auch gegen seine Mitschüler, die sich wahrscheinlich klassenmäßig und im Hinblick auf die Verfügung über kulturelles Kapital mit ihm auf einer Stufe befinden, bei denen also der Zugewinn an symbolischem Kapital groß wäre, begibt er sich nicht in die ernsten Spiele des Wettbewerbs.

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Kompositionsglieder der Jelinek’schen Patriarchatskritik

Bemühungen am unteren Ende der Hierarchie verhaftet und zum anderen bleibt für ihn auch das wichtige Moment der Vergemeinschaftung aus. Da die homosoziale Gemeinschaft ein Ort ist, an dem man sich seiner spezifischen Geschlechtlichkeit vergewissern kann und Bestätigung erfährt, kann ein Ausbleiben dieser Gemeinschaft auch zu Unsicherheit führen. Im Falle von Hans ist diese Gefahr besonders groß, da er im sozialen Umfeld seiner Jugendbande bereits die Erfahrung macht, dass seine einzige männlichkeitsgenerierende Ressource – sein Körper – nicht honoriert wird. Einzig sein Mangel an Reflexionsfähigkeit sowie seine tief verwurzelten traditionellen Geschlechterbilder führen wohl dazu, dass er – nun da er seinen Genossen der Arbeiterbewegung den Rücken gekehrt hat – ohne homosoziale Gemeinschaft nicht übermäßig verunsichert wird.

3.

Resümee: Jelineks ernste Spiele des Wettbewerbs als Patriarchatskritik

Wenngleich keine der Figuren über einen ausreichenden hegemonialen Status verfügt, um die ernsten Spiele des Wettbewerbs der Eliten aus Wirtschaft, Politik und Militär mitzuspielen, so nutzen sie diese Spiele dennoch als Strukturübung zur Herstellung einer Männlichkeit. Sie eignen sich hierüber genauso einen männlichen Habitus an, nutzen dafür lediglich andere Mittel bzw. Spieleinsätze. Erika und Walter sind beide mit einer libido dominandi im Sinne Bourdieus ausgestattet. Sie sind stets darum bemüht, sich in Machtkämpfen zu beweisen und hier die Vorherrschaft zu erlangen. Auch bei Hans wird die Orientierung an der traditionellen Strukturübung zur Generierung eines männlichen Habitus deutlich, wenn er Rainer wiederholt dazu auffordert, Machtkämpfe mit ihm auszutragen. Lediglich Rainer verweigert sich einer Teilnahme an den ernsten Spielen und entzieht sich so abermals einem traditionellen Prinzip der Männlichkeitsgenerierung. Die Teilnahme an den ernsten Spielen des Wettbewerbs ist an sich bereits ein wichtiger Bestandteil einer traditionellen Männlichkeitsperformanz, weil hierüber eben zum einen der männliche Habitus erprobt und inkorporiert wird und zum anderen Vergemeinschaftung und damit gegenseitige Versicherung stattfindet. Die Spiele dienen darüber hinaus jedoch auch dazu, unter Beweis zu stellen, dass die elementaren Attribute einer hegemonialen Männlichkeit vom Spielenden tatsächlich verkörpert werden. Schließlich geht es Kämpfen auf dieser gesellschaftlichen Ebene darum, sexuelle Potenz, Intellektualität und / oder körperliche Stärke zu bezeugen. Alle erlittenen Niederlagen wurden daher lediglich als Niederlagen empfunden, weil sie der angestrebten Verkörperung einer hegemonialen Männlichkeit widersprachen.

Verflechtungen von Männlichkeit und Klasse bei Jelinek

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Anhand der ernsten Spiele des Wettbewerbs wird deutlich, dass Geschlechterkonstruktionen in einem hohen Maße von Interaktionen abhängig sind; Geschlecht wird im Handeln, in Interaktion mit anderen hergestellt und verfestigt sich hier. Die Tatsache, dass Walter und Erika in diesem zwischenmenschlichen Mikrokosmos ernste Spiele des Wettbewerbs spielen, macht deutlich, dass beide durchaus in der Lage sind, als Männlichkeit zu passen. Außerdem wird besonders an Erika evident, dass die geschlechtliche Performanz prozesshaft ist. In den Spielen mit Walter verkörpert sie an vielen Stellen eine authentische Männlichkeit, während sie in anderen Situationen mit Walter bemüht ist, eine klassische Weiblichkeit zu verkörpern. Die Tatsache, dass Erika in ihrer prozesshaften Geschlechtlichkeit an den Spielen teilhaben kann und dass Rainer sich derer entziehen kann, stellt die eigentlich strikte Geschlechterseparation in den ernsten Spielen auf eine harte Probe. Die spezifische Darstellung der ernsten Spiele des Wettbewerbs macht einen wichtigen Teil der Vermittlung der Jelinek’schen Patriarchatskritik aus. Letztlich gelingt es ihr mit der Konzeption solcher Handlungsstränge, die Absurdität der vermeintlich geschlechtsspezifisch habitualisierten Rituale des Patriarchats zu entlarven.

VI.

Verflechtungen von Männlichkeit und Klasse bei Jelinek

Während die klassenspezifischen Merkmale der Figuren in Die Klavierspielerin nur latent im Text enthalten sind, führt Jelinek die Klassenunterschiede der Figuren in Die Ausgesperrten recht detailliert vor. Dennoch sollen hier beide Texte und auch Lust mit dem bürgerlichen Hermann als Grundlage dienen, um die Frage nach klassenspezifischen Männlichkeitskonstruktionen zu beantworten. Dafür werden in Punkt 1 bis 3 die spezifischen Merkmale der Klassenzugehörigkeiten der Figuren eher deskriptiv resümiert und im Zusammenhang mit der jeweiligen Männlichkeitskonzeption untersucht. Dabei wird kurz dargestellt, welche Eigenschaften der einzelnen Figuren relevant für ihre klassenspezifische Männlichkeitskonstruktion sind. Punkt 4 und 5 eruieren – auch textübergreifend – Parallelen und Unterschiede zwischen den Figuren und bieten schließlich ein Interpretationsangebot für die Verflechtung von Klasse und Männlichkeit im Hinblick auf Jelineks Kritik am Patriarchat. Im Abschnitt zu den Interdependenzen von Geschlecht und Klasse in dieser Arbeit wurden bereits Frerichs’ und Steinrückes Hypothesen benannt, die für diesen Abschnitt eine Orientierung bieten. Zur Erinnerung seien sie hier noch einmal genannt:

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Kompositionsglieder der Jelinek’schen Patriarchatskritik

1. [Die] Klassenhypothese, der zufolge die Klassenzugehörigkeit, unabhängig von bzw. quer zum Geschlecht, die Lebenschancen und Verhaltensmöglichkeiten entscheidend bestimmt; 2. [die] Geschlechtshypothese, der zufolge die Geschlechtszugehörigkeit dafür entscheidend ist, bzw. der zufolge Frauen aufgrund ihrer stellungsspezifischen Gemeinsamkeit »die Unterschicht in jeder Klasse« bilden (wie Regina Becker-Schmidt […] das einmal treffend ausgedrückt hat); 3. die Klassengeschlechtshypothese, der zufolge jede Klasse und Klassenfraktion ihre eigenen Vorstellungen und Realisierungsformen von Männlichkeit und Weiblichkeit und von Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern hat […]. (Steinrücke 2005: 155; H. i. O.)

Die diesem Abschnitt zugrunde liegende These, dass die Männlichkeiten das Ideal der hegemonialen Männlichkeit als generatives Prinzip klassenübergreifend nutzen, entspricht grundsätzlich der Geschlechtshypothese von Frerichs und Steinrücke. Die Klassengeschlechtshypothese wiederum entspricht im Hinblick auf die Realisierungsformen von Männlichkeit im Prinzip der weiterführenden These, dass die hegemoniale Männlichkeit als generatives Prinzip der Konstruktion von Männlichkeit zwar klassenübergreifend Gültigkeit besitzt, dass die Männlichkeiten sich jedoch je nach Klassenzugehörigkeit unterschiedlich konstituieren. Indem der Blick darauf gerichtet wird, ob jeweils die Klasse oder das Geschlecht bei der Konzeption der Figuren stärker gewichtet wird, bzw. indem auf die Realisierungsformen von Männlichkeit in Abhängigkeit ihrer Klassenzugehörigkeit der Figuren fokussiert wird, kann überprüft werden, welche Thesen sich am Text bzw. an den Figuren belegen lassen und welche eventuell verworfen werden müssen. Aus diesen Ergebnissen lassen sich dann auch Aussagen über die Art der Jelinek’schen Patriarchatskritik ableiten.

1.

Klasse in Die Klavierspielerin

Die Interaktionen zwischen den Figuren in Die Klavierspielerin finden – von ein paar räumlichen Ausflügen Erikas abgesehen – innerhalb einer Klasse bzw. sogar innerhalb einer Klassenfraktion statt. Explizit erfährt die_der Lesende nicht allzu viel über Erikas und Walters Klassenzugehörigkeit. Mit Rückgriff auf Bourdieu lassen sich jedoch einige Hinweise erkennen, die es ermöglichen, Erika und ihre Mutter dem neuen, aufstrebenden Kleinbürgertum zuzuordnen.147 Frank Young konstatiert sogar, dass Die Klavierspielerin eine »exemplarische 147 Auch Schmid-Bortenschlager stellt fest: »In der Klavierspielerin gibt es keine Klassengegensätze, alle Beteiligten gehören einem Klein- oder depossedierten Bildungs-Bürgertum an« (Schmid-Bortenschlager 2012: 18).

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Studie kleinbürgerlicher Identität« sei (Young 1990: 75). Während die Sparsamkeit der Mutter sowie der Erfolgsdruck, den sie auf Erika ausübt, noch von der Angst vor dem Abstieg zeugen, und der Wunsch nach einer Eigentumswohnung den Willen zum Aufstieg verdeutlicht, ist Erikas Drang zur Distinktion und ihr Wille zur Individualität bereits am Bürgertum orientiert. In Erikas Konkurrenzdenken spiegle sich allerdings die Haltung der kleinbürgerlichen Klasse (vgl. Fischer 1991: 54). Wenngleich Erika »zahlungskräftig« (KS 138) aussieht, ist es um ihre ökonomischen Ressourcen nicht herausragend bestellt. Auch die lang ersehnte Eigentumswohnung können sie sich nicht leisten. Daher stützen sie sich auf die Akkumulation kulturellen Kapitals und umgeben sich im Kontext der Klavierkonzerte mit Intellektuellen.148 Dieses Verhalten stimmt mit der stereotypen Bildungsbeflissenheit der_des Kleinbürger_in überein. Erika gehöre nicht zum Volk, sie gehöre zu denen, »die das Volk lenken und leiten« (KS 102); hier macht auch die Erzählinstanz – nicht ohne sarkastischen Unterton – deutlich, dass Erika nach Höherem strebt und einer Führungselite angehören möchte. Auffällig ist an der Figur Erika, dass viele Attribute einer Männlichkeit, die sie sich aneignet, in einem Milieu beschrieben werden, das sehr durch Arbeiter_innen geprägt und kriminalisiert ist. Sowohl bei ihren Besuchen in der PeepShow als auch bei ihren voyeuristischen Ausflügen in die Praterauen ist sie von einem Klientel der unteren Klassen umgeben, das sehr verroht dargestellt wird (vgl. KS 51ff., 138ff.).149 Wenngleich sie sich mit der Aneignung von männlich konnotierten Räumen und männlich konnotierten Verhaltensweisen, wie Autonomiestreben oder dem Objektivieren anderer, eigentlich allgemeingültige Attribute von Männlichkeit aneignet, taucht sie das Setting der Szenen eher in das Licht einer Unterschichtsmännlichkeit. In starkem Kontrast dazu steht ihr intellektuelles Dasein im Kontext ihrer Tätigkeit als Pianistin auf bürgerlichen Hauskonzerten. Hier genauso wie in den ernsten Spielen des Wettbewerbs mit Walter auf intellektueller Ebene sind es eher Attribute einer (klein-)bürgerlichen Männlichkeit, die sie verkörpert. Im Hinblick auf ihre klassenspezifische Männlichkeitsperformanz scheint Erika letztlich genauso hybride zu sein wie im Kontext ihrer geschlechtlichen Performanz; sie lässt sich keiner Klasse eindeutig zuordnen, wenngleich die Anzeichen für eine kleinbürgerliche Figur überwiegen. Walter und Erika scheinen zwar einen ähnlichen Bildungshintergrund zu haben, jedoch scheint Walters Familie über mehr finanzielle Mittel zu verfügen, 148 Luserke macht das Klavier sogar als Mythos aus, der für Erika direkt mit dem Klassenaufstieg verknüpft ist (vgl. Luserke 1993: 30). 149 Vgl. a. Schmid-Bortenschlager 2012: 18: »[…] die Begegnungen mit den Gastarbeitern in den Peepshows und im Prater zeigen eine neue Unterschicht«.

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Kompositionsglieder der Jelinek’schen Patriarchatskritik

zumindest wohnen seine Eltern in einem »Bürgerhaus der oberen Kategorie« (KS 131). Ein Gedanke Erikas könnte besonderen Aufschluss über Walters berufliche Perspektive geben: Wenn Walter mit dem Studium fertig ist, »verdient [Erika] Geld dazu« (KS 267). Erika, die momentan zwei Menschen von ihrem Einkommen ernährt, verdient, sobald der Mann arbeitet, nur noch dazu. Das zeugt entweder davon, wie sehr Erika von den traditionellen Geschlechterrollen geprägt ist, nach denen der Mann den Ernährer verkörpert,150 oder es lässt auf Walters bürgerliche Position schließen, die ein deutlich höheres Einkommen verspricht. Da es keine Hinweise darauf gibt, dass Walter tatsächlich dem Bürgertum angehört und in der gesamten Handlung auch keine klassenspezifischen Unterschiede zwischen Erika und Walter hervorgehoben werden, soll davon ausgegangen werden, dass auch Walter dem neuen Kleinbürgertum angehört.151 Walters finanzielle Privilegierung wird nicht weiter thematisiert, obwohl davon auszugehen ist, dass seine Eltern finanziell gut aufgestellt sind. Neben dem Bürgerhaus, das sie bewohnen, sprechen auch Walters zahlreiche Unterrichtsstunden am Klavier und in der Klarinettenklasse des Wiener Konservatoriums dafür. Insgesamt scheint es Walter sehr auf seine intellektuellen Fähigkeiten anzukommen, er sucht die Auseinandersetzungen mit Erika, um sich über seine Bildung und seinen Intellekt zu profilieren. Gleich auf hiermit scheinen jedoch auch – eher untypisch für eine kleinbürgerliche Identität – seine körperlichen Kompetenzen einen großen Teil seiner Männlichkeitskonstruktion auszumachen. Als Walter im Park seinen qua Erektionsstörung erlittenen Männlichkeitsverlust nivellieren möchte, wird sogar eine seiner Ängste sichtbar. Durch die kommentierende Haltung der Erzählinstanz mutet die Figur hier fast spießerhaft an. Er wirkt hier weder autonom, noch abgesichert, sondern ganz kleinbürgerlich treibt ihn – ähnlich wie bei Mutter Kohut – die Angst um, jemand könnte ihm etwas stehlen. Das ist vor allem vor dem Hintergrund interessant, dass er eigentlich bemüht ist, seine ständige Kampfbereitschaft zu suggerieren, was wiederum laut Joachim Kersten eher typisch für die Arbeiterklasse ist (vgl. Kersten 1997: 110). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die beiden Figuren sich innerhalb des Kleinbürgertums bewegen und sie weitgehend typische Verhaltensweisen, Werte und Normen erkennen lassen. Lediglich hinsichtlich seiner Körperfixierung scheint Walter dem Proletariat nahezustehen, so wie auch Erika 150 Zumal es im Kontext ihrer bürgerlich geprägten Werte und Normen eher ungewöhnlich ist, dass sie an der Seite eines Mannes überhaupt noch arbeitet (vgl. Behnke 2000: 130). So weit kann sie sich von ihrer Sozialisation offenbar doch nicht lösen. 151 Laut Erzählinstanz verbindet die beiden die Verachtung des heimischen Konzertbetriebs der Mittelschicht (vgl. KS 73f.). Sie erheben sich gemeinsam über diese Schicht. Erika nennt Walter in diesem Kontext »Herr Kollege Klemmer« (KS 73), worüber er sehr glücklich ist, was zusätzlich eine klassenmäßige Ebenbürtigkeit suggeriert.

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in das Licht einer Arbeitermännlichkeit gestellt wird, wenn sie sich in bestimmte Milieus begibt.

2.

Klasse in Die Ausgesperrten

In Die Ausgesperrten zählt die Klassenzugehörigkeit der Figuren zu den zentralen Charakterisierungsmerkmalen. Die plakativ angelegte Figurenkonstellation, welche die bürgerliche Sophie mit der kleinbürgerlichen Familie Witkowski sowie dem Arbeitersohn Hans kontrastiert, rückt die Relevanz der Klassenlagen in den Fokus der Erzählung. Otto, der seinen Klassenabstieg ins Proletariat vehement leugnet, hält besonders seine Rolle als Ernährer hoch, die eine solide finanzielle Basis suggerieren soll. Dies ist auch der Grund, warum er den Familienwagen nicht verkauft. Er ist sehr auf ein gepflegtes Äußeres bedacht, was den Anschein von Wohlstand vermitteln soll. Der vorrangige Zweck seines aufwendigen Hobbys der Aktfotografie besteht darin, über Gretls Erniedrigung an alte Erfolge im Krieg anzuknüpfen, und nicht etwa darin, hierüber mit einer intellektuellen Elite zu konkurrieren. Zuletzt sei Ottos vehemente Betonung seines vermeintlich intakten Körpers hervorgehoben. Hiermit kann er jedoch nicht dienen, weshalb seine Verzweiflung daran vor allem in seinen Gewaltexzessen sichtbar wird. Über Gewalt ist es ihm möglich, zumindest temporär eine machtvolle Position einzunehmen. Die besondere Relevanz des Körpers für seine Männlichkeitskonstruktion ist typischerweise eher dem Proletariat zuzuschreiben. Die Verschiebung des Fokus auf seinen Körper ist zwar nicht besonders typisch für das Kleinbürgertum, in Anbetracht seines versehrten Körpers ist es allerdings auch nicht verwunderlich. Die Klassenzugehörigkeit als Erklärungsmuster für seinen Körperbezug rückt hierdurch in den Hintergrund. Die übrigen erwähnten Werte und Normen, an denen Otto sich orientiert, sind teilweise stereotype Werte des Kleinbürgertums, teilweise finden sie sich aber auch im Bürgertum.152 Trotz seines faktischen Klassenabstiegs in die Arbeiterklasse ist sein Habitus noch sehr vom exekutiven bzw. neuen Kleinbürgertum geprägt, was wohl dem Hysteresis-Effekt des Habitus geschuldet ist. Hans Sepp hat nicht die gleiche Schulbildung genossen wie seine Freunde. Während Rainer, Anna und Sophie kurz vor der Matura stehen, geht er bereits seinem erlernten Beruf des Starkstrommonteurs nach. Erst im Verlauf der Handlung wird Hans sich bewusst, dass im Hinblick auf Bildung eine große Lücke zwischen ihm und seinen Freunden klafft. In der Analyse konnte her152 Wie in Bourdieus Klassen- und Habituskonzept unter Fraktionen ausgeführt, ähneln die Einstellungen und Präferenzen des neuen Kleinbürgertums denen des Bürgertums.

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ausgefiltert werden, dass Hans bemerkt, dass seine ursprünglichen Ideale und Normen in der Bande keine Wertigkeit besitzen und er – um Anerkennung als Männlichkeit ringend – schließlich statt ausschließlich auf seinen Körper auch auf die Akkumulation kulturellen Kapitals setzen möchte. Entgegen seiner – ganz von ihrer kleinbürgerlichen Bildungsbeflissenheit geprägten – Freunde Anna und Rainer kommt es ihm allerdings weniger auf die Bildung per se, sondern vielmehr auf das finanzielle Vorankommen an, das für ihn am Ende einer Weiterbildung steht. Es erschließt sich ihm nicht, warum er Bildung um der Bildung willen anhäufen soll; der Output, den er durch Bildung an sich erreicht, hat für ihn, so wie er das Leben kennt, zunächst keinen Wert. Im Hinblick auf Hans’ spezifische Figurenkonstruktion ist zudem auffällig, dass Hans nicht etwa einfacher Elektriker ist, sondern Starkstrommonteur ; ein von Jelinek geschickt gewählter Beruf, um der Figur Stärke und Risikobereitschaft zu attestieren. Diese beiden Attribute sind es auch, die Hans’ Männlichkeit charakterisieren. Risikobereitschaft macht Joachim Kersten als ein zentrales Attribut von männlichen Jugendlichen der underclass aus, das sie nutzen, um ihre Fähigkeiten als Versorger und Beschützer trotz ihrer Ressourcenarmut unter Beweis zu stellen. Aufgrund von Hans’ sozialer Lage ist es für ihn um die Möglichkeiten der Teilhabe an hegemonialer Männlichkeit schlecht bestellt. Laut Kersten neigen diese Jugendlichen dann häufig zu (körperlicher) Konfrontation und Überlegenheitsbeweisen, um überhaupt auf dem Feld der Männlichkeiten mitspielen zu können. In diesem Kontext sind auch Hans’ gewalttätiges Handeln sowie das Spiel mit seinen Muskeln einzuordnen. Sein Körper dient ihm hierbei der Demonstration seiner außerordentlichen Männlichkeit. In der Arbeiterklasse stehen also die gleichen Ideale zur Verkörperung einer Männlichkeit im Vordergrund wie in anderen Klassen auch, jedoch sind die Ressourcen zur Erreichung dieser Ideale derart eingegrenzt, dass andere Wege gesucht werden, den Idealen ein Stück näher zu kommen. Hans’ Fixierung auf seinen Körper ist also als spezifisch zu verstehen im Hinblick auf die Konstruktion seiner Arbeitermännlichkeit. Wie in der Analyse deutlich wurde, sind die Männlichkeitsattribute, die Anna sich aneignet, geprägt von den Idealen einer traditionellen Männlichkeit. Sie kennt die Faktoren, auf die es ankommt, wenn sie männlich performen möchte. Wie alle Figuren geht sie hierbei ressourcenorientiert vor. Da sie über wenige ökonomische Mittel verfügt, ist es die Bildung, die ihr einen Machtvorsprung sichern soll. Dabei zeichnet sich ganz deutlich die kleinbürgerliche Bildungsbeflissenheit ab. Und auch wenn Anna sich von ihrem Körper insgesamt eher abwendet, so setzt sie ihn bei passender Gelegenheit doch ein, um sich über körperliche Gewalt zu profilieren und andere Männlichkeiten symbolisch zu kastrieren oder um ihre sexuelle Aktivität in den Vordergrund zu stellen. Die Figur Anna gibt Hinweise darauf, dass sie körperliche Gewalt nutzt, um dem

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Scham-Wut-Zyklus im Sinne Kerstens zu entkommen. Die Scham resultiert daraus, dass sie ihrer gesellschaftlichen Lage nicht entkommen, das erlebte »Geschlechterdrama« (Kersten 2011: 161) nicht bewältigen kann. Da Kersten diese Art der Kompensation männlich Sozialisierten zuspricht, eignet Anna sich hiermit durchaus ein männlich konnotiertes Verhaltensmuster an. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Männlichkeit eines Arbeiters infrage gestellt wird, ist aufgrund ihrer mangelnden Ressourcen zur Männlichkeitsgenerierung deutlich höher als bei bürgerlichen Männlichkeiten. Ausgehend von Kersten lässt sich dieses Verhalten Annas durchaus einem stereotypen Verhaltensmuster einer Arbeitermännlichkeit zuordnen.153 Es kann also festgehalten werden, dass Anna sich im Hinblick auf ihre Männlichkeitskonstruktion sowohl habituelle Eigenheiten der Arbeiterklasse als auch des Kleinbürgertums aneignet. Ihre männliche Performanz lässt sich somit ähnlich wie bei Erika eher als hybride beschreiben und keiner Klasse eindeutig zuordnen. Im Hinblick auf die Figur Rainer wäre es nicht hilfreich, sich um Aussagen zu seiner klassenspezifischen Männlichkeitskonstruktion zu bemühen, da bereits im Punkt Rainer als Versuch einer heterotopischen Figurenkonzeption deutlich wurde, dass Rainer einen alternativen Männlichkeitsentwurf verkörpert, der die hegemoniale Männlichkeit nicht als generatives Prinzip seiner Männlichkeitskonstruktion nutzt. Er stellt keine traditionelle Männlichkeit dar und strebt sie auch nicht an, weshalb die These, ob sich die Männlichkeiten, die sich am Ideal der hegemonialen Männlichkeit orientieren, klassenspezifisch unterschiedlich konstituieren, an der Figur Rainer nicht überprüft werden kann. Deutlich wurde jedoch, dass das gesellschaftliche Ideal auch an Rainer nicht spurlos vorbeigeht, sodass auch er auf der Suche nach Attributen ist, die ihm eine Machtposition einbringen können. Er fokussiert sich hierbei auf sein kulturelles Kapital, was typisch ist für seine klassenspezifische Sozialisation im Kleinbürgertum. Seine Flexibilität hinsichtlich der Tatsache, dass er die Ernährer-Rolle durchaus an Sophie abtreten würde, ist jedoch eher typisch für die Arbeiterklasse. Hier ist es häufig erforderlich, dass in einer heterosexuellen Beziehung beide Partner_innen einer Erwerbsarbeit nachgehen, um die Familie erhalten zu können. Wo Otto also versucht ist, auszublenden, dass seine Ehefrau ihren Teil zum Erhalt der Familie beiträgt, scheint es für Rainer durchaus im Rahmen des Akzeptierbaren zu sein, auf seine Partnerin angewiesen zu sein.

153 Die Ambivalenzen, die sich im Hinblick auf den Körper als Spezifikum der klassenspezifischen Männlichkeitskonstruktion abzeichnen, werden später in diesem Abschnitt noch einmal genauer beleuchtet.

290 3.

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Klasse in Lust

An dieser Stelle wird zuletzt auch auf die einzige bürgerliche Figur Bezug genommen, die im Rahmen dieser Arbeit untersucht wurde: Hermann, der Fabrikdirektor aus Lust. Er verfügt als Arbeitgeber über große soziale Macht und über viel ökonomisches Kapital. Auch die kulturellen Werte wie klassische Musik oder das Geigenspiel sind ihm wichtig. Der Prosatext macht insgesamt deutlich, dass Hermann im Mikrokosmos des alpinen kleinen Ortes durchaus eine hegemoniale Männlichkeit verkörpert. An seinem Einsatz in den ernsten Spielen des Wettbewerbs wird deutlich, über wieviel Macht und Ressourcen Hermann verfügt: In einer Auseinandersetzung mit Michael reichen seine drohenden Blicke aus, um den Machtkampf gegen seinen Nebenbuhler zu gewinnen. Dies zeugt davon, dass er derart machtvoll ist, dass er es nicht nötig hat, tatsächliche Mittel in den ernsten Spielen des Wettbewerbs einzusetzen. Um sein Scheitern an den Anforderungen des Patriarchats an seine ideale Männlichkeitskonstruktion jedoch aufzufangen, greift auch Hermann zur Anwendung von körperlicher und sexualisierter Gewalt. Einen Eckpfeiler der hegemonialen Männlichkeit – die Autonomie – kann im Kontext der heterosexuellen Matrix und der daraus resultierenden Zwangsheterosexualität auch Hermann nicht bieten. Er ist – wie alle anderen Männlichkeiten auch – auf die sexuelle Befriedigung durch eine Frau angewiesen. Ein Dilemma, das der patriarchalen Gesellschaftsstruktur per se unlösbar inhärent ist. In Zeiten von HIV ist Hermanns Opferzahl in seiner Angst vor einer Ansteckung zusätzlich auf seine Frau zusammengeschrumpft, was ihm seinen Abhängigkeits-Autonomie-Konflikt noch deutlicher vor Augen führt. Um dies zu kompensieren, greift Hermann zu exzessiver körperlicher Gewalt, die er gegen seine Frau anwendet. Wenngleich Hermann also in den ernsten Spielen des Wettbewerb kaum noch Machtkämpfe austragen muss,154 weil er bereits an der Spitze der Männlichkeiten im Dorf steht, so greift er dennoch auf die Ressource Körper zurück, wenn es keine anderen gültigen Mittel zur Erhaltung seiner Herrschaft über seine Frau mehr gibt – auch hier stellt die körperliche Gewalt die ultima ratio dar. Spezifisch für eine bürgerliche Männlichkeit scheint also der Überfluss an materiellen, sozialen und kulturellen Ressourcen zu sein, sodass Machtkämpfe nur noch symbolisch ausgetragen werden (müssen). Der Körper als Mittel des Machterhalts stellt jedoch auch hier einen essentiellen Pfeiler der Männlichkeitskonstruktion dar.

154 Um seine Arbeiter niederzuhalten genüge seine Unterschrift (vgl. LU 19f.), in der Auseinandersetzung mit Michael um Gerti genügt ein Blick (vgl. LU 236f.).

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4.

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Männlichkeitsgenerierende Attribute in Interdependenz mit der Kategorie Klasse

Wie in erster Linie in den Abschnitten zu Hans und Anna erläutert, ist die Nutzung des Körpers als Ressource ein zentrales Element zur Generierung einer Männlichkeit der Arbeiterklasse. Jedoch konnte in der Analyse herausgefiltert werden, dass der Körper klassenübergreifend für alle Männlichkeiten eine enorme Relevanz zur Herstellung und Aufrechterhaltung sowohl ihrer Geschlechtlichkeit als auch ihrer Machtposition hat. Wenngleich die Nutzung des Körpers bei Hans einen deutlich verbisseneren, bei Anna einen fast jähzornigen Eindruck hinterlässt, so ist allein die Bezugnahme auf den Körper bzw. der Einsatz des Körpers noch kein reliabler Beweis für die Konstruktion einer Arbeitermännlichkeit. Denn der kleinbürgerliche Walter, der stark vom Kleinbürgertum geprägte Otto und selbst Hermann sind ebenfalls intensiv mit der Inszenierung ihrer körperlichen Überlegenheit befasst. Walter, Erika, Otto und auch Hermann können allerdings auch auf andere Ressourcen wie Geld, Bildung oder ihre sozial überlegene Position als Arbeitgeber zurückgreifen, um ihre Männlichkeit zu konstituieren. Letztlich verteidigen sie jedoch alle mit ihrem Körper die männliche Vorherrschaft; nutzen den Einsatz ihres Körpers als ultima ratio im Kampf um Macht und Überlegenheit. Auch die Weiblichkeitsabwehr bzw. -abwertung konnte nicht als spezifisches Charakteristikum für eine bestimmte Klasse ausgemacht werden. Die Abwehr bzw. Abwertung alles Weiblichen zieht sich durch alle Klassen und ist sogar Teil der Männlichkeitskonstruktion der weiblich Sozialisierten Anna und Erika, wenn sie ihren eigenen Körper ablehnen oder sich selbst verletzen. Auch Hans und Walter werden hier deckungsgleich gezeichnet. Sie beide nutzen Frauen als Übungsstück und nehmen sie wie eine Maschine in Betrieb (vgl. KS 180; AUS 226). Die Parallelen zwischen den Figuren werden hier sogar durch gleich verwendetes Vokabular hervorgehoben, was beweist, dass die Objektivierung von Frauen und die damit einhergehende Abwertung der Frau klassenübergreifend relevant sind. Sie dient in jeder Klasse der Aufwertung von Männlichkeit. Die vehemente Weiblichkeitsabwehr scheint eine ähnliche Funktion zu haben wie das Othering155, wobei die Weiblichkeitsabwehr sich in erster Linie in einer geschlechtlichen Dimension bewegt, während das Othering zumindest innerhalb der Prosa vorrangig auf einer klassenspezifischen Ebene anzusiedeln ist. Ausschlaggebend hierfür könnte der übermäßige Aufstiegswille sowie das große Bedürfnis der Figuren nach Distinktion – vor allem der Abgrenzung nach unten – sein. Obwohl Anna und Rainer sich in vielen Punkten an Sophie und ihrer bürgerlich-gelassenen Einstellung zum Leben orientieren möchten, sind 155 Zum Begriff Othering s. Fußnote 9.

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sie letztlich sehr unterschiedlich angelegte Figuren. Was bei Sophie aufgrund ihrer durch und durch privilegierten Position leichtfüßig und entspannt wirkt, wirkt bei den Zwillingen verkrampft bis ängstlich. Was aber Konsens zwischen der bürgerlichen Sophie und den kleinbürgerlich geprägten Witkowskis zu sein scheint, ist das Othering von Hans. Alle Figuren, selbst die Mutter Witkowski,156 machen Hans mit ihren Äußerungen und Handlungen permanent zum Anderen. Was bei Sophie als bürgerlich geprägte Überheblichkeit verstanden werden kann, ist bei Rainer, Anna und Gretl jedoch ein Kampf um ihre soziale Position, ein Ringen um Macht und Ansehen durch die Abwertung anderer. Hierin ist eine klare Abgrenzung zur Arbeiterklasse zu sehen, die die Witkowskis selbst im Kleinbürgertum verankern soll. Das Othering scheint jedoch kein geschlechtsspezifisches Handlungsmuster zu sein, da sich verschiedene Geschlechtlichkeiten dieses Musters bedienen, um ihre Klassenposition zu festigen. Michael Meuser konstatiert in Bezug auf die ernsten Spiele des Wettbewerbs, dass sie eine habituelle Homologie seien, die die Akteure trotz Klassenunterschieden gemeinsam haben. In der Wahl der Mittel bleibe die soziale Zugehörigkeit jedoch sichtbar (vgl. Meuser 2003: 93). Ernste Spiele über Klassengrenzen hinweg sind somit aufgrund der unterschiedlichen Mittel, die genutzt werden, eher unwahrscheinlich. Anhand der Mittel, die Erika und Walter nutzen, wird demnach deutlich, dass sie der gleichen Klasse angehören, wenn sie sich auf intellektueller Ebene eine Auseinandersetzung liefern. Dass Hans und Rainer gar nicht kämpfen ist zwar zunächst Rainers spezifischer Geschlechterkonstruktion geschuldet. Doch vorausgesetzt, Rainer wäre zu den ernsten Spielen des Wettbewerbs bereit, würden zwischen den beiden auch dann keine Spiele stattfinden, da Hans mit seinem Körper andere Spieleinsätze mitbringen würde als Rainer, der auf intellektueller Ebene Distinktion erreichen will. Da die ernsten Spiele des Wettbewerbs in allen Klassen gespielt werden, sind sie somit zwar an sich kein Indiz für die jeweilige Klassenzugehörigkeit. Anhand der gewählten Einsätze können allerdings recht valide Aussagen über die Klassenzugehörigkeit der jeweiligen Männlichkeit getroffen werden.

156 Als Anna Hans mit nach Hause bringt, zeigt Gretl sich besorgt um ihren kleinbürgerlichen Ruf. Sie sieht sich und ihre Familie in ihrer Klassenillusion bedroht, wenn Hans sich mit ihren Kindern umgibt: »Die Mutter hat von alldem nur kapiert, daß Hans ein gewöhnlicher Arbeiter ist, was sie als Umgang mißbilligt. […] Gehen Sie fort und kommen Sie nicht wieder zurück, Sie stellen keine gute Gesellschaft für meine beiden Kinder dar« (AUS 84).

Verflechtungen von Männlichkeit und Klasse bei Jelinek

5.

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Die hegemoniale Männlichkeit als klassenübergreifendes generatives Prinzip – Ein Resümee

Nicht alle der untersuchten Aspekte ließen valide Aussagen über die Zugehörigkeit der Männlichkeiten zu einer bestimmten Klasse zu. Dennoch oder gerade deshalb lässt sich festhalten, dass es in Jelineks Werken Anhaltspunkte gibt, die die Thesen von Frerichs und Steinrücke bestätigen. Mit Blick auf die Klassenhypothese wurde evident, dass es unmöglich ist, die Klassengrenzen (zumindest nach oben) zu übertreten, womit es für die Figuren auch unmöglich ist, ihre Lebenschancen und Handlungsmöglichkeiten frei zu entwickeln. Innerhalb der jeweiligen Klasse werden bestimmte Erwartungen an den_die Einzelne_n gestellt, es wird ein spezifischer Habitus ausgebildet und verinnerlicht und auch die Verfügung über verschiedene Kapitalsorten bzw. die Einsätze in den ernsten Spielen des Wettbewerbs sind je nach Klassenlage sehr eingeschränkt. Die Geschlechtshypothese ist insofern bestätigt, als dass die Figuren die hegemoniale Männlichkeit als generatives Prinzip klassenübergreifend nutzen. Daran wird deutlich, dass sich die Akteur_innen bei der Aneignung einer geschlechtlichen Performanz unabhängig von der Klassenzugehörigkeit am gleichen Orientierungsmuster bedienen. Dies gilt sowohl weitgehend für die Nutzung des Körpers als Ressource als auch für die Teilhabe an den ernsten Spielen des Wettbewerbs, die Anwendung von Gewalt sowie die massive Weiblichkeitsabwehr.157 Hinsichtlich der Klassengeschlechtshypothese bleibt festzuhalten, dass diese in der Untersuchung insofern bestätigt werden konnte, als dass die Männlichkeiten, die – einer traditionellen männlichen Performanz entsprechend – an den ernsten Spielen des Wettbewerbs teilnehmen, in den Realisierungsformen dieser Spiele an ihre Klassenlage gebunden sind. Die These der Arbeit, dass die hegemoniale Männlichkeit als generatives Prinzip der Konstruktion von Männlichkeit zwar klassenübergreifend Gültigkeit besitzt, dass die Männlichkeiten sich jedoch je nach Klassenzugehörigkeit unterschiedlich konstituieren, konnte in der Untersuchung also teilweise bestätigt werden. Es lassen sich auch Hinweise auf die Gültigkeit der Geschlechtshypothese, nach der die Kategorie Geschlecht über Lebenschancen und Möglichkeiten entscheidet, sowie auf die Gültigkeit der Klassenhypothese, der zufolge die Zugehörigkeit zu einer spezifischen Klasse bestimmend ist, finden.158 Dass 157 Die Frage, die hierbei offen bleibt, ist, wie Frerichs und Steinrücke »Geschlechtszugehörigkeit« definieren. Denn: Was Jelinek ganz sicher aufzeigt, ist, dass die Zugehörigkeit zu einem Geschlecht prozesshaft und fluide sein kann und somit – zumindest im Jelinek’schen Kosmos – nicht so rigide vorherbestimmt ist wie die Klassenzugehörigkeit und ihre daraus erwachsenden (oder eben nicht erwachsenden) Spielräume. 158 Dies deckt sich auch mit den Ergebnissen von Steinrücke und Frerichs (vgl. Steinrücke 2005; Frerichs 1997: 123–147).

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hier keine eindeutigeren Ergebnisse erzielt wurden, kann verschiedene Ursachen haben: – Zunächst könnten Jelineks Figurenkonzeptionen dafür verantwortlich sein. Es besteht die Möglichkeit, dass Jelinek ihre Figuren nicht ausreichend stereotyp konzeptioniert hat, sodass letztlich nur wenige klassenspezifische Charakteristika der Männlichkeiten herausgefiltert werden konnten. Dagegen würde allerdings sprechen, dass Jelineks Verfahren gerade auf die Darstellung von schemenhaften, stereotypen Figuren zielt, sodass am Ende der Analyse diesbezüglich eigentlich eindeutige Ergebnisse stehen müssten. – Weiterhin könnte Jelineks Patriarchatskritik derart pauschalisiert sein, dass feine Nuancen in den unterschiedlichen Verhaltensweisen der Männlichkeiten verschwimmen und dadurch unkenntlich werden. Hiergegen spricht trotz Jelineks spezifischen Verfahren zum einen die enorme Menge an Hinweisen auf die Umgebung der Figuren – vom aufgetischten Essen über Wohnungseinrichtungen hin zu Kleidung und Beruf, die teilweise so präzise sind, dass sie Bourdieus Feinen Unterschieden direkt entnommen sein könnten. Zum anderen sprechen auch die durch den plot motivierten individuellen Handlungen der Figuren dagegen, die durchaus psychologisch nachvollziehbar in die Texte eingebaut wurden. Eine pauschale Patriarchatskritik, die die feinen Unterschiede der Männlichkeiten verschwimmen lassen, könnte höchstens für Lust angenommen werden. Doch sogar hier wird Hermanns bürgerliche Männlichkeit erkennbar. – Ein weiterer Faktor könnte die Größe und die Art des Samples sein. Fast alle Jelinek’schen Figuren, die untersucht wurden, gehören oder gehörten dem Kleinbürgertum an. Nur zwei Figuren stammen aus anderen Klassen. Es wäre somit hilfreich, weitere Figuren Jelineks – auch anderer Klassenlagen – zu analysieren, um hier reliablere Aussagen über klassenspezifische Männlichkeitskonstruktionen treffen zu können. Ob die Ergebnisse auch der Analyse und Auswertung eines größeren, klassenmäßig diverseren Sample standhalten, wäre dann zu prüfen. – Eine letzte Möglichkeit wäre, dass die Jelinek’schen Figuren so divers und individuell gezeichnet sind, dass sich keine Muster und Gemeinsamkeiten ausmachen lassen. Dies ist jedoch – wieder in Anbetracht der Jelinek’schen Verfahren – eher unwahrscheinlich. Denn der feministischen und kapitalismuskritischen Autorin, die in ihren Werken eine klare Patriarchatskritik übt, sind die Sichtbarmachung der gesellschaftlichen Strukturen und damit einhergehender Gewalt sowie die Sichtbarmachung der Absurdität der patriarchalen Herrschaft ein zentrales Anliegen. Es lässt sich konstatieren: Die spezifische Männlichkeitskonstruktion ist davon abhängig, über welche Ressourcen eine Figur verfügt. Damit kann trotz des nicht

Verflechtungen von Männlichkeit und Klasse bei Jelinek

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repräsentativen Samples davon ausgegangen werden, dass die Figuren ihre Männlichkeit klassenspezifisch konstituieren, da sie je nach Klassenzugehörigkeit über unterschiedliche Ressourcen verfügen. Alle Figuren versuchen daher, ein und dasselbe Ideal mit unterschiedlichen Mitteln zu erreichen. Sie kennen die Eckpfeiler dieses Ideals und sind bemüht, möglichst viele dieser Pfeiler zu stellen. Verfügen sie über einen intakten Körper als Ressource, so ist es auch der Körper, der ihnen Überlegenheit attestieren und ihre Männlichkeit sicherstellen soll. Haben sie eine gute Bildung genossen, so nutzen sie durchaus ihr kulturelles Kapital, um sich hierüber zu profilieren. Sind sie finanziell gut aufgestellt, so können sie den Versorger und Erhalter der Familie verkörpern und dieses Attribut als Teil ihrer Männlichkeitskonstruktion nutzen. Besitzen sie mehrere dieser Attribute, so steigen sie in der homosozialen Hierarchie auf. Ein Verzicht einer bürgerlichen Männlichkeit auf die Ressource Körper beispielsweise lässt sich jedoch nicht verzeichnen. Es handelt sich damit eher um eine intersektionale Verflechtung verschiedener Aspekte, die letztlich die soziale (Macht-)Position bestimmt, als um die Wahl eines klassenspezifischen Eckpfeilers zur Konstitution der Männlichkeit. Es kann also gesagt werden, dass die Arbeiterklasse mit den wenigsten Ressourcen zur Herstellung einer Männlichkeit auskommen muss, während das Bürgertum zahlreiche Mittel hierfür parat hält. Es werden aber in jeder Klasse die gleichen Mittel als gültig anerkannt; Männlichkeiten aller Klassen akzeptieren letztlich das gleiche Normensystem zur Herstellung einer Männlichkeit.159 Jelineks Form der Patriarchatskritik spricht aus den Interdependenzen von Klasse und Geschlecht nicht so eindeutig heraus wie beispielsweise aus der Kastration der traditionellen Männlichkeiten. Dennoch konnte hier deutlich 159 Bei Aussagen dieser Art sei immer berücksichtigt, dass sie für Männlichkeiten gelten, die das Ideal der hegemonialen Männlichkeit anstreben. Alternative Männlichkeiten bzw. Männlichkeiten, die sich ganz bewusst dem traditionellen Männlichkeitsideal entziehen, akzeptieren dieses Normensystem möglicherweise, jedoch ist es nicht das, was für ihre Männlichkeit auch Gültigkeit besitzt. Bezüglich der Männlichkeiten, die das Normensystem akzeptieren und auch das Ideal der hegemonialen Männlichkeit anstreben, ist jedoch auch anzunehmen, dass hier zusätzlich innerhalb der Klassen zwischen verschiedenen Fraktionen unterschieden werden muss: Ein Intellektueller, der großen Wert auf seine Kunstsammlung legt, wird den Ferrari des Großunternehmers möglicherweise als männlich konnotiertes Statussymbol akzeptieren; er wird sich deshalb jedoch keinen Ferrari anschaffen, weil er denkt, er könnte damit auch seine eigene Männlichkeit stabilisieren. Er akzeptiert das System also, erkennt es an und zollt dem Unternehmer möglicherweise Respekt, es ist allerdings nicht sein eigener fraktionsspezifischer Maßstab zur Männlichkeitsgenerierung. So werden allerhand Differenzierungsmöglichkeiten bzw. -notwendigkeiten sichtbar. Diese ohne Komplexitätsreduktion zu berücksichtigen, würde im Kontext dieser Arbeit jedoch bedeuten, nicht mehr mit Kategorisierungen arbeiten zu können und somit auch keine Aussagen mehr über den zentralen Referenzpunkt der Arbeit, eine von Jelinek beschriebene spezifisch organisierte Gesellschaft, treffen zu können.

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Kompositionsglieder der Jelinek’schen Patriarchatskritik

werden, dass Jelinek ihre Figuren unterschiedlicher Klassen so konzipiert, dass sie letztlich alle über ein gewisses Mindestmaß an sozialer Macht verfügen möchten. Die Wirkmächtigkeit des Patriarchats zieht sich durch alle Klassen, sodass alle Männlichkeiten das Ziel haben, eine soziale Machtposition zu besetzen – lediglich die zur Verfügung stehenden Mittel zur Distinktion und zur Durchsetzung dieser Position variieren je nach Klasse. Wichtig ist hierbei das Ergebnis, dass Jelineks männlich gezeichneten Figuren allesamt Gewalt anwenden, wenn ihre Vormachtstellung angezweifelt wird, unabhängig davon über wieviel Macht oder Privilegien sie ohnehin verfügen. Daran, dass beispielsweise auch Hermann oder Walter körperliche Gewalt als ultima ratio anwenden müssen, um über Frauen zu herrschen, wird deutlich, welchen Ausmaßes die Legitimationsprobleme des Patriarchats sind. Auch mit ihrer klassenspezifischen Figurenkonzeption stellt Jelinek die männliche Herrschaft also in Frage.

Fazit

Die vorliegende, in der genderorientierten Literaturwissenschaft verortete Arbeit sollte anhand der Untersuchung der Männlichkeitskonstruktionen herausarbeiten, wie genau sich Jelineks Patriarchatskritik in ihren Prosatexten niederschlägt. Im Teil Zum Werk von Elfriede Jelinek findet sich eine Auseinandersetzung mit Jelinek als feministischer Schriftstellerin sowie mit ihren ästhetischen Verfahren vor dem Hintergrund des feministischen Potentials der ausgewählten Prosatexte. Es zeigte sich, dass Jelinek als Schriftstellerin ein doppeltes Ziel verfolgt: Die Frau als Komplizin gesellschaftlicher Missstände sichtbar zu machen und dennoch Partei auch für Frauen als die Unterdrückten der Gesellschaft zu ergreifen. Ihre radikale feministische Haltung spiegelt sich auch in ihren ästhetischen Verfahren, allen voran die Dekonstruktion zahlreicher etablierter Kategorien. Die Verfahrensweisen dienen der Destruktion ideologisierter sozialer und sexueller Machtstrukturen. Im Teil Theoretische Grundlagen wurden die theoretischen Rahmungen der Arbeit vorgestellt und diskutiert. Dazu gehören Theorien und Konzepte von Klasse, Männlichkeit und Weiblichkeit. Als Grundlage für die Untersuchung der Männlichkeiten wurde Raewyn Connells Konzept der hegemonialen Männlichkeit genutzt. Dieses wurde um Michael Meusers Überlegungen zu den Anknüpfungspunkten von Bourdieus Habituskonzept für die Analyse eben jener Männlichkeiten erweitert. Da Connells Ansatz letztlich doch sehr auf Männer fokussiert, wurden zur besseren Erfassbarkeit der Figuren Angela McRobbies Top Girls sowie Mimi Schippers pariah femininities herangezogen, die mit Männlichkeit konnotierte Weiblichkeiten genauer in den Blick nehmen. Im Teil zur Methodologie der Arbeit wurde die methodische Vorgehensweise der Arbeit erläutert sowie die Nutzbarkeit des von Jens Eder entwickelten Modells Die Uhr der Figur für die Analyse dargelegt. Es wurde deutlich, dass Eders Modell es vermag, die kognitiv und sozial verankerten Auffassungen von Geschlecht strukturiert auf drei, für diese Arbeit besonders relevanten Ebenen zu berücksichtigen: 1. bei der Konzeption der Figuren durch den_die Autor_in,

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Fazit

2. bei der Entwicklung der Figurenmodelle durch die Rezipierenden und 3. bei der Wirkung der Figuren im soziokulturellen Kontext. Im darauffolgenden Teil wurden die Analysen der Figuren aus Die Klavierspielerin und Die Ausgesperrten durchgeführt. Mithilfe des zuvor entwickelten Analysewerkzeuges wurde es hier möglich, anhand der spezifischen Figurenkonzeptionen aufzuzeigen, inwiefern Jelineks Prosatexte nicht nur eine Kritik am Patriarchat formulieren, sondern es überhaupt ad absurdum führen. Dabei bewegt sich die Analyse auf zwei Ebenen: Zum einen wurde untersucht, wie Jelineks Prosa inhaltlich funktioniert, d. h. wie die geschlechtlichen Performanzen textimmanent dargestellt, begründet und motiviert werden und wie die Männlichkeitskonstruktionen in den gesellschaftlichen Mikrokosmos der Handlung einzubetten sind. Zum anderen wurde eruiert, was Jelinek mit eben jener Konzeptualisierung ihrer Figuren bewirkt. Im Blick auf Theorien und Konzepte der Geschlechterforschung wurde es möglich, Jelineks Prosatexte in einem neuen Licht zu betrachten und damit das subversive Potential ihrer Figuren in Bezug auf eine rigide Zweigeschlechtlichkeit herauszustellen. Weiterhin konnte durch einen Exkurs zu Lust und zur Figur Hermann eine Perspektivierung der Figurenkonstruktionen vorgenommen werden. Damit konnten die Ergebnisse der Analyse werkübergreifend verifiziert werden. Im Teil Kompositionsglieder der Jelinek’schen Patriarchatskritik folgte eine resümierende Einordnung der Figuren Erika, Walter, Otto, Hans, Anna und Rainer. Die geschlechtsspezifischen Handlungsmuster der Figuren konnten hier in einer Metareflexion systematisch und werkübergreifend aufbereitet werden. So konnten die zentralen Erkenntnisse zu Jelineks Form der Patriarchatskritik noch einmal abschließend resümiert werden.

I.

Resümee zur Analyse der Männlichkeiten

Die Untersuchung der Figuren macht deutlich, dass Jelineks Figurenkonzeptionen eine vehemente Kritik am gesellschaftlichen Herrschaftssystem ausdrücken. Jelinek führt durch Überspitzung, Groteske, Sarkasmus und Persiflage vor, dass und wie das Patriarchat in sich absurd konstruiert ist. Vor der Implosion bewahrt wird es nur dadurch, dass sogar diejenigen Männlichkeiten das System mit aller Kraft aufrecht erhalten, die selbst an jenen Anforderungen scheitern, die das Patriarchat an die Konstruktion ihrer eigenen Männlichkeit stellt. Ihr Lohn ist die ›patriarchale Dividende‹, durch die sie trotz aller Defizite und Nachteile, die ihnen aus dem System erwachsen, von der männlichen Herrschaft profitieren. Jelineks Figurenkonzeptionen unterlaufen die männliche Herrschaft und führen genau dieses absurde Moment ans Tageslicht. Jelinek zeichnet weibliche Figuren mit einer phallischen Anmaßung und kastriert männlich

Resümee zur Analyse der Männlichkeiten

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gezeichnete Figuren in multiplen Hinsichten symbolisch. Es sind teilweise sehr plakative Momente, wenn beispielsweise Anna Witkowski ihr Opfer am Penis verletzen will oder Otto Witkowski weinend über Potenzprobleme klagt. Erst die Dispositionserweiterungen in Form der theoretischen Hintergründe konnte jedoch das Ausmaß sowie die spezifische Art von Jelineks Kritik sichtbar und nachvollziehbar machen. Durch die Kenntnis der homosozial organisierten ernsten Spiele des Wettbewerbs beispielsweise konnte evident werden, wie subtil Jelinek hier das subversive Potential ihrer Figurenkonzeptionen zur Geltung bringt. An der Tatsache, dass Erika hier mit Walter in eine ernsthafte Konkurrenz treten kann, wird deutlich, wie Jelinek Grenzen aufbricht und subversiv unterläuft. Sie entlarvt die vermeintlich geschlechtsspezifisch habitualisierten Rituale des Patriarchats als absurd, wenn sie eine Frau an den ernsten Spielen teilnehmen lässt, während Rainer sich diesen entziehen kann. Mit ihren Figuren dekonstruiert sie die rigiden Geschlechterrollen, entleert Begriffe wie Mann und Frau und führt sie hin zu einer neuen Perspektive auf Geschlechtlichkeit. Figuren wie Anna oder Rainer Witkowski zeigen Möglichkeiten jenseits der heteronormativen Konventionen auf. Indem Rainer ein alternativer Männlichkeitsentwurf zur Verfügung gestellt und Anna mit der Möglichkeit ausgestattet wird, sich männlich konnotierte Eigenschaften anzueignen und damit temporäre Macht über andere Männlichkeiten zu erlangen, werden Möglichkeiten offenbart, das Patriarchat in seinen Grundfesten zu erschüttern. Jelinek stellt allerdings auch die Wirkmächtigkeit der gesellschaftlichen Normen und Zwänge heraus: Weder Annas noch Rainers Geschlechtsentwurf sind letztlich intelligibel. Beide scheitern bei dem Versuch, ihre Geschlechtlichkeit konsequent zu performen, da diese Versuche zum einen sanktioniert werden und zum anderen die Figuren die hegemonialen Werte und Normen zu sehr verinnerlicht haben, als dass sie sich davon noch lösen könnten. Für Anna mündet dies vor ihrem Tod in einer resignierten emphasized femininity, die sich Hans vollständig unterwirft und sich selbst aufgibt. Für Rainer endet es in einer Art Amoklauf, der seine Familie stellvertretend für all die Zwänge, unter denen er leidet, auslöscht. Wie Jelinek immer wieder beteuert hat, gehe es ihr jedoch auch nicht darum, ein Happy End zu produzieren; im Fokus stehe für sie vielmehr die Beobachtung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die sie in ihren Werken beschreiben möchte – und das tut sie in allen drei untersuchten Prosawerken. Mittels ihrer charakteristischen ästhetischen Verfahren übt sie in der Beschreibung ihrer Beobachtungen allerdings massive Kritik am herrschenden System.

300

II.

Fazit

Reflektion des Analysewerkzeugs

In dieser Arbeit wurde Eders Modell erstmals ausführlich auf einen literarischen Gegenstand angewendet. Hierzu wurden sozialwissenschaftliche Theorien und Konzepten der Gender Studies mit Eders Modell verknüpft, damit die verschiedenen Dimensionen der Figuren dem Erkenntnisinteresse entsprechend analysiert werden konnten. Die besagten Konzepte und Theorien lenkten so die Analyse der Figuren als fiktives Wesen, als Artefakt, als Symbol und als Symptom und konnten einschlägige Ergebnisse im Hinblick auf die Männlichkeitskonstruktionen hervorbringen. Hier wird nun reflektiert, ob die ausgewählten Konzepte und Theorien in Verbindung mit dem von Jens Eder entwickelten Modell eine adäquate Wahl für das Ziel der Untersuchung waren. Es wird vor allem Bezug auf die Anwendbarkeit des Werkzeugs genommen: Inwiefern war es dem spezifischen Erkenntnisinteresse dienlich? Wo stieß es an seine Grenzen? Die Wahl eines kognitionswissenschaftlichen Ansatzes bot sich für das Ziel dieser Arbeit an, denn in diesem Kontext werden die Figuren als mimetische Analoga zum Menschen verstanden. Unter diesen Voraussetzungen wird eine Übertragung von gesellschaftstheoretischen Konzepten auf die Figurenkonzeption überhaupt erst möglich. Eders Modell war somit in der Lage, die theoretischen Grundlagen der Gender Studies von Connell und Meuser, McRobbie und Schippers sowie von Bourdieu aufzunehmen; es konnte so für die zugrundeliegenden Fragestellungen der Arbeit mittels des entstandenen Analysewerkzeugs fruchtbar gemacht werden. Das Analysewerkzeug ermöglichte es, die in die Texte bzw. in die Figurenkonzeptionen und -konstellationen eingelassene Gesellschaftskritik Jelineks sichtbar zu machen und strukturiert zu untersuchen. Durch die Verknüpfung der theoretischen Ansätze der Gender Studies mit einem literaturwissenschaftlichen Modell für die Figurenanalyse konnte im Rahmen der Narratologie ein Beitrag zur Etablierung einer systematischen genderorientierten Figurenanalyse geleistet werden. Eders Modell ist offen für weitere Theorien und Konzepte der Gender Studies, die in das Modell integriert werden können und somit einen noch breiteren Bereich zur Untersuchung der geschlechtsspezifischen Eigenheiten von Figurenkonzeptionen abzudecken. Dies wäre nun die Aufgabe weiterer Forschungen. Im Verlauf der Analyse wurde deutlich, dass die theoretische Basis ergänzt werden muss: Die Erweiterung des Analysewerkzeugs um die theoretische Konzeption einer alternativen Männlichkeit war für die Untersuchung der Figur Rainer Witkowski unerlässlich, um die Figur in ihrer ganzen Komplexität erfassen zu können. Je nach Gegenstand lohnt es sich, theoretische Grundlagen sukzessive in das Modell von Eder zu implementieren. Ein streng deduktives Vorgehen war für die vorliegende Arbeit nicht sinnvoll, da auf diese Weise nicht

Interdisziplinärer Mehrwert und Ausblick

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alle Aspekte der Figuren hätten erfasst werden können. Die Analyse von Rainer Witkowski wäre so fragmentarisch geblieben. Mit einer Fragestellung, wie sie dieser Arbeit zugrunde liegt, ist es zwar notwendig, zu Beginn einen Grundstock an theoretischen Prämissen zur Verfügung zu stellen; es muss jedoch möglich sein, diesen Grundstock im laufenden Prozess flexibel aufzustocken und damit das Werkzeug zu erweitern – d. h. insgesamt also deduktiv und induktiv zu arbeiten. So konnte auf Aspekte von Figuren eingegangen werden, die bei der ersten Sichtung des Materials noch nicht erkennbar waren. Wenn das Erkenntnisinteresse jedoch anders gelagert ist – weil beispielsweise die Frage im Fokus steht, welche Aspekte einer Figur erfasst werden können, wenn man Connells Konzept der hegemonialen Männlichkeit zugrunde legt – so ist ein deduktives Vorgehen selbstverständlich gewinnbringend. Im Hinblick auf die These der klassenspezifischen Konstruktion der Männlichkeiten führte die Modifikation des Analysewerkzeugs nicht zu eindeutigeren Ergebnissen. Die in diesem Zusammenhang überprüfte Klassengeschlechtshypothese besagt, dass jede Klasse ihre je eigenen Vorstellungen und Realisierungsformen von Männlichkeit und Weiblichkeit sowie von Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern hat. Die in einzelnen Punkten uneindeutigen Ergebnisse der Überprüfung dieser These, ist womöglich auf das recht homogene Sample der Figuren hinsichtlich ihrer Klassenzugehörigkeit zurückzuführen. Es wäre nun daran, ein größeres Sample der Jelinek’schen Figuren zusammenzustellen und diese mit dem vorliegenden Analysewerkzeug zu untersuchen, um deutlichere Ergebnisse zu erzielen. Es bleibt festzuhalten, dass sich das Analysewerkzeug als besonders tauglich für die Untersuchung derart gelagerter Fragestellungen erwiesen hat. Es bietet eine solide Grundlage für genderspezifische Fragestellungen. Dabei ist es allerdings nicht als starres, abgeschlossenes System zu verstehen. Es ist im Bedarfsfall vielmehr auch induktiv zu arbeiten, um valide Ergebnisse zutage zu fördern. Dies ist jedoch auch so beabsichtigt: Eder möchte sein Modell als flexible Heuristik verstanden wissen, derer man sich zu seinen Zwecken bedienen kann und es dementsprechend flexibel auf seinen Gegenstand zuschneidet.

III.

Interdisziplinärer Mehrwert und Ausblick

Es bleibt die Frage, was von dieser Fallstudie für die Sozialwissenschaften fruchtbar gemacht werden kann. Und es bleibt die umgekehrte Frage: Was nutzt es den Literaturwissenschaften, mit einem sozialwissenschaftlich geprägten Instrument an Figuren derartiger Prosatexte heranzutreten?

302

Fazit

Aufgrund des gendertheoretischen Interesses an Jelineks Prosa war es für diese Untersuchung wichtig, interdisziplinär zu arbeiten. Es war notwendig, sich verschiedener Ansätze der Sozial- sowie der Kulturwissenschaften zu bedienen, um die zugrunde gelegten Annahmen überprüfen und valide Aussagen über deren Gültigkeit treffen zu können. Hierzu wurde der literatur- bzw. kommunikationstheoretische Ansatz von Eder mit sozialwissenschaftlichen Konzepten verknüpft. Eders Modell bot sich besonders für eine solcherart interdisziplinäre Untersuchung an, da es bewusst für eben solche Verknüpfungen offen gehalten ist, um alle Facetten einer Figur beleuchten zu können. Nun noch einmal die Frage: Was nutzt es den Literaturwissenschaften, mit einem Modell an die Figuren heranzutreten, das maßgeblich auf sozialwissenschaftlichem Fundament beruht? Die vorliegende Fallstudie konnte die Narratologie um ein Modell erweitern, das eine genderspezifische Untersuchung von Figuren systematisch zu begleiten vermag. Für ein Interesse an Literatur, das über den künstlerischen und ästhetischen Wert der Werke hinausgeht, das politische und sozialkritische Potentiale der literarischen Werke herauskristallisieren möchte, ist es unerlässlich, unterschiedliche Disziplinen und ihre jeweiligen Werkzeuge zu kombinieren. Nur so kann die spezifische Relevanz von Literatur für das Verstehen einer Gesellschaft adäquat erfasst werden; nur so kann die wechselseitige Wirkmächtigkeit von gesellschaftlichen Prozessen auf die Literatur einerseits und von literarischen Darstellungen von Menschen auf die Gesellschaft andererseits fixiert und sichtbar gemacht werden. Mittels dieser Fallanalyse konnte herausgearbeitet werden, wie Jelinek gesellschaftliche Prozesse in ihren Texten aufgreift, verarbeitet und bewertet. Nun wäre es an der Zeit, anhand einer empirischen Erhebung zu eruieren, welche Auswirkungen Jelineks Werke ihrerseits auf die Rezipierenden haben, auf ihre Lebensrealität, auf ihr Denken und Handeln. Und wie verhält es sich vice versa? Werden die Sozialwissenschaften herangezogen, ohne selbst davon profitieren zu können? Was kann von einer Untersuchung wie der vorliegenden für die Sozialwissenschaften fruchtbar gemacht werden? Im Falle von sozialkritischen Werken, wie denen von Jelinek, birgt es ein enormes Potential. Es verspricht, einige über viele Disziplinen hinaus bekannte Konzepte wie dasjenige von Raewyn Connell zu erweitern und zu präzisieren. Jelinek entwickelt in ihren Werken ausdifferenzierte Sozialanalysen, die einer Überprüfung durch bewährte sozialwissenschaftliche Konzepte Stand halten. Mehr noch: Es gelingt Jelinek sogar, Raum zu schaffen für eine differenziertere Analyse und Wahrnehmung gesellschaftlicher Prozesse im Medium der Literatur. Trotz ihrer programmatisch schemenhaften Art zu ›erzählen‹ ist sie in der Lage, feinste Nuancen ihrer Sozialcharaktere greifbar zu machen, die es – wie hier gezeigt werden konnte – erforderlich machen, beispielsweise das Konzept der hegemonialen Männlichkeit weiter zu aufzufächern. Dementspre-

Interdisziplinärer Mehrwert und Ausblick

303

chend musste das Konzept um das Handlungsmuster einer alternativen Männlichkeit erweitert werden – erst dann konnte Rainer Witkowski im Spektrum möglicher Männlichkeitsperformanzen verortet werden. Damit wird Connells Konzept jedoch nicht ungültig oder falsch. Bei aller – in Teil II benannten – Kritik an ihrem Konzept ist es immer noch ein ungemein wichtiges Instrument zur Erfassung der hierarchischen Organisation von (geschlechtlich segregierten) westlichen Gesellschaften anhand ihrer unterschiedlichen Handlungsmuster. Durch die Analyse von Jelineks Literatur, die die darin enthaltene feingliedrige Gesellschaftsanalyse zu Tage treten lässt, konnte dieses wichtige Instrument spezifiziert und präzisiert werden. Mit Rainer Witkowski thematisiert Jelinek bereits Anfang der 1980er Jahre Alternativentwürfe zur hegemonialen Männlichkeit, abseits von einem heteronormativen Sexualtrieb, abseits vom Zwang heterosexuell erfolgreich zu sein, jedoch nicht ohne den Druck, in ein Schema passen zu müssen, nicht ohne die Präsenz dieses Männlichkeitsideals, nicht ohne diese verzweifelten Versuche, den Konventionen zu entkommen, und eben nicht ohne ein Scheitern an der auferlegten Normalität. Elfriede Jelineks Analysen der Gesellschaft und ihrer Akteure sind so präzise und an vielen Stellen so ausdifferenziert, dass es sich lohnt, sozialwissenschaftliche Modelle an den Figuren ihrer Texte zu überprüfen und daraus neue Kategorien abzuleiten oder bestehende zu erweitern und auszudifferenzieren.

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