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German Pages 300 Year 2014
Oliver Berli Grenzenlos guter Geschmack
Kultur und soziale Praxis
Oliver Berli (Dr. phil.) lehrt Soziologie an der Universität Köln. Seine Forschungsschwerpunkte sind Kultursoziologie, Wissenssoziologie und Methoden der qualitativen Sozialforschung.
Oliver Berli
Grenzenlos guter Geschmack Die feinen Unterschiede des Musikhörens
Die vorliegende Studie ist eine aktualisierte Fassung der Arbeit, die 2013 unter dem Titel »Die Liebe zur Musik und ihre Grenzen. Musik als Mittel der Distinktion und Gegenstand der Legitimation« dem Fachbereich IV der Universität Trier vorlag.
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Inhaltsübersicht
Vorwort | 9 1.
Einleitung, oder „Radio hören ist wie jeden Tag Burger essen“ | 11
TEIL I – DIE G RENZEN DES GUTEN MUSIKGESCHMACKS ALS G EGENSTAND DER S OZIOLOGIE 2. 3. 4.
Elemente einer ungleichheitsanalytischen Soziologie des Musikgeschmacks | 21 Grenzüberschreitender Musikgeschmack als empirische wie theoretische Herausforderung | 51 Grenzenlos guter Geschmack: methodische Überlegungen | 89
TEIL II – MUSIK ALS MITTEL DER DISTINKTION UND GEGENSTAND DER LEGITIMATION 5. 6. 7. 8.
Generierungsbedingungen von Musikgeschmack | 109 Theorie des unterscheidenden Hörens | 143 Grenzen des Musikgeschmacks und grenzüberschreitender Musikgeschmack | 235 Grenzenlos guter Geschmack: Zusammenfassung und Ausblick | 253
Literatur | 265 Anhang | 290
Inhaltsverzeichnis
Vorwort | 9 1.
Einleitung, oder „Radio hören ist wie jeden Tag Burger essen“ | 11
1.1 Konkretisierung des Untersuchungsinteresses | 13 1.2 Aufbau der Studie | 15
TEIL I – DIE G RENZEN DES GUTEN MUSIKGESCHMACKS ALS G EGENSTAND DER S OZIOLOGIE 2.
Elemente einer ungleichheitsanalytischen Soziologie des Musikgeschmacks | 21
2.1 Pierre Bourdieu und die Theorie der Distinktion | 22 2.1.1 Eine Soziologie der feinen Unterschiede | 24 2.1.2 Musikgeschmack in Bourdieuscher Perspektive | 34 2.2 Einwände und Präzisierungspotenziale | 39 2.2.1 Generierungsbedingungen von Musikgeschmack | 42 2.2.2 Praktiken des Ordnens | 44 2.2.3 Praktiken des Legitimierens | 46 2.2.4 Praktiken des Sich-Abgrenzens | 47 2.3 Elemente einer ungleichheitsanalytischen Soziologie des Musikgeschmacks: Zusammenfassung | 49 3.
Grenzüberschreitender Musikgeschmack als empirische wie theoretische Herausforderung | 51
3.1 Auflösung oder Verlängerung der Distinktionsanalyse? | 52 3.1.1 Die „omnivore-univore“-These | 52 3.1.2 Die internationale „omnivore-univore“-Diskussion | 57 3.1.3 Die deutschsprachige „omnivore-univore“-Diskussion | 60 3.1.4 Lesarten des „cultural omnivore“-Konzepts | 64 3.2 Jenseits der ungleichheitsanalytischen Perspektive – alternative Ansätze der Kultur- und Musiksoziologie | 71 3.2.1 Musik und Szenen | 72 3.2.2 Soziologie der Mediation | 77 3.2.3 Soziologie des musikalischen Wertes | 82 3.3 Grenzüberschreitender Musikgeschmack als empirische wie theoretische Herausforderung: Zusammenfassung | 86
4.
Grenzenlos guter Geschmack: methodische Überlegungen | 89
4.1 4.2 4.3 4.4
Musikgeschmack als Gegenstand soziologischer Forschung | 91 Grounded Theory als Forschungsstil | 94 Aufbau des Samples und Methoden der Datenkonstruktion | 97 Strategien der Datenauswertung | 105
TEIL II – MUSIK ALS MITTEL DER DISTINKTION UND GEGENSTAND DER LEGITIMATION 5. Generierungsbedingungen von Musikgeschmack | 109 5.1 Zwischen musikalischem Erbe und musikalischer Selbstsozialisation | 112 5.2 Musikalische Sozialisation in Kleingruppen und sozialen Beziehungen | 120 5.2.1 Musikalische Sozialisation in der Familie – Eltern | 121 5.2.2 Musikalische Sozialisation in der Familie – Geschwister | 124 5.2.3 Musikalische Sozialisation in der Familie – weitere Familienmitglieder | 127 5.2.4 Musikalische Sozialisation – Peergroups und Freundschaftsbeziehungen | 128 5.3 Musikalische Sozialisation und organisierte Sozialisationsinstanzen | 130 5.3.1 Schulische Bildungseinrichtungen als musikalische Sozialisationsinstanzen | 130 5.3.2 Außerschulische Bildungseinrichtungen als musikalische Sozialisationsinstanzen | 132 5.4 „Wiederholte Beschäftigung mit symbolischen Gütern“ als Grundmodus des Erwerbs kulturellen Kapitals | 133 5.5 Generierungsbedingungen von Musikgeschmack: Zusammenfassung | 139 6. Theorie des unterscheidenden Hörens | 143 6.1 Praktiken des Ordnens | 147 6.1.1 Einteilen, Zuordnen und Unterscheiden | 155 6.1.2 Die Ordnung der Musik und die Ordnung der ArtTonträger | 160 6.1.3 Praktiken des Ordnens: Zusammenfassung | 163 6.2 Praktiken des Legitimierens | 165 6.2.1 Formen musikalischer Geschmacksurteile | 168
6.2.2 Inhalte musikalischer Geschmacksurteile | 173 6.2.3 Praktiken des Legitimierens: Zusammenfassung | 206 6.3 Praktiken des Sich-Abgrenzens | 211 6.3.1 Bühnenbild und Requisiten als materiale Objekte des SichAbgrenzens | 213 6.3.2 Soziale Objekte des Sich-Abgrenzens | 219 6.3.3 Legitimierungen und Qualitätskriterien als Bausteine des SichAbgrenzens | 228 6.3.4 Praktiken des Sich-Abgrenzens: Zusammenfassung | 231 7.
Grenzen des Musikgeschmacks und grenzüberschreitender Musikgeschmack | 235
7.1 Elemente des grenzüberschreitenden Musikgeschmacks | 237 7.1.1 Praktiken des Ordnens | 238 7.1.2 Praktiken des Legitimierens | 242 7.1.3 Praktiken des Sich-Abgrenzens | 245 7.2 Grenzen des Musikgeschmacks und grenzüberschreitender Musikgeschmack: Zusammenfassung | 249 8.
Grenzenlos guter Geschmack: Zusammenfassung und Ausblick | 253
8.1 Die Grenzen des guten Musikgeschmacks als Gegenstand der Soziologie: Untersuchungsinteresse | 254 8.2 Musik als Mittel der Distinktion und Gegenstand der Legitimation: zentrale Ergebnisse | 256 8.3 Musik als Mittel der Distinktion und Gegenstand der Legitimation: offene Fragen und Ausblick | 262 Literatur | 265 Anhang | 290 Leitfaden | 290 Kurzportraits der Interviewten | 293 Transkriptionssymbole | 296
Vorwort
Das Verfassen einer wissenschaftlichen Qualifikationsarbeit, zumal einer Doktorarbeit, wird häufig als einsames und einsam machendes Vorhaben beschrieben. Darin steckt natürlich ein Körnchen Wahrheit, auch wenn sich der ausgebildete Soziologe in mir dagegen sperrt. Denn die andere Seite ist, dass jede Doktorarbeit immer auch Ergebnis von „joint action“ ist. Sie ist das Ergebnis kollektiver Arbeit, die allerdings nur einer Person als Leistung zugerechnet wird. Darin ähneln sich – analytisch betrachtet – wissenschaftliche wie künstlerische Produkte. Was den ästhetischen Gebrauchswert anbelangt, haben wissenschaftliche Qualifikationsarbeiten in der Regel allerdings das Nachsehen. Über den kollektiven Charakter wissenschaftlicher Arbeiten geben typischerweise Danksagungen Auskunft und von dieser Praxis möchte ich an dieser Stelle auch Gebrauch machen. Mein Dank gilt zunächst meinen Interviewpartnerinnen und -partnern, die mir ihre Zeit geschenkt haben und sich auf Fragen eingelassen haben, die im Alltag nicht notwendigerweise gestellt werden. Von ihnen habe ich nicht nur in Bezug auf die Soziologie des Musikgeschmacks vieles gelernt, sondern auch persönlich in Bezug auf meinen Musikgeschmack profitiert. Neben diesen unverzichtbaren Personen möchte ich zudem der Graduiertenförderung der Universität Wuppertal für die Möglichkeit danken, meine Promotionsidee in der ersten Phase in die Tat umzusetzen ebenso wie der Nachwuchsförderung der Universität Trier, die einen Teil der Transkriptionen gefördert hat und schließlich die Trierer Soziologie-Abteilung erwähnen, die mir die Teilnahme an mehreren Tagungen ermöglicht hat. Daneben bin ich unzähligen Menschen zu Dank verpflichtet, die in den vergangenen Jahren an der Entstehung dieser Arbeit beteiligt waren. Martin Endreß, der diese Arbeit durchgängig betreut hat, möchte ich für seine thematische Offenheit und intensive Betreuung danken. Seine beharrliche Kritik an unzähligen Entwürfen und seine Begeisterungsfähigkeit für gemeinsame Interpretationssit-
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zungen möchte ich unter keinen Umstanden missen. Julia Reuter möchte ich für ihre Zweitbetreuung und die zeitlichen und gedanklichen Freiräume danken, die sie mir in der finalen Phase meiner Promotion gewährt hat. Da die Jahre der Promotion für mich auch in gewisser Weise Wanderjahre waren, bin ich vielen ehemaligen wie aktuellen Kolleginnen und Kollegen an den Universitäten Tübingen, Wuppertal, Trier und Köln zu Dank verpflichtet. Namentlich erwähnen möchte ich hier besonders Lars Alberth, dessen Lust an der inhaltlichen Auseinandersetzung mir immer wieder Freude bereitet; Daniel Bischur, dessen Blick für sprachliche wie theoretische Details mir stets geholfen hat; Cord Dette, der mich mehrfach wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt hat; Steffen Eisentraut, dessen Sprachvermögen und inhaltliche Nachfragen mir eine große Hilfe waren; Stefan Nicolae, mit dem ich mich immer theoretisch wie material engagiert auseinandersetzen konnte; Andrea Pabst, die mehrmals für theoretische wie methodische Diskussionen zur Verfügung stand; Benjamin Rampp, der mich seit dem Studium mit klugen Diskussionen erfreut und Jörg Strübing, der mein Interesse an Fragen der Methodologie und Methoden in unzähligen Gesprächen geschärft hat. Ihnen und den Teilnehmenden von etlichen Kolloquien an den Universitäten in Wuppertal und Trier danke ich auch dafür, dass sie mehr als einmal Teile meiner Arbeit ihren kritischen Blicken ausgesetzt und mir mit konstruktiven Kommetaren geholfen haben. Mein besonderer Dank gilt schließlich Alexandra König, die sich weder von unverständlichen Sätzen noch den Launen des Autors beeindrucken ließ, ihm stets wohldosiert Druck machte, wenn dieser nötig war und dabei immer auch für inhaltliche Diskussionen zu begeistern war.
1. Einleitung, oder „Radio hören ist wie jeden Tag Burger essen“
Tagtäglich werden in Vis-à-vis-Gesprächen, in Chatforen, in Printmedien oder auch in Talkrunden wertende Positionen vertreten und Geschmacksurteile getroffen, die angesichts des wiederholt proklamierten Siegeszug der Populärkultur überraschen. Überraschen können diese allerdings nur, insofern man glaubt, dass die Differenz zwischen Hoch- und Populärkultur obsolet geworden ist. Anders als im universitären Hörsaal, in dem beispielsweise möglichst affektiv neutral über die gestalterischen Mittel nachgesonnen wird, die in einem Video von Lady Gaga zum Einsatz kommen, bringen Alltagsakteure ihre Vorlieben und Abneigungen deutlich zum Ausdruck. In Bezug auf Musikkonsum illustriert diesen Umstand das im Titel stehende Zitat. Es entstammt einer alltäglichen Unterhaltung über Musik und bringt kondensiert alle Merkmale mit sich, die eine soziologische Beschäftigung mit dem Alltagsphänomen „Musikgeschmack“ lohnenswert erscheinen lassen. Zum ersten wird ein Vergleich gezogen zwischen zwei Konsumsphären: Musik und Essen. Diese Verbindung verweist auf die semantische Nähe des Geschmacks für „gute“ Speisen und Getränke sowie für „gute“ Musik. Abhängig vom Kontext der Unterhaltung und den sozialen Positionen der kopräsenten Akteure lässt sich der Vergleich zudem zweitens als positive oder negative Wertung der Praxis des Radiohörens deuten. Wenn der tägliche Burger erstrebenswert erscheint, spricht nichts gegen das Radio; wird jedoch der Konsum von „Fastfood“ als schändlich gebrandmarkt, gewinnt diese Formulierung eine deutlich andere Note. Zudem könnte man sich, gerade im deutschsprachigen Kontext, eine Verknüpfung der negativen Bewertung mit schichtspezifischen Stereotypen vorstellen. Radiohören wird dann zur Praxis sozial wie kulturell Deprivilegierter – es sei denn, es geht um kulturell legitime Sender oder Sendungen. Schließlich lässt sich drittens die Äußerung als Kritik an „einseitiger“ kulinarischer wie musikalischer Ernährung interpretieren. Daraus lässt sich dann ei-
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ne implizite Forderung nach „vielseitiger Ernährung“ für die Ohren, das heißt offenen und toleranten Musikkonsum ableiten. Wie das einfache Beispiel zeigt, bereitet Musik nicht nur Vergnügen und Genuss, sondern kann auch ein wichtiges Elemente in Prozessen der symbolischen wie sozialen Grenzziehung werden. Neben dem sprachlichen Ausdruck können in face-to-face-Situationen Rückschlüsse auf die Geschmacksurteile des Gegenübers anhand von Gestik, Mimik, Kleidung und Handlungen gezogen werden. Natürlich können sich dergestalt die sprachlichen Aussagen und die gestischen Anzeichen widersprechen. Wenn eine Vinylliebhaberin zum Geburtstag das neue Patti Smith Album auf CD geschenkt bekommt, mag sie sich dafür mit warmen Worten bedanken, aber vielleicht werden aufmerksame Beobachter Anzeichen – eine auffällige Modulation der Stimme oder ein kurzes Stirnrunzeln – dafür finden, dass die Vinylversion das bessere Geschenk gewesen wäre. Auf diese Mehrdeutigkeiten der alltäglichen Selbstpräsentation weist neben dem Common Sense auch der soziologische Sachverstand hin. Die Arbeiten Erving Goffmans bieten dafür reichlich Anschauungsmaterial. Aus soziologischer Perspektive ist Geschmack kein ausschließlich individuelles sondern immer auch ein soziales Phänomen. Das zeigt sich erstens auch bei den vielfach affektiv aufgeladenen Beziehungen zu Gegenständen des kulturellen Konsums. Liebe ist hierfür beispielsweise ein starkes Wort, das bereits von Bourdieu für seine Studie „Die Liebe zur Kunst“ (Bourdieu/Darbel 1966/2006) verwendet wird. In dieser Untersuchung zeigen die Autoren auf, dass diese spezielle Form der Hinwendung zur Kultur nicht ohne soziale Voraussetzungen ist. Diese Einsicht in die (impliziten) sozialen Vorrausetzungen der Liebe zur Kultur im Allgemeinen und zur Musik im Besonderen wird hier geteilt und bildet einen Ausgangspunkt der Untersuchung. In Anlehnung an Bourdieu wird dabei eine distinktionsanalytische Perspektive verfolgt. Was hier zweitens zentral werden wird, ist das Verhandeln der Grenzen von legitimer und illegitimer Kultur durch die Akteure selbst. Wenn in Frage steht, ob noch selbstverständlich von einer unidirektionalen Hierarchie legitimer musikalischer Güter und Praktiken ausgegangen werden kann (Lahire 2004, 2011), stellt die Untersuchung der Legitimierungen von Geschmacksurteilen durch Alltagsakteure eine analytischen Mehrwert versprechende Option dar. Musik wird im Folgenden unter einem zweifachen analytischen Fokus, zum einen als Mittel der Distinktion und zum anderen als Gegenstand der Legitimation untersucht. Den Ausgangspunkt für die empirische Untersuchung stellt dabei die Gruppe der sogenannten „cultural omnivores“ dar (vgl. Peterson 1992). Die kulturellen Präferenzen und Praktiken der „cultural omnivores“ überschreiten die Grenzen zwischen legitimen und illegitimen musikalischen Genres, so dass sich die Frage nach den Grenzen des „guten Ge-
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schmacks“ neu zu stellen scheint. Für Richard A. Peterson und andere stellen inklusive, demonstrativ tolerante Geschmacksmuster eine (neue) Variante des legitimen Geschmacks.
1.1 K ONKRETISIERUNG DES U NTERSUCHUNGSINTERESSES Die vorliegende Studie befasst sich mit Phänomenen des Musikgeschmacks in Gegenwartsgesellschaften am Beispiel von Deutschland. Dabei wird ausgehend von einer analytischen Perspektive, die sowohl kultur- wie wissenssoziologische Befunde aufnimmt, besonderes Augenmerk auf Aspekte grenzüberschreitenden Musikgeschmacks (Berli 2010) gelegt. Das Konzept des grenzüberschreitenden Geschmacks nimmt Diskussionen auf, die im Anschluss an die Untersuchungen Petersons (1992, 1997b, 2005; Peterson/Kern 1996; Peterson/Rossman 2007) Bourdieus Beiträge zu einer ungleichheitsanalytischen Kultursoziologie in unterschiedliche Richtungen weiterentwickelt haben. Verschiedentlich wurde dabei die These vertreten, dass der exklusive Geschmack (der Eliten) durch inklusive, offene oder tolerante Geschmacksmuster (wiederum der Eliten) abgelöst wird. Die zeitdiagnostische These Petersons bezog sich zunächst nur auf die USA, wurde aber in der Folge auch für andere Gesellschaften untersucht (vgl. Kapitel 3.1.2). Inwiefern diese These auf Deutschland zutrifft, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt aufgrund fehlender Untersuchungen nicht zu entscheiden. Die wenigen vorliegenden empirischen Untersuchungen stehen der Übertragbarkeit des Phänomens für den deutschsprachigen Raum in der Tendenz eher reserviert bis kritisch gegenüber. Neuhoff (2001) erteilt der „cultural omnivore“-These in Bezug auf Musik eine deutliche Absage, während Rössel im Hinblick auf Kinobesuche und Filmpräferenzen vorsichtig von „dosierten Grenzüberschreitungen“ (2006: 270) spricht. Zu einem positiveren Urteil gelangt Gebesmair (1998, 2004) in seinen Beiträgen. Er geht davon aus, dass kulturelle Exklusivität für die Reproduktion sozialer Ungleichheit tendenziell an Bedeutung verliert (Gebesmair 2004: 199). Außer Frage steht, dass außerhalb des deutschsprachigen Diskurses die Omnivorizitätsdiskussion zum State of the Art im Untersuchungsfeld Kulturkonsum und -rezeption gehört. Dies gilt übergreifend für theoretisch wie methodisch zum Teil stark divergierende Zugänge. Gleichwohl ist meinem Verständnis nach Omnivorizität nicht mit Phänomenen grenzüberschreitenden Geschmacks gleichzusetzen. Grenzüberschreitungen wie auch Auseinandersetzungen über Grenzen – beispielsweise in Form musikalischer Genres – lassen sich nicht nur zwischen Hoch- und Populärkultur, sondern auch innerhalb von Hoch- wie Po-
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pulärkultur beobachten. So identifiziert Parzer (2011) in seiner Untersuchung von Beiträgen in Online-Foren einen „Querbeetgeschmack“ als Variante grenzüberschreitenden Musikgeschmacks innerhalb der Populärkultur. Diese Phänomene geraten mit den gängigen Konzeptualisierungen von Omnivorizität nur schwer in den Blick.1 Die vorliegende Arbeit versucht deshalb mit Hilfe des Instrumentariums der qualitativen Sozialforschung einen Rahmen für die Analyse grenzüberschreitenden Musikgeschmacks zu entwickeln. Leitend für die Untersuchung sind im Folgenden zwei Thesen: Erstens wird davon ausgegangen, dass die Ergebnisse und Diskussionen der neueren Kultursoziologie die Bourdieusche Analytik nicht grundsätzlich in Frage stellen, sondern vielmehr eine Raffinierung zentraler Konzepte notwendig machen. Zum Teil wird das in der vorhandenen Literatur ähnlich gesehen (bspw. Gebesmair 1998; Holt 1998; Rössel 2009). An dieser Stelle sollte betont werden, dass es im Folgenden nicht darum geht, einen Beitrag zur „richtigen“ Bourdieu-Exegese zu liefern. Ziel ist es vielmehr die rezenten Debatten nicht im Sinne einer Auflösung von Distinktionsphänomenen zu lesen, sondern als Anlass zu nehmen, eine empirisch gehaltvolle Perspektive auf grenzüberschreitenden Musikgeschmack in der Gegenwart zu entwickeln. Zweitens erscheinen die gängigen Lesarten und Operationalisierungen von Omnivorizität für Deutschland nur bedingt anwendbar zu sein (Neuhoff 2001). Gleichwohl ist das Spiel mit Grenzen des Geschmacks ein Phänomen, das sich im Alltag vielfach beobachten lässt (u.a. Gebesmair 1998, 2004). Die Vermutung liegt nahe, dass es einer Verfeinerung der (theoretischen) Perspektive mit den Mitteln der qualitativen Sozialforschung bedarf, um dem subtilen Spiel der Distinktionen auf die Spur zu kommen. Die im empirischen Teil der vorliegenden Untersuchung entwickelte Theorie des unterscheidenden Hörens formuliert einen Vorschlag, wie eine konzeptionelle Verfeinerung von Distinktionsanalysen aussehen kann. Das Beispiel des grenzüberschreitenden Musikgeschmacks erscheint dafür besonders geeignet: Erstens verfügt Musikgeschmack, laut Bourdieu, über besonders hohes Distinktionspotenzial (1978/1993: 147). Stimmt diese Annahme, dann sollte eine geeignete empirische Vorgehensweise hinreichend Daten erzeugen können, um eine Verfeinerung der distinktionsanalytischen Perspektive voranzutreiben. Zweitens erscheint das Feld der Musik gerade in Deutschland noch deutlicher als in anderen Gegenwartsgesellschaften durch Phänomene des exklusiven Konsumverhaltens (Neuhoff 2001) geprägt zu sein. Gerade in Feldern mit starkem Gefälle kulturel-
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Die sukzessive Ausweitung des „cultural omnivore“-Konzepts auf unterschiedliche Legitimitätsniveaus gibt einen ersten Hinweis auf diese Problematik (vgl. Parzer 2011; Peterson 2005; vgl. Kapitel 3.1 in dieser Arbeit).
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ler Legitimität ist das Spiel mit den Grenzen des guten Geschmacks aus analytischer Perspektive eine mögliche Strategie, um Distinktionseffekte zu erzielen. Drittens liegt eine Vielzahl (nationaler wie internationaler) Beiträge aus der Omnivorizitätsforschung zum Gegenstand vor, die eine Kontrastierung der Ergebnisse ermöglichen. Das Feld des Musikgeschmacks ist folglich so etwas wie ein Lackmustest für die Weiterentwicklung distinktionsanalytischer Konzepte. Am Ende – so viel sei an dieser Stelle vorweggenommen – wird eine durch drei analytische Fokussierungen charakterisierte Theorie des unterscheidenden Hörens stehen. Differenziert werden im Einzelnen Praktiken des Ordnens (von Musik), Praktiken des Legitimierens (von Werturteilen) sowie Praktiken des SichAbgrenzens.
1.2 AUFBAU DER S TUDIE Die Untersuchung gliedert sich im Wesentlichen in zwei Teile. Im ersten Teil (I) „Die Grenzen des guten Musikgeschmacks als Gegenstand der Soziologie“ wird ein Überblick der vorliegenden Forschungsarbeiten und theoretischen Konzepte formuliert, der zum Untersuchungsdesign überleitet. Im zweiten Teil (II) „Musik als Mittel der Distinktion und Gegenstand der Legitimation“ werden die Ergebnisse der empirischen Analysen vorgestellt. Mit einer Zusammenfassung der Resultate und einem Ausblick auf potentielle Anschlussfragen schließt dieser zweite Teil der Arbeit. Ad I: Der erste Teil der Untersuchung gliedert sich in drei Kapitel. Das Kapitel 2 „Elemente einer ungleichheitsanalytischen Soziologie des Musikgeschmacks“ geht in drei Schritten auf das für das Untersuchungsinteresse maßgebliche Theorieangebot Bourdieus ein. Zunächst wird seine Position theorieimmanent zur Darstellung gebracht (Kapitel 2.1). Dabei wird im Wesentlichen auf „Die feinen Unterschiede“ (1979/1987) aber auch auf frühere Untersuchungen und kleinere Publikationen (Bourdieu 1978/1993, 1980/1993) zurückgegriffen. Hierauf folgend wird dann stärker auf Phänomene des Musikgeschmacks abgestellt. In einem anschließenden Schritt werden für das Untersuchungsinteresse relevante Kritiken und Präzisierungen der Bourdieuschen Position diskutiert (Kapitel 2.2). Die interne Logik dieses Kapitels folgt den analytischen Differenzierungen, die sich maßgeblich in Auseinandersetzung mit den Daten ergeben haben. Das Ziel ist also keine erschöpfende theoretische wie methodische Kritik der Arbeiten Bourdieus, sondern eine enge Verzahnung des empirischen wie konzeptionellen Vorgehens. Daran schließt eine Zusammenfassung der bisherigen Ergebnisse der theoretischen Lektüren an (Kapitel 2.3).
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Das Kapitel 3 „grenzüberschreitender Musikgeschmack als empirische wie theoretische Herausforderung“ gliedert sich wiederum in drei Unterkapitel. Den Auftakt bildet ein Überblick zur Omnivorizitätsforschung (Kapitel 3.1), in dem sowohl die ursprüngliche Konzeption Petersons vorgestellt wird als auch weiterführende Lesarten seines Konzepts unter der Fragestellung „Auflösung oder Verlängerung der Distinktionsanalyse?“ diskutiert werden. Daran schließt ein Überblick über zentrale, rezente Positionen innerhalb der Musiksoziologie und benachbarter spezieller Soziologien an, die für das Untersuchungsinteresse Anregungspotenzial aufweisen (Kapitel 3.2). Der Fokus liegt hierbei vor allem auf der Szeneforschung, der Soziologie der Mediation sowie der Soziologie des (musikalischen) Wertens. Das Kapitel 3 wird mit einer Zusammenfassung geschlossen (Kapitel 3.3), welche die zentralen Erträge der vorstehenden Literaturdiskussion verdichtet. Das Kapitel 4 „Grenzenlos guter Geschmack: methodische Überlegungen“ befasst sich im ersten Teil mit den Optionen der soziologischen Forschung zum Gegenstand Musikgeschmack (Kapitel 4.1). Dabei lassen sich anhand der vorangehenden Literaturdiskussionen einige methodische Optionen ausschließen. Daran anknüpfend wird das Untersuchungsdesign der vorliegenden Studie vorgestellt (Kapitel 4.2). Dieses orientiert sich maßgeblich an den Verfahrensvorschlägen der Grounded Theory nach Anselm Strauss, ohne den Anspruch zu erheben, diesen in allen Punkten zu folgen. Als primäre Daten dienen leitfadengestützte Interviews, die selektiv durch Beobachtungsprotokolle ergänzt werden (Kapitel 4.3). Ausführungen zu Datenauswertungsstrategien bilden den Abschluss der methodischen Überlegungen (Kapitel 4.4). Ad II: Der zweite Teil der Untersuchung „Musik als Mittel der Distinktion und Gegenstand der Legitimation“ gliedert sich in vier Kapitel, welche die Ergebnisse der empirischen Analysen zum Gegenstand haben. Das Kapitel 5 „Generierungsbedingungen von Musikgeschmack“ fokussiert auf Prozesse der Weitergabe kulturellen Kapitals. Da die Bourdieusche Perspektive für eine qualitative Untersuchungsstrategie wenig Orientierungspotenzial aufweist, wird zum Teil auf Arbeiten aus dem Bereich der Forschung zur „musikalischen Sozialisation“ zurückgegriffen. Dabei ergibt sich ein konzeptionelles Spannungsfeld zwischen musikalischem „Erbe“ (Bourdieu) und „musikalischer Selbstsozialisation“ (Rhein/Müller 2006), das in vier Schritten näher ausgeleuchtet wird. Zunächst werden mittels Anamnesen relevante Elemente und Dimensionen der Generierungsbedingungen von Musikgeschmack identifiziert (Kapitel 5.1). Dieser Schritt dient der analytischen Sensibilisierung und der begründeten Entscheidung für eine Heuristik aus dem Bereich der Theorien musikalischer Sozialisation. Aufgrund dieser Annährung an das empirische Material wird auf einen Vor-
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schlag Papes (1996) zurückgegriffen, der für die vorliegenden Zwecke adaptiert wird. Darauf folgend werden Befunde zur musikalischen Sozialisation und Weitergabe kulturellen Kapitals in Familien und sozialen Beziehungen vorgestellt (Kapitel 5.2). In einem weiteren analytischen Schritt werden Ergebnisse zur Rolle organisierter Sozialisationsinstanzen präsentiert (Kapitel 5.3). Hierbei wird zwischen schulischen und außerschulischen Sozialisationsinstanzen unterschieden. Im anschließenden Kapitel 5.4 wird die „wiederholte Beschäftigung mit symbolischen Gütern“ als Grundmodus der Inkorporierung kulturellen Kapitals ausgedeutet. Diese konzeptionelle Weichenstellung wird anhand der Praxis des Konzertbesuchs plausibilisiert. Den Abschluss des fünften Kapitels bildet eine verdichtende Zusammenfassung der vorangehenden Interpretationen und konzeptionellen Überlegungen (Kapitel 5.5). Das Kapitel 6 „Theorie des unterscheidenden Hörens“ stellt das Kernstück der empirischen Analysen dar. Hier wird am Beispiel von Musikgeschmack eine dreiteilige analytische Differenzierung vorgenommen, die auf zentrale Probleme der bisherigen Beiträge im Untersuchungsfeld antwortet und in Auseinandersetzung mit den Daten entwickelt wurde. In drei Unterkapiteln wird zwischen „Praktiken des Ordnens“ (Kapitel 6.1), „Praktiken des Legitimierens“ (Kapitel 6.2) und „Praktiken des Sich-Abgrenzens“ (Kapitel 6.3) unterschieden. In dem Unterkapitel über die Praktiken des Ordnens wird auf zwei Elemente des Ordnens und Unterscheidens von Musik besonderes Augenmerk gelegt: zum einen die sprachliche Dimension und zum anderen die Anordnung der materiellen Tonträger. Im daran anschließenden Unterkapitel stehen die Legitimierungen von musikalischen Geschmacksurteilen im Fokus der Untersuchung. Hierbei wird ausgehend von der basalen, heuristischen Unterscheidung von Form und Inhalt der Versuch unternommen, die bestehende Literatur und ihre Vorschläge zum musikalischen (Be-)Werten sinnvoll weiterzuentwickeln (von Appen 2007; Hesmondhalgh 2007; Parzer 2011; Woodward/Emmison 2001). Im dritten Unterkapitel wird die Praxis des Sich-Abgrenzens näher untersucht (6.3). Instruktiv für die Erweiterung der Bourdieuschen Perspektive erscheint dabei der Vorschlag von Gebhardt (2010), die Distinktionspraxis unter Zuhilfenahme von Konzepten wie „Bühnenbild“ und „Requisiten“ (Goffman 1959/1983) stärker als Darstellungsleistung der Akteure in den Blick zu nehmen. Letztlich bedeutet dies, Bourdieus praxeologisches Selbstverständnis ernst zu nehmen und gleichzeitig die Ambivalenzen seines Distinktionskonzepts (Gebhardt 2010; Müller 1986) vor einer einseitigen (strukturalistischen) Auslegung zu bewahren. Im Anschluss daran erfolgen in Kapitel 7 „Grenzen des Musikgeschmacks und grenzüberschreitender Musikgeschmack“ eine erste Anwendung und vertiefende Interpretationen der Theorie des unterscheidenden Hörens. Ausgehend von
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Bourdieus These, dass sich Geschmack am deutlichsten durch den Ekel und Widerwillen gegen den Geschmack der Anderen zeigt (Bourdieu 1979/1987: 103), wird erstens untersucht, wie sich die Grenzen des Musikgeschmacks in den Interviews dokumentieren (Kapitel 7.1). Im Kontrast dazu werden dann zweitens – auf Basis der Konzepte und analytischen Differenzierungen der Theorie des unterscheidenden Hörens – die Elemente grenzüberschreitenden Musikgeschmacks näher in den Blick genommen. Die Analysen schließen mit zusammenfassenden Überlegungen zu Grenzen des Musikgeschmacks und grenzüberschreitendem Musikgeschmack (Kapitel 7.2). Der zweite Teil der Untersuchung schließt mit dem Kapitel 8 „Grenzenlos guter Geschmack: Zusammenfassung und Ausblick“, in dem die Gesamtargumentation und zentrale empirische Ergebnisse rekapituliert werden und ein Ausblick auf mögliche Anschlüsse für zukünftige Untersuchungen erfolgt.
Teil I – Die Grenzen des guten Musikgeschmacks als Gegenstand der Soziologie
2. Elemente einer ungleichheitsanalytischen Soziologie des Musikgeschmacks
Das folgende Kapitel behandelt theoretische Ansätze und thematisch relevante Debatten, die aus soziologischer Perspektive den Rahmen für ungleichheitsanalytische Untersuchungen zu Phänomenen des Musikkonsums und -geschmacks abstecken. Dazu gehört in erster Linie die ungleichheitsanalytische Kultursoziologie Pierre Bourdieus (2.1). Bourdieu bietet nicht den einzigen Ansatz, der sich für die Analyse der hier interessierenden Fragestellung eignet, gleichwohl verbinden seine Arbeiten in geradezu paradigmatischer Weise die Untersuchung kultureller Differenzen (wie beispielsweise Musikgeschmack) und sozialer Ungleichheit. Zudem lässt sich feststellen, dass seine Theorie und seine Konzepte aus dem Bereich der Kulturkonsumforschung nicht wegzudenken sind, sowohl in ihren positiven wie auch negativen Bezugnahmen. Darüber hinaus, und das erscheint hier besonders relevant, liefert sein Ansatz nicht nur Konzepte, an die es sich anzuschließen lohnt, sondern auch genug offene Fragen, die gerade vor dem Hintergrund der Struktur zeitgenössischer Gesellschaften auf ihre Beantwortung harren. Im Hinblick auf die Fragestellung der vorliegenden Untersuchung werden im anschließenden Kapitel (2.2) relevante Einwände, Irritationen und Kritiken der Bourdieuschen Theorie zusammengetragen und diskutiert. Das Kapitel 2 endet mit einer Zusammenfassung der bisher vorgenommenen analytischen Weichenstellungen und Diskussionen, die für die weitere, insbesondere empirische Aufarbeitung des Themas von Belang sind (2.3).
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2.1 P IERRE B OURDIEU UND DIE T HEORIE DER D ISTINKTION Für den Common Sense des Alltags – aber auch für den einiger Wissenschaften – stellen die zentralen Thesen von Bourdieus Studien nach wie vor eine Herausforderung dar.1 Insbesondere das vielzitierte Werk „Die feinen Unterschiede“ (1979/1987) birgt in dieser Hinsicht einige Zumutungen. Die vermeintliche Individualität und Natürlichkeit von kulturellen Praktiken und Präferenzen wird dort wortreich dekonstruiert. Dabei werden sowohl Gegenstände der Hochkultur (z.B. der Opernbesuch), der Populärkultur (z.B. Schlager bzw. Chanson) wie auch die Neigung für bestimmte Speisen (bspw. Fisch oder Fleisch) mitleidslos examiniert. Die unterschiedliche soziale Wertigkeit dieser Güter und Praktiken wird soziologisch aufgeklärt. Dafür muss ein umfassender, der Ethnologie entlehnter Kulturbegriff verwendet werden, der es erlaubt unterschiedliche kulturelle Güter und Praktiken in Beziehung zu setzen. Bourdieu unternimmt damit eine DeNaturalisierung des Geschmacks für legitime Kultur und will den sozialisationsbedingten Charakter kultureller Bedürfnisse aufzeigen. Empirisch ließen sich alle wesentlichen Unterschiede hinsichtlich der Verteilung kultureller Praktiken und Präferenzen, so sein Urteil, auf zwei zentrale Faktoren zurückführen: den
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In erkenntnislogischer Perspektive lässt sich bei Bourdieu das Einfordern eines doppelten Bruchs festhalten: Zunächst (a) ein Bruch mit dem Alltagsdenken (Objektivierung des Objektiven). Hier schließt Bourdieu an die Forderung Durkheims nach der „systematischen Ausschaltung aller Vorbegriffe“ an, die dieser in den „Regeln der soziologischen Methode“ formuliert (1895/1984: 128ff.). Vermittelt wendet Bourdieu diese Forderung auch als Kritik gegen die von ihm dem Subjektivismus zugerechneten Ansätze. Stellvertretend sei hier seine Kritik an der Phänomenologie zitiert: „Da die Phänomenologie es daran fehlen läßt, die Frage nach den Voraussetzungen – folglich den Grenzen der Geltung – jener Erfahrung zu stellen, die sie explizit macht, verallgemeinert sie schließlich nur eine spezifische Erfahrung von sozialer Welt, die an einen bestimmten Typ ökonomischer und gesellschaftlicher Bedingungen gebunden ist, dessen paradigmatische Ausprägung in den Gesellschaftsformationen zur Darstellung kommt, die in einfache Reproduktionszyklen eingeschlossen sind“ (Bourdieu 1972/1979: 151). Dass dieser Vorwurf nicht für alle phänomenologisch fundierten Ansätze gleichermaßen zutrifft, kann hier nicht weiter ausgeführt werden (siehe exemplarisch Endreß 2005). Ferner fordert Bourdieu auch (b) einen Bruch mit wissenschaftlichen Vorbegriffen. Diese Weichenstellung kulminiert in Bourdieus Anliegen immer auch die „Produktionsbedingungen“ von Wissenschaft reflexiv mit in den Blick zu nehmen (Bourdieu 1992/1996: 251ff.).
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Bildungsgrad und die soziale Herkunft (vgl. Bourdieu 1979/1987: 17f., 34). Zudem stellt aus dieser Perspektive das Interesse an bestimmten Kulturgütern kein unschuldiges, „interessenloses Interesse“ dar, sondern dient implizit der Reproduktion der eigenen sozialen Position. Es ist gerade diese Dopplung des Klassenkampfes in die Sphäre der Kultur und die damit verbundene These der kulturellen Reproduktion, die Bourdieus Schriften ihre Brisanz verleihen. Um die Relevanz der Bourdieuschen Position für die vorliegende Untersuchung darzulegen, wird im Folgenden in zwei Schritten verfahren: Erstens, wird eine Erläuterung zentraler Begriffe und Mechanismen angeboten (2.2.1).2 Anschließend wird Musikgeschmack als spezifisches Phänomen hervorgehoben, dabei wird auf verstreute Bemerkungen und kleinere Schriften Bourdieus eingegangen (v.a. Bourdieu 1978/1993, 1980/1993). „Die feinen Unterschiede“ (1979/1987) werden hier aufgrund ihrer besonderen Stellung innerhalb der Bourdieu-Rezeption als zentrales Referenzwerk herangezogen. Dabei finden sich wesentliche Teile bereits in früheren Arbeiten wie beispielsweise den „Elementen zu einer soziologischen Theorie der Kunstwahrnehmung“ (1968/1974), der gemeinsam mit Alain Darbel verfassten Studie „Die Liebe zur Kunst“ (1966/2006) oder Bourdieus Beiträgen in dem Sammelwerk „Eine illegitime Kunst. Soziale Gebrauchsweisen der Fotografie“ (Bourdieu et al. 1965/1981). Eine systematische Auseinandersetzung mit Bourdieus Theorie der Distinktion müsste also wesentlich früher einsetzen, um das analytische Profil und die Genese seiner ungleichheitsanalytischen Kultursoziologie herauszupräparieren (vgl. zu Bourdieus Kunsttheorie: Kastner 2009; Schumacher 2011).
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Zu den Charakteristika der Schriften Bourdieus gehört eine fortlaufende Weiterentwicklung und Reformulierung zentraler Begriffe sowie das Wieder-Aufgreifen von bereits bearbeiteten Themen und Materialien. Deutlich zeigt sich das an den Arbeiten, die auf seine Forschung in der Kabylei zurückgreifen (Bourdieu 1972/1979, 1980/1993, 1998/2005). So schreibt er rückblickend in den „Meditationen“: „Und wenn ich mir dieselben Themen vornehme und abermals vornehme, wenn ich immer wieder auf dieselben Gegenstände und dieselben Analysen zurückkomme, so stets, wie mir scheint, in einer Art Spiralbewegung […]“ (Bourdieu 1997/2001: 16). Diese Vorgehensweise ist es, welche einen rein theoretisch-systematisierenden Zugang zu seinen Arbeiten mehr als erschwert. Denn ein- und derselbe Begriff können je nach Kontext und Periode ganz unterschiedliche Akzentsetzungen aufweisen. Die implizite Leseanforderung lautet also die Konzepte stets im Kontext der jeweiligen Studie zu verstehen (vgl. König/Berli 2012).
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2.1.1 Eine Soziologie der feinen Unterschiede Das erklärte Ziel von Bourdieus opus magnum ist es, den Gegensatz von Klassen- und Schichtungsanalyse zu überwinden (vgl. Bourdieu 1979/1987: 12). Zu diesem Zweck entwickelt er seine Position in Auseinandersetzung mit zwei Klassikern der Theorie sozialer Ungleichheit: Karl Marx und Max Weber. Vom Erstgenannten übernimmt er die Vorstellung der bürgerlichen Gesellschaft als einer durch Positionskämpfe gekennzeichneten Klassengesellschaft. Dabei geht er jedoch nicht davon aus, dass das antagonistische Verhältnis der Klassen zueinander ausschließlich ökonomisch zu bestimmen sei. In diesem Zusammenhang ist auch seine Erweiterung der Marx’schen Kapitalanalytik zu verstehen (vgl. Bourdieu 1983; Rehbein/Saalmann 2009, siehe unten). Der Anschluss bei Max Weber gelingt über dessen Unterscheidung von Klasse und Stand (vgl. Weber 1922/2002). Für Weber zeichnet sich ständisch geprägte Ungleichheit durch eine spezifische Art und Weise der Lebensführung beziehungsweise Stilisierung aus, während sich Klassenunterschiede bei ihm – ganz im Sinne von Marx – durch die Verfügung über ökonomische Ressourcen und die Stellung im Produktionsprozess beschreiben lassen. Bourdieu überführt Webers Konzept der ständischen Lebensführung in seine Klassenanalyse. Auf diese Weise erhält er ein komplexes Konzept sozialer Klassen, das sowohl die ökonomische Lage als auch die je spezifische Lebensführungsart in die Analyse mit einbezieht (vgl. Bourdieu 1985, 1979/1987). Die Aufgabe der Soziologie bestehe dann darin, vor dem Hintergrund dieser analytischen Perspektive, die „Bedingungen zu rekonstruieren, deren Produkt die Konsumenten dieser Güter und ihr Geschmack gleichermaßen sind; zugleich ist sie bemüht, die unterschiedlichen Weisen der Aneignung der zu einem bestimmten Zeitpunkt als Kunst rezipierten Kulturgüter sowie die gesellschaftlichen Voraussetzungen der Herausbildung der als legitim anerkannten Aneignungsweise analytisch zu beschreiben“ (Bourdieu 1979/1987: 17). Welche analytischen Weichenstellungen eine solche Perspektive verlangt, sollen die folgenden Seiten klären. Maßgeblich für den Umgang und die Haltung zu Kultur im Allgemeinen und Musik im Besonderen sind die habituellen Dispositionen, welche die Akteure im Laufe ihrer Lebensgeschichte ausbilden. Damit ist ein zentrales Konzept Bourdieus angesprochen, man könnte es sogar als ein „Kernstück“ des Theoriegebäudes bezeichnen (vgl. Krais/Gebauer 2002: 5): der Habitus.3 Unter Habitus versteht
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Bourdieu formuliert wiederholt den Anspruch, den Gegensatz von Objektivismus und Subjektivismus zu überwinden. Hier setzen seine zentralen Konzepte, wie Feld oder Habitus, an und in diesem Kontext sind sie zu verstehen. Zu den Vertretern des Ob-
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Bourdieu ein System von Dispositionen, d.h. Schemata des Denkens, des Wahrnehmens und des Handelns. Dieses System von generativen Schemata kann als Praxis erzeugendes Prinzip oder besser Prinzipienbündel angesehen werden. Damit verbindet Bourdieu eine Absage an Theorien rationaler Wahl. Denn im Fokus des analytischen Interesses steht nicht das nutzenkalkulierende soziale Handeln, sondern vielmehr das halb bewusste, halb unbewusste Gewohnheitshandeln.4 So erklärt sich auch, dass der Begriff der Strategie bei Bourdieu nicht eine rational kalkulierende Kombination aus Entwurf und Handeln bezeichnet, sondern Praktiken, die objektiv dem Erhalt oder der Verbesserung des „Besitzstands“ und damit der eigenen sozialen Position dienen (können) (vgl. Bourdieu 1979/1987: 210). Durch die Verinnerlichung der sozialen Existenzbedingungen
jektivismus zählt Bourdieu den Strukuralismus eines Lévi-Strauss, die Soziologie Durkheims oder die Saussure’sche Linguistik. Ihnen wird vorgeworfen: „Außerstande, die Praxis anders als negativ zu erfassen, nämlich als einfache Ausführung des vom Wissenschaftler konstruierten Modells, projiziert der Objektivismus schließlich in die Köpfe der Akteure eine (scholastische) Sichtweise ihrer Praxis, zu der er paradoxerweise nur gelangen konnte, weil er zuvor die Erfahrung, die die Akteure von ihrem Handeln haben, systematisch ausklammert“ (Wacquant 1992/1996: 26). Zum Subjektivismus zählt er solche Positionen wie den Interaktionismus, die Ethnomethodologie oder die Philosophie eines Jean-Paul Sartre (Bourdieu 1972/1979: 146ff.; vgl. die Gegenüberstellung von Sozialphysik und -phänomenologie bei Wacquant 1992/1996). Um diesen Gegensatz aufzuheben, formuliert Bourdieu im Laufe seiner Forschungen eine Reihe von Konzepten, die die Stärken der jeweiligen Positionen aufnehmen sollen, ohne an ihren vermeintlichen Schwächen zu partizipieren. Seine alternative Erkenntnisperspektive, die praxeologische, „[…] annuliert nicht die Ergebnisse des objektiven Wissens, sondern bewahrt und überschreitet sie, indem sie integriert, was diese Erkenntnis ausschließen mußte, um allererst jene zu erhalten“ (Bourdieu 1972/1979: 148). 4
Generell sind die Arbeiten von Bourdieu durch das Bemühen gekennzeichnet, in methodologischer Absicht einen Bruch mit dem Ökonomismus herbeizuführen. Sinngemäß formuliert er einmal, dass das Einzige, was er mit den etablierten Wirtschaftswissenschaften gemein habe, einige Begriffe seien (Bourdieu/Wacquant 1992/1996b: 150). Neben der Betonung des Gewohnheits- wie auch Routinehandelns gegenüber den Theorien der rationalen Wahl lassen sich bei ihm weitere Weichenstellungen mit dieser Stoßrichtung finden. Erinnert sei an seine Erweiterung des Kapitalbegriffs in Anschluss an Marx (bspw. Bourdieu 1983) sowie an die Ausweitung des Ökonomiebegriffs auf die Analyse des Gabentauschs und die Praktiken der symbolischen Ökonomie in den frühen Algerienstudien (Bourdieu 1972/1979, 1980/1987).
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sind die Akteure an die „Regeln“ der Ökonomie des Sozialen vorangepasst und handeln entsprechend objektiv „vernünftig“. Bourdieu betont hier die Prägekraft vergangener Erfahrungen für das gegenwärtige Handeln gegenüber einem zukunftsorientierten Handeln (Bourdieu 1997/2001: 178). In einer anderen Theoriesprache könnte man also von einer Dominanz von Weil-Motiven gegenüber Um-zu-Motiven sprechen (Schütz), was jedoch nicht ganz den Punkt treffen würde. Bourdieu selbst hat sich wiederholt vom Entwurfscharakter von Handlungen distanziert und betont, dass das Konzept des Habitus auch Improvisieren und spontane Reaktionen umfasst. „Überraschen zuweilen geistreiche Worte nicht minder ihre Hörer als ihre Verfasser selbst und drängen sie sich retrospektiv durch ihren zwangläufigen Charakter wie ihre Neuheit auf, so weil die trouvaille als das ebenso zufällige wie unabwendbare bloße Zutagetreten einer in den Strukturen der Sprache selbst eingebundenen Möglichkeit aufscheint […]“ (Bourdieu 1972/1979: 179).
Wie hier bereits deutlich wird, sind für Bourdieu selbst „geistreiche“ spontane Äußerungen nicht vollkommen frei – sie weisen eine Strukturiertheit auf. Im genannten Beispiel ist diese Strukturiertheit durch die Grenzen der Sprache bedingt. In kritischer Absicht deshalb von einem deterministischen Zug der Bourdieuschen Position zu sprechen, ist jedoch verfehlt, da die Struktur der Sprache nicht nur einschränkt, sondern überhaupt erst „sinnvolle“ Verständigung ermöglicht. Prinzipiell ist innerhalb der Grenzen (der Sprache) eine unendliche Menge „sinnvoller“ Aussagen produzierbar. Übertragen auf den Habitus ist dies Ausdruck seiner Strukturiertheit, die Produkt der individuellen wie kollektiven Geschichte ist, da der Habitus im Rahmen von und aufgrund objektiver Bedingungen inkorporiert wird. Während die individuelle Geschichte, also die Geschichte der Laufbahn bzw. des Trajekts des Individuums, in das je spezifische Milieu eingebettet ist, bezieht sich die kollektive Geschichte auf die Entwicklung der sozialen Strukturen, wobei hier auch die Kategorien und Klassifikationssysteme anzusiedeln sind (Bourdieu/Chartier 2011: 84). Wissenssoziologisch gewendet bedeutet dies, dass diese doppelte Geschichtlichkeit sich sowohl auf den subjektiven als auch auf den gesellschaftlichen Wissensvorrat bezieht. Wendet man sich der individuellen Genese des Habitus zu, kommt den zeitlich früher gelagerten Erfahrungen eine dominante Prägekraft zu: „Gerade die Logik seiner Genesis macht aus dem Habitus eine chronologisch geordnete Serie von Strukturen, worin eine Struktur bestimmten Ranges die Strukturen niedrigeren – folglich genetisch früheren – Ranges spezifiziert und die Strukturen höheren Ranges durch
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Vermittlung einer strukturierenden Aktion, die sie gegenüber den strukturierten generativen Erfahrungen dieser Strukturen ausübt, wiederum strukturiert […]“ (Bourdieu 1972/1979: 188).
Generell geht Bourdieu davon aus, dass sich im Habitus die individuellen wie kollektiven Existenzbedingungen ablagern. Damit erklärt Bourdieu beispielsweise, warum ungleiche Startvoraussetzungen – vermittelt durch die Prägung über das Elternhaus (im Sinne einer frühen Transmission kulturellen Kapitals) – durch schulische Bildungsprozesse nur schwer oder unzureichend aufgefangen werden können. Analog müssten sich frühe musikalische Erfahrungen im Stil der Aneignung von und des Umgangs mit Musik bei den Befragten als prägende Strukturen ausmachen lassen.5 Andererseits wirkt der Habitus strukturierend, da die inkorporierten Schemata die Grenzen und Möglichkeiten des Wahrnehmens, Denkens und Handelns definieren. Diese Grenzen sind Ausdruck der objektiven Teilung der „Welt“ in soziale Klassen: „Der Habitus ist nicht nur strukturierende, die Praxis wie deren Wahrnehmung organisierende Struktur, sondern auch strukturierte Struktur: das Prinzip der Teilung in logische Klassen, das der Wahrnehmung der sozialen Welt zugrunde liegt, ist seinerseits Produkt der Verinnerlichung der Teilung in soziale Klassen.“ (Bourdieu 1979/1987: 279)
Hier wird die „Verwandtschaft“ dieser Position zu den wissenssoziologischen Vorarbeiten Durkheims (und auch Mauss’) besonders augenfällig (Durkheim 1912/1981; Durkheim/Mauss 1903/1987). Mithin kann also dieser Ansatz mit einigem Recht als Versuch einer ungleichheits- bzw. strukturanalytischen Wissenssoziologie gelesen werden.6
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In seinem Aufsatz „Das Problem der Generationen“ (1928/1964) verwendet Mannheim den Begriff der Erlebnisschichtung, um die Prägekraft von frühen Erlebnissen für zeitlich spätere Erlebnisse und Erfahrungen zu betonen. Dazu Mannheim: „Die ersten Eindrücke haben die Tendenz, sich als natürliches Weltbild festzusetzen. Infolgedessen orientiert sich jede spätere Erfahrung an dieser Gruppe von Erlebnissen, mag sie als Bestätigung und Sättigung dieser ersten Erfahrungsschicht, oder aber als deren Negation und Antithese empfunden werden. Die im Laufe des Lebens gesammelten Erlebnisse akkumulieren sich eben nicht einfach durch Summation und Zusammenballung, sondern artikulieren sich im soeben beschriebenen Sinne ‚dialektisch‘“ (Mannheim 1928/1964: 536f.).
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Der im Übrigen mehr Berührungspunkte mit dem Entwurf von Berger und Luckmann (1966/1969) aufweist, als auf dem ersten Blick zu vermuten wäre. Eine systematische
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Befasst man sich mit dem sozialen Sinn von Praktiken, Positionen und Präferenzen, so wird man unweigerlich auf das Konzept der Relationalität verwiesen (Bourdieu 1992/1996: 258). Denn diese sind der „Stoff, aus dem die soziale Wirklichkeit gemacht ist“ (Wacquant 1992/1996: 35). Ähnlich wie Elias mit seinem Abstellen auf Figurationen, geht Bourdieu davon aus, dass die Soziologie das Soziale konsequent in einer relationalen Perspektive erschließen muss.7 Sowohl die Erfahrungen, die aus einer spezifischen sozialen Position heraus gemacht werden, als auch die Differenz zu den Erfahrungspotenzialen, die unter anderen sozialen Existenzbedingungen anzutreffen sind, geben einem spezifischen Habitus erst seinen sozialen Sinn (vgl. Bourdieu 1979/1987: 279). Mit anderen Worten: „Eine jede soziale Lage ist mithin bestimmt durch die Gesamtheit dessen, was sie nicht ist […]“ (Bourdieu 1979/1987: 279). Erst vor diesem Hintergrund erschließt sich das komplexe Verhältnis von Identität und Differenz von Praktiken und kulturellen Präferenzen im Denken Bourdieus (vgl. Papilloud 2003). An dieser Stelle wird die Frage virulent, was denn aus soziologischer Perspektive unter dem zu verstehen sei, was der Alltagsverstand als Geschmack tituliert. Für die Beantwortung dieser Frage ist es notwendig, die Vorbedingungen des symbolischen Kampfs um Distinktion aufzuklären. Dazu gehört zunächst die Existenz eines Klassifikationssystems. „Damit es einen Geschmack gibt, muß es klassifizierte Güter geben, Güter des ‚guten‘ und des ‚schlechten‘ Geschmacks, ‚distinguierte‘ oder ‚vulgäre‘, klassifizierte und zugleich klassifizierende, hierarchisch geordnete und zugleich hierarchisch ordnende Güter, und Leute, die über Klassifizierungsprinzipien verfügen, über den Geschmack, der es ihnen erlaubt, unter diesen Gütern diejenigen ausfindig zu machen, die ihnen gefallen, ‚nach ihrem Geschmack‘ sind.“ (Bourdieu 1980/1993: 153)
Konfrontation dieser beiden Ansätze steht jedoch noch weitestgehend aus. Zu nennen sind hier vornehmlich die Ausführungen Knoblauchs (2003) zu den Berührungspunkten von Habitualisierung und Habitus, wie auch die kritische Auseinandersetzung mit Bourdieus Kritik der phänomenologischen Tradition in der Soziologie von Endreß (2005). 7
Somit liegt hier ein weiterer erkenntnislogischer Bruch vor: der Bruch mit dem Denken in Substanzen. Das analytische Primat – auch für die Formulierung von Konzepten – wird auf Relationen gelegt. Zum Beispiel: Die spezifische Beziehung zur legitimen Kultur der Kleinbürger (die Strebsamkeit) erhellt sich erst voll vor dem Hintergrund der damit verbundenen Orientierung an der herrschenden Klasse und dem (unbewussten) Abgrenzungsbestreben gegenüber den Angehörigen der Arbeiterklasse.
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Für Bourdieu ist Geschmack mehr als nur ein Prinzip der Wahlen und Bewertungen. Der Geschmack äußert sich für andere wahrnehmbar im Lebensstil, der für Bourdieu eine symbolische Dopplung der Kämpfe zwischen den Klassen und Klassenfraktionen darstellt. Gegen eine rein ökonomische Interpretation dieser Auseinandersetzungen bietet Bourdieu eine Alternative an, die es erlaubt, sowohl die kulturellen wie ökonomischen Kämpfe und Spiele gleichermaßen zu interpretieren. Für die vorliegende Studie ist dabei besonders die Idee der Distinktion von Bedeutung. Unter diesem Begriff kann zunächst die Setzung einer Differenz verstanden werden, die mit einer Wertung einhergeht (vgl. Rehbein 2009: 76). In den Studien Bourdieus, insbesondere in den „Feinen Unterschieden“ nimmt dieser Begriff eine Schlüsselstellung ein, da er den symbolischen Raum der Lebensstile dynamisiert. Denn seltene Güter und Praktiken verlieren ihren Distinktionswert, wenn sie „gewöhnlich“ werden, d.h. ihre Seltenheit verlieren. Wenn also beispielsweise Tennis seinen exklusiven Charakter einbüßt, würde man mit Bourdieu davon ausgehen, dass andere Sportarten wie beispielsweise Golf der herrschenden Klasse als Ausweichoption dienen. In systematischer Absicht lässt sich fragen, welcher Zusammenhang zwischen dem sozialen Raum (Klassen) und dem symbolischen Raum der Lebensstile besteht. Die Inkorporierung von Dispositionen geschieht nicht im „luftleeren“ Raum, sondern ist immer in sozialen Feldern oder im Falle der „Feinen Unterschiede“ im sozialen Raum situiert. Diese bilden die sozialen, „objektiven“ Existenzbedingungen ab, die individuell wie kollektiv den objektiven Möglichkeitsraum begrenzen. Am Beispiel der Studie „Die feinen Unterschiede“ (1979/1987) lässt sich Bourdieus Zusammenhangsmodell weiter erläutern: Bekanntlich untersucht Bourdieu hier die französischen Gesellschaft der 1960er und 1970er Jahre. Seine grundlegende These ist, dass eine Homologie zwischen den Relationen innerhalb der Dimension der vertikalen Differenzierung (dem sozialen Raum) und den symbolischen Relationen innerhalb des Raums der Lebensstile besteht.8 Das bedeutet im Kern, dass die Relationen im sozialen Raum denen im symbolischen Raum der Lebensstile gleichen bzw. gleichgerichtet sind. Dieser systematische Zusammenhang zwischen den Dimensionen der sozialer Ungleichheit und der kulturellen Differenzen kommt in seiner Theorie durch den (Klassen-)Habitus als praxisgenerierende Instanz zustande. Jenseits der zeit-
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Innerhalb der Cultural Studies verfolgt Willis in seiner ethnografischen Studie „Profane Culture“ (1978/1981) über die Kultur der Biker und der Hippies eine ähnliche theoretische Intention. Auch bei ihm stehen die kulturellen Praktiken und Präferenzen der untersuchten Subkulturen in einem homologen Verhältnis zur jeweiligen (klassenbasierten) sozialen Position.
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diagnostischen Fokussierung seiner Studie geht er davon aus, dass sein Modell der Beziehungen zwischen sozialer Ungleichheit und kulturellen Unterschieden prinzipiell auf andere sozio-historische Konstellationen übertragbar ist (vgl. Bourdieu 1979/1987: 12). Um Bourdieus Konstruktion des sozialen Raums nachzuvollziehen, ist es sinnvoll seine Erweiterung der Marx’schen Kapitalanalytik an dieser Stelle zu diskutieren. Ähnlich wie Marx betont Bourdieu, dass Kapital akkumulierte Arbeit darstellt, wobei die Akkumulation von Kapital einen Prozess in der Zeit darstellt. Neben ökonomischem Kapital unterscheidet er soziales Kapital sowie drei Formen kulturellen Kapitals (vgl. Bourdieu 1979/2001, 1983). Das soziale Kapital ist als Ressource zu verstehen, die auf der potentiellen Ausnutzung personaler Netzwerke und Beziehungen beruht. Die Konvertierbarkeit in ökonomisches Kapital ist nur bedingt und mittelbar gegeben, so beispielsweise wenn jemand aufgrund einer persönlichen Beziehung eine Arbeitsstelle bekommt. Wird soziales Kapital institutionalisiert liegt es in Form von Ämtern oder Titeln vor (Parteiamt, Adelstitel). Objektiviertes kulturelles Kapital sind materielle Manifestationen kulturellen Wissens wie beispielsweise Musikinstrumente. Um diese nicht nur ökonomisch aneignen zu können, ist inkorporiertes kulturelles Kapital notwendig wie z.B. die technischen Fertigkeiten, die notwendig sind, um ein Instrument zu spielen. Die Akkumulation dieser Variante kulturellen Kapitals ist nicht delegierbar. Zudem ist die Konvertierbarkeit in ökonomisches Kapital von den Strukturen des sozialen Raums oder des jeweiligen Felds abhängig. Das sogenannte institutionalisierte kulturelle Kapital stellt eine dritte Form kulturellen Kapitals dar. Es tritt in der Form von Bildungstiteln auf und garantiert den Besitzern die Zuschreibung von Fähigkeiten, die typischerweise mit dem Titel verbunden werden. So werden InhaberInnen eines Hochschulabschlusses typischerweise bestimmte Fähigkeiten zugeschrieben, ohne dass den Zuschreibenden eine Prüfung notwendig erscheint. Der Autodidakt muss sein Können ständig beweisen, wohingegen der Inhaber eines Diploms von diesem Zwang relativ befreit ist. Alle Kapitalformen sind wechselseitig transformierbar, wobei die „Verluste“ der Transformation unterschiedlich ausfallen. Während ökonomisches Kapital relativ problemlos in den Erwerb objektivierten kulturellen Kapitals investiert werden kann, erfordert der „Erwerb“ inkorporierten kulturellen Kapitals die Investition von Zeit. Neben der zu investierenden Zeit stellt der Modus des Erwerbs einen weiteren wichtigen Faktor für die Erklärung unterschiedlicher kultureller Kompetenzen und Präferenzen dar. Von den genannten Kapitalien ist außerdem das symbolische Kapital zu unterscheiden. Unter symbolischem Kapital versteht Bourdieu die Anerkennungsform der genannten Kapitalsorten, die
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eine Verkennung der Bedeutung der Ungleichverteilung der Kapitalsorten für die Reproduktion sozialer Ungleichheit impliziert. Nach diesem Einschub zur Erweiterung der Kapitalanalytik, kann zur ursprünglichen Frage zurückgekehrt werden: Wie konstruiert Bourdieu in seiner Studie die Ungleichheitsrelationen der französischen Gesellschaft? Der soziale Raum als Ort der sozialen Ungleichheit wird von ihm in drei Dimensionen aufgespannt. Als erste Dimension ist das Kapitalvolumen zu nennen. Damit ist die Summe des verfügbaren ökonomischen und kulturellen Kapitals gemeint. Die zweite Dimension bildet die Kapitalstruktur, die sich auf das Verhältnis von ökonomischem und kulturellem Kapital bezieht. Als dritte Dimension kommt die Laufbahn hinzu, in der kollektive Aufstiegs- beziehungsweise Abstiegsprozesse abgebildet werden. Als zentrale sozialstrukturelle Determinanten jeder kulturellen Praxis und der ihr zugrunde liegenden Dispositionen erscheinen in dieser Perspektive primär der Bildungsgrad und sekundär die soziale Herkunft (vgl. Bourdieu 1979/1987: 17f.). Die Bedingungen und Relationen des sozialen Raums (und seiner spezifischen Felder) werden von den Akteuren im Lebenslauf verinnerlicht und stellen in Form von Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Erzeugungsschemata zugleich Produkte als auch Erzeugungsprinzipien des Sozialen dar. Identische oder austauschbare Erfahrungen schaffen identische oder austauschbare Habitusstrukturen, die im Vollzug der sozialen Praxis klassifizierbare Werke und Handlungen hervorbringen (vgl. Krais/Gebauer 2002). Diese wiederum können mittels habituell verankerter Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata von den Akteuren als distinkte Lebensstile interpretiert werden (vgl. Bourdieu 1979/1987: 278f.). Bourdieu geht in den „Feinen Unterschieden“ von klassenspezifischen Lebensstilen aus, die jedoch nicht als bewusste Stilisierungen missverstanden werden dürfen (vgl. Bourdieu 1979/1987: 283). Somit stellen „demonstrativer Konsum“ (Thorstein Veblen) und die (intentionale) „Stilisierung des Lebens“ (Max Weber) für ihn eher die Ausnahme als die Regel dar. Die Distinktionen, die eine Klasse auszeichnen, resultieren aus den differentiellen Beziehungen des jeweiligen Lebensstils zu denen der anderen Klassen und zwar unabhängig vom Streben der Akteure nach Distinktion. Für die hier im Vordergrund stehende Argumentation ist es nicht notwendig auf die klasseninterne Differenzierungen im Detail einzugehen, da es sich wie oben bereits erläutert, bei „Die feinen Unterschiede“ um eine Untersuchung Frankreichs mit Fokus auf die 1960er und 1970er Jahre handelt.9 Von grundle-
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Gerade mit Bourdieu lässt sich nicht annehmen, dass in jedem Land zu jeder historischen Epoche dieselben Güter und Praktiken Distinktionswert besitzen (wie bei-
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gender Bedeutung ist jedoch das Modell der Distinktion, das in Bourdieus Arbeiten entworfen wird. Stark vereinfacht lassen sich in den „Feinen Unterschieden“ drei Geschmacksformationen unterscheiden, die mit drei sozialen Klassen verbunden sind: (a) der legitime Geschmack der herrschenden Klasse, (b) der mittlere oder prätentiöse Geschmack der mittleren Klasse und (c) der illegitime oder populäre Geschmack der unteren Klasse. Innerhalb dieser Klassen kann man Fraktionen unterscheiden, die sich vor allem durch ihre kollektiven Laufbahnen (absteigend oder aufsteigend) unterscheiden und so je spezifische Ausprägungen des jeweiligen „Klassengeschmacks“ entwickeln. Unter Einbeziehung der Laufbahnen lassen sich somit unterschiedliche Lebensstile bei deckungsgleicher sozialstruktureller Position erklären. (a) Der legitime Geschmack der herrschenden Klasse ist aus Freiheit und Luxus geboren und zeichnet sich durch einen vorbewussten Sinn für Distinktion aus (vgl. zum Gegensatz von Notwendigkeit und Freiheit: Bourdieu 1979/1987: 25f., 289f.). Die Wahrscheinlichkeit seines Auftretens wächst mit steigender Bildung, um in den Kreisen der herrschenden Klasse mit dem größten schulischen Kapitalvolumen zu kulminieren. Die Bedingungen unter denen sich der legitime Geschmack herausbildet, sind für Bourdieu durch eine Distanz zum „Reich der Notwendigkeit“ zu charakterisieren: „Voraussetzung für jede Form des Lernens von legitimer Kultur, sei es implizit und diffus wie gemeinhin in der Familie, oder explizit und spezifisch ausgerichtet wie im Rahmen der Schule, zeichnen sich diese Existenzbedingungen aus durch den Aufschub und die Suspendierung des ökonomischen Zwangs und zugleich durch objektive wie subjektive Distanz zum Drängenden der Praxis, dem Fundament der objektiven wie subjektiven Distanz diesen Determinismen unterworfenen Gruppen.“ (Bourdieu 1979/1987: 100f.)
Die Angehörigen der herrschenden Klassen neigen den legitimierten Werken der herrschenden Kultur zu, die im Wesentlichen durch kulturelle Legitimationsinstanzen wie Universitäten, Akademien und Kritiker hergestellt werden (siehe auch Bourdieu 1966/1974). Über lange Zeit werden auf diese Weise in Frankreich wie auch im deutschsprachigen Raum klassische Musik und Oper als Teil
spielsweise klassische Musik). Mit diesem Hinweis hat insbesondere Holt (1997) Bourdieu gegen Kritiken verteidigt. Vor allem in kulturvergleichenden Studien lassen sich die unterschiedlichen Gegenstände und Differenzierungsachsen der sozialen wie symbolischen Grenzziehungsprozesse aufzeigen (vgl. dazu Lamont 1992).
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der legitimen Kultur reproduziert.10 Die Popularisierung von legitimen Werken und Praktiken hat für Bourdieu zur Folge, dass die Angehörigen der herrschenden Klasse auf neue distinktive Güter ausweichen. (b) Der mittlere Geschmack der mittleren Klasse (vgl. Bourdieu 1979/1987: 500ff.) wendet sich popularisierten Werken der legitimen Kultur und den „legitimsten“ Werke der minderbewerteten Künste zu, die leichter zugänglich sind, da sie zur Aneignung weniger inkorporiertes kulturelles Kapital benötigen. Kunstwerke im Besonderen und kulturelle Güter im Allgemeinen – also objektiviertes kulturelles Kapital – können laut Bourdieu zweifach angeeignet werden. Er unterscheidet die ökonomische Aneignung von einer symbolischen Aneignung. So lässt sich beispielsweise ein Gemälde oder eine Fotografie mit einer gegebenen Summe ökonomischen Kapitals anschaffen und im eigenen Wohnraum platzieren.11 Damit ist dieses Kunstwerk allerdings noch nicht decodiert, d.h. symbolisch angeeignet. Dazu wird inkorporiertes kulturelles Kapital benötigt. Die symbolische Aneignung eines kulturellen Werks wie beispielsweise einer Oper setzt für eine „angemessenen Aneignung“ im Sinne Bourdieus (1968/1974) das Inkorporieren der notwendigen Codes voraus, um das Werk zu entschlüsseln. In der Terminologie der Theorie der „art worlds“ von Howard S. Becker würde eine Nähe oder Zugehörigkeit zu den Produzenten eine Kenntnis der Konventionen erleichtern, die Voraussetzung ist, um das Werk „angemessen“ zu würdigen (vgl. Becker 1984). Die Decodierung eines Kunstwerks kann zudem auf verschiedenen Niveaus stattfinden, wie Bourdieu ausführt: „Das Kunstwerk (wie jedes kulturelle Gebilde) vermag Bedeutungen unterschiedlichen Niveaus zu liefern, je nach dem Interpretationsschlüssel, den man auf das Werk anwendet. Die Bedeutungen niederen Niveaus, d.h. die aller oberflächlichsten, bleiben daher partial und verkürzt, also Irrtümern ausgesetzt, solange man nicht auf die Bedeutungen höheren Grades achtet, von denen sie umfasst und transfiguriert werden.“ (Bourdieu 1968/1974: 165)
10 Für die US-amerikanische Gesellschaft lässt sich eine Reihe von einschlägigen Studien anführen, welche die Legitimationsinstanzen und -prozesse im Bereich der Kultur nachzeichnen. Exemplarisch sei hier auf die Arbeiten von DiMaggio (1982) und Levine (1988) verwiesen. 11 Für die USA hat David Halle (1993) die Klassenspezifität der Aneignung von Kunst (d.h. Fotografien und Gemälden) im privaten Raum untersucht. Da er selbst bei den Interpretationen abstrakter Kunst geringe bis keine klassenspezifischen Unterschiede feststellt, übt er entsprechend Kritik an Bourdieus Betonung der Relevanz inkorporierten kulturellen Kapitals für die Rezeptionskompetenz.
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Somit erklärt sich auch, dass sich die symbolische Praxis der Aneignung in Abhängigkeit von dem zuhandenen inkorporierten kulturellen Kapital unterscheidet. Mit anderen Worten: Für die Angehörigen der mittleren Klassen ist es einfacher, sich die popularisierten kulturellen Güter anzueignen, da sie über ein ausreichendes Rezeptionsniveau verfügen (im Sinne einer kulturellen bzw. ästhetischen Kompetenz). Die mittlere Klasse und ihre Fraktionen zeichnen sich zudem, so Bourdieu, zum Teil durch einen Bildungseifer aus, da sie Bildung als legitimes Mittel zum gesellschaftlichen beziehungsweise beruflichen Erfolg anerkennen. Sie bemühen sich Werke und Praktiken der legitimen Kultur anzueignen und legen aufgrund mangelnder Vertrautheit eine ernstere Haltung an den Tag als Angehörige der herrschenden Klasse. Sie zeichnen sich außerdem dadurch aus, dass sie um Distanzierung nach unten bemüht sind. Der mittlere Geschmack ist häufiger bei Angehörigen der Mittelklassen als in Arbeiterkreisen oder in den „intellektuellen“ Fraktionen der herrschenden Klasse anzutreffen. (c) Angehörige der unteren Klasse finden typischerweise Gefallen an illegitimen Werken und Praktiken wie beispielsweise dem Groschenroman oder der Volksmusik (vgl. Bourdieu 1979/1987: 585ff.). Sie sind durch einen „Geschmack am Notwendigen“ aufgrund mangelnder materieller und kultureller Ressourcen gekennzeichnet und bewerten typischerweise Funktion höher als Form. Im Gegensatz zur herrschenden Klasse, die nach Bourdieu eine gewisse Freiheit besitzt, sind die unteren Klassen durch Mangel gekennzeichnet: „Aus der Not heraus entsteht ein Not-Geschmack, der eine Art Anpassung an den Mangel einschließt und damit ein Sich-in-das-Notwendige-fügen, [...]“ (Bourdieu 1979/1987: 585). Dieser Geschmack eröffnet in der Perspektive Bourdieus keine Möglichkeiten der Partizipation am symbolischen Kampf der Lebensstile – am Spiel der Distinktion. Damit sind die wesentlichen Elemente der distinktionsanalytischen Sozialraumstudie Bourdieus benannt. Ging es auf den vorangegangenen Seiten vor allem darum, die Konzepte und Mechanismen zu verstehen, die er entfaltet, sollen die folgenden Ausführungen, diese theoretische Perspektive stärker auf den Gegenstand Musikgeschmack beziehen. 2.1.2 Musikgeschmack in Bourdieuscher Perspektive Bourdieu räumt der Musik innerhalb der kulturellen Praktiken und Güter einen besonderen Platz ein. Sie wird von ihm nicht nur zur geistigen Kunst par exellence erhoben (Bourdieu 1978/1993: 148, 1979/1987: 41f.), sondern bereits das Sprechen über Musik hat einen besonderen Stellenwert. So formuliert er: „Über Musik zu sprechen ist der Anlaß schlechthin, Breite und Universalität der
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eigenen Kultur und Bildung vorzuführen.“ (Bourdieu 1978/1993: 147) Wie oben bereits angeführt, verorten die kulturellen Praktiken und Güter in doppelter Hinsicht: Einerseits verorten Akteure sich selbst dadurch, dass sie Präferenzen äußern, Güter bewerten etc. und andererseits machen sie sich dadurch zugleich verortbar für andere. Denn mit „nichts kann man seine ‚Klasse‘ so gut herausstreichen wie mit dem Musikgeschmack, mit nichts auch wird man so unfehlbar klassifiziert.“ (Bourdieu 1978/1993: 147) Konsistent mit den Ergebnissen und Konzepten, die oben eingeführt wurden, kann man davon ausgehen, dass besonders die frühen Formen der Musikerfahrung für alle späteren Aneignungen von und Auseinandersetzungen mit Musik von besonderer Relevanz sind (vgl. Bourdieu 1978/1993: 150). Analog argumentiert Bourdieu in Bezug auf unterschiedliche Haltungen gegenüber Kunst und Museen, die sich wesentlich auf Basis der familiären Sozialisation ausbilden und die er wiederholt zu Sozialfiguren verdichtet. Zu nennen sind hier der „Gelehrte“, der „Mann von Welt“ sowie der „Autodidakt“, die durch einen je spezifischen Zugang zu bzw. Umgang mit Kultur gekennzeichnet sind (vgl. Bourdieu 1979/1987: 125ff., 148ff., 513ff.). Am Beispiel von Musik erläutert Bourdieu das dahinterliegende Argument: „Wer in einer Familie aufwächst, in der z.B. Musik nicht nur per Radio oder Stereogerät gehört wird […] gar von Kindesbeinen auf mit einem ‚vornehmeren‘ Musikinstrument wie dem Klavier zu spielen lernt, der verfügt zumindest über einen vertrauteren Umgang mit Musik. Dieser unterscheidet sich vom stets ein wenig distanzierten, kontemplativen und leicht ‚kopflastigen‘ Verhältnis des über Konzerte oder gar Schallplatten zur Musik Gelangten […]“ (Bourdieu 1979/1987: 134).
Wieder beeinflusst der Erwerbsmodus des inkorporierten kulturellen Kapitals die biographisch später stattfindenden Umgangsweisen. Und selbst eine intensive Praxis, die jedoch zeitlich gesehen später einsetzt, wird zu einem anderen Verhältnis Musik gegenüber führen. Entsprechend lässt sich mit Bourdieu ein typischer Gegensatz formulieren: „Auf der einen Seite eine Art Urvertrautheit mit der Musik; auf der anderen der passiv-akademische Geschmack des Musikliebhabers mit der Schallplattensammlung“ (Bourdieu 1978/1993: 151). Analoge Gegensätze formuliert er generell in Bezug auf die Erwerbsmodi kulturellen Kapitals und ihre Auswirkungen auf die Lebensstile (vgl. Bourdieu 1979/1987). Exkurs: Eine illegitime Kunst Bereits in den frühen Arbeiten zur Fotografie als einer illegitimen Kunst kann Bourdieu zeigen, dass der Umgang mit Gütern der Populärkultur stark von den
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habituellen Prägungen abhängig ist. Das lässt sich beispielsweise anhand der Unterschiede der Fotografierpraxis argumentieren. Prinzipiell ist eine unendliche Menge von Fotografien realisierbar, dem steht jedoch „gruppenspezifisch“ eine endliche Menge von Genres, Gegenständen und Kompositionsprinzipien gegenüber, die typischerweise selektiert werden (vgl. Bourdieu 1965/1981a, 1965/1981b). Bourdieu erklärt die beobachteten Differenzen anhand der klassenspezifischen Habitus‘. Die Akteure verinnerlichen das ihnen Mögliche und Unmögliche. Damit passen sie sich (unbewusst) an ihre sozialen Existenzbedingungen an. Die individuellen „Wünsche und Ansprüche werden in Form und Inhalt durch objektive Bedingungen bestimmt, die die Möglichkeiten ausschließen, sich das Unmögliche zu wünschen“ (Bourdieu 1965/1981a: 28). Klassenspezifische Unterschiede zeigen sich beispielsweise in den Gebrauchsweisen der Fotoausrüstung. So lässt sich eine aktivere Praxis nicht allein aus der Höhe des verfügbaren Einkommens ableiten (Bourdieu 1965/1981a: 43ff.). Vielmehr offenbart sich im Erwerb teurer Ausrüstung eine Konsumgewohnheit, die teure und „hochwertige“ Objekte bevorzugt. Zu fragen wäre dann, übertragen auf die Musik, wie der Erwerb und Gebrauch von Stereoanlagen, Tonträgern, Konzertkarten etc. strukturiert ist. Gibt es auch hier Unterschiede, die nicht (ausschließlich) auf das verfügbare Einkommen zurückzuführen sind? Zudem zeigen sich Unterschiede zwischen Fotografie im Dienste der Familie und „engagierter“ Fotopraxis (vgl. Bourdieu 1965/1981a: 49). Die Anstrengung zur technischen und ästhetischen Vervollkommnung setzt eine Loslösung von den familiären Funktionen der Kamera voraus (vgl. Bourdieu 1965/1981a: 52). Analog ließe sich für die musikalische Praxis fragen, welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit „MusikliebhaberInnen“ ihre Musik jenseits geselliger Anlässe goutieren und sich damit auseinandersetzen. Eine weitere Frage, die soziologische Aufmerksamkeit verdient, ist die nach der Laien- oder Amateurpraxis. Es gibt eine Vielzahl von Möglichkeiten musikalisch aktiv zu werden, angefangen bei den Musikschulen, über die Amateurband s bis hin zu Chören etc. und diese werden auch intensiv genutzt. Laut dem Deutschen Musikrat musizieren etwa 2% der Gesamtbevölkerung mind. einmal am Tag und 7% mind. einmal in der Woche (MIZ 2012). Für Bourdieu gehört der regelmäßige Konzertbesuch ebenso wie das Spielen eines Musikinstruments zu den Praktiken, die hochgradig distinktiv sind. Im Hinblick auf das Konzert spricht er sogar von einer „bürgerlichen Weihehandlung“ (vgl. Bourdieu 1978/1993: 148). Auch wenn die Konventionen des Konzertbesuchs je nach Veranstaltungsort, Publikumszusammensetzung und Musikgenre stark voneinander abweichen, und das klassische Konzertpublik im Gegensatz zu
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den BesucherInnen eines Hardcore-Konzerts (vgl. Inhetveen 1997b) körperlich diszipliniert erscheint, darf auch mit Bourdieu die körperliche Dimension des Musikerfahrens nicht vernachlässigt werden. So wird Bourdieu von verschiedener Seite unterstellt, die körperliche bzw. emotionale Komponente der Musikwahrnehmung gerade bei legitimen Genres zu unterschätzen (siehe Rössel 2009). Bei aller Berechtigung dieser Kritik darf nicht übersehen werden, das Bourdieu den Musikgeschmack im Körper verankert: „Musikerfahrungen wurzeln in der allerfrühesten Körpererfahrung. Es dürfte wohl keinen Geschmack geben – mit Ausnahme vielleicht des Eßgeschmacks –, der tiefer im Körper verwurzelt wäre als der Musikgeschmack.“ (Bourdieu 1978/1993: 148) Gerade vor dem Hintergrund der in spätmodernen Gesellschaften allgegenwärtigen Musik – beispielsweise im Erziehungssystem, und sei es nur in Form von Blockflöten und gemeinsam gesungenen Liedern – scheint es, unabhängig von dem je spezifischen Genre, dass Musikkonsum eine frühe Grunderfahrung ist. Die grundlegende Körperlichkeit des Musikkonsums unterstreicht Bourdieu, wenn er formuliert: „Musik ist körperlich. Sie entzückt, reißt hin, bewegt und stachelt auf: Sie ist weniger jenseits als diesseits der Worte, in den Gesten und Bewegungen, den Rhythmen, den Beschleunigungen und Verlangsamungen, Spannungen und Entspannungen des Körpers. Die ‚mystischste‘, ‚geistigste‘ der Künste ist vielleicht bloß die körperlichste.“ (Bourdieu 1978/1993: 149)
Die Körperlichkeit und das ubiquitäre Vorhandensein von Musik erklärt aber noch nicht, wie die Vielfalt der Präferenzen und ihr Wandel zustande kommen. Die Logik der Distinktion erklärt für Bourdieu auch den Wandel und die Dynamik des Musikgeschmacks. Zunächst ist hier die Popularisierung von distinktiven, d.h. seltenen Gütern und Praktiken zu nennen. „Popularisierung entwertet; deklassierte Güter sind keine klassifizierenden Güter mehr; Güter, die den happy few gehörten, werden Allgemeingut. […] Die Abnahme der Seltenheit des Produkts und die Abnahme der Seltenheit des Konsumenten gehen parallel. So kommt es, daß die Schallplatte und die Schallplattenliebhaber eine ‚Gefahr‘ für die Seltenheit des Musikliebhabers darstellen“ (Bourdieu 1980/1993: 162). Diese Abwertung ehemals legitimer, d.h. distinktiver Güter wird – Bourdieu schreibt das 1980 als die technischen Möglichkeiten noch nicht den Heutigen gleichen – durch den technologischen Wandel und die dadurch entstehenden neuen Optionen der Produktion, Verbreitung und Aneignung befeuert. Ohne einem Technikdeterminismus das Wort zu sprechen, kann Technik und Materialität neben den Effekten der Distinktion also als Erklärungsfaktor für das interessierende Thema
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fungieren. Aber natürlich rückt auch hier Bourdieu wieder die Möglichkeiten der Technik für „neue“ Abgrenzungspraktiken in den Vordergrund: „Die Begeisterung für die Künstler der Vergangenheit – von der die unzähligen Neuauflagen alter Schellackplatten oder Rundfunkaufnahmen zeugen – steht sicher in Beziehung zum Aufkommen einer Musikkultur, die mehr auf der Schallplatte als auf dem Spielen eines Instruments oder dem Besuch von Konzerten beruht, und auf der Banalisierung der perfekten Beherrschung des Instruments, erzwungen von der Schallplattenindustrie und der immer zugleich ökonomischen und kulturellen Konkurrenz der Künstler und Produzenten untereinander.“ (Bourdieu 1978/1993: 151)
Auf Seite der Konsumierenden bieten sich mehrere Strategien an, um die eigene „Seltenheit“ bzw. Besonderheit herzustellen oder zu erhalten.12 Dazu gehört zunächst als einfachste Strategie (a) das Meiden popularisierter Produkte (vgl. Bourdieu 1980/1993: 163). Die Konsequenz dieser Strategie ist es, dass wenn Güter oder Praktiken eine bestimmte Popularität erhalten, von ihnen abzurücken ist. Dann greift eine zweite Strategie (b) das Konsumieren seltener Güter. Die Seltenheit dieser Güter kann vielfältige Ursachen haben. Bourdieu denkt hier vor allem an die InterpretInnen (beispielsweise macht es für die Klassikgemeinde einen Unterschied wer dirigiert) und seltene Werke (vgl. Bourdieu 1980/1993: 162). Diese Denkweise weist implizite Voraussetzungen auf, die vor allem auf klassische Musik abzielen. Natürlich gibt es auch SammlerInnen innerhalb der Rockmusik, die über die Qualität unterschiedlicher Besetzungen diskutieren (z.B. Black Sabbath mit oder ohne Ozzy Osbourne), dabei ist es jedoch eine empirische Frage, inwiefern hier Muster reproduziert werden, die wir aus der legitimen Kultur kennen oder aber vielleicht auf andere evaluative Kriterien abgestellt wird. Schließlich kann (c) auch die Form des Konsums einen distinktiven Wert haben. „Mit Ausnahme weniger extra für einen ganz bestimmten Verwendungszweck hergestellter (Diätbrot etwa) oder durch Tradition (Tee) oder Preis (Kaviar) eng mit einer bestimmten Schicht oder Klasse assoziierter Erzeugnisse, gewinnen die meisten Produkte ihren ge-
12 In seiner wirtschaftssoziologischen Studie „Mehr Wert“ untersucht Lucien Karpik (2011) aus Perspektive der „Ökonomie der Konventionen“ den Markt für Luxusgüter und die Instanzen, die an der Konstruktion der Einmaligkeit dieser Güter beteiligt sind. Ein Beispiel, das im vorliegenden Zusammenhang von Interesse ist, ist der Markt der Klassiktonträger. Hier konkurrieren für den Novizen nicht unterscheidbare Aufnahmen und Interpretationen musikalischer Kompositionen (Karpik 2011: 210ff.).
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sellschaftlichen Wert erst über den sozialen Gebrauch, der von ihnen gemacht wird.“ (Bourdieu 1979/1987: 45)
Beispiele im Bereich der Musik wären etwa: die Wiederentdeckung spezifischer Tonträger (bspw. Mixtapes), Formen des Musizierens (z.B. Hauskonzert) oder der Besuch exklusiver Konzerte und Musikveranstaltungen (z.B. WagnerFestspiele, untersucht durch Gebhardt/Zingerle 1998). Implizit spricht Bourdieu noch eine weitere Option an. Diese besondere Variante (d) die eigene Position spielerisch aufzuwerten, beschreibt er folgendermaßen: „Und das Allerfeinste kann sein, daß man mit dem Feuer spielt und entweder den seltensten Geschmack für die anspruchvollste Musik mit den akzeptabelsten Formen der – vorzugsweise exotischen – Unterhaltungsmusik mischt oder Geschmack an strengen und höchst kontrollierten Interpretationen ganz ‚leichter‘ und am stärksten von ‚Vulgarität‘ bedrohter Werke findet.“ (Bourdieu 1980/1993: 163)
Hier finden wir das schon vorformuliert, was man in Bezug auf Musikgeschmack als distinktives Spiel mit Grenzüberschreitungen bezeichnen könnte. Eine Strategie, die aufgrund der These der Zunahme der sogenannten „cultural omnivores“ ungemein vertraut anmutet. Die Strategie Klassifikationen und Evaluation aus dem Bereich der legitimen Kultur – mit anderen Worten: die reine Ästhetik – auf illegitime Güter und Praktiken anzuwenden, von der auch in „Die feinen Unterschiede“ die Rede ist (Bourdieu 1979/1987: 25), scheint mit dem Spiel mit Grenzüberschreitungen verwandt zu sein.
2.2 E INWÄNDE
UND
P RÄZISIERUNGSPOTENZIALE
Die Sekundärliteratur zu den Studien Bourdieus ist mittlerweile ebenso umfangreich wie die empirischen Anwendungen, die von seinen Konzepten und Untersuchungen inspiriert oder herausgefordert wurden. In diesem Unterkapitel geht es nicht um eine umfassende und systematische Kritik, sondern v.a. um die Diskussion empirischer wie logischer Kritiken und weiterführender Entwicklungen, die thematisch im engen Zusammenhang mit dem Untersuchungsthema stehen. Generell lässt sich Bourdieus Studien nicht vorwerfen, dass ihre Ergebnisse nur in begrenztem Maße auf die derzeitige Situation in Frankreich oder vergleichbaren Ländern anwendbar sind. Dieser Umstand liegt in der „Natur“ der Untersuchungsgegenstände der Sozialwissenschaften selbst begründet, gleichwohl lassen sich einige empirische Leerstellen ausmachen, die es zu beachten gilt, wenn man
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im Anschluss an Bourdieu zeitgenössische Gesellschaften oder soziale Felder untersuchen möchte.13 Im Folgenden sollen die wichtigsten Einwände im Hinblick auf den hier interessierenden Gegenstand diskutiert werden.14 Zunächst sei hierzu eine Vorbemerkung angeführt, die das ambivalente Verhältnis der Arbeiten Bourdieus zur Populärkultur thematisiert. Dies erscheint notwendig, da die vorliegende Arbeit sich mit der Untersuchung grenzüberscheitender Geschmacksphänomene und dabei eben auch elementar mit Populärkultur auseinandersetzt. Zunächst fällt bei der Auseinandersetzung mit „Die feinen Unterschiede“ (1979/1987) die Vernachlässigung bzw. Herabstufung der Populärkultur als Gegenstand auf – davon lässt sich insofern sprechen, als dass sie generell als Mangelkultur dargestellt wird. Dieses Defizit ist sicherlich zum Teil den Regeln und Strukturen des universitären Feldes zur Zeit der Entstehung dieser Studie geschuldet. Populäre Kultur und die Umgangsweisen mit ihr wurden erst im Zuge der Etablierung der Cultural Studies vermehrt als ein eigenständiger wie gleichberechtigter Forschungsbereich institutionalisiert und damit als Gegenstand akademischen Interesses legitimiert (siehe hierzu exemplarisch Albrecht 2010; Göttlich 2010; Winter 2001). Besonders Bourdieus Beschreibungen des Geschmacks der unteren Klassen können mit einigem Recht als unterkomplex und homogenisierend angesehen werden (bspw. Frow 1987; Rigby 1991). Auch wenn zum damaligen Zeitpunkt, die Komplexität des Raums der Lebensstile vielleicht eine andere war, werden die Klassen unterschiedlich detailliert dargestellt. Die Arbeiten aus dem Feld der Cultural Studies haben nachdrücklich gezeigt, dass die Kultur der Arbeiterklasse nicht ausschließlich aus einer Distanz zur herrschenden, d.h. legitimen Kultur zu erklären ist, sondern in sich reichhaltiger ist als dies Bourdieu aufzeigt. Diese Mängel in der Darstellung und Erforschung der Kultur der beherrschten Klasse auf der einen Seite wurden von den klassischen Vertretern der Cultural Studies (Thompson 1963/1987, Hoggart 1957, Williams 1958) nicht begangen.
13 Zu dem Erfordernis, Bourdieus Begriffe immer im Kontext des vorliegenden Textes zu lesen und zu verstehen, tritt ein besonderes Theorie-Empirie-Verständnis hinzu. Denn er steht einer „reinen“ Theorie ablehnend gegenüber, wie einer Arbeitsteilung von empirisch bzw. theoretisch orientierten SoziologInnen (vgl. Wacquant 1992/1996: 55f.). 14 Die Darstellung nimmt dabei die Fokussierungen auf, welche sich in den empirischen Analysen als besonders relevant gezeigt haben und in Teil II der vorliegenden Untersuchung dargestellt werden.
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„Die wichtigsten Vertreterinnen und Vertreter der Cultural Studies versuchen nicht nur, die populäre Kultur als legitimen Forschungsgegenstand der Soziologie zu etablieren. Ihnen geht es, was viel weiter reicht, auch darum, das klassische Verständnis von Kultur hinter sich zu lassen, um auf diese Wiese einen neuen Begriff der Kultur zu konturieren, der alle kulturellen Erscheinungsformen erfasst und somit nicht mehr nur auf die außeralltäglichen Ausformungen der legitimen Kultur begrenzt bleibt.“ (Hillebrandt 2011: 135f.)
Aber dieser im Prinzip begrüßenswerte Vorstoß ist mit ganz eigenen Problemen belastet. Im Vergleich zu Bourdieu fällt die Vernachlässigung der Hochkultur und der Wahl von Extremfällen als Untersuchungsgegenstand – Stichwort Subkulturforschung – auf. Der letztgenannte Punkt kann zum einen in methodischer Absicht vorgebracht werden, zum anderen kann die analytische Relevanz dieser Untersuchungen in Frage gestellt werden, wenn zum Beispiel ein Großteil der Jugendlichen keiner Subkultur angehört (exemplarisch: Otte 2010; Schmidt/ Neumann-Braun 2003). Unabhängig davon wie man sich in diesen beiden Punkten positioniert, lassen sich Korrekturen an Bourdieus Konzepten vornehmen, indem Lehren aus der Subkulturforschung gezogen werden. Ein analytischer Gewinn ist die Einsicht in Distinktionsprozesse jenseits der legitimen Kultur. Aus der Sicht der Cultural Studies lassen sich subkulturelle Musikgenres, die von Außenstehenden abgewertet aber zugleich subkulturintern als höherwertig definiert werden, als Teil einer eigenständigen Distinktionspraxis interpretieren (vgl. Illing 2006: 177f.) „Während Bourdieu sich vorrangig mit der Produktion von Kultur durch die Produzenten kultureller Produkte beschäftigt, die im Feld der Macht an der Aufrechterhaltung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse arbeiten und dadurch die Alltagskultur der beherrschten Klassen implizit und explizit prägen, konzentrieren sich die Cultural Studies auf die kontingente Produktion von Kultur durch die Rezipienten der so hergestellten Produkte.“ (Hillebrandt 2011: 147)
In der Tat lässt sich bei Bourdieu eine Fokussierung auf die legitime Kultur, deren Differenzierungen aber auch deren Abwertung durch das aufwärtsgewandte Streben der mittleren Klassen feststellen. 15 Dabei kommen – wohl auch aus me-
15 Zum Verhältnis von Cultural Studies und Bourdieu: Hillebrandt (2011), Neveu (2005) sowie Jenkins (1982). 1970 erscheint in der von Bourdieu herausgegebenen Reihe „Le sens commun“ die französische Übersetzung von Hoggarts Klassiker mit einer Einleitung durch Passeron. Zudem lädt er Thompson, Williams und Willis in den 1970er Jahren zu Vorträgen ein (Hillebrandt 2011: 134f Fn. 1; Neveu 2005: 204).
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thodischen Gründen – die alltäglichen Gebrauchsweisen der populären Kultur der beherrschten Klasse nur schwerlich in den Blick. Hier legt Bourdieu eine andere, angreifbare Interpretation vor: „Das Populäre ist, verstanden als Geschmack der Notwendigkeit, der als Folge des Mangels erscheint, für Bourdieu immer an die Beherrschung der beherrschten Klasse durch die herrschende Klasse gebunden und erzeugt deshalb nie Kapital im Sinne von Vermögen, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu beeinflussen oder gar verändern zu können. [...] Er steht ihr mehr oder weniger ratlos gegenüber.“ (Hillebrandt 2011: 148f.)
Die Erweiterung der Bourdieuschen Kapitalanalytik um das Konzept des subkulturellen Kapitals, die Sarah Thornton in ihrer Studie „Club Cultures“ (1996) vornimmt, zeigt in produktiver Weise auf, dass einer Erweiterung und Anwendung der Konzepte Bourdieus im Bereich der Populärkultur keine systematischen Gründe im Wege steht. Zeitgenössische Untersuchungen stehen aufgrund fortschreitender Ausdifferenzierung von Hoch- wie Populärkultur vor neuen Herausforderungen. Dazu gehört gerade im Bereich der Musik beispielsweise die heute beobachtbare Vielfalt von Genres und Subgenres, deren Subsummierung unter grobe Kategorien notwendigerweise als unzureichend erscheinen muss.16 Neben der Kritik an der Vernachlässigung der Vielfalt und Differenziertheit der Populärkultur und ihrer unzulässigen Homogenisierung gilt es die Kontexte und Akteurskonstellationen näher zu beleuchten, in denen kulturelles Kapital inkorporiert wird oder mit anderen Worten: in denen der Geschmack geprägt wird. 2.2.1 Generierungsbedingungen von Musikgeschmack In Bezug auf etwas, was stark verkürzt als Generierungsbedingungen von Musikgeschmack bezeichnet werden könnte, soll es hier zunächst um die den individuellen Umgang mit Musik strukturierende Aspekte der Biographie gehen. Mit anderen Worten sollen hier Ereignisse und Erlebnisse des Lebenslaufs thematisiert werden, die biographisch relevant werden und die Umgangsweisen mit Musik bzw. Hörstrategien beeinflussen. Von großem Wert sind hierfür Bourdieus
16 Wobei es eine empirische Frage bleibt, inwiefern Genres für die Orientierung der Akteure die entscheidende Rolle spielen, die ihnen oft zugesprochen wird. Daneben gibt es zum Beispiel Plattenlabels, die für einen bestimmten „Sound“ und eine damit verbundene Ästhetik stehen – wie früher im Jazz „Blue Note“ oder Hardcore-/Punklabels wie „Dischord“.
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Hinweise auf die soziale Bedingtheit kultureller Präferenzen und Praktiken, auch wenn in theoretischer wie empirischer Hinsicht einige Aspekte ergänzungswürdig erscheinen. So wichtig wie bestimmte Akteurskonstellationen für Bourdieu auch sind (Fürsorgeperson-Kind, LehrerIn-Kind) so sehr überrascht es, dass andere Akteure in den empirischen Analysen systematisch vernachlässigt werden.17 So wird die Bedeutung der Peergroups für die Entwicklung von Geschmacksmustern von Bourdieu nicht thematisiert. Wie empirische Studien jedoch zeigen, sind es gerade die Peers, die großen Einfluss auf die Einübung von Geschmacksmustern haben (vgl. Fritzsche 2003; König 2007). Was vor dem Hintergrund dieser Studien notwendig erscheint, ist eine weitere empirisch angeleitete Klärung der Aneignungskontexte und -prozesse für kulturelles Kapital. Beispiele hierfür finden sich nicht nur in der Jugendsoziologie. Insbesondere die Bildungs- und Ungleichheitsforschung, die sich intensiv mit kulturellem Kapital in empirischer wie theoretischer Hinsicht befasst hat, kann hier Verdienste aufweisen (vgl. Lamont/Lareau 1988; Lareau 2003; Lareau/Weininger 2003; Rössel/Beckert-Zieglschmid 2002; Yaish/Katz-Gerro 2012). In diesem Zusammenhang wird auch Kritik geübt, an dem von Bourdieu favorisierten Akteursmodell bzw. an dem von ihm prominent vertretenen Habituskonzept. Denn so „wenig die Bedeutung der in der primären Sozialisation erworbenen Dispositionen geleugnet werden darf, so sehr gilt es, das Ausmaß ihrer Veränderung einer empirischen Überprüfung zu unterziehen. Die ‚Lernfähigkeit‘ der Menschen muss, wenn auch nicht als Normalfall behauptet, so zumindest mitgedacht und mittheoretisiert werden“ (Gebesmair 2001: 135). Diese Lernfähigkeit, von der Gebesmair hier spricht, weist bereits über die strukturierenden Effekte des Feldes der Musik hinaus, da der Hervorbringungscharakter und die Plastizität der Akteure in den Blick geraten. Neben der vernachlässigten Lernfähigkeit bzw. Dynamik des Habitus18 lässt sich zudem fragen, inwiefern Bourdieus Kohärenzannahmen in Bezug auf individuelle Handlungs- bzw. Praxisstile zu weit greifen. In diese Richtung sind die
17 Cicourel (1993) zeigt auf, dass das Habitus-Konzept von Bourdieu zwar in seiner stark strukturtheoretisch angelegten Forschung selten im Hinblick auf institutionalisierte und lokale Situationen angewendet wurde, aber gerade auch für solche Analyseperspektiven ein großes Erkenntnispotenzial birgt. 18 Allerdings sollte nicht verschwiegen werden, dass gerade die relative Trägheit des Habitus in Bourdieus Modell auch ihr Erklärungspotenzial hat. Über den HysteresisEffekt erklärt er beispielsweise die Unangepasstheit von Teilen der algerischen Bevölkerung an die kapitalistischen Wirtschaftsstrukturen, die durch die Kolonialmacht Frankreich forciert wurden (vgl. Bourdieu 1977/2000).
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Kritiken von Bernard Lahire zu lesen, der in „L’homme pluriel“ (1998) und anderen Schriften nach Wegen sucht, die Limitationen des Bourdieuschen Ansatzes konstruktiv durch theoretische Empirie herauszufordern (v.a. Lahire 2004, 2011). Da Lahire sich auch mit Kulturkonsum und dem Phänomen der cultural omnivores beschäftigt hat, werden wir ihm im Kapitel 3.1.4 wieder begegnen. Vorab lässt sich eine zentrale Kritik an Bourdieu dahingehend zusammenfassen, dass dieser der empirischen Ausnahme der elitären und kohärenten Lebensstile – diese konsonanten Kulturkonsumprofile sind laut Lahire empirische Grenzfälle – in seiner Argumentation zu viel Bedeutung einräumt. Ausgehend von der inkorporierten Geschichte führt eine an Bourdieu angelehnte Analyse immer auch zu den strukturierenden Aspekten der sozialen Praxis, die die Akteure in Auseinandersetzung mit der objektivierten Geschichte – im Form von Gegenständen, Feldrelationen usw. – hervorbringen. Deshalb werden sich die folgenden Seiten stärker auf die Praxis der Akteure und deren kreativen Leistungen konzentrieren. 2.2.2 Praktiken des Ordnens Wie oben bereits angesprochen lässt sich sowohl eine Vernachlässigung der Differenziertheit der Arbeiterklassenkultur als auch eine Vernachlässigung der Vielfalt musikalischer Genres bei Bourdieu (zumindest was „Die feinen Unterschiede“ anbelangt) festhalten. Gemessen an der Vielfalt und Dynamik des Felds der Musik, muss eine zeitgemäße Untersuchung offen sein für die zum Teil eklektischen Praktiken des Ordnens, die sich in der alltäglichen Praxis der KonsumentInnen erkennen lassen. Folgt man Lahires Einsicht, dass dissonante Kulturkonsumprofile empirisch der Normalfall sind (vgl. Lahire 2004, 2011) bleibt dennoch die Aufgabe bestehen, die ordnenden Handlungen der Akteure nachzuzeichnen. Mehr noch: unabhängig davon, ob konsonante oder dissonante Kulturprofile empirisch der Normalfall sind, navigieren die Akteure mehr oder weniger kompetent durch die Vielfalt der musikalischen Optionen. Sie geben ihrem eigenen Tun und dem Anderer einen Sinn und klassifizieren die Musik sowie die Hörstrategien, welche ihnen alltäglich begegnen. Dabei darf schließlich die Entwicklung des Felds der Musik nicht völlig außer Acht gelassen werden. 19 Dazu
19 Inwiefern die einzelnen Genrebegriffe unterschiedliche Karrieren aufweisen – in Szenen, als deklassierende Fremdbeschreibung oder von der Musikindustrie geprägt werden – muss an dieser Stelle (noch) nicht interessieren. Wichtig ist hier zunächst festzuhalten, dass der Genrebegriff ein, wenn nicht das wichtigste Ordnungsprinzip für Musik darstellt (vgl. Holt 2007; Lena/Peterson 2008).
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gehören bspw. komplexitätssteigernde Phänomene wie Szenen und Clubkulturen. Diese werden im Folgenden in Kapitel 3.2 zum Thema gemacht. Hier soll zunächst ein Blick auf die Art und Weise gerichtet werden, in der die Akteure symbolische Güter klassifizieren und ordnen. Die Vertrautheit mit Klassifikationen und Kulturformen wird aus Bourdieus Perspektive durch die Familie und die Schule vermittelt. Vor allem in der Mittelklasse kommt eine Aufnahmebereitschaft für Bildung hinzu sowie – in Abhängigkeit von der Bildung – eine allgemein verbreitete und übertragbare Fähigkeit Klassifikationswissen anzuwenden: „Eigennamen, historisch, technische oder ästhetische Begriffe sind daher um so zahlreicher und spezifischer verfügbar, je gebildeter die Betrachter sind, mit denen man es zu tun hat“ (Bourdieu 1968/1974: 187). Jedoch muss an dieser Stelle gefragt werden: besteht hier nicht das Risiko für eine kognitive Engführung (vgl. Gebesmair 2011: 130 Fn 26, 131; Rössel 2009)? Denn Genussformen und das Aneignen von Klassifikationswissen sind, wie Gebesmair zu Recht betont, analytisch getrennt zu fassen. Aber auch dieser Einwand von Gebesmair greift m.E. noch zu kurz. In analytischer Perspektive müsste zwischen impliziten und expliziten Klassifikationswissen auf der einen Seite und Genussformen auf der anderen getrennt werden. Da die „wiederholte Beschäftigung“ mit beispielsweise Punkrock oder italienischer Oper eine „unbewußte Verinnerlichung“ ihrer „Grammatik“ zur Folge hat, kann nicht darauf geschlossen werden, dass dieses Wissen auf Seiten der Akteure explizierbar ist (vgl. Bourdieu 1968/1974: 182). Die Explikationsfähigkeit, bzw. das Besitzen oder Aneignen von kommunizierbarem Klassifikationswissen geht über dieses quasi „muttersprachliche“ Meistern von Kulturformen hinaus. Die Praktiken des Ordnens können in Analogie zu der ersten Ebene der Legitimation ersten Grades bei Berger/Luckmann (1966/1969) betrachtet werden. Hier wird eine sozial vermittelte wie geteilte Sprache zur Anwendung gebracht, um Musik zu benennen und zu sortieren. Aus Bourdieus Perspektive stellt eine „angemessene“, „richtige“ Decodierung den Ausnahmefall dar. Denn: „Die angemessene Wahrnehmung unterschiedet sich von der unangemessensten daher nur durch die Genauigkeit, den Reichtum und die Verfeinerung der angewandten Kategorien.“ (Bourdieu 1968/1974: 187) Aufbauend darauf lässt sich argumentieren, dass Angemessenheit der Interpretation und Evaluation von Musik – im Sinne der gesellschaftlichen Legitimität –, erstens mit ihrer Komplexität und zweitens mit der Verwendung eines legitimen Repertoires zunimmt (Bourdieu 1968/1974: 172ff.). Das soziologisch interessantere Phänomen spielt sich also auf den Ebenen ab, die auf den „reinen“ Klassifikationen aufbauen. Also auf jenen, auf denen Wert zugeschrieben oder abgesprochen und damit über Legitimität entschieden wird. Bei den Praktiken des Ordnens geht es zunächst um die Frage nach dem „was“,
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die die Akteure für sich und andere beantworten. Die Ebenen der Bewertung können und sollten analytisch davon getrennt untersucht werden. Dies geschieht im empirischen Teil dieser Arbeit in den Kapitel 6.1 und 6.2. Ein letzter Punkt, der hier kurz angesprochen werden sollte, betrifft die Frage nach dem angemessenen empirischen Zugang zu den Praktiken des Ordnens (im Feld der Musik). Mit dem Fragebogen, den Bourdieu im Rahmen von „Die feinen Unterschiede“ verwendet, wird in erster Linie die Abweichung von der legitimen Kultur gemessen. Eine Analyse der kreativen Umgangsweisen mit Genrebegriffen und Typisierungen seitens der Akteure gerät mit diesem Untersuchungsinstrument nicht in den Blick. 2.2.3 Praktiken des Legitimierens Die Geltung des legitimen Geschmacks stellt nicht nur empirisch, sondern auch theoretisch ein Problem dar. Denn wie lässt sich die unterschiedliche Wertigkeit von Praktiken und Gütern erklären? Bourdieu geht davon aus, dass die legitime Ordnung von kulturellen Praktiken und Gütern, dieselbe Hierarchie aufweist wie der soziale Raum. Mit anderen Worten: Nicht nur die Ideen der Herrschenden sind die herrschenden Ideen, sondern auch der Geschmack der Herrschenden ist der herrschende Geschmack.20 Bourdieu formuliert das folgendermaßen: „Der gesellschaftlich anerkannten Hierarchie der Künste und innerhalb derselben der Gattungen, Schulen und Epochen korrespondiert die gesellschaftliche Hierarchie der Konsumenten“ (Bourdieu 1979/1987: 18). Diese These ist vielfach kritisiert worden, sowohl aus empirischer wie auch theoretischer Perspektive. Zunächst seien zwei zentrale Argumente Bourdieus hier wiederholt: (a) die Legitimierung der Kultur der herrschenden Klasse erfolgt über verschiedene Institutionen, die über unterschiedliche Grade der Legitimität verfügen (vgl. Bourdieu 1966/1974). (b) Da es sich um Formen der symbolischen Herrschaft handelt, ist die Verkennung des Herrschaftscharakters der Regelfall. Die Herrschenden wie die Beherrschten arbeiten an der Reproduktion des Herrschaftsverhältnisses mit und damit besteht implizit eine Komplizenschaft zwischen ihnen (vgl. König/Berli 2012). Maßgeblich für die dauerhafte Reproduktion dieser Herrschaftsverhältnisse ist dabei die Inkorporierung der symbolischen Herrschaft. Zwei kritische
20 Gegen eine solche Zuspitzung freilich verwehrt sich Bourdieu: „In Wirklichkeit kann ich sagen, meine gesamte Arbeit wurde gegen das angelegt, was dieser Satz sagt und nicht sagt auf einmal, und gleichzeitig annulliert sie diesen Satz nicht, weil das, was er sagt, im Großen und Ganzen wahr bleibt, derart im Großen und Ganzen jedoch, dass es falsch ist“ (Bourdieu/Chartier 2011: 42).
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Punkte lassen sich hier anbringen: Erstens, wie kann sich bei einer fortschreitenden Differenzierung und Autonomie der Felder eine feldübergreifende Dominanz der herrschenden Klasse perpetuieren?21 Zudem ist es eine empirische Frage, ob die unterschiedlichen Fraktionen der herrschenden Klasse, da sie unterschiedliche Positionen im sozialen Raum dominieren, nicht ihrerseits bereits unterschiedliche Legitimitätskriterien22 hervorbringen. Zweitens, lässt sich im Anschluss an DiMaggio (1991) und Gebesmair (2001: 152f.) fragen, ob der Prozess der Institutionalisierung und Legitimierung von kulturellen Gütern eine Inflation zur Folge hat. Die Durchsetzung des universellen Geltungsanspruchs der (bürgerlichen) Kultur hätte damit zugleich den Prozess ihrer Entwertung in Gang gesetzt. Analoge Argumente finden sich in der Literatur in Bezug auf die Folgen der Bildungsexpansion (Geißler 1996: 257ff.). Allerdings zeigt sich ja gerade bei Bildungstiteln, dass eine Titelinflation ein Ausweichen auf höhere Abschlüsse zur Folge haben kann, ohne dass die zugrundliegenden Ungleichheitsrelationen davon betroffen wären. 2.2.4 Praktiken des Sich-Abgrenzens Je nach Lesart kann man behaupten, dass Bourdieu in „Die feinen Unterschiede“ seinen Begriff der Distinktion zu eng bzw. nicht trennscharf genug definiert. Zudem kommt – das ist als empirische Leerstelle zu verbuchen – Distinktion innerhalb von Szenen und Subkulturen bei Bourdieu nicht vor. Aber, wie man mit Illing argumentieren kann, lassen sich auch dort Distinktionspraktiken beobachten: „Distinktion findet in ihnen nach Regeln statt, die sie selbst geschaffen haben, folgt also nicht mehr einer Logik, die von den Klassenfraktionen mit dem höchsten kulturellen oder ökonomischen Kapital ausgeht, wie Bourdieu annahm. Weil sich diese Gruppen damit den
21 Zum Verhältnis von Bourdieus Theorie und differenzierungstheoretischen Ansätzen sei exemplarisch auf folgende Publikationen verwiesen: Bongaerts (2008); Kieserling (2008) sowie Nassehi/Nollmann (2004). 22 Im Zuge der sogenannten „pragmatischen Wende“ innerhalb der französischen Soziologie waren die Arbeiten und Konzepte Bourdieus vielfach Gegenstand intensiver Kritik. Für das vorliegende Untersuchungsinteresse sind jedoch nicht alle dieser Kritiken von unmittelbarem Belang. Anschlussfähig erscheint die Diskussion um die „economies of worth“ oder „Soziologie der Konventionen“ (vgl. Diaz-Bone 2011). Die Herstellung und Zuschreibung von Größe/Würde (Boltanski) kann als Voraussetzung von Distinktion bzw. als Teil der Distinktionspraxis angesehen werden.
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vorherrschenden kulturellen Wertordnungen und Definitionen entziehen, konnte in ihren kulturellen Praktiken eine Art Widerstand (oder zumindest selbstbestimmtes Handeln) dechiffriert werden.“ (Illing 2006: 178)
In dieser Perspektive findet Distinktion also auf allen Ebenen bzw. Geschmacksniveaus statt. Dergestalt kann der Konformismus der Arbeiterklasse bei Bourdieu (1979/1987) auch als Distinktion gegenüber der Mittelklasse interpretiert werden. Bei Bourdieu ist der Geschmackswandel durch die Mechanismen der Distinktion bestimmt. Allerdings ist sein Modell vor allem top-down gedacht. Dabei lässt sich in Anbetracht des Erfolgs von Trends und Moden, die innerhalb von Subkulturen bzw. Szenen entstanden sind, diese top-down Perspektive nicht mehr durchhalten. Denn es sind nicht zwangsläufig die herrschende Klasse und ihre Fraktionen, die kulturellen Wandel erzeugen. Mit Illing lässt sich im Hinblick auf die Erkenntnisse der Cultural Studies formulieren: „Subkulturen werden zu Vorreitern dieses Wandels, zu Trendsettern, die vorwegnehmen, was, im Zuge weiterer massenmedialer Bearbeitung, geeignet ist, neue Bedeutungskontexte zu aktivieren.“ (Illing 2006: 178) Die Aufwertung von Sportbekleidung als Alltagskleidung durch massenmediale Verbreitung subkultureller Praktiken kann hier als Beispiel genannt werden. Am Beispiel von Kleidung wird auch die materielle Dimension von Distinktionspraktiken deutlich. Diese wird jedoch nur selten in distinktionsanalytischen Studien in den Blick genommen (vgl. Gebhardt 2010). Eine letzte offene Frage ist, wie man in Kulturkonsumstudien mit der Indifferenz von Akteuren umgehen kann. Die Mehrheit der potentiell untersuchbaren Akteure sind eben keine Musikliebhaber oder Fashion Victims. Sie sind den untersuchten Phänomenen gegenüber indifferent. Und dieses fehlende Commitment gegenüber Musik, Literatur, Kunst oder vegetarischem Essen gehört ebenso zum objektiven Raum der Möglichkeiten wie die Begeisterung für seltene Bootlegs der favorisierten Band (z.B. Deep Purple). Gerade ein relationaler Ansatz muss diese objektive Möglichkeit der Indifferenz mit in das analytische Raster aufnehmen, um den vollen sozialen Sinn von spezifischen Vorlieben interpretativ erschließen zu können. Wie Gebesmair ausführt, ist das gerade ein Problem, das in strukturalistisch orientierten Ansätzen wie dem Bourdieus auftaucht (vgl. Gebesmair 2001: 208, Fn 37). Die Folge ist, dass ein Nicht-Ablehnen allzuschnell als Toleranz ausgelegt werden kann. Das kann jedoch aus analytischer Perspektive nicht zufrieden stellen. Empirisch ist zudem fragwürdig, ob dem Ekel bzw. der Abneigung gegenüber anderen Lebensstilen wirklich die Bedeutung zukommt, die Bourdieu ihr zuschreibt. War bei Simmel – halb im Ernst,
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halb im Scherz – die Klassenfrage noch eine „Nasenfrage“ (Simmel 1908/1992: 734) so erhebt Bourdieu allgemein den Geschmack zur Klassengrenze (vgl. Bourdieu 1978/1993: 148).
2.3 E LEMENTE EINER UNGLEICHHEITSANALYTISCHEN S OZIOLOGIE DES M USIKGESCHMACKS : Z USAMMENFASSUNG Die Bourdieusche Position dient im Rahmen der vorliegenden Untersuchung wiederholt als Kontrastfolie für die zu diskutierenden Analysen grenzüberschreitenden Musikgeschmacks. Die vorangehende Diskussion dieser ungleichheitsanalytischen Perspektive lässt sich in zwei Schritten rekapitulieren: In einem ersten Schritt wurde zunächst eine Einführung in die Distinktionstheorie Bourdieus gegeben, die sich im Wesentlichen an der Studie „Die feinen Unterschiede“ (Bourdieu 1979/1987) orientiert. Ausgehend von der Darstellung zentraler Konzepte und Annahmen wurde dann – unter Rückgriff auf kleinere Schriften Bourdieus – stärker auf Musikgeschmack als Phänomen abgestellt. Dabei wurde aufgezeigt, dass Bourdieu Musik als kulturelle Praxis wie auch in Form kultureller Güter eine besondere Relevanz zuschreibt (vgl. Kapitel 2.1.2). Mittels musikalischer Präferenzen und Praktiken verorten sich Akteure in der Bourdieuschen Perspektive in doppelter Hinsicht. Zum einem nehmen sie durch ihre (geäußerten) Präferenzen und vollzogenen Praktiken Positionen im Raum der Lebensstile ein, und zum anderen machen sie sich dadurch für andere verortbar. Die Wahrnehmung und Klassifizierung von Praktiken und Präferenzen – aber auch Gütern – basiert für Bourdieu auf den inkorporierten Schemata des Habitus. In Verlängerung der analytischen Konzepte und Annahmen wird dabei eine Reihe von empirischen wie theoretischen Fragen virulent. Dazu zählt beispielsweise die Frage nach dem Generierungsbedingungen von Musikgeschmack oder die Frage nach der Rolle der Körpererfahrung für die musikalische Praxis. In einem zweiten Schritt wurden diese Fragen zum Teil aufgenommen und zentrale Einwände und empirische Irritationen der zuvor dargestellten Perspektive zusammengetragen. Dabei wurde der Fokus auf vier Problemkomplexe gelegt, die sich im empirischen Teil der vorliegenden Untersuchung wiederfinden. Diese Fokussierungen sind im Kern Ergebnis der materialen Analysen und wurden als Selektionskriterien für die mittlerweile sehr umfangreiche BourdieuRezeption genutzt. Zunächst wurde die distinktionsanalytische Sicht auf die (a) Generierungsbedingungen von Musikgeschmack problematisiert. Hier sind vor allem drei Punkt zu nennen, die weiterer Ausarbeitung bedürfen: Erstens werden
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relevante Akteure (wie die Peergroups) von Bourdieu vernachlässigt; zweitens lässt sich das Habituskonzept Bourdieus kritisieren, vor allem im Hinblick auf die geringe Lernfähigkeit bzw. Dynamik des Habitus; drittens erscheint die starke Kohärenzannahme, die das Habituskonzept nahelegt, für zeitgenössische Gesellschaften – bereits Simmel konstatierte zeitdiagnostisch eine Zunahme der „Kreuzung sozialer Kreise“ (1908/1992), mit den entsprechenden Folgen – nur bedingt tragbar. Einen zweiten Problemkomplex bilden die (b) Praktiken des Ordnens. Damit verbindet sich zunächst die Forderung, die Vielfalt und Dynamik des Felds der Musik zu berücksichtigen bzw. dafür offen zu sein. Wie oben angedeutet wurde, zeichnen sich Bourdieus Analysen – vor allem im Rahmen von „Die feinen Unterschiede“ – dadurch aus, dass die Differenziertheit populärer Kultur vernachlässigt wird. Zudem kommt die Praxis der Herstellung von Ordnung durch die Konsumierenden ebenfalls nicht in den Blick. Ein wichtiger Punkt, der im Zuge des empirischen Teils der vorliegenden Arbeit aufgenommen wird. Ein dritter Problemkomplex lässt sich auf das Schlagwort (c) Praktiken des Legitimierens verdichten. Die Geltung des legitimen Geschmacks stellt nicht nur theoretisch, sondern auch empirisch eine Herausforderung dar. Bourdieu geht bekanntlich davon aus, dass eine legitime Ordnung kultureller Güter und Praktiken existiert und diese homolog zum sozialen Raum strukturiert ist. Inwiefern dies für zeitgenössische Gesellschaften zutrifft, lässt sich stark in Frage stellen, da im Zuge fortschreitender Differenzierung – auch innerhalb der herrschenden Klasse – und zunehmender Autonomisierung gesellschaftlicher Felder konkurrierende Hierarchien und Legitimationskriterien wie -strategien der empirische Normalfall sein dürften. Auch hier gilt es, dass die Untersuchung zeitgenössischer Gesellschaften für diese konkurrierenden Praktiken und Kriterien der Legitimierung theoretisch wie empirisch offen sein muss. Als letzter Problemkomplex wurden (d) Praktiken des Sich-Abgrenzens diskutiert. Eine ganze Reihe von Distinktionspraktiken hat in der Bourdieuschen Theorie keinen Platz bzw. diese werden von ihm eher ausgeblendet, wie die ausgewählten Problematisierungen im Kapitel 2.2.4 gezeigt haben. Distinktion und symbolische Abgrenzungen innerhalb von Subkulturen oder Szenen nimmt Bourdieu beispielsweise nicht in den Blick. Empirisch wie theoretisch überzeugender wäre es, davon auszugehen, dass Distinktion nicht nur top-down, sondern auch innerhalb der verschiedenen Geschmackniveaus beobachtbar ist. Zudem lässt sich anmerken, dass die Distinktionspraxis wie auch ihre materialen Aspekte von ihm nur bedingt in den Blick genommen werden (vgl. Gebhardt 2010).
3. Grenzüberschreitender Musikgeschmack als empirische wie theoretische Herausforderung
Im vorangegangenen Kapitel 2 wurde mit der ungleichheitsanalytischen Kultursoziologie Pierre Bourdieus eine der gegenwärtig einflussreichsten Positionen dargestellt, die zur Untersuchung von Phänomenen des kulturellen Geschmacks herangezogen werden kann. Neben der Bourdieuschen Perspektive auf das Verhältnis von sozialer Ungleichheit und kulturellen Differenzen haben sich in den vergangenen Jahrzehnten, v.a. in der internationalen Diskussion, alternative Ansätze zur ungleichheitsanalytischen Untersuchung von Kulturkonsum und -rezeption herausgebildet. Zu den prominentesten zählt sicherlich die „omnivoreunivore“-These, die auf Richard A. Peterson zurückgeht (Peterson 1992; Peterson/Simkus 1992). Zunächst wird auf den folgenden Seiten die Frage untersucht, wie sich diese im Kern zeitdiagnostische These zu Bourdieus Distinktionsanalytik verhält. Dazu werden zentrale Positionen der Omnivore-Forschung und empirische Ergebnisse für den deutschsprachigen Raum zur Darstellung gebracht (Kapitel 3.1). Eine Übersicht zu den zentralen Varianten der These schließt dieses Kapitel ab. Neben dieser im Kern ungleichheitsanalytischen Perspektive gibt es eine Reihe von Ansätzen, die methodisch wie theoretisch alternative Zugänge zu Phänomenen des Musikgeschmacks aufzeigen können. Zu nennen sind hier insbesondere die Subkulturen- und Szeneforschung als auch die „Soziologie der Mediation“, die vor allem innerhalb der Musik- und Kunstsoziologie neue Impulse versprechen (3.2). Das Zwischenfazit (3.3) nimmt für die Untersuchungsfrage relevante Problemstellungen auf, die für eine Erweiterung bzw. Modifizierung einer distinktionsanalytisch orientierten Perspektive instruktiv sind.
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3.1 AUFLÖSUNG ODER V ERLÄNGERUNG D ISTINKTIONSANALYSE ?
DER
Die folgenden Ausführungen widmen sich der „omnivore-univore“-These, wie sie ursprünglich von Richard A. Peterson (1992, 1997a; 2005; Peterson/Simkus 1992; Peterson/Kern 1996; Peterson/Rossman 2007) entwickelt wurde. Grundlegend für die vorliegende Untersuchung ist dabei die Frage, inwiefern das Konzept der „cultural omnivores“ eine Auflösung oder Verlängerung einer distinktionsanalytischen Kultursoziologie darstellt. Zu diesem Zwecke wird in vier Schritten vorgegangen: Zunächst wird die zeitdiagnostische These und der konzeptionelle Entwurf dargestellt, mit dem Peterson arbeitet (Peterson 1992, 1997a, 2005; Peterson/Simkus 1992; Peterson/Kern 1996). Dabei werden zunächst die ‚ursprüngliche‘ Formulierung und anschließend ihre Ausarbeitungen zur Darstellung gebracht (Kapitel 3.1.1). Daran schließt eine erste Übersicht über die Verbreitung und internationale Rezeption der These Petersons und der damit verbundenen Konzepte an (3.1.2). Hier steht zunächst im Fokus des Interesses, in welchen Bereichen und mit welchen Befunden das Konzept angewendet wird und zu welchen zeitdiagnostischen Folgerungen die AutorInnen kommen. Anschließend wird die Rezeption des Konzepts im deutschsprachigen Raum unter Einbeziehung zentraler Ergebnisse dargestellt (Kapitel 3.1.3). Hier zeigt sich eine deutliche Zurückhaltung hinsichtlich der Anwendbarkeit, was vielleicht auch der spezifischen Bedeutung der Lebensstildebatte im deutschsprachigen Raum geschuldet ist. In einem abschließenden vierten Schritt werden distinkte Lesarten des Konzepts gegenübergestellt (3.1.4). 3.1.1 Die „omnivore-univore“-These Die sogenannte „omnivore-univore“-These ist ein Versuch, den veränderten Geschmack von Angehörigen statushoher Gruppen empirisch wie begrifflich zu fassen. Angestoßen wurde die Debatte durch die Beiträge von Richard A. Peterson.1 Mit seiner These weist der Autor die klassische kulturanalytische Sichtwei-
1
Die Darstellung des Entdeckungszusammenhangs in dem Aufsatz „Understanding audience segmentation. From elite and mass to omnivore and univore“ (Peterson 1992) folgt dem Erzählungsmuster einer „zufälligen“, d.h. nicht-intendierten Entdeckung. Inwiefern die Darstellung Petersons ein Beispiel für das serendipity-Muster abgibt, stellt eine eigene Frage dar, die bisher nicht beantwortet wurde. Aus methodologischer Perspektive ergibt sich hieraus die interessante Frage nach den Möglichkeiten der Generierung neuer Konzepte und Theorien im quantitativen Forschungsprozess.
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se sozialer Ungleichheit für die USA zurück, die eine Elite mit einem Elitegeschmack einer undifferenzierten Masse mit einem Massengeschmack gegenüberstellt.2 Die folgenden Ausführungen stellen exemplarisch die Befunde Petersons in ihrer ursprünglichen Fassung dar (vgl. Peterson 1992; Peterson/Simkus 1992). Grundlage der These sind sekundäranalytische Untersuchungen des US-amerikanischen Musikgeschmacks sowie Freizeitverhaltens anhand von SurveyDaten.3 Zunächst zu den Ergebnissen: Zwar korreliert die Zugehörigkeit zu einer statushohen Gruppe mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit Gefallen an ästhetisch hoch angesehener Musik wie Klassik zu finden, gleichzeitig wird die theoretische Annahme eines exklusiven (Musik-)Geschmacks – der keinen Gefallen an Musikformen mit geringem Prestige findet – nicht bestätigt (vgl. Peterson 1992; Peterson/Simkus 1992). Von diesem Zwischenergebnis ausgehend, untersuchen Peterson und Simkus (1992) die Freizeitaktivitäten der Berufsgruppen und stellen fest, dass statushohe Berufsgruppen im Bereich der nicht-elitären Freizeitaktivitäten ebenfalls sehr hohe Werte aufweisen. Die Autoren versuchen dies über eine Veränderung des Elitengeschmacks zu erklären. Als Ausdruck dieses Wandels wird die Kombination der Wertschätzung von Praktiken und Objekten sowohl der Hoch- als auch der Populärkultur definiert: „In effect, elite taste is no longer defined simply as the expressed appreciation of the high art forms and a corresponding moral disdain of, or patronizing tolerance for, all other aesthetic expressions. In so far as this view is correct, the aesthetics of elite status are being redefined as the appreciation of all distinctive leisure activities and creative forms along with the appreciation of the classic fine arts. Because status is gained by knowing about, and participating in (that is to say, by consuming) many if not all forms, the term ‚omni-
2
Dass die Abgrenzung zwischen Hoch- und Populärkultur gerade in den USA weniger virulent ist als in vielen europäischen Ländern, haben bereits frühere Untersuchungen unterstrichen. Exemplarisch sei hier die Studie von Wilensky (1964) genannt (siehe auch Gebesmair 2001: 205).
3
Die Frage, inwiefern „grenzüberschreitender“ Kulturkonsum ein Artefakt der Methode darstellt, kann hier nicht gesondert erörtert werden. Allerdings lässt sich argumentieren, dass die sekundäranalytischen Studien im Bereich der Kulturkonsum- und Rezeptionsforschung häufig damit zu kämpfen haben, dass die Erhebungsinstrumente nicht auf den Untersuchungsgegenstand und die theoretischen Fragestellungen angepasst sind (vgl. zur Datenlage für Deutschland Rössel/Otte 2009). Insofern ist gerade auch im deutschsprachigen Raum die Erhebung und Analyse von Primärdaten in diesem Bereich dringend geboten.
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vore‘ seems appropriate for those at the top of the emerging status hierarchy.“ (Peterson 1992: 252)
In der ursprünglichen Version des „cultural omnivore“-Konzepts drückt sich ein hoher Sozialstatus durch umfangreiches Wissen, grenzüberschreitende Präferenzen und breiten Konsum aus. Am unteren Ende der Statushierarchie stehen die „cultural univores“, die nur an einer oder im besten Fall an einigen wenigen kulturellen Aktivitäten beteiligt sind bzw. Gefallen finden. So ergibt sich für Peterson eine auf dem Kopf stehende Pyramide, in der der „omnivore“ oben steht, weil er im Gegensatz zum „univore“ eine umfangreiche Bandbreite von Präferenzen und Aktivitäten aufweist und damit unterschiedliche Legitimitätsniveaus abdecken kann. Diese erste Hierarchie spiegelt Peterson mit der Statuspyramide.4 Im Wesentlichen fokussiert er für seine These auf die Enden der Statuspyramide und konstatiert einen Wandel der Geschmackskulturen. Anstelle des elitären Hochkultursnobs sieht er den „cultural omnivore“, während auf dem lowbrow-Niveau der „slob“5 durch den „cultural univore“ abgelöst wird (vgl. Tabelle 1).
Taste Highbrow
Snob to Omnivore
Lowbrow
Slob to Univore
Tabelle 1: Ursprüngliche Konzeptualisierung (übernommen aus Peterson 2005: 262) In den daran anschließenden Untersuchungen hat Peterson die Konzeption weiterentwickelt, da sie beispielsweise das Phänomen des Hochkultursnobismus vernachlässigt. So wird in der Untersuchung von Peterson und Kern (1996) die Kategorie der Hochkultursnobs zusätzlich bedacht (vgl. Tabelle 2). In dieser
4
Peterson unterscheidet in dieser Fassung ähnlich wie Bourdieu drei Geschmackskulturen bzw. -niveaus, argumentiert aber überwiegend von den Extrempositionen her: „Those at the top will choose the fine arts and related leisure activities while shunning all others. Those near the middle will choose derivative works and activities, while those groups at the bottom will shun the fine arts and indiscriminately choose sensational and mass-mediated entertainments.“ (Peterson 1992: 246)
5
Die Bedeutung dieses Ausdrucks changiert zwischen Chaot, Tölpel oder auch Faulenzer.
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Konzeption gibt es also zwei Geschmacksmuster, die legitime Kultur im Portfolio haben. Neben dem exklusiven, elitären Geschmack der Hochkultursnobs verortet Peterson den inklusiven Geschmack der „cultural omnivores“.
Breadth of Taste Narrow
Wide
Taste
Highbrow
Snob
Omnivore
Level
Lowbrow
Univore
unexamined
Tabelle 2: Erweiterte Konzeptualisierung (übernommen aus Peterson 2005: 262) Der blinde Fleck dieser Untersuchung war die Ignorierung der Gruppe von „lowbrow omnivores“. In einer gemeinsamen Studie mit Gabriel Rossman (Peterson/Rossman 2007) wird diese vierte Gruppe auf erweiterter Datenbasis mit in die Untersuchung aufgenommen (vgl. Tabelle 3). Die Erweiterung der anfangs dichotom gestalteten Konzeption erscheint zunächst aus empirischer Perspektive nachvollziehbar. Denn in der Tat lassen sich innerhalb der Populärkultur Geschmacksmuster finden, die durch eine Vielfalt von Präferenzen, Wissen und hohen Aktivitätsgrad gekennzeichnet sind.
Breadth of Taste Narrow
Wide
Taste
Highbrow
Highbrow Univore
Highbrow Omnivore
Level
Lowbrow
Lowbrow Univore
Lowbrow Omnivore
Tabelle 3: Erweiterte Konzeptualisierung II (übernommen aus Peterson 2005: 262) Die ursprüngliche (implizite) Stoßrichtung des Konzepts, eine Veränderung der kulturellen Repräsentation sozialer Ungleichheit durch die Strategie der „Grenzüberschreitung“ zu analysieren, geht damit jedoch endgültig verloren. Zudem fällt auf, dass in dieser Zuspitzung des Konzepts das mittlere Geschmacksniveau nicht relevant erscheint. In Bourdieuscher Perspektive ist das erklärungsbedürftig. Denn in „Die feinen Unterschiede“ (1979/1987) sind es gerade die Fraktio-
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nen der Mittelklasse, die mit ihrem „prätentiösen Geschmack“ für Dynamik im Spiel der Distinktionen sorgen (vgl. Kapitel 2.1.1). Im Vergleich zu Bourdieus nicht-trivialem Geschmackskonzept, das sowohl die Struktur von Präferenzen, das (explizierbare) Wissen und die kulturellen Praktiken mit in die Analyse einbezieht, fällt zunächst die Verengung der Perspektive auf. Bei Peterson liegt, vereinfacht gesagt, der Fokus auf der Struktur bzw. dem Umfang der Präferenzen und auf dem Umfang der Aktivitäten. Zudem liegt anders als bei Bourdieu keine relationale Perspektive auf die Praktiken und Präferenzen zugrunde. Vielmehr wird in Anlehnung an Status- bzw. Schichtmodelle eine eindimensionale gesellschaftliche Hierarchie mit einer eindimensionalen Hierarchie von Kultur in Beziehung gesetzt. Erklärt wird der präsentierte Wandel durch die Zunahme sozialer Mobilität, schulische Bildung und den Wertewandel. Bourdieu hingegen bietet grundsätzlich den Kampf um Distinktion als Erklärung für Veränderungsprozesse an, wobei zusätzlich die Verteilungs- und Positionskämpfe in sozialen Feldern auch Auswirkungen auf die gesellschaftliche Legitimität von Kultur haben. Ein Beispiel mag hier die Aufwertung von Populärkultur abgeben, die zeitlich mit Veränderungen im Feld der Kunst einhergeht.6
Vergleichsdimension
Geschmackskonzept
Relationalität
Dynamik
Legitimierung der Wertigkeit
Bourdieu Struktur der Präferenzen, Wissen und Praktiken
Ja, mehrdimensionaler sozialer Raum
Peterson Struktur der Präferenzen, Umfang der Aktivitäten Nein, einfache eindimensionale Hierarchie
Richtung: Top-down, Wettkampf
Wertewandel, soziale
um Distinktion
Mobilität, Schule
Angemessene Decodierung, Illusion des reinen Blicks,
Kosmopolitische Werte
kantianische Ästhetik
Tabelle 4: Vergleich zwischen Bourdieus und Petersons Geschmackskonzepten
6
Am Beispiel des Aufstiegs von Andy Warhol und der Pop-Art hat Nina Zahner die Veränderungsprozesse im Feld der Kunst nachgezeichnet, die zu neuen Hierarchien und Bewertungskriterien führten (Zahner 2006).
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Zudem bleibt eine weitere offene Frage in den Arbeiten Petersons unbearbeitet: welche Kriterien und Akteure sind an der Herstellung von Legitimität von Kultur beteiligt?7 Zieht man die Entkopplungsthese als weitere Vergleichsoption8 in die Betrachtung mit ein, lassen sich weitere Aussagen über das Verhältnis von Bourdieus und Petersons Position treffen: Während Bourdieu die Position vertritt, dass in den Dimensionen soziales Handeln, soziale Identität und auch soziale Wahrnehmung Homologien zu den sozialen Positionen und Trajekten der Akteure festzustellen sind, votiert die Individualisierungstheorie zeitdiagnostisch für Entkopplungsprozesse in diesen Dimensionen. Die „omnivore-univore“These nimmt eine Position ein, die näher an Bourdieu liegt als manchen der ForscherInnen im Feld bewusst sein mag.9 Denn mit Peterson lässt sich für Veränderungen v.a. in den Dimensionen sozialen Handelns und sozialer Identitäten argumentieren, einer Entkopplung wird aber nicht das Wort geredet. Veränderungen in den Strategien der Akteure sind aber gerade ein konstitutiver Bestandteil der Bourdieuschen Feld- wie auch Sozialraumanalyse. 3.1.2 Die internationale „omnivore-univore“-Diskussion Um die zeitdiagnostische These Petersons hat sich eine rege Diskussion entwickelt, die insbesondere um drei Fragen kreist: Erstens, sind die empirischen Beobachtungen und das daraus resultierende Konzept Petersons für die USA zutreffend? Zweitens, lassen sie sich auf andere Länder übertragen? Die Beiträge in „Social Status and Cultural Consumption“ (Chan 2010) lassen diesbezüglich unterschiedliche Schlüsse zu. Eine dritte Frage, die aufgrund der Fokussierung auf Musik als Untersuchungsgegenstand mal implizit, mal explizit verhandelt wird,
7
Dies gilt jedoch vor allem für Petersons Arbeiten zum Phänomen der „cultural omnivores“. In seiner Studie „Creating Country Music“ (1997b) zeichnet er aus soziologischer Perspektive die Entwicklung und Institutionalisierung des Country-Genres nach.
8
In einer Reihe von Aufsätzen haben Chan und Goldthorpe (2007a, 2007b, 2007c) systematisch sowohl Bourdieus Homologie-These, Petersons „cultural omnivore“-These als auch die Individualisierungsthese getestet. Letztgenannte untersuchen sie im Wesentlichen als Entkopplung von Sozialstruktur und kulturellen Differenzen (vgl. Rössel 2005).
9
Dies gilt generell für alle Positionen, die die „omnivore-univore“-These als Alternative zu Bourdieus Aussagen ansehen. Die bereits genannten Aufsätze von Chan und Goldthorpe (2007a, 2007b, 2007c) müssen in diesem Zusammenhang genannt werden. Dabei spricht einiges dafür, Omnivorizität als (neue) Distinktionsstrategie zu lesen.
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ist die Anwendbarkeit des Konzepts auf andere Gegenstandsbereiche, wie beispielsweise Film (Rössel 2006) oder Literatur (Zavisca 2005).10 Mittlerweile existiert eine Vielzahl an Studien, welche die Aussagen Petersons für die USA überprüfen.11 In Bezug auf die erste Frage lässt sich festhalten, dass sich das Konzept der „cultural omnivores“ empirisch für die USA zu bewähren scheint. Forschungsarbeiten zu den USA, die sowohl soziale Ungleichheit als auch kulturellen Konsum und/oder Geschmack im Fokus haben, prüfen zum überwiegenden Teil auch Petersons Konzept, ohne es – von wenigen Ausnahmen abgesehen – grundlegend zu revidieren. Allerdings scheint eine ganze Reihe von Problemen auf, die auch in Bezug auf die internationalen Studien von Relevanz ist (siehe auch Peterson 2005). Zunächst lässt sich argumentieren, dass die Unterschiede in den Ergebnissen sich zum großen Teil durch die Verwendung unterschiedlicher Datensätze wie auch Operationalisierungen des Konzepts erklären lassen (vgl. Binder 2011). Zudem lässt sich natürlich grundsätzlich fragen, ob die viel untersuchte Musik als Indikator für Statusunterschiede und kämpfe die zugeschriebene Relevanz besitzt (vgl. Peterson 2005: 206). Ein weiterer Punkt, der maßgeblich mit der Dominanz bestimmter handlungstheoretischer Annahmen im Feld zusammenhängt, ist die Tendenz sich entweder auf Präferenzstrukturen oder Verhalten zu fokussieren (Berli 2010; Peterson 2005: 205f.). Bezüglich der zweiten Frage lassen sich Studien anführen, die die Übertragbarkeit auf andere Länder untersuchen und/oder ländervergleichend arbeiten.12
10 Hier werden nur die groben Linien dieser Diskussion behandelt, da die verhandelten Detailfragen für das leitende Erkenntnisinteresse von geringer Relevanz sind. Für den Zeitraum bis einschließlich 2004/5 liegt ein Überblicksartikel von Peterson selbst vor, in dem er offene Fragen und Probleme benennt (Peterson 2005). 11 Zu den USA-bezogenen Untersuchungen zählen (ohne Anspruch auf Vollständigkeit): Alderson/Junisbai/Heacock (2007); Bryson (1996), (1997); DiMaggio/Mukhtar (2004); Garcia-Álvarez/Katz-Gerro/López-Sintas (2007); Lizardo (2006); LópezSintas/Katz-Gerro (2005); Sonnett (2004); Tampubolon (2008a). 12 Zu den ländervergleichenden Studien bzw. Studien, die sich nicht auf die USA beziehen, sind folgende zu zählen: Bauernfeind (2008); Coulangeon (2013); Daenekindt/Roose (2014); Erickson (1996); Favaro/Frateschi (2007); Fisher/Preece (2003); Fushman/Lizardo (2013); Katz-Gerro/Jæger (2013); Katz-Gerro/Raz/Yaish (2009); Kraaykamp/Dijkstra (1999); Lizardo/Skiles (2008), (2009); López-Sintas/GarciaÁlvarez (2002), (2004), (2006); Neuhoff (2001); Prieur/Rosenlund/Skjott-Larsen (2008); Rössel (2006); Savage/Gayo (2011); Sullivan/Katz-Gerro (2007); Tanner/Asbridgem/Wortley (2008); Tampubolon (2008b), (2010); van Eijck (2001); van
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Insgesamt lässt sich dabei feststellen, dass aufgrund der unterschiedlichen, historisch gewachsenen Publika für Hoch- und Populärkultur die Übertragbarkeit des Konzepts differenziert zu betrachten ist. So scheint sich die deutliche Trendaussage Petersons (1997a) einzig für den US-amerikanischen Kulturraum zu bestätigen. Darüber hinaus verdeutlichen die vorliegenden Studien die Bedeutung von länderspezifischen Gegebenheiten wie beispielsweise die umfassende Beliebtheit des Genres Chanson in Frankreich, die eine einfache Übertragung von Konzepten und Instrumenten der standardisierten Sozialforschung wesentlich erschweren. Gleichwohl fällt auf, wenn man die untersuchten Länder betrachtet, dass überwiegend westlich geprägte Gesellschaften mit hohem sozio-ökonomischen Standard untersucht werden (v.a. Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Spanien, USA). An diesem Punkt müsste weitergedacht werden, welche institutionellen Voraussetzungen als notwendige Bedingung für das „Auftauchen“ der „cultural omnivores“ gegeben sein müssen (vgl. Meyer 2000; Peterson 1997a, 2005; Gebesmair 2004; Lahire 2011). Hier lässt sich mit Lamont (1992) argumentieren, dass die Zusammenhänge zwischen sozialer Position und kulturellen Differenzen stark länderspezifisch geprägt sind. Sie zeigt diesen Sachverhalt in ihrem Vergleich zwischen Frankreich und den USA deutlich auf. Im Hinblick auf die dritte Frage lassen sich mindestens zwei Untertypen ausmachen: Komparative Untersuchungen, die (a) kulturellen Konsum und Präferenzen über mehrere Bereiche hin untersuchen und (b) Anwendungen des „omnivore“-Konzepts auf andere Konsumfelder als Musik.13 In diesen Studien fallen die Urteile unterschiedlich aus und reichen von Bestätigung bis Anmel-
Eijck/Knulst (2005); van Eijck/Lievens (2008); van Rees/Vermunt/Verboord (1999); Vander Stichele/Laermans (2006); Warde/Gayo-Cal (2009); Warde/Martens/Olsen (1999); Warde/Martens (2000); Warde/Wright/Gayo-Cal (2007), (2008); Zavisca (2005); Zillien/Jäckel (2008). 13 Hier sind v.a. folgenden Untersuchungen zu nennen: Alderson/Junisbai/Heacock (2007); Barnett/Allen (2007); Bellavance (2008); Bennett/Emmison/Frow (1999); Carrabine/Longhurst (1999); Chan/Goldthorpe (2007a), (2007b); Coulangeon/Lemel (2007); DiMaggio/Mukhtar (2004); Emmison (2003); Fisher/Preece (2003); Johnston/Baumann (2007); Katz-Gerro/Jæger (2013); Kraaykamp/Dijkstra (1999); Lizardo/ Skiles (2008), (2009); López-Sintas/Garcia-Álvarez (2002), (2004), (2006); LópezSintas/Garcia-Álvarez/Filimon (2008); López-Sintas/Katz-Gerro (2005); Prieur/ Rosenlund/Skjott-Larsen (2008); Rössel (2006); Sullivan/Katz-Gerro (2007); van Rees/Vermunt/Verboord (1999); Vander Stichele/Laermans (2006); Warde/Martens/ Olsen (1999); Warde/Martens (2000); Warde/Wright/Gayo-Cal (2007), (2008); Woodward/Emmison (2001); Zavisca (2005); Zillien/Jäckel (2008).
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dung eines grundlegenden Revisionsbedarfs. Dabei erscheinen unterschiedliche nationale Traditionen – beispielsweise der öffentlichen Kulturförderung und der institutionellen Arrangements der Konsekration von Kultur – einen maßgeblichen Einfluss auf die empirisch vorfindbaren Geschmacksformationen zu haben. Für die vorliegende Arbeit ist die Annahme leitend, dass die Debatte durch blinde Flecken gekennzeichnet ist, die weitere Fragen aufwerfen: Sind die verwendeten Erhebungs- und Analyseinstrumente angemessen, um differenzierte Aussagen über Geschmacksurteile zu erfassen und konzeptionell zu verarbeiten (vgl. Bellavance 2008; Gebesmair 1998, Ollivier 2008; Warde/Wright/Gayo-Cal 2007)? Diese Frage wird für die vorliegende Untersuchung in Kapitel 4 „Grenzenlos guter Geschmack: methodische Überlegungen“ verhandelt. Eine weitere offene Frage bezieht sich auf die Tragweite des „cultural omnivore“-Konzepts. Unter welchen Bedingungen lässt sich das Konzept des „cultural omnivores“ auf andere soziohistorische Situationen übertragen (Peterson 2005)? Hier wären vergleichende wie konzeptionelle Studien angemessen (siehe dazu auch Katz-Gerro 2011). Gravierender erscheint aber noch folgende Frage aus ungleichheitsanalytischer Sicht: Stellen die empirischen Ergebnisse Bourdieus Distinktionstheorie wirklich in Frage? Oder machen sie eher eine Präzisierung seines Ansatzes unter Beibehaltung seiner zentralen Thesen notwendig? In diese Richtung weisen die Ergebnisse Bethany Brysons (1996), die im Anschluss an die Arbeiten Petersons anhand von Survey-Daten (General Social Survey 1993) den Zusammenhang zwischen der Ablehnung von Musikgenres und symbolischer Exklusion untersucht. 3.1.3 Die deutschsprachige „omnivore-univore“-Diskussion Gemessen an der Vielzahl der Beiträge in englischsprachigen Journals und der empirischen Anwendung und Überprüfung des Konzepts in den USA, Großbritannien, Frankreich, Spanien, Israel und anderen Ländern erstaunt die geringe Zahl von Beiträgen zum Thema im deutschsprachigen Raum. Vielleicht, so ließe sich mutmaßen, erklärt sich diese Zurückhaltung durch die vielfältigen Diskussionen um Lebensstilkonzepte und Individualisierungsphänomene. Innerhalb dieser wurde die Vermischung von Hoch- und Populärkultur, deren Mischungsverhältnisse in verschiedenen Milieus sowie die (partielle) Entkopplung von sozialer Ungleichheit und kulturellen Differenzen vielfach untersucht und diskutiert. Die Rezeption der „omnivore-univore“-Debatte verläuft bisher hingegen vor allem auf theoretischer Ebene (Gebesmair 1998, 2001, 2006), während das Konzept mit den Studien von Gebesmair (2004), Neuhoff (2001), Rössel (2006) und Parzer (2011) nur vereinzelt einer systematischen empirischen Prüfung unterzo-
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gen wurde. Die resultierenden Befunde sind in sich nicht eindeutig, wie der folgende Überblick zeigen wird. Als einer der ersten im deutschsprachigen Raum hat Hans Neuhoff (2001) die „omnivore-univore“-These auf den Prüfstand gestellt. Er untersucht musikalische Präferenzen anhand von Daten aus einer Besucherumfrage. Dabei äußert er sich sehr kritisch bezüglich der Übertragbarkeit des Konzepts in den deutschsprachigen Kulturraum, vor allem im Hinblick auf die unterschiedlichen institutionellen Settings im Hochkulturbereich (v.a. Neuhoff 2001: 769ff.). Im Kern geht er davon aus, dass im Bereich der Musikrezeption in Deutschland weiterhin ein Hochkultursnobismus weit verbreitet ist, der in dieser Ausprägung in den USA nicht oder nicht mehr zu finden sei. Zwar zeigt sich bei Neuhoff, dass die Offenheit gegenüber Populärmusik innerhalb der Gruppe der „HighbrowMusikhörer“ vom Alter abhängt, die Schlussfolgerungen sind jedoch andere, denn die Offenheit von KlassikhörerInnen gegenüber anderen, populären Genres bedeute noch keineswegs „Allesfresserei“ (vgl. Neuhoff 2001: 770).14 Zudem stellt Neuhoff die Frage, ob Omnivorizität als empirisches Phänomen als Indikator für die Irrelevanz eines Guts als Statussymbol dienen könne (Neuhoff 2001: 770f.). Kritisch einwenden lässt sich Bezug nehmend auf die Analysen Rössels (2006: 263f.), dass die BesucherInnenstichprobe, die Neuhoff verwendet, stark verzerrt ist. In Neuhoffs Studie sind hochkulturorientierte Personen deutlich überrepräsentiert, was die Aussagekraft seiner Analysen nachdrücklich relativiert. Deutlich offener gegenüber dem „cultural omnivore“-Konzept sind die Arbeiten von Andreas Gebesmair (1998, 2001, 2004, 2006). In einer Reihe von konzeptionellen und empirischen Arbeiten macht er sich um die Rezeption des Konzepts im deutschsprachigen Kontext verdient. In seiner empirischen Studie „Renditen der Grenzüberschreitung“ (2004) untersucht er sekundäranalytisch die Vorlieben und Grenzüberschreitungen von MusikhörerInnen in Deutschland.15 Dabei geht es ihm um eine theoretische wie empirische Prüfung der Kapitaltheorie Bourdieus. Anders als Neuhoff (2001) schätzt er den Erkenntnisgewinn des Konzepts der „cultural omnivores“ deutlich höher ein (siehe auch Gebesmair 1998). Zu den Ergebnissen seiner Untersuchung seien an dieser Stelle lediglich
14 In den deutschsprachigen Publikationen werden zum Teil die Begriffe „Allesfresserei“ oder „Allesfresser“ als Übersetzung ihrer englischsprachigen Pendants genutzt. Da jedoch die negative Konnotation dieser Begriffe im Deutschen stärker wiegt als im Englischen, verzichte ich bewusst auf diese sprachliche Option. 15 Er verwendet dazu den ALLBUS-Datensatz 1998. Die folgenden Aussagen beziehen sich auf die westdeutsche Bevölkerung.
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einige Punkte angemerkt: Gebesmair zeigt, dass der durchschnittliche Umfang der Interessen und Vorlieben zwischen der „Oberschicht“ und anderen Statusbzw. Berufsgruppen sich nur unwesentlich unterscheidet. Ein relevantes Ergebnis ist die wesentlich größere durchschnittliche Anzahl von Grenzüberschreitungen von Hochkultur zu Populärkultur durch Angehörige der „Oberschicht“, die ihr größtes Ausmaß in der Altersgruppe von 18 bis 39 Jahre annimmt (vgl. Gebesmair 2004: 194). Er folgert daraus, dass die Grenzüberschreitungen innerhalb der Oberschicht am häufigsten vorkommen und zudem vom Alter abhängen. Je jünger die Befragten sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit einer grenzüberschreitenden Praxis. Forschungsstrategisch könnte dieses Teilergebnis dahingehend gelesen werden, dass vor allem bestimmte Kohorten oder Generationszusammenhänge die Trägergruppen grenzüberschreitenden Geschmacks sind. Diese Einsicht hat vor allem für Studien mit theoretisch konstruierten Stichproben Relevanz (vgl. Kapitel 4). Betrachtet man die Präferenzen innerhalb der „Oberschicht“ genauer, lässt sich zudem zeigen, dass in Deutschland – ein wenig überraschender Befund – die Präferenzen für bestimmte musikalische Stile und Praktiken auch innerhalb dieser Gruppe stark vom Alter abhängen. Auch die weiteren Befunde in der Studie von Gebesmair deuten darauf hin, dass Hochkulturelitismus nicht die Bedeutung zukommt, die aufgrund Bourdieus Thesen zu erwarten wäre. Im Gesamtergebnis kommt Gebesmair zu folgendem Schluss: „Wenn auch feine Distinktionen in Teilkulturen (oder Feldern, wie Bourdieu sagen würde) zweifelsohne nach wie vor eine große Rolle spielen (so etwa im künstlerischen Feld, wo ästhetische Innovationen und Distinktionen ja konstitutiv sind für die Logik des Feldes), so scheint die Reproduktion sozialer Ungleichheiten in modernen Gesellschaften immer weniger auf der Basis kultureller Exklusivität zu funktionieren […] Pop- und Rockmusik, Actionfilme, ein auf Spannung und Erlebnis ausgerichteter Lebensstil hat Gebildete und weniger Gebildete in ihrer kulturellen Praxis näher gebracht, nicht aber die sozialen Gegensätze beseitigt.“ (Gebesmair 2004: 199)
Eine weitere instruktive Studie liegt mit Jörg Rössels „Allesfresser im Kinosaal“ (2006) vor. Rössels Vorhaben, das „cultural omnivore“-Konzept anhand einer empirischen Analyse von KinobesucherInnen zu prüfen, begründet der Autor damit, dass es sich „beim Film um eine Art des künstlerischen Ausdrucks [handelt], die einerseits schwächer hierarchisiert ist als die Musik und sich andererseits besonders für unterschiedliche Rezeptionsformen – je nach kulturellem Kapital des Zuschauers – eignet [...]“ (Rössel 2006: 265). Hier seien die Hürden für Hochkulturorientierte geringer, auch Vorlieben für Populärkultur zu entwickeln
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und folglich müsste sich Omnivorizität in diesem Feld gut beobachten lassen. Dagegen ist kritisch einzuwenden, dass aus einer distinktionstheoretischen Perspektive gerade in stark hierarchisierten Bereichen wie der Musik die Distinktionsgewinne größer ausfallen können und die mit Grenzüberschreitungen verbundenen Risiken diese Gewinne eben erst ermöglichen. Das würde bedeuten, dass Grenzüberschreitungen in stark hierarchisierten Kulturbereichen besonders „renditeträchtig“ sind. Folgt man diesem Argument, so lassen sich in einem schwach hierarchisierten kulturellen Subfeld wie Film nur geringe Differenzen zwischen den Präferenzen und Praktiken von Hochkulturorientierten und Anderen ausmachen.16 Der empirische Teil von Rössels Studie (vgl. Rössel 2006: 265ff.) beruht auf einer schriftlichen Besucherbefragung von Leipziger KinobesucherInnen. Erhoben wurden Fragen zu Filmgeschmack, Rezeptionsverhalten, lebensstilrelevanten Vorlieben und sozialstrukturellen Merkmalen der Befragten. Um eine Verzerrung wie in Neuhoffs Studie zu vermeiden, wurden die Subgruppen (Hochkulturorientierte, Andere) anhand der Musikpräferenzen eingeteilt. Geprüft wurden drei Lesarten des Konzepts der „cultural omnivores“17 anhand filmspezifischer Indikatoren. Im Vergleich zeigt sich: „hochkulturorientiere Personen kennen mehr Filmarten und Beispielfilme, sie haben mehr Beispielfilme gesehen, sie haben eine breitere Vorliebe für Filmgenres und sind gegenüber einer größeren Anzahl von Filmarten tolerant. Allerdings sind die substantiellen Unterschiede zwischen den beiden Vergleichsgruppen doch sehr gering“ (Rössel 2006: 266f.). Bei der Prüfung der sozialstrukturellen Verortung der Befragten zeigt sich, dass sich „keinerlei Hinweise auf eine soziale Grundlage für Prozesse der Distinktion durch einen breiten Geschmack im Sinne des Phänomens der kulturellen Allesfresser“ zeigen lassen (Rössel 2006: 267). Geprüft wurde die Bildung der Befragten als auch die Bildung der Eltern als Indikatoren für das kulturelle Kapital der Befragten. Außerdem wurden Alter und Geschlecht als erklärende Variablen geprüft. Abschließend lassen sich laut Rössel auch keine Hinweise auf die Gültigkeit der These der strukturierten Toleranz (vgl. Bryson 1996) in den Daten finden (Rössel 2006: 268). Im Gegensatz zu Neuhoff (2001) geht Rössel (2006) jedoch nicht von einem Fortbestehen des Hochkultursnobismus in Deutschland aus,
16 Zur historischen Aufwertung des Films siehe die Studie „Hollywood Highbrow“ von Shyon Baumann (2007). 17 Rössel bezieht sich dabei auf Peterson/Kern (1996), das Konzept der kulturellen Mobilität von Michael Emmison (2003) sowie das Konzept der strukturierten Toleranz (Bryson 1996). In Teilen werden diese Lesarten im anschließenden Unterkapitel 3.1.4 wieder aufgenommen.
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sondern interpretiert seine Ergebnisse als Ausdruck „dosierter Grenzüberschreitungen“ (Rössel 2006: 270). Als Schlussfolgerung für die empirische Forschung lässt sich mit Rössel eine differenzierte Erforschung der je spezifischen symbolischen Praktiken der Grenzüberschreitung zwischen Hoch- und Populärkultur und ihrer sozialen Grundlagen fordern (vgl. Rössel 2006: 280). Dieser Hinweis kann hier aufgegriffen und produktiv weiterentwickelt werden. Insgesamt ergibt sich mit Blick auf den aktuellen Forschungsstand, dass eine in der Empirie begründete theoretische Fundierung der Analyse des Verhältnisses von kultureller Repräsentation und sozialer Ungleichheiten nach wie vor aussteht (im Hinblick auf die Lebensstilforschung vgl. Rössel 2008). Auch bei langfristiger Stabilität der Ungleichheitsverhältnisse in Deutschland (vgl. Mayer 2004) erscheint die Untersuchung ihrer wandelnden kulturellen Ausdrucksformen ein empirisch wie theoretisch lohnenswertes Unterfangen. 3.1.4 Lesarten des „cultural omnivore“-Konzepts Wie bereits aufgezeigt, hat sich um die Thesen Petersons eine rege Diskussion entwickelt. Für die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen sozialer Ungleichheit und kulturellen Unterschieden erscheint das Konzept der „cultural omnivores“ als fester Bestandteil des State of the Art. Eine Reihe der Studien bietet alternative Lesarten und Vorschläge zur Konzeptualisierung der „cultural omnivore“-These an (Bryson 1996; Gebesmair 2004, 2006; Katz-Gerro 2004; Lahire 2011; Ollivier 2004; van Eijck 2000; van Eijck/Knulst 2005; Wuggenig 2007). Problematisch erscheint vor allem, dass es mehrere Abweichungen vom Zuschnitt des Konzepts des „cultural omnivores“ gibt. Besonders hervorheben lassen sich vor dem Hintergrund einer an Bourdieu orientieren Kultursoziologie vier Punkte (siehe auch Berli 2010): Erstens, die Fokussierung auf Präferenzen anstatt Präferenzen, Wissen und kulturelle Praxis zu untersuchen. Gerade im Anschluss an die Diskussion des Bourdieuschen Instrumentariums in Kapitel 2 sollte deutlich geworden sein, dass ein mehrdimensionales Geschmackskonzept theoretisch anschluss- wie empirisch leistungsfähig erscheint. Zweitens, die Untersuchung der Breite der Präferenzen statt der Struktur der Präferenzen (siehe auch Coulangeon/Lemel 2007).18 Wird forschungspragmatisch auf die Anzahl von 18 Im Hinblick auf die unterschiedlichen Konzepte, die auf den vergangenen Seiten vorgestellt wurden, muss hinzugefügt werden, dass es auch eine Reihe von konkurrierenden Operationalisierungen gibt. Diese haben nicht-triviale Folgen für die Einschätzung der empirischen Geltung der „cultural omnivore“-These (vgl. Binder 2011). Zwei dominante Varianten sind die Operationalisierung über (a) die Struktur der Präferenzen sowie über (b) den Umfang der genannten Präferenzen. Zur Diskussion der
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Präferenzen abgestellt, geht die soziale Bedeutung von bestimmten „Mischungsverhältnissen“ verloren. Denn eine kulturelle Praxis, die legitime wie illegitime Kultur umfasst, ist deutlich etwas anderes als ein populärkultureller „Querbeetgeschmack“ (Parzer 2011).
Lesart Omnivorizität
VertreterInnen
Kollektivistisch Performanz Peterson, Bryson Struktur der
Individualistisch
Kompetenz
avant la lettre
Emmison
Schulze
Präferenzen,
Aktivitäten,
Präferenzen,
Operationali-
Umfang der
Kompetenzen;
Verhalten,
sierung
Aktivitäten;
objektiviertes
alltagsästheti-
Struktur der
kulturelles
sche Schemata
Abneigungen
Kapital
Soziale Funktionen
symbolische
Distinktion,
und soziale
Interaktionsres-
Grenzziehun-
source
gen
Erklärungen
Schule,
für Wandel
soziale Mobilität
individuelle Variationen der Präferenzen; InterKlassen-
Distinktion,
Inter- wie
milieuinterne
intraindivi-
Kommunika-
duelle
tion
Distinktion
rung, bedingte Pluralisierung,
Lahire
Unterschiede
IndividualisieWertewandel,
Normalfall
Intra-
Präferenzen,
Distinktion;
empirischer
Entkopplung,
sozialstruktu-
Entstehung
reller Wandel
von Erlebnisorientierung und –markt
Soziale, schulische oder berufliche Mobilität; Schwächung kultureller Legitimität
Tabelle 5: Lesarten von Omnivorizität
angemessenen Konzeptualisierung siehe auch die Beiträge von Peterson (2007) und Chan/Goldthorpe (2007d).
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Des Weiteren erscheint drittens aus theoriegenerierender Perspektive die Kontextfreiheit der standardisierten Untersuchungen eine Weiterentwicklung der Theorie kultureller Repräsentation sozialer Ungleichheit systematisch zu verhindern. Die Berücksichtigung des Kontextes von Kulturkonsum und -rezeption und deren Bedeutung wird mittlerweile von VertreterInnen unterschiedlicher methodischer wie theoretischer Traditionen gefordert (bspw. Gebesmair 1998: 16). Im Anschluss an diesen Gedanken lässt sich viertens eine Gruppe von Arbeiten ausmachen, die vor allem methodisch andere Wege geht und entweder mit Methodenkombination oder rein qualitativ orientiert vorgeht (Bellavance 2008; Ollivier 2008; Parzer 2011; Warde/Gayo-Cal 2007, 2008, 2009). Aus Sicht des Autors bieten vor allem diese Studien aufgrund der Wahl methodischer Alternativen die größten Chancen für die konstruktive Weiterentwicklung der Omnivorizitätsforschung. In systematischer Absicht sollen nun unterschiedliche Lesarten (musikalischer) Omnivorizität gegenübergestellt werden. Dabei werden vier Varianten unterschieden und anhand exemplarischer Positionen gegenübergestellt. Grundsätzlich werden zwei Gruppen mit jeweils zwei Untervarianten vorgestellt. Die erste Gruppe stellt stärker auf kollektivistische Beobachtungs- und Erklärungsmuster ab, während die zweite Gruppe mit Individualisierungsprozessen als Erklärungsressource operiert. 3.1.4.1 Kollektivität als Erklärungsmuster Kollektivität als Erklärungs- wie Beobachtungsmuster findet sich innerhalb der „cultural omnivore“-Diskussion in mindestens zwei Varianten. In der Ersten wird vor allem auf Omnivorizität auf der Ebene der Performanz abgestellt. Zu dieser Variante sind Petersons Beiträge ebenso zu zählen wie Brysons Lesart, dass es sich bei Omnivorizität um eine Art strukturierter Toleranz handelt. Daneben lässt sich eine kollektivistisch argumentierende Lesart ausmachen, die Omnivorizität als kulturelle Kompetenz versteht. Hier ist erstrangig das Konzept der „kulturellen Mobilität“ von Michael Emmison als Beispiel zu nennen. (a) Omnivorizität als Performanz: Eine Reihe der Studien zur „cultural omnivore“-These versteht das Phänomen als Ausdruck einer spezifischen Offenheit oder auch strukturierten Toleranz (Bryson 1996; Gebesmair 1998; Ollivier 2008). In dieser Lesart kann Omnivorizität als neue Form der Exklusivität verstanden werden, die in der Struktur der Präferenzen am deutlichsten zum Ausdruck kommt. In diese Richtung weisen zuerst die Ergebnisse Bethany Brysons (1996), die im Anschluss an die Arbeiten Petersons anhand von Survey-Daten (General Social Survey 1993) den Zusammenhang zwischen der Ablehnung von Musikgenres und symbolischer Exklusion untersucht. Damit geht sie forschungsprag-
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matisch einen anderen Weg, da typischerweise die Präferenzen für bestimmte Genres untersucht werden (Bryson 1996: 884). Ihre Grundannahme lautet: „Individuals use cultural taste to reinforce symbolic boundaries between themselves and categories of people they dislike“ (Bryson 1996: 885). Die Ergebnisse der Autorin zeigen erstens, dass sich zwar eine Öffnung des Geschmacks feststellen lässt, aber dass diese wiederum alles andere als willkürlich ist. Toleranz scheint, so die Autorin, als neues Merkmal eines hohen Sozialstatus zu dienen und in Abgrenzung von gruppenbasierter Kultur als neues Exklusionskriterium zu fungieren (vgl. Bryson 1996: 897).19 Aufgrund dieser Interpretation formuliert sie eine Reihe von Fragen, die aus ihrer Sicht für die Kultursoziologie zu verfolgen sind. Vor allem zwei Punkte sind hier von besonderem Interesse (vgl. Bryson 1996: 897): Erstens, die Untersuchung von Geschmacksurteilen, da die Untersuchung was konsumiert wird, nicht die Frage ersetzen kann wie konsumiert wird, beziehungsweise wie die konsumierten Objekte interpretiert werden. Zweitens, die Frage nach den Effekten von Geschmack und die Frage wie sich der Geschmack im alltäglichen Leben ausdrückt. Neben der Operationalisierung, die Bryson vornimmt („dislikes“ statt „likes“), lässt sich aus dieser spezifischen Lesart des omnivore-Phänomens die Aufmerksamkeit für die „Grenzen“ der Toleranz mitnehmen, die auf den Fortbestand vielfältiger Grenzziehungen hinsichtlich der Legitimität unterschiedlicher Genres und Stile angewiesen ist. (b) Omnivorizität als kulturelle Kompetenz: Eine zweite Lesart des „cultural omnivore“-Konzepts setzt daran an, Omnivorizität als spezifische kulturelle Kompetenz zu verstehen. Zum Teil wird damit verbunden, dass diese Kompetenz im Zuge gesellschaftlicher Pluralisierungsprozesse funktional für bestimmte Gruppen ist (Emmison 2003; Peterson/Kern 1996). Die Betonung des Werts von (Populär-)Kultur als Interaktionsressource ist dabei keineswegs neu (vgl. Fine 1977). Diese spezifische Lesart des „cultural omnivore“-Konzepts findet sich in den Arbeiten von Michael Emmison (2001, 2003), die in Folge einer australischen Repräsentativstudie20 entstanden sind. Michael Emmison geht in Anlehnung an Herbert Gans (1966, 1974) davon aus, dass unterschiedliche Geschmacksniveaus und -publika weiterhin Bestand haben. Seine spezifische Lesart der „cultural omnivore“-These basiert auf der Annahme, dass weiterhin sepa-
19 Andreas Gebesmair spricht in diesem Zusammenhang in Anlehnung an die Terminologie Veblens von „demonstrativer Toleranz“, die sich als historisch neue Form der Distinktion herausbilde (vgl. Gebesmair 1998: 16). 20 Die Ergebnisse des „Australian Everyday Cultures“-Projekts wurden in der Monografie „Accounting for Tastes“ dokumentiert (Bennet/Emmison/Frow 1999).
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rate kulturelle Sphären mit unterschiedlicher Wertigkeit existieren. Der „cultural omnivore “ besitzt dann eine spezifische Kompetenz: „Cultural mobility is the capacity to navigate between or across cultural realms, a freedom to choose or select one’s position in the cultural landscape.“ (Emmison 2003: 213) Im Rahmen seiner Auswertungen übt er zudem Kritik am analytischen Zuschnitt des „cultural omnivore“-Konzepts. In diesem werde die Differenz zwischen „‚tastes or preferences‘ and ‚knowledge or competence‘“ analytisch nicht sauber getrennt (Emmison 2003: 222). Diese Kritik und die Konzeptualisierung von Omnivorizität als kulturelle Kompetenz sind nicht direkt in eine praxistheoretische Perspektive übertragbar. Da beispielsweise Bourdieu Geschmack nicht auf Präferenzen reduziert und die Frage offen bleibt, welches Wissen hier für die unterstellte Kompetenz von Bedeutung ist. Gleichwohl erscheint es lohnenswert, Emmisons Lesart nicht leichtfertig als inkompatibel abzutun. Denn das Spiel mit Gütern und Praktiken unterschiedlicher Legitimität ist keineswegs voraussetzungslos, wie in Kapitel 2.1.2 aufgezeigt wurde. Die berechtigte Frage bleibt, wie sich diese Prozesse empirisch vollziehen. 3.1.4.2 Individualisierung als Erklärungsmuster Neben diesen beiden Erklärungs- und Beobachtungsmustern, die Omnivorizität aus einer kollektivistischen Perspektive bearbeiten, sind auch Lesarten ausmachen, die in einer individualistischen Perspektive argumentieren. Naheliegend ist, zunächst die deutschsprachige Literatur zu Individualisierungsphänomenen hierzu zu befragen. Eine erste Variante könnte als „Omnivorizität avant la lettre“ bezeichnet werden. Hierzu lässt sich geradezu mustergültig Schulzes Studie „Die Erlebnisgesellschaft“ (1992/2005) zählen. Neben dieser deutschsprachigen Variante der Entkopplungsthese findet sich in den Arbeiten von Bernard Lahire eine gemäßigte Variante der Individualisierungstheorie, die zwar Omnivorizität als empirischen Normalfall anerkennt, aber trotzdem versucht für klassenanalytische Perspektiven offen zu bleiben. (c) Omnivorizität avant la lettre: Eine dritte Variante, über Omnivorizität nachzudenken, findet sich in den Beiträgen zum Thema Individualisierung und Lebensstile. Prominente Beiträge dieser v.a. in Deutschland intensiv geführten Diskussion reden einer Entkopplung von sozialer Ungleichheit und kulturellen Differenzen das Wort. Einen der prominentesten Beiträge aus der Debatte zur horizontalen Diversifizierung ästhetischer Schemata und damit zum Relevanzverlust der Distinktion zwischen Hoch- und Populärkultur stellt Gerhard Schulzes Studie „Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Moderne“ (1992/2005) dar. Schulze verbindet modernisierungstheoretische Annahmen bezüglich eines statt-
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findenden Wertewandels bei gleichzeitigem Bedeutungsverlust traditioneller ungleichheitsstrukturierender Merkmale mit der weitreichenden zeitdiagnostischen Deutung, dass ein Wandel zu einer „Erlebnisorientierung“ hin stattfinde. Seine Verbindung von Zeitdiagnose und Sozialstrukturanalyse hat aus methodischer und theoretischer Sicht umfangreiche Kritik herausgefordert (zur Übersicht der Kritik und kritischer Würdigung der Studie siehe Rössel 2003). Die Position der VertreterInnen der Individualisierungsthese steht somit der Bourdieus diametral gegenüber. Sie lässt sich zusammenfassend dadurch charakterisieren, dass sowohl der Klassen- als auch der Schichtbegriff als untauglich angesehen werden, um „hochentwickelte“ Gesellschaften wie die Bundesrepublik Deutschland adäquat zu beschreiben. Moderate VertreterInnen der These betonen die Bedeutung von ungleichheitsrelevanten Faktoren neben den klassischen, während in der radikaleren Version unter Einfluss postmodernen Gedankenguts die subjektive Freiheit zur Wahl eines Lebensstils als Möglichkeit der Individuierung postuliert wird (vgl. Chan/Goldthorpe 2007a: 170). Im Gegensatz dazu scheint es angebracht, eine differenzierte Erforschung der je spezifischen symbolischen Praktiken der Grenzüberschreitung zwischen Hoch- und Populärkultur und ihrer sozioökonomischen Grundlagen zu fordern (vgl. Rössel 2006: 280). (d) Omnivorizität als empirischer Normalfall: Eine vierte Lesart zeichnet den grenzüberschreitenden Geschmack als empirischen Normalfall nach. Hierauf weisen aus heutiger Perspektive bereits die frühen Kritiken zu Bourdieus Arbeiten hin, die deren Übertragung auf den deutschsprachigen Raum geprüft haben (bspw. Blasius/Winkler 1989). Vor allem die fortschreitende Ausweitung des Konzepts durch Peterson selbst (vgl. 3.1.1) zeigt auf, dass Omnivorizität auf allen Niveaus zu finden ist. Wie Parzer in seiner Untersuchung zu Online-Foren nachweisen konnte, finden sich im deutschsprachigen Raum auch im Bereich der populären Musik vielfältige Grenzüberschreitungen (Parzer 2011). Eine theoretisch elaborierte Variante grenzüberschreitenden Geschmack zu analysieren, findet sich in den Arbeiten von Bernard Lahire (2004, 2011). Er versucht mit seinem Entwurf die Ergebnisse und Thesen Petersons einzufangen und über diese hinauszugehen (2011: 59ff.). Seine Forschungsstrategie zielt darauf ab, nicht ausschließlich die Variationen zwischen Großgruppen (wie beispielsweise Klassen) in den Fokus zu stellen, sondern zuerst in systematischer Absicht die „intraindividuellen Variationen“ zu untersuchen. Denn empirisch stellt sich für Lahire in dieser Perspektive die soziale Wirklichkeit wie folgt dar: „Was auch immer seine sozialen Eigenschaften sein mögen (soziale Schichtzugehörigkeit, Schulbildung, Alter, Geschlecht), die statistischen Chancen stehen sehr hoch, dass ein und
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dasselbe Individuum bei näherer Betrachtung der einzelnen Kulturbereiche (Kino, Musik, Literatur, Fernsehen usw.) und der Umstände der Praxis eine große Varianz hinsichtlich der kulturellen Legitimität seiner Praktiken und Geschmäcker aufweisen.“ (Lahire 2011: 42)
In den quantitativen Analysen zeigt sich, dass der Anteil der Personen, die sich vollständig auf legitime bzw. illegitime kulturelle Praktiken und Präferenzen konzentrieren, sehr gering ist.21 Der empirische „Normalfall“ ist also eine je spezifische Vermischung von Genres, kulturellen Praktiken und Präferenzen auf unterschiedlichen Legitimitätsniveaus. Untersuchungsstrategisch gewinnen hier qualitative Interviews an Relevanz, die in der Auswertung zu „individuellen kulturellen Portraits“ verdichtet wurden. Damit soll eine Aufgabe der Soziologie eingelöst werden, die nur auf diesem methodischen Wege erfüllbar zu sein scheint: „Die Soziologie muss sich der Aufgabe stellen, die ganze Bandbreite der Gefühle und Beziehungen in Bezug auf die Kultur zu erfassen, von den leidenschaftlichsten bis hin zu den abgekühltesten, hinweg über alle anderen Formen, darunter den erzwungensten, außergewöhnlichsten oder zögerlichsten […] es muss wieder an sie erinnert werden, um vor dem Leser kein falsches Bild von einer sozialen Welt aus stets engagierten, leidenschaftlichen oder überzeugten Akteuren mit stets klaren Meinungen, Vorlieben oder Stilen entstehen zu lassen.“ (Lahire 2011: 45)
Vor diesem Hintergrund lässt sich fragen, ob die Perspektive auf Omnivorizität als „Elitenstrategie“ nicht fehlleitet. Ähnlich wie Bourdieu vorgeworfen werden kann, den populären Geschmack vor allem über die Distanz zum legitimen Geschmack zu beschreiben, wäre es vermutlich ein Fehler, am Begriff des „cultural omnivores“ festzuhalten. Der empirischen Realität angemessener und theoretisch konsequent erscheint es vielmehr, die Prozesse der symbolischen wie sozialen Grenzziehung mittels Kultur auf allen Niveaus zu untersuchen.
21 Die Legitimität der kulturellen Praktiken hängt laut Lahire neben der Publikumszusammensetzung von spezifischen Eigenschaften dieser Aktivitäten ab. Hierzu zählen, „ob sie individuell oder gemeinsam, organisiert oder unorganisiert, formell oder informell, streng oder locker, kontemplativ oder partizipativ ausgeübt werden“ (Lahire 2011: 43).
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3.2 J ENSEITS DER UNGLEICHHEITSANALYTISCHEN P ERSPEKTIVE – ALTERNATIVE ANSÄTZE DER K ULTUR - UND M USIKSOZIOLOGIE Neben der umfangreichen Literatur zu Omnivorizität im engeren Sinne findet man innerhalb der Kultur- und Musiksoziologie eine Reihe von Ansätzen und Studien, die sich mit Populärmusik befassen und dabei Alternativen zu den Theorien und Methoden der soziologischen Ungleichheitsanalyse bereitstellen. In Anbetracht der aufgezeigten Schwachpunkte und Verengungen von Bourdieus Ansatz (vgl. Kapitel 2.2) als auch der „cultural omnivore“-Forschung erscheint es angebracht, diese Ansätze auf ihren Nutzen für die Erforschung grenzüberschreitenden Kulturkonsums zu befragen. Da der methodische Zugang zum Untersuchungsgegenstand in Kapitel 4 gesondert behandelt wird, fokussieren die folgenden Ausführungen vor allem auf die Konzepte und Theorien zum Gegenstandsbereich, die geeignet erscheinen, Kulturkonsum und -rezeption im Spiel von legitimer wie illegitimer Kultur näher zu beleuchten. Dabei haben gerade die Studien zu Populärkultur und insbesondere Rockmusik das Feld empirisch wie theoretisch geöffnet.22 Wie Simon Frith mit Bezug auf aktuelle musiksoziologische Studien feststellt, haben sich die Annahmen über den Gebrauch von Musik deutlich geändert (Frith 2003: 98). Während Musik in musikethnologischen Arbeiten vor allem im Hinblick auf ihre sozialen bzw. rituellen Gebrauchsweisen beschrieben wurde, wird sie in einigen aktuellen Ansätzen als „Technologie des Selbst“ (DeNora 2000) oder Mittel zum „mood management“ (wie es auch aus der Musikpsychologie bekannt ist) beschrieben. In Abgrenzung zur „neuen“ Musiksoziologie fasst Frith die Befunde zu traditionalen Gesellschaften folgendermaßen zusammen: „Music was used in games and for dancing; to organize work and war; in ceremonies and rituals; to mark the moments of birth, marriage, and death; to celebrate harvest and coronation; and to articulate religious beliefs and traditional practices. People might have enjoyed music individually, but its purpose was not to make them feel good.“ (Frith 2003: 98)
22 Der Bedeutungsgewinn populärer Musik als Gegenstand der akademischen Forschung lässt sich beispielsweise anhand der Gründung des Journals Popular Music sowie der International Association for the Study of Popular Music (IASPM) 1981 plausibilisieren.
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Diese Zusammenfassung vermag natürlich nur bedingt zu überzeugen, da sie einerseits rein funktional argumentiert – eine Perspektive, die Frith übrigens gegen Ende desselben Artikels in Frage stellt (Frith 2003: 101). Andererseits muss allerdings auch bei aller Sensibilität für die Pluralisierung von Gebrauchsweisen von kulturellen Formen in Rechnung gestellt werden, dass weiterhin – und nicht nur in traditionalen Gesellschaften – Musik tagtäglich in der oben genannten Weise zum Einsatz kommt. Gleichzeitig steht Frith den analytischen Fokussierungen auf (a) Konsumund Präferenzmuster sowie (b) Musik als Identitätsangebot kritisch gegenüber und fordert, dass Untersuchungen zum Musizieren und zu Gebrauchsweisen von Musik stärker verschränkt werden (Frith 2003: 100f.). Diese programmatische Forderung legt auch schon bestimmte methodische Vorgehensweisen nahe, die in Kapitel 4 diskutiert werden. Hier gilt es zunächst einige relevante Entwicklungen im Feld der musiksoziologischen Studien zu reflektieren, die für die Behandlung der oben entwickelten Fragestellung dienlich sein können. 3.2.1 Musik und Szenen Das Feld der Untersuchungen zur Bedeutung von Musik in Subkulturen, Gegenkulturen, Jugendkulturen und Szenen ist breit gefächert und beschränkt sich nicht ausschließlich auf die Soziologie. Wie das genannte Begriffsfeld andeutet, haben wir es mit Forschungstraditionen und begrifflichen Konjunkturen wie Akzentuierungen zu tun, die auseinanderzuhalten Gegenstand einer eigenen Arbeit sein könnte.23 Aufgrund der Überzeugung, dass der Szenebegriff einige analytische Vorteile bietet, wird er im Folgenden präferiert. Wenn aber auf stilbildende Arbeiten verwiesen wird, muss zwangsläufig die jeweilige Studie in ihrer je spezifische Begrifflichkeit dargestellt werden. Gerade die Erforschung von Populärkultur im Allgemeinen und Populärmusik im Besonderen findet seit der Etablierung des Gegenstandes im wissenschaftlichen Betrieb in interdisziplinären Kontexten statt. Historisch gesehen kommt den Cultural Studies in Gestalt des Birmingham Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) das Verdienst zu, mit einer Reihe von Subkultur-Studien die Relevanz von Subkulturen bzw. Szenen als Untersuchungsgegenstand unterstri-
23 Einen kompakten Überblick über ethnografische Forschung mit Musik als Gegenstand gibt der Aufsatz „Opportunities for ethnography in the sociology of music“ von David Grazian (2004).
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chen zu haben.24 Zudem, so lässt sich mit Bennett argumentieren (vgl. 2008: 421), haben sie die Populärmusikforschung nachhaltig geprägt: Zum einen im Hinblick auf das Denken über das widerständige Potenzial von Populärmusik und die verbundenen spektakulären Selbstinszenierungen und zum anderen im Hinblick auf die politische Dimension von Musik. Die Bandbreite der untersuchten Subkulturen ist dabei beträchtlich: Teds, Mods, Rocker, Hippies, Skins und auch Punks gehören zu den öffentlichkeitswirksamen Gegenständen des CCCS. Zwei prominente Beispiele lassen sich hier herausgreifen, um Grundargumente und die Stoßrichtung dieser Forschungstradition exemplarisch zu verdeutlichen: „Profane Culture“ von Paul Willis (1978/1981) sowie „Subculture. The Meaning of Style“ von Dick Hebdige (1979/1983). In der erstgenannten Arbeit widmet sich Willis ethnografisch den Subkulturen der Rocker und Hippies, die beide durch eine Ablehnung ihrer sozialen Herkunft (Arbeiter- bzw. Mittelklasse) gekennzeichnet sind und sich gleichzeitig gegenüber der „Gesellschaft“ abgrenzen. Die Gruppen zeichnen sich durch spezifische kulturelle Praktiken aus, die zentral sind für die Reproduktion gruppenspezifischer Werte. Bezogen auf Musik konzentriert sich die Gruppe der Rocker auf den Rock’n’Roll der 1950er Jahre gegenüber den Hippies, die die Klänge der progressiven Rockbands der 1970er vorziehen und deren experimentelle Musik mit Drogenkonsum kombinieren. Willis stellt nun zwischen den Werten der Gruppen und den Qualitäten ihrer kulturellen Praktiken Beziehungen her. Die harte Rockmusik der Bikeboys korrespondiert mit Bewegung, Selbstvertrauen und der Lautstärke der Motorräder. In der theoretischen Diskussion seiner Ergebnisse etabliert Willis eine homologe Beziehung zwischen den kulturellen Praktiken und Präferenzen der untersuchten Gruppen und ihrer sozialen Positionen. Anders als beispielsweise Bourdieu sieht Willis jedoch in den kulturellen Praktiken der untersuchten Gruppen auch ihr subversives Potenzial:
24 Mit dem Sammelband „Resistance through Rituals“ (Hall/Jefferson 1976) dokumentiert das CCCS seine Arbeit in diesem Bereich und wird auch außerhalb Großbritanniens wahrgenommen. Einen Überblick über die Grundlinien und historischen Entwicklungen bieten: Bennett (2008); Marchart (2008: 95-129); Winter (2001). Natürlich dürfen in diesem Zusammenhang die Arbeiten der Chicago School nicht vergessen werden, die vor allem methodisch (Ethnografie) eine Inspirationsquelle für die beginnende Subkulturforschung in Birmingham darstellten (vgl. dazu Marchart 2008: 98f.). Hier kann vor allem die Studie „Outsiders“ von Howard S. Becker (1966) hervorgehoben werden.
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„Das alles bestimmende System der Marktinteressen und die beschränkte Phantasie der herrschenden Verhältnisse können auf der Ebene der gelebten Alltagsbeziehungen transzendiert werden. Die trivialen Dinge, die uns gefangenhalten, können gegen das gewendet werden, was sich hinter ihnen versteckt hält.“ (Willis 1978/1981: 208)
Darüber hinaus stellen die „profanen“ Praktiken beider Subkulturen die „sakralen“ Bereiche der dominanten Kultur (Familie, Freizeit) in Frage. Sie werden zu „Schauplätzen dieses Kampfes zwischen dem Profanen und dem Heiligen“ (Willis 1978/1981: 14). Willis verdichtet diese Einschätzung folgendermaßen: „Das Ätzende der profanen Kulturen frisst die bourgeoisen Schuppen von dem Alltäglichen“ (1978/1981: 23). Damit scheint hier ein Aspekt auf, der sich in Bezug auf die Cultural Studies generalisieren lässt: ihr Charakter als politisches Projekt bei Betonung der subversiven Potenziale von kulturellen Praktiken und Alltagsakteuren (vgl. Marchart 2008, insbes. 11-94; Winter 2001). Die Ausgestaltung der Homologie-These bei Willis stellt aus heutiger Perspektive das Einfallstor für Kritik an der Untersuchung dar (vgl. Bennett 2008: 422f.). Gleichwohl darf die Bedeutung der Studie nicht geschmälert werden, da sie einen Versuch darstellt, die subjektive Perspektive der Akteure innerhalb einer gruppenspezifischen Kultur mit in die Argumentation und Untersuchung aufzunehmen. Dabei erhalten zentrale Tätigkeiten innerhalb dieser sozialen Welten einen besonderen Stellenwert, sie werden nicht isoliert interpretiert. So lässt sich mit Illing zusammenfassen: „Die gruppenspezifische Aneignung von Musik, Drogen und Motorrädern schafft komplexe Bedeutungssysteme, die Außenstehenden unzugänglich bleiben, wenn sie aus dieser Alltagspraxis gelöst und einzelne Elemente nach externen Maßstäben beurteilt werden.“ (Illing 2006: 177)
Mit „Subculture. The Meaning of Style“ (1979/1983) hat Dick Hebdige eine der Studie vorgelegt, die für die Interpretation von Subkulturen stilbildend wirken sollte. In seinem Parforceritt durch die Geschichte der Nachkriegsjugendkulturen in Großbritannien stellt der Punk-Stil – verkürzt gesagt – den „soundtrack of an angry, dispossessed, white-working class youth“ (Bennett 2008: 421) dar. Die Stilisierungen der Subkultur werden semiotisch (v.a. in Anlehnung an Barthes) und strukturalistisch informiert als Form der „bricolage“ interpretiert. In Bezug auf Punk kommt er zu dem Schluss, dass gerade die scheinbare Brüchigkeit des Stils den Stil der Punks ausmache (Hebdige 1979/1983). Demgegenüber stehen aber immer auch die Vereinnahmungstendenzen der Mehrheitsgesellschaft, die auf die Schlagworte (a) Vereinnahmung für den Massenkonsum und (b) Neude-
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finition25 durch Justiz etc. zu bringen sind (vgl. Hebdige 1979/1983: 84ff.). Eine Kritik, die ursprünglich an der Untersuchung von Hebdige geäußert wurde, lässt sich allerdings noch heute im übertragenen Sinne auf viele Szene- und Jugendkulturuntersuchungen anwenden: Im Fokus stehen häufig die innovativen, originellen Akteure, wie beispielsweise die Punks der ersten Generation (vgl. Clarke 1990: 86). Allzu selten kommen die Grenzgänger anstatt der Szeneeliten in den Blick. Eine weitere, verwandte Kritik setzt an dem Fokus auf spektakuläre Selbstinszenierungen als Gegenstand an. Hier wird versucht aus methodologischer Perspektive gegen das Analysieren von Extremfällen zu argumentieren (vgl. Otte 2010: 75). Ein zentrales Problem der Subkulturbegrifflichkeit liegt darin begründet, dass sie eine dominante Kultur, von der die Subkultur abweicht, analytisch voraussetzt. Aber diese Voraussetzung kann nicht nur im Hinblick auf zeitgenössische Gesellschaften in Zweifel gezogen werden, sondern auch bereits für frühere geschichtliche Perioden. Im englischsprachigen Raum hat sich seit den Vorarbeiten der frühen Cultural Studies das Feld der Untersuchungen zu Musikszenen gewandelt, wie bereits die veränderte Terminologie andeutet – weg von Subkultur hin zu Clubkultur (Thornton 1996) oder auch Szene (Bennett/Peterson 2004). Eine vielzitierte Arbeit liegt in Gestalt der Studie „Club Cultures“ (1996) von Sarah Thornton vor. Diese Studie verwendet einen Begriff von „Club Culture“, der im Wesentlichen schon mit der Szenebegrifflichkeit kompatibel ist.26 Sowohl die Szene- als auch die Club Culture-Studien haben gemein, dass sie gegenüber der Subkulturforschung kritisch einwenden, dass die untersuchten Gebilde sich nicht (mehr?) im Gegensatz zu einer dominanten bzw. hegemonialen Kultur definieren. In ihrer Arbeit wendet sich Thornton mehrfach gegen die unreflektierte Übernahme des Anti-Mainstream-Diskurses durch die Wissenschaft. Wie sie aufzeigt, gibt es mannigfaltige symbolische Abgrenzungen innerhalb der Szene, gerade auch gegen den „Mainstream“.
25 Diese Reaktionsweisen auf die Herausforderung von gesellschaftlichen Legitimierungen lassen sich auf die bei Berger/Luckmann (1966/1969: 121ff.) diskutierten Strategien der Therapie und Nihilierung beziehen. Diese beiden Strategien kommen laut Berger und Luckmann vor allem zur Anwendung, wenn die gesellschaftlichen Legitimierungen durch Kulturkontakt in Frage gestellt werden. Im Falle der Subkulturen werden die Irritationen intern erzeugt und ziehen Versuche nach sich, die ähnlich wie der Umgang mit Häresie die Funktion haben, die Legitimierungen zu sichern. 26 Unter Club Culture versteht Thornton Jugendszenen, die sich um elektronische Musik und Clubs herum entwickeln (vgl. 1996: 3, 14ff.).
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Eine analytisch wie empirisch fruchtbare Perspektive auf ähnlich gelagerte Phänomene nimmt eine Reihe von Untersuchungen im deutschsprachigen Raum ein. Hier sind vor allem die Szene- und Eventanalysen von Ronald Hitzler und KollegInnen hervorzuheben. Vor dem Hintergrund einer zeitdiagnostischen Verortung im Diskurs der Individualisierungs- und Pluralisierungsdebatten werden hier Szenen als Formen der posttraditionalen Vergemeinschaftung konzipiert, die „herkömmliche“ Sozialisationsagenturen ersetzen (Hitzler/Bucher/Niederbacher 2001: 19). Damit wird einerseits die in der Jugendsoziologie konsente Bedeutung von Peergroups aufgegriffen, aber zugleich ein konzeptueller Vorschlag unterbreitet, um den gesellschaftlichen Restrukturierungsprozessen und ihren Auswirkungen auf die Lebensphase Jugend Rechnung zu tragen. Was verstehen die AutorInnen unter Szene? Sie werden von ihnen definiert als „thematisch fokussierte kulturelle Netzwerke von Personen, die bestimmte materiale und/oder mentale Formen der kollektiven Selbststilisierung teilen und Gemeinsamkeiten an typischen Orten und zu typischen Zeiten interaktiv stabilisieren und weiterentwickeln“ (Hitzler/Bucher/Niederbacher 2001: 20). Deutlich wird hier zunächst die Nähe zu dem Konzept der „sozialen Welten“, die sich vor allem in der Betonung der thematischen Fokussierung äußert (vgl. Strauss 1978, 1982, 1984).27 Wichtig in Bezug auf die Untersuchung von Praktiken des Musikgenusses und des Musizierens erscheint ferner die Abgrenzung gegen den Begriff des Publikums (vgl. zum Verhältnis von Publikum und Szene Schulze 1992/2005: 460ff.). Abgesehen von der Häufung „ähnlicher Publikumserfahrungen“ (Schulze 1992/2005: 463) macht eine Szene aus, dass sie sowohl in ihrer Binnenwahrnehmung als auch „von außen“ als Szenen wahrgenommen werden – in diesem Sinne existiert keine Szene, solange sie nicht „in Szene gesetzt“ wird (vgl. Hitzler/Bucher/Niederbacher 2001: 22). Die szenetypischen „Kompetenzen“ eignen sich die Mitglieder zum Teil auch „einsam“ an – Musik wird schließlich nicht zwangsläufig immer zu mehreren genossen (Hitzler/Bucher/Niederbacher 2001: 22f.). Gleichwohl sind es die Kommunikationen über bzw. die Interaktionen, in denen die kulturellen Kompetenzen dazu beitragen, eine Szene zu konstituieren. Dabei wird ersichtlich, dass Szenen als relativ labile und zugleich dynamische Gebilde zu verstehen sind. Diese gliedern sich in Nähe-Distanz-Verhältnissen um die sogenannte Organisationselite (Hitzler/Bucher/Niederbacher 2001: 27f.).
27 Daneben lassen sich noch weitere Formen der Vergemeinschaftung anschließen, wie beispielsweise Gangs oder Cliquen (vgl. Hitzler 2008: 62f.). Gerade im Hinblick auf die Ausdifferenzierung unterschiedlicher Vergemeinschaftungsformen und ihre Bedeutung für das soziale Kapital oder die Inkorporierungsprozesse kulturellen Kapitals gibt es m.E. noch deutlichen Forschungsbedarf.
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Während die Mitgliedschaftskriterien für „normale“ Szenegänger in der Regel sehr niederschwellig sind, führt an langjähriger Mitgliedschaft und Netzwerkpflege im Fall der Organisationselite kein Weg vorbei. Gleichwohl wird mit der Szenebegrifflichkeit der Fokus darauf gesetzt, dass die partizipierenden Personen freiwillig, aus arbiträren Interessen heraus sich an Szenen binden und diese auch wieder verlassen. Damit ist im Gegensatz zur Subkultur- und Jugendkulturforschung die Rückbindung an soziale Lagen gekappt. Denn Szenen sollen ja aus Sicht der VertreterInnen dieses Ansatzes posttraditionale Gebilde sein, an denen jeder bzw. jede partizipieren kann – vielleicht auch muss, wie das in manchen Lesarten der Individualisierungs- und Pluralisierungsdiagnosen verstanden werden kann. Problematisch erscheint die Fokussierung auf juvenile Szenen, da es gerade auch im Bereich der musikzentrierten Szenen eine gewisse Varianz im Hinblick auf die Altersstruktur der jeweiligen Szene gibt.28 Eng verbunden mit dem Szene-Begriff ist das Konzept des Events, verstanden als „vororganisierter Erfahrungsraum“ (vgl. Gebhardt/Hitzler/Pfadenhauer 2000; Hitzler/Bucher/Niederbacher 2001: 26; Betz/Hitzler/Pfadenhauer 2011). Musik wird von den AutorInnen nicht nur innerhalb juveniler Szenen als wichtiges Merkmal angesehen, sondern auch über musikzentrierte Szenen hinaus – was forschungsstrategisch die Beschreibung der präferierten Musik und Konsumpraktiken in sogenannten Szenesteckbriefen motiviert (vgl. Hitzler/Bucher/ Niederbacher 2001: 35). 3.2.2 Soziologie der Mediation Im Zuge der Diskussionen der 1970er und 1980er Jahre hat vor allem die englischsprachige Kunst- und Musiksoziologie einen deutlichen Fokus auf die Untersuchung von Produktion, Distribution, Entwicklung und Strukturierung von Märkten und die Konsumption von kulturellen Gütern gelegt (Becker 1982; Peterson/Anand 2004). Die Verdienste und Erkenntnisse der entsprechenden Studien lassen sich dabei nicht verleugnen, allerdings hatte diese Perspektivierung zur Folge, dass die „Erzeugnisse“ der art worlds oder der künstlerischen Produktion aus dem soziologischen Fokus gerieten – so die Kritik Hennions (1997: 415f.). Bezogen auf Musik betont er deshalb, dass es der stärkeren Einbeziehung der „musical mediators“ bedarf, um über die Analyse von Zuschreibungsprozes-
28 Gegenbeispiele finden sich auch hier. Zu nennen wäre etwa die Karaoke-Studie von Rob Drew (2001), David Grazians Untersuchung „Blue Chicago“ (2003) und die Beiträge in „Music Scenes“ (Bennett/Peterson 2004).
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sen hinauszukommen.29 Zu den „musical mediators“ zählt er technische Objekte, Materialien, Instrumente, Diskurse, Praktiken – kurz: „all which durable art requires“ (Hennion 1997: 416). Natürlich finden sich diese Elemente auch in der Theorie der Kunstwelten Howard S. Beckers wieder, wenn er beispielsweise argumentiert, dass Konventionen in Objekte eingeschrieben sind (Becker 1982: 56ff.). So lässt das Hammerklavier nach seiner Etablierung in der Musikwelt andere Spielweisen zu als die davor geläufigen Tasteninstrumente. Aber während sich Becker mit seiner Argumentation im Rahmen des Symbolischen Interaktionismus bewegt und die Artefakte nur Bedeutung erhalten, insofern sie den Akteuren Widerstand bieten und von ihnen gedeutet werden, schreibt Hennion den Objekten eine stärkere Relevanz zu. Im Sinne der Akteur-Netzwerk-Theorie verteilt er die Handlungsträgerschaft neu: „Mediators are not passive intermediaries, but active producers“ (Hennion 1997: 416). Ohne Hennion in allen Argumenten zu folgen, sensibilisiert sein Ansatz dafür, dass „Musik“ nicht einfach existiert, sondern immer in verschiedenen Vermittlungsformen zu beobachten ist. Um das an einem Beispiel zu verdeutlichen: Wenn man drei KlassikhörerInnen vergleicht, gibt es den Verfechter von Live-Auftritten, die Plattensammlerin und den Ästheten oder die Musikerin, die Partituren liest (Hennion 1997: 416f.). In jedem der genannten Fälle erscheint die Musik in einer anderen Form und wird durch andere Objekte und Praktiken konstituiert. „Different mediators will have different constituencies depending on the type of music under consideration. An essential instrument for some is, for others, a barrier to musical enjoyment, or authenticity, the means of making music serve other interests – the market, technique, performance, the consumer.“ (Hennion 1997: 417)
Hennion verdeutlicht die Vorteile seiner Perspektive an der Untersuchung zweier konkurrierender Musikströmungen in Frankreich, denen es um die „richtige“ Auslegung und Aufführung von Barockmusik ging (Hennion 1997: 418-427). Über dieses Fallbeispiel aus der klassischen Musik hinaus zeigen sich in unterschiedlichen Genres je spezifische Arrangements von musikalischen Praktiken
29 Innerhalb der Kunst- wie Kultursoziologie zählen neben Antoine Hennion vor allem Tia DeNora aber auch Georgina Born zu den prominenten VertreterInnen dieser angestrebten theoretischen wie empirischen Neuausrichtung (vgl. auch Danko 2012: 105ff.). Allerdings hat es innerhalb der Kunstsoziologie bereits seit den 1990er Jahren wiederholt Beiträge gegeben, die den Status des Kunstwerks hinterfragt haben und eine neue Form der „Werkanalyse“ in soziologischer Perspektive forderten (exemplarisch Zolberg 1990).
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und deren Legitimationen. So stellt Hennion beispielsweise die Bedeutung des Körpers in Jazz- und Rockmusik heraus: „The social truth of practice leads to an emphasis in jazz and in rock on an element which has no place in classical music performances – the swing, the beat, the moving body. Here is a different kind of justification of what music is about, based on physical presence and aimed at the social authenticity rather than at the musical authenticity of performance.“ (Hennion 1997: 427)
In diesem Sinne ist nicht das Abstellen auf Authentizität ein relevantes Kriterium, um klassische Musik von Jazz oder Rock abzugrenzen. Vielmehr unterstellt Hennion hier unterschiedliche Formen der Authentizität, die sich zudem auf unterschiedliche Vermittlungsformen von Musik beziehen. Bezogen auf die Stellung der Live-Aufführung und der Bühne als ihr Ort zeigen sich die Hauptunterschiede zwischen klassischer Musik und Rock. „Unlike classical music, which seeks to give primary significance to the music itself, rock’s core element is the stage. Records, television, radios, posters all refer to the stage as their gold standard.“ (Hennion 1997: 428)
Neben der Adaption der pragmatischen Wende innerhalb der Musiksoziologie hat Hennion auch in einer Reihe von Publikationen (2001, 2004, 2007) den Versuch unternommen, eine pragmatische Soziologie des Geschmacks zu formulieren.30 Diese versteht sich dezidiert als Alternative zu den Untersuchungen, die in den Kapiteln 2.1 bis 3.1 diskutiert wurden. Zugrunde liegt ihr zunächst eine andere Vorstellung davon, wie Geschmack soziologisch zu konzipieren sei: „But taste is first and foremost a problematical modality of attachment to the world. In terms of this pragmatic conception it can be analysed as a reflexive activity, ‚corporated‘, framed, collective, equipped and simultaneously producing the competencies of an amateur and the repertoire of objects that she/he values.“ (Hennion 2004: 131)
30 Verorten lassen sich diese und weitere Arbeiten – beispielsweise in dem Journal „Music and Arts in Action“ – in einer theoretischen Refokussierung innerhalb der Kunstsoziologie. In methodischer Hinsicht lässt sich eine große Nähe zu ethnografischen Verfahren verzeichnen, während in theoretischer Hinsicht eine Vielzahl von Einflüssen konstatierbar ist (bspw. ANT oder Ethnomethodologie).
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Hennion stellt in seinen Aufsätzen deutliche Bezüge zu bereits vorliegende analytische Perspektiven her, wobei besonders die Bourdieusche Position als Kontrastfolie dient. Die Richtung der Kritik ist dabei klar. Hennion bezieht sich vor allem auf Bourdieu und dessen analytische Fokussierung auf die agonalen Aspekte von Sozialität sowie das damit verbundene Akteursmodell. „People are active and productive; they constantly transform objects and works, perfomances and tastes. By focusing on the pragmatic and performative nature of cultural practices, the analysis can highlight their capacity to transform sensibilities and create new ones, and not only to reproduce an existing order without acknowledging it.“ (Hennion 2004: 132)
In Auseinandersetzung mit Kunstgeschichte, musiksoziologischen Arbeiten aber auch der Ethnomethodologie Harold Garfinkels kommt Hennion zu der Überzeugung, dass in mehrfacher Hinsicht ein Perspektivwechsel in der Soziologie angebracht sei. Die Akteure – verstanden als AmateurInnen in einem weiteren Sinne31 – kommen als selbst-reflexive, produktive und aktive Entitäten in den Blick. Bezogen auf eine Studie zu MusikliebhaberInnen werden NutzerInnen von Musik als AmateurInnen verstanden, die aktiv ihre Liebe zur Musik ausleben. Dabei ist es einerlei, ob sie selbst musizieren, innerhalb einer Musikgruppe aktiv sind, Konzerte besuchen oder medial vermittelt Musik hören (vgl. Hennion 2001: 1). Als aktive Tätigkeit der AmateurInnen wird Geschmack in der Performance dieser erst hervorgebracht. Das zum Teil normativ eingefärbte Vokabular („respectful“, Hennion 2007: 98) verweist darauf, dass hier nicht nur das Erkenntnispotenzial der soziologischen Vorgehensweise gesteigert werden soll, sondern mit der sozialtheoretischen Akzentverschiebung (implizit) auch eine normative Agenda verfolgt wird. Ähnliches lässt sich für die Soziologie der Rechtfertigung im Anschluss an Luc Boltanski und andere behaupten (siehe dazu Celikates 2009: 76ff.). Neben der Stärkung der Akteure ist das Betonen des performativen Charakters der sozialen Praxis ein weiterer Aspekt dieser pragmatisch gewendeten Soziologie des Geschmacks: „Saying that the musical object or the taste for wine are not given, but result from a performance by the taster – based on techniques, physical training, and repeated trials, neces-
31 Amateure sind für Hennion Laien, die in der Praxis ihre Fähigkeiten weiterentwickeln – und das durchaus systematisch und reflexiv. Hier wird wiederum eine deutliche Distanz zum Bourdieuschen Akteursmodell deutlich.
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sarily over a period of time – is relating the very possibility of a description back to amateurs’ know-how.“ (Hennion 2004: 136)
Als Minimalrahmen für seine Analyseperspektive „taste as activity“ schlägt Hennion vor, vier Elemente zu unterscheiden bzw. zu untersuchen: (a) eine Gemeinschaft von AmateurInnen, (b) die Situationen, Mittel und Bedingungen des Genusses, (c) der erfahrende Körper und (d) das genossene Objekt (vgl. Hennion 2004: 137ff.). Ähnlich wie Bourdieu betont er, dass Geschmack gerade auch in der Ablehnung anderer Geschmäcker entsteht. Allerdings steht hier nicht der methodologische Gedanke der Relationalität im Hintergrund, sondern die grundsätzliche Einsicht, dass die Techniken und das Wissen der AmateurInnen sozial vermittelt werden. Dieser Gedanke findet sich bereits in Beckers Studie „Outsiders“ (1966). Becker zeigt auf, dass die KonsumentInnen lernen müssen, den Marihuanakonsum zu genießen und ihn verbal angemessen beschreiben zu können. Eine pragmatische Soziologie des Geschmacks untersucht weniger die Zusammenhänge zwischen sozialen Positionen und Lebensstilen als vielmehr die Beziehungen zwischen unterschiedlichen Akteuren (d.h. AmateurInnen), Objekten und die den praktischen Vollzug des Geschmacks. „There is no taste as long as one is alone, facing objects; no amateur knows from the outset how to appreciate good things, or simply what she/he likes. Taste starts with the comparison with others’ tastes.“ (Hennion 2004: 137)
Neben den genannten Beziehungen zählen situative Faktoren, Techniken (des Körpers), Zeit- und Raumarrangements sowie Werkzeuge (im weiteren Sinne) zu den Elementen, die in die Analyse des Geschmacks eingehen sollten. Im Falle der Musik wäre dies beispielsweise das räumliche Arrangement der Plattensammlung, das den Konsum und die Genussmöglichkeiten mitkonstituiert. Um sich hinsichtlich der Rolle des Körpers von der Soziologie Bourdieus abzusetzen, spricht Hennion von verkörperten (corporated) Aktivitäten, anstatt die Inkorporierung der Fähigkeiten und Disposition herauszustellen, wie das eine an Bourdieu geschulte Perspektive tun würde (Hennion 2004: 138f.). Dieser Sprachgebrauch soll die Verdienste bestimmter Perspektiven auf den Körper nicht schmälern, sondern den Akzent auf die Rolle und Materialität des Körpers innerhalb von Prozessen setzen (vgl. auch DeNora 2000). Der letzte Punkt – das konsumierte Objekt – ist für die Soziologie sicherlich die größte Herausforderung, will man weder ästhetische Kriterien ins Feld führen noch Musik auf ein Statussymbol reduzieren. Hier scheint die methodische Nähe zu ethnografischen Verfahren auf, wenn Hennion an einem Beispiel erläutert, wie ein Soziologe Ge-
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sangsunterricht beobachtet und lernt zu hören, während die SchülerInnen lernen zu singen (Hennion 2004: 140). 3.2.3 Soziologie des musikalischen Wertes Neben den genannten Ansätzen gibt es in der jüngeren Kultur- bzw. Musiksoziologie eine Reihe von empirischen Arbeiten, welche die Prozesse und Kriterien der Bewertung von Musik in den Fokus der Untersuchung stellen. Vor dem Hintergrund des hier leitenden Erkenntnisinteresses ist nur ein Teil dieser Literatur von Relevanz.32 Fokussiert wird hier deshalb auf zwei Kategorien:33 (a) Studien, die Kanonbildung und Konsekration im Feld der (populären) Mu-
sik untersuchen (Schmutz 2005, 2009; Schmutz/Faupel 2010; van Venrooij/Schmutz 2010; die Beiträge in Helms/Phleps 2008; die Beiträge in Popular Music (2006) 25/1); (b) Studien, die Prozesse und Kriterien der Bewertung von Musik durch spezifische Akteursgruppen oder in spezifischen Medien fokussieren (von Appen 2007; Diaz-Bone 2010; Doehring 2011; Kneif 1977; Parzer 2011).34
32 Einen breiteren Fokus weist der Aufsatz „Towards a Comparative Sociology of Valuation and Evaluation“ von Lamont (2012) auf. Sie bringt Beiträge aus unterschiedlichen materialen Feldern der Soziologie ins Gespräch, die Prozesse der Kategorienbildung und Legitimierung, der Hierarchisierung sowie der Wertung behandeln. 33 Daneben ist eine dritte Kategorie zu erwähnen, die hier nicht gesondert diskutiert wird: Historisch orientierte Studien, welche die Legitimierung und De-Legitimierung von einzelnen symbolischen Formen untersuchen, wie beispielsweise Comics (Lopes 2006, 2009), Jazz (Lopes 2002, 2005) oder Film (Baumann 2007). Diese sind hier von besonderem Interesse, wenn sie bestimmte Musikrichtungen thematisieren (Cheyne/Binder 2010; Lopes 2005, 2009). 34 Im Bereich der Cultural Studies gibt es klassische Studien wie Angs „Watching Dallas” (1985) oder Radways „Reading the Romance“ (1984), die sich empirisch mit einer „populären Ästhetik“ befassen. In dieser Tradition gibt es eine Reihe von empirischen Studien, die sich mit Fantum befassen, wie beispielsweise Cavicchi (1998), Fritzsche (2003) oder auch Winter (1995). Die Kriterien, die von den Akteuren angelegt werden, um die Qualität von Filmen, Musik oder Romanen zu bewerten, werden dabei in der Regel eher randständig thematisiert. Daneben sind auch Ansätze wie die „Ökonomie der Konventionen“ zu nennen. Diese disparaten Beiträge zu integrieren, kann im Folgenden nicht geleistet werden. Jedoch werden einzelne dieser Ansätze und Studien mit den Interpretationsergebnissen (vgl. Kapitel 6.2) in Beziehung gesetzt, so-
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Zu den Beiträgen, welche die Kanonbildung im Feld der Musik untersuchen, ließe sich einiges sagen; exemplarisch sei der analytische Mehrwert dieser Forschung an zwei Studien belegt. Basierend auf Analysen des Rolling Stone Sonderhefts „The 500 Greatest Albums of All Time“ untersuchen Schmutz und Faupel (2010), welchen Einfluss das Geschlecht der InterpretInnen auf die Aufnahme in den populärkulturellen Kanon hat und wie die Entscheidungen in den Besprechungen der Alben legitimiert werden. Zentral sind hierbei wesentlich zwei Annahmen: Erstens wird das Rolling Stone als Legitimationsinstanz angesehen (Schmutz/Faupel 2010: 692). Zweitens wird durch das Verfahren35, in dem das Ranking zustande kommt, die Legitimität des „Ergebnisses“ zusätzlich gesteigert. Analytisch unterscheiden die Autoren im Anschluss an Bourdieu zwischen drei Formen der Legitimität: „popular legitimacy“, „professional legitimacy“ sowie „critical legitimacy“ (Schmutz/Faupel 2010: 686). Erstgenannte drückt sich im Publikumserfolg aus (messbar über Verkaufszahlen), zweitgenannte durch Anerkennung innerhalb der „Profession“ (beispielsweise durch Preise von standesmäßigen Organisationen wie die Grammy Awards) und letztgenannte bezieht sich auf die Wertungen der KritikerInnen (messbar durch von KritikerInnen vergebene Preise).36 Die Untersuchung wurde als Mixed-Methods-Ansatz konzipiert: Zum einen wurden qualitativ die Legitimierungsstrategien der ExpertInnen untersucht. Zum anderen wurde quantitativ untersucht, welchen Einfluss das Geschlecht auf die Legitimierung und Konsekration im Feld der populären Musik hat – hierbei wurde auf einen Datensatz einer früheren Untersuchung zurückgegriffen (Schmutz 2005). Aus der Untersuchung lassen sich vor allem zwei Schlüsse ziehen: Die Anerkennung durch KritikerInnen ist einer der wichtigsten Prädiktoren für kulturelle Konsekration (Schmutz/Faupel 2010: 703). Da KünstlerInnen mit geringer Wahrscheinlichkeit an der „critical legitimacy“ teilhaben als Künstler, sind auch ihre Chancen schlechter, in den Kanon der populären Musik aufgenommen zu werden. In Bezug auf die Legitimierungsstrategien kommen sie zu dem Schluss: „[…] critics more often draw on notions of historical importance, artistic autonomy and high art criteria for male performers, while
fern es dafür sachliche Gründe gibt. Im Vordergrund stehen vor allem die Beiträge zu einer Soziologie des Wertens von Musik. 35 An die 300 ExpertInnen (MusikerInnen, MusikkritikerInnen, ProduzentInnen usw.) sind an der Wahl der 500 besten Alben beteiligt. Zudem wurde die Unternehmensberatung Ernest & Young hinzugezogen, um das Wahlverfahren zu entwickeln (vgl. Schmutz/Faupel 2010: 692). 36 Diese Dreiteilung gemahnt an die Unterscheidung zwischen „Folk“-, „Art“- sowie „Pop“-Diskurs, die Frith entwickelt (Frith 1998: 36ff.).
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female performers are more often legitimated through their personal and professional ties and their perceived emotional authenticity“ (Schmutz/Faupel 2010: 703). Eine weitere instruktive Studie wurde von Ralf von Appen und André Doehring durchgeführt (von Appen/Doehring 2000, 2006; von Appen/Doehring/ Rösing 2008). In einer quantitativen Auswertung von 38 Listen des Typus „The 100 Greatest Albums of all time“ zeichnen sie die historische Entwicklung eines Kanons der populären Musik empirisch nach. Zu diesem Zweck bilden sie aus den einzelnen Listen eine Meta-Liste, welche die Positionierung in den einzelnen Listen summiert (siehe auch von Appen/Doehring 2000). Die Ergebnisse weisen auf eine Stabilisierung eines Kanons hin, der durch einen hohen Anteil von Alben aus dem „goldenen Zeitalter“ (von Appen/Doehring/Rösing 2008: 33), d.h. aus den Jahren 1965 bis 1969, gekennzeichnet ist. Zudem fällt die relative Dominanz der Beatles auf, die mit vier Alben unter den Top 10 vertreten sind (von Appen/Doehring/Rösing 2008: 35). Abgesehen von einigen wenigen Alben aus den 1990er Jahren (Nirvana und Radiohead) weist der Kanon eine bemerkenswerte Stabilität auf (von Appen/Doehring/Rösing 2008: 35). Augenfällig ist zudem – wenn die Bestenlisten mit Verkaufszahlen verglichen werden –, dass populäre Genres wie Hard Rock/Heavy Metal oder auch Country keine Berücksichtigung finden. Ähnliches gilt für Soundtracks oder auch Best Of-Alben. Die Autoren schließen aus diesen beiden Befunden, dass Nähe bzw. Distanz zum Kunst-Diskurs wie auch die Wahrnehmung eines Albums als „autonomes Kunstwerk“ relevante Faktoren für dessen Kanonisierung sind (von Appen/ Doehring/Rösing 2008: 37). Unter den Studien, die auf die Prozesse und Kriterien der Bewertung von Musik durch spezifische Akteursgruppen oder in spezifischen Medien fokussieren (Doehring 2011; Diaz-Bone 2010; Parzer 2011), ist vor allem die Arbeit von Parzer „Der gute Musikgeschmack“ (2011) für due vorliegende Untersuchung von Interesse. Die Beiträge von Diaz-Bone (2010) und Doehring (2011) fokussieren auf den musikjournalistischen Diskurs (Diaz-Bone) bzw. auf die berufliche Wirklichkeit von MusikjournalistInnen (Doehring). Parzer hingegen widmet sich in seiner Untersuchung der Analyse von Diskussionen und Beiträgen in Online-Foren. Instruktiv erscheinen seine Ergebnisse in Bezug auf die Legitimationsstrategien der Akteure (Parzer 2011: 168ff.). Hier identifiziert er in seinen Daten vier Zuschreibungsstrategien, die dominant genutzt werden, um musikalische Geschmacksurteile zu legitimieren: 1. „Bezugnahme auf musikalische Maßstäbe“, 2. „Betonung von Funktionen, die einer Musik zugeschrieben werden“, 3. „Hervorhebung einer erwarteten Wirkung von Musik“ sowie die „Bezugnahme auf die einer Musik zugeschriebenen Fähigkeit, Erinnerungen hervor-
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zurufen“ (Parzer 2011: 168ff.). Dabei ist die Annahme leitend, dass diese Legitimierungsstrategien Teil eines sozial vermittelten Wissens sind (vgl. Parzer 2011: 168). Die Bewertung von Musik wird folglich, so Parzers Argument, über die Zuschreibung von bestimmten Qualitäten vorgenommen (Parzer 2011: 177). Überzeugend ist zudem seine analytische Differenzierung, die Strategien der symbolischen Distinktion getrennt von diesen Legitimierungsstrategien zu untersuchen (Parzer 2011: 177ff.). Ein weiteres zentrales Teilergebnis seiner Studie ist die Rekonstruktion von „Authentizität“ als zentralem Deutungsmuster im Diskurs über die Qualitäten von Populärmusik (Parzer 2011: 191ff.).37 In einer Vielzahl von empirischen wie theoretischen Studien wurde auf die Zentralität von „Authentizität“ als Qualitätskriterium von Populärkultur abgestellt. Entsprechende Analysen finden sich bei Friths früher Studie zu Rockmusik (1981), der bereits erwähnten Studie von Thornton (1996) zur englischen „Club Culture“, Petersons Studie zur Country-Musik (1997b), Grazians Untersuchung von Blues Clubs in Chicago (Grazian 2003) oder auch Trondmans Untersuchung musikalischer Präferenzen von schwedischen Jugendlichen (Trondman 1990). Das Qualitätskriterium der Authentizität – so lässt sich mit Meyer (2000) argumentieren – hat sich in pluralistischen Gesellschaften als konkurrierendes Deutungsmuster des guten Geschmacks neben dem aristokratischen, elitären Deutungsmuster der Verfeinerung („refinement“) etabliert. Im Anschluss an die Studie „Der Wert der Musik“ (von Appen 2007) lässt sich allerdings fragen, ob diese zentrale Stellung von Authentizität in der empirischen Forschung zur „Ästhetik des Populären“ nicht in die Irre läuft. In seiner Auswertung von Amazon-Kundenrezensionen mittels dem Verfahren der qualitativen Inhaltsanalyse präpariert von Appen im Wesentlichen sechs Qualitätskriterien heraus, die typischerweise genutzt werden, um Musikalben Qualität zuzuschreiben. Dabei handelt es sich im Einzelnen um: 1. „Qualitäten der Songtexte“, 2. „Kompositorische Qualitäten“, 3. „Interpretatorische Qualitäten“, 4. „Authentizität und andere menschliche Qualitäten“, 5. „Emotionale Qualitäten“ sowie 6. „Originalität, Neuheit, Vielfalt, Langeweile: das Interessante“ (von Appen 2007: 81ff.). Wie bereits auf den ersten Blick ersichtlich wird, kommt hier Authentizität ein anderer – weniger zentraler – Stellenwert zu. Als Kriterium ist es nur eines von vielen, das für die Zuschreibung von Qualität in Anschlag gebracht wird.
37 Authentizität wird auch in szenespezifischen Studien verhandelt. Zu nennen wäre hier beispielsweise die HipHop-Studie „Is this real?“ (Klein/Friedrich 2003) oder die Blues-Studie „Blue Chicago“ (Grazian 2003).
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3.3 G RENZÜBERSCHREITENDER M USIKGESCHMACK ALS EMPIRISCHE WIE THEORETISCHE H ERAUSFORDERUNG : Z USAMMENFASSUNG Wie die Diskussion in den Kapiteln 2.1 bis 2.3 aufweist, birgt die ungleichheitsanalytische Kultursoziologie Bourdieus das notwendige Anregungspotenzial für die Untersuchung von Phänomenen des Musikgeschmacks in Gegenwartsgesellschaften. Allerdings zeigt sich auch die Notwendigkeit rezente Ansätze und Diskussionen stärker zu berücksichtigen, um ein hinreichend spezifiziertes Untersuchungsziel und methodisches Design entwickeln zu können. Hierfür sind vor allem die Arbeiten aus dem Feld der Omnivorizitätsforschung von Belang, wie auch Beiträge aus der zeitgenössischen Musik- und Kultursoziologie. Das Ziel des vorliegenden Kapitels 3 ist es, die blinden Flecken der „cultural-omnivore“Forschung zu benennen, aber auch auf die möglichen Anschlüsse hinzuweisen, die sich aus der Sichtung der zeitgenössischen Musik- und Kultursoziologie ergeben haben. Wie der Durchgang durch die bestehende Literatur gezeigt hat, kann das Konzept der „cultural omnivores“ im Kontext der vorliegenden Arbeit lediglich als „sensibilisierendes Konzept“ dienen (Blumer 1954). Zu groß sind die Probleme und Zuspitzungen, die der gängige Begriffsgebrauch mit sich bringt. Allerdings, so zeigt sich im Vergleich der internationalen und der deutschsprachigen Rezeption des Konzepts, birgt das Phänomen der Omnivorizität genügend Potenzial für theoretische wie empirische Auseinandersetzungen. Vor allem in Großbritannien und den USA gehört die „cultural omnivore“-These zum State of the Art im Bereich der Kulturkonsumforschung. Die zurückhaltende Auseinandersetzung mit Omnivorizität im deutschsprachigen Raum lässt sich nicht allein durch Sprachbarrieren oder andere wissenschaftsexterne Faktoren erklären. Eine naheliegende Erklärung wäre, dass in Deutschland vor allem die Lebensstilforschung die Phänomene der Omnivorizität mit abgedeckt hat. Als erstes Teilergebnis der Sichtung und Diskussion der vorliegenden Arbeiten wurden vier Lesarten von Omnivorizität herausgearbeitet (Kapitel 3.1.4). Unterschieden werden zunächst kollektivistische und individualistische Lesarten, die sich jeweils in zwei Untertypen aufgliedern lassen. Bei den kollektivistischen Ansätzen lässt sich eine Variante, die (a) Omnivorizität als Performanz in den Blick nimmt von einer zweiten Variante unterscheiden, die (b) Omnivorizität als Kompetenz thematisiert. Zum erstgenannten Typus zählen die Arbeiten von Peterson (1992) oder auch Bryson (1996), während die zweite Variante wesentlich von Emmison (2003) vertreten wird. Die Lesarten, die auf Individualisierungsprozesse als Erklärungs- und Deutungsmuster zurückgreifen, lassen sich wiederum auch in zwei Untertypen gliedern. Der erste verhandelt (c) Omnivorizität
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avant la lettre. Zu ihren VertreterInnen ist Schulze mit seiner Studie „Die Erlebnisgesellschaft“ (1992/2005) zu zählen. Ein zweiter Typus deutet (d) Omnivorizität als empirischen Normalfall. Hier sind vor allem die Analysen Lahires (2004, 2011) zu nennen, die aufzeigen, dass konsistente „Kulturprofile“ empirische Grenzfälle darstellen, wobei sich die Konsistenz hier vor allem auf das Legitimitätsniveau der kulturellen Präferenzen und Praktiken bezieht. Aus der Diskussion und Systematisierung der Beiträge der Omnivorizitätsforschung lassen sich für die vorliegende Arbeit zwei Schlüsse bzw. Problematisierungen ziehen: Zum ersten stellt sich die Frage, ob der vorherrschenden Deutung von Omnivorizität als Elitenphänomen, das elitäre, exklusive Geschmacksmuster ablöst, zuzustimmen ist. Empirisch wie theoretisch angemessener erscheint es, symbolische wie soziale Grenzziehungen mittels Kultur auf allen Legitimitätsniveaus zu untersuchen. Zum zweiten muss m.E. berücksichtigt werden – wie dies beispielsweise Schulze mit seiner Unterscheidung alltagsästhetischer Schemata umsetzt –, dass es miteinander konkurrierende Alltagsästhetiken gibt. Eine einfache, eindimensionale Bestimmung einer legitimen Hierarchie kultureller Praktiken und Güter erscheint vor diesem Hintergrund nicht zielführend zu sein. Jenseits des ungleichheitsanalytischen Zugangs zu Phänomenen des Musikgeschmacks bieten eine Reihe von Ansätzen der Kultur- wie auch Musiksoziologie die Möglichkeit Anregungen für die Untersuchung grenzüberschreitenden Geschmacks zu generieren. Diese verstärken m.E. die formulierten Einsichten aus der Sichtung und Systematisierung der Omnivorizitätsdiskussion. In methodischer Hinsicht zeigen die diskutierten Studien und Ansätze der Kultur- und Musiksoziologie die Erkenntnispotenziale qualitativer Sozialforschung für die Untersuchung von Musikkonsum wie -rezeption auf. Dies gilt insbesondere für die Arbeiten aus der soziologischen Szeneforschung wie auch für die Arbeiten der Cultural Studies zu Subkulturen (vgl. 3.2.1). Weiterhin lässt sich aus diesem Überblick die Erkenntnis ziehen, dass auch innerhalb von musikzentrierten Szenen feine Differenzierungen von Stilen und Stilelementen vorhanden sind, so dass empirische Untersuchungen eine Offenheit für das dynamische Spiel mit Genrebezeichnungen und Differenzierungen aufweisen sollten. Weitere Anregungen lassen sich aus der sogenannte Soziologie der Mediation ziehen, deren prominentester Vertreter in Bezug auf Musik als Untersuchungsgegenstand Antoine Hennion (1997, 2001, 2004, 2007) ist. Ohne seinem Ansatz in allen Punkten folgen zu wollen, schärft seine Perspektive das vorliegende Untersuchungsinteresse in zweierlei Hinsicht: Zum einen unterstreichen seine Arbeiten und Konzepte die spezifische Bedeutung von Materialität und Objekten und zum anderen zeigt Hennion überzeugend auf, wie Geschmack als
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Aktivität von Akteuren und weniger als Bündel von Attributen zu analysieren ist (vgl. 3.2.2). Im Hinblick auf die Untersuchung von Musikgeschmack und musikalischen Werturteilen ist zudem eine Reihe von empirischen Studien zu erwähnen, die sich mit musikalischem Wert befasst. Neben Untersuchungen zu Prozessen der Kanonbildung und Konsekration erscheinen vor allem die Arbeiten von von Appen (2007) und Parzer (2011) instruktiv, da sie sich beide intensiv mit verschiedenen Qualitätskriterien auseinandersetzen, die von MusikkonsumentInnen genutzt werden, um spezifischer Musik Qualität zuzuschreiben und damit musikalische Werturteile zu legitimieren. In diese Richtung wird ein Teil der Analysen im empirischen Teil der vorliegenden Untersuchung gehen und damit an die Analysen von Appens wie auch Parzers anschließen.
4. Grenzenlos guter Geschmack: methodische Überlegungen
Wird ‚Theorie‘ im Sinne Bourdieus verstanden – erstens – als Korpus beobachtungsleitender Annahmen, die – zweitens – als aus der empirischen Beobachtung entwickelte Annahmen zu verstehen sind, dann bedarf es zur konstruktiven Verbindung dieser beiden Verständnisse gerade im Bereich einer ungleichheitssensiblen Kultursoziologie der verstärkten Hinwendung zum Einsatz qualitativer Methoden (vgl. Holt 1997). Mit der Analyse von (grenzüberschreitendem) Musikgeschmack verortet sich die vorliegende Studie in diesem Untersuchungsfeld. Aus der Sichtung der vorliegenden Literatur zu einer distinktionsanalytischen Soziologie des Musikgeschmacks (Kapitel 2) einerseits und den Erträgen der neueren Kultur- und Musiksoziologie (Kapitel 3) andererseits, speist sich das zugrundeliegende Untersuchungsinteresse. Zugespitzt lässt es sich folgendermaßen formulieren: Wie drücken sich in musikalischen Geschmacksurteilen symbolische und soziale Grenzziehungen aus? Da Musikgeschmack aufgrund der Verkennung seiner sozialen Bedingtheit den höchsten Distinktionsgewinn im Sinne Bourdieus verspricht (vgl. Bourdieu 1979/1987: 41; Gebesmair 2001; kritisch: Peterson 2005), liegt es erstens nahe kulturelle Präferenzen und Praktiken nicht global bzw. über mehrere Kultursegmente hinweg, sondern spezifisch in diesem Gegenstandsbereich zu untersuchen.1 Eine zweite Fokussierung wird dadurch 1
Eine umfassende Untersuchung des kulturellen Konsums wie der Rezeption von Kultur würde ein deutlich aufwändigeres Untersuchungsdesign und damit auch mehr Ressourcen für die Durchführung erfordern. Neben Bourdieus „Die feinen Unterschiede“ (1979/1987) wäre hier an Lahires Untersuchung „La Culture des individus“ (2004) sowie die Studie „Culture, Class, Distinction“ (Bennett et al. 2009) zu denken. Allen drei genannten Studien ist gemein, dass sie – wenn auch mit unterschiedlicher Intensität – zur Aufklärung der Zusammenhänge zwischen kulturellen Differenzen und sozialer Ungleichheit auf Methodenkombinationen zurückgreifen.
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gewährleistet, dass vor allem Individuen in den Blick genommen werden, die gängigen Konzeptualisierungen des grenzüberschreitenden Geschmacks (vgl. Berli 2010) entsprechen. Mit dieser empirischen Ausrichtung verbindet sich dann drittens mit Blick auf den konzeptionellen Zuschnitt ungleichheitssensibler Kultursoziologie die These, dass auch die Geschmacksurteile der scheinbar toleranten „cultural omnivores“ als Distinktionsstrategien im Sinne Bourdieus interpretiert werden können. Im Rahmen der Untersuchung wird die These vertreten, dass sich hinter den Geschmacksurteilen und kulturellen Praktiken von Angehörigen statushoher sozialer Gruppen unterschiedliche Modi der „Offenheit“ (vgl. Ollivier 2008) und Distinktion verbergen, die mit den Mittel der quantitativen Sozialforschung nicht oder nur bedingt erfassbar sind. Beispielsweise erlaubt es die standardisierte Sozialforschung nicht zwischen Hochkultursnobismus und demonstrativen Hochkulturkonsum zu unterscheiden (vgl. Peterson 2005: 258). Gegenstand dieses Kapitels ist die Entwicklung und Begründung eines qualitativen Untersuchungsdesigns aufgrund des in den vorangehenden Kapiteln aufgearbeiteten Forschungsstands sowie des herausgearbeiteten Erkenntnisinteresses. Dazu werden in vier Schritten die methodischen wie methodologischen Überlegungen entwickelt und vorgestellt: Den Auftakt machen Überlegungen zu Musikgeschmack als Gegenstand soziologischer Empirie (4.1). Daran anschließend wird im Kapitel 4.2 mit der Grounded Theory ein etablierter und ausgearbeiteter Forschungsstil als Folie für das Untersuchungsdesign herangezogen.2 Die vorliegende Untersuchung orientiert sich dabei primär an dem Forschungsstil der Grounded Theory in der Variante nach Anselm L. Strauss. In einem weiteren Schritt wird über den Aufbau des Samples und die angewandten Methoden der Datenkonstruktion berichtet (4.3). Den Abschluss bilden Ausführungen zu den Strategien der Datenauswertung (4.4). Diese folgen im Wesentlichen den Verfahrensvorschlägen, die Strauss für die Grounded Theory als Forschungsstil formuliert hat (Strauss 1987; Corbin/Strauss 2008).
2
Die Untersuchung kann sicherlich nicht in einem puristischen bzw. orthodoxen Sinn als Grounded Theory gelten, sondern nutzt sie in pragmatischer Absicht als Ideengeberin. Darin gleicht sie empirischen Arbeiten wie denen von Diaz-Bone (2010), Keller (1998) sowie Sutterlüty (2002), die sich in ähnlich Weise an der Grounded Theory orientieren, ohne jeweils den Anspruch zu erheben, im strengen Sinne nach der Methodologie der Grounded Theory zu arbeiten.
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4.1 M USIKGESCHMACK ALS G EGENSTAND SOZIOLOGISCHER F ORSCHUNG In der empirischen Kunst- und Kultursoziologie wird die gesamte Bandbreite der etablierten Ansätze der empirischen Sozialforschung zur Anwendung gebracht. Gleichwohl gibt es Bereiche, in denen bestimmte methodische Ausrichtungen überwiegen, obwohl dies nicht durch die Fragestellungen induziert erscheint. In den Gegenstandsbereichen Kulturkonsum und -rezeption wird die Forschung derzeit durch standardisierte Forschungsdesigns dominiert, die zudem häufig auf bereits existierende Datensätze zurückgreifen. Dies gilt beispielsweise für die Studien von Richard A. Peterson, welche die Diskussion um die „cultural omnivores“ in Gang brachten (Peterson 1992; Peterson/Kern 1996). Die Nachteile einer Vielzahl der bereits existierenden Datensätze für kulturanalytische Zwecke sind dabei nicht von der Hand zu weisen. An dieser Stelle soll nicht einer spezifischen methodischen Position das Wort geredet werden, sondern zwei Fragen und ein Plädoyer vorgebracht werden, die der soziologischen Forschung gerade im Bereich der Kunst- und Kultursoziologie allgemein zugutekommen (sollen). Die erste Frage bezieht sich darauf, welche Daten sinnvollerweise genutzt werden sollten; die zweite Frage thematisiert die Breite des methodischen Spektrums, das zum Einsatz kommt und drittens verbindet sich damit ein Plädoyer für offene, theoriegenerierende Untersuchungsdesigns. Erstens sind generell Primärdaten bei der Erforschung von Phänomenen des Kulturkonsums und der Kulturrezeption im deutschsprachigen Raum der Vorzug zu geben. Dies gilt vor allem für Deutschland, da hier die Datenlage für Sekundäranalysen in den interessierenden Bereichen stark verbesserungswürdig ist (siehe Rössel/Otte 2009).3 Unabhängig von der methodischen Ausrichtung – sei sie quantitativ oder qualitativ – lässt sich gerade für Deutschland konstatieren, dass zu wenig Datensätze existieren, die speziell auf Fragen des Kulturkonsums und der Kulturrezeption zugeschnitten sind.4 Der zweite – aus meiner Perspektive schwerwiegendere – Punkt ist, dass in diesem Forschungsfeld zu wenig qualitativ-orientierte Sozialforschung stattfindet, die sich einer „theoretischen Empirie“ (vgl. Kalthoff/Hirschauer/Lindemann
3
Für Deutschland sondieren Rössel und Otte die Datenlage (2009) und kommen u.a. zu folgendem Urteil: „What has as yet not been established by academic research in Germany is a comprehensive, recurrent survey on cultural consumption and reception of the general population.“ (Rössel/Otte 2009: 11)
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Einen Überblick über die Möglichkeiten der „Messung” von Musikgeschmack bietet Gebesmair (2001: 76ff.).
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2008) verpflichtet fühlt. Dabei gibt es durchaus Beispiele wie qualitative Methoden, singulär oder in Kombination mit quantitativen Methoden, zur Aufklärung der uns interessierenden Phänomene beitragen können. Museumsbesuche können Gegenstand von Videoanalysen werden (vom Lehn 2006), um die klassische Frage nach der „Liebe zur Kunst“ (Bourdieu/Darbel 1966/2006) nicht auf die Untersuchung der sozialstrukturellen Bedingtheit des Museumsbesuchs zu reduzieren. Die Rezeption und Aneignungsprozesse von OpernbesucherInnen können standardisiert untersucht werden (Rössel 2009), aber auch eine Ethnographie der Leidenschaft für die Oper ist analytisch gewinnbringend (Benzecry 2011). Einzelne Beispiele zeigen zudem die Potenziale von Methodenkombination in diesem Forschungsbereich auf (Lahire 2004; Silva/Warde/Wright 2009, Warde/ Wright/Gayo-Cal. 2007). Beispiele gibt es folglich genug.5 Drittens sollte das Plädoyer für einen häufigeren und systematischen Einsatz qualitativer Methoden in den Untersuchungsfeldern kulturelle Präferenzen und Praktiken sowie Rezeption kultureller Güter nicht als Methodenpolitik missverstanden werden. Vielmehr geht es darum, auf diesem Wege die offenen theoretischen Fragen in diesen Bereichen produktiv anzugehen.6 Bezogen auf die soziologische Analyse von Phänomenen des Musikgeschmacks wird hier die Position vertreten, dass qualitative wie methodenkombinierende Studien bezogen auf den gegenwärtigen Forschungsstand benötigt werden, um die gegenwärtigen konzeptionellen wie theoretischen Fragen in Angriff zu nehmen, die in den Kapiteln 2 und 3 identifiziert wurden. Der Einsatz qualitativer Untersuchungsdesigns ermöglicht zudem Einblicke in den Gegenstand Musikgeschmack, die auf anderem Wege nicht zu erhalten sind. Vor diesem Hintergrund argumentiert auch Parzer, wenn er prägnant zusammenfasst: „Die quantitative Erhebung musikalischer Präferenzen ermöglicht eine Einschätzung der Verteilung von Musikgeschmäckern in einer bestimmten Gruppe oder Gesellschaft. Allerdings ist eine solche Herangehensweise nicht imstande zu erklären, was es bedeutet, eine
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Hinzugezählt werden müssen an dieser Stelle ferner, diejenigen Beiträge aus der Tradition der Cultural Studies, die sich empirisch mit der Untersuchung von Subkulturen (Hebdige 1979/1983; Willis 1978/1981), Fankulturen (Winter 1995), Medienaneignung (Ang 1985; Radway 1984) und verwandten Phänomenen verdient gemacht haben.
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Aus Sicht einer theoretisch informierten quantitativen Sozialforschung formuliert Otte (2012) ähnliche Ansprüche für zukünftige Forschung im Bereich der empirischen Kunstsoziologie.
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bestimmte Musik besonders zu mögen, also zum Beispiel ‚Hip-Hop‘ zu lieben oder eine Vorliebe für ‚klassische Musik‘ zu haben.“ (Parzer 2011: 145)
Natürlich erlauben fortgeschrittene Verfahren der quantitativen Sozialforschung es auch typenbildend zu argumentieren oder beispielsweise Hypothesen über den Einfluss unterschiedlicher Sozialisationsinstanzen auf den Musikgeschmack zu überprüfen. Gleichwohl stoßen sie bei gewissen Fragen an ihre Grenzen. Die Vorteile eines qualitativen Untersuchungsdesigns zur Analyse von Musikgeschmack liegen zunächst darin begründet, dass der soziale Sinn von kulturellen Präferenzen, die Qualitätszuschreibungen wie auch die spezifische Ausgestaltung der Distinktionspraxis detailliert untersucht werden können. Nur auf diesem Wege ist es möglich, die subjektiven Bedeutungen von musikalischen Präferenzen in die Analyse mit einzubeziehen. Am Beispiel unterschiedlicher Bedeutungen einer Präferenz für Beethoven lässt sich verdeutlichen, welche vielfältigen Sinngehalte bei einer standardisierten Befragung potentiell verloren gehen. „Wenn auch ein Arbeiter und ein leitender Angestellter gleichermaßen vorgeben, Beethoven zu lieben, so kann, wenn sie beginnen darüber zu berichten, sehr Unterschiedliches zu Tage treten. Mag dem einen zuerst das ‚Schicksalsthema‘ aus der Fünften ins Gedächtnis kommen, so wird sich der andere möglicherweise in Betrachtungen über die Komplexität der späten Streichquartette ergehen.“ (Gebesmair 2001: 214)
Nimmt man diese Betrachtung ernst, so spricht einiges dafür zum einem mit offenen und flexiblen Methoden der Datenkonstruktion zu arbeiten und zum anderen ein Untersuchungsdesign zu wählen, dass im Verlauf der Untersuchung genügend Freiraum für Anpassungen bietet, ohne in ein unsystematisches anything goes abzudriften. Zudem können gerade in offenen Designs Anpassungen vorgenommen werden, die sich aus konzeptuellen Entwicklungen während des Forschungsprozesses ergeben. Wie bereits Douglas Holt (1997) unterstrichen hat, darf die Kultursoziologie nicht bei der Frage stehen bleiben, Was konsumiert wird, sondern muss gerade auch den Blick auf das Wie des Konsums lenken. Gerade hier liegt eine weitere Stärke nicht-standardisierter Verfahrensweisen. Zudem gehen bei der Konstruktion von standardisierten Fragebögen Überlegungen und Vorannahmen mit ein, die durch die Empirie nicht mehr in Frage gestellt werden können. Werden beispielsweise bestimmte Musikgenres als Antwortvorgaben vorgegeben, werden damit Relevanzen gesetzt, die MusikhörerInnen in offenen Interviews vielleicht ganz anders setzen. Die Bedeutung einzelner Interpreten oder Gruppen, ja sogar einzelner Songs geht dadurch verloren; kleinere, neue Genres werden nicht ab-
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gedeckt. Die Verwendung von idiosynkratrischen Genrebezeichnungen ist nicht möglich, dabei scheint sie im Alltag so gängig zu sein. Allzu häufig verwenden wir im Alltag eine Sprache, die eben nicht die des standardisierten Erhebungsinstruments ist, reden von „Gitarrenmusik“ und „Schranz“ anstelle von anderen Genrebegriffen. Vieles spricht also dafür, die Frage nach den Grenzen des Musikgeschmacks mit den Instrumenten der qualitativen Sozialforschung zu untersuchen. Wie Gebesmair feststellt, besteht zudem eine bedeutende Forschungslücke gerade im Bereich der kontextsensiblen Erforschung von Distinktionspraktiken: „Denn im Alltag der subtilen Distinktionen wird der Kontext der Rezeption, die besondere Art des Redens über Musik, das Herstellen von Beziehungen und Anspielungen, die unterschiedlichen Formen der Wahrnehmung ein und desselben Objekts […] zum eigentlichen Gegenstand der Ausgrenzung.“ (Gebesmair 1998: 16)
Wird dieses Desiderat ernstgenommen, lässt es sich als Plädoyer für den verstärkten Einsatz der Verfahren der qualitativen Sozialforschung interpretieren. Denn um die von Gebesmair genannten Aspekte zu untersuchen, erscheint es unabdingbar, nicht-standardisierte und möglichst alltagsnahe Daten zu analysieren. Auf Basis der vorangehenden Überlegungen wird deshalb im Folgenden mit der Grounded Theory ein qualitativer Forschungsstil eingeführt, der für das methodische Vorgehen in der vorliegenden Untersuchung die maßgeblichen Anregungen bereitgestellt hat.
4.2 G ROUNDED T HEORY
ALS
F ORSCHUNGSSTIL
Die Grounded Theory als Forschungsstil geht zurück auf die empirischen Arbeiten der Soziologen Anselm L. Strauss und Barney G. Glaser, die gemeinsam in den 1960er Jahre qualitative medizinsoziologische Studien verfasst haben. Zwei Jahre nach Veröffentlichung ihrer ersten gemeinsamen Monographie „Awareness of Dying“ (1965) erscheint mit „The Discovery of Grounded Theory. Strategies for Qualitative Research“ (1967) das zentrale Gründungsdokument der Grounded Theory.7 Diese Monografie hat aufgrund der damaligen Dominanz
7
Einen instruktiven Überblick über die „Entdeckung“ der Grounded Theory bieten Bryant und Charmaz (2006). Dieser Beitrag bietet auch eine Verortung der Grounded Theory in den methodologischen Debatten der 1960er Jahre und zeigt Entwicklungen in den Folgejahrzehnten auf.
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funktionalistischer Ansätze innerhalb der US-amerikanischen Soziologie eher den Charakter einer programmatischen Schrift als den eines Methodenlehrbuchs. Wie Strauss rückblickend in einem Interview anmerkt, haben die Autoren damals eine dreifache Zielsetzung mit der Veröffentlichung verbunden (vgl. Legewie/Legewie-Schervier 2004: Absatz 52): Erstens die Legitimierung qualitativer Sozialforschung, zweitens eine Kritik am dominanten Funktionalismus und drittens die Explikation der Möglichkeiten der empirie-geleiteten Theoriebildung. In dem schwer übersetzbaren Label Grounded Theory spiegelt sich das Grundverständnis des Verhältnisses von Theorie und Empirie wider. Denn eigentlich müsste eine vollständige deutsche Übersetzung lauten: „Forschungsstil zur Erarbeitung von in empirischen Daten gegründeten Theorien“ (vgl. Strübing 2004: 14). Das prägnantere englische Label bezeichnet sowohl Verfahren als Ergebnis des Forschungsprozesses. Die Grounded Theory als Forschungsstil hat sich seit ihrer „Entdeckung“ Ende der 1960er Jahre in zwei dominante Strömungen weiterentwickelt, deren prominente Vertreter Anselm L. Strauss und Barney G. Glaser sind.8 Im Folgenden wird die Grounded Theory in der Strauss’schen Variante als methodische Stichwortgeberin präferiert, v.a. aufgrund des „realistischeren“ Verhältnisses zu theoretischem Vorwissen sowie der konsistenten Ausarbeitung als Forschungsstil. Diese Entscheidung hat eine Fokussierung auf die Schriften von Strauss und ausgewählte Sekundärliteratur zu Folge. Das Gründungsdokument „The Discovery of Grounded Theory“ (1967) erscheint aufgrund des Manifestcharakters und der Vermischung zweier in der Konsequenz nur schwer zu vereinender Positionen wenig geeignet, um als forschungspragmatische Orientierung zu dienen. Forschen wird von Strauss als Arbeit, also als problemlösendes Handeln, verstanden (vgl. Strauss 1987: 9). Die Triade der Prozesse der Datenkonstruktion, Datenanalyse und Theoriebildung werden als wechselseitig abhängig konzipiert. Das ist einer der Gründe, warum Strauss von einer Parallelität der Arbeitsschritte des Forschungsprozesses ausgeht. Eine strenge Sequentialität der Arbeitsschritte wie sie in der älteren Methodenliteratur oder für standardisierte Untersuchungsdesigns gefordert wird, lehnt er ab. Für empirische Analysen kommen als Daten im Sinne der Grounded Theory eine Vielzahl von Materialien in
8
Einen guten Überblick über die Divergenzen und den Konflikt zwischen den beiden Gründerfiguren bietet Strübing (2004: 63ff.). Der Sammelband „Developing Grounded Theory“ (Morse/Stern/Corbin 2008) gibt einen Einblick in die Entwicklungen und Arbeiten der „zweiten Generation“ von SozialforscherInnen, die mit der Grounded Theory arbeiten.
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Frage – wobei der Fokus bei den Arbeiten und Lehrbeispielen von Strauss auf Beobachtungsprotokollen und Interviews liegt.9 Wie oben bereits erwähnt wurde, steht die Grounded Theory Methodologie aufgrund ihrer Entstehung in einer spezifischen Theorietradition. Vor allem in der hier präferierten Variante ist die Nähe zum Symbolischen Interaktionismus sehr stark. Die methodologischen Weichenstellungen stehen einer Vereinbarkeit des Forschungsstils mit anderen Theorietraditionen jedoch nicht grundsätzlich im Weg. Allerdings sind im Hinblick auf theoretischen Hintergrund und Forschungsfrage Anpassungen der Verfahrensweisen unabdingbar. Solange diese die Essentials der Grounded Theory Methodologie (vgl. Strauss/Corbin 1990) jedoch im Kern unangetastet lassen, sind sie unproblematisch ja von Strauss sogar gefordert (vgl. Strauss 1987: 7ff.).10 Ein wichtiges Thema, das häufig zu Missverständnissen führt, ist die Rolle theoretischen Vorwissens in der qualitativen Sozialforschung im Allgemeinen und in der Grounded Theory im Besonderen. Die Annahme, dass der Forscher ohne Vorwissen ins Feld gehen könne, ja sogar müsse, ist weit verbreitet und wird teilweise sogar von VertreterInnen der Grounded Theory ins Feld geführt. Vor allem in der Tradition Glasers wird gerne ein Induktivismus vertreten, der mehr als problematisch erscheint (vgl. Kelle 2008: 324ff.). Die Quellen von (theoretischem) Vorwissen sind neben Fach- und sonstiger Literatur in unterschiedlichen Formen berufliche und persönliche Erfahrung (vgl. Strauss 1987; Corbin/Strauss 2008; Strübing 2004). Häufig wird in den Kritiken die Rolle des Konzepts der theoretischen Sensibilität ausgeblendet, die Glaser und Strauss bereits 1967 in „The Discovery of Grounded Theory“ betonen.11 Damit ist die Fä-
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In „The Discovery of Grounded Theory“ gehen Strauss und Glaser soweit, dass sie statistische Daten und ihre „qualitative“ Analyse anhand von konkreten Beispielen diskutieren (vgl. Glaser/Strauss 1967: Kap 6). In den folgenden Schriften wird jedoch auf das Verhältnis von statistischen Daten und Theoriebildung und der Kombination von quantitativen und qualitativen Methoden nicht mehr eingegangen.
10 Was zu den Essentials gehört, lässt sich unterschiedlich definieren. Im Anschluss an Strübing etwa gehören zu den unverzichtbaren Merkmalen und Prozeduren der Grounded Theory die Modi des Kodierens, das Verfassen theoretischer Memos, ein iterativ-zyklisches Untersuchungsdesign, das theoretical sampling und die Methode des ständigen Vergleichens (Strübing 2004: 87f.). 11 Bereits in dem Gründungsmanifest von Glaser und Strauss (1967: 3, Herv. i. O.) findet sich folgende aufschlussreiche Fußnote: „Of course, the researcher does not approach reality as a tabula rasa. He must have a perspective that will help him see relevant data and abstract significant categories from his scrutiny of the data.“
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higkeit gemeint, in Auseinandersetzung mit den Daten zu theoretischen Konzepten und in letzter Konsequenz zu einer in den Daten verankerten Theorie zu gelangen. Eine Quelle dieser analytischen Kompetenz, die sich mit zunehmender Forschungsarbeit entwickelt, liegt nicht zuletzt im Studium einschlägiger Fachliteratur (vgl. Flick 2009: 72ff.; Strauss 1987; Corbin/Strauss 2008; Strübing 2004).12 Vor allem in der gemeinsamen Monographie mit Juliet Corbin äußert sich Strauss positiv über die Rolle von Vorwissen für die Forschungsarbeit. Dennoch sollte spezifiziert werden, in welchen Verfahrensschritten der Einsatz von theoretischem Vorwissen legitim ist. Was jedoch allenfalls als Kritik angeführt werden kann, ist ein methodisch unkontrollierter Umgang mit Vorwissen. Während der Einsatz zur Generierung der Erhebungsinstrumente wie beispielsweise eines Interviewleitfadens unabdingbar erscheint, ist die Rolle des Vorwissens bei der Analyse der Daten durchaus kritisch zu reflektieren. Gerade in der Feinanalyse sollte das (theoretische) Vorwissen methodisch kontrolliert werden, um subsumtionslogische Schlüsse zu vermeiden. Das gilt in der Grounded Theory besonders für den Modus des offenen Kodierens (s.u.). Die dazugehörigen Prozeduren der Feinanalyse folgen zwar streng genommen keinem sequentiellen Verfahren, sie zielen gleichwohl auf die analytische „Aufbrechung“ der Daten ab (Strauss 1987: 28ff.). Für die Modi des axialen wie selektiven Kodierens wiederum ist es der Verfahrenslogik nach nicht zu vermeiden, mit äußerem Kontext zu arbeiten, d.h. nicht ausschließlich am zu interpretierenden Material interne Lesarten zu entwickeln, sondern auch auf andere – bereits interpretierte – Fälle zurückzugreifen.
4.3 AUFBAU DES S AMPLES UND M ETHODEN DER D ATENKONSTRUKTION Die primären Daten für die Analysen der vorliegenden Untersuchung resultieren aus leitfadengestützten Interviews. Hinzu kommen ergänzende Materialien, d.h. im vorliegenden Fall vor allem Beobachtungsprotokolle. Bevor die Datengenerierung näher beschrieben wird, soll zunächst die Auswahl dieser Erhebungsin-
12 Mit Jean Claude Kaufmann gesprochen, ergibt sich in dieser Hinsicht eine „doppelte Funktion der Lektüre“ (1996: 53ff.). Erstens dient sie dem Erfassen des Forschungsstands zum Thema, und zweitens ermöglicht „abseitige“ Lektüre als Quelle „neuen“ Wissens die Kontrastierung und Entwicklung von Hypothesen. Damit kommt in den Blick, dass nicht nur die Fachliteratur, sondern auch sonstige Quellen im Forschungsprozess von Relevanz sein können, um den Interpretationsprozess zu bereichern.
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strumente plausibilisiert werden. Unabhängig vom theoretischen Standpunkt kann eine zeitgemäße soziologische Analyse die Tatsache nicht ignorieren, dass Konsum, Aneignung oder Produktion von Hoch- wie Populärkultur immer sozial situiert vonstattengeht, d.h. kontextspezifisch gerahmt und in einer begrenzten Vielfalt von praktischen Formen beobachtbar ist (vgl. Gebesmair 1998: 16). Dazu gehört das Gespräch über Hoch- und Populärkultur ebenso wie der konkrete Gebrauch von Filmen, Schallplatten, Büchern oder auch Computerspielen. Aus diesem Grund wird im Folgenden eine nicht-standardisierte Vorgehensweise präferiert, die besser geeignet erscheint, um die Art und Weise zu analysieren wie Akteure über Musik sprechen und im Alltag nutzen. Im Umfeld der Medienrezeptionsforschung haben ähnliche Einsichten dazu geführt, dass auf qualitative Forschungsstrategien gesetzt wird (Ang 1985; Morley 1980; Radway 1984). Im deutschsprachigen Raum ist es auch v.a. die Medienforschung, die als Vorbild dienen könnte.13 Grundlegend lässt sich die Differenz zwischen Alltagssituationen und Befragungssituationen fruchtbar machen, um herauszuarbeiten, was die empirische Sozialforschung erhebt, wenn sie Musikkonsum und -rezeption erforscht (Gebesmair 2001: 77ff.). In Alltagssituationen ist Musik in unterschiedlichen Vermittlungsformen gegenwärtig. Sie kann im Wesentlichen in drei Formen präsent sein: durch Massenkommunikationsmittel, als öffentliche Darbietung oder durch aktives Musizieren. Situativ gerahmt kommt es dabei zur Ausbildung und Anwendung von Dispositionen bzw. „Erfahrungskondensaten“. Diese lassen sich wiederum, im Anschluss an Gebesmair, in drei analytische Aspekte aufgliedern – Objektrepräsentationen und Informationsverarbeitungsvermögen, habitualisierte Hörstrategien und Genussformen sowie habitualisierte soziale Strategien. 14 In der Befragungssituation kommt Musik abhängig vom Erhebungsinstrument im Wesentlichen in zwei Formen vor: (a) Bei der Verwendung sogenannter „klingender Fragebögen“ (Karbusicky 1966/1975) als Klangereignis, das eingeordnet und/oder bewertet werden soll.15 (b) In Form musikalischer Begriffe, wie beispielsweise Genres, Stücke oder seltener InterpretInnen und KomponistInnen.
13 Eine Übersicht zu qualitativen Methoden in der Medienforschung bieten die Beiträge in Ayaß/Bergmann (2006). Für die dokumentarische Methode sei exemplarisch auf Geimers Analyse der Filmrezeption und -aneignung von Jugendlichen verwiesen (2010). 14 Die Unterscheidung zwischen Hörstrategie und sozialer Strategie ist streng genommen eine analytische (vgl. Gebesmair 2001: 63ff.). 15 Eine Weiterentwicklung des klingenden Fragebogens stellt die audio-visuelle Befragung dar, wie sie von Müller (2002) entwickelt und angewendet wurde.
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Dies kann in unterschiedlicher Form geschehen. So räumt beispielsweise Bourdieu in dem Fragebogen, der seiner Studie „Die feinen Unterschiede“ zugrunde liegt, Fragen zu Musik viel Raum ein.16 Auf Basis der der Dispositionen bzw. Erfahrungskondensate, die sich in Alltagssituationen ausbilden, locken empirische SozialforscherInnen in der Befragungssituation (a) vegetative Reaktionen in Bezug auf klingende Fragebögen, (b) verbale Geschmacksurteile und Aussagen über das Verhalten im Alltag sowie (c) verbalisierte Hörstrategien, Normen, Werthaltungen, Einschätzungen etc. hervor. Aus der Perspektive der empirischen Sozialforschung, der Musiksoziologie wie -psychologie sind sowohl Alltagssituation wie auch Befragungssituation durch eine Reihe von Einflussgrößen zu charakterisieren. Als bewährte Erklärungsfaktoren lassen sich, laut Gebesmair (2001: 99ff.), die zu erwartenden Faktoren ausmachen: (a) Alter, Geschlecht sowie Ethnie, (b) Persönlichkeit und (c) sozio-ökonomische Faktoren. Diese Faktoren werden zum Teil für die Auswahl der Interviewten – zumindest für den Einstieg in die Untersuchung zu berücksichtigen sein. Die vorhandene quantitative Sozialforschung bildet dieses Modell hinreichend ab. Aus einer qualitativen Perspektive musste dieses Modell in mehrfacher Hinsicht verändert werden, es liefert aber auch einige relevante Anhaltspunkte für die Konzeption eines Untersuchungsdesigns. Ergänzt wurden im Hinblick auf Alltagssituationen die mittelbare Präsenz von Musik in Form von sprachlichen Repräsentationen wie sie in der medialen Berichterstattung aber auch in Alltagsgesprächen zu finden sind. Hierin ähneln sich Alltags- und Befragungssituation. Hinzugefügt wurden ferner situative und kontextuelle Faktoren zu Erklärung von musikalischer Praxis in ihren vielfältigen Formen. Im Anschluss an die bisherigen Erkenntnisse zu bewährten Erklärungsfaktoren für musikalische Präferenzen und Praktiken und die Diskussion um Phänomene des grenzüberschreitenden Geschmacks (siehe Kapitel 3.1 sowie Berli 2010) lassen sich Entscheidungen für die Auswahl der InterviewpartnerInnen ableiten. Mit der Grounded Theory als Stichwortgeberin für das zugrundeliegende Untersuchungsdesign liegt es nahe für das sogenannte theoretische Sampling zu votieren. Die vorläufige Definition der „cultural omnivores“ als Angehörige ei-
16 So werden im Fragebogen (Bourdieu 1979/1987: 800ff.) folgende musikbezogene Frageformen eingesetzt und Items abgefragt: (a) Besitz eines Plattenspielers, (b) Spielen eines Musikinstruments, (c) LieblingsinterpretInnen aus einer Liste, (d) Einstellungen gegenüber „ernster Musik“, (e) Radiohörgewohnheiten (f) Kenntnis von Musikstücken und Zuordnung zu deren Komponisten sowie (g) Präferenzen für genannte Musikstücke.
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ner statushohen Gruppe mit einem Musikgeschmack, der sowohl Hoch- als auch Populärmusik umfasst, ist sehr offen. Diese Offenheit erschwert auf den ersten Blick den Zugang zu möglichen InterviewpartnerInnen. Allerdings ist auch die Fallauswahl zur Erstellung einer repräsentativen Zufallsstichprobe einer Population bei bekannter Grundgesamtheit mit erheblichem Aufwand verbunden. Dies ist nicht zuletzt der aus Sicht der qualitativen Sozialforschung theoretisch unterbestimmten Untersuchung des Phänomens geschuldet. Aber gerade mit dieser offenen Definition gestaltet sich ein erster Einstieg ins Feld einfacher, denn im Verlauf der Untersuchung werden im Zuge der sich entwickelnden Falldefinitionen und Konzeptualisierungen die Kriterien der Fallauswahl modifiziert. Den Überlegungen zum theoretischen Sampling wurde in der Untersuchung in mehrfacherweise Rechnung getragen. Zu Beginn wurden möglichst homogene Fälle erhoben – die Homogenität orientierte sich an den Kriterien Geschlecht, Bildung, Alter sowie (selbst)zugeschriebene musikalische Offenheit. Damit wurde dem vorliegenden Forschungsstand, wie er in Kapitel 3 diskutiert wurde, Rechnung getragen und die Voraussetzungen für minimal kontrastive Vergleiche geschaffen. Dies betrifft die ersten vier Interviews. Wobei sich bereits in der Auswertung dieser vier Interviews gezeigt hat, dass die (selbst)zugeschriebene musikalische Offenheit sich im Gesprächsverlauf sehr unterschiedlich manifestieren kann. Dies verwundert allerdings wenig, bedenkt man die Ergebnisse Olliviers (2008), die mehrere Modi kultureller Offenheit unterscheidet. In einer zweiten Feldphase wurde dann vor allem im Hinblick auf das Geschlecht der Interviewten kontrastiv gesampelt. Zudem hat sich die Gelegenheit ergeben mit Dana und Steffen ein Paar zu interviewen, so dass für die Frage nach der wechselseitigen Beeinflussung des Musikgeschmacks in Paarbeziehungen sowie die Relevanz von PartnerInnen für die Weiterentwicklung des kulturellen Konsums gefragt werden konnte. In den weiteren folgenden Interviews wurde zum einen das Alter variiert, wie auch die selbstzugeschriebene musikalische Offenheit. Im Hinblick auf das Alter liefert die vorliegende Literatur den Hinweis, dass sich in Deutschland vor allem in der Altersgruppe von 18 bis 39 Jahren Grenzüberschreitungen zwischen Hoch- und Populärkultur finden lassen (Gebesmair 2004: 194). Hinsichtlich der musikalischen Offenheit wurden zusätzlich Interviews mit Personen durchgeführt, die ganz eindeutig auf eine geringe Zahl von musikalischen Genres festgelegt sind – und sich selbst auch so verstehen. Die zweite und dritte Feldphase folgen damit dem Gedanken des maximalen Vergleichs. Somit finden sich im Sample: (a) sowohl klassische „cultural omnivores“, die Präferenzen für legitime und illegitime musikalische Genres verbinden; (b) MusikkonsumentInnen mit einem engen Präferenzspektrum, das auf legitime Stile fokussiert ist; (c) Personen, die im Sinne Parzers eine „Querbeetgeschmack“ (2011)
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aufweisen, also vielfältige und als konträr wahrgenommene Präferenzen im Bereich der Populärmusik aufweisen. Problematisch erwies sich die Auswahl nach der (selbst-)zugeschriebenen musikalischen Offenheit, da sich immer erst im Verlauf des jeweiligen Interviews gezeigt hat, wie sich diese Offenheit konkret äußert. Zum Teil wurde dabei auf Hinweise bereits interviewter Personen zurückgegriffen, wenn die genannten Personen voraussichtlich den je aktuellen Rekrutierungskriterien entsprachen. Im Hinblick auf das Alter wurden Kinder und Jugendliche aus der Untersuchung explizit ausgenommen. Dies hat mehrere Gründe. Zum einen liegt der Fokus der vorliegenden Studie nicht auf dem Erwerb von musikspezifischem kulturellem Kapital. Sofern sich anhand der Interviews Rückschlüsse auf Bedingungen der musikalischen Sozialisation ziehen lassen, finden diese im Kapitel 5 „Generierungsbedingungen von Musikgeschmack“ Berücksichtigung. Desweiteren stellt gerade der jugendliche Kulturkonsum im Allgemeinen und Musikkonsum im Besonderen gut erforschte Bereiche dar.17 Gerade auch die Szeneforschung bietet hier eine Vielzahl von Studien, welche eine weitere Untersuchung in diesem Bereich nur bedingt erkenntnisgenerierend erscheinen lassen – zumal wenn ein Untersuchungsschwerpunkt auf Distinktionspraxis liegt.18 Die anschließende Tabelle gibt einen ersten Überblick über die Interviewten. Das Alter zum Zeitpunkt des jeweiligen Interviews weist eine gewisse Bandbreite auf: die Jüngsten der Interviewten sind 25, der Älteste 69 Jahre alt. Alle weisen durchgängig relativ hohe formale Bildungsabschlüsse auf, mit denen sie in der Regel den Status ihrer Eltern erreichen. Ursprünglich war geplant auch in Bezug auf den Bildungsstand stärker kontrastiv zu sampeln. Allerdings hat sich schnell gezeigt, dass auch innerhalb des im Hinblick auf das institutionalisierte kulturelle Kapitel recht homogenen Samples der Musikgeschmack so variantenreich ist, dass davon Abstand genommen wurde.
17 Da die Literatur in diesem Bereich sehr umfangreich ist, sei an dieser Stelle lediglich exemplarisch auf eine Reihe instruktiver Publikationen verwiesen, welche die theoretische wie methodische Bandbreite der Forschung in diesem Feld widerspiegeln: Baacke (1997); Bennett (2000); Heyer/Wachs/Palentien (2013); Hoffmann/Schmidt (2008); Müller/Glogner/Rhein (2002); Rimmer (2010); Schorr (2009). 18 Allerdings weisen viele dieser Studien eine Fokussierung auf das „Exotische“, Spektakuläre und Außeralltägliche auf. Untersucht werden z.B. „Gothics“ (Schmidt/ Neumann-Braun 2008), Events wie bspw. Festivals (Kirchner 2011) usw. Nur selten sind die sogenannten „Allgemein jugendkulturell Orientierten“ (AJOs) (Schmidt 2003) Gegenstand der Erörterungen, gleichwohl sie rein zahlenmäßig die Mehrheit stellen dürften.
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Nr.
Bildung
Bildung
Vater
Mutter
k.a.
k.a.
Studium
Abitur
Studium
Abitur
Fachabitur
Abitur
Studium
Studium
Studium
Studium
Hauptschule
Hauptschule
k.a.
k.a.
Promotion
Lizeum
Studium
Musikstudium
Studium
k.a.
Interview
Alter
Bildung
1
Konrad
31
Studium
2
Bernd
25
3
Michael
26
4
Caspar
27
5
Kim
25
6
Dana
31
7
Steffen
31
8
Johanna
65
9
Uwe
69
10
Markus
46
Abitur, im Studium Abitur, im Studium Abitur, im Studium
Ausbildung, Studium Ausbildung, Studium Studium Ausbildung, Abitur
Tabelle 6: Überblick Sample19 Die Konstruktion des Leitfadens für die Interviews nimmt Vorschläge von JeanClaude Kauffmann auf, die dieser in „Das verstehende Interview“ formuliert hat (1996: 65ff.). Innerhalb des Interviews wird eine thematische Fokussierung auf Musikgeschmack und dessen Ausbildung angestrebt. Geschmack, wie er im Rahmen dieser Arbeit verstanden werden soll, besteht wesentlich aus drei Komponenten: Präferenzen für bestimmte Musik (und damit auch Abneigung gegen andere Musikarten), Wissen über Musik (und Nicht-Wissen über nichtpräferierte Formen von Musik) sowie die Praktiken der Aneignung von Musik (wie beispielsweise Konzertbesuche). Dabei liegen augenscheinlich die ersten
19 Natürlich lassen sich die aus interpretativer Perspektive relevanten Aspekte nur unzureichend in Form dieser Tabelle abbilden. Ausführlicheren Aufschluss über die einzelnen Interviewten geben die kurzen Darstellungen, die sich im Anhang finden.
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beiden auf einer anderen Ebene als die Praktiken des Musikhörens. Die Präferenzen und das Wissen werden in Interaktionen offenbar, so dass sie in dieser Ausdrucksform untersuchbar sind. Für die Konstruktion des Leitfadens haben diese Überlegungen folgende Konsequenzen: Im Hinblick auf die Themen werden in den leitfadengestützten Interviews alle oben genannten Komponenten von Musikgeschmack abgedeckt. Das heißt zunächst, dass sowohl Präferenzen für als auch Abneigungen gegen Musik abgefragt werden. Da sich diese nicht zwangsläufig auf Genres, sondern auch auf einzelne InterpretInnen oder auch Stücke beziehen können, wird berücksichtigt. Anders als in standardisierten Befragungsinstrumenten lässt das leitfadengestützte Interview dabei den Befragten den Raum ihre eigenen Wissensordnungen zu entfalten, was sich beispielsweise im Gebrauch ‚ungewöhnlicher‘ Ordnungsbegriffe für Musik zeigt. Die eingeübten Praktiken des Ordnens von Musik in Genres, wie auch die vielfältigen Formen des Sortierens und Arrangierens von Musik sind denn auch Gegenstand eines eigenen Kapitels geworden (Kapitel 6.1). Eng verknüpft mit den Fragen zu den musikalischen Präferenzen werden Fragen zur Qualität der wertgeschätzten oder abgelehnten Musik formuliert. Auf diese Weise sollen musikalische Geschmacksurteile hervorgebracht werden, die über die einfache Nennung von Präferenzen hinausgehen. In der Praxis der Interviewführung hat sich gezeigt, dass die meisten Befragten nicht zusätzlich motiviert werden müssen, um Geschmacksurteile zu rationalisieren. Dabei wird konkreten Fragen der Vorzug vor diffusen Formulierungen gegeben. Die logische Reihung der Fragen auf dem Leitfaden soll nach Möglichkeit keine Brüche aufweisen, die die Interviewsituation „unangenehm“ machen können. Gleichwohl weiß jede/r Interviewerfahrene, dass Interviews eine eigene Logik entwickeln und gerade in der qualitativen Sozialforschung die Offenheit für die Abweichung vom Instrument ein Gütekriterium sein kann. Ein logischer Aufbau des Leitfadens darf zudem nicht zur viel zitierten „Leitfadenbürokratie“ führen (Hopf 1978). Die offene Einstiegsfrage lautete beim ersten Interview noch „Was für Musik hören Sie besonders gerne?“. Damit wurde der gängigen Forderung nach einem offenen Einstieg Folge geleistet, gleichzeitig zeigte sich jedoch, dass dieser Einstieg zunächst zu (aufschlussreichen) Nachfragen seitens der Interviewten führen kann. Deshalb wurde im Fortlauf der Studie sowohl der Einstieg als auch die einleitende Frage variiert. Zudem konnte bei vielen Interviews auf die dem eigentlichen Interview vorangehende Kommunikation angeschlossen werden: „Wie wir bereits in unserem Vorgespräch geklärt haben, werden wir uns im folgenden Interview eingehend über Ihren Musikgeschmack und Ihrem Umgang mit Musik unterhalten […]“. Eine derartige Bezugnahme auf vorherige Kommunikation hat sich als hilfreich erwiesen, da derart auch die Er-
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wartungen und Vorannahmen der Befragten zum Vorschein gebracht werden können. Im Zuge der Untersuchung wurde der Leitfaden mehrfach überarbeitet gerade auch im Verlauf der Weiterentwicklung des theoretischen Samples. Die letzte Fassung des vollständigen Leitfadens findet sich im Anhang, deshalb hier nur ein Auszug zur Illustration: • • • •
Was macht Ihrer Meinung nach gute Musik aus? Welche Musik gefällt Ihnen besonders? Erzählen Sie von der letzten Situation in der Sie Live-Musik gehört haben. Erinnern Sie sich an das erste Konzert, dass Sie besucht haben?
Noch eine Bemerkung zum Format der durchgeführten Interviews. Die Interviews changieren zwischen den Typen der problemzentrierten, episodischen und teilstandardisierten Interviewformen (vgl. Helfferich 2004: 24ff.). Einerseits wurde in der Interviewführung auf möglichst offene Frageformulierung geachtet, die Erzählungen von Seiten der Interviewten provozieren. Andererseits gibt der Leitfaden eine Reihe von Themenfokussierungen vor, die eine Orientierung hin auf das Forschungsproblem leisten sollen. Im Anschluss an die leitfadengestützten Interviews wurden mithilfe eines teilstandardisierten Fragebogens sozialstrukturelle Merkmale (‚objektive Daten‘) erhoben. Abgefragt wurden im Einzelnen Bildungsabschlüsse, Beruf, Familienstatus, Alter, Einkommen, Bildungsabschlüsse und Beruf der Eltern sowie die Selbsteinschätzung der Klassenzugehörigkeit. Neben den leitfadengestützten Interviews wurden im geringen Umfang Beobachtungsprotokolle angefertigt, um die interviewgenerierten Daten zu ergänzen. Eine erste Quelle für Beobachtungen waren verschiedene Orte des Musikhandels. Hier wurden vom Großmarkt, über kleine Plattenläden bis hin zur Schallplattenbörse gezielt Orte aufgesucht, um die räumliche Anordnung und die Bezeichnung bzw. Sortierung von physikalischen Tonträgern außerhalb privater Räume in den Blick zu nehmen. Aufgrund dieser Beobachtungsdaten hat sich im komparativen Vergleich erst die Vielfalt der kreativen Lösungen der befragten MusikkonsumentInnen gezeigt. Damit die Differenzen zwischen den Aufstellungs- und Präsentationslogiken im Verkaufsraum und im privaten Raum überhaupt in den Blick geraten konnten, war es notwendig zum einen nach Möglichkeit die meisten Interviews bei den Befragten durchzuführen und zum anderen im Anschluss an die Interviews oder im Vorlauf einen Blick auf die Tonträgersammlung und die Wohnung resp. das Haus zu werfen. In den meisten Fällen ist dies gelungen, was bei sieben von zehn Interviewten aufschlussreiche Beobachtungen ermöglicht hat. Auf Basis der dabei entstandenen Beobachtungsprotokol-
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le, die vor allem auf das räumliche Arrangement und die Klassifikation von Tonträgern fokussiert waren, ergaben sich analytische Ideen für die Auswertung der Praktiken des Ordnens und Sortierens von Musik im privaten Raum (siehe v.a. Kapitel 6.1). Da alle Befragten neben zum Teil recht umfangreichen digitalen Musiksammlungen auch über physikalische Tonträger verfügen, erwies sich diese Strategie für komparative Überlegungen als sehr gewinnbringend.
4.4 S TRATEGIEN DER D ATENAUSWERTUNG In der Grounded Theory lassen sich unterschiedliche Modi des Kodierens unterscheiden. Im Anschluss an Strauss sind dies die Modi des offenen, axialen und selektiven Kodierens. Grundsätzlich zielen diese Prozesse darauf ab, in Auseinandersetzung mit den Daten Konzepte und Kategorien zu entwickeln. Wie sieht diese Arbeit mit den Daten im Einzelnen aus? Zum Einen operiert die Grounded Theory mit der „Leitidee“ der Methode des ständigen Vergleichs (constant comparative method) (Glaser 1965; Glaser/Strauss 1967: 101ff.; Strauss 1987: 16, 25; Strübing 2004: 18). Die angewandten Vergleichsoperationen dienen dazu Eigenschaften, Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Konzepten herauszuarbeiten, die im Interpretationsprozess entstehen. Dabei werden zum anderen sogenannte „generative Fragen“ an die zu untersuchenden Daten gestellt, die einerseits helfen die Interpretation zu fokussieren und andererseits zu neuen Fragen führen (vgl. Strauss 1987; Corbin/Strauss 2008: 69ff.). Die konkrete Interpretationsarbeit wurde in der vorliegenden Untersuchung zum großen Teil softwaregestützt durchgeführt.20 Dabei wurde vor allem von den Möglichkeiten des TextRetrievals für die axiale und selektive Kodierung intensiv Gebrauch gemacht. Die unterschiedlichen Modi des Kodierens repräsentieren zum Teil auch den Fortschritt des dabei entstehenden konzeptionellen Apparats. Unter offenem Kodieren wird der erste Einstieg in zu untersuchende Daten verstanden. Hierbei ähnelt das praktische Vorgehen stark anderen qualitativen Interpretationsverfahren wie der Objektiven Hermeneutik, da die Daten in kleinen Segmenten interpretiert werden. Die Parallelen zwischen dem Modus des offenen Kodierens bzw. der sogenannten „microscopic examination“ (Strauss 2004) und einem sequenzanalytischen Vorgehen sind dabei nicht von der Hand zu weisen. Dennoch versteht sich die Grounded Theory in der Regel – anders als beispielsweise die Objektive Hermeneutik – nicht im strengen Sinne als Sequenzanalyse. In der vorliegenden Untersuchung wurde in der Regel zunächst die Eröffnungssequenz des
20 Im vorliegenden Fall wurde Atlas.ti in der Version 6 verwendet.
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jeweiligen Interviews offen kodiert. Auf Basis dieser offenen Kodierung hat sich beispielsweise im Verlauf der Untersuchung gezeigt, wie manche der Interviewten gängige Genrebegriffe umgehen und offene Ordnungsbegriffe verwenden. Im Zuge der mehrmaligen Rekodierung konnte an diesem Befund weiter gearbeitet werden. Dabei kam u.a. das sogenannte axiale Kodieren zum Einsatz. Im Modus des axialen Kodierens soll in der Regel auf eine Kategorie fokussiert werden, um ihre Merkmale und deren Ausprägungen auszuarbeiten (vgl. Strauss 1987: 64). Ein Beispiel hierfür sind die Verwendungsweisen von Musikkategorien wie sie in Kapitel 6.1 diskutiert werden. Im Zuge weiterer Analysen wurden dieser und weitere Befunde zur Theorie des unterscheidenden Hörens verdichtet. Hierbei kam neben dem axialen Kodieren maßgeblich das selektive Kodieren zum Einsatz. Dieser Kodiermodus zielt darauf ab, die im offenen und axialen Kodieren gewonnenen Konzepte stärker zu integrieren und das entstehende theoretische Gerüst – möglichst in Bezug auf eine oder wenige Kernkategorien – zu fokussieren (Strauss 1987: 69; Strübing 2004: 20). Auf der obersten Abstraktionsebene sind die analytischen Fokussierungen, welche die Struktur der empirischen Kapitel im Teil II der vorliegenden Arbeit vorgeben, Ergebnis der eben abstrakt beschriebenen Kodierprozesse. Grundsätzlich werden im Folgenden die Generierungsbedingungen von Musikgeschmack (Kapitel 5) von der Theorie des unterscheidenden Hörens (Kapitel 6) analytisch getrennt untersucht. In einem abschließenden Analyseschritt wurden anhand der vorliegenden Daten die „Grenzen des Musikgeschmacks und grenzüberschreitender Musikgeschmack“ in Beziehung gesetzt (Kapitel 7).
Teil II – Musik als Mittel der Distinktion und Gegenstand der Legitimation
5. Generierungsbedingungen von Musikgeschmack
Musik ist ein allgegenwärtiger Bestandteil des sozialen Lebens und als Menschen kommen wir alle in unserem Lebenslauf mit unterschiedlichsten Formen von Musik in Berührung. Diese Begegnungen finden zu verschiedenen Zeitpunkten und in mannigfachen Kontexten statt: Als Schülerinnen und Schüler unternehmen viele erste Gehversuche auf der Blockflöte, in Filmen wird Musik als Gestaltungselement eingesetzt – und zwar so regelmäßig, dass erst ihre Abwesenheit auffällt – und beim Einkaufen werden wir mit der für Viele „ärgerlichen Tatsache“ der Hintergrundmusik konfrontiert. Systematisch lassen sich Musik und die damit verbundenen Vorlieben, Abneigungen und Umgangsweisen sowohl in diachroner als auch synchroner Perspektive in den Blick nehmen. In diachroner Perspektive lässt sich zum einen die Genese des individuellen Musikgeschmacks untersuchen. Im Lebenslauf erwerben die Akteure einen subjektiven Wissensvorrat, der einerseits an den subjektiven Erfahrungsverlauf und die individuelle Biographie gebunden ist und damit andererseits auch durch die Strukturen des gesellschaftlichen Wissensvorrats strukturiert wird (vgl. Schütz/Luckmann 2003: 147ff., 329ff.). Übersetzt in eine andere Theoriesprache lernen die Akteure klassen- respektive feldspezifische Konventionen und Traditionen kennen, bilden kulturelle Präferenzen aus und lernen Musik zu unterscheiden und zu bewerten. Diese Wissensbestände und Kompetenzen sind Teil des inkorporierten kulturellen Kapitals, das feldspezifisch seinen Wert erweisen muss. Werden die Generierungsbedingungen von Musikgeschmack in den Blick genommen, befasst man sich mit anderen Worten mit den Prozessen und Bedingungen der musikalischen Sozialisation. In der soziologischen Literatur wird dem Thema der musikalischen Sozialisation nur geringe Aufmerksamkeit zuteil. Dies lässt sich bereits an der geringen Anzahl der Publikationen in diesem Bereich ablesen. Auch einschlägige Studien mit breiterem thematische Fokus, wie bspw. Gebesmairs „Grundzüge einer Soziologie des Musikgeschmacks“ (2001: 44-47, 99ff.),
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behandeln das Thema eher zurückhaltend. Eine ausgearbeitete Theorie der musikalischen Sozialisation liegt denn auch bis dato nicht vor, wie auch Lenz feststellt (vgl. Lenz 2013: 158).1 Wird der Fokus von den Generierungsbedingungen individueller Geschmacksmuster abgewendet, können in diachroner Perspektive zum anderen weitere Phänomene untersucht werden. Es können feldspezifische Änderungen der Produktion, Distribution wie Rezeption von Musik in den Blick geraten.2 Da in der vorliegenden Untersuchung das Hauptaugenmerk auf individuellen Geschmacksmustern und Umgangsweisen mit Musik liegt, gehen feldspezifische Prozesse und Organisationen nur vermittelt über diese in die Betrachtung ein. In synchroner Perspektive können unterschiedliche Arenen bzw. Kontexte der Aneignung von musikspezifischem kulturellem Kapital unterschieden werden. Das Feld der Musik kann als Teil des Feldes der kulturellen Produktion verstanden werden, mit unterschiedlichen Instanzen der Legitimierung von Musik, die in ihrer Gesamtheit an der gesellschaftlichen Konstruktion der Sinnhaftigkeit und Legitimität des Feldes der Musik mitwirken.3 Musikalisch aktive Akteure – in einem breiten Sinne aktiv: Hören, Diskutieren, Tanzen, Singen etc. – bewegen sich innerhalb unterschiedlicher Kontexte und Situationen, die das Feld der Musik als Konsum- wie als Produktionsfeld konstituieren und in denen Musik präsent ist sowie relevant wird oder werden kann.4
1
Inhetveens Arbeit „Musiksoziologie in der Bundesrepublik Deutschland“ bietet einen kondensierten Überblick über Untersuchungen zu diesem Themenkomplex (1997a: 200ff.). Des Weiteren last sich an dieser Stelle auf die Beiträge in „Youth – Music – Socialization“ (Bailer/Huber 2006) hinweisen.
2
Klassisch sind hier zu nennen Bourdieus Studie „Die Regeln der Kunst“ (1992/2001), die für Feldstudien stilbildend wirkte (vgl. Zahner 2006; die Beiträge in Bernhard/Schmidt-Wellenburg 2012a, 2012b). Bezogen auf das Feld der Musik sind hier außerdem DeNoras Studie „Beethoven and the Construction of Genius“ (1995), Petersons „Creating Country Music“ (1997b) sowie Gebesmairs „Die Fabrikation der globalen Vielfalt“ (2008) zu nennen.
3
Bourdieu unterscheidet in seinem Aufsatz „Künstlerische Konzeption und intellektuelles Kräftefeld“ (1966/1974) drei „Sphären“ unterschiedlicher Legitimität hinsichtlich ihrer symbolischen Formen und korrespondierenden Legitimationsinstanzen: eine erste „Sphäre mit Anspruch auf universelle Anerkennung“, eine zweite „Sphäre potentieller Legitimität“ sowie drittens eine „Sphäre segmentarischer Legitimität“ (siehe v.a. Bourdieu 1966/1974: 109).
4
Zur Verschränkung von Produktion und Konsum aus feldanalytischer Perspektive liefert Kropf (2012) erste Überlegungen für das Feld der Musik.
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In diesem Kapitel soll der Fokus auf der diachronen Betrachtung der Entstehung von Musikgeschmack liegen. Die Genese des individuellen Musikgeschmacks lässt sich aus Bourdieuscher Perspektive als Inkorporierung generalisierten wie spezifischen kulturellen Kapitals begreifen (vgl. Kapitel 2.1). Die damit verbundenen Prozesse sind keineswegs voraussetzungslos. Gleich in welcher Form, die Aneignung von kulturellem Kapital bedarf der Investition von Zeit (vgl. Bourdieu 1983: 183, 186, 197). Betrachten wir eine spezielle Form des kulturellen Kapitals, das inkorporierte kulturelle Kapital, kommt hinzu, dass der Prozess der Inkorporierung nicht delegierbar ist. Wir können Andere unsere Anschaffungen (bspw. einer Schallplatte) für uns machen lassen, die symbolische Aneignung (bspw. einer CD oder Schallplatte) muss von uns selbst geleistet werden.5 Diese symbolische Aneignung kann laut Bourdieu auf unterschiedlichen Niveaus erfolgen, abhängig davon welche Schemata von den Akteuren angewandt werden, um Werke und Praktiken einzuordnen, zu bewerten und interpretieren. In der Auseinandersetzung mit Musik und Kunst im Allgemeinen ist es naheliegend, dass eine erste Bedeutungsschicht aufgrund von Alltagserfahrung und -wissen konstruiert wird (vgl. Bourdieu 1968/1974). Damit andere als alltägliche Interpretationsschemata zur Deutung musikalischer Werke und Praktiken genutzt werden, bedarf es auf Seiten der Akteure eines Mindestmaßes an inkorporiertem kulturellem Kapital.6 Dieses kann unter unterschiedlichen Bedingungen akkumuliert werden. Im Folgenden werden diese Bedingungen und Prozesse der musikalischen Sozialisation empirisch erkundet. In einem ersten Schritt werden dazu (5.1) drei Interviews in Form von Anamnesen vorgestellt.7 Diese wurden aus dem Gesamtsample ausgewählt, da sich mit ihnen der objektive Möglichkeitsraum der Generierungsbedingungen von Musikgeschmack auf-
5
Einen theoretischen Grenzfall stellt der sogenannte „stellvertretende Konsum“ (Veblen 1899/2007, bezogen auf den Konsum der Ehefrau 175ff.) dar. Veblen argumentiert, dass es das Prestige des Familienoberhaupts oder Ehemannes steigert, wenn die Ehefrau stellvertretend für ihn verschwenderisch konsumiert. Diese Normen finden dann beispielweise ihren Ausdruck in der Mode der Zeit.
6
In „Eine illegitime Kunst“ (Bourdieu et al. 1965/1981) wird anhand der unterschiedlichen Interpretationen und Wertungen von Fotografien durch die Befragten gezeigt, welche unterschiedlichen Codes diese anwenden, um sich das Gezeigte zu erschließen.
7
In der qualitativen Sozialforschung gibt es unterschiedliche Varianten mit diesem Instrument zu arbeiten. Als Beispiel sei hier die Studie „Missratene Söhne und Töchter“ (2003) von Martin Schmeiser genannt, in der Anamnesen sowohl als Arbeitsinstrument während der Analyse als auch zur Darstellung von Ergebnissen genutzt werden.
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spannen lässt. Ihre kurzen Musikbiographien zeigen die unterschiedlichen Elemente, Bedingungen und Prozesse musikalischer Sozialisation auf, wie sie sich auch bei den weiteren InterviewpartnerInnen finden lassen. In analytischer Hinsicht sind dabei zwei „Leitplanken“ mitgedacht: zum einem die Kapitaltheorie Pierre Bourdieus, zum anderen die soziologischen Beiträge zu einer Theorie der musikalischen Sozialisation. In einem zweiten Schritt (5.2) wird die musikalische Sozialisation in Kleingruppen und sozialen Beziehungen wie Familie und Peers anhand der empirischen Daten erschlossen. Daran schließt ein Kapitel (5.3) zur musikalischen Sozialisation im Kontext von „organisierten Sozialisationsinstanzen“ (Pape 1996: 102f.) an. In einem vierten Schritt (5.4) wird die musikalisch Selbstsozialisation vor allem am Beispiel von Konzertbesuchen diskutiert. Dabei wird die „wiederholte Beschäftigung mit symbolischen Gütern“ als Grundmodus der Aneignung kulturellen Kapitals diskutiert und anhand materialer Beispiele plausibilisiert. Abschließend werden die Befunde in Kapitel 5.5 zusammengefasst und weiter verdichtet.
5.1 Z WISCHEN MUSIKALISCHEM E RBE UND MUSIKALISCHER S ELBSTSOZIALISATION Auf den folgenden Seiten werden drei TeilnehmerInnen meiner Studie in Form von Anamnesen vorgestellt, die auf die Weitergabe kulturellen Kapitals8 und die musikalische Sozialisation fokussiert sind. Diese musikbiographischen Kurzportraits öffnen zunächst den Blick für die stärker mit theoretischem Interesse verfolgte Diskussion, die ab Kapitel 5.2 geführt wird und die unterschiedlichen Elemente und Prozesse musikalischer Sozialisation komparativ in Beziehung setzt, welche die Interviewten bei der Ausbildung ihres individuellen Musikgeschmacks beeinflusst haben. Gemein haben die vorgestellten InterviewpartnerInnen, dass sie sich als musikalisch offen verstehen, wenngleich sie auch die Grenzen dieser Offenheit klar benennen können. Sie sind alle kulturell aktiv, in dem Sinne, dass sie viel und regelmäßig Musik konsumieren – und zwar sowohl live als auch medial vermittelt. Neben diesen Gemeinsamkeiten weisen sie be-
8
In der Forschungsliteratur zu kulturellem Kapital wird zum Teil der Begriff der Transmission synonym zum Begriff der Weitergabe verwendet (bspw. Yaish/KatzGerro 2012; Sullivan 2011), ohne dass der unterschiedliche Bedeutungsgehalt problematisiert würde. Bedeutsamer erscheint in diesem Zusammenhang allerdings aus der hier präferierten Perspektive das Problem, dass die Prozesse der Weitergabe nicht in den Blick geraten, sondern lediglich auf die Effekte fokussiert wird.
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deutsame Differenzen auf, was die Genese des individuellen Musikgeschmacks anbelangt, vor allem im Hinblick auf die Weitergabe kulturellen Kapitals und die musikalische Sozialisation. Damit sind die beiden analytischen Perspektiven angesprochen, welche die Konstruktion der Anamnesen angeleitet haben: die Kapitaltheorie Bourdieus sowie die Theorien musikalischer Sozialisation. Die Verschränkung beider Perspektiven erscheint sinnvoll, um die jeweils vorhanden Einseitigkeiten auszubalancieren. So hat Liebau (1987) bereits festgestellt, dass sich Bourdieu vor allem mit den Ergebnissen von Sozialisationsprozessen und nicht mit den Prozessen selbst befasst. Die Theorien musikalischer Sozialisation sind hingegen häufig soziologisch unterbestimmt. Zur zweitgenannten analytischen Perspektive sollen einige wenige Anmerkungen genügen, da hier die Analyse der Daten im Vordergrund stehen soll. Sozialisation zählt sicherlich zu den zentralen Grundbegriffen der Soziologie und auch angrenzender Disziplinen. Er wurde bereits von der Gründungsgeneration behandelt – stellvertretend sei hier an Durkheim (1984) und Mead (1934/1973) erinnert – und eine Vielzahl konkurrierender Entwürfe ist auf dem Theorienmarkt erhältlich. Im Gegensatz zu dieser Vielfalt ist das Angebot für soziologische Theorien der musikalischen Sozialisation relativ überschaubar. Jüngst hat Lenz (2013) einen Überblick zu soziologischen „Perspektiven auf musikalische Sozialisation“ vorgelegt. Auch er problematisiert, dass es keine ausgearbeitete soziologische Theorie der musikalischen Sozialisation gäbe und nimmt den Umweg über die einschlägigen soziologischen Positionen, um am Ende eine mögliche soziologische Perspektive auf musikalische Sozialisation anzureißen. Hinter der dort präsentierten Vielfalt möglicher Anschlüsse verschwindet aber das eigentliche Problem: Welche analytische Perspektive soll sinnvollerweise eingenommen werden, um Prozesse der Weitergabe musikspezifischen kulturellen Kapitals im Besonderen und der musikalischen Sozialisation im Allgemeinen in den Blick zu nehmen?9 Dabei darf nicht übersehen werden, dass sich Sozialisation nicht in Weitergabe erschöpft, sondern aktive Aneignungsprozesse mitgedacht werden müssen. Aus diesem Grund lässt sich nur bedingt an die wenigen soziologischen Vorarbeiten in diesem spezifischen Untersuchungsfeld anschließen. Exemplarisch sei hier auf die Studie „Der musikalische Sozialisierungsprozeß“ (Silbermann 1976) verwiesen. Alphons Silbermann untersucht in seiner Studie SchülerInnen, Eltern sowie MusiklehrerInnen. Dabei unterscheidet er in seinem konzeptionellen Teil drei Kategorien: „Sozialisierungssubjekte“ (bspw. Eltern, Familie, Schule), „Sozialisierungsobjekte“ (bspw. Kinder) und „Sozialisierungseffekte“ (bspw. „rezeptive Fähigkeiten“).
9
Einen tabellarischen Überblick über verschiedene Publikationen zum Thema musikalische Sozialisation bietet der Artikel von Pape (1996: 84ff.).
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Für diese einfache Dreiteilung wird er von Pape grundlegend kritisiert: „Dieses Schema ist zum einen durch terminologische Mißverständlichkeit […], zum anderen durch Verkürzungen und Auslassungen charakterisiert“ (Pape 1996: 150). Zudem bildet sich in diesem Schema ein auf passive Weitergabe verkürztes Sozialisationsverständnis ab. Papes eigener Vorschlag hingegen orientiert sich an Geulen und Hurrelmanns „Strukturmodell der Sozialisationsbedingungen“ (Geulen/Hurrelmann 1980). In seinem Selbstverständnis soll es als heuristischer Rahmen für weitere Forschung dienen (Pape 1996: 96). Ein weiterer zeitgenössischer Ansatz im Feld der musikalischen Sozialisation versucht an das Konzept der „Selbstsozialisation“ (Zinnecker 2000) anzuknüpfen. Hier sind vor allem die Veröffentlichungen von Renate Müller und KollegInnen zu nennen (bspw. Rhein/Müller 2006). In diesem Spannungsfeld von musikalischem Erbe und musikalischer Selbstsozialisation muss sich ein rezenter soziologischer Vorschlag zum Untersuchungsfeld musikalische Sozialisation positionieren. Eine erste Sensibilisierung für relevante Dimensionen und Elemente einer solchen Position ermöglichen die folgenden drei Anamnesen. Die Interviews wurden aufgrund der Kontraste ausgewählt, die sich in ihnen hinsichtlich der Generierungsbedingungen von Musikgeschmack abzeichnen. „Also ich hör ziemlich viele Sachen“ Meine Interviewpartnerin „Kim“ war zum Zeitpunkt des Interviews 27 Jahre alt und absolvierte gerade ein Praktikum in einer Online-Redaktion. Sie hatte zuvor in einer mittelgroßen Universitätsstadt in Deutschland ein Magisterstudium absolviert, wohnt aber mittlerweile in einer Großstadt mit ihrem Freund zusammen. Das Interview fand abends am Küchentisch bei einer Tasse Tee statt. Ihren Musikgeschmack beschreibt Kim im Interview als vielfältig, wobei sie vor allem einen Schwerpunkt auf Rock und Punk legt. Zu Pop hat sie ein ambivalentes Verhältnis. Allerdings berichtet sie auch über eine Phase, in der sie regelmäßig R&B gehört hat. Bestimmte Musik – und dazu zählt hier eindeutig R&B – ist für sie mit Ausgehen und Tanzen verbunden: „also ich finds irre gut wenn man drauf tanzen kann. So und dann ich kann auch auf R&B tanzen. Also da gibts, ich hab so ne Phase mal gehabt=gehabt wo ich ganz viel zu R&B weggegangen bin und da kommen jetzt manchmal so Lieder wo ich denk super“ (Kim: 2).10 Kims Eltern, die beide einen Hochschulabschluss haben und als Ingenieur bzw. als Ingenieurin arbeiten, kommen in ihren Ausführungen so gut wie nicht
10 Die Angaben zu Interviewpassagen basieren auf dem Format „Name: Absatznummer“.
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vor. Lediglich eine musikalische Präferenz zu „Oldies“ bringt sie mit ihnen in Verbindung: „Aber ich hör ganz gern Oldies so von meinen Eltern her also wenn ich irgendwie Radio höre dann am liebsten en Oldie-Radio [lacht].“ (Kim: 8) Außerdem berichtet sie über die Musikgruppe „Die Prinzen“11, die sie in ihrer Schulzeit entdeckt hat, als sie in der dritten oder vierten Klasse war. Auffällig ist hier das Zusammenspiel von Schule, Peergroup und Eltern: „Ich also auf Klassenfahrten hat man dann halt immer ne da hatte jeder seine Kassetten mit [lacht] und dann hat man da immer was gehört aber so richtig bewusst (2s) hab ich kann ich mich nur dran erinnern dass irgendwann in der dritten (1s) oder vierten Klasse dann die Prinzen auf einmal bei uns in der in der Klasse total angesagt waren und da kannt ich die noch gar nicht und da hab ich dann erstmal meinen Vatter drauf angesetzt mal rauszufinden wer das überhaupt ist und dann fand ich die natürlich auch total toll und war dann auch beim em Konzert und so.“ (Kim: 62)
Die organisierte Schulaktivität schafft den Rahmen für den Austausch unter Gleichaltrigen, während der Vater eine weitere Beschäftigung mit den „Prinzen“ ermöglicht. Ab diesem Zeitpunkt – dem Übergang zur Gymnasialzeit – hat sie sich auf musikalische Entdeckungsreise begeben und einen „eigenen“ Geschmack entwickelt. Hier wiederholt sie die Bedeutung von Freunden – allen voran eine Freundin, die selbst Gitarre spielte: „Meine eine Freundin die auch die Gitarre gespielt hat was ich ja auch machen wollte die hat da schon glaub ich schon die Vorreiterrolle übernommen [I: mhm] und ich bin dann hinterher geritten [lacht, I lacht ebenfalls].“ (Kim: 64)
Ein wichtiges Merkmal, das den Zugang zu bestimmten Gruppen motiviert, scheint sich später zu entwickeln: die Zusammensetzung der jeweiligen Band. Musikerinnen und insbesondere Sängerinnen sind für Kim eine Qualitätsmerkmal (Kim: 12). „Komplexe Musik ist einfach keine gute Musik“ Mein Interviewpartner „Konrad“ ist zum Zeitpunkt des Gesprächs 31 Jahre alt und hat ein sozialwissenschaftliches Studium abgeschlossen. In seinem Beruf gehört er zu der Gruppe der QuereinsteigerInnen, weil er ohne pädagogische Zusatzqualifikation im Bereich der Sozialen Arbeit untergekommen ist. Das Inter-
11 Seit 1991 unter diesem Namen aktive Musikgruppe aus Leipzig.
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view fand tagsüber in einem Büro an einer süddeutschen Universität statt und entwickelte sich sehr lebhaft. Musikalisch ist Konrad in doppelter Hinsicht aktiv, da er nicht nur gerne und viel Musik hört, sondern seit seiner Jugend im Amateurbereich musiziert. Seine Liebe gilt vor allem dem Punkrock. Allerdings ist er gegenüber anderer Musik durchaus offen, solange sie ihn „an den Eiern packt“ (Konrad: 23). Er selbst charakterisiert sich als Spartenhörer. Seine Abneigungen sind zum Teil deutlich ausgeprägt – gerade auch gegenüber kulturell als legitim angesehenen Genres wie Oper oder Jazz. Die Eltern von Konrad, denen er „reines Bildungsbürgertum“ (Konrad: 67) attestiert, ermöglichen ihren Kindern eine musikalische Ausbildung. Sie lassen den Kindern die Wahl des Instruments offen, kein Instrument zu erlernen steht allerdings nicht zur Diskussion: „es wär nie die Frage in Sinn gekommen kein Instrument zu lernen“ (Konrad: 67). Da Konrad der jüngere von zwei Söhnen ist, bleibt ihm aus seiner Sicht Einiges erspart. Die Konflikte um den Ort der Ausbildung (Musikkapelle ja/nein) trägt sein älterer Bruder aus (Konrad: 67). Als nicht intendierte Nebenfolge der musikalischen Bildung deutet Konrad mit Bezug auf sich an, dass die Schule unter der musikalischen Betätigung gelitten habe. Ambivalent haben sich die Eltern ihm gegenüber verhalten, da sie einerseits Medienberichte über seine Live-Auftritte sammelten und einen gewissen Stolz nach Außen kommunizierten, gleichzeitig aber die Notwendigkeit einer Normalbiographie unterstrichen haben: „(…) also so ich kann mich gut dran erinnern dass ich oft genug die Auseinandersetzung mit meinem Vater hatte über ähm ich soll doch gescheit jetzt endlich Abitur machen und danach studieren gehen weil äh es gibt so viele Leute die Musik machen es hat eh niemand Erfolg also außer ner Hand voll.“ (Konrad: 67)
Die musikalischen Präferenzen seiner Eltern ordnet er unter dem Sammelbegriff „E-Musik“ ein, wobei er hervorhebt, dass sie keine „Hippies“ waren, obwohl sie zu diesem Generationszusammenhang gehören (Konrad: 71). Der Vater von Konrad hat selbst Geige gelernt und hört zudem überwiegend Oper (Konrad: 71). „Aber die für die war Musik oder ist glaub ich auch Musik echt so nen also eher so nen Kulturgut dass dazu gehört und hat lang nicht diesen Stellenwert oder dieses diesen bestimmenden Faktor wie er den für mich hat äh in allem was ja auch is ja also ich mein das zieht sich ja durch mein ganzes Leben bis heute durch und ähm nen Stück weit ja eben auch sogar bis in mein Job hinein am Schluss ja.“ (Konrad: 71)
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Die Angebote der Schule scheinen aus der retrospektiven Deutung heraus eher den dauerhaften Ausschluss bestimmter Musikgenres aus dem persönlichen Portfolio zu motivieren. In Bezug auf die Oper erinnert sich Konrad an ein prägendes Erlebnis: den Besuch einer Freischütz-Inszenierung (Konrad: 75). Die Abneigung gegen Opern, die sich bereits in der Schulzeit artikuliert, wird von ihm häufig in Worte gefasst, die darauf hindeuten, dass er den „Zugang“ zu bestimmten musikalischen Formen, ihren Konventionen und Ritualen nicht findet. Neben Elternhaus und Schule tauchen im Interview mit Konrad das Jugendhaus und die jugendliche Peergroup als weitere Sozialisationsinstanzen auf. Auf diesen Bühnen werden Konzerte besucht und später auch eigene Konzerte gegeben. Das Musizieren als Praxis ist bei Konrad stark durch den älteren Bruder beeinflusst (Konrad: 57). „Ich kann nicht Beethoven vorm Frühstück vertragen“ Die kulturell hoch aktive Rentnerin „Johanna“ ist zum Zeitpunkt des Interviews 65 Jahre alt. Sie hat eine Ausbildung als Fremdsprachenassistentin absolviert und aus Interesse im Alter 50 Jahren ein sozialwissenschaftliches Studium neben ihrer Berufstätigkeit an einer westdeutschen Universität begonnen und erfolgreich abgeschlossen. Neben dem Theater nimmt die Musik in vielfältiger Form einen großen Raum in ihrer Freizeitgestaltung ein. Das Interview mit ihr fand in ihrem Wohnzimmer statt. Ein intensiver und exklusiver Konsum klassischer Musik wurde ihr von ihrem Vater vorgelebt, der als „leidenschaftlicher Beethovenfan“ sonntags vor dem Frühstück bereits Musik hörte (Johanna 28-30). Neben den eindeutigen Vorlieben des Vaters erinnert sie sich auch an seine ebenso ausgeprägten Abneigungen: „Was er nicht gehört hat oder dulden wollte war was man damals so Schlager nannte und wo wir dann am Radio Luxemburg versucht haben das aufzunehmen. Dafür wurde dann das Radio im Wohnzimmer nicht geopfert. Das mussten wir dann mit Rauschen und Klickern hören.“ (Johanna 30)
Im Gegensatz zu ihrem Vater fand Johannas Mutter auch Gefallen an „Unterhaltungsmusik“, besuchte aber auch klassische Konzerte mit ihrem Mann (Johanna 32).
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Mit ihren beiden Brüdern, hört sie als Heranwachsende gerne „FreddySchnulzen“12 – entweder im „Jungszimmer“ oder beim Spüldienst in der Küche. Mit Vorliebe singen sie und ihre Brüder gerade dann mit, wenn die Texte „schön schmalzig“ sind (vgl. Johanna 32). In der Stadt, in der sie aufwächst und die Schule besucht, gibt es außerdem Jugendkonzerte, die sie regelmäßig besucht: „Die Jugendkonzerte waren auch mit ein paar Erläuterungen aber ansonsten eben normale Konzerte. Und sehr viele aus meiner Klasse hatten auch Instrumente gelernt und dann ist man ja mehr drin.“ (Johanna 34)
Ihre beiden Kinder hat sie in vielfältiger Weise unterstützt, ihre Interessen im Bereich der Musik zu kultivieren. Dabei entwickelt sich auch ihr eigener Umgang mit Musik weiter. Am Beispiel der Tochter lässt sich dies leicht zeigen: „(…) zu Zeiten wo meine Tochter im Kinderchor war, da hab ich auch betreut, da hat man ganz selbstverständlich Weltmusik und Chormusik und so etwas gehört, ich mag eigentlich alles was gut ist und da ich ein Sprachenfan bin sammle ich auch aus andern Ländern aber sowohl Popmusik als auch traditionelle Musik und freu mich dran wenn ich was versteh.“ (Johanna: 2)
Insgesamt lässt sich beobachten, dass in Johannas Familie das Musizieren weit verbreitet ist. Ihr Vater spielte Geige, sie selbst erhielt eine Zeitlang Gitarrenunterricht (vgl. Johanna 42), ihre Tochter sang im Chor, während ihr Sohn erst Akkordeon und anschließend Gitarre spielte. Mittlerweile hat Johanna einen Enkel, der ebenfalls musiziert. Anhand der präsentierten drei Anamnesen lässt sich die Vielfalt der Elemente zeigen, die es im Hinblick auf die Generierungsbedingungen zu beachten gilt. Um den objektiven Möglichkeitsraum der Genese des Musikgeschmacks zu vermessen, scheint es notwendig wie auch aufschlussreich die unterschiedlichen Sozialisationsinstanzen und sozialen Beziehungen aufzuschlüsseln, in denen (musikspezifisches) kulturelles Kapital weitergegeben wird. Wie zu zeigen sein wird, muss (zumindest für Musik) die einfache Zweiteilung in Familie und schulische Bildungseinrichtungen, die Bourdieu vornimmt, weiter ausdifferenziert werden, um der Komplexität des Phänomens gerecht zu werden. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, lassen sich aus den drei präsentierten Anamne-
12 Damit spielt sie mit hoher Wahrscheinlichkeit auf Freddy Quinn an, der im Zeitraum 1956-1966 (also Johannas 10. bis 20. Lebensjahr) mit zehn Singles jeweils eine mehrwöchige Nummer-eins-Platzierung in den deutschen Singlecharts erreichte.
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sen eine ganze Reihe von Elemente und Prozessen musikalischer Sozialisation ableiten, die als heuristischer Rahmen dienen können. Dieser Vorschlag schließt im Wesentlichen an Pape an, adaptiert ihn aber auch für das vorliegende Untersuchungsinteresse (siehe Pape 1996: 102f.): • Kleingruppen und soziale Beziehungen sind für die musikalische Sozialisation
von großer Relevanz. Hier ist an erster Stelle die Familie als Sozialisationsinstanz zu nennen. Daneben sind es vor allem die Gleichaltrigen/Peers sowie Freundschaftsbeziehungen, die lebensphasenspezifisch auf die Entwicklung musikalischer Präferenzen und das musikalische Verhalten Einfluss nehmen können. • Neben den genannten Kleingruppen und sozialen Beziehungen gibt es „organisierte Sozialisationsinstanzen“ (Pape 1996: 102f.) wie Schule oder Musikschule. Dazu würde ich an dieser Stelle auch Organisationen wie beispielsweise Musikvereine zählen, wenn auch die staatlichen Einrichtungen potenziell näher an der legitimen Kultur sind. Ferner sind Jugendhäuser in ihren vielfältigen Formen hier hinzuzurechnen. • Medien werden hier nicht als Sozialisationsinstanz verstanden, sondern vielmehr wird versucht das Erlernen von Medienkompetenzen im Kontext unterschiedlicher Sozialisationsinstanzen zu analysieren.13 • In den präsentierten Anamnesen kommt neben den erwartbaren Sozialisationsinstanzen die Bedeutung musikalischer Praxen zum Vorschein. Die Praxis der Konzertbesuche oder auch des Musizierens wird im Folgenden Rechnung getragen, indem an Überlegungen Bourdieus zu Prozessen der Kunstrezeption angeschlossen wird und diese als musikalische Selbstsozialisation gedeutet werden. Dieser heuristische Rahmen schließt damit erkennbar an Papes Vorschlag an (siehe Pape 1996: 102f.), erweitert ihn aber v.a. hinsichtlich der Betonung der Bedeutung von aktiven Aneignungsprozessen. Auf den folgenden Seiten sollen die unterschiedlichen Kontexte und Sozialbeziehungen, die meine InterviewpartnerInnen durchlaufen haben, näher betrachtet werden. Dabei werden
13 Damit wird hier ein anderes Verständnis von Sozialisation vertreten als es gegenwärtig in Teilen der Mediensozialisationsforschung vorzufinden ist. Eine Überblick über aktuelle Themen und Perspektiven der Mediensozialisationsforschung bieten die Beiträge in Hoffmann/Mikos (2010), Mikos/Hoffmann/Winter (2009); Hoffmann/Merkens (2004) sowie Vollbrecht/Wegener (2009).
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weitere Fälle hinzugezogen, die bisher nicht in Form von Anamnesen präsentiert wurden.
5.2 M USIKALISCHE S OZIALISATION IN K LEINGRUPPEN UND SOZIALEN B EZIEHUNGEN In der soziologischen Ungleichheitsforschung nehmen die Eltern und die Schule als Kontexte der Weitergabe kulturellen Kapitals eine besondere Stellung ein.14 Bei der Familie kommt hinzu, dass hier zu einem frühen Zeitpunkt – so das Argument Bourdieus – Dispositionen entwickelt werden, die für alle späteren Erfahrungen und Handlungen grundlegend sind (vgl. Kapitel 2). Bourdieu geht davon aus, dass der frühe Kontakt innerhalb der Familie einen anderen Umgang mit Kulturgütern fördert als der späte Kontakt innerhalb der Schule, der stärker rationalisiert und geplant abläuft. Die Prozesse des Lernens bzw. der Inkorporierung kulturellen Kapitals innerhalb der Familie setzen früh ein und gehen „unmerklich“ vor sich (Bourdieu 1979/1987: 121). Vor dem Hintergrund aktueller Studien und geänderter (impliziter) Bildungsideale lässt sich jedoch fragen inwiefern – zumindest in bestimmten sozialen Positionen – eine Rationalisierung und explizite Planung der Weitergabe kulturellen Kapitals an Kinder bereits innerhalb der Familien stattfindet. Annette Lareau beispielsweise unterscheidet in ihrer Studie „Unequal Childhoods“ (2003), die konzeptuell an die Arbeiten Bourdieus anschließt, zwischen zwei impliziten Bildungsidealen: Die Angehörigen der Mittelklassen orientieren sich an dem Ideal der „concerted cultivation“, während Eltern aus der Arbeiterklasse und ökonomisch Depriviligierte sich einem „accomplishment of natural growth“ verpflichtet fühlen. Während die Erstgenannten Zeit und Geld investieren, um ihren Kindern objektiv ein komparativen Vorteil zu verschaffen, verwirklichen Letztere durch ihre Praktiken implizit eine konträre Handlungsstrategie. Zudem unterscheiden sich, laut Lareau, die Formen des Adressierens und Strafens signifikant: ein diskursiver Stil steht einem autoritären gegenüber. Unabhängig von der Form der Weitergabe kulturellen Kapitals kann das implizite Lernen innerhalb der Familie als Voraussetzung des schulischen Lernens angesehen werden – einschließlich des Erfolgs oder Mißerfolgs. Mit Bourdieu lässt sich davon ausgehen, dass Sicherheit und Ungezwungenheit sowie eine (relative) Ignoranz gegenüber Kultur, vor allem innerhalb der Familien der herrschenden Klasse vermittelt wird, während von anderen
14 Auch in der Sozialisationsforschung, so argumentiert Zinnecker, kam es historisch gesehen zu einer „Entthronung der Eltern“ (Zinnecker 2000: 284).
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sozialen Positionen aus oftmals vor allem der „Glaube“ an den Wert von Bildung vermittelt werden kann. 5.2.1 Musikalische Sozialisation in der Familie – Eltern Die konkrete Ausformung der Weitergabe musikalischen Wissens und musikalischer Fähigkeiten innerhalb der Familien kann sehr unterschiedlich ausfallen, wie die Interviews zeigen. Im Falle von Konrad bestehen die Eltern darauf, dass die Kinder Musikunterricht nehmen, was von Konrad als „Bildungsbürgertum“ gedeutet und abgewertet wird. Das Erlernen eines Musikinstruments gehört dazu, wobei die Wahl des Instruments den Kindern überlassen wird. „Ja das ist das ist reines Bildungsbürgertum bei meinen Eltern gewesen. Das war bei meinen Eltern klar das gehört dazu. Dass Musik äh und ne musikalische Ausbildung gehört gehört dazu. Ähm (1s) nicht so sehr also ääh das ist sehr ambivalent also (1s) nich so sehr im Zwang dass sie auf Teufel komm raus mich und meinen Bruder dazu ge (1s) wobei doch ne es stimmt so nicht.“ (Konrad 67)
Zum Erziehungsstil von Konrads Eltern scheint es zu gehören, dass Ziele definiert und Erwartungen gehegt werden, die nicht durch eine eigene (musikalische) Praxis vorgelebt werden. In diesem Sinne ist die Qualifizierung von Konrads Eltern als „Bildungsbürger“ irreleitend, da sie in der obigen Beschreibung eher an die „bemühten“ Aufsteiger im Sinne Bourdieus gemahnen. Interessant an diesem Fall ist, dass die Eltern davon überrascht werden, als die Musik – genauer gesagt das Musizieren – einen immer größeren Stellenwert in seinem Leben einnimmt und mit anderen Bildungszielen, die sie für ihren Sohn artikulieren, in Konflikt gerät. Zudem stehen seine musikalischen Vorlieben (Punkrock) in deutlichem Kontrast zu denen seiner Eltern (der Vater bevorzugt Oper). Die Schaffung einer Gelegenheitsstruktur reicht also keineswegs aus, um die Vorliebe für legitime Kultur weiterzugeben. Dieser Schluss lässt sich auch aus den Ergebnissen von Lareau (2003) ziehen, denn die Eltern, deren Erziehungsstil als „concerted cultivation“ charakterisiert werden kann, investieren sowohl Zeit als auch Geld in die Kultivierung ihrer Kinder – und das weit über die Definition von Zielen hinaus – aber eine Garantie damit auch die Vorliebe zur legitimen Kultur weiterzugeben, haben sie dadurch nicht. Anders stellt sich die Aneignung musikalischen Wissens im Falle von Bernd dar. Der Erwerbsmodus in „bildungsnahen“ Familien kann, laut Bourdieu, mit einem Meister-Jünger-Verhältnis verglichen werden. Hier findet ein wiederhol-
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ter Kontakt mit legitimen Werken und gebildeten Personen statt, die Interpretationsschemata anwenden, welche die Deutungen des Alltags transzendieren. „Ja ähm (1s) meine Mutter selber hat in verschiedenen Orchestern gespielt [I: mhm] ich hab das immer mitgekriegt sie hat zwei Kontrabässe ähm in der Wohnung wo ich aufgewachsen bin äh stehen gehabt das heißt die waren auch sehr präsent immer allein von (1s) weil sie da standen [I: mhm] zwei Kontrabässe in der Wohnung ist schon fällt auf (…)“ (Bernd: 22).
Bis zu einem gewissen Grad teilt Bernd die musikalischen Vorlieben seiner Mutter, wie der weitere Verlauf des Interviews zeigen wird. An dieser Stelle fällt zudem die Bedeutung objektivierten kulturellen Kapitals (hier Musikinstrumente) auf, die vom Interviewten herausgestellt wird. Die musikalische Praxis der Mutter wird von Bernd mit den wahrnehmbaren Objekten dieser Praxis verbunden. Es lässt sich leicht vorstellen, wie diese Objekte schon für das Kind mit Bedeutung aufgeladen waren. Hier wird anders als im Fall von Konrad nicht nur „Wert gelegt auf“ eine bestimmte musikalische Praxis, sondern diese wird Bernd auch „vorgelebt“. Das Musizieren gehört für Bernd von Anfang an zur Vorstellung einer „normalen“ musikalischen Praxis, bevor er in anderen Familien, bei Freunden und Bekannten, die Differenzerfahrung machen kann, dass nicht alle muszieren – und falls doch, dann nicht unbedingt Kontrabass spielen. Mit anderen Worten lässt sich hier von einer stummen Weitergabe kulturellen Kapitels sprechen. Innerhalb der Familien wird aber nicht nur musiziert oder gesungen und damit die implizite Weitergabe eines spezifischen kulturellen Kapitals gepflegt, sondern neben der Praxis des Musizierens lernen Kinder und Heranwachsende innerhalb der Familie auch eine spezifische Praxis des Musik-Hörens und der Medienaneignung kennen: „(…) meine Eltern haben äh gerne klassische Radiosender laufen das ist das WDR3 glaub ich oder WDR5 [I: mhm] oder es gibt irgendwie n Klassikradiosender [I: ja] das lief dann schon mal häufiger das heißt ich hab den Klang allein ähm als ich groß geworden bin im Hintergrund dann immer mitgekriegt sie ham auch auch gerne mal CDs oder Schallplatten aufgelegt vor allen Dingen dann auch meine Mutter wenn sie sich auf ähm (1s) dann auch Konzerte vorbereitet hat hat sie dann die die Stücke dann laufen lassen (1s) ähm oder es wird dann auch gern mal irgendwie n ne Konzertübertragung im Fernsehn äh geschaut oder zumindest dass es dann läuft im Hintergrund (1s) vor allen Dingen an ähm an ähm Feiertagen also Weihnachten oder Sylvester ist immer irgendwie n Konzert im Fernsehn
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irgendwas (1s) äh darüber habe ich also diese klassische Musik hauptsächlich kennen gelernt“ (Bernd: 36).
Bernd macht hier deutlich, dass er mit seinen Eltern eine spezifische Praxis des Musikhörens verbindet, die mit Genre-Sendern im Radio wie auch ausgewählten Tonträgern verbunden ist. Auf diese Weise lernt er eine bestimmte Form von Musik kennen, die zudem dadurch aufgewertet wird, dass die Mutter sie aktiv musiziert als auch dadurch, dass sie zu Feiertagen und besonderen Anlässen als Rahmungselement eingesetzt wird. Auch wenn die Jugendforschung zum Teil die Mediensozialisation mit den Praktiken der jeweiligen Peergroup verbindet, wird an diesem Zitat klar, dass die Mediensozialisation früher beginnt. Medienkonsum und -inhalte gehören ebenso zu den Gegenständen alltäglicher Gespräche innerhalb der Familie (vgl. Keppler 1994). Diese können sich, wie Bernd im Interview verdeutlicht, auch auf spezifische Genres und InterpretInnen beziehen: „(…) ich hab n bisschen ähm was äh jetzt mein mein Vater so an Oldies kennen äh kennt habe ich kennen gelernt weil er auch gerne mal ne CD zu laufen hat oder mir tatsächlich Sachen dann auch mal irgendwie empfohlen hat oder gesagt hat das ist toll oder so und dann hab ich dann auch drauf gehört (1s) ähm da mal rein gehört ohne dass ich mich dann jetzt irgendwie großartig mit (1s) Musik der Sechziger oder Siebziger dann befasst hätte.“ (Bernd: 36)
Bei Bernd scheint der Prozess der Weitergabe und Aneignung musikspezifischen kulturellen Kapitals weniger durch Konflikte geprägt zu sein als bei Konrad. Die frühe und nicht erzwungene Auseinandersetzung mit klassischer Musik wird sich bei ihm biographisch kontinuieren, wie sich im weiteren Verlauf des Interviews zeigt, während er über seine Peergroup zu einer Erweiterung seines musikalischen Spektrums angeregt wird. Eine zusätzliche analytische Differenzierung scheint sich an dieser Stelle abzuzeichnen: Während Konrad im Elternhaus eher eine generalisierte Wertschätzung für Musik vermittelt bekommt, die zudem in eine Delegation der musikalischen Ausbildung an (professionelle) MusiklehrerInnen mündet, eignet sich Bernd in Auseinandersetzung mit seinen Eltern zusätzlich ein genrespezifisches Wissen an. In diesem Zusammenhang bietet es sich an, analytisch zwischen generalisiertem und feldspezifischem inkorporiertem kulturellem Kapital zu unterscheiden. Die Formen unterscheiden sich durch unterschiedliche Grade der Vertrautheit mit dem wertgeschätzten Gegenstand. Voraussetzung für beide Formen der Aneignung von kulturellen Kapital innerhalb der Familie (wie auch der Schule) ist der „Aufschub und die Suspendierung des ökonomischen Zwangs und zugleich durch objektive wie subjektive Distanz
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zum Drängenden der Praxis, dem Fundament der objektiven wie subjektiven Distanz diesen Determinismen unterworfenen Gruppen“ (Bourdieu 1979/1987: 100f.). Ein Aspekt, der in vielen Studien vernachlässigt wird, wenn auch die Bedeutung der Eltern für die Entwicklung kultureller Präferenzen unbestritten ist, liegt in dem ermöglichenden Charakter der elterlichen Erziehungspraktiken. Die Beispiele von Bernd wie auch Kim zeigen, dass das erzieherische Handeln von Eltern nicht nur einschränkt und Richtungen vor gibt, zugleich ermöglicht es auch erst bestimmte Aktivitäten von Jugendlichen. Am Beispiel von Konzertbesuchen lässt sich exemplarisch aufzeigen, wie Erziehungspraktiken – auch jenseits der Präferenzen der Eltern – die jugendlichen Kulturkonsum begleiten und ermöglichen. Im folgenden Auszug berichtet Steffen über sein erstes großes Konzerterlebnis: „I: Was war denn das erste Konzert an das du dich erinnern kannst? S: Richtig bewusst erinnern mhhhhm (12s) also was ich glaub so be-be-bewusst also als bewusste Entscheidung [I: mhm] also nich son Stadtfestkonzert sondern äh das erste richtige Konzert war glaub ich irgendwie Bon Jovi 1993 in Essen [I: mhm]. Das war diese große Bon Jovi Phase und mein Vater hat mich da hingefahren mit zwei andern Kumpels und wir waren geflasht dass der uns das überhaupt erlaubt hat mit dreizehn oder vierzehn auf n Bon Jovi Konzert das war äh das erste größere Konzert.“ (Steffen: 23-24)
Viele der Interviewten berichten Ähnliches über ihre ersten Konzerte, insofern es sich um Genres handelt, bei denen die Konzerte am Abend stattfinden. Zwar hat der elterliche Fahrdienst auch eine starke Kontrollkomponente. Gleichwohl sind diese ersten Konzerte für die Befragten bedeutsame Elemente ihrer musikalischen Biographien, die sie in der Regel rekapitulieren können. Im Rahmen dieser Konzerterfahrungen lernen sie die impliziten Konventionen des legitimen Verhaltens für Publika kennen und eignen sich Erfahrungen an, die innerhalb ihrer Peergroup als kommunikative Ressource von Relevanz sind. Denn (populäre) Kultur und ihr Konsum entfaltet gerade auch im Sprechen über sie ihren Reiz (Fine 1977; Frith 1996). 5.2.2 Musikalische Sozialisation in der Familie – Geschwister Neben den Eltern als zentrale Akteure der Weitergabe kulturellen Kapitals innerhalb der Familie, dürfen andere Familienmitglieder und ihre Bedeutung für die Formation und Ausgestaltung des Musikgeschmacks nicht vergessen werden. Sofern vorhanden, sind hier zunächst die Geschwister zu nennen (vgl. van Eijck
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1997). Allen Ambivalenzen und Konkurrenzverhalten zum Trotz entwickeln Geschwister laut Grundmann „eine eigene Kultur der Zusammenlebens, bei denen sie Fähigkeiten austauschen, sich unterstützen und gegeneinander abgrenzen […]“ (2006: 113). Wie im Falle von Konrad können ältere Geschwister als musikalische Vorbilder dienen. Bei ihm hat sein größerer Bruder die eigene musikalische Praxis inspiriert: „(…) Äh ich bin damals über meinen Bruder zur Musik gekommen weil mein Bruder in ner Band gespielt hat. Und ich hab den ich weiß nicht ob ich da fünft oder sechste Klasse war keine Ahnung auf jeden Fall hab ich den gesehen bei uns eh in der Schule auf der Bühne und ähm und hab hab gewusst da muss ich hin hab genau gewusst das ist mein Ding. Bühne das ist mein Moment irgendwie dann auch (1s) ähm ja eh also weiß nicht hat mich völlig fasziniert und auch des zu erleben wie wie ich kannte ja die Band von meinem Bruder damals und und wie die auch auf der Bühne plötzlich jemand anders waren nich weil sie auf der Bühne weil sie was anders warn sondern weil ich sie anders gesehen hab bloß weil se eh nen Meter höher standen als alle anderen und Musik gemacht ham und ähm und das hat mich dann total fasziniert und hab dann auch angefangen Musik zu machen wobei ähm meine Eltern da schon zu dem Zeitpunkt schon drauf gedrängt hatten dass ich äh nen Musikinstrument lerne ähm und ich auch in der Grundschule wie so viele andere mit Blockflöte angefangen hatte (1s) ähm und mein Bruder damals gesagt hatte ich soll Gitarre lernen und ich das dann einfach so gemacht hab weil er das gesagt hatte und ähm das ist dann eins zum anderen gekommen weils dann losging (…)“ (Konrad: 56).
Im Interviewauszug zeigt sich nicht nur der Einfluss, den der große Bruder auf Konrad ausübt. Es wird auch deutlich, dass er – zumindest in der retrospektiven Deutung – Aufforderungen, die von den Eltern kommen, in eine konkrete Richtung lenkt. Konrad wird wie sein Bruder Gitarre lernen, leiht sich Musikmagazine bei ihm aus und hört bis zu einem gewissen Grad dieselben Bands (Konrad: 57). Gerade ältere Geschwister können in dieser Lebensphase eine wichtige Orientierungsfunktion übernehmen. So schreibt Konrad seinem älteren Bruder eine herausragende Bedeutung zu in Bezug auf die Entscheidung selbst musizieren zu wollen. Wie das Interview mit Dana zeigt, müssen es nicht immer die eigenen Geschwister sein, die diese Funktion übernehmen: „I: Und hast du jetzt noch irgendwie Kontakt mit Leuten von damals? D: Mhhm eigentlich nur noch mit einer Freundin von damals, aber auch nur noch ganz sporadisch. Und von der weiß ich dass sie keine Zeit mehr für Musik hat. [I lacht] Ich hab mir immer ganz viel Inspiration von ihrem Bruder geholt. Der ist halt vier Jahre älter und äh der kannte natürlich immer die ganzen coolen Platten und hatte die auch alle und öhm
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manchmal fand ichs auch einfach nur cool weil er es gehört hat aber wirklich gefallen hat es mir nicht. [beide lachen] Aber da waren viele Sachen die hab ich mir von ihm da besorgt und empfehlen lassen aber ich hatte leider nie so viel Kontakt zu (Name), ich war halt mit seiner Schwester befreundet, deswegen war er nicht der Musikfreund den ich mir immer gewünscht hätte.“ (Dana 95-96)
Zudem kann es zu einer wechselseitigen Verstärkung durch den kommunikativen Austausch über Musik kommen. Dabei handelt es sich um eine Form wiederholter Beschäftigung mit musikalischen Gütern und Praktiken, die zum Aufbau kulturellen Kapitals führt. „I: Ja ja ähm (1s) du hast jetzt gerade deine Schwester erwähnt ähm (1s) die hört auch ziemlich viel Musik? B: Ja ich würde selber sagen auch mehr als ich also die ähm (2s) würd ich sagen hat noch nen noch nen etwas größeren Horizont oder noch hat noch mehr Bands wobei sie glaub ich auch viel in besonders in die Songwriterschiene so drin also wenn man das jetzt überhaupt so sagen kann äh drin ist wo ich dann nur manche Sachen (...) also bei mir ist das auch so ich hab dann auch auf manche Musik auch nur manchmal Lust also das natürlich irgendwie auch so und ähm bei ihr würde ich sagen sie hört noch mehr Musik wobei wir uns auch schon darüber unterhalten haben (…) zum Beispiel De la Soul ne HipHop Band von ihr son bisschen kennengelernt und die fand ich auch cool oder also sind n bei ihr ist das auch nicht auf nem oh Tschuldigung [I: mhm] auch nicht auf ne Musikrichtung irgendwie festgelegt oder so aber (1s) ähm (1s) es geht alles eher in diese R in die Richtung und dadurch hat sie irgendwie viel mehr und ich manchmal hat sie dann irgendwas wo sie sagt das könnte dir jetzt auch gefallen und manchmal hab ich was wo ich sage dass hab ich jetzt und das kennt se aber insgesamt würde ich sagen kennt sie noch mehr.“ (Bernhard 35-36)
Ein weiterer Aspekt, der sich bei den Interviewten, die Geschwister haben, finden lässt: Geschwister können als Konsumgemeinschaften agieren. Als solche tauschen sie (szenespezifische) Objekte aus und geben Wissen untereinander weiter. Gerade im Jugendalter aber auch danach, kann begrenztes ökonomisches Kapital durch Tauschbeziehungen zwischen den Geschwistern kompensiert werden.15
15 In Bezug auf die Betrachtung von Geschwistern als Konsumgemeinschaften spielt die Altersdifferenz zwischen den Geschwistern mit eine Rolle für die beobachtbaren Austauschbeziehungen.
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„(...) als ich noch zu Hause gewohnt hab oder auch zum Beispiel meine Schwester hat viel auch viele Bands mit denen wir uns son bisschen überschneiden oder die wir beide mögen und dann haben wir uns oft nicht dann beide die CD gekauft sondern dann äh (1s) ja dann halt gegenseitig mal überspielt [I: mhm] oder gebrannt oder gut bei manchen [Bands] haben wir immer so beide gekauft sogar [kurzes Lachen] aber ähm im Prinzip das war dann meistens sowas wo wir gesagt haben gut wir geben eh beide fast unser Geld für sowas aus son bisschen und ähm gut dann kauft sich halt einer das und einer das [kurzes Lachen von B] [I: mhm] der andere hört das andere trotzdem“ (Michael: 34).
Geschwister können sich wechselseitig Hinweise geben, auf „neue“ Musik, oder – wie bei Konrad und Michael – musikspezifische Objekte wie Zeitschriften austauschen oder sich gegenseitig ausleihen. Die wechselseitige Beeinflussung hat natürlich eine ganze Reihe von Bedingungen und Grenzen. Darüber hinaus, kann die Position innerhalb der Familie ebenso eine relevante Einflussgröße darstellen. Im Fall von Konrad zeigt sich beispielsweise, dass der ältere Bruder deutlich weniger „Freiheiten“ genießt. Während dieser beispielsweise eine Zeit lang in einer Musikkapelle aktiv sein „muss“, stellt sich für Konrad diese Frage – nach dem Konflikt der Eltern mit seinem älteren Bruder – nicht mehr. Haben Eltern beispielsweise mehr als ein Kind kann davon ausgegangen werden, dass sich die erzieherischen Praktiken je Kind, z.B. aufgrund der Erfahrungen, die mit dem erstgeborenen Kind gemacht wurden, unterscheiden.16 Veränderungen im ökonomischen Budget können allerdings auch ausschlaggebend sein. Schließlich können Geschwister und ihr musikalischer Geschmack auch zur Abgrenzung dienen, wie in Kapitel 6.3 gezeigt wird. 5.2.3 Musikalische Sozialisation in der Familie – weitere Familienmitglieder Neben den Eltern und Geschwistern können auch weitere Familienmitglieder die Gelegenheitsstrukturen für die Weitergabe und Inkorporierung kulturellen Kapitals maßgeblich beeinflussen. Im folgenden Interviewauszug sind es die Großeltern, die eine solche eröffnen:
16 Dieser Punkt wird von Bourdieu und Lareau m.E. nicht gesehen. Beide würden aufgrund ihrer Konzeption wahrscheinlich davon ausgehen, dass sich die Kinderanzahl nicht auf die erzieherischen Praktiken auswirken würde.
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„I: Haben deine Eltern das gefördert mit dem Klavier und so? D: Ja ich hab sie so lange genervt bis sie mir öh dann den Klavierunterricht bezahlt haben. Also es ging schon von mir aus nicht das meine Eltern gesagt haben ‚Du spielst jetzt Klavier!’ Meine Oma hat sich irgendwann ein Klavier gekauft hat aber selber nie gespielt. Mein Opa hat dann glaub ich eher mal gespielt und äh das war dann schon mal im Haus und dann hab ich das quasi für mich übernommen [I: mhm]. (1s) Meine Eltern fandens immer ok haben sich auch immer gefreut wenn ich was vorgespielt habe haben mich aber nicht unter Druck gesetzt (1s) joa. Das ist eher wenn dann ist das eher von mir aus gekommen.“ (Dana: 83-84)
Die gelegentliche musikalische Praxis der Großeltern wird für Dana zu einer Gelegenheit für eigene musikalische Praxis. Grundsätzlich gelten die bereits getroffenen Aussagen auch für weitere denkbare Verwandtschaftskonstellationen. Damit diese im Sinne der Inkorporierung und Aneignung kulturellen Kapitals wirksam werden können, müssen allerdings eine gewisse Interaktionshäufigkeit und Regelmäßigkeit gegeben sein.17 In ungleichheitsanalytischer Perspektive lässt sich hier, mit anderen Worten, die Transformation von sozialem Kapital in kulturelles Kapital beobachten. 5.2.4 Musikalische Sozialisation – Peergroups und Freundschaftsbeziehungen In der Jugendsoziologie und Sozialisationsforschung kommt der Peergroup eine besondere Bedeutung zu. Als Sozialisationsinstanz stellt sie den Akteuren einen Rahmen, in dem sie die Kultur der Elterngeneration auf die Probe stellen können und sich „selbst“ (er)finden können (vgl. am Beispiel der Kleidung: König 2007). Bei Bourdieu hingegen findet die Peergroup in den empirischen Studien keine systematische Beachtung, obwohl gerade aus der Perspektive der Aneignung kulturellen Kapitals die Gleichaltrigen von herausragendem Interesse sind. Zudem wird von vielen Studien die Bedeutung der Peergroups für die Medienaneignung betont. So formuliert Kleinen: „Die Beeinflussung der musikalischen Präferenzen durch die Medien wäre nicht entfernt so wirkungsvoll, wenn sie nicht im Verbund mit den Peers erfolgte“ (Kleinen 2008: 44f.). Der folgende Auszug aus dem Interview mit Dana weist zumindest daraufhin, dass die „enge-
17 Ein weiterer Punkt, der an diesem Zitat festgemacht werden kann, ist die veränderte Stellung von Kindern innerhalb der Familie. Die Initiative zum Musikunterricht geht von Dana aus, anders als es die Idee der „concerted cultivation“ (Lareau 2003) nahelegt.
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ren Freunde“ eine gewisse Rolle bei der Abgrenzung zu dem Mainstream der AltersgenossenInnen gespielt haben: „I: (…) Du hast dann öhm in der Schule Sting gehört [D: also so bis 14 ungefähr] also so bis 14 und öhm hast vorhin gemeint mit deinen ganzen Schulfreunden -freundinnen die haben alle was anderes gehört. D: Ja also in der Stingphase hat sowieso jeder was anderes gehört. Meistens so Chartsmusik damit konnte ich tatsächlich auch nie was anfangen. Einzelne Lieder haben mir ganz gut gefallen aber so keine Ahnung damals war so Ace of Base und sowas war schon angesagt. Und die Bravoparties und so. Das hat mich alles nie interessiert, da war ich schon mehr so mhm Randgruppe. Öhm ich hab dann halt mit meinen engeren Freunden so mit 14, 15, 16 joa so konnten wir uns irgendwann auf Hamburger Schule einigen. Ich weiß auch nicht wie sich das ergeben hat, war halt irgendwann da.“ (Dana: 93-94)
Im Zuge des Älterwerdens verlieren die Peers an Bedeutung für Danas Musikkonsum. Wie sie im Fortlauf des Interviews erzählt, gewinnt das Internet mit seinen vielfältigen Angeboten wie beispielsweise Last.fm zunehmend an Bedeutung für sie. Der Konsum von Musik spielt sich bei ihr aber nicht ausschließlich online ab, wie der folgende Ausschnitt verdeutlicht: „I: Mhm mhm und das kam dann erst später, die Musikfreunde die man sich wünscht? D: Ja schon, der (Name) den ich ja bei Last.fm kennengelernt hab der war wirklich so, der lief immer unter ‚mein Musikfreund‘ [beide lachen] das war wirklich so das Gemeinsame was wir hatten. Öhm noch ne Freundin öhm aus (Stadtname) mit der bin ich auch gern und spontan auf Konzerte gegangen. Also die war=ist ganz offen für alles öhm und so so vereinzelt kann man halt Freunde noch dazu bewegen auf Konzerte zu gehen. Für ne ganz bestimmte Band an nem ganz bestimmten Tag geht das, aber es ist selten jemand der dann sagt ‚och ja, komm ich mal so mit.‘ Das klappt nicht bei so vielen [I: mhm]. Deswegen bin ich irgendwann auch einfach immer alleine gegangen. Weils einfacher war. Bevor ich da lange rumfrage und dann sagt mir eh jeder ab, bin ich lieber alleine gegangen.“ (Dana 9798)
Hier zeigen sich aber auch sehr eindrücklich die Grenzen der Relevanz der Peergroup. Bei Dana ist die Beschäftigung mit Musik so weit fortgeschritten, dass sie in einer individualisierten Praxis des Konzertbesuchs mündet. Damit steht sie im deutlichen Kontrast zu ihrem Freund Steffen, der ebenfalls interviewt wurde. Dieser ist eingebettet in ein Netzwerk musikalisch Informierter, die ihn up-todate halten und mit auf Konzerte nehmen.
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„I: Wie kam denn das mhm starke Interesse für Musik bei dir zu Stande? S: Ich hab glaub ich gar kein so starkes Interesse für Musik [I: ja aber]. Also ich schätz mich nicht so ein also wenn ich mich in meinem Freundeskreis umschaue sehe ich da fast nur Leute die sich intensiver mit Musik beschäftigen als ich es tue. [I: mhm] Was ich gut finde weil durch die bekomm ich dann was mit.“ (Steffen: 81-82)
Angesichts einer relativ hohen Dichte von Konzertbesuchen und vielfältigen populärkulturellen Präferenzen irritiert die Selbsteinschätzung Steffens den Interviewer, wie sich aus der sprachlichen Intervention schließen lässt. Steffens Selbstbeschreibung erklärt sich in den folgenden Bemerkungen, die deutlich machen, dass der Konzertbesuch für ihn eine gemeinschaftliche Praxis ist. Darin unterscheidet er sich wesentlich von seiner Freundin Dana, die ganz selbstverständlich auch allein auf Konzerte geht, die sie interessieren. Steffen hingegen nutzt das kulturelle Kapital seiner Freunde, die für ihn zum Teil eine Orientierungsfunktion übernehmen. In dieser Hinsicht können sie folglich als funktional äquivalent zu Geschwistern angesehen werden.
5.3 M USIKALISCHE S OZIALISATION UND S OZIALISATIONSINSTANZEN
ORGANISIERTE
Die Forschung zur musikalischen Sozialisation legt die Relevanz unterschiedlicher Kontexte nahe, in denen Musik konsumiert wird. Jenseits der Familie gibt es eine Reihe von Optionen zur Akkumulation kulturellen Kapitals. In der Loslösung von den familiären Einflüssen stellt wie oben angeführt die Peergroup sicherlich eine der wichtigsten dar. Daneben sind schulische wie außerschulische Bildungseinrichtungen zu nennen, die im Folgenden den Fokus der Ausführungen bilden. 5.3.1 Schulische Bildungseinrichtungen als musikalische Sozialisationsinstanzen Im Gegensatz zum Erwerb kulturellen Kapitals innerhalb der Familie setzt das schulische Lernen ein Mindestmaß an Rationalisierung voraus (Bourdieu 1979/1987: 122). Die impliziten Schemata des Deutens, die sich durch die regelmäßige Konfrontation mit Musik oder anderen Kulturformen ausbilden, werden bzw. sollen explizit gemacht werden. Das schulische Lernen kann mit Bourdieu als Keim des Akademismus angesehen werden, in dem praktische, implizite Klassifikationsschemata durch standardisierte und explizite Schemata ersetzt
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werden (sollen). Mit anderen Worten geht Bourdieu davon aus, dass die Schule bei den SchülerInnen die Bewusstmachung und Überformung praktischer Schemata zur Folge hat: „In diesem Bereich wie in anderen (z.B. dem des Erlernens der umgangssprachlichen Grammatik) fördert die Schulerziehung das bewußte Erfassen der Denk-, Wahrnehmungsund Ausdrucksmodelle, die man bereits unbewußt beherrscht, indem sie die Grundlagen der kreativen Grammatik, z.B. die Gesetze der Harmonie und des Kontrapunkts oder die malerischen Kompositionsregeln, explizit darlegt.“ (Bourdieu 1968/1974: 183)
Diese Explikation und Rationalisierung von Wissen hat jedoch keine Angleichung der Beziehungen der Akteure zu Kultur und Bildung zur Folge. Die unterschiedlichen familiären Voraussetzungen und daraus resultierende Aneignungsmodi überdauern, so Bourdieu, die schulische Transformationsarbeit (vgl. Bourdieu 1979/1987: 143). Hinzu kommt, dass die überdauernden Unterschiede die Fraktionen innerhalb der Klassen unterscheiden hilft. Am Beispiel der herrschenden Klasse lässt sich das an den Figuren des „Gelehrten“ und des „Manns von Welt“ verdeutlichen. Letztgenannter Typus zeichnet sich durch Anciennität und den frühzeitigen Erwerb der legitimen Kultur aus, verbunden mit einer selbstverständlichen Schulung in Kulturtechniken (z.B. Tischmanieren) (Bourdieu 1979/1987: 125ff.). Die Anciennität innerhalb der herrschenden Klasse hat eine Frühzeitigkeit zur Folge, im Sinne eines Vorsprungs durch ererbtes kulturelles Kapital. In Bezug auf Musik spitzt Bourdieu die Geschmacksunterschiede, die aus den unterschiedlichen Erwerbsmodi resultieren, auf zwei Formen des Musikkonsums zu: „Auf der einen Seite eine Art Urvertrautheit mit der Musik; auf der anderen der passiv-akademische Geschmack des Musikliebhabers mit der Schallplattensammlung.“ (Bourdieu 1980/1993: 151) Obwohl sich bei Konrad biographisch eine starke Wertschätzung für Musik entwickelt, kann er diese nicht auf alle Formen der musikalischen Darbietung übertragen. Das Angebot der Schule zeigt ihm die Grenzen seines Geschmacks auf, anstatt ihm als Gelegenheitsstruktur dazu zu dienen, seine Grenzen zu erweitern: „Bow ewig glaub zwölfte Klasse Schule mit der Schule zusammen der Freischütz weiß ich bis heute. Freischütz weil ein Kaninchen mit einem riesen erigierten Penis über die Bühne gehüpft is in einer Szene und ich bis heute nicht weiß warum. Das war [lacht] das war das weiß ich bis heute nicht was diese was dieses Kaninchen hatte in dieser Aufführung und des war irgendwie äh vielleicht war das auch irgendwie das mir klar war [lacht] da hab ich
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kein Zugang zu. Ähm nee finds auch ne furchtbare Musik kann damit auch nichts anfangen.“ (Konrad: 75)
Bezeichnenderweise handelt es sich bei Oper um das Genre, das Konrads Vater präferiert. Aber wie bereits deutlich wurde, hat Konrad die generalisierte Wertschätzung für Musik übernommen, ohne dass er vom spezifischen kulturellen Kapital seiner Eltern in dieser Hinsicht profitieren konnte. Ähnlich argumentiert Bourdieu in Bezug auf den schulischen Kunstunterricht (Bourdieu 1979/1987: 326f.), in dem nur bestimmte SchülerInnen in den „vollen Genuss“ kommen können, da den anderen Erfahrungen mit Kunstwerken fehlen, die eine genussvolle Rezeption erst ermöglichen. „Genussvoll“ bezeichnet hier im Anschluss an Bourdieus Begriffsverwendung eine legitime Art und Weise der Rezeption, die eine gewisse Vertrautheit voraussetzt. Bezeichnenderweise sind in den vorliegenden Daten positive Bezugnahmen auf schulische Angebote und Inhalte sehr selten. Eher scheint von den einen mangelnde Passung signalisiert zu werden, während andere die mangelnde Qualität der schulischen Inhalte bzw. der Darbietung dieser Inhalte kritisieren. In der Art und Weise wie auch in der Richtung der Thematisierung der musikalischen Angebote der Schulen zeichnet sich also in gewisser Weise die Präformierung des Geschmacks durch zeitlich vorgelagerte Sozialisationsinstanzen ab. 5.3.2 Außerschulische Bildungseinrichtungen als musikalische Sozialisationsinstanzen Neben den schulischen Bildungseinrichtungen gibt es unterschiedliche Formen der außerschulischen musikalischen Bildung in die Analyse mit aufzunehmen. Der außerschulische Bereich ist bei meinen InterviewpartnerInnen vor allem in Form von privatem Musikunterricht, von Musikschulen und -vereinen präsent.18 Eine langjährige Auseinandersetzung mit Musik in diesem Rahmen hat auch Folgen für die Art und Weise wie Musik gehört wird. Ähnlich wie in der Schule wird dabei – je nach Unterrichtsmethode und Lehrpersonal – ein stärker expliziter und strukturierter Zugang zur Musik vermittelt. In diesem Zusammenhang spricht beispielsweise Konrad von einer „theoretischen Ausbildung“, die er in seinem Gitarrenunterricht „genossen“ hat.
18 In einzelnen Fällen kommen Jugendhäuser hinzu, die mit konkreten Angeboten wie beispielsweise DJ-Workshops den Möglichkeitsraum der Jugendlichen erweitern.
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„Hängt also zum einen natürlich damit zusammen, dass ich ja selber seit ich seit ich 14 bin Musik mach. Äh und da natürlich auch ne theoretische Ausbildung genossen habe ähm soll heißen (1s) ähm Gitarrenunterricht hatte ewig lang und man dann ja doch zwangsläufig mit Noten und Songstrukturen und Aufbau konfrontiert wird und ähm darüber auch relativ viel Songs analysiert habe. Ähm was mich manchmal nen bisschen davon abhält wirklich gut (1s) Musik zu machen weil das wiederum etwas ist was losgelöst ist vom Denken. Also (1s) äh mh nen anderes Thema. Auf jeden Fall gehe ich Musik sehr analytisch an. Mmh und und und versuch da eben immer diese Strukturen zu finden (…) wenn ich mich mit anderen Leuten unterrede die selber nie Musik gemacht ham stell ich immer wieder fest dass ich gar nicht mehr normal Musik hören kann. Also ich kann nicht mehr Musik hören ohne (1s) zu hören ok wie viel Instrumente hat es drin äh wie viele unterschiedliche Parts hat es ähm wird hier die Stimme gedoppelt im Refrain was machen die hier besonders und so weiter also ich kann nicht mehr Musik hören (1s) einfach (2s) ich stell mir das so oft vor so das das andere Leute vielleicht eher manchmal nur so nen nen Klangteppich hören oder sowas ohne da wirklich dann das Gehirn anfängt das aufzudröseln. Ja und für mich ich drösel da immer (1s) das geht gar nicht mehr anders.“ (Konrad: 52-53)
Zu bedenken ist in diesem Zusammenhang, dass es sich dabei um ein spezifisches kulturelles Kapital handelt, da Musik, die andere Strukturen aufweist, mit den inkorporierten Wahrnehmungsschemata nicht unmittelbar aufschließbar sein dürfte.
5.4 „W IEDERHOLTE B ESCHÄFTIGUNG MIT SYMBOLISCHEN G ÜTERN “ ALS G RUNDMODUS DES E RWERBS KULTURELLEN K APITALS Wie Howard S. Becker in seiner Studie „Outsiders“ (1966) an der Gruppe der Marihuana-KonsumentInnen gezeigt hat, lassen sich analytisch mehrere Lernprozesse (in seiner Studie: „learning the technique“, „learning to perceive the effects“, „learning to enjoy the effects“, vgl. Becker 1966: 41ff.) unterscheiden, die einen Konsumenten erst zum „kompetenten“ Konsumenten werden lassen.19
19 Becker formuliert im dritten Kapitel seiner Studie sein Untersuchungsinteresse folgendermaßen: „What we are trying to understand here is the sequence of changes in attitude and experience which lead to the use of marihuana for pleasure“ (Becker 1966: 42f., Herv. i. O.). Bei der Diskussion um die Übertragbarkeit der von Becker entwickelten Vorstellungen darf nicht vergessen werden, dass Musikkonsum im Ge-
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In Analogie dazu können auch die Prozesse, die an der Genese „kompetenter“ MusikkonsumentInnen beteiligt sind, verstanden werden. Dazu gehört es – wie Becker am Beispiel des Drogenkonsums unterstreicht – die Entwicklung nachzuzeichnen, die regelmäßiger Konsum bei den KonsumentInnen bewirkt.20 Wie in Kapitel 2.2 dargelegt wurde, finden sich bei Bourdieu wichtige Anregungen für eine solche Perspektive. Unterschiedliche Vorlieben, gerade auch von MusikliebhaberInnen und Fans, führt er auf unterschiedliche Modi des Erwerbs von musikalischen Wissen bzw. musikspezifischen kulturellen Kapitals zurück (vgl. Bourdieu 1978/1993: 150).21 Gleichwohl bleiben die konkreten Prozesse des Erwerbs kulturellen Kapitals unterbestimmt. Hier müssen auf Basis (qualitativer) empirischer Studien weitere analytische Differenzierungen eingeführt werden. In seinem Aufsatz „Elemente zu einer soziologischen Theorie der Kunstwahrnehmung (1968/1974) unterscheidet Bourdieu noch drei Formen des Erwerbs von kulturellen Kapital. Neben der Familie und der Schule, die später für die Argumentation in „Die feinen Unterschiede“ (1979/1987) eine wichtige Rolle spielen, führt er die „wiederholte Beschäftigung mit Werken“ als weitere Form an. Diese grenzt er explizit vom Erwerb kulturellen Kapitals im schulischen wie akademischen Bereich ab (1968/1974: 182f.). In einer Studie über kulturelles Kapital und Filmrezeption sprechen Jörg Rössel und Kathi Bromberger (2009) im Anschluss an Bourdieu auch von der „wiederholten Beschäftigung“ als einer „Quelle“ kulturellen Kapitals neben anderen. Die Rede von unterschiedlichen Quellen nivelliert, dass die drei genannten Formen auf unterschiedlicher Ebene angesiedelt sind. Familie wie Schule stellen Interaktionskontexte bzw. Felder dar, in denen mit signifikanten Anderen interagiert wird, Verhaltensweisen nachgeahmt bzw. erlernt werden und der symbolische Wert von Gütern und Praktiken ausgehandelt wird. Die „wiederholte Beschäftigung mit Werken“ verweist hingegen auf die Interaktionen mit symbolischen Gütern oder Praktiken. Diese müssten kon-
gensatz zu Drogenkonsum gesellschaftlich anerkannt ist – natürlich immer in Relation zu den relevanten Bezugsgruppen. 20 In seiner Studie „The Opera Fanatic. Ethnography of an Obsession“ (2011) bezieht sich Benzecry mehrfach auf Becker, versucht jedoch die Lernprozesse seiner Opernfans mit einem partiell von Beckers Vorstellungen abweichenden Modell zu erklären, in dem er die anfängliche Faszination von Opern für die NovizInnen betont. 21 In seiner Theorie der Kunstwelten stellt Becker (1984) die These auf, dass mit zunehmender Distanz zum Produktionsprozess das Wissen der Akteure über die Konvention der Kunstwelt abnimmt. Da Konventionen seiner Ansicht nach auch in Objekte (Musikinstrumente, Kunstwerke) eingeschrieben werden, kann diese Theorie auch aus der Bourdieuschen Perspektive einer erweiterten Kapitalanalytik gelesen werden.
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sequenterweise auch eingebettet in Begegnungen, soziale Beziehungen und Felder gedacht und analysiert werden. Im Folgenden wird deshalb die wiederholte Beschäftigung mit symbolischen Gütern nicht als eigenständige Form angesehen, sondern als Grundmodus der Inkorporierung von kulturellem Kapital verstanden. Darin erinnert uns diese Form an den Erwerb der Primärsprache. Denn die „wiederholte Beschäftigung mit Werken eines bestimmten Stils begünstigt eine unbewußte Verinnerlichung der Regeln, nach denen sich die Produktion dieser Werke vollzieht. Den Regeln der Grammatik gleich werden diese nicht als Regeln aufgefaßt und sind noch weniger ausdrücklich formuliert und formulierbar als jene […]“ (Bourdieu 1968/1974: 182). Mit dieser Reformulierung lassen sich die in den erhobenen Daten beobachteten Prozesse und Zusammenhänge angemessen und theoretisch sparsam verstehen und erklären. Am Beispiel von Michael lässt sich aufzeigen, wie die wiederholte Beschäftigung mit einer Band (REM) und ihrem musikalischen Schaffen das kulturelle Kapital weiterentwickelt. „(…) wobei ich muss dazu sagen ich hab die wahrscheinlich im Laufe der letzten zehn Jahre schon so bestimmt zwanzig Mal gesehen also dass heißt äh hört sich für viele se sehr nerdig an dazu muss man aber auch sagen ich hab glaub ich ich hab das irgendwann mal letztes Jahr danach in dem Zuge auch mal alles aufgeschrieben ich hab glaub ich auf diesen Konzerten insgesamt circa hundertzehn verschiedene Songs gehört von denen was auch relativ bemerkenswert ist [I: mhm] also das heißt (1s) naja ich hab jetzt nicht zwanzig fast oder ungefähr zwanzig Mal den über zehn Jahre verteilt genau das Gleiche angeguckt ha [I: ja] (2s) naja gut aber jetzt ham wir direkt mit sowas angefangen was eh erst von mir so ne wo mir die Meisten sagen würden äh etwas äh etwas krass so also das kann man den meisten gar nicht erzählen dass man ich sag mal ne Band sucht die Meisten können das halt nicht verstehen so [I: ja] aber das halt daran sieht man halt dass das für mich irgendwie ne besondere Band ist schon [I: ja]“ (Michael: 14).
An diesem Interviewauszug lassen sich mehrere Aspekte der wiederholten Beschäftigung mit symbolischen Gütern und Praktiken ausdifferenzieren. Anders als Bourdieu dies – wahrscheinlich im Hinblick auf ausgestellte Kunstwerke – formuliert, lernen Akteure nicht nur bei der Betrachtung von Werken, die Konventionen implizit verstehen, die in der Produktion dieser verwirklicht wurden. Auch die wiederholte Auseinandersetzung mit kulturellen Praktiken und Formen wie beispielsweise Musikkonzerten führt zur Sedimentierung von Erfahrungen, die als inkorporiertes kulturelles Kapital verstanden werden können. Dazu gehört im Falle von Konzerten beispielsweise auch das „angemessene“, legitime Verhalten als ZuschauerIn. Hier ist die Spannweite des legitimen Verhaltens beson-
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ders groß und historisch variabel. So wird die Disziplinierung des Opernpublikums im Zuge des 19. Jahrhunderts als Erfindung einer „Politik des Schweigens“ (Müller 2012) gedeutet. Heutige OpernbesucherInnen wären wahrscheinlich sichtlich irritiert, würden sie mit den üblichen Praktiken des Publikums des frühen 18. Jahrhunderts konfrontiert. Ein weiterer Aspekt, der sich am obigen Zitat zeigen lässt, sind die deutlichen Grenzen der Explikation kulturellen Kapitals. Bis zu einem gewissen Grad lässt sich das durch wiederholte Beschäftigung gewonnene kulturelle Kapital explizieren: wahrscheinlich erkennt Michael die Songs von REM bereits nach wenigen Takten, kann mitsingen – falls das für ihn eine Praktik ist, die zum gelungenen Konzertbesuch gehört – und kennt die Titel der gespielten Songs. Außerhalb der Konzertsituation kann er vor allem den letzten Punkt reproduzieren. In der Regel kennen selbst leidenschaftliche MusikhörerInnen den Prozess der Musikproduktion „nur“ aus zweiter Hand. Dabei handelt es sich oftmals um angelesenes Wissen.22 Durch den Besuch von Live-Konzerten können die Konventionen der Musikproduktion nur in einem begrenzten Maße kennengelernt werden, da der Prozess des Komponierens, Textens usw. für das Publikum verborgen in zeitlich und räumlich getrennten Sphären abläuft. Ausnahmen sind das Spielen „neuer“ Songs vor Publikum. Eine extreme Form dieses Ausprobierens von Songmaterial hat Michael bei einer besonderen Gelegenheit kennengelernt: „Ähm (3s) ja also ähm (1s) äh ich muss sogar ich hab die in den letzten Jahren relativ oft gesehen das Jahr davor auch und das war (1s) was relativ besonderes ich hab n Jahr in Irland studiert in der Nähe von Dublin und die haben halt ähm in waren dabei n neues Album aufzunehmen was eben auch zum Teil in Irland passierte und da haben die in som kleinerem Club oder Theater im Olympiatheater fünf Konzerte gespielt und die eben aber keine Konzerte waren sondern working rehearsals wo die halt neue Songs gespielt haben.“ (Michael: 14)
Die angesprochene Konzertform ermöglicht Michael einen Einblick in den musikalischen Produktionsprozess, ähnlich dem Besuch einer Orchesterprobe, und
22 Zu den Elementen der wiederholten Beschäftigung mit kulturellen Gütern und Praktiken gehört auch das Lesen und andere Formen der Informationsbeschaffung. Meine Befragten verfügen in der Regel über ein breites musikalisches Orientierungswissen, einige auch über ein Experten-ähnliches Wissen bezogen auf einzelnen InterpretInnen, Gruppen oder auch Genres. Dabei handelt es sich aufgrund seiner Explizierbarkeit um ein anderes Wissen – ein „Bescheid-wissen“ – als das körpergebundene Wissen um bspw. das „angemessene“ Verhalten im Konzertsaal.
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zudem einen zeitlichen Vorsprung im Vergleich zu anderen REM-HörerInnen. In Kapitel 6.3 wird diese Form des zeitlichen Vorsprungs wieder Thema sein – im Zusammenhang mit Praktiken des Sich-Abgrenzens. Die wiederholte Beschäftigung mit Musik ermöglicht es, laut Michael, zudem in andere kulturelle Bereiche einzudringen – eine Selbstdeutung, welche die Unterscheidung von generalisiertem und feldspezifischem kulturellen Kapital herausfordert. „Ähm (1s) also ich könnt das zum Beispiel jetzt an dem Beispiel von REM sagen dass die durchaus ähm (2s) für mich ähm (2s) son also ich hab sicherlich vorher auch schon Musik gehört als ich so ich sag mal bis zum Alter von circa 17 oder so aber das war durchaus dann eher was (1s) was grad auch auch ma auf auf Bravo Hits war oder vielleicht auch ein paar Sachen die man selber wie Toten Hosen oder was man in der Zeit vielleicht so ähm aufschnappt und irgendwie auch gut findet (1s) ähm aber das war irgendwie für mich son Punkt ähm (1s) wo ich sag wo wo ich angefangen hab mich für Musik zu interessieren aber gleichzeitig was für mich so ne neue Welt n bisschen geöffnet hat (1s) eben mit eben mit Referenzen auch zu Literatur und Kunst und und äh (1s) also dass ich auch angefangen hab dass ich Texte interessant finde oder dass ich darüber hinaus dann son bisschen kann man kann man jetzt nicht nur auf die Band so beschränken aber das war sicherlich son bisschen für mich der (…) so der Zugang“ (Michael: 10).
Die wiederholte Beschäftigung mit musikalischen Gütern und Praktiken kann, wie das obige Zitat verdeutlicht, mindestens das Interesse für die Beschäftigung mit angrenzenden Subfeldern der kulturellen Produktion positiv beeinflussen.23 Dabei muss allerdings mit bedacht werden, dass sich das Spiel mit Referenzen unterschiedlich voraussetzungsvoll gestaltet. Je nachdem wie offen die KünstlerInnen oder Bands mit Referenzen zu anderen symbolischen Systemen umgehen, fällt es KonsumentInnen wie Michael leichter oder schwerer den Referenzen zu folgen und ausgehend von ihrer Beschäftigung mit Musik Zugänge zu Literatur und anderen Kulturformen zu finden. In dieser Hinsicht lässt sich von „PortalBands“ sprechen (vgl. Reynolds 2012: 144ff.), die den KonsumentInnen weite
23 Eine Frage, die sich hier stellt lautet, inwiefern das Verfolgen intertextueller Bezüge mit einer Übertragung spezifischen kulturellen Kapitals auf andere Bereiche einhergeht. Laut Bourdieu (1968/1974: 185; vgl. Rössel/Bromberger 2009) produziert die eine übertragbare ästhetische Kompetenz – das hier kurz als generalisiertes Kapital bezeichnet wird –, die es ermöglicht schulische Schemata auch auf Gebiete anzuwenden, die nicht in der Schule behandelt werden.
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Referenzketten erschließen helfen – beispielsweise mittels Hinweisen in Liner Notes oder in Interviews. Abseits von Familie, schulischen Einrichtungen und außerschulischer Bildung sind Konzertbesuche als wichtige Generatoren kulturellen Kapitals zu verstehen. Durch den wiederholten Besuch von Konzerten, Diskotheken, Clubs und anderen Musikevents erwerben die Akteure ein spezifisches kulturelles Kapital. Bei Johanna, der kulturell aktiven Rentnerin, lässt sich dies an der Bedeutung sogenannter Jugendkonzerte hervorheben: „I: Haben ihre Eltern sie auch mitgenommen auf Konzerte? J: Ne gar nicht. Also ich bin als ich in der Schule war auch immer auf Jugendkonzerte gegangen und ja also das hab ich alles alleine gemacht. Und das war damals sehr populär hier in (Stadtname). Es gab einen Generalmusikdirektor der sogar noch lebt, irgendwo in Kanada, und der war, was man sich gar nicht so vorstellen kann, der Mädchenschwarm, und wirklich sehr sehr beliebt und der hatte das eingeführt mit den Jugendkonzerten und so kam man an alles dran.“ (Johanna: 34)
Die angesprochenen Konzerte stellten eine Bühne dar, auf der das Publikum sowohl explizit kulturelles Kapital in Form von Erläuterungen aneignen als auch implizit die angemessenen Formen der Reaktion auf Musik, des Verhaltens als Publikum sowie die kommunikative Aneignung des musikalischen Ereignisses erproben konnte. Diese Form der Inkorporierung kulturellen Kapitals ist nicht auf die Jugendphase beschränkt. Zwar folgen Bourdieus Ausführungen zur Transmission kulturellen Kapitals und Habitus(trans)formation implizit einer Logik der Lebensphasen, dennoch lassen sich diese Prozesse über die gesamte (musikalisch) Biographie verfolgen.24
24 Die Kombination von bestimmten Erfahrungen im Lebensverlauf mag die Wahrscheinlichkeiten signifikant beeinflussen, bestimmte Musikrichtungen vorzuziehen und andere abzulehnen, dennoch sollten zusätzliche Erklärungsfaktoren wie beispielsweise Familiengründung oder Ausstieg aus dem Berufsleben mit berücksichtigt werden, um Wandlungen des musikalischen Konsum- wie Rezeptionsverhaltens zu verstehen und erklären zu können (vgl. Kleinen 2008: 46).
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5.5 G ENERIERUNGSBEDINGUNGEN VON M USIKGESCHMACK : Z USAMMENFASSUNG Auf den vorangehenden Seiten wurden die Generierungsbedingungen von Musikgeschmack in den Blick genommen. Zunächst wurde in einem ersten Schritt der Blick für objektiv mögliche Varianten musikalischer Sozialisation und der Weitergabe kulturellen Kapitals geschärft, indem kontrastiv drei Anamnesen nebeneinander gestellt wurden (Kapitel 5.1). Dabei wurden zwei theoretische „Leitplanken“ mitgedacht: zum einen die Bourdieusche Kapitalanalytik mit Fokus auf die Weitergabe kulturellen Kapitals und zum anderen das Konzept der musikalischen Selbstsozialisation (vgl. Rhein/Müller 2006). Im Anschluss an die präsentierten Anamnesen wurde ein heuristischer Rahmen für die weitere Analyse der vorliegenden Daten gewählt. Dieser orientiert sich an dem Vorschlag von Pape (1996), nimmt aber wesentliche Anregungen aus den genannten theoretischen Perspektiven (Kapitalanalytik und musikalische Selbstsozialisation) auf. Die anschließenden Unterkapitel befassten sich mit musikalischer Sozialisation in Kleingruppen und sozialen Beziehungen (Kapitel 5.2), musikalischer Sozialisation und organisierten Sozialisationsinstanzen (Kapitel 5.3) sowie der wiederholten Beschäftigung mit symbolischen Gütern als Grundmodus des Erwerbs kulturellen Kapitals (Kapitel 5.4). Da vor allem die Bourdieusche Perspektive wenig Aufschlüsse über die (konkreten) Prozesse der Weitergabe und Inkorporierung kulturellen Kapitals bietet, sondern vielmehr deren Relevanz postuliert, wie schon Liebau (1987) anmerkte, erwies sich die doppelte Perspektive auf die Generierungsbedingungen von Musikgeschmack als analytisch gewinnbringend. Inkorporierung kulturellen Kapitals wird hier verstanden als wiederholte Beschäftigung mit kulturellen Gütern und Praktiken. Als solche kann sie in unterschiedlichen Kontexten und zu unterschiedlichen Zeitpunkten verlaufen. In den Studien Bourdieus wird der Familie neben der Schule ein herausragender Stellenwert für die Weitergabe kulturellen Kapitals eingeräumt. Im Anschluss an bestehende Arbeiten zur Transmission kulturellen Kapitals innerhalb von Familien lassen sich hierbei mehrere Formen unterscheiden.25 Auf Basis der bisher ange-
25 Mohr und DiMaggio (1995) identifizieren in einem Artikel drei „Mechanismen“ der Transmission kulturellen Kapitals: (a) Im Zuge der alltäglichen Interaktionen zwischen Eltern und Kindern wird eine Vertrautheit mit der legitimen Kultur weitergegeben. (b) Eltern mit hoher Ausstattung an kulturellem Kapital investieren gezielt in ihre Kinder, indem sie Zeit und/oder ökonomisches Kapital (z.B. Musikunterricht) einsetzen. (c) Kulturelles Kapital wird innerhalb des sozialen Milieus bzw. des sozialen Umfelds der Familie weitergegeben.
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führten Prozesse und Beziehungen lassen sich relevante Aspekte der Generierungsbedingungen von Musikgeschmack weiter ausdifferenzieren und reformulieren: (a) Erstens sollte die Engführung auf die Übertragung legitimen kulturellen Kapitals aufgegeben werden. Nicht jedes kulturelle Kapital, das in Interaktion mit signifikanten Anderen von Kindern und Jugendlichen inkorporiert wird, lässt sich als legitimes kulturelles Kapital verstehen. Genauer gesagt scheint die Konzeptualisierung kulturellen Kapitals als legitimes kulturelles Kapital einen zentralen Punkt zu vergessen: die Legitimität kulturellen Kapitals ist abhängig von ihrer Anerkennung durch andere Akteure.26 Zudem können in Feldern zu einem gegebenen Zeitpunkt konkurrierende Qualitätskriterien und Legitimationstheorien existieren (vgl. Kapitel 6.2). (b) Zweitens erscheint es ungenügend auf die Interaktionen zwischen Eltern und Kind zu verweisen, ohne diese „black box“ näher zu examinieren. Die zugrundeliegenden Prozesse sind gerade bei Bourdieu nicht ausbuchstabiert, weshalb eine Ergänzung durch weitere Theorien bzw. Konzepte angebracht erscheint. Expliziter als im folgenden Zitat hat er sich selten zur Inkorporierung kulturellen Kapitals geäußert: „In allen Gesellschaften zeigen die Kinder für die Gesten und Posituren, die in ihren Augen den richtigen Erwachsenen ausmachen, außerordentliche Aufmerksamkeit: also für ein bestimmtes Gehen, eine spezifische Kopfhaltung, ein Verziehen des Gesichts, für die jeweiligen Arten, sich zusetzen, mit Instrumenten umzugehen, dies alles in Verbindung mit einem jeweiligen Ton in der Stimme, einer Redeweise und – wie könnte es anders ein? – mit einem spezifischen Bewußtseinsinhalt.“ (Bourdieu 1972/1979: 190)
Übertragen auf musikspezifisches kulturelles Kapital bedeutet dies, dass sich Kinder in Interaktion mit signifikanten Anderen implizit wie explizit Wissen und Fähigkeiten aneignen. Einige Punkte, die oben angeführt wurden, weisen hier eindeutig über Bourdieus Position hinaus. Beispielsweise zeigt sich, dass Umgangsweisen mit Medien ebenso wie die kommunikative Aneignung von Medi-
26 Diese Engführung findet sich in vielen einschlägigen Publikationen, aber vor allem im englischsprachigen Raum (vgl. als Beispiel: Lamont/Lareau 1988). Analytisch ist m.E. nichts gewonnen, wenn kulturelles Kapital immer zugleich als legitimes kulturelles Kapital verstanden wird. Ohne diese Vorentscheidung ist es möglich, flexibel mit den bestehenden Begriffen umzugehen, wie Thorntons (1996) Konzept des „subcultural capital“ oder die Unterscheidung von generalisierten und spezifischen kulturellen Kapital (bswp. Rössel/Bromberger 2009) verdeutlicht.
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eninhalten innerhalb der Familie eingeübt werden. Hier erweisen sich Überlegungen aus der Musikpsychologie als anschlussfähig. Kleinen (2008: 56) vertritt in Bezug auf Prozesse der Identifikation in der Kindheit und deren Rolle für die musikalische Sozialisation folgende Position: „Das führt zu einem ersten Repertoire gern gesungener Lieder, häufig rezipierter Musiken, gern gesehener Fernsehserien, aber auch zur Bildung entsprechender praktischer Fertigkeiten. Die singenden, tanzenden, musizierenden Erwachsenen geben Vorbilder für eigenes musikalisches Tun ab, aber auch die elterliche Wohnung, die Räume in Kindergarten und Schule, die öffentlichen Straßen und Plätze usw. enthalten Anregungspotenzial.“ (Kleinen 2008: 56)
Die Rolle des objektivierten kulturellen Kapitals und das Erlernen des legitimen Umgangs mit ihm werden hierbei gerne vergessen.27 Neben dem impliziten Lernen in Interaktion mit den Eltern spielen auch die Gelegenheitsstrukturen eine wichtige Rolle, die die Eltern den Kindern und Heranwachsenden eröffnen wie verschließen können. Hierzu gehören so einfach Dinge wie Fahrdienste zu Konzerten, zum Musikunterricht usw. Wie zudem einige der Interviewpassagen zeigten, ist die Eltern-Kind-Interaktion nicht nur als Einbahnstraße zu sehen. Im Kontext veränderter Erziehungspraktiken wird den durch die Kinder artikulierten Wünschen zum Teil deutlich Rechnung getragen. (c) Die Investition der Eltern in ihre Kinder wird hier nicht als bewusste, d.h. kalkulierte Investition verstanden. Vielmehr scheinen – das deckt sich mit den Ergebnissen von Lareau (2003) – unterschiedliche implizite Erziehungsstile weitreichende Konsequenzen zu haben. Erstens haben die Eltern der Befragten im unterschiedlichen Maße dem Konzept der „concerted cultivation“ entsprochen, indem sie die Weitergabe kulturellen Kapitals an ihre Kinder an ExpertInnen delegiert haben. Hier hat sich vor allem die Bedeutung der außerschulischen organisierten Sozialisationsinstanzen gezeigt. Während der schulische Bereich von den Interviewten in der Regel nicht positiv erwähnt wurde – zumindest in Bezug auf Musik –, zeigt sich bei vielen die Relevanz des Besuchs von Musikschulen, von privatem Musikunterricht oder auch der Nutzung der Angebote von Jugendhäusern. Zweitens können auch andere Familienmitglieder wie beispielsweise die Geschwister oder Großeltern die Weitergabe kulturellen Kapitals innerhalb der Familie beeinflussen. Zumindest können Kinder dieses Erbe verweigern oder verschleudern (vgl. Bourdieu/Passeron 1964/2007).
27 Die Anzahl von Büchern, Schallplatten oder ähnlichen Indikatoren für kulturelles Kapital im elterlichen Haushalt erklärt eben für sich genommen noch nichts.
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Sofern Geschwister vorhanden sind, gibt es vielfältige Effekte, welche die Weitergabe kulturellen Kapitals innerhalb der Familie beeinflussen. Erstens können ältere Geschwister das Investitionsverhalten der Eltern „negativ“ beeinflussen, so dass die jüngeren Kinder weniger von den Bemühungen der „concerted cultivation“ betroffen sind. Zudem können sie zweitens als musikalische Vorbilder für bestimmte Praktiken fungieren. Indirekt können sie drittens die musikalische Geschmacksbildung beeinflussen, indem sie positiv als musikalische Vorbilder oder negativ als Abgrenzungsfolie dienen. Eine wesentliche Erkenntnis der bisherigen Ausführungen ist, dass die Rolle der Geschwister für die Weitergabe des familiären Erbes stärker zu berücksichtigen ist. (d) Die Deutung der wiederholten Aneignung symbolischer Güter als ein Grundmodus des Erwerbs kulturellen Kapitals ermöglicht es die Eigenaktivität der Akteure stärker zu berücksichtigen. Zudem lässt sich auf diese Weise den Beiträgen zur musikalischen Selbstsozialisation Rechnung tragen und zugleich weiterhin innerhalb des Bourdieuschen Theorierahmens argumentieren. Die wiederholte Aneignung symbolischer Güter erzeugt sowohl explizierbares wie auch körpergebundenes Wissen. Breites musikalisches Orientierungswissen („Bescheid-wissen“), das in Unterhaltungen über Musik relevant werden kann, zeichnet viele der Interviewten aus. Daneben generiert beispielsweise der wiederholte Besuch von Konzerten ein implizites Wissen über legitimes Verhalten als KonzertbesucherIn. Dieses wird in Interviews nur vermittelt offenbar, wenn beispielsweise über andere BesucherInnen und deren unangemessenes Verhalten berichtet wird.
6. Theorie des unterscheidenden Hörens
Unabhängig von der Art der Befragung – seien es standardisierte Fragebögen, klingende Fragebögen, leitfadengestützte Interviews oder narrative Interviews – bringen wir die Befragten dazu, zunächst verbale Präferenzen und Werturteile zu äußern. Diese können weder rein als Repräsentation ihrer habitualisierten Hörstrategien noch ausschließlich als habitualisierte soziale Strategien interpretiert werden, wie Gebesmair (2001: 95) betont. Verbale Urteile über Musik verweisen sowohl auf habitualisierte Hörstrategien als sie auch Zugehörigkeiten symbolisch zum Ausdruck bringen. Folgt man dieser These hat dies sowohl Konsequenzen für die Konstruktion und Kombination der Befragungsinstrumente als auch für den Umgang mit den daraus gewonnenen Daten. Zudem erscheint es angebracht, gewohnte analytische Foci auf ihre Berechtigung hin zu befragen und gegebenenfalls weiter auszudifferenzieren oder zu verwerfen. Im Zuge der Untersuchung hat sich eine Reihe von analytischen Fokussierungen herauskristallisiert, die in ihrer Kombination als Theorie des unterscheidenden Hörens bezeichnet werden können. Diese gilt es im Folgenden in zwei Schritten näher darzustellen. Zunächst wird ein kurzer Überblick über die analytischen Fokussierungen geben, die genutzt wurden, um die Daten aufzuschließen und die Ergebnisse zu systematisieren. In einem zweiten Schritt sollen diese Fokussierungen am Beispiel der Interviewäußerungen eines Befragten näher beleuchtet werden. Dies wird in Form einer Anamnese geschehen. Analytische Differenzierungen für eine Theorie des unterscheidenden Hörens Wird von einer Fokussierung auf Präferenzen oder Verhalten Abstand genommen, lässt sich Musikgeschmack in seiner Vielfältigkeit und Komplexität analysieren. Aus diesem Grund wird in der vorliegenden Untersuchung mit drei analytischen Differenzierungen gearbeitet. Neben der Dimension der Generierungsbedingungen von Musikgeschmack, die im voranstehenden Kapitel 5 in den Blick genommen wurden, werden im engeren Sinne drei Aspekte einer Theorie des un-
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terscheidenden Hörens unterschieden: (a) Praktiken des Ordnens, (b) Praktiken des Legitimierens und (c) Praktiken des Sich-Abgrenzens.1 Die folgende Tabelle 7 gibt einen ersten Überblick über die genannten analytischen Aspekte, beschreibt sie kurz und enthält einfache Beispiele.
Analytische Aspekte
Beschreibung
Beispiele
Ein- und Zuordnen,
„Schranzmusik“, „Christen-
Praktiken des
Abgrenzen und Verknüpfen
rock“, „serielle Musik“, d.h.
Ordnens
musikalischer Objekte und
Genres und Genregrenzen un-
Praktiken
terlaufenden Typisierungen
Bewertungen und Werturteile
Authentizität, Neuheit,
in Rückgriff auf evaluative
Politische Position
Kriterien und Vergleiche
der InterpretInnen
Praktiken des Legitimierens
Praktiken des Sich-Abgrenzens
Symbolische und soziale Abgrenzungen
Abgrenzung gegen Ska aufgrund der angenommenen Trägergruppe
Tabelle 7: Analytische Differenzierungen für eine Theorie des unterscheidenden Hörens Unter die Praktiken des Ordnens – die im Kapitel 6.1 genauer beleuchtet werden – fallen das Ein- und Zuordnen, das Abgrenzen und Verknüpfen von musikalischen Objekten und Praktiken. Typischerweise geschieht dies in Form von Genrezuordnungen, allerdings werden diese auch häufig unterlaufen. Hier bewegt man sich folglich, mit Bourdieus gesprochen, auf der Ebene der Klassifikationen. Davon unterschieden werden die Operationen des Bewertens und Vergleichens, die auf evaluative Kriterien zurückgreifen und mit denen Musik ein Wert zugeschrieben wird. Diese Praktiken des Legitimierens stellen die Einsicht in Rechnung, dass mit dem Zuordnen von Musik zu einem bestimmten Genre nicht 1
Das Feld der Praxistheorien vereint eine Vielzahl sozialtheoretischer wie empirischer Perspektiven auf Kultur und soziale Praxis, die als „Bündel von Theorien mit ‚Familienähnlichkeit‘“ (Reckwitz 2003: 283) verstanden werden kann. Im Folgenden wird ein an Bourdieu orientiertes Verständnis von sozialen Praktiken vertreten, das mit den von Reckwitz konstatierten Grundelementen (implizite Logik und Materialität der Praxis, Routiniertheit und Unberechenbarkeit der Praktiken) kompatibel erscheint (vgl. Kapitel 2).
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zwangsläufig eine Wertung verbunden ist (siehe Kapitel 6.2). Diese Wertungen gehören jedoch zu den Bedingungen der Möglichkeit von Distinktionsgewinnen. Damit wird nicht die Position vertreten, dass die Trennung von illegitimer und legitimer Kultur obsolet geworden ist. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass nicht nur bestimmte Felder an der Legitimierung von kulturellen Gütern und Praktiken beteiligt sind, sondern dass sich zudem Kämpfe um Legitimität auch in den alltäglichen Gesprächen über Kultur wiederfinden. In dieser Perspektive erscheint das Gespräch über die neuen Alben von Bob Dylan, Seeed oder Rihanna nicht nur als ein popkulturelles Vergnügen, sondern eben auch als eine Verhandlung über die Grenzen von illegitimer und legitimer Kultur.2 Als letztes Element lassen sich die Praktiken des Sich-Abgrenzens als entscheidender Bestandteil der Theorie des unterscheidenden Hörens anführen (Kapitel 6.3). Hierunter fallen alle Praktiken und Strategien der symbolischen wie sozialen Abgrenzung von anderen MusikliebhaberInnen und auch musikalisch Inaktiven. Besonders deutlich wird dies an einem mehrfach auftauchenden Phänomen aus den Interviews: eine Reihe der Befragten bewertet sowohl Ska als auch Reggae sehr negativ. Damit einher geht eine Abgrenzung von und Abwertung der Trägergruppen dieser Musikstile und der ihnen unterstellten politischen wie stilistischen Merkmale. Analytische Fokussierungen am Beispiel eines Interviews Nachdem die analytischen Fokussierungen der Theorie des unterscheidenden Hörens überblickartig dargestellt wurden, sollen sie mit Hilfe eines Interviews exemplarisch vorgeführt werden. Dazu wird einer der Interviewpartner in Form einer Anamnese vorgestellt. Konrad wurde bereits im Kapitel 5.2 kurz vorgestellt, als die Analyse auf die Generierungsbedingungen von Musikgeschmack fokussiert war. Er ist im klassischen Sinn des Konzepts nicht als „cultural omnivore“ bzw. „highbrow omnivore“ zu bezeichnen. Wie bereits erwähnt ist er zum Zeitpunkt des Interviews 31 Jahre alt und hat ein sozialwissenschaftliches Studium abgeschlossen. In seinem Berufsfeld gehört er zu der Gruppe der Quereinsteiger, da er ohne pädagogische Zusatzqualifikation im Bereich der Sozialen Arbeit beschäftigt ist. Musikalisch ist er in doppelter Hinsicht aktiv, da er nicht nur gerne und viel Musik hört, sondern seit seiner Jugend auch im Amateurbereich musiziert. Seine Liebe gilt vor allem dem Punkrock. Allerdings ist er gegenüber anderer Musik durchaus offen, solange sie ihn „an den Eiern packt“ (Konrad: 23). Dennoch charakterisiert er sich selbst als Spartenhörer. Seine Ab-
2
Dies gilt beispielsweise dann, wenn populärkulturelle Gütekriterien auf legitime Kultur angewendete werden oder umgekehrt.
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neigungen sind zum Teil deutlich ausgeprägt – gerade auch gegenüber als legitim angesehenen Genres wie Oper oder Jazz. Praktiken des Ordnens: Im Interview demonstriert Konrad, dass er zwar mit der Genreklassifikation „Punkrock“ auskommen würde, prinzipiell aber über einen größeren Fundus von Genres und Subgenres verfügen kann. Typisch für zeitgenössische Reflektionen über den eigenen Geschmack sind die Relativierungen, die er einführt: (a) Geschmack ist perspektivisch und folgerichtig (b) subjektiv. Entsprechend seiner Äußerungen sind die Einteilungen, die der Einzelne vornimmt, nicht von absoluter Gültigkeit: „Ja das sind schon eher so Unterscheidungen die ich für mich selber ähm (1s) wo ich irgendwie so nen ne Kategorisierung habe für mich. Ich mein des sind die Grenzen sind schwimmend also des ist immer so (2s) ach das ist dann liegt dann auf dem Auge des Betrachters was es dann jetzt im Endeffekt wirklich ist also ganz vieles was ich als Punkrock bezeichne (1s) würden die Bands selber (2s) nicht zwangsläufig als Punkrock bezeichnen“ (Konrad: 51). Praktiken des Legitimierens: Die Güte von Musik bestimmt Konrad zunächst dadurch, dass sie eine „Hookline“ besitzt: „(1s) Ähm gute Musik macht aus wenn du ne ne Hookline drin hast also wenn ne ne ne irgend etwas hast was dich anspricht und zwar völlig wahllos was das ist das kann ne ne gigantischer Refrain sein ne melodiöser ähm kann teilweise nur ne Stimme sein ähm es kann ne Melodie sein ne kleine ähm (1s) das macht gute Musik aus“ (Konrad: 23). Mit dieser Eigenschaft, die der Musik bzw. Komposition zugeschrieben wird, geht eine Ablehnung komplexer wie für ihn fremd klingender Musik (er nennt indische Musik als Beispiel) einher. Denn „komplexe Musik ist einfach keine gute Musik, also die ist qualitativ mag die gut sein aber sie ist fürn Zuhörer nicht nicht gut nicht eingängig äh und die Hits die die dir wirklich im Ohr bleiben haben immer ne einfache Struktur (1s) ähm und völlig klar etwas was dich was dich unter Musikern sagt man an den Eiern packt“ (Konrad: 23). Die Ablehnung von komplex strukturierter Musik steht bei Konrad in gewisser Spannung zu der Selbstbeschreibung als analytischer Hörer, der die Musik immer auf ihre Komposition und Instrumentierung hin befragt (Konrad: 53). Scheitert das Nachvollziehen im Kopf, werden von Konrad starke sprachliche Bilder genutzt, um die Ablehnung dieser Musik zu verdeutlichen – in Bezug auf indische Musik formuliert er: „Da rollts mir die Fußnägel hoch. Weil ichs schlicht und ergreifend nicht kapiere“ (Konrad: 25). Jenseits der Güte von Tonträgern (Produktion) oder der kompositorischen Qualität (Hookline) von „Songs“ verweist Konrad auf zusätzliche Gütekriterien,
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die auf den Lebens- sowie Inszenierungsstil der MusikerInnen und die Qualität ihrer Live-Auftritte verweisen. So urteilt er in Bezug auf Marilyn Manson: „Eigentlich relativ schlechte Musik [lacht]. Eigentlich. Aber für das was er steht als Person (1s) wird des nen Kunstprojekt insgesamt und dann wirds schon wieder cool (2s)“ (Konrad: 33). Praktiken des Sich-Abgrenzens: Differenzsetzungen, welche die eigene Position symbolisch aufwerten, finden sich bei Konrad vor allem in Verbindung mit lebensstilbezogenen Bewertungen von Musik. Seine Vorliebe für Punkrock verbindet er mit einem „Lebensgefühl“, das er mit den Stichworten „Rebellion“, „Freiheit“, „Wut“ und „Sehnsucht nach ner anderen Welt“ einzukreisen versucht (Konrad: 39). Die deutlichsten Abgrenzungen finden dann in Bezug auf Genres wie Volksmusik oder Reggae und deren vermuteten Trägergruppen statt. Die Szene, der er sich noch verbunden zu fühlen scheint, hebt er positiv ab, da „des hat so was gemeinschaftliches so ohne das man sich eigentlich kennt und des äh was man eben als Szene kennt ja warums eben Szenen gibt. Und des hab ich früher immer genossen und genieß ich auch heute noch so“ (Konrad: 39). Fassen wir das bisher Gesagte zusammen: Konrad weist eine Zahl von Merkmalen auf, die ihn mit den meisten der befragten Personen verbindet: er verfügt über einen hohen formalen Bildungsgrad und damit einhergehend über generalisiertes kulturelles Kapital, feldspezifisches kulturelles Kapital aufgrund langjähriger eigener musikalischer Praxis, kommt aus einem Elternhaus, das der gehoben Mittelklasse zuzuordnen ist und achtet bei Konzerten und Tonaufnahmen auf musikimmanente Merkmale. In mancherlei Hinsicht lässt er sich mit Adornos ‚Experten‘ vergleichen (Adorno 1975: 17 ff.): „Er wäre der voll bewußte Hörer, dem tendenziell nichts entgeht und der zugleich in jedem Augenblick über das Gehörte Rechenschaft sich ablegt“ (Adorno 1975: 18). Allerdings würde Adorno selbst Schwierigkeiten mit dieser Analogie haben, denn Konrad begeistert sich keineswegs für legitime Genres. Seine größte musikalische Vorliebe ist der Punkrock – in einem weiten Sinne verstanden.
6.1 P RAKTIKEN
DES
O RDNENS
Im Vorwort der Sonic Youth Bandbiografie „Goodbye 20th Century“ schreibt der Musikjournalist David Browne über seine Erfahrungen mit iTunes Folgendes:
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„Zur Vorbereitung auf dieses Buch habe ich einige Sonic-Youth-Alben in mein iTunesProgramm geladen, und mit jedem neuen Album änderte sich prompt das Genre. Einige Alben waren unter ‚Rock‘, andere unter ‚Alternative‘ eingeordnet. Eine besonders ambitionierte Kategorie für eine Bootleg der Band lautete ‚Noise‘. (Bis dahin wusste ich gar nicht, dass es die Kategorie ‚Noise‘ bei iTunes überhaupt gibt.) Mein Lieblingsmoment jedoch war der Download des ersten Albums von Sonic Youth. Als wäre iTunes geradezu verwirrt von dem, was es da gerade gehört hatte, wurde kurzerhand eine noch gewagtere Rubrik ausgespuckt: ‚Unclassifiable‘.“ (Browne 2009: 11)
Um ähnliche, verwirrende Erfahrungen zu machen, muss man weder Musikjournalist sein noch ein Buch über die eigene Lieblingsmusik schreiben. Der geschilderte Erfahrungshorizont geht typischerweise über die journalistische Tätigkeit hinaus. In alltäglichen Gesprächen oder in medialen Berichten über Musik können geneigte soziologische BeobachterInnen den vielfältigen Formen des Einteilens, Zuordnens und Unterscheidens von Musik nachspüren. Das Schaffen von Ordnung wird hier nicht als kognitives Problem aufgefasst, sondern zuallererst als praktisches Problem von Akteuren und gerät in dieser Art und Weise in den Gegenstandsbereich der Soziologie. Der soziologische Blick auf Praktiken des Ordnens reicht historisch betrachtet bis zu Anfängen der Disziplin zurück (vgl. Knoblauch 2005: 65 ff.). An dieser Stelle kann das wissensanalytische Profil der Klassiker der Soziologie aus pragmatischen Gründen nicht systematisch entfaltet werden, da die Darstellung der empirisch gewonnenen Differenzierungen im Vordergrund steht. Gleichwohl soll auf eine Traditionslinie verwiesen werden, die für den theoretischen Rahmen von zentraler Bedeutung ist: die Wissenssoziologie bzw. Soziologie der Erkenntnis der Durkheim-Schule. Klassische Studien wie „Über einige primitive Formen von Klassifikation“ (Durkheim/Mauss 1903/1987) oder „Die elementaren Formen des religiösen Lebens“ (Durkheim 1912/1981) legen die Grundsteine für eine strukturanalytische Wissenssoziologie, die auch in den Arbeiten Pierre Bourdieus fortgeführt wird. Durkheim und Mauss gehen von einer engen Verschränkung von Klassifikationssystemen und sozialer Ordnung aus. Wie die beiden Autoren betonen (1903/1987: 199), liegt der soziale Ursprung von Klassifikationssystemen in der gesellschaftlichen Ordnung begründet, wobei sie einschränkend anmerken, dass auch die Klassifikationssysteme auf die Sozialstruktur Einfluss ausüben können. Mit Knoblauch lässt sich resümieren, dass die These der Sozialität des Wissens für die genannten Untersuchungen Durkheims zentral ist (Knoblauch 2005: 66; siehe auch Desrosières 2005: 270-274). Nicht nur die Bewusstseinsinhalte, sondern auch die soziale Konstitution der Formen des Erkennens werden in die
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Analysen mit einbezogen (vgl. Durkheim/Mauss 1903/1987: 175). Dazu gehört die These, dass die „Kategorien von Raum und Zeit, Kraft und Kausalität, die Person und die Gattung […] an sozialen Sachverhalten gewonnen und Modell für Wahrnehmung und Erkenntnis der Welt insgesamt“ seien (Durkheim/Mauss 1903/1987: 251; Joas 1987: 267). Zudem gehen Durkheim und Mauss davon aus, dass Klassifikationen stets Hierarchien bilden (vgl. 1903/1987: 176). Ein auf den ersten Blick banaler Punkt, der jedoch für die Analyse von Klassifikationssystemen folgenschwer ist, da die Klassifikationen nur im Sinne von naturwissenschaftlichen (v.a. biologischen) Taxonomien erfasst werden. Grundsätzlich stehen die Strukturen des Denkens und die gesellschaftliche Strukturen in vielgestaltigen Wechselbeziehungen (vgl. Knoblauch 2005: 71 f.). Stets liegt jedoch das Primat für Durkheim auf den sozialen Strukturen. Resümierend lässt sich anmerken, dass das Verhältnis von Wissen und Sozialstruktur bei Durkheim vier Formen annehmen kann: (a) strukturale Korrespondenzen, (b) kausale Beziehungen (Sozialstruktur als Ursache), (c) Ordnungsfunktion von Kategorien für das soziale Leben oder (d) Repräsentationen als Legitimationswissen (vgl. Knoblauch 2005: 72). Damit ist das Feld für anschließende Studien bereitet, die sich aus soziologischer Perspektive mit Klassifikationssystemen befassen. An den Thesen Durkheims ist vielfach sowohl aus empirischer als auch aus theoretischer Perspektive Kritik geübt worden. Manche dieser Einwürfe sind schwerwiegend, so dass einige Aspekte der Perspektive Durkheims verabschiedet werden müssen. Dazu zählen die eindeutige kausale Zuschreibung und der Vorrang der Sozialstruktur (vgl. Durkheim/Mauss 1903/1987: 250 f.; Joas 1987: 267 f.), wie auch die These, dass Klassifikationen stets hierarchisch strukturiert seien. Zumindest fraglich ist darüber hinaus, ob die soziale Konstitution der Kategorien und Klassifikationen vor allem an die Sphäre der Religion gebunden ist, wie sich aus den Arbeiten von Durkheim ableiten ließe (vgl. Joas 1987: 272).3 In zeitgenössischen Gesellschaften, die einen hohen Grad an funktionaler Differenzierung aufweisen, lässt sich die Frage nach dem „sozialen Ursprung“ von Klassifikationen nicht so einfach beantworten. Die Fragen, die sich an Durkheim jedoch anschließen lassen, sind auch für die Erforschung zeitgenössischer Gesellschaften relevant. Die bleibende Bedeutung der Beiträge lässt sich mit Sutterlüty wie folgt zusammenfassen: „Es ist das Verdienst Durkheims, Klassifikationen überhaupt als einen wesentlichen Aspekt von Kultur isoliert und als theoretischen Begriff in die soziologische Analyse
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Für eine differenzierte Auseinandersetzung mit den angeführten Problematiken, die hier nur angedeutet werden können, sei auf folgende Publikationen verwiesen: Allen (1994), (2000); Lukes (1985) sowie Needham (1963).
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eingeführt zu haben“ (Sutterlüty 2010: 22). In der zeitgenössischen Soziologie schließt vor allem Bourdieu an die Tradition Durkheims an, insofern Fragen nach dem Verhältnis von Wissen und Sozialstruktur in den Kern seines Untersuchungsinteresses führen. Zusätzlich enthält das strukturanalytische Profil der Soziologie Bourdieus eine kritische bzw. politische Dimension. Die erkenntnistheoretischen Fragen Durkheims, die er aufnimmt, indem er beispielsweise das französische Bildungssystem untersucht, werden im zeitdiagnostischen Kontext zu herrschaftsanalytischen Fragestellungen (vgl. Bourdieu 1986/1992: 38). Stärker als Durkheim reflektiert Bourdieu die Rolle der Klassifikationen für die Reproduktionslogiken von Gesellschaften und gesellschaftlichen Feldern. So verwundert es nicht, wenn alltägliche Praktiken des Klassifizierens mitverantwortlich für die Reproduktion der französischen Klassengesellschaft sein sollen. Klasse bestimmt sich eben bei Bourdieu nicht nur durch die objektive Position im sozialen Raum, sondern auch durch „Klasse haben“ im Sinne legitimer kultureller Vorlieben, Praktiken und Kompetenzen. Und im Spiel der feinen Unterschiede offenbaren sich schon in den Ein- und Unterteilungen, welche die Akteure vornehmen, ihre eigenen sozialen Positionen.4 Denn jede Klassifikation stellt für Bourdieu zugleich objektiv eine Selbst-Klassifikation des Akteurs dar (vgl. Bourdieu 1979/1987: 25). Zu fragen ist nun, wie das Spiel der feinen Unterscheidungen praktisch vonstattengeht. Diese sind als Klassifikationen gerade auch in den Bereichen des Kulturkonsums allgegenwärtig und doch werden sie selten bewusst registriert, solange im gewohnheitsmäßigen Handeln keine Probleme auftauchen oder Akteure über die „richtige“ Zuordnung diskutieren. Kleine Irritationen aufgrund von Klassifikationen können beispielsweise bei Kaufentscheidungen auftauchen, wie Frith plastisch vorführt: „These are so much a part of our everyday lives that we hardly notice their necessity – in the way bookshop shelves are laid out (novels distributed between romance, mystery, science fiction, horror, popular fiction, contemporary fiction, classics, and so on); in the way magazines are laid out at newsagents (women's, children's, hobby, general interest, fash-
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Zudem werden auch die je spezifischen individuellen wie kollektiven Trajekte bzw. Laufbahnen sichtbar. Laut Bourdieu zeitigen auch die unterschiedlichen Modi und Kontexte des Erwerbs kulturellen Kapitals wahrnehmbare Unterschiede. Diese werden nicht nur von der Wissenschaft reflektiert (bspw. in der Differenz zwischen den sozialen Figuren des „Autodidakten“ und des „Manns von Welt“ bei Bourdieu), sondern auch in den Klassifikationen der Alltagsakteure realisiert (vgl. Bourdieu 1979/1987: 125 ff.).
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ion, computers, music). Such labels are only noticeable, in fact, when we want a book or video or magazine that doesn't fit and suddenly don't know where to find it.“ (Frith 1998: 75)
Im Feld der Musik werden Klassifikationen typischerweise in Form von Genres verhandelt. Aus der Perspektive der Soziologie lassen sich drei dominante Verwendungskontexte und damit verbundene Verwendungsweisen von musikalischen Genrebezeichnungen unterscheiden.5 Die folgenden Ausführungen stützen sich damit wesentlich auf die Überlegungen, die Frith in „Performing Rites“ (1998) darlegt. Laut Frith werden Genres genutzt, um (a) den Verkaufsprozess, (b) das gemeinsame Musizieren sowie (c) den Hörprozess zu organisieren (Frith 1998: 75ff.). Eng verbunden mit diesen drei Leistungen sind unterschiedliche Akteursgruppen: Akteure der Musikindustrie, MusikerInnen und HörerInnen.6 (a) Die Nutzung von Genrebezeichnung erfüllt zunächst eine Orientierungsfunktion in den Prozessen der Musikproduktion (vgl. Frith 1998: 85). Die implizite Annahme dahinter ist, dass es aus der Perspektive der Akteure der Musikindustrie Beziehungen zwischen Genres und Publika gibt, die durch Marketingmaßnahmen sowohl erforschbar als auch beeinflussbar sind. Basierend auf den Erkenntnissen der kommerziellen Marktforschung wird ein Bild von den KonsumentInnen entworfen. Dieses Bild ist als Idealisierung zu verstehen, im Zuge derer die Akteure der Musikindustrie sowohl einen idealen Kunden als auch seine idealen Vorlieben entwerfen. Dieser Entwurf sei wiederum handlungsleitend bei Entscheidungen, die das Portfolio der Musikindustrie betreffen. Als Beispiel kann hier die Verpflichtung neuer KünstlerInnen dienen. So kommt Frith zu dem Schluss, dass die Industrie auf diese Weise dem Geschmack der KundInnen folgt (vgl. Frith 1998: 85). „As fantasies, then, genres describe not just who listeners are, but also what this music means to them. In deciding to label a music or a musician in a particular way, record com-
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Peterson und Lena (2008) untersuchen die Trajekte von Musikgenres. Genres können in dieser Perspektive vier Formen annehmen: Avant-Garde, szenebasiert, industriebasiert sowie traditionalistisch. Die Autoren unterscheiden darauf aufbauend drei typische Verlaufsformen von musikalischen Genres.
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Daneben werden Genres in der Vermittlung von musikalischem Wissen wie auch in der Forschung eingesetzt. Bei der standardisierten Erhebung musikalischer Präferenzen mittels geschlossener Fragen kann es leicht dazu kommen, dass unter Antwortkategorien wie „Rock“ oder „Pop“ von den Interviewten Unterschiedliches verstanden wird.
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panies are saying something about both what people like and why they like it; the musical label acts as a condensed sociological and ideological argument.“ (Frith 1998: 85)
Obwohl Genrekategorien in der Musikindustrie eine lange Tradition aufweisen, lassen sich zunächst keine einfachen Rückschlüsse auf die Einführung von Genrebezeichnung und Platzierung von Tonträgern im Handel ziehen. Die unterschiedlichen HändlerInnen müssen nicht notwendigerweise die Genreeinteilungen der Plattenfirmen etc. aufnehmen. (vgl. Frith 1998: 77). Der Musikhandel und die Praktiken des Musik-Shoppens sind aus vielfältigen Gründen für die Frage nach den Praktiken des Einteilens, Zuordnens und Unterscheidens von Interesse. Denn hier begegnen sich unterschiedliche Logiken und Praktiken. Im Musikgeschäft sucht die Musikliebhaberin nach der „besten“ Aufnahme von Beethovens „Neunter Symphonie“7 und verzweifelt vielleicht, weil sich sowohl bei den Neuheiten, Angeboten als auch in der Klassikabteilung unterschiedliche Ausgaben finden lassen. „A committed music fan will soon find, for example, that she’s interested in sounds that seem to fit in several categories at once, and that different shops therefore shelve the same record under different labels. […] It’s as if a silent conversation is going on between the consumer, who knows roughly what she wants, and the shopkeeper, who is laboriously working out the pattern of shifting demands.“ (Frith 1998: 77)
Diesen Suchbewegungen wird zumindest auf der Seite der HörerInnen nachzugehen sein. Was Frith hier teilweise vernachlässigt, ist die Tatsache, dass der Musikhandel nicht nur auf die „shifting demands“ reagiert, sondern auch auf die sich wandelnden Angebotsseite der Musikindustrie im engeren Sinne. Von Interesse im Rahmen dieser Arbeit ist jedoch vor allem das Aufeinandertreffen von Musikhandel und HörerInnen. In größeren Elektronik- und Musikkaufhäusern findet sich eine Systematik der Aufstellung, die sich deutlich von der spezialisierter Läden unterscheidet. Als Beispiel kann hier die Kölner Filiale einer europaweit (mit Schwerpunkt auf Deutschland) agierenden Kette fungieren. Betritt man diesen Laden, so finden sich auf einem Stockwerk mehrere Regalreihen die folgende Rubriken- bzw. Genrebezeichnungen führen: Angebote, Neuheiten,
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In seiner Studie zur Ökonomie singulärer Güter verwendet Lucien Karpik das Beispiel der unterschiedlichen Ausgaben der Neunten Symphonie Beethovens, um die Bewertungsproblematik und die Notwendigkeit von Bewertungsinstanzen zu plausiblisieren (vgl. Karpik 2011: 104ff.).
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Pop/Rock, Alternative, Vinyl, Jazz usw. Innerhalb der einzelnen Regale wiederum findet sich eine alphabetische Sortierung der Tonträger nach InterpretInnen bzw. Bandnamen wieder. (a) Wie deutlich wird, lenkt das räumliche Arrangement die KundInnen zunächst an den „Neuheiten“ bzw. „Angeboten“ vorbei, bevor einzelne Genres präsentiert werden. Die Einordnung ist dabei nicht immer eindeutig, wie ein Beispiel verdeutlichen soll. Die CDs der kanadischen Band Arcade Fire befinden sich in der Pop/Rock-Abteilung, obwohl sie vom Selbstverständnis der Band und gängiger Beschreibungen in Magazinen und von Internetquellen wie Laut.de oder Wikipedia – die auch von einigen meiner InterviewpartnerInnen verwendet werden – im Alternative- bzw. Indie-Segment zu vermuten wäre. Diese Platzierung lässt sich eventuell mit dem kommerziellen Erfolg der Band, die im Jahr 2011 einen Grammy sowie den Brit-Award für das beste internationale Album gewann, erklären, so dass es aus der Verkaufsperspektive konsequent erscheint, ein ehemaliges Nischenprodukt in unmittelbarer Nähe von Alben von Lady Gaga oder Michael Jackson zu platzieren. Obwohl also Genrebezeichnungen wie „Pop/Rock“, „Jazz“ oder „Klassik“ verwendet werden, ist deren Handhabung relativ flexibel, wie das Beispiel zeigt. Einzelne InterpretInnen oder Gruppen können in eine andere Rubrik eingeordnet werden, ohne dass sich die Musik oder die Grenzen der betroffenen Genres ändern. (b) Innerhalb der Rubrik „Vinyl“ werden drei grobe Genredifferenzierung vorgenommen. Die entsprechenden Regale enthalten Alben unterschiedlicher Stilrichtungen (zum Teil auch unterschiedliche Formate). Weitere Rubriken wie „Neuheiten“ oder „Angebote“ die ebenfalls nicht nach Genre spezifiziert geordnet sind, unterstreichen die kommerzielle Funktion des Ladens. (c) Bei den CDs besteht die Möglichkeit, ohne mit Personal zu interagieren, über im Laden verfügbare Stationen Auszüge aus Musikstücken probezuhören. Das steht im Kontrast zu kleineren Läden, in denen der Kunde dafür in der Regel mit dem Personal in Kontakt treten muss, um Tonträger probehören zu können. Hier gibt es zwei von den technischen Artefakten vorgegebene Nutzungsweisen: Erstens das Einscannen des Barcodes von den CD-Hüllen, zweitens das Nutzen einer Suchmaske. Das Genre bzw. der musikalische Stil spielt auf Seite des Benutzer-Interface keine Rolle. (Protokoll Großhandel)
Die Kontexte und Instanzen, die klassifikatorisches Wissen bereitstellen, sind mannigfaltig. Der Musikhandel ist hierunter sicherlich einer der relevanten Kontexte auch wenn die Verkaufszahlen von Tonträgern rückläufig sind. Nicht unterschlagen werden sollten an dieser Stelle die Verbreitungsmedien. Zerubavel führt in seiner Monographie „The Fine Line“ (1991) explizit die Bedeutung des Radios für das Erlernen von Genredifferenzierungen an:
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„The rigid clustering of ‚classical,‘ ‚jazz,‘ ‚heavy metal,‘ ‚New Age,‘ ‚rhythm and blues,‘ ‚salsa,‘ ‚country,‘ ‚rap,‘ and ‚easy listening‘ music in separate radio stations or specialized programs on the same station likewise enhances our perception of such conventional ‚kinds‘ of music as discrete and separate from one another.“ (Zerubavel 1991: 34)
In dieser Perspektive hat die Klassifikationspraxis der Radiomachenden Folgen für die Wahrnehmung von Musik der Radiokonsumierenden. Durch Radioformate, die eine bestimmte Fokussierung aufweisen – wie beispielsweise „Klassik“ oder „Classic-Rock“ – lernen sie Musikstile zu unterscheiden und als getrennt wahrzunehmen. Allerdings gibt es zwei Einschränkungen zu machen: Erstens betont Zerubavel die Bedeutung der Radioformate für die Musikklassifikation vor dem Hintergrund der US-amerikanischen Radiolandschaft. Ist die generelle Idee, dass Radioformate Einfluss auf die Klassifikationspraxis von Musik haben so einfach wie überzeugend, so müssten doch im Einzelfall die spezifischem Strukturen und Entwicklungen in den (nationalen) Rundfunksystemen berücksichtigt werden. Außerdem haben sich Formate entwickelt bzw. gehalten, die in der maximalen Kontrastierung der gesendeten Musik ihr Besonderungsmerkmal sehen.8 Heute müssten zudem web-basierte Angebote wie Last.FM berücksichtigt werden, die es den KonsumentInnen erlauben nach Genres zu suchen oder diese zum Teil selbst zu definieren. (b) Eine zweite Funktion von Genreklassifikationen ist, laut Frith, dass sie helfen, die Prozesse des gemeinsamen Musizierens zu organisieren. So führt er aus, dass Genres als kommunikative Abkürzungen für bestimmte musikalische Qualitäten dienen können.9 Diese Form der Kommunikation findet jedoch nicht nur zwischen den MusikerInnen statt, sondern allgemein zwischen KünstlerInnen und dem unterstützenden Personal in Kunstwelten (Becker 1984). Daran als Voraussetzung gebunden ist das Verfügen über das notwendige Wissen und die Erfahrung (vgl. Frith 1998: 87). Ähnlich wie in Bezug auf die Industrie kommt Frith zu dem Schluss, dass Genreklassifikationen für MusikerInnen sowohl musikalische Fähigkeiten als auch „ideologische“ Positionen transportieren (Frith
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Gegenwärtig gibt es auch Tonträgerbesprechungen im Printbereich, die „Eklektizismus“ als Klassifikation für bestimmte Tonträger vor schlagen. Ein Beispiel wäre hierfür die Kölner Stadtzeitschrift „Stadtrevue“.
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Zu denken wäre beispielsweise an Anzeigen, mit denen MusikerInnen für Bandprojekte gesucht werden. Die Angabe eines oder mehrerer Genres kommuniziert Vorstellungen über technisches Können, stilistische Vorlieben und gegebenenfalls auch künstlerisches Selbstverständnis.
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1998: 87).10 Aber nicht nur das gemeinsame Musizieren wird von Genreklassifikationen unterstützt, sondern auch die Fremd- wie Selbstbeschreibungen der Musizierenden greifen auf diese zurück. Ein klassisches Beispiel hierfür findet sich in der Studie „Outsiders“ von Howard S. Becker (1966), in der Jazz vs. Unterhaltungsmusik bzw. kommerzielle Musik den zentralen Gegensatz darstellt. (c) Genres spielen in den Praktiken der MusikkonsumentInnen, seien es Szenegänger, Fans oder Musikliebhaber, eine zentrale Rolle. Wir sind darin trainiert bzw. wir haben es gelernt, Musik in Genres einzuteilen und wahrzunehmen. Für Autoren wie Simon Frith steht es außer Frage, dass gerade im Bereich der populären Musik Genuss vor allem auf dem Konsum sozial strukturierter Genres beruht (vgl. Frith 1998: 91). Vor dem Hintergrund dieser Genres werden neue oder bis dato unbekannte Songs, InterpretInnen oder Bands eingeordnet, aussortiert oder in die Sammlung eingegliedert. Oder, wie literarisch in „High Fidelity“ (Hornby 2003) vorexerziert, kann der Genuss auch darin bestehen, neue Ordnung oder Beziehungen zwischen bereits Bekanntem zu schaffen. Zunächst soll es jedoch im Folgenden um die Praktiken des Ordnens gehen, wie sie sich in den Interviews mit MusikkonsumentInnen dokumentieren. Dabei werden zwei Aspekte gesondert untersucht: erstens die Art und Weise wie Musik geordnet und wie mit Genres umgegangen wird (Kapitel 6.1.1) und zweitens die materialen Entsprechungen dieser Praktiken des Ordnens (Kapitel 6.1.2). 6.1.1 Einteilen, Zuordnen und Unterscheiden Die leitenden Fragen der Auswertungen und Interpretationen beziehen sich auf drei Punkte: Erstens, welche Einordnungen werden von den Akteuren vorgenommen? Zweitens, auf welchen Kriterien beruhen diese? Und drittens, wie werden Genres problematisiert? In allen untersuchten Fällen ist Wissen über Genreklassifikationen vorhanden. Verfügen über klassifikatorisches Wissen als generalisiertes kulturelles Kapital ist ein gemeinsames Merkmal der InterviewpartnerInnen und zugleich notwendige Bedingung für das Spiel des Ordnens. Gleichwohl wird ersichtlich, dass dieses Wissen zu ganz unterschiedlichen Ordnungsversuchen führen kann (vgl. Tabelle 8).
10 Aus methodologischer Perspektive wäre es interessant zu überdenken, welche Rolle die standardisierte Forschung bei der Stabilisierung und Reproduktion von Klassifikationen im Alltag spielt. Die eingeschränkten Antwortmöglichkeiten und die Fiktion der Eindeutigkeit der Unterscheidung stehen im augenfälligen Kontrast zu dem flexiblen und pragmatischen Gebrauch von Genrekategorien im Alltag.
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Beispiele für musikalische Ordnungsbegriffe diesseits und jenseits von Genres Szenemusik, Punkrock, HipHop, indische Musik, klassische Musik, Jazz, Pop, Populärmusik, Rock, Hardrock, Hardcore, Metal, Jazz mit Popschema, Volksmusik, deutschsprachiger Punk, Independent, Amateurbereich, Easy Listening, Mainstream Pop, Sleazerock, Glamrock, E-Musik, Oper, elektronische Musik, Englisch-Punk, Ska, Reggae, White Metal, Christenrock, Indie-Rock, Country, Heulmusik, Songwriterschiene, neue Musik, orchestrale Musik, Techno, Elektrosachen, Alternative Rock, Post-Rock, Nu-Rock, Electronica, melodisch Elektronisches, elektronische Tanzmusik, Musik mit Gitarre
Tabelle 8: Beispiele für musikalische Ordnungsbegriffe Die aufgelisteten klassifikatorischen Optionen zeigen, dass die Interviewten sowohl bekannte Genreunterscheidungen als auch Differenzmarkierungen verwenden, die quer zu gängigen Genrebegriffen liegen. Eine Klassifikation von Musik als „Musik mit Gitarre“ verweist weder auf spezifische stilistische Besonderheiten (wie deutschsprachiger Punk) noch auf Merkmale der Produktion (wie etwa Independent), sondern einzig auf die Instrumentierung. Die wiederkehrenden Wendungen, in denen „Gitarrenmusik“ verwendet wird, verweisen jedoch auf eine spezifische Vorstellung von der Herstellung dieser Musik: sie ist von Menschen „handwerklich“ gemacht und hat deshalb besondere Qualitäten. Dieser vorläufige Befund deckt sich mit den Ergebnissen Parzers (2011), der Diskussionen in Online-Foren untersucht hat. Er stellt fest, dass es neben den gängigen Genreklassifikationen vor allem zwei Prinzipien der Unterscheidung gibt: „elektronisch“ vs. „handgemacht“ und „klassisch“ vs. „zeitgenössisch“ (vgl. Parzer 2011: 165 ff.). Das Einteilen von Praktiken und Objekten in Klassen macht die Selektion von relevanten Ordnungskriterien notwendig. Diese Hervorhebung von spezifischen Merkmalen und ihren Ausprägungen geht zu Lasten anderer Merkmale. „Whenever we classify things, we always attend some of their distinctive features in order to note similarities and contrasts among them while ignoring all the rest as irrelevant. The length of a film for example, or whether it is in color or in black and white is totally irrelevant to the way it is rated, whereas the color of a dress is totally irrelevant to where it is displayed in a department store.“ (Zerubavel 1991: 77)
Wenn die Interviewten beispielsweise von „deutschsprachigem Punk“ oder „indischer Musik“ sprechen, werden damit bestimmte Merkmale hervorgehoben und andere in den Hintergrund gestellt. Konsequenterweise herrscht Uneinigkeit
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in Bezug auf die Verwandtschaft von Genres. So stellen sich einige der Interviewten – und zwar sowohl diejenigen, die unproblematisch mit Genreklassifikationen umgehen, als auch jene, die diese Praxis grundsätzlich in Frage stellen – die Frage, was ein Genre ausmacht. Wie die angeführten Beispiele verdeutlichen, können als Kriterien der Genrezugehörigkeit (bzw. der Zugehörigkeit zu einem Subgenre) so unterschiedliche Kriterien wie der Modus der Erzeugung, der sprachlich oder kulturell definierte Herkunftsraum sowie die spezifische (zugeschriebene) Trägergruppe dienen. Tentativ lassen sich sieben Formen der Dimensionalisierungen von Musikklassifikationen unterscheiden (vgl. Tabelle 9). Wie deutlich sein sollte, handelt es sich dabei nicht immer um Genres im klassischen Sinne.
Dimension Lokalisierung Kulturraum Lokalisierung Musiktradition Produktionsbedingungen Trägergruppe
Empirisches Beispiel deutschsprachiger Punk
englischsprachiger Punk
indische Musik
westliche Musik
Indie
Mainstream, Kommerz
Frauenmusik
Verwendungsweise
Tanzmusik
Produktionsmittel
Gitarrenmusik
Lebensstil
Opposition
elektronische Musik
Sleazerock
Tabelle 9: Verwendungsweisen von Musikklassifikationen Es lassen sich zudem unterschiedliche Arten des Umgangs mit den Genrebegriffen aufzeigen. An der Kontrastierung zweier Fälle lässt sich das verdeutlichen: Im Falle Konrads, der sich selbst als „Spartenhörer“ bezeichnet, lässt sich feststellen, dass ein breites Wissen über Subgenres vorhanden ist, auch wenn er für eine flexible Klassifikationspraxis eintritt. Im Gegensatz dazu sind Praktiken zu beobachten, wie sie beispielsweise die Interviewpartner Bernd und Michael nutzen. Sie verwenden grobe und flexible Kategorien, schreiben sich einen breiten Geschmack zu und üben dabei gleichzeitig Kritik am subsumptionslogischen Denken. Hier reicht das feststellbare Spektrum von Ablehnung und Problematisierung des kategorialen Denkens (Bernd), Verwendung von groben und flexiblen Kategorien zur Vermeidung von Aushandlungsprozessen (Michael) bis hin
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zu seiner performativen Affirmation durch die Verfeinerung der Subkategorien (Konrad). Damit ist noch keine Aussage über die Struktur dieses Wissens gemacht. Während der „Spartenhörer“ (vgl. Interviewauszug Konrad) über eine breites Orientierungswissen hinsichtlich Subkategorien verfügt und zu jedem Subgenre exemplarische Gruppen bzw. Bands nennen kann, verfügen die Interviewten, die grenzüberschreitend konsumieren und gleichzeitig Genreklassifikationen kritisch gegenüber stehen, eher über Vertrautheitswissen bezüglich einzelner Bands bzw. InterpretInnen. „Ja das sind schon eher so Unterscheidungen die ich für mich selber ähm (1s) wo ich irgendwie so nen ne Kategorisierung habe für mich. Ich mein des sind die Grenzen sind schwimmend also des ist immer so (2s) ach das ist dann liegt dann auf dem Auge des Betrachters was es dann jetzt im Endeffekt wirklich ist also ganz vieles was ich als Punkrock bezeichne (1s) würden die Bands selber (2s) nicht zwangsläufig als Punkrock bezeichnen. Sondern dann in so Unterkategorien arbeiten wie ähm Sleazerock gibt es zum Beispiel noch und ähm da bezeichnen sich die Backyard Babies selber als ähm dass sie diese Musik machen die sagen von sich selber nicht das sie Punkrock machen. Ähm (1s) das aber dann eher (2s) etwas damit zu tun dass dass von dem Style der da rübergebracht wird was anderes ist. Also dieser Sleazerock kommt eigentlich aus aus LA der späten 80er und Anfang der 90er. Die dann (1s) quasi das was (2s) für mich eben Punkrock ist dort gelebt wurde aber noch mit diesen langen Haaren also deswegen wars eben eher ausm Hardrock kommend. Und ähm (1s) witzigerweise die Backyard Babies früher genauso aussahen also von dem her sagen sie das schon zu Recht. Und des sind dann so Feinheiten die ich so für mich nicht ka kategorisiere sondern da sag ich das ist alles für ich Punkrock ähm und dann gibt es aber schon auch ganz klare Geschichten wo ich sag das ist dann eher Hardcore oder gehört eigentlich schon zum Hardcore mmh und Metal auch ganz klar des da gibt es dann schon Unterscheidungen die merkst du au also (1s) könnt ich dir nicht so klar sagen also die könnt ich dir jetzt nicht genau klar sagen so hier ist die Grenze und da hört fängt des eine an oder da hört das andere auf zumal ja teilweise die Bands (1s) ja auch zwischen diesen Genres (1s) hin und her sich bewegen und dann manchmal Songs drin ham die nen bisschen heftiger sind und eher ausm Metalbereich kommen würden und andere Songs dann wieder eher ne bissl Punkrock-lastiger sind und was dann da überwiegt für das stehen sie dann oftmals. Und ähm so würd ich des mal sagen.“ (Konrad: 51)
In diesem Absatz demonstriert Konrad, dass er zwar mit der Genreklassifikation „Punkrock“ auskommen würde, prinzipiell aber über einen größeren Fundus von Kategorien und Subkategorien verfügen kann. Das Verhältnis von Genre und Subgenre ist dabei als hierarchisch wie graduell zu verstehen. Zwischen Sleaze-
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rock und Punkrock besteht bspw. keine kategoriale Grenze.11 Typisch für zeitgenössische Reflektionen über den eigenen Geschmack ist zudem die Relativierung in den Zeilen 3 und 4 des Auszugs. Geschmack ist für ihn erstens perspektivisch und folgerichtig zweitens subjektiv. Entsprechend Konrads Äußerungen sind die Einteilungen, die der Einzelne vornimmt, nicht von absoluter Gültigkeit. Diese relativistische Einleitung steht in Spannung zu dem Anspruch, auch gegen das Selbstverständnis der als Beispiel genannten Band eigene Zuordnungen vorzunehmen. Das Subgenre „Sleazerock“ wird eingeführt und sowohl zeitlich als auch räumlich lokalisiert, so dass die Deutung nahegelegt wird, dass es sich um ein zunächst szenebasiertes Genre handelt. Die Bestimmung des Subgenres „Sleazerock“ beinhaltet neben musikalischen Elementen auch Lebensstilelemente („mit diesen langen Haaren“). Eine weitere Problematisierung, die der Interviewte einführt, ist, dass sich einzelne Songs oder auch Bands nicht eindeutig zuordnen ließen. Dies kann der Fall sein, wenn sie sich zwischen den Genres bewegen. Die vordergründige Problematisierung ist aber objektiv eine Demonstration weiterer Kenntnisse und Fähigkeiten des Interviewten, da er die Probleme erkennt, anspricht und als Lösungsstrategie einen offenen, flexiblen Umgang mit Klassifikationen anvisiert. Gleichzeitig kommt es auf der Ebene der Performanz zu einem Widerspruch, da er das subsumptionslogische Spiel am Beispiel der Musik vorführt. Mit diesen Äußerungen zeigt er, dass er nicht nur zwischen benachbarten Genres zu unterscheiden weiß, sondern auch einzelne Songs einer Band zu verschiedenen Genres zurechnen kann. Diese Zuordnung müsste dann jedoch ohne extra-musikalische Kriterien auskommen, da es sich um ein und dieselbe Band handeln würde. Im Hinblick auf eine typische Äußerung in den Auseinandersetzungen um den Abstand zwischen Genres weist Parzer auf die „Metapher der Schublade“ hin, ohne diese Figur weiter auszudeuten (vgl. Parzer 2011: 164). Anhand der vorliegenden Daten lässt sich ein Konzept für eine typische rhetorische Figur entwickeln, das zunächst als Schubladen-Kritik bezeichnet werden könnte. Darunter ist eine Problematisierung bis hin zur offenen Ablehnung eines „Denkens in Schubladen“ zu verstehen. Der Interviewpartner Bernd ist ein typischer Vertreter dieser ablehnenden Haltung eines subsumtionslogisch verfahrenden Denkens. Ähnlich wie Konrad problematisiert er, dass einzelne Songs auf einem Album gemäß stilistischer Merkmale unterschiedlichen Genres zurechenbar sind.
11 Generell ist zu fragen, ob die Unterscheidung zwischen graduellen und kategorialen Klassifikationen, wie sie Sutterlüty (2010) vornimmt, im Bereich der Musik zu rechtfertigen ist. Erschwerend kommt hinzu, dass er gleichzeitig den Gebrauch der Klassifikationen darüber entscheiden lässt, ob sie graduell oder kategorial seien.
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Anders als Konrad, der für flexible und offene Genrekategorien plädiert, lehnt er das Klassifizieren per se ab. Ein Aspekt, der sich hier bereits mehrfach angedeutet hat, ist der konfliktträchtige Charakter der Praxis der Genreklassifikation. Wie mehrere Interviewte berichten, ist die Subsumierung von „Bands“ in Genres Gegenstand von mehr oder weniger konflikthaften Auseinandersetzungen in ihren Freundschaftsnetzwerken. In einem Fall geht der Interviewpartner (Konrad) soweit, die von den MusikerInnen vorgenommenen Selbstzuschreibungen zu problematisieren und quer dazu Genrezuweisungen vorzunehmen. Diese Unterkategorien sind häufig der Gegenstand von Auseinandersetzungen (siehe auch Parzer 2011: 163f.). Nicht nur innerhalb eines Genres werden die Grenzen verhandelt, sondern auch die Abstände zwischen unterschiedlichen Genres sind Gegenstand der Auseinandersetzung. Ohne diese Aushandlungs- und Deutungsprozesse lassen sich Genreklassifikationen auf Ebene der HörerInnen nicht adäquat verstehen. Gleichzeitig hat die angedeutete Deutungsbedürftigkeit Konsequenzen für die empirische Untersuchung von Musikgeschmack. Wie Gebesmair (1998) festgestellt hat, sind die gängigen Genreklassifikationen in der standardisierten Sozialforschung oftmals nicht fein und nicht kontextsensibel genug, um das alltägliche Spiel der feinen Unterschiede zu erfassen. Bereits auf der Ebene der unterschiedlichen Klassifikationspraxen muss deshalb die Analyse der ungleichheitsanalytischen Kultursoziologie ansetzen. 6.1.2 Die Ordnung der Musik und die Ordnung der Tonträger Die Art und Weise, wie die Interviewten Musik und sich selbst einordnen und positionieren, äußert sich nicht nur darin, wie sie über Musik sprechen und Musik konsumieren. Jenseits dieser Praktiken gilt es für die empirische Kultursoziologie die materiale Ordnung der Tonträger, Abspielgeräte und vieles mehr zu entdecken (vgl. Magaudda 2011). Mit literarischen Mitteln zeigt Nick Hornby (2003), dass das Arrangieren und Re-Arrangieren von Tonträgern nicht ausschließlich dem Zweck der leichten Zugänglichkeit dienen muss. Der Protagonist von „High Fidelity“, Robert Fleming, ordnet seine Plattensammlung im Anschluss an eine Trennung neu. In seiner Sammlung findet er Trost und darüber hinaus erfüllt sie auch eine identitätsstiftende wie -stabilisierende Funktion.12
12 In ähnlicher Weise ließe sich das Kapitel über Simon und seine Plattensammlung in „Der Trost der Dinge“ von Daniel Miller (2010: 62ff.) interpretieren, wobei Simon sein Sammlung auch nutzt, um seine Gefühle zu manipulieren und auszuleben.
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Ähnliche Beobachtungen ließen sich auch im Zuge der Datenerhebung machen, wie der folgende Protokollauszug verdeutlicht: Mit der kulturell aktiven wie neugierigen Rentnerin Johanna führe ich ein mehrstündiges Gespräch über Musik und andere Aktivitäten, die sie interessieren. Dass wir mehrmals von Handwerkern unterbrochen werden, die gerade Arbeiten an den Türen des Mehrfamilienhauses durchführen, stört sie nicht. Für leibliches Wohl ist durch Kaffee und Kuchen gesorgt, so dass das Interview im Wohnzimmer eine private Rahmung erfährt. Schnell scheint das Aufnahmegerät vergessen zu sein. Während des Interviews erwähnt sie bereits, dass eine zentrale Gebrauchsweise von Musik für sie das Erlernen neuer Sprachen und Kennenlernen von Kulturen sei. Im Anschluss an das Interview zeigt sie mir ihre Tonträgersammlung. Diese befindet sich zum größten Teil in dem direkt an das Wohnzimmer angrenzende Zimmer. Ein Teil dieser Sammlung, der Teil den sie mir zuerst präsentiert, liegt auf einem Tisch in kleinen Stapeln arrangiert. Jeder Stapel repräsentiert eine Sprache, die sie über die Jahre hinweg begonnen hat zu lernen oder aufzufrischen. Einige wenige stehen für „Kulturen“, für die sie sich interessiert. Insgesamt verfügt sie in ihrer Wohnung über mehrere „Standorte“ für Tonträger, die zudem unterschiedlichen Ordnungsprinzipien zu folgen scheinen. (Protokoll Johanna)
In den Interviews und den Beobachtungen, die vor Ort gemacht werden konnten, zeigen sich unterschiedliche Praktiken des Ordnens von Musik, des praktischen Sortierens von physikalischen Tonträgern wie auch Dateien und vielen anderem mehr (vgl. Tabelle 10). Eine erste Dimension lässt sich daran festmachen, ob es innerhalb des Wohnraums bestimmte Refugien für den Konsum von Musik gibt. Werden Räume multifunktional genutzt, beispielsweise im Sinne eines Wohnzimmers, in dem gelesen, ferngesehen und Musik gehört wird, oder gibt es ein extra Zimmer, das allein der Musik gewidmet ist?13 Die Nutzung des Wohnraums verweist indirekt auf das verfügbare ökonomische Kapital und den Stellenwert der musikalischen Praxis. Mit am stärksten innerhalb des Samples schlägt sich der hohe Stellenwert der Musik bei der Wohnraumnutzung des Plattensammlers Markus nieder. Dieser hat zwar ein eigenes Musikzimmer, in dem Haus, das er mit seiner Partnerin bewohnt, zusätzlich sind aber auch außerhalb dieses Zimmers auf allen Etagen Plattenspieler vorhanden, so dass Musik alle
13 David Halle beispielsweise untersucht in seiner qualitativen Studie „Inside Art“ (1993) die Zusammenhänge von sozialer Position und Zuschaustellung sowie Interpretation von Kunstwerken im privaten Raum. Neben Halle könnten auch Bourdieus Analysen des algerischen Hauses Hinweise für eine Analyse des Zusammenhangs von sozialer Struktur und Raum liefern (1972/1979: 48 ff.).
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Aufgaben des Alltags begleiten kann. Zudem hat er einen Teil seiner Sammlung in einer angemieteten Garage ausgelagert. Eine zweite Dimension lässt sich an dem Arrangement der physikalischen Tonträger festmachen. Die einfachste Praktik (a) unterscheidet nicht nach Genres, sondern geht strikt alphabetisch nach InterpretInnen oder Gruppen vor. Davon lassen sich empirische mindestens vier weitere gängige Praktiken des Sortierens unterscheiden. Die Sortierung nach Genres (b), welche in mindestens zwei Untervarianten vorkommt (mit oder ohne alphabetische Unterordnung), die (c) chronologische Sortierung sowie (d) die Sortierung nach Verwendungskontext wie sie im Beispiel von Johanna zu sehen ist. Eine weitere Kategorie von Sortierpraktiken (e) richtet sich explizit nach ästhetischen Kriterien aus. Ein Beispiel hierfür ist das Sortieren nach Farben der CD-Rücken.14 Der Eigensinnigkeit und Kreativität der Anordnung der Tonträger durch die Akteure sind keine Grenzen gesetzt. So berichtet Hennion (2007: 138) über einen Interviewpartner, der seine Platten chronologisch – in Reihung des letztmaligen Hörens – anordnet: „This is a typical invention of an amateur: his record library gradually changed into a reflection of his tastes. The amateur triumphed over the musicologist: his taste, not the history of music, governs his system of classification.“ (Hennion 2007: 138)
So wird die Chronologie der Musikgeschichte transzendiert; relevant erscheint die persönliche Geschichte des Musikhörens, die in die Anordnung der Objekte eingeschrieben wird. Was kann man aus dem hier Angeführten über das Verhältnis von objektivierten kulturellen Kapital und den Praktiken des Ordnens lernen? Eindeutig zeigt sich, dass die Befragten nicht auf die Ordnungsprinzipien festgelegt sind, die sie aus dem Tonträgerhandel, den Medien oder der Schule kennen. Ihre Praktiken sind vielfältiger und dort, wo ihnen Schranken auferlegt werden, wie beispielsweise bei MP3-Dateien, zeigt sich ihre Kreativität beim Erstellen von Playlists oder dem Zusammenstellen von Mix-CDs, dem legitimen Nachfolger des Mixtapes – auch wenn die älteren Jahrgänge dem Medium Kassette mit nostalgischen Gefühlen nachsinnen. Die anschließende Tabelle gibt ei-
14 Interessant sind auch die Musiksammlungen von Paaren, da hier unterschiedliche Ordnungspraktiken in Konkurrenz treten können. Hier lassen sich zwei gängige Praktiken beobachten: (a) Sammlungen werden zusammengeführt, wie im Falle von Kim, und nunmehr nach einer einheitlichen Ordnung sortiert, oder (b) Sammlungen werden getrennt weitergeführt, wobei jede Sammlung nach den je eigenen Ordnungsprinzipien sortiert wird.
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nen Überblick über die in Interviews, Beobachtungen und in der Literatur gefundenen Dimensionen:
Dimension Raumnutzung
Ausprägungen Multifunktionszimmer vs. Musikzimmer Alphabetische Sortierung nach InterpretInnen oder Gruppen Sortierung nach Genres, mit oder ohne alphabetische Unterordnung
Praktiken
Chronologische Sortierungen
des Sortierens physikalischer Tonträger
Sortierung nach Verwendungskontext Sortieren nach ästhetischen Kriterien Sehr wichtig, wichtig, nicht so wichtig Sortierung nach der Farbe der Hüllen
Tabelle 10: Praktiken des Sortierens Eine detaillierte Analyse der Praktiken des Ordnens kann aufzeigen, wie vielfältig und kreativ die Akteure mit Musik umgehen und dabei bestehende Zuordnungen unterlaufen. Zudem ist diese Analyse notwendig, um die darauf aufbauende Praxis des Bewertens und Sich-Abgrenzens zu verstehen. 6.1.3 Praktiken des Ordnens: Zusammenfassung Die Praktiken des Ordnens von Musik wurden anhand der vorliegenden Interviewdaten und ergänzenden Beobachtungen analysiert. Damit schloss die Argumentation an ein zentrales Themenfeld der strukturanalytischen Wissenssoziologie an: der Frage nach den Klassifikationen. Empirisch lag dabei der Fokus auf der Verwendung von musikalischen Ordnungsbegriffen einerseits (6.1.1) und den materialen Ausdrucksformen der musikalischen Ordnung in Form von Tonträgersammlungen und deren Arrangement im privaten Raum andererseits (6.1.2). Im Anschluss an diese Analysen lassen sich an dieser Stelle mehrere Punkte festhalten: In Bezug auf die Praktiken des Ordnens von Musik wurde das „Spiel der Teilungen und Unterteilungen“ (Bourdieu 1979/1987: 36) näher thematisiert. Dabei zeigte sich, dass musikalische Genres zwar wichtige Elemente des Ordnens von
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und Sprechen über Musik darstellen, aber längst nicht die einzigen Formen sind, die Alltagsakteuren zur Verfügung stehen. Musik wird aufgrund vielfältiger Zuschreibungen eingeteilt, zugeordnet und unterschieden. So liegen viele der vorgenommenen Einteilungen im Interviewmaterial quer zu gängigen Genrebezeichnungen. Der Ordnungsbegriff „Musik mit Gitarre“ verweist bspw. weder auf stilistische Besonderheiten noch auf Merkmale der Produktion, sondern vielmehr auf die Art der Instrumentierung. Gleichwohl lässt sich davon ausgehen, dass mit Gitarrenmusik häufig auf bestimmte Idealvorstellungen von Musikproduktion verwiesen wird. Wie die Interpretationen zeigen, deuten die unterschiedlichen Verwendungsweisen von musikalischen Ordnungsbegriffen auf je spezifische Dimensionen hin, die Musik zugeschrieben werden können. Außerdem hebt der Blick auf die vielgestaltige Praxis des Einteilens, Zuordnens und Unterscheidens von Musik deutliche Kontraste im Umgang mit Genrebegriffen hervor. Diese führen zum Teil auf unterschiedlich breites Wissen über Subkategorien zurück, wobei in den Interviews auch vielfältige Haltungen gegenüber dem Gebrauch von Genrebegriffen zum Ausdruck kommen. Diese reichen von der Ablehnung und Problematisierung des kategorialen Denkens, über die Verwendung grober und flexibler Kategorien bis hin zur performativen Affirmation der Verwendung von Genrebegriffen. Gerade im durchaus virtuosen Umgang mit Genrebegriffen zeigt sich noch am ehesten das, was Bourdieu mit dem „Spiel der Teilungen und Unterteilungen“ anvisiert. Für ihn ist dieses Spiel aufgrund seines distinktiven Potenzials von Bedeutung. „Von allen Produkten, die der Wahl der Konsumenten unterliegen, sind die legitimen Kunstwerke die am stärksten klassifizierenden und Klasse verleihenden, weil sie nicht nur in ihrer Gesamtheit distinktiven, will heißen Unterschied und Anderssein betonenden, Charakter tragen, sondern kraft des Spiels der Teilungen und Unterteilungen in Gattungen, Epochen, Stilrichtungen, Autoren, Komponisten, etc. eine endlose Reihe von distinguos zu erzeugen gestatten.“ (Bourdieu 1979/1987: 36)
Anders als von Bourdieu vermutet, stellt sich jedoch die Frage, ob nicht auch im Bereich der minder legitimen oder illegitimen kulturellen Güter und Praktiken das Einteilen, Zuordnen und Unterscheiden einen besonderen Wert gewinnt. Denn gerade in (westlichen) Gegenwartsgesellschaften sind es vor allem die unterschiedlichen Formen grenzüberschreitenden Geschmacks (Berli 2010), die distinktives Potenzial aufweisen können. Dahingehend bewegt sich auch die mittlerweile umfängliche Omnivorizitätsforschung, die sich im Anschluss an die Studien Petersons (1992; 1997a; 2005; Peterson/Kern 1996; siehe auch Kapitel 3.1) entwickelt hat. Festzustellen ist sodann die wiederkehrende Schubladen-
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Kritik, die von den Interviewten in unterschiedlicher Form angebracht wird. Der hier eröffnete Deutungshorizont reicht dann von der Problematisierung von Genrebegriffen bis hin zur Ablehnung subsumtionslogischen Denkens. Die Praktiken des Einteilens, Zuordnens und Unterscheidens von Musik werden in den voranstehenden Interpretationen durch die materialen und räumlichen Aspekte dieser Praktiken analytisch flankiert. Denn jenseits des Sprechens über Musik gilt es die materiale Ordnung der Tonträger, Abspielgeräte etc. zu erschließen (vgl. Magaudda 2011). Zu den Praktiken des Ordnens von Musik gehört zuvorderst auch das Arrangement der physikalischen Tonträger. Diese gehorchen, wie die Interviews und Beobachtungen anzeigen, unterschiedlichen Ordnungsprinzipien, die nicht auf die im kommerziellen Tonträgerhandel vorfindbaren Ordnungslogiken reduzierbar sind. Eine erste einfache Beobachtung lässt sich am „Bühnenbild“ (Goffman 1959/1983) festmachen. Hier sind es im Wesentlichen zwei Formen des räumlichen Arrangements, in denen die Interviewten ihre Tonträgersammlung präsentieren: Einerseits Musikzimmer, die für den Musikkonsum, die Präsentation der Sammlung und Devotionalien reserviert sind und andererseits multifunktionale Räume, wie das klassische Wohnzimmer etwa, in denen die Musik neben anderen Beschäftigungen eine wie auch immer geartete Relevanz besitzt. In Bezug auf die Praktiken des Sortierens der physikalischen Tonträger sind der Phantasie der Akteure scheinbar kaum Grenzen gesetzt. So ließen sich in der Untersuchung mindestens sieben unterschiedliche Ausprägungen von Sortierlogiken ausmachen. Darunter scheinen die alphabetische Sortierung, die Sortierung nach Genres, die chronologische Sortierung, die Sortierung nach Verwendungskontext wie auch das Sortieren nach ästhetischen Kriterien besonders gängig zu sein.
6.2 P RAKTIKEN
DES
L EGITIMIERENS
Nachdem im vorangehenden Kapitel die Frage untersucht wurde, wie Akteure im Alltag Musik ordnen, welche Praktiken sie anwenden, um das Feld der Musik für sich sinnvoll zu sortieren und welche Rolle dabei materiellen Tonträgern zukommt, wird es nun um den Wert von Musik gehen. Die leitende Untersuchungsfrage dieses Kapitels lautet, wie musikalische Geschmacksurteile legitimiert werden. Damit wird eine Frage verfolgt, die in ähnlicher Weise bereits Woodward und Emmison formuliert haben: „Rather then adressing what people like–as do studies of ‚objectified’ taste–we explore the means or resources people have for expressing their preferences, and their relation of these to wider cultural practices“ (Woodward/Emmison 2001: 300f.). Ausgehend von der Annah-
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me, dass sich in gegenwärtigen Gesellschaften konkurrierende Praktiken des Legitimierens von Kultur im Allgemeinen und Musik im Besonderen ausgebildet haben (vgl. Meyer 2000),15 soll im Folgenden untersucht werden, welche Qualitätskriterien und Legitimierungen zum Einsatz kommen, um musikalische Geschmacksurteile zu begründen. Zur Erhellung dieser Untersuchungsfrage lassen sich mehrere theoretische Anschlüsse und Vorarbeiten verfolgen. Folgt man den Ausführungen von Meyer (2000),16 lassen sich mindestens zwei konkurrierende „Rhetoriken“ identifizieren, die für die Legitimierung von Geschmacksurteilen in Anschlag gebracht werden können: zum einen die „Rhetorik der Verfeinerung“ („rhetoric of refinement“) und zum anderen die „Rhetorik der Authentizität“ („rhetoric of authenticity“). Unter dem Begriff der Rhetorik versteht Meyer dabei Folgendes: „a rhetoric is a recognizable, coherent and relatively stable figure of thought and discourse which serves individuals as a shared frame of reference to negotiate the meaning of aesthetic symbols“ (Meyer 2000: 36, Herv. i. O.).17 Die Rhetorik der Verfeinerung geht, so Meyer, der Rhetorik der Authentizität zeitlich voraus. Während Erstgenannte Ausdruck einer spezifischen aristokratischen Machtkonfiguration sei, bringe Zweitgenannte die Infragestellung adliger Privilegien und Lebensstile zum Ausdruck (Meyer 2000: 37ff.). So instruktiv die historische Perspektive Meyers auf Rhetoriken des „guten Geschmacks“ auch erscheinen mag, so lässt sie sich nur schwer auf die Untersuchung alltäglicher Geschmacksurteile von KonsumentInnen anwenden.
15 Hier wird nicht die Position vertreten, dass sich ästhetische Hierarchien aufgelöst haben und die Unterscheidung von Hoch- und Populärkultur bzw. legitimer und illegitimer Kultur obsolet geworden ist (prominent bei Sontag 1965/1995). Denn auch wenn eine Pluralisierung von Ästhetiken empirisch beobachtbar ist – die zunehmende Bedeutung von Authentizität spricht dafür –, haben diese weiterhin Implikationen für die Reproduktion sozialer Ungleichheit. So lässt sich Schulzes (1992/2005) Differenzierung von „alltagsästhetischen Schemata“ im Sinne einer Pluralisierung von Distinktionsprozessen lesen, die mitnichten deren Ende impliziert. 16 Dabei werden hier ExpertInnen und Professionelle aus der Betrachtung ausgeschlossen, da durch sie weitere konkurrierende Diskurse bzw. Legitimierungstheorien zu berücksichtigen wären. Beispielweise haben MusikerInnen und Publikum unterschiedliche Vorstellungen davon, wann ein Konzert als gelungen zu betrachten ist – das lässt sich bereits aus Beckers Untersuchung von Jazzmusikern (1966) ableiten (siehe auch Frith 1999: 199). 17 Diese konkurrierenden Rhetoriken und Prozesse der Geschmacksbildung verortet Meyer in unterschiedlichen institutionellen Settings, wie beispielweise dem aristokratischen Haushalt (Meyer 2000: 36).
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Eine alternative Dichotomie lässt sich aus den Arbeiten Pierre Bourdieus ableiten. Er geht davon aus, dass der legitime Geschmack gekennzeichnet ist durch das Betonen der Form im Gegensatz zum barbarischen oder illegitimen Geschmack, der sich auf Inhalte fokussiert.18 Auf der einen Seite steht also der durchaus aristokratische Geschmack, der Genuss in der Analyse und der Kontemplation finden kann, und auf der anderen Seite der sinnliche, hedonistische Geschmack, der sich am (körperlichen) Vergnügen orientiert. Im Gegensatz zu Meyers Ansatz, der die Rhetoriken stärker in den Blick nimmt, enthält Bourdieus Vorschlag neben dem Hinweis auf unterschiedliche Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata und deren Anwendung zusätzlich die These, dass die Rolle des Körpers, sein Ausdruckrepertoire ebenfalls Teil der unterschiedlichen Ästhetiken ist. Diese einfachen Dichotomien finden sich bei der Analyse der vorliegenden Daten nicht in dieser Klarheit.19 Die soziologische Analyse von Alltagsästhetiken, insbesondere im Bereich der Musik, stellt vor allem empirisch ein noch relativ unbearbeitetes Feld dar. Dabei schließe ich mich der Diagnose von Hesmondhalgh an: „It is remarkable how little we know about why and how people value the texts that they like and dislike, whether musical or otherwise“ (Hesmondhalgh 2007: 509). Neben einer Reihe von Artikeln zum Thema (Hesmondhalgh 2007; Regev 1994; Schmutz 2005, 2009; van Venrooij/Schmutz 2010; Schmutz/Faupel 2010) gibt es nur wenige Monografien (von Appen 2007; Frith 1998; Parzer 2011), die sich zentral mit dem „Wert“ von Musik befassen. Für die hier zugrundeliegende Perspektive sind vor allem die Analysen von Parzer (2011) und von Appen (2007) von Interesse. Auf die Ergebnisse der beiden letztgenannten Studien wird wiederholt zurückgegriffen. In den vorliegenden Interviews, aber auch im Alltag findet man eine begrenzte Vielfalt von Geschmacksurteilen, die sich im Wesentlichen in zwei Aspekten unterscheiden: (a) hinsichtlich der Form des musikalischen Geschmackurteils und (b) hinsichtlich der verwendeten Qualitätskriterien. Zunächst sollte die begrenzte Vielfalt der Formen von Geschmacksurteilen betrachtet werden.
18 Eine ausführlichere Behandlung dieser Oppositionen findet sich in Kapitel 2.1. 19 Eine weitere Möglichkeit auf bestehende kultursoziologische Vorarbeiten zurückzugreifen, wäre es an dieser Stelle Schulzes alltagsästhetische Schemata aufzugreifen (Schulze 1992/2005). Da diese jedoch in Form von Stiltypen die Dimensionen typische Zeichen, Genussformen, Distinktionen und Lebensphilosophie bündeln, wird hier davon Abstand genommen. Diese Dimensionen werden zum Teil, wenn auch unter abweichenden Begriffen, im Rahmen der vorliegenden Arbeit analytisch getrennt behandelt.
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Leitend ist dabei die Idee, dass analog zu der Differenzierung unterschiedlicher Ebenen von Legitimierungen, wie sie Berger und Luckmann (1966/1969: 100ff.) formulieren, die Formulierung und Legitimierung musikalischer Geschmacksurteile unterschiedliche Komplexitätsniveaus aufweisen. 6.2.1 Formen musikalischer Geschmacksurteile Befasst man sich mit der prinzipiell unendlichen Menge sprachlicher Äußerungen zum (individuellen) Musikgeschmack, fällt zunächst auf, dass die Art und Weise, in der ein Geschmacksurteil abgegeben wird, auf relativ wenige Grundelemente und -formen reduzierbar ist. Auf die Frage, welche Musik er gerne hört, antwortet mein Interviewpartner Steffen kurz und prägnant: „Mhm ich hör gute Musik gerne. Also eigentlich ist die Frage gleich Antwort ‚alles‘. Ich hör alles gerne so lange es gut ist. Also ich bin da relativ offen egal ob das jetzt Rockmusik ist oder HipHop oder elektronische Sachen oder ähäh auch gute Popmusik gibts natürlich von daher hab ich keine spezifische Richtung mehr die ich ausschließlich höre.“ (Steffen: 2)
Der quasi tautologische Einstieg wird im Verlauf der weiteren Ausführungen nur minimal ausgeweitet, indem musikalische Genres genannt werden, in denen es gute Musik gibt. Diese ist gut, weil sie gut ist. Und weil sie gut ist, höre ich sie – so könnte man Steffen wiedergeben, ohne seiner Aussage zu viel Gewalt anzutun. Ohne die Äußerung von Präferenzen kommt kein Geschmacksurteil aus. Dabei können die (a) Präferenzäußerungen (negative wie positive) sich auf ganze Ordnungsbegriffe von Musik beziehen (siehe 6.1) oder auf einzelne VertreterInnen einer bestimmten Art von Musik. Wie bereits im vorherigen Kapitel gezeigt werden konnte, greifen die Akteure dabei nicht ausschließlich auf Genrebegriffe zurück, um verschiedene Formen von Musik zu ordnen. Eine weitere Äußerung von Steffen zeigt auf, wie die Einordnung in ein bestimmtes Genre auch bereits als wertendes Geschmacksurteil genutzt werden kann. Die Ausführungen in diesem Zitat beziehen sich auf den Eurovision Song Contest (ESC)20 2011, der zeitnah zum Interview stattfand.
20 Dabei handelt es sich um einen jährlich stattfindenden europäischen Wettbewerb, der seit Mitte der 1950er Jahre veranstaltet wird. Teilnahmeberechtigt sind die Mitgliederländer der Europäischen Rundfunkunion (EBU).
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„Also dass diese diese Schweden so gut abgeschnitten sind die halt diesen Kirmestechno mit nem total beschissenen Song hingeschickt haben. Ich fands sehr schade das der kleine Finne so abgekackt ist, der halt nen schönen traurigen Song oder ja schönen Song gemacht und auch schön inszeniert hat auf der Bühne, der is ja ganz unten irgendwie gelandet. Ich fands cool dass dieser Italiener der fast son bisschen in die Jazzrichtung gegangen is, ich fands aber trotzdem nen guten Song, das der so gut abschnitten hat. (3s) Und gut dieser Siegersong ist son typischer Radiosong, nichts Besonderes [I: mhm]. Ich hät Lena gern ein bisschen weiter vorn noch gesehen und eigentlich dachte ich dieser Finne gewinnt.“ (Steffen: 60)
Vor allem die Einordnung eines ESC-Beitrags unter der Kategorie „Kirmestechno“ fällt auf – zumal in einer Interviewsituation, in der sich zwei Personen mit akademischen Abschlüssen gegenübersitzen. Des Weiteren wird der Beitrag des damaligen Gewinners als typischer „Radiosong“ bezeichnet. Eine Einordnung, die mit dem Zusatz „nichts Besonderes“ Anklänge einer Kritik an der kulturindustriellen Standardisierung hervorruft. Die genannten Einordnungen „Kirmestechno“ und „Radiosong“ transportieren also bereits Wertungen, wie sich auch im Gesamtzusammenhang des Interviewauszugs zeigen lässt. Häufig werden diese Präferenzäußerungen in Form von Auszählungen als (b) Präferenzketten präsentiert. Auf die Frage nach konkreten InterpretInnen, die ihr viel bedeuten, antwortet beispielsweise Dana im Interview, indem sie geschätzte Genres und Bands aneinanderreiht: „I: Gibt es dann bei den Musikrichtungen du hast gesagt Indie wobei man Indie nicht mehr sagen darf [D lacht] öhm gibt es da Interpreten oder Gruppen die ne besondere Bedeutung für dich haben? D: Also eine meiner absoluten Lieblingsbands sind die Weakerthans und die Band Port O'Brien wobei ich letztens erfahren habe dass die sich letztes Jahr schon getrennt haben da bin ich natürlich der absolute Hardcorefan und habs nicht mitbekommen [beide lachen] also die beiden Bands find ich sehr schön und sehr gut Weakerthans aus Kanada und Port O'Brien aus Amerika ich hab schon son Faible für amerikanische Bands so also früher hab ich viel so College Rock gehört [I: mhm] und öhm (1s) mag ich auch immer noch also so Nada Surf und Weezer und sowas das hat mich sehr geprägt in der wilden Jugend aber auch deutsche Bands Tocotronic hab ich viel gehört Hamburger Schule war grade angesagt als ich noch jung war [beide lachen]. Ja das hat dann so geprägt.“ (Dana: 15-16)
Neben diesen Formen der „einfachen“ Präferenzäußerung, die sich auf unterschiedliche Objekte der Wertschätzung beziehen kann, ist die Äußerung einer (c)
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Genrepräferenz mit Beispiel eine weitere typische Form des musikalischen Geschmackurteils: „Öhm also an Instrumentalmusik mag ich so Filmmusik aber da gibts natürlich auch so ganz viele verschiedene Arten von Filmmusik den American Beauty Soundtrack fand ich ganz ganz toll oder öhm den Fargo Soundtrack fand ich auch toll [I: ich glaub das ist besser wenn ich das hierhin lege] aber die haben dann auch immer sowas Trauriges [I: mhm] in der Musik und so Postrockgeschichten find ich ganz gut.“ (Dana: 6)
Dana führt hier einen Ordnungsbegriff („Instrumentalmusik“) ein, den sie zunächst weiter verengt („Soundtracks“) und ihn abschließend mit konkreten Beispielen expliziert. Hier beginnen die Grenzen zu ‚komplexen‘ Formen der Legitimierung von musikalischen Geschmacksurteilen empirisch fließend zu werden. Als eine weiteres wichtiges Element musikalischer Geschmacksurteile zeichnet sich (d) die Immunisierung von Geschmacksurteilen gegenüber potenziellen Kritiken ab. Hierunter sind alle pragmatischen Verfahren zu fassen, die Kritik an der bezogenen ästhetischen Position vorwegnehmen. Darunter sind vor allem zwei Varianten besonders hervorzuheben: (i) Äußerungen, welche die Individualität des Geschmacksurteils betonen und (ii) Äußerungen, welche die Relativität von Geschmacksurteilen generell hervorheben.21 Im folgenden Interviewauszug führt Michael vor, wie sich eine wertende Aussage mittels Relativierungen und den Hinweis auf die „persönliche Meinung“ gegen potenzielle Kritiken immunisieren lässt. „Ähm (2s) [I: für dich] gut man kann natürlich auch sagen ähm es gibt keine gute Musik alle Musik hat irgendwie ihre Berechtigung [I: mhm] auch wenns irgendwelche was vielleicht äh was ich jetzt vielleicht nicht unbedingt als gute Musik bezeichnen würde sind (1s) ganz viel was ähm an (1s) an Popsongs sich immer wieder gleich anhört und was (1s)
21 Die Immunisierung von Geschmacksurteilen kann im weiteren Sinne als „Technik der Imagepflege“ (Goffman 1967/1986) verstanden werden. Denn: „Was ein Mensch schützt und verteidigt und worin er seine Gefühle investiert, ist eine Idee von sich selbst; Ideen sind aber nicht verletzbar durch Tatsachen und Dinge, sondern nur durch Kommunikation“ (Goffman 1967/1986: 51). Wie Goffman in dem bekannten Aufsatz argumentiert, können die benannten Techniken auch aggressiv angewendet werden (Goffman 1967/1986: 30ff.). Die Kritik an der Einteilung von Musik in „Schubladen“ (vgl. 6.1.1; Parzer 2011: 164) hat genau diesen Doppelcharakter. Einerseits immunisiert sie die eigenen formulierten Ordnungsbegriffe und zugleich kritisiert sie andererseits die Ordnungsversuche anderer.
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ja wo man äh auch wenn man jetzt wenn mans sich natürlich nicht in letzter Instanz anmaßen kann das zu sagen aber manche Sachen wo wo wo doch schon sehr drauf geachtet wurde dass das irgendwie einfach so ne Radiosingle wird [I: mhm] und äh ganz gutes Beispiel ist zum Beispiel dieses (1s) gut das ist natürlich meine persönliche Meinung aber darum geht auch (…)“ (Michael: 8).
Auch nachdem ihn der Interviewer offensiv aufgefordert hat, kundzutun was schlechte Musik seiner Meinung nach ausmacht, verpackt Michael sein Urteil vorsichtig mit dem Hinweis, dass erstens jede Musik generell ihre Berechtigung habe und zweitens ihm die Autorität fehle abschließend zu urteilen. Zudem weist er drittens darauf hin, dass das folgende seine persönliche Meinung sei. Die ersten beiden impliziten Botschaften verweisen auf eine kulturelle Toleranz, die kommuniziert wird, während letzter Hinweis auf die Individualität von Geschmacksurteilen abstellt. Gerade diese Form der Immunisierung erscheint unter den Bedingungen gegenwärtiger Gesellschaften als besonders potent, da sie vor der Hintergrundannahme der „Heiligkeit der Person“ operiert und auf ein unteilbares individuelles Erleben abstellt. Eine zentrale Form der Legitimierung musikalischer Geschmacksurteile ergibt sich durch die Hinzunahme von Qualitätskriterien – unter Qualitätskriterien werden im Folgenden Kriterien verstanden, die genutzt werden, um zu begründen, warum eine Musik „toll“, „schön“ und „gut“ ist oder eben nicht (vgl. von Appen 2007: 49). Die zugehörige Form soll im Folgenden kurz (e) Geschmacksurteil mit Legitimierung mittels Qualitätskriterien genannt werden. „I: Und was bedeutet mehr als die reine Musik? K: (1s) Es ist manchmal so ne Attitüde oder so ne so ne so nen Ausstrahlung die von nem Song ausgeht die auch mit der Band zu tun hat vom Auftreten her für was die stehen. Das ist zum Beispiel bei Social Distortion ganz extrem so. Die nicht unbedingt nur brillante Musik machen, die aber für etwas stehen mit ihrer Musik und das wiederum die Musik auch schon wieder cool macht (…)“ (Konrad: 32-33).
Konrad führt hier an einem konkreten Beispiel aus, wie mit einem oder mehreren Qualitätskriterien die Zuschreibung von musikalischem Wert zu legitimieren ist. Die US-amerikanische Punkrockband Social Distortion wird von ihm aufgrund musikexmanenter Kriterien wertgeschätzt, auch wenn er zugesteht, dass sie „nicht unbedingt nur brillante Musik machen“. Hier im Zitat werden also mehrere Qualitätskriterien relationiert. Zusammenfassend lassen sich also drei „einfache“ Formen der Äußerung von Geschmacksurteilen unterscheiden, die (a) einfache Präferenzäußerung, die
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(b) Präferenzkette sowie die (c) Genrepräferenz mit Beispiel. Wird in der Kommunikation über Musik der Legitimationsdruck von individuellen Geschmacksurteilen objektiv realisiert, so kann das wiederum in zweierlei Form geschehen. Zum einen kann durch (d) Immunisierungsstrategien die bezogene Position gegen potenzielle Kritiken verteidigt werden, zum anderen kann (e) eine Legitimierung des musikalischen Geschmacksurteils mittels unterschiedlicher Qualitätskriterien und Legitimationstheorien geleistet werden. Dabei sollte hier bereits angemerkt werden, dass in Interviews mit musikalischen Laien i.d.R. keine „expliziten Legitimationstheorien“ oder „symbolischen Sinnwelten“, wie sie Berger und Luckmann als Ebenen der Legitimierung erster Ordnung formulieren (Berger/Luckmann 1966/1969: 101ff.), gemeint sind. Denn diese gehören typischerweise zu den Wissensbeständen von LegitimationsexpertInnen. Bei den Interviewten handelt es sich zwar zum Teil um ExpertInnen für bestimmte Genres, Bands oder InterpretInnen, diese Tatsache macht sie aber nicht zwangsläufig zu DeutungsexpertInnen. Diese wurden in der Anlage der vorliegenden Untersuchung bewusst ausgeschlossen.22
Form
Beispiel „Ich höre gerne Oper.“
Einfache Präferenzäußerung Präferenzkette Genrepräferenz
„Also Ska geht gar nicht.“ „Also meine absoluten Lieblingsbands sind Rage Against The Machine, Radiohead und Die Ärzte.“ „Ich mag besonders Soundtracks, den Soundtrack von Fargo fand ich besonders toll.“
mit Beispielen Immunisierung von
„Also für mich ist das nichts, aber das ist mein persönli-
Geschmacksurteilen
cher Geschmack.“
Geschmacksurteil mit Legi-
„Ska ist da schon eher wieder was anderes, dieser Punk
timierung mittels Qualitäts-
mit Reggaeelementen das is dann wieder ein bisschen
kriterien
was schnelleres das macht dann wieder Spaß.“
Tabelle 11: Formen und Elemente musikalischer Geschmacksurteile
22 Aus den Studien von Becker (1984), Doehring (2011) und Diaz-Bone (2010) lassen sich Rückschlüsse auf die Legitimationstheorien von DeutungsexpertInnen und Professionellen im Feld der Musik ziehen.
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Nachdem bis jetzt die Formen musikalischer Geschmacksurteile im Fokus der Analyse stand, werden die anschließenden Interpretationen und Erörterungen sich dem Problem der Inhalte musikalischer Geschmacksurteil zuwenden. 6.2.2 Inhalte musikalischer Geschmacksurteile Das Ordnen von Musik kann in der Praxis bereits Wertungen enthalten, wie die abwertende Rede Steffens von „Kirmestechno“ eindrücklich aufzeigt.23 Insofern ist die Trennung von Praktiken des Ordnens und Praktiken des Legitimierens als analytische Entscheidung zu verstehen. Im Hinblick auf die Untersuchung von Praktiken der Legitimierung sind vor allem musikalische Geschmacksurteile und Qualitätskriterien von besonderem Interesse. In ihnen kommt deutlicher noch als im wertenden Gebrauch von Ordnungsbegriffen die (implizite) Ästhetik der Akteure zum Vorschein, die – folgt man der Argumentation von Bourdieu – als Verlagerung sozialer Konflikte in den Bereich des Symbolischen soziale Implikationen hat. Deshalb wird ihnen im Folgenden am meisten Raum gewidmet. Die Analyse der Legitimierungen von Musik konzentriert sich im Folgenden auf die geäußerten Qualitätskriterien und wertenden Geschmacksurteile bezüglich Musik. Diese Legitimierungen funktionieren häufig durch die Zuschreibung bestimmter Eigenschaften. Dabei kann das Objekt, dem Eigenschaften zugeschrieben werden, ganz Unterschiedliches sein: ein Album, ein Konzert oder auch MusikerInnen. Für die folgenden Analysen der Legitimierung musikalischer Geschmacksurteile sind vor allem zwei empirische Studien von besonderer Relevanz: von Appens „Der Wert der Musik“ (2007) sowie Parzers „Der gute Musikgeschmack“ (2011). Deshalb sei an dieser Stelle in gebotener Kürze auf zentrale Fragen und Ergebnisse dieser Studien verwiesen: In der Studie von Appens (2007) werden Rezensionen von AmazonKundInnen untersucht. In seiner Auswertung mittels dem Verfahren der qualitativen Inhaltsanalyse präpariert er im Wesentlichen sechs Qualitätskriterien heraus, die typischerweise genutzt werden, um Musikalben Wert zuzuschreiben. Dabei handelt es sich im Einzelnen um: 1. „Qualitäten der Songtexte“, 2. „Kompositorische Qualitäten“, 3. „Interpretatorische Qualitäten“, 4. „Authentizität und andere menschliche Qualitäten“, 5. „Emotionale Qualitäten“ sowie 6. „Originalität, Neuheit, Vielfalt, Langeweile: das Interessante“ (von Appen 2007: 81ff.). Aufgrund der untersuchten Daten, die immer den Bezug zu einem konkreten Al-
23 Ob eine Klassifikation mit einer positiven oder negativen Wertung verbunden ist, lässt sich nur im Rekurs auf die Art und Weise ihrer Verwendung sowie den Kontext schließen (vgl. Sutterlüty 2010: 77).
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bum aufweisen und schriftlich verfasste musikalische Geschmacksurteile darstellen, erklärt sich die Feingliedrigkeit seiner Unterscheidung diverser Kriterien. Bei mündlich kommunizierten Geschmacksurteilen fehlt diese häufig. Für die Analyse von Interview-generierten Daten erscheint Parzers Vorschlag instruktiver, der zwar mit Beiträgen in Online-Foren auch schriftlich verfasste Geschmacksäußerungen untersucht, aber eine andere analytische Differenzierung vorschlägt. Er unterteilt die Legitimierungen aufgrund seiner Daten in vier Kategorien (2011: 169ff.): 1. „Bezugnahme auf musikalische Maßstäbe“, 2. „Betonung von Funktionen, die einer Musik zugeschrieben werden“, 3. „Hervorhebung einer erwarteten Wirkung von Musik“ sowie 4. „Bezugnahme auf die einer Musik zugeschriebenen Fähigkeit, Erinnerungen hervorzurufen“ (Parzer 2011: 168ff.). Dabei ist die Annahme leitend, dass diese Legitimierungsstrategien Teil eines sozial vermittelten Wissens sind (vgl. Parzer 2011: 168). Die Bewertung von Musik wird, so Parzers Argument, über die Zuschreibung von bestimmten Qualitäten vorgenommen (Parzer 2011: 177). Diese analytische Differenzierung Parzers wird im Folgenden aufgenommen und konstruktiv weiterentwickelt und erweitert. Detaillierter wird auf diese beiden Studien im Folgenden eingegangen, wenn die herausgearbeiteten Qualitätskriterien sich thematisch überschneiden, Gemeinsamkeiten aufweisen oder sich widersprechen. Ein erster Blick in die Daten offenbart eine Vielzahl unterschiedlicher Qualitäten, die Musik zugeschrieben oder auch abgesprochen werden, um zu einer wertenden Aussage zu kommen (vgl. Tabelle 12).
Beispiele für Qualitätskriterien für die Bewertung von Musik und die Legitimierung von Werturteilen Gute Musik
eine „Hookline“ (Refrain, Stimme, Melodie);
hat…
einen einfachen Aufbau; Geschwindigkeit; „Magie“
Gute Musik
Nachvollziehbar; Musik, die „an den Eiern packt“;
ist…
„mehr als reine Musik“; „gut gemacht“; eingängig
Gute Musik ist
einem bestimmten Auftreten; Kunstprojekten; Lebensgefühl; Style
verbunden
(auch Kleidung und Einstellung); Szenen; Symbolik; Gemeinschaft;
mit… Schlechte Musik ist…
„Band hat auch Spaß daran“ hochkomplex und anstrengend (deshalb nicht gut); zu „lahmarschig“; „schnulzig“
Tabelle 12: Qualitätskriterien und die Legitimierung musikalischer Geschmacksurteile
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Wie sich auf den ersten Blick zeigt, verweisen die in Anschlag gebrachten Kriterien auf Unterschiedliches. Eine ganze Reihe der genannten Kriterien bezieht sich auf musikimmanente Kriterien. Darunter sind Eigenschaften zu verstehen, die Musik zugeschrieben werden (vgl. Parzer 2011: 169ff.) wie beispielsweise der Aufbau, die Melodie oder die Geschwindigkeit (Kapitel 6.2.2.1). Die Zuschreibung einer erwarteten Funktion von Musik ist der gemeinsame Nenner einer weiteren Gruppe von Qualitätskriterien. Darunter zähle ich, abweichend von Parzer (2011: 176f.), auch das Erinnerungspotenzial, das Musik zugeschrieben wird (Kapitel 6.2.2.2). Funktionale Legitimierung kann beispielsweise aber auch bedeuten, auf Musik als wichtige Interaktionsressource hinzuweisen. Daneben verweisen andere Qualitätskriterien auf musikexmanente Qualitäten wie bspw. Eigenschaften der Musizierenden, wie das Auftreten, die politische Einstellung oder der Spaß, den eine Band beim Auftritt hat (Kapitel 6.2.2.3). Eine vierte Gruppe von Qualitätskriterien und musikalischen Geschmackskriterien verweist auf spezifische habitualisierte Hörstrategien wie den Konzertbesuch (Kapitel 6.2.2.4) und erschließt sich vor allem unter Berücksichtigung der (situativen) Elemente dieser Hörstrategien. Diese analytische Differenzierung wird weder bei von Appen (2007) noch bei Parzer (2011) berücksichtigt und stellt damit einen wichtigen Beitrag zur empirischen Frage nach der Legitimierung von musikalischen Geschmacksurteilen dar. Mit einer kritischen Zusammenfassung der Teilergebnisse, die weiterführende Bezüge zum Forschungsstand herstellt, schließt die Präsentation der Ergebnisse (Kapitel 6.2.3). 6.2.2.1 Die Legitimierung von musikalischen Geschmacksurteilen mittels musikimmanenter Qualitätskriterien In den vorliegenden Studien kommt musikimmanenten Qualitätskriterien eine unterschiedliche Bedeutung zu, was sich zum größten Teil aufgrund der unterschiedlichen Daten erklären lässt. Während von Appen (2007) gerade musikimmanenten Kriterien in seinen Analysen viel Raum einräumt und großes Gewicht zuspricht, kommt Parzer (2011: 169) zu dem Schluss, dass in den von ihm untersuchten Diskussionen musikimmanente Kriterien eine untergeordnete Rolle spielen.24 Wenn hier im Folgenden zunächst musikimmanente Qualitätskriterien untersucht werden, muss dabei betont werden, dass sich empirisch nicht immer
24 Dennoch unterscheidet er eine ganze Reihe von Kriterien: „Kompositorische Qualitäten, Melodie, Rhythmus (bzw. ‚Beat‘), lyrische Qualitäten, handwerkliches Können bzw. Virtuosität, Sound, Musikgefühl, Stimme, interpretatorische Fähigkeiten und innovative Aspekte“ (Parzer 2011: 169).
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trennscharf zwischen Geschmacksurteilen, die mittels musikimmanenten Kriterien legitimiert werden, und anderen Optionen unterschieden werden kann.25 (a) Die Relevanz von Texten: In der Studie „Der Wert der Musik“ (von Appen 2007: 81ff.) spielen Texte für eine Teilmenge der untersuchten Alben und ihre Wertung eine wichtige Rolle. So wird beispielsweise „Realismus“ und „Weltbezug“ von Texten gelobt (von Appen 2007: 83ff.) oder „lyrische Qualitäten“ gehen in die Bewertung mit ein (von Appen 2007: 89f.). Für viele der Befragten der vorliegenden Untersuchung sind stimmliche Qualitäten nur schwer von der Bewertung von Texten zu trennen. So wird denn auch von einigen der Befragten die Stimme eher als Instrument gedeutet, die gefallen muss. Selbst wenn die Texte rezipiert und verstanden werden – wichtig ist hier eine gewisse Sprachkompetenz bei fremdsprachigen Texten –, kann die Stimme den endgültigen Ausschlag geben, wie Dana ausführt: „Mhm für mich ist die Stimme immer wichtig also das ist ja mhm in erster Linie hör ich die Musik und dann hör ich natürlich auch noch die Texte und les mir dann die die Texte durch aber wenn mir irgendwie schon die Stimme nicht gefällt vom Sänger oder von der Sängerin dann is es schon schwer für die Band mir zu gefallen also das muss schon irgendwie passen. Musik ist meistens gar nicht so das Ding also viele Musik find ich gut also von irgendwelchen deutschen Bands oder sowat wenn dann irgendwie der Gesang nicht stimmt dann dann ja dann haben dies nicht so einfach bei mir dass ich sie gut finde [I: mhm]. Also das kann auch unterschiedliche Gründe haben, das muss jetzt nicht besonders gut sein oder so der Gesang mmmh der kann auch total [schrepisch] sein der Gesang und mir gefallen der kann aber auch öhm keine Ahnung total gut ausgebildet sein der Sänger oder die Sängerin und mir ist das dann vielleicht zu glatt poliert [I: mhm] aber oft mach ichs tatsächlich an der Stimme aus. [I: mhm] Bei Instrumentalmusik naja [beide lachen] da gibts dann andere Themen.“ (Dana: 4)
Was Dana hier bei der Diskussion der relativen Gewichtung von Stimme und Text praktisch vorführt, mündet in eine Hierarchisierung der musikimmanenten Qualitätskriterien. Während sie zu Beginn ihrer Antwort die „Musik“ und „Tex-
25 Parzer unterscheidet aus diesem Grund vier Varianten der Verwendung von musikimmanenten Qualitätskriterien: 1. „Genrespezifische Verwendung musikimmanenter Qualitätskriterien“ (Parzer 2011: 169); 2. „Kontrastierung verschiedener genrespezifischer Qualitätskriterien“ (Parzer 2011: 170); 3. „genreübergreifende musikimmanente Qualitätskriterien“ (Parzer 2011: 170f.); und 4. „Vermischung musikimmanenter und exmanenter Kriterien“ (Parzer 2011: 172).
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te“ als relevante Kriterien einführt, gewinnt die „Stimme“ im Anschluss deutlich an relativem Gewicht. Ihre Ausführungen lassen es nicht zu, unmittelbar auf genrespezifische Konventionen zuzurechnen. Vielmehr verwendet sie die genannten Kriterien genreunabhängig. Implizit macht die Verknüpfung von ausgebildeten Sängerinnen oder Sängern und einer Wertung als „zu glatt“ im Anschluss an die Aussage, dass „guter“ Gesang auch „schrepisch“ klingen kann, eine Präferenz für beispielsweise Oper unwahrscheinlicher, wie sich im Verlauf des Interviews auch zeigen wird. Je geringer die Sprachbarriere beim Textverständnis ist, desto schwieriger scheint es den meisten Befragten zu sein, die Stimme rein als Instrument wahrzunehmen. Je nach Inhalt dieser Texte können sich positive wie negative Bewertungen an den zugeschriebenen Sinn dieser anschließen. So ist denn beispielsweise die zugeschriebene „Schnulzigkeit“ bestimmter deutscher Texte für Bernd ein negatives Wertungskriterium. „Ja diese extremen Sachen (1s) ähm ja Schlager da hab ich noch gar nicht dran gedacht jetzt [I: mhm] stimmt das ist vollkommen äh außerhalb des äh meines meines Horizonts irgendwie Schlager (1s) mmh (2s) ja was macht jetzt Schlager indiskutabel ähm (1s) wenns zu schnulzig ist wenns offensichtlich schnulzig ist also äh äh platte Inhalte das merk ich dann schon [I: mhm] auch wenn ich nicht auf Inhalte achte aber wenns gerade auf Deutsch gesungen ist dann äh kommt man da nicht drum herum (3s) ähm ja vielleicht darf ich dann das auch einschränken dass ich nicht auf die Inhalte achte das ist bei deutschen Bands natürlich dann anders da kriegt man die Inhalte anders präsentiert oder da hör ich dann schon drauf oder kann nicht äh dann weg hörn und deswegen ja deswegen ist zum Beispiel vielleicht Xavier Naidoo indiskutabel für mich weil ich das zu schnulzig finde meistens [I: mhm] und es ist auch auf Deutsch und dann merkt mans halt und den wird ich dann tatsächlich in diese Schlager- [Gelächter von B und I] Richtung [I: mhm] äh schieben vielleicht ja.“ (Bernd: 14)
Erst auf Nachfrage widmet sich Konrad in dieser Interviewpassage dem Genre der Schlager. Wie seine einleitende Bemerkung („vollkommen außerhalb meines Horizonts“) andeutet, ist ihm dieses Genre entweder durch die Interviewrahmung oder generell, wenn es um gute Musik (und ihr Gegenteil) geht, nicht unmittelbar präsent. In seiner Antwort stellt er auf das Niveau der Textinhalte ab, die ihm bei fremdsprachigen Texten weniger relevant sind. Mit „Schnulzigkeit“ verweist er auf eine ihm „indiskutable“ Form der Emotionalisierung von Texten, die er mit dem Beispiel Xavier Naidoos verbindet. Diesen ordnet er aufgrund seiner Texte in die „Schlagerrichtung“ ein.
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Das Vorhandensein von Texten führt jedoch nicht zwangsläufig dazu, dass diese zur Begründung musikalischer Geschmacksurteile herangezogen werden. So kann beispielsweise der Klang insgesamt wichtiger als Kriterium sein, als die Texte, die eine Band schreibt, wie Bernd ausführt: „Das ähm ist f f mit mit besonderer Bedeutung vielleicht eher schwierig weil ich weniger auf Texte achte [I: mhm] sondern dann eher auf auf die Musik oder auf den Klang das heißt ähm es kann sein dass ich von manchen Bands nur einige Lieder mag [I: mhm] (1s) und nich alle weil die halt eben unterschiedlich gemacht sind.“ (Bernd: 12)
Im Gegensatz zu Texten und ihren Qualitäten (von Appen 2007: 81ff.) lässt sich das folgende Qualitätskriterium auf instrumentale wie nicht-instrumentale Musik gleichermaßen anwenden: die Rede ist vom Klang. (b) Klang als Kriterium: Mit dem Verweis auf Klang oder Sound beziehen sich einige der Interviewten auf ein eher holistisch funktionierendes Kriterium. Nicht einzelne Aspekte werden von ihnen hervorgehoben, sondern eine akustische Qualität beschrieben, die eine eigene emergente Qualität im Vergleich zu einzelnen Komponenten aufweist.26 So kann der Verweis auf klangliche Qualitäten auch den instrumentalen Gesamteindruck als Assoziationshorizont aufrufen, wie folgender Interviewauszug deutlich macht: „(…) sondern ich geh allein danach äh was mir gefällt [I: mhm] und das sind relativ viele Sachen also da kommts mir hauptsächlich auf den Klang an weniger auf äh Text oder Inhalte sondern hauptsächlich der Klang“ (Bernd: 4).
Ähnlich hebt Markus im Interview die Bedeutung einer „organischen Klangs“ als positives Qualitätskriterium hervor (Markus: 3ff.). Damit bezieht er sich ähnlich wie Bernd im obigen Zitat auf den klanglichen Gesamteindruck.
26 Auch innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses gibt es eine Vielzahl mehr oder weniger präziser Definitionen des „Sound“-Begriffs. Martin Pfleiderer schreibt dazu: „Sound gehört seit ein paar Jahrzehnten zu jenen populären Begriffen, die ihre Anziehungskraft und Funktion gerade dadurch gewinnen, dass sie sehr umfassend, somit vieldeutig – man könnte auch sagen: schwammig – und daher vielfältig verwendbar sind. Wenn man nicht richtig nachvollziehen kann, warum ein Musiker so unverwechselbar und so erfolgreich ist oder weshalb ein Konzert trotz allen handwerklichen Könnens zum Flop wird, so liegt es im Zweifelsfall eben am Sound.“ (Pfleiderer 2003: 19)
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„(…) ich bin nen sehr sinnlicher Mensch und bei mir ist ganz wichtig was äh über die Sinnesorgane an mich dringt und bei Musik (1s) is für mich ganz wichtig der Klang der Musik also da nen Beispiel ich kann äh ich kann ne Jazzscheibe aus den 80er hören wo de super Musiker dabei hast wenn das irgendwie digital aufgenommen is und metallisch klingt dann mag ich das nich hören, da hab ich da persönlich keine Freude dran (…)“ (Markus: 5).
Im Gegensatz zu Bernd setzt Markus den von ihm präferierten organischen Klang mit einer spezifischen Produktionsweise von Musik in Beziehung. Eine andere Art und Weise Klang oder Sound in die Bewertung von Musik einzubeziehen zeigt sich, wenn auf einzelne Instrumente und ihren Einsatz abgestellt wird. Zwischen diesen beiden Polen bewegt sich der Einsatz des Qualitätskriteriums Klang oder Sound in den Interviews. „Ähm ich mag ähm schnelle Hi-Hats also son T-T-T-T-T-T [ein Geräusch wird nachgeahmt] [I: mhm] sowas wenn das im Hintergrund und dann durchgängig läuft ich weiß nicht warum aber ich mag das irgendwie und ähm achte auch speziell darauf ob ein Lied jetzt sowas hat.“ (Bernd: 16)
Klang oder Sound wird folglich von den Interviewten vor allem in zwei Varianten thematisiert: (i) in Bezug auf einen Gesamtklang oder Sound, der nicht in Komponenten zerlegbar ist, sondern das Gewicht anderer Kriterien beeinflusst; (ii) in Bezug auf einzeln wahrnehmbare Komponenten wie beispielsweise einzelne Instrumente. Hier zeigt sich, wie bei vielen anderen Kriterien, dass selbst engagierte MusikliebhaberInnen in der Regel nicht auf „explizite Legitimationstheorien“ (Berger/Luckmann 1966/1969) zurückgreifen. So wird die Kategorie „Sound“, die in wissenschaftlichen Publikationen eine gewisse Konjunktur erfahren hat (siehe auch die Beiträge in Phleps/von Appen 2003), von den Alltagsakteuren eher undifferenziert genutzt.27 (c) Abwechslungsreichtum vs. Gleichförmigkeit: In der Tendenz wird Abwechslungsreichtum in den Interviews positiver bewertet als Gleichförmigkeit. Wenn man allerdings genauer analysiert, was darunter verstanden werden kann, zeigt sich ein großes Bedeutungsspektrum. Positiv hervorheben lässt sich Abwechslungsreichtum auf der Ebene einzelner Songs bzw. Lieder, wie das Bernd tut: „(…) äh was ich auch sehr gern mag sind Lieder die ähm sehr abwechslungsreich sind und dann länger gehen (…)“ (Bernd: 16). Die Verknüpfung mit der
27 Ähnliches gilt laut von Appen (2007: 127) auch für das Kriterium der Authentizität.
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Dauer des Liedes verweist darauf, dass es die Komplexität der Komposition ist, die für Bernd mittelbar gegen Gleichförmigkeit wirkt. Ganz nach dem Motto: gerne lang und komplex. Konkret verweist Bernd in diesem Zusammenhang auf Bands, die mit ihren Songs die durchschnittliche Dauer von populärer Musik im Radio-Format überschreiten. „(…) zum Beispiel bei ähm einer Band die heißt Archive (1s) oder ähm The Cooper Temple Clause da gehn dann Lieder nicht unter fünf Minuten häufig über sechs Minuten und das ist dann schon n deutlich über den über diesen drei bis vier Minuten die sonst ähm Albumlieder haben und da ist dann interessant wenn sie sich entweder ähm langsam aufbauen zu nem bestimmten Höhepunkt im Lied oder wenn ähm da ganz äh interessante Wechsel oder Spannungsbögen dann sind die sich dann abwechseln (1s).“ (Bernd: 16)
Die Elemente, die er dabei anführt, könnten in ähnlicher Weise auch angeführt werden, um klassische Kompositionen zu beschreiben. Der Verweis auf Spannungsbögen, Höhepunkte und ähnliches ergibt für Bernd in Bezug auf „Albumlieder“ keinen Sinn. Diese Elemente benötigen Zeit für die Entfaltung. Im Gegensatz dazu betont beispielsweise Kim wie wichtig für sie die Abwechslung zwischen den Liedern ist. Ihr kommt es weniger auf Komplexität innerhalb eines Liedes an, sondern auf den Wechsel zwischen den Liedern: „Ähm, ja und das ist halt einfach (1s) was ich auch wichtig finde ist dass die Lieder nicht zu lang sind [lacht]. Also dass ähm wenn en Lied irgendwie über fünf Minuten ist dann find ichs auch irgendwie langweilig. Also ich bin jemand der viel Abwechslung braucht [I: hm hm]. Der sich nicht unbedingt so in was unbedingt rein so reinfuchsen will so reinarbeiten will, sondern der einfach viel Input glaub ich braucht einfach.“ (Kim: 4)
Im Gegensatz zu Bernd wird hier das positive Kriterium der Abwechslung durch eine Vielzahl kurzer, nicht zu langer oder zu komplexer Kompositionen erreicht, in die man sich nicht „reinarbeiten“ muss. Die positive Bewertung von Abwechslungsreichtum kann also mit unterschiedlichen (habitualisierten) Hörerwartungen einhergehen. Da die Einheiten, die abwechslungsreich sein sollen, von Bernd und Kim unterschiedlich bestimmt werden, würde Bernd mit gewisser Wahrscheinlichkeit die Musik von Kim als weniger komplex (bezogen auf die Einheit Song oder Lied) wahrnehmen. Umgekehrt zeigt sich in Kims Aussage eine implizite Anerkennung von Komplexität, da sie im Zusammenhang mit längeren Liedern davon spricht, dass diese Arbeit erfordern („reinarbeiten“, „reinfuchsen“). So ist denn empirisch das Kriterium des Abwechslungsreichtums stark mit der Beurteilung der Komposition verbunden.
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(d) Komplexität vs. Einfachheit: Wie im vorangehenden Abschnitt deutlich wurde, assoziiert Bernd eine gewisses Maß an Abwechslungsreichtum mit einem Mindestmaß an kompositorischer Komplexität. Diese stellt für ihn ein positives Merkmal guter Musik dar. Im Gegensatz dazu wertet Konrad die Komplexität der Kompositionen nicht generell als positives Merkmal. Denn so führt er an einer Stelle des Interviews aus: „(…) vor allem jetzt in letzter Zeit wo ich mich wesentlich mehr ähm oder überhaupt mal angefangen hab mit HipHop zu beschäftigen stell ich fest das im Prinzip nen guter Song immer gleich ist. Die sind immer ähm relativ einfach aufgebaut so das [du] das relativ klar nachvollziehen können was dort gemacht wird ähm also komplexe Musik ist einfach keine gute Musik, also die ist qualitativ mag die gut sein aber sie ist fürn Zuhörer nicht nicht gut nicht eingängig äh und die Hits die die dir wirklich im Ohr bleiben haben immer ne einfache Struktur (1s) ähm und völlig klar etwas was dich was dich unter Musikern sagt man an den Eiern packt. Das ist genau das.“ (Konrad: 23)
In dieser Passage stellt Konrad genreübergreifend fest, dass Komplexität kein positives Kennzeichen guter Musik ist. Das entscheidende Merkmal, auf das er hier abstellt, ist die Eingängigkeit, die durch einfache formale Strukturen gewährleistet werden soll. Wichtig ist, so sein Argument, dass die Rezipierenden diese Strukturen beim Hören nachvollziehen können. Die Reichweite seiner Aussage grenzt er dabei nur scheinbar ein, wenn er zugesteht, dass komplexe Musik „qualitativ“ gut sein mag – damit ist auf die technische Leistung der Komponierenden oder Musizierenden verwiesen. Letztlich geht er von den Rezipierenden aus und postuliert, dass das, was Bestand hat, was Hitpotenzial hat, sich durch eine einfache Struktur auszeichnet. Eng verbunden mit der Zuschreibung von Gleichförmigkeit und Abwechslung bzw. Komplexität und Einfachheit sind die Qualitätskriterien Geschwindigkeit und Rhythmus. (e) Geschwindigkeit und Rhythmus: Die Geschwindigkeit und der Rhythmus sind ambivalente Kriterien, die in die alltägliche Bewertung von Musik eingehen können. Die Ambivalenz wird sehr deutlich an folgendem Interviewauszug: „I: Du hast als erstes Reggae genannt, [D lacht] das machen viele [D: ja?] oder einige. (1s) Was gefällt dir denn da an Reggae ganz besonders jetzt nicht? D: Es ist mir zu lahmarschig das is immer son ganz träger Rhythmus und ich glaub man muss wirklich was geraucht haben um das gut zu finden das ist mhm also hm ich hab glaub ich auch ne Bob Marley Platte aber wenns mal im Radio läuft ok also ein Lied kann ich noch ertragen zwei gehen vielleicht auch aber irgendwie ist mir das ein bisschen zu
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(2s) lässig [lacht] [I: mhm]. Also für mich ist das also mich interessiert das nicht wirklich, mich nervt das dann eher wenns die ganze Zeit immer nur dieser langsame Beat ist und dann irgendwelche trötenden Trompeten oder so [I: mhm] Ska ist da schon eher wieder was anderes, dieser Punk mit Reggaeelementen das is dann wieder ein bisschen was Schnelleres das macht dann wieder Spaß.“ (Dana: 11-12)
Zunächst scheint die Interviewte im strengen Sinne nicht zwischen Geschwindigkeit und Rhythmus zu unterscheiden. Vielmehr hat es den Anschein, dass sie beide Eigenschaften vermengt. Aber die Aufwertung von Ska zeigt, dass es vor allem die Geschwindigkeit zu sein scheint, die für sie den Ausschlag gibt, während sie mit Ska auf ein Genre Bezug nimmt, das zentrale Rhythmusfiguren – den Offbeat – mit dem Reggae gemeinsam hat. Zentrale stilistische Konventionen (rhythmische Figuren) können also aufgrund unterschiedlicher Tempi einmal negativ und einmal positiv gewertet werden.28 Interessant dürfte das Zusammenspiel von Qualitätskriterien vor allem dort sein, wo die RezipientInnen eine stilistische Nähe zwischen musikalischen Genres unterstellen, wie im obigen Beispiel. (f) reproduktiv vs. innovativ: Ein wichtiger Aspekt, der zum Bewerten von Musik herangezogen wird, lässt sich auf die Dichotomie reproduktiv vs. innovativ zuspitzen. Sie findet in meinen Interviews sowohl in Bezug auf Populär- als auch Hochkultur Verwendung.29 Zum Zeitpunkt des Interviews bewertet Steffen – der
28 Woodward und Emmison (2001: 302f.) gehen in ihrem Aufsatz davon aus, dass sich Geschmacksurteile u.a. dadurch auszeichnen, dass das „richtige“ Ausmaß eines Merkmals („quantity“) einem Objekt zugeschrieben wird. Auf diesem Abstraktionsgrad überzeugt ihre Analyse nur bedingt, auch wenn es sich nicht leugnen lässt, dass die meisten Qualitätskriterien graduell verwendet werden. 29 Bellavance (2008) und Berghmann/van Eijck (2009) widmen sich der Unterscheidung zwischen „alt und neu“ in instruktiver Weise. Im erstgenannten Aufsatz wird ein „theoretical ‚taste space‘“ entwickelt, der die Positionen kultureller Güter in zwei Dimensionen (high/low und old/new) bestimmt (Bellavance 2008: 194f.). Im zweitgenannten Aufsatz unterscheiden die Autoren im Anschluss an Bellavance und andere Vorarbeiten zwischen horizontalen und vertikalen Grenzüberschreitungen im Feld der bildenden Künste. Während die vertikalen Grenzüberschreitungen (legitim/illegitim) typischer Gegenstand der Omnivorizitätsforschung sind, ergeben sich durch die Berücksichtigung der zweiten Dimension weitere Formen „grenzüberschreitenden Geschmacks“ (Berli 2010).
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sich ständig auf der Suche nach dem Interessanten, Neuen zu befinden scheint – die Musik Lady Gagas, besonders ihren Inszenierungsstil, als herausragend: „Mhm ich find Lady Gaga super denn sowas hat man noch nie gemacht [I: mhm] da ist mir kein Künstler bekannt der diesen Stil hat. Also auch wenn das jetzt Popmusik ist und es gibt schon Popmusik lange und es gibt auch so in die Richtung aber sie hat da irgendwie etwas was man nicht beschreiben kann was aber neu ist [I: mhm]. Oder vielleicht am HipHop die Fanta 4 waren damals neu das erste Mal das man bewusst deutschen Sprechgesang irgendwie hatte dann gabs da Gentleman der auch mal neu war in dem er HipHop irgendwie mit Reggae gemischt hat [I: mhm] und auch neu war in Deutsch und dann vielleicht KIZ oder so die auch neu waren für mich als ich sie das erste Mal gehört habe.“ (Steffen: 6)
Damit, dass Steffen sie im Subfeld der Popmusik verortet und auf dessen lange Geschichte anspielt, unterstreicht er ihren Status. Seine Einschätzung von Lady Gagas Innovationspotenzial unterstreicht er, indem er weitere Beispiele für Innovationen im Bereich der Popmusik anspricht. Dabei führt er mit den Fantastischen Vier und Gentleman zwei Beispiele ein, die für ihn Genrekonventionen erweitert haben – durch deutschsprachigen Gesang und im zweiten Fall auch durch die Kombination von stilistischen Elementen. Bei seinem letzten Beispiel KIZ kommt die persönliche musikalische Biographie mit ins Spiel. Darauf wird noch zurückzukommen sein (6.2.2.3). Die Suche nach dem Interessanten bzw. Innovativen beschränkt sich nicht auf die Populärkultur. Auch innerhalb der Hochkultur gibt es Neuerungen, Experimente, die von manchen HörerInnen gesucht und geschätzt werden. So hebt Johanna besonders hervor, was sie an den Veranstaltungen der Ruhrtriennale schätzt: „Und öh weil es Experimente gibt. Das sind alles neue Sachen. Und ich mag gern, oder umgedreht, wenn das ne zwei Jahre alte Inszenierung ist über die ich schon 50 Rezensionen lesen kann, dann ist mir das ein bisschen zu angestaubt. Ich möchte gerne unmittelbar was Neues dann ausprobieren. Und da sind ganz ganz ganz wunderbare Sachen dabei.“ (Johanna: 54)
Gerade in diesem Bereich hat die (analytische) Unterscheidung von Komposition und Interpretation ihren klassischen Ort.30 Wenn Johanna wie im obigen Zitat
30 Im Bereich populärer Musik stellt diese Unterscheidung eine meist rein theoretische Unterscheidung dar (siehe auch von Appen 2007: 96).
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darauf verweist, dass sie erstens Experimente wertschätzt und zweitens eine zwei Jahre alte Inszenierung als „angestaubt“ bezeichnet, wird klar, dass sie sich nicht (ausschließlich) auf ihre individuelle musikalische Biographie bezieht, sondern die Entwicklung des Feldes im Blick hat. Ein weiteres Indiz dafür ist der Hinweis auf die Rezensionen. Denn Johanna informiert sich intensiv mit Hilfe der Printmedien und zum Teil auch mittels des Internets über Kultur im Allgemeinen und Musik im Besonderen. Zusammenfassend lässt sich an dieser Stelle festhalten, dass die Dichotomie innovativ vs. reproduktiv in den Interviews sowohl auf legitime wie illegitime Genres Anwendung findet. In der Tendenz wird dabei Innovation grundsätzlich als positives Merkmal verwendet, wenn es nicht in Kombination mit anderen Kriterien (z.B. Authentizität) im Widerstreit steht. In den empirischen Daten sind die Übergänge zwischen musikimmanenten und funktionalen Legitimierungen und Bestimmungen von Musik fließend. Das anschließende Unterkapitel widmet sich den Letztgenannten.
6.2.2.2 Die Legitimierung von musikalischen Geschmacksurteilen mittels erwarteter Funktionen Wie Parzer (2011: 173ff.) feststellt, besteht eine Möglichkeit der Legitimierung musikalischer Geschmacksurteile darin, Musik über ihre erwartete Funktion zu bewerten: „Ob zum Tanzen, Chillen oder Autoputzen – die Qualität einer Musik wird hinsichtlich ihrer Eignung zur Untermalung bzw. Begleitung bestimmter Tätigkeiten und Situationen beurteilt“ (Parzer 2011: 173).31 Auf diese Form der Wertung soll hier im Folgenden eingegangen werden, wobei angemerkt sei, dass die erwartete Funktion immer an eine spezifische Nutzungsweise gebunden zu sein scheint. Deshalb erscheint hier die situative Rahmung wichtig für die positive oder auch negative Wertung von Musik. Diese wird von den Interviewten hinsichtlich ihrer individualisierten oder sozialen Funktion genutzt und bewertet. Sie wird zu Hause allein gehört, in Gesellschaft von Anderen im privaten Raum, sie wird auf Partys als stimmungsmodulierendes Element eingesetzt (siehe auch DeNora 2000). Dabei bewegen sich die meistens funktionalen Bestimmungen grob in zwei Referenzrahmen, einerseits im Kontext von Arbeit und andererseits im Kontext von Freizeit (Parzer 2011: 173).
31 Im Wesentlichen folge ich dieser Einteilung Parzers, wobei das Tanzen auf den anschließenden Seiten nicht diskutiert wird, da in der Regel musikimmanente Qualitätskriterien angeführt werden, um die „Tanzbarkeit“ einer Musik zu bewerten.
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(a) Musik als Nebenengagement: Wenn Musikhören als Tätigkeit nicht im Vordergrund steht, sondern ein „Nebenengagement“ (Goffman 1963/2009) darstellt, können andere Kriterien als rein musikimmanente bei der Wertung die Überhand gewinnen. Im folgenden Zitat ist es wichtig, dass Musik nicht stört: „(…) WDR2 stört halt nie, ist halt eigentlich ganz okaye Musik die da läuft, egal ob zum Kochen oder Zähneputzen, eigentlich immer ganz ok. Und 1Live ist halt auch, da kommt mal ein guter mal ein schlechter Song. Das ist ganz interessant und wichtig am Puls der Zeit zu sein, was im Moment so gehört wird“ (Steffen: 66).
Im Vordergrund von Steffens Ausführungen steht hier zunächst die Qualität von Radiosendern. Diese wird aufgrund der gesendeten Musik bestimmt, die als Nebenengagement für eine Vielzahl möglicher Hauptengagements in Frage kommen kann. Erwartet wird von ihm nicht durchgängig gute Musik, sondern Musik, die nicht aufdringlich ist. Unter den denkbaren Nebenengagements beim Kochen, Arbeiten, Autofahren etc. nimmt Musik eine herausragende Stellung ein. Musik wird als Hintergrundbeschallung genutzt, um die Arbeitsatmosphäre positiv zu beeinflussen, um die Stimmung zu modulieren, während andere Tätigkeiten im Vordergrund stehen usw.32 Zugleich kann es immer sein, dass wie im oben stehenden Zitat, das Nebenengagement temporär zum Hauptengagement wird. Wenn beispielsweise ein Lied im Radio gespielt wird, das die Aufmerksamkeit auf sich zieht, kann das Musikhören zum Hauptengagement werden und die Arbeit zum Nebenengagement. (b) Bescheid-wissen-wollen: Zudem hat das beiläufige Hören des Radios für Steffen auch die Funktion über den „Zeitgeist“ auf dem Laufenden zu sein, wie im obenstehenden Interviewauszug schon anklingt. In der Fortsetzung des Interviews wird das besonders deutlich: „I: Ist es wichtig zu wissen was die Anderen hören? S: Schon ja, mich interessiert schon was die Kids so hören [beide lachen] oder was in den Charts ist, ob ich das gut oder schlecht finde [I: mhm]. Das interessiert mich schon.“ (Steffen: 67-68)
32 Davon sind die Phänomene zu unterscheiden, welche DeNora unter dem Label Musik als Selbst-Technologie behandelt (2000: 46ff.). Dort geht es ihr um „actors as they engage in musical practices that regulate, elaborate, and substantiate themselves as social agents“ (DeNora 2000: 47).
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Musik zu hören, um informiert zu sein, steht hier als funktionale Bestimmung im Vordergrund. Dabei geht es Steffen anscheinend um zweierlei: Erstens kommt in seiner Aussage zum Ausdruck, dass Radiohören wichtiges musikspezifisches Orientierungswissen liefert. Zweitens kann dieses Orientierungswissen genutzt werden, zu einer eigenen wertenden Position in Bezug auf aktuell verbreitete Musik zu entwickeln. Das damit verbundene „Bescheid-wissen-wollen“ verweist auf einen weiteren Aspekt, der in den Interviews als positives Merkmal von Musik hervorgehoben wird und in unterschiedlichen sozialen Kontexten von Nutzen sein kann. (c) Musik als interaktive Ressource: Die eben genannte Form des Musik-Hörens ermöglicht, Musik als interaktive Ressource zu nutzen. Was im Radio läuft, ist für Steffen eine wichtige Ressource (ähnlich) wie Fußball oder Comics (Bogart 1955), um Interaktionsoptionen mit FreundInnen und KollegInnen zu eröffnen.33 So weist beispielsweise Fine (1977) darauf hin, dass eine Funktion von populärer Kultur das Sprechen über populäre Kultur sei. „I: Was ist denn das Interessante daran? (5s) Für dich? (7s) S: Es ist ja auch ein Gesprächsthema für Small Talk, also ich interessier mich glaub ich schon orginär dafür mhm aaaber mhm es hilft zumindest wenn man da auch son bisschen Bescheid weiß um Small Talk halt zumachen. Also für Small Talk im Berufsleben halt zu machen über die neuste heißeste Indie Band die eh keiner kennt bringt nichts aber das Lady Gaga jetzt ein neues Album raus hat kann ein Thema sein.“ (Steffen: 69-70)
Im Rahmen der Debatte um Omnivorizität vertritt auch Michael Emmison (2003) mit seinem Konzept der „cultural mobility“ eine Position, welche die Bezugnahme auf Musik als funktionale Kompetenz (bspw. im Berufsleben) versteht: „cultural mobility entails the display of cultural competence in a plurality of domains with concomitant social rewards accruing to those demonstrating these capacities“ (Emmison 2003: 213; siehe dazu auch 3.1.4). Eine weitere wichtige Funktion, die Musik zugeschrieben wird, und die für die Bewertung von Relevanz erscheint, verknüpft Musik und Erinnerungen.
33 Aber nicht nur die medial vermittelte Musik ist als interaktive Ressource von Nutzen. Auch das gemeinsam besuchte Konzert bietet genug anregenden Gesprächsstoff: „S: Ja das Gemeinschaftsgefühl es gibt natürlich was zu erleben mhm man zieht danach vielleicht noch rum oder weiter [I: mhm]. Man hat nen Anknüpfungspunkt für Gespräche.“ (Steffen: 22)
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(d) Musik und ihr Erinnerungspotenzial: Ein besonderes Potenzial, das Musik zugeschrieben werden kann, ist es Erinnerungen hervorrufen zu können (vgl. Parzer 2011: 176f.).34 Gerade auch Musik, die man zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht bewusst auswählen würde – oder vielleicht gerade diese? – hat laut Steffen das Potenzial Erinnerungen hervorzurufen. Auf die Frage hin, ob er noch alte Musik höre, antwortet er folgendermaßen: „Selten (2s) ich hör sie gerne wenn man vielleicht unterwegs ist im Club oder so und dann kommt nochmal ne alte Scheibe, dann sind das natürlich großartige Momente wenn man dann wieder daran zurückdenkt und dann die ganzen Erinnerungen hochkommen und die Zeit wo mans halt geil fand. Aber aber so alte Sachen klar ich geh halt gerne und viel auf Konzerte und vorher hör ich mir dann vielleicht ne alte Scheibe nochmal an. Jetzt im Juli fahr ich zu Metallica und natürlich wird dann vorher nochmal n Metallica Album auf iPod gezogen oder so [I: mhm] und in der Bahn gehört oder was auch immer. Aber nicht bewusst das ich mir jetzt irgendwie an den öööööh ne alte Scheibe einfach so nochmal anhören würde.“ (Steffen: 10)
Zu einem Teil wird das bewusst anvisiert, indem Konzerte mit dem intensiven Hören „alter“ Alben vorbereitet und Konzerte aufgesucht werden, die aufgrund der individuellen Musikbiographie von besonderer Relevanz sind. Zum anderen Teil kann es aber auch spontan geschehen, dass im öffentlichen Raum Musik gespielt wird, die bei Einzelnen Erinnerungen hervorrufen. Parzer formuliert in Bezug auf das Erinnerungspotenzial von Musik: „Musik wird mit ganz bestimmten Erinnerungen und Lebensphasen in Verbindung gebracht. Die Qualität einer Musik besteht demnach in ihrer Fähigkeit, diese Erinnerungen hervorzurufen und die Gefühle und Stimmungen der damaligen Zeit wieder aufleben zu lassen.“ (Parzer 2011: 176)
Hier wird deutlich, und das deckt sich mit meinen eigenen Interpretationen, dass bei dieser erwarteten Funktion von Musik der Zeitbezug ein anderer ist als bei den vorherigen. Während sich in der Regel die funktionalen Erwartungen an
34 Parzer fasst Qualitätszuschreibungen, die auf das Erinnerungspotenzial von Musik abstellen, als eigenständigen Typus von Legitimierung auf (Parzer 2011: 168, 176). Abweichend von dieser Bestimmung wird dieses Qualitätskriterium hier als Variante einer funktionalen Legitimierung verstanden, da sie in der Regel in den Interviews in derselben Art und Weise eingeführt wird.
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Musik auf die Zukunft beziehen, verweist das erwartete Erinnerungspotenzial zusätzlich auf die Vergangenheit. 6.2.2.3 Die Legitimierung von Geschmacksurteilen mittels musikexmanenter Qualitätskriterien Neben der Bewertung von Musik sowie Legitimierung von Geschmacksurteilen mittels musikimmanenter und funktionaler Qualitätskriterien kommen auch musikexmanente Qualitätskriterien zum Einsatz. Dazu lassen sich, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, die folgenden zählen: (a) Wertungen, die mit der Unterscheidung Kunst vs. Nicht-Kunst operieren; (b) Wertungen, die auf die Popularität als entscheidendes Kriterium abstellen; (c) Wertungen, die auf Authentizität als Kriterium fokussieren; sowie (d) Wertungen, die musikalischen Wert an der Dichotomie alt vs. neu in Bezug auf die individuelle Musikbiographie festmachen.35 (a) Kunst vs. Nicht-Kunst: Wie die historische Betrachtung der Unterscheidung von Kunst und Nicht-Kunst zeigt, ist diese stark abhängig von den Strukturen des Felds der kulturellen Produktion im Allgemeinen wie auch den Strukturen des Felds der Musik im Besonderen. So können sich beispielsweise die Grenzen zwischen KünstlerInnen (artists) und unterstützendem Personal (support personnel) verschieben, wie sich an der Aufwertung der Rolle von Produzenten und Toningenieuren zeigen lässt (Becker 1984: 16ff.; Kealy 1979). Der (konflikthafte) Wandel von Kunstfeldern bzw. Kunstwelten und ihren je spezifischen Konventionen hat auch Folgen für die Legitimationstheorien dieser Felder. Ein klassisches Motiv der Legitimierung, das im Zuge der Autonomisierung des Feldes der Kunst an Bedeutung gewonnen hat, ist die Verneinung kommerzieller Interessen (Bourdieu 1992/2001). So ist denn auch die Deutung, dass musikalisches Tun einer Logik des l’art pour l’art folgt, für einige meiner Interviewpartner eine positiv zu wertende Eigenschaft, die anhand unterschiedlicher Indizien bestimmbar ist. „Ähm (4s) gute Musik aus also ich glaube für mich das zieht sich durch n bisschen durch viele Bands durch die ich gut finde macht glaube ich aus dass man irgendwie dass sie irgendwie in dem Sinne gut gemacht ist dass man den Eindruck hat die Band oder wenns
35 Neben den hier diskutierten Kriterien gibt es auch schwer einzuordnende wie beispielsweise die Zusammensetzung der Band. Diese wird von Kim im Interview eingeführt (Kim: 12), die besonderen Wert auf Gruppen legt, welche mehrheitlich oder ausschließlich aus Frauen zusammengesetzt sind.
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jetzt eben ne Band ist hat ähm macht die Musik vor allen Dingen der Musik wegen oder vor allen Dingen oder hat eben Spaß an der Sache und das finde ich kann man besonders wenn man n Band vielleicht auch live sieht glaube ich schon nen bisschen merken oder wenn man ne Band vielleicht nen bisschen mehr hört (…)“ (Michael: 6).
So behauptet Michael in diesem Interviewauszug, dass sich erstens durch den Eindruck beim Konzertbesuch als auch zweitens durch wiederholte Beschäftigung mit der Musik einer Band darauf schließen lasse, ob das musikalische Handeln ausschließlich oder zumindest mehrheitlich um der Musik willen motiviert sei. Aufgrund von Indizien wird auf eine Motivstruktur der MusikerInnen geschlossen, die sich auf das Schlagwort Musik um der Musik willen bringen lässt.36 Neben der zugeschriebenen künstlerischen Motivstruktur lassen sich Referenzen zu anderen künstlerischen Feldern oder die künstlerische Qualität von Songtexten etc. nutzen, um für die Aufwertung (populärer) Musik als Kunst zu argumentieren wie Michael im folgenden Auszug am Beispiel von REM zeigt: „Ähm (1s) also ich könnt das zum Beispiel jetzt an dem Beispiel von REM sagen dass die durchaus ähm (2s) für mich ähm (2s) son also ich hab sicherlich vorher auch schon Musik gehört als ich so ich sag mal bis zum Alter von circa 17 oder so aber das war durchaus dann eher was (1s) was grad auch auch ma auf auf Bravohits war oder vielleicht auch ein paar Sachen die man selber wie Toten Hosen oder was man in der Zeit vielleicht so ähm aufschnappt und irgendwie auch gut findet (1s) ähm aber das war irgendwie für mich son Punkt ähm (1s) wo ich sag wo wo ich angefangen hab mich für Musik zu interessieren aber gleichzeitig was für mich so ne neue Welt n bisschen geöffnet hat (1s) eben mit eben mit Referenzen auch zu Literatur und Kunst und und äh (1s) also dass ich auch angefangen hab dass ich Texte interessant finde (…)“ (Michael: 10).
Am Beispiel seiner eigenen musikalischen Biographie – in der REM eine herausragende Relevanz besitzt – stellt Michael einen Zusammenhang zwischen Interesse für Musik und Interesse für Kunst und Literatur her. Das Verknüpfen unterschiedlicher Subfelder kultureller Produktion wird genutzt, um die wertgeschätzte Musik aufzuwerten. REM fungiert in Michaels Beispiel als Startpunkt einer Beschäftigung mit diversen künstlerischen Formen. Der Verweisungszu-
36 Dabei können die Wahrnehmungen von Musizierenden und Publikum aufgrund abweichender Qualitätskriterien und Erwartungsstrukturen deutlich voneinander abweichen. Dieser Schluss lässt sich bereits aus Beckers Analysen zu Jazzmusikern ziehen (Becker 1966).
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sammenhang zwischen Musik und Kunst in ihren diversen Formen wird auch in anderen Interviews genutzt, um Musik aufzuwerten. So interpretiert Konrad beispielsweise Marilyn Manson als Gesamtkunstwerk, wie folgendes Zitat deutlich macht: „(…) Ja ähm oder Marilyn Manson auch son Phänomen. Eigentlich relativ schlechte Musik [lacht]. Eigentlich. Aber für das was er steht als Person (1s) wird des nen Kunstprojekt insgesamt und dann wirds schon wieder cool.“ (Konrad: 33)
Die Zuschreibung des Kunstcharakters steht dabei in Konrads Geschmacksurteil innerhalb der Hierarchie der Qualitätskriterien höher als musikimmanente Kriterien. So kann er, obwohl er aufgrund musikimmanenter Kriterien die Musik Mansons als „relativ schlechte Musik“ qualifiziert, zu einem positiven Gesamturteil kommen. Resümierend lässt sich feststellen, dass in den untersuchten Interviews die Zuschreibung des Kunstcharakters genutzt wird, um Musik aufzuwerten – oder ihr die Berechtigung abzusprechen. Dazu stehen verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung. Es lässt sich auf die Motivstruktur (Musik um der Musik willen) oder Eigenschaften (Kreativität, Genie) der Musizierenden abstellen; im Spiel der Referenzen lassen sich Bezüge zu anderen künstlerischen Formen herstellen und bereits das Labeling von Musik als Kunst kann eine Aufwertung implizieren. (b) Popularität und Kulturbedeutung: Neben der Motivstruktur der Musizierenden und den Verweisen auf andere Subfelder der künstlerischen Produktion kann auch die zugeschriebene Popularität bzw. Kulturbedeutung als Legitimierung eines Geschmacksurteils angeführt werden. Dass diese nicht zwangsläufig auf den Kanon legitimer Genres verweist, zeigt sich in der folgenden Interviewpassage: „Vom Songcontest allgemein? [I: Mhm] Das is die äh größte Show auf dem Planeten [I: mhm] deshalb find ich das Format so gut, es gibt nichts Vergleichbares, vielleicht noch den Oscar oder die MTV Music Awards oder so aber ok das sind halt die großen amerikanischen Sachen. Der ESC ist die größte europäische Show und das fetteste Event das es halt irgendwie gibt. Und öhm ich fand den früher immer scheiße aber in letzter Zeit find ich den irgendwie gut, weil die Songs auch besser werden, es gibt natürlich Ausreißer die irgendwelche Balkanbands mit Strohhüten oder sowas die das irgendwie selbstironisch nehmen aber inzwischen find ich den großen Teil der vertretenen Songs gut weils halt gut gemachte Popmusik is. Und ich find die Idee so toll. Europameisterschaft der Songs (…)“ (Steffen: 56).
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Eingangs unterstreicht Steffen den exzeptionellen Charakter des ESC als „größte Show auf dem Planeten“. Diese Qualifizierung ist doppeldeutig, insofern sie einerseits auf die Reichweite, d.h. Popularität im engeren Sinne verweisen kann oder andererseits auf die Kulturbedeutung des Events. Anschließend stellt er den ESC in eine Reihe mit der Oscar-Preisverleihung oder den MTV Music Awards. Durch diesen Vergleich wird die Popularität des ESC unterstrichen, denn mit den Oscar-Preisverleihungen und den MTV Music Awards werden zwei weitere etablierte Beispiele von Preisverleihungen genannt, die eine große mediale Verbreitung erreichen. Aber die Nennung der Oscar-Verleihungen löst die Spannung zwischen Popularität und Kulturbedeutung nicht vollkommen auf, da dieser Wettbewerb von entscheidendem Gewicht im Feld des Films ist. Die Analogie zu Sportwettbewerben, die am Ende des Zitats angeführt wird, lässt die Ambivalenz aufrechtstehen, da sie sich auf die „Idee“ des Wettbewerbs bezieht. (c) Authentisch vs nicht-authentisch: Authentizität verweist auf eine Vielzahl von erwünschten Qualitäten (Grazian 2010: 191). Sie lässt sich aus soziologischer Perspektive mit Ehre vergleichen: „Like a badge of honor, authenticity connotes legitimacy and social value, but like honor itself, authenticity is also a social construct with moral overtones, rather than an objective and value-free appraisal” (Grazian 2010: 191f.). Da die Soziologie Authentizität in der Regel als soziales Konstrukt in den Blick nimmt, gibt es mittlerweile eine Reihe von empirischen Studien, welche die Konstruktions- und Zuschreibungsprozesse instruktiv in den Blick nehmen (bspw. im Feld der Musik: Grazian 2003; Hughes 2000; Parzer 2011; Peterson 1997b). Für den Bereich der (populären) Musik formuliert Parzer: „Als ‚authentisch‘ (und damit als qualitätsvoll oder ‚gut‘) gilt Musik, von der angenommen wird, sie repräsentiere die ehrlichen künstlerischen und politischen Intentionen der MusikerInnen – im Gegensatz zu einer Musik, die ausschließlich als ein Produkt kommerzieller Interessen angesehen wird.“ (Parzer 2011: 191)37
37 Während Parzer Authentizität als zentrales Deutungsmuster im Feld der populären Musik analysiert, wird es hier als Qualitätskriterium verstanden. Ähnlich wie von Appen (2007) kommt Authentizität damit als Qualität in den Blick, die Gegenstand von musikexmanenten Zuschreibungen ist. Von Appen spricht deshalb folgerichtig in seiner Untersuchung von „Authentizität und anderen menschlichen Qualitäten“ (von Appen 2007: 115ff.).
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Wie sich an dieser Bestimmung zeigt, ist das Verhältnis der Unterscheidungen Kunst vs. Nicht-Kunst und authentisch vs. nicht-authentisch nicht immer trennscharf zu vollziehen.38 Hier soll versucht werden beide Unterscheidungen als relevante Qualitätskriterien analytisch getrennt voneinander zu behandeln. Das ist natürlich davon abhängig, wie die Interviewten auf die Qualitätskriterien Bezug nehmen und diese verwenden. Wie bestimmen sie die Authentizität von KünstlerInnen? Ehrlichkeit wird im folgenden Auszug von Steffen als Indiz für die Authentizität einer Künstlerin in Anschlag gebracht: „Ja. (3s) Was ist authentische Musik? Ist Lena authentisch? Ich glaub schon. Es gibt=mhm (2s) ich würde das glaub ich so beschreiben das man den Musikern anmerkt dass sie es gerne machen und es nicht nur ein normaler Job ist für sie [I: mhm]. Das ist glaub ich was ich mit authentisch meinte. Und ich möchte nicht abstreiten das ne Opernsängerin oder ein Jazzmusiker das auch gerne macht öhm aber ich sehs beiden nicht an.“ (Steffen: 130)
Steffen spricht in diesem Zitat den VertreterInnen zweier legitimer Genres exemplarisch die Authentizität ab und Lena hingegen zu. Die „ehrliche“ Darstellung, dass Musik mehr ist als nur ein „Job“, überzeugt ihn. Mit der Referenz auf Musik als „normalen Job“ führt Steffen eine negative Kontrastfolie ein, die vielfache Assoziationen hervorrufen kann: ökonomische Interessen, Arbeitsroutinen, Alltäglichkeit sowie eine klare Trennung der Sphären Arbeit und Leben. Die Anforderung, die er dabei vorbringt, beinhaltet eine emotionale Bindung an die Arbeit, die auch beobachtbar sein muss. Da häufig nur medial vermittelte Informationen zur Verfügungen stehen, um die Authentizität einzuschätzen, gewinnt das Image des Künstlers für die Legitimierungen an Bedeutung (vgl. Borgstedt 2007; Kautt 2008; Keller 2008; Reckwitz 2012). In die Bewertung des Images fließen ganz heterogene Informationen ein. So gehört auch die Kleidung laut Kim dazu. Diese muss jedoch auch „richtig“ getragen werden, damit sie nicht als Ver-Kleidung wahrgenommen wird: „(…) Weil für mich ist das schon wichtig. Also es hört sich jetzt irgendwie oberflächlich an aber so mir ist auch wichtig dass die Künstler gut angezogen sind [lacht] also das ganze Image ist für mich schon (2s) ähm nicht ausschlaggebend aber (1s) ist natürlich Teil davon ob man die Musik gut findet [I: mhm]. Wenn da jetzt irgendwie weiß ich wat jemand in
38 Ein gemeinsames Element scheint die Verneinung ökonomischer Interessen darzustellen, die sowohl in Bezug auf Kunst (Bourdieu 1992/2001) als auch in Bezug auf Authentizität (Parzer 2011) wiederholt vorzufinden ist.
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nem Jutesack auf der Bühne steht dann obwohl kommt drauf an wie er es rüberbringt [lacht] vielleicht findet mans dann auch zum Teil originell (…)“ (Kim: 92).
Die Darstellungsleistung auf der „Bühne“, auf die Kim hier anspielt, wird im folgenden Kapitel noch einmal gesondert in den Blick genommen. In Bezug auf das Thema Authentizität ist hier festzuhalten, dass die Glaubhaftigkeit, die Authentizität von KünstlerInnen auch an außermusikalischen Aspekten wie der „richtigen“ Kleidung festgemacht wird. Bei szenebasierten Musikstilen kommen weitere Lebensstilindizien für die Bewertung hinzu.39 So antwortet Konrad folgendermaßen, nachdem er auf die besondere Bedeutung von Punkrock für ihn angesprochen wurde: „Ich glaub das Lebensgefühl was damit verbunden is. Ähm des is einfach es is (1s) es is so nen so nen Teil Rebellion und es is nen Teil der Versuch ne Freiheit zu leben die die du eigentlich nicht leben kannst aber es ist zumindest der Versuch auch (1s) auch ne stückweit gesellschaftliche Fesseln abzulegen wobei es dann ja im Bereich selber wie genau die gleichen Fesseln gibt also das ist nicht der Punkt. Aber es ist die Musik steht dafür für diesen Gedanken oder für diese diesen Wunsch oder auch für diese (1s) ja eigentlich für den Wunsch oder für diese Sehnsucht. Diese Möglichkeit zu ham und steht für mich auch für die Sehnsucht nach ner anderen Welt. (…)“ (Konrad: 37).
Das „Lebensgefühl“, auf das er verweist, gehört zur illusio der Szene und wird von den Szenemitgliedern als positives Qualitätskriterium hochgehalten.40 Konrad stellt hier relativ klar auf die Verbindung von Musik und politischen Haltungen ab, die er am Punkrock positiv bewertet. Im Umkehrschluss kann das bedeuten, dass die „falsche“ politische Haltung zur Abwertung von Musik führen kann – wie er an anderer Stelle im Interview am Beispiel der deutschsprachigen Band „Böhse Onkelz“ vorführt (Konrad: 87). Gerade die authentische „falsche“ politische Haltung wird dann zum Gegenstand negativer Zuschreibungen.
39 In der 2003 erschienen Studie „Is this real?“ zeichnen Klein und Friedrich (2003) die kulturelle Praxis des HipHop nach. Hierbei zeigen sie u.a. auf, wie „Realness“ als szeneinternes Qualitätskriterium fungiert und wie Realness hergestellt wird. 40 Insgesamt sei hier angemerkt, dass es gerade innerhalb der unterschiedlichen musikzentrierten Szenen eine Vielzahl von szenespezifischen Qualitätskriterien gibt, die auf die bisher genannten Kriterien nur bedingt reduzierbar sind. Hier ist die Forschungsliteratur zu einzelnen Szenen instruktiv (siehe auch Kapitel 3.2.1).
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(d) alt vs. neu: Ein wichtiger Aspekt, der zum Bewerten von Musik herangezogen wird, lässt sich auf die Dichotomie alt vs. neu zuspitzen. Sie findet in meinen Interviews sowohl in Bezug auf Populär- als auch Hochkultur Verwendung. Anders als die musikimmanente Zuschreibung von Qualität auf Basis der Unterscheidung innovativ vs. reproduktiv bezieht sich die Wertung hier auf die individuelle Musikbiographie. Die folgenden Beispiele werden das verdeutlichen. Steffen berichtet über seine individuelle Musikbiographie, die deutlich durch den wechselnden Konsum unterschiedlicher, zumeist weniger legitimer Genres geprägt ist: „Ich hab angefangen irgendwie mit Queen und dann kamen irgendwie AC/DC und Metallica dazu und das war alles irgendwie neu für mich Queen noch irgendwie so n kleiner Stoppsen davor gabs die ZDF Hitparade, Queen war so das erste was für mich meine Musik war also was ich nicht mit meinem Eltern oder so zusammen gehört habe sondern selber alleine Queen gehört (…)“ (Steffen: 8).
Das Neue an Queen und allem, was folgen wird, ist zunächst, dass Steffen beginnt einen „eigenen“ Geschmack zu entwickeln, der von den musikalischen Präferenzen der Eltern abweicht. „(…) Dann irgendwann AC/DC und Metallica das wurde dann auch irgendwann langweilich dann ähm hat der Bon Jovi hab ich auch viel gehört das wurde dann auch irgendwie langweilich und dann wie eben angesprochen kam so ne kleine HipHop Phase weil der deutsche HipHop halt irgendwie neu war“ (Steffen: 8).
So wie Steffen seine musikalische Entwicklung nacherzählt, ist sie von starken Wechseln geprägt – Langeweile ist ein negatives Qualitätskriterium –, und um interessant zu sein, muss die Musik neu (für ihn) sein. Zugleich zeigt sich aber auch gegen Ende des Auszugs, dass die individuelle Musikbiographie nicht vollkommen unabhängig von den Entwicklungen des Felds der Musik verlaufen muss. Die zeitweilige „Neuheit“ deutschsprachigen Gesangs im HipHop erregt Steffens Aufmerksamkeit – hier kommen genreinterne Innovation und individuelle musikalische Biographie zeitweilig zur Deckung. Neben der Bewertung von Musik anhand musikimmanenter, funktionaler und musikexmanenter Qualitätskriterien finden sich in den Daten auch Legitimierungen in Bezug auf habitualisierte Hörstrategien, die den Fokus der anschließenden Ausführungen bilden.
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6.2.2.4 Die Legitimierung von musikalischen Geschmacksurteilen in Bezug auf habitualisierte Hörstrategien Da sich die Bewertung von Musik und die Legitimierung von Geschmacksurteilen nicht neutral gegenüber den damit verbundenen (habitualisierten) Hörstrategien verhalten, werde ich im Folgenden näher auf verschiedene Praxen und die damit verbundenen Hörstrategien eingehen. In einem ersten Schritt schließe ich an die Differenz von (a) Vergnügen und Genuss an, die Bourdieu in „Elemente einer soziologischen Theorie der Kunstwahrnehmung“ (1966/1974) vorformuliert. Im Zusammenhang dieses Abschnitts geht es darum, die unterschiedliche Rolle des Körpers für habitualisierte Hörstrategien anzusprechen. Daran anschließend werden (b) zwei Praxen des Musikhörens und die damit verbundenen Qualitätskriterien für Musik untersucht: das Hören von Tonträgern und das Besuchen von Konzerten. Die grundlegende These lautet, dass die Zuschreibung von Qualitäten zumindest mit einigen Kriterien in Abhängigkeit von den Hörstrategien zu stehen scheint. Materielle Tonträger, objektiviertes kulturelles Kapital, weisen spezifische Eigenschaften auf, die für die Zuschreibung von Qualitäten und die Legitimierung von Geschmacksurteilen genutzt werden können. Ebenso lässt sich das (c) Auftreten einer Musikgruppe typischerweise auf zwei Wegen beurteilen: (i) wenn man einem Live-Auftritt beiwohnt oder (ii) (medial) vermittelt über ihr Auftreten informiert wird. Der Bezug auf die öffentliche Darbietung, sprich das Konzert, bietet wiederum Anknüpfungspunkte für spezifische Wertungen, welche die Beurteilung von Tonträgern nicht bieten. (a) Vergnügen vs. Genuss: Eine zentrale Differenz zwischen legitimen und illegitimen Rezeptionsweisen macht Bourdieu an der Rolle des Körpers fest. Die Rezeption und damit auch die Bewertung legitimer Genres folgen dem Muster des gelehrten Genusses – ist also wesentlich dem körperlichen Vergnügen feindlich gegenüber eingestellt –, wohingegen der vergnügte Konsum populärer, d.h. weniger legitimer Genres stärker den Körper mit einbezieht (Bourdieu 1966/ 1974). Die Reichweite der unterschiedlichen körperlichen Verhaltensweisen, die als legitim gelten können, weisen dabei seit der Ausdifferenzierung des Feldes der Musik eine große Spannweite auf, wie sich bereits anhand der unterschiedlichen Konventionen des Klatschens zeigen ließe.41 Bis zu einem gewissen Grad lässt sich die unterschiedliche Rolle, die dem Körper im Rahmen von Musikre-
41 An dieser Stelle sei auf eine Reihe historischer Studien zu Publikumsverhalten und Opern wie Konzerten verwiesen: Müller (2006), (2012); Storey (2003) und Ziemer (2008).
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zeption zugestanden wird, auch in den Bewertungen meiner InterviewpartnerInnen wiederfinden. Ein Qualitätskriterium, das vor allem im Hinblick auf populäre Genres geäußert wird, ist das Potenzial zu einer bestimmten Musik zu tanzen. Zwar sind einige der heute als legitim angesehen „Standardtänze“ zum Zeitpunkt ihrer Entstehung eher als kulturgefährdend angesehen worden – der Walzer sei hier als Beispiel genannt (vgl. Wicke 2001: 45ff.) – aber auf diese beziehen sich meine InterviewpartnerInnen nicht, wenn es darum geht, dass Musik gut zum Tanzen sei.42 „I: Ist dann bei Rock eigentlich auch wichtig, dass du dazu tanzen kannst? R: Ja schon. Was ich auch wichtig finde ist Gesang. Also ich mag eigentlich kaum Musik die nur instrumental ist dann an dem Gesang kann ich mich halt so en bisschen festhalten und bei Rock find ichs halt super wenns so ein bisschen aggressiver ist wo man so richtig dann auch beim Tanzen halt (1s) sich so richtig auspowern kann also nicht dass ich dann total krass headbange aber dass man schon richtig mitgehen kann (…)“ (Kim: 3-4).
Neben dem Gesang als Qualitätskriterium führt Kim hier ein, dass es eine spezifische Qualität von Rockmusik sei, sich dazu „auspowern“ zu können. Der Einsatzes des Körpers – innerhalb gewisser Grenzen, denn Headbangen gehört für sie nicht dazu – steht hier im Vordergrund. Das Zusammenspiel mit anderen TanzpartnerInnen, das Spiel mit Nähe und Distanz usw. spielt in ihren Ausführungen keine Rolle. Sich beim Tanzen auszuagieren, erscheint in diesem Verständnis als individualisierte Praxis. In Bezug auf Musik, die „normalerweise“ nicht geschätzt wird, kann die Rahmung des „Tanzengehens“ dafür sorgen, dass diese Musik – beispielsweise Schlager – goutiert wird. „Ja Schlager können wieder ganz lustig sein also wir haben letztens den Eurovision Song Contest geguckt der ist ja inzwischen weit weg vom Schlager aber dann guckt man halt irgendwelche Sendungen von irgendwelchen früheren Schlagerauftritten und das kann schon mal ganz lustig sein weil das inzwischen schon so so Klassiker geworden sind [I: mhm] ich würds mir glaub ich nich so alleine zu Hause anhören aber so auf ner Party wenn man Tanzen geht dann kann das ganz spaßig sein so Marianne Sägebrecht oder sowas [I lacht].“ (Dana: 10)
42 In Verbindung mit dem Walzer führt Wicke aus: „Tanz und Musik sind die Techniken, die dem Körper sowohl die sozialen Distanzverhältnisse wie auch die Geschlechtsverhältnisse aufprägen. Zudem sind sie ein Feld, auf dem diese Verhältnisse ohne gesellschaftliche Repressionen unterlaufen werden können“ (Wicke 2001: 47).
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Dana betont, dass sie diese Musik nicht allein anhören würde. Im Rahmen eines Events, einer Party oder Ähnlichem (man denke an den rheinischen Karneval) kann diese Geschmacksgrenze jedoch gemeinsam mit anderen übertreten werden. Ihr Freund Steffen, mit dem sie zusammen wohnt, bringt eine weitere Komponente ins Spiel, die den Konsum illegitimer Musik legitimiert: „Ja kommt auf die Party an, mit viel Alkohol würde ich wahrscheinlich mitfeiern.“ (Steffen: 134) Wenn Alkohol als notwendige Bedingung eingeführt wird, um eine Musik zum Tanzen oder Feiern gut zu finden, dann scheint darin wieder ein Moment auf, dass bereits die Aussage Danas, „das würde ich allein nicht hören“ implizit in sich trug: beide entschuldigen ihr Verhalten, und dass sie Musik gut finden, die sie ansonsten nicht schätzen, denn das Vergnügen ist den sozialen Umständen und/oder dem Alkoholkonsum geschuldet. Dabei kann, wie dies Steffen vorführt, die Verantwortung für die Entscheidung delegiert werden. Im Vordergrund steht dann das erhoffte Gemeinschaftsgefühl, das auch als Qualitätskriterium für Konzerte genannt wird (vgl. 6.2.3.1): „Man wird natürlich gefragt von Freunden oder Kumpels und wenn das irgendwie ok ist dann mach ich den Spaß natürlich mit. Es gibt ja auch Sachen die live grandios sind aber auf Platte oder einfach nur hören, mir wärs unbegreiflich wie man sich allein zu Hause oder unterwegs irgendwie Techno anhören würde [I: mhm] oder elektronische Musik, Minimal Music, das ist ja nichts was man sich per Kopfhörer aufm Fahrrad in der Bahn anhören kann. Also wär mir unbegreiflich das zu machen, würde mich nach knappen 30 Sekunden so derbe annerven, dass es gar nicht mehr ginge. Aber wenn mich jemand fragt ‚gehen mir in den Club?‘ Klar, würd ich hingehen unabhängig davon was fürn Künstler das jetzt wär (…)“ (Steffen: 16).
Starke positive wie negative musikbezogene Wertungen lassen sich in eine Sprache kleiden, die körperbezogene Metaphern mobilisieren. So formuliert Konrad seine Aversion gegenüber indischer Musik zugleich drastisch wie prägnant: „Und ich find (1s) furchtbare Musik zum Beispiel jetzt ums Negativbeispiel zu machen indische Musik die überhaupt keine klare Struktur hat da krieg ich nen Hals. Da rollts mir die Fußnägel hoch. Weil ichs schlicht und ergreifend nicht kapiere. Ja weil ich nach ner Struktur suche weil ich das so gelernt habe oder so ähm ja so so erlernt habe und ähm diese Struktur mir nicht gegeben ist. Und das ist auch teilweise bei klassischer Musik der Fall für mich oder im Jazz auch furchtbar [lacht kurz].“ (Konrad: 25)
Wie Rössel (2009) in einer Studie zu OpernbesucherInnen herausgearbeitet hat, finden sich (starke) emotionale Zugänge zu Musik auch im Bereich der legitimen
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Genres. Was sich allerdings in standardisierten Befragungen nur schwer zeigen lässt, ist die Verbindung von Emotionen und analytischem Hören. Konrads Beispiel sei hier stellvertretend genannt für all jene Aussagen, die auf das Nachvollziehen musikalischer Strukturen, sprich das analytische oder strukturierte Hören (Adorno 1975) verweisen. Klassisch würde man davon ausgehen, dass sich eine analytische Haltung Musik gegenüber, die auf formale Strukturen abstellt, nicht derart emotional äußert. Auffällig ist deshalb, dass Konrad hier starke emotionale Reaktionen mit einem analytischen Hören kommunikativ verbindet. Neben emotionalen Reaktionen auf Musik sind es vor allem Stimmungen, die Musik transportieren oder erzeugen kann, welche von meinen InterviewpartnerInnen zur Bewertung und Legitimierung herangezogen werden.43 So führt Dana häufig eine Stimmung oder Emotion an, die gute Musik transportiert, die Melancholie: „Würd ich so ganz allgemein sagen aber das kann auch durchaus mal was anderes sein, das kann auch Country sein wenns nett ist, wenns irgendwie nen melancholischen Touch hat find ichs meistens gut [I: mhm] dann kanns sogar Metal sein. Ich hab am Donnerstag ne Metalband gesehen und die waren super musikalisch für mich jetzt also es war mir dann auf Dauer zu laut aber wie die aufgetreten sind war einfach super (1s).“ (Dana: 2)
Die emotionale Qualität, die einer Musik zugeschrieben wird, wird hier im Interviewauszug von Dana als genreübergreifendes Qualitätskriterium verwendet. Der „melancholische Touch“, den sie hierfür mobilisiert, hat sogar das Potenzial Genregrenzen, die normalerweise nicht unwichtig für sie sind, in ihrer Relevanz einzuschränken. Der Konnex von Genuss und Vergnügen, von körperlichem Erleben und analytischem Nachvollziehen von Musik stellt sich in den hier präsentierten Interviewpassagen als äußerst komplex dar. Während klassischerweise – Adornos Hörertypologie ist hierfür das prominenteste Beispiel (Adorno 1975: 14ff.) – der gelehrte Genuss und das körperliche oder emotionale Vergnügen idealtypisch voneinander getrennt werden, zeichnet die empirische Realität ein zunächst verwirrendes Bild: analytische Zugänge zu Musik gehen Hand in Hand mit starken Emotionen, wenn die Analyse misslingt (Konrad); Musikgenres und Inhalte, die normalerweise abgelehnt werden (z.B. Schlager), sind der Soundtrack zum Feiern (Dana und Steffen). Der Schluss liegt nahe, davon auszugehen, dass es sich bei Genuss und Vergnügen um Modi der Rezeption bzw. habitualisierte Hörstra-
43 Siehe hierzu auch die Beiträge von De Nora und andern im „Handbook of Music and Emotion: Theory, Research, Applications“ (Juslin/Sloboda 2011).
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tegien handelt, die sich nicht wechselseitig ausschließen, sondern situationsspezifisch mobilisiert werden können. Dabei erscheint das körperliche Vergnügen nicht weniger voraussetzungsvoll als der gelehrte Genuss, um die Unterscheidung Bourdieus wieder aufzugreifen. Denn die (impliziten) Konventionen musikalischer Genres umfassen sowohl das Material für die gelehrte Aneignung von Musik als auch ein Verhaltensrepertoire für die angemessenen körperlichen wie emotionalen Reaktionen auf Musik.44 (b) Das Hören von Tonträgern: Eine der nach wie vor wichtigen Vermittlungsoder Erscheinungsformen von Musik ist der materielle Tonträger. Auch wenn die meisten meiner InterviewpartnerInnen über MP3-Dateien verfügen, so haben sie doch im Laufe ihrer individuellen Musikbiographie eine mehr oder weniger große Menge von Tonträgern angehäuft. Dazu gehören Schallplatten, CDs oder auch Musikkassetten. Diese bieten nicht nur andere Möglichkeiten des Ordnens von Musik an (vgl. Kapitel 6.1.2), sondern sind auch Gegenstand von wertenden Aussagen und musikalischen Geschmacksurteilen. Den unterschiedlichen Tonträgern werden in den Interviews verschiedene Qualitäten zugeschrieben. Zum einen wird die Praktikabilität bewertet. Daneben beziehen sich die Wertungen auf die Klangqualität, Merkmale der Produktion aber auch die ästhetischen Qualitäten des Tonträgers wie des Cover-Artworks. Gerade die jüngeren InterviewpartnerInnen im Sample weisen zum Teil ein ambivalentes Verhältnis zum materiellen Tonträger auf. Stellvertretend sei hier Dana zitiert: „I: Kaufst du dann auch elektronisch Musik? D: Ne das nicht [I: das nicht] ich muss mir immer noch was in den Schrank stellen können [I: mhm]. Also ich brenn mir manchmal auch was von Freunden dann äh zieh ich mir das auf den Rechner ich muss das nicht unbedingt auf nem Rohling drauf haben aber ist schon schöner ne CD zu haben [I: mhm]. Da bin ich ganz rückwärts gewandt. [I lacht] Ich finds auch recht ärgerlich dass ich die Pet Sounds nur auf Vinyl habe, ich kann die nie über den iPod hören und ja das find ich schon fast wieder schade. Wenn dann möcht ich schon fast wieder beides haben.“ (Dana: 47-48)
Obwohl sie viel Musik „am Rechner“ hört oder wenn sie unterwegs ist auf ihren iPod zurückgreift, kommuniziert Dana das Bedürfnis einen materiellen Tonträ-
44 So wie Marihuana-KonsumentInnen (Becker 1966) lernen müssen, kompetente KonsumentInnen zu sein, setzen auch Vergnügen und Genuss sowie deren „richtige“ Artikulation Lernprozesse voraus.
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ger zu besitzen und in ihre Sammlung einzugliedern.45 Dass sie auch Vinyl besitzt – zumal mit Pet Sounds ein kanonisches Werk der populären Musik – ist typisch für die vielseitigen Umgangsweisen mit Musik, die ihre Generation aufweist.46 Auf die Nachfrage des Interviewers zu ihrem Verhältnis zu Vinyl äußert sie Kriterien, welche die Schallplatte gegenüber CDs (und indirekt gegenüber Musikdateien) aufwertet: „Also ich find halt Vinyl also grade so alte Sachen die früher nur auf Vinyl rausgekommen sind da finde ich es schade mir die nur auf CD zu holen also irgendwie hab ich das Gefühl da stimmt was nicht [I: mhm]. Das muss irgendwie eine große sperrige Platte sein die man am besten mit einem Handschuh anfasst und dann muss das knistern und so (1s) und ich hab zum Beispiel was von Jimi Hendrix das würde ich mir nie auf CD kaufen. Das ist auch einfach was Besonderes wenn man sich das anhört. Man legt dann halt ne Platte auf, man schmeißt nicht einfach nur ne CD an sondern man legt ne Platte auf [I: mhm]. Also das find ich schon noch nen Unterschied.“ (Dana: 50)
Hier bringt sie gleich mehrere Qualitätskriterien in Anschlag, um ihr Geschmacksurteil zu legitimieren. Obwohl sowohl Schallplatte als auch CD als massenhaft reproduzierbare Tonträger miteinander verwandt sind, präferiert Dana für Musik, die vor Erfindung bzw. Durchsetzung der CD erschienen ist, das „Original“, sprich: die Schallplatte. Diese wird von ihr mit einer besonderen Klangqualität verbunden – das Knistern gehört dazu und ist ein Qualitätsmerkmal. Ein weiterer Aspekt ist die scheinbare Außeralltäglichkeit des Schallplatten-Abspielens, die durch die „Handschuhe“ angedeutet wird. Das Hantieren mit Objekten unter Zuhilfenahme von Handschuhen erschließt einen aufschlussreichen Assoziationshorizont. Mit Handschuhen fasst man teure, seltene und empfindliche Objekte an, um sie vor Schädigungen zu schützen. Man könnte an alte Handschriften in Archiven denken. Am einen Ende des Spektrums stehen Schallplatten, die sich sehr gut als rare Originale werten lassen, am anderen Ende Dateien, die das geringste Potenzial aufweisen als „Originale“ gedeutet zu
45 Soziologische Studien zur Praxis des Plattensammelns liegen bislang nur im begrenzten Umfang vor (vgl. Brunner 2002; Shuker 2010). Daneben gibt es eine Reihe von Publikationen, die sich mit den Phänomenen des Sammelns auseinandersetzen. Exemplarisch sei hier auf Baudrillard (1968/1991), Hahn (1991) sowie Stagl (1998) verwiesen. 46 Das Anlegen digitaler Musiksammlungen ist bisher wenig untersucht worden. Eine Ausnahme stellt die Studie von Kibby (2009) dar. Weitere Anregungen lassen sich aus Studien zum mobilen Musikhören ziehen (vgl. Beer 2008, 2010; Bull 2007).
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werden. Für sie spricht laut Dana lediglich die Praktikabilität. Damit wird auch deutlich – das ist ein weiterer Aspekt –, dass die Zuschreibung von Qualitäten auf Tonträger verbunden ist mit spezifischen Hörweisen. Während sich mobiles Hören großer Wertschätzung durch einige der Befragten erfreut, heben andere positiv hervor, dass Tonträger wie die Schallplatte zu einer immobilen Nutzung zwingen. Vinyl ermöglicht damit, aufgrund der immanenten Zwänge der Sachstrukturen, zu einer konzentrierten Rezeption des Mediums. MusikliebhaberInnen wie Dana ziehen daraus aber nicht zwangsläufig die Konsequenz vollständig auf das Medium Vinyl umzustellen. „I: Aber du würdest jetzt nicht auf die Idee kommen öh (1s) deine Sammlung jetzt auf Vinyl umzustellen? D: Eheh nein das würd ich nicht machen das wär mir zu zu unhandlich und zu unpraktisch weil ich das ganze Zeug dann ja nicht auf dem MP3-Player hören könnte oder aufm Rechner weil ich hab jetzt den Plattenspieler hier im Wohnzimmer stehen und in meinem Schlafzimmer bei meinem Rechner möchte ich ja auch Musik hören, das geht dann nicht. Und ich bin dann auch nicht so der Nerd, also ich bin schon nerdig aber so nerdig dann auch nicht [I: mhm] [D lacht]. Aber hin und wieder find ich es schon schön. So ein paar Sachen find ich schon schön wenn ich die auf Platte da hab.“ (Dana: 51-52)
Anders liegt der Fall bei Markus. Dieser ist ein passionierter Schallplattensammler, der im Gegensatz zu Dana in seinem ganzen Wohnraum die Gelegenheitsstrukturen geschaffen hat, Musik von Vinyl zu konsumieren. Auf jedem Stockwerk – also auch außerhalb seines Musikzimmers – finden sich bei ihm Plattenspieler, so dass er beim Kochen und anderen alltäglichen Handlungen nicht auf sein präferiertes Medium verzichten muss. Im Interview mit Markus wird deutlich, wie ein differenziertes Wissen über Tonträger mit einer spezifischen Wertschätzung von Tonträgern verknüpft sein kann. Während des Interviews bringt er mir in einem Exkurs die besonderen Qualitäten von Vinyl näher: Während wir über Vinyl reden, sagt Markus an einem Punkt, dass dafür ein Exkurs nötig wäre. Nachdem ich ihn ermutige, steht er auf und holt eine teure Horace Silver Pressung aus dem Regal. An ihr erklärt er mir einige Merkmale, anhand derer man Blue Note Originale erkennen kann. Wir riechen abwechselnd an der Außenhülle der Schallplatte. Der Geruch nach altem Papier ist deutlich wahrnehmbar. Anschließend widmen wir uns dem Inhalt der Innenhülle. Er klopft mit dem Finger auf die Platte, um den besonderen Klang des verwendeten Vinyls (hohe Dichte) vorzuführen und verweist auf besondere Merkmale der Produktion, die nur in einem kurzen Zeitraum vorzufinden sind. (Protokoll Markus)
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Wie in diesem kurzen Auszug deutlich wird, verfügt Markus über ein differenziertes Wissen zur Authentifizierung von Schallplatten. Dabei nutzt er verschiedene Wahrnehmungskanäle, um die Authentizität der Schallplatte nachzuweisen. So werden Seltenheit und der Zustand der Schallplatte von ihm als wichtige Kriterien eingeführt, um ihren Wert zu bestimmen. (c) Das Besuchen von Konzerten: Der Konzertbesuch ist eine besondere musikalische Praxis, der auch schon in Kapitel 5 als Generator kulturellen Kapitals thematisiert wurde. Während eines Konzerts stehen im Vergleich zum Abspielen eines Tonträgers zusätzliche Informationen zur Verfügung, um die Musik zu bewerten. Beim Konzert gewinnt die Darstellung der Musizierenden an Bedeutung und erlaubt auf die Darstellungsleistung bezogene Qualitätsurteile. Die Bewertung der Darstellung der Musizierenden ist ein Wertungsmodus, der legitime und illegitime Musikgenres verbindet. Die Frage lautet, inwiefern sich die Bewertungskriterien für unterschiedliche musikalische Genres decken. Beginnen wir mit einem populären Genre, das über geringe Legitimität verfügt: Heavy Metal (Bryson 1996; Weinstein 2000). Dana urteilt über den Auftritt einer Metalband folgendermaßen: „Ja diese Posen kann man machen wenn man sich drüber lustig macht, das haben die Metaller halt gemacht, die haben halt auch ständig ihre Gitarren hochgerissen und auch rumgekniedelt aber das war halt lustig. Und man hat denen auch angemerkt das die halt Spaß dabei hatten, und ich mags nich wenn die Leute so so verbissen sind und so total überzeugt sind von sich und man das auch merkt das sie denken sie sind die Besten und jeder da so für sich seine Show macht. Also das hat man halt auch gemerkt, dass die halt alle alle die stehen zwar zu sechst auf der Bühne aber jeder fährt sein eigenes Programm, die spielen nicht zusammen. Und das find ich halt auch immer wichtig, das grade wenn du ne Band live siehst, das die öh miteinander spielen und nicht jeder für sich (1s) es gibt da ja so ein paar Diven, die kann man sich auch mal angucken, wir waren letztens bei Trail of Dead [lacht] das reicht dann aber auch. Ein Konzert reicht dann für zwei Jahre.“ (Dana: 66)
Dana urteilt positiv über ein Konzert, das sie kurz vor dem Interview besucht hatte, aufgrund zweier Kriterien: zum einen hebt sie hervor, dass die genrespezifischen „Posen“ als Posen dargestellt wurden. Zum anderen interpretiert sie das Verhalten der Band dahingehend, dass sie „Spaß“ an der gemeinsamen Vorstellung hatten. Positiv wird also bewertet, wenn das „Ensemble“ im Sinne Goffmans aufeinander eingespielt wirkt und Spaß an der Darstellung glaubhaft vermitteln kann. Die Darstellung der Musizierenden kann also folglich hinsichtlich
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ihres genrespezfischen Verhaltens, der Aufrichtigkeit ihrer Darstellung sowie der Qualität des Agierens als Ensemble bewertet werden.47 Auf diesem Abstraktionsniveau lassen sich auch Konzerte bewerten, die anderen Genrekonventionen unterliegen. Allerdings weichen die angelegten Qualitätskriterien voneinander ab. Eine als ironisch decodierbare Performance würde im Rahmen eines Klassikkonzerts deplatziert wirken. Im Rahmen eines Metalkonzerts ist diese Zuschreibung notwendig für Dana, um die Performance positiv werten zu können. Dana ist jedoch insofern ein Sonderfall, da Heavy Metal gegenüber ein eher distanziertes Verhältnis hat. Zeit das Genre zu wechseln: Johanna berichtet über ihre Wahrnehmung von Dirigenten bei Klassikkonzerten. Sie favorisiert es, wenn diese „mitgehen“: „War aber öhm, also es war auch der Dirigent von der Mahlersymphonie auch ganz berühmt aber ich mag auch gerne die Persönlichkeit also wenn da einer mit stoischem Gesicht, unberührt, und sei er noch so berühmt, runter dirigiert dann gefällt mir das nicht so. Wenn ich dem Steven Sloane ins Gesicht schaue und der geht so richtig mit und reißt alle mit, das ist lebendig, das find ich gut. Ich hab dann auch voriges Jahr Christoph Eschenbach, ist ja auch sehr berühmt aber ja, das war abgespult und das berührt mich dann nicht so sehr. Also ich geh da nicht so nach den ich mach dann, also zum Beispiel der [Gustavo Dudamel] das ist der aus Venezuela, der hat dieses Jugendorchester auch hatte, der dirigiert auch andere Orchester. Und der ist so leidenschaftlich dabei und kann das auch aus dem Orchester alles wecken und das überträgt sich. Und das ist dann schön. Denn ich hab Thielemann gesehen und der ist ja auch sehr geschätzt und berühmt aber der hat halt so abgeliefert. Und da springt dann für mich nicht so viel rüber egal wie gut der ist. Aber so ein bisschen Leidenschaft gehört dazu, bei mir.“ (Johanna: 16)
In dieser Passage fokussiert sich Johanna auf die Bewertung des Dirigenten und seiner Performance. Sie spricht ihm anhand einer Reihe von Beispielen eine zentrale Rolle für das Glücken des Konzerterlebnisses zu. Besonderen Wert legt sie dabei auf die aufrichtige Darstellung von Leidenschaft, während sie eine zu kontrollierte Darstellung als unangemessen wertet. Im Interview mit Uwe, der ebenfalls regelmäßig klassische Konzerte und Opernaufführungen besucht, wird die Aktivität des Dirigenten anders gewertet:
47 Die Analyse der Qualitätskriterien für Konzerte verdankt, dass lässt sich aufgrund der Terminologie nur schwer verbergen, Goffmans Analysen in „Wir alle spielen Theater“ (1959/1983) sehr viel.
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„(…) Wenn die dann rumhoppeln (1s) wie im Ballett dann stört einen stört mich das also eher muss ich sagen. Die Augen mach ich dann auch nicht zu. (2s) Ganz toll fand ich zum Beispiel den Wand (…) wenn der Bruckner dirigierte er war ein Brucknerspezialist (1s) ganz ganz wenige Bewegungen aber ganz exakt [I: mhm] und jeden Einsatz (1s) praktisch ganz mit ner ganz kurzen Bewegung angegeben [I: mhm] und sowas von exakt wie der da vorging also das fand ich schon toll [U gestikuliert].“ (Uwe: 38)
Im Gegensatz zu Johanna legt Uwe weniger den Schwerpunkt auf die Darstellung von Leidenschaft. Zu viel Leidenschaft bei einem Dirigenten verstößt für ihn geradezu gegen die Genrekonventionen, wie der Vergleich mit dem Ballett nahelegt. Für ihn zeigt sich die Güte eines Dirigenten an seiner Exaktheit, wie der Verweis auf den Dirigenten Wand zeigt. Die zugeschriebene Aufrichtigkeit der Darstellung ist auch ein Qualitätskriterium, das eine Reihe von genre- wie positionsspezifischen Wertungen ermöglicht. In einem präferierten Genre wird eine glaubhafte Darstellung als notwendig erfahren, um das Konzert positiv zu bewerten. Die Darbietung der MusikerInnen darf nicht als „Pflichterfüllung“ von den Zuhörerinnen decodiert werden. Eine als unernste decodierbare Darstellung kann allerdings auch positiv gewertet werden, wenn beispielweise wie im Fall von Danas Metalkonzertbesuch, die Darstellung der Musiker als Ironisierung wahrgenommen wird. Als ironische Darstellung kann auch jemand wie Dana, die im Interview eher eine Distanz zum Metal und seinen genrespezifischen Konventionen signalisiert, ein Metalkonzert genießen. Neben der Darstellungsleistung des Ensembles kann auch das Publikum, zu dem man selbst gehört, Gegenstand von wertenden Zuschreibungen werden. Ein wichtiger Aspekt, der immer wieder in Bezug auf Livemusik genannt wird, ist das Gemeinschaftserlebnis (bspw. Steffen: 12). Das gemeinschaftliche Besuchen von Konzerten kann auch Musik aufwerten, die in anderen Situationen negativ bewertet werden würden. Allerdings stellt sich hier die Frage, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit ein Konzert als geglückt erfahren wird oder anders gefragt, damit ein Gemeinschaftsgefühl zustande kommen kann. Diese „Glückungsbedingungen“ (Inhetveen 1997b) unterscheiden sich genrespezifisch. So ist das angemessene Verhalten auf einem Hardcore-Konzert deutlich verschieden von dem Verhalten eines Klassikpublikums. Neben der Darstellungsleistung der MusikerInnen, dem Erleben eines Gemeinschaftsgefühls kann auch das Verhalten des Publikums in die Wertung eines Konzerts mit eingehen. Das unterschiedliche Verhalten des Publikums auf zwei Konzerten wird von Steffen im folgenden Zitat herangezogen, um sie zu vergleichen:
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„Ich weiß nich ob man diese beiden Bands so gegen gegen gegeneinander stellen kann [I: mhm] mhhhhhm (2s) vielleicht hatte ich bei Massive Attack vielleicht andere die auf dem Konzert waren fandens vielleicht gut. Vielleicht hatte ich auch einfach nen Tag auf den Massive Attack nich drauf passte [I: mhm] öhm bei Massive Attack fand ichs einfach so schlecht auch die Leute um mich rum waren voll schräg drauf, so gelangweilt und am gähnen und so weiter und so voll das Gegenteil zu Boy Sets Fire wo irgendwie 300 Leute waren die einfach nur abgefeiert haben die einfach nur froh waren das sie noch reingekommen sind so das äh wirklich die auch die Band das haben spüren lassen das das ne coole Aktion war während bei Massive Attack quasi so auch die Leute mehr so ‚dann macht jetzt mal‘ und die sind jetzt ja ohnehin nicht so die Band die krass nach vorne geht [I: mhm] die das dann auch mehr oder weniger gelangweilt runtergespielt haben ihr Set und plötzlich wars zu Ende.“ (Steffen: 30)
Das Zusammenspiel von Darstellungsleistung der MusikerInnen und Verhalten des Publikums ergibt hier für Steffen die Basis zur Bewertung der beiden Konzerte. Ähnlich wie bereits die Frage nach dem „richtigen“ Tonträger für einen Zugang zu einer Musik, wird auch die Praxis des Konzertbesuchs teilweise mit spezifischen Genres verknüpft. Nicht jede Musikrichtung eignet sich aus der Sicht der Interviewten gleichermaßen für beiläufigen Konsum. Die Rentnerin Johanna, die ein breites musikalisches Spektrum abdeckt, betont, dass sie die legitimen Genres Klassik und Jazz nicht nebenbei konsumieren kann: „Ja, ich äh äh höre eigentlich generell Popmusik ähm denn klassische Musik höre ich eigentlich nur live, das muss bei mir so dazu passen weil ich Musik eigentlich so nebenbei höre und was ich deswegen nebenbei nicht gut vertragen kann ist Jazz, denn auch das muss man, muss ich live sehen und mich da reinversetzen als Nebenbeigeräusch ist es nichts und was ich überhaupt meide das sind Schlager zum Beispiel. Aber Klassik hör ich eben auch selten.“ (Johanna: 2)
Diese beiden Genres verbindet sie mit einer Rezeptionshaltung bzw. -erwartung, die eine konzentrierte Zuwendung zur Musik erfordert. Deshalb ist es für sie eindeutig, Jazz und Klassik hört man nicht nebenbei, sondern konzentriert. Damit wertet sie implizit die Anforderungen, die diese Musikstile an die Hörenden stellen, als höher im Vergleich zu den Anforderungen des Pop-Hörens ein. Dadurch gewinnen beide Stile zudem eine gewisse Außeralltäglichkeit, da das was „generell“, also alltäglich und nebenbei gehört werden kann, unterschieden wird von dem, was nur zu besonderen Gelegenheiten konsumiert wird. Das Konzert wird im wahrsten Sinne zum Anlass sich einer bestimmten Musik zu wid-
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men. Damit wird implizit diejenige Musik aufgewertet, die sich nicht zur „zerstreuten“ Rezeption im Hintergrund eignet, sondern es verdient bzw. erfordert live rezipiert zu werden. Ein weiterer Aspekt, der zur positiven wie negativen Bewertung eines Konzerts herangezogen werden kann ist das „Bühnenbild“ (Goffman 1959/1983). Nicht nur die Darstellungsleistung des musizierenden Ensembles, das Verhalten des Publikums und das Erleben eines Gemeinschaftsgefühls gehen positiv in die Bewertung von Konzerten ein, sondern auch die Passung zwischen Darstellung und Bühnenbild. „(…) Selbst wenn ich Leute mag geh ich nicht hin wenn die in bestimmen Hallen sind. Es muss schon die Umgebung dann auch stimmen (…) ich such mir immer auch den Ort dazu aus. Weil es ganz schrecklich ist irgendwo zu sein wo es dann den Charme einer abgewrackten Aula hat wenn das nicht zu denen passt. Also bei ner Lesung mit Harry Rowohlt wo ich jetzt war, da ist das egal. Da sitzt man auf irgendwelchen Kinderstühlchen aber das ist egal. Aber bei Musik, ich war zum Beispiel in der Alfred Fischer Halle, die auch eigentlich ein Industriedenkmal ist aber wirklich überhaupt nichts ausstrahlt und das war Gershwin und zwar nicht so am Anfang ein bisschen der Populäre und hinterher das was er richtig macht, wo dann auch Leute gegangen sind. Aber das muss auch passen, und wenn das dann nicht die richtige Atmosphäre hat dann lohnt sich das für mich nicht. Weil es ja viele gibt such ich mir dann aus wo das alles gut zusammen passt (…)“ (Johanna: 14).
Wie das Beispiel zeigt, dass Johanna anführt, scheint sie von Konzerten – sie besucht vor allem im weitesten Sinne Klassikveranstaltungen, gelegentlich aber auch anderes – zu erwarten, dass das Bühnenbild stimmig ist und eine angemessene Rahmung für die Darstellung liefert. Was eine angemessene Rahmung ausmacht, darüber lässt sich auf Basis der obigen Passage nur spekulieren. Naheliegend wäre es, von szene- bzw. genrespezifische Konventionen auszugehen, die das Bühnenbild betreffen. Aber auch die Gestaltung des Zuschauerraums sollte hier mit in die Betrachtung eingeschlossen werden. 6.2.3 Praktiken des Legitimierens: Zusammenfassung Der Wert von Musik ist Gegenstand von vielfältigen Aushandlungsprozessen. Als historisch gewachsenes institutionalisiertes Feld kann das Feld der Musik in einer doppelten Perspektive in den Blick genommen werden: einerseits hinsichtlich seiner spezifischen Struktur, seiner Organisationsform, der Verteilung relevanter Ressourcen und Positionen und andererseits hinsichtlich der Legitimie-
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rung dieser Elemente. Legitimierung wird hier im Anschluss an Berger/Luckmann (1966/1969) als sekundäre Objektivation von Sinn verstanden. Dieser Sinn wird vor allem primär über die Sprache vermittelt. Die legitimationsanalytische Perspektive, die Berger und Luckmann in „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ entwerfen, lässt sich gewinnbringend – das ist die Grundthese der vorangehenden Analysen – mit Bourdieus distinktionsanalytischen Programm in Verbindung setzen. Die Frage, die sich dann ergibt lautet: Inwiefern können Geschmacksurteile als Legitimierungsphänomene gedacht werden? Dieser Frage wurde auf den vorangehenden Seiten empirisch verfolgt. Leitend war dabei die heuristische Unterscheidung der Form musikalischer Geschmacksurteile von ihren Inhalten. In Bezug auf die Form musikalischer Geschmacksurteile (Kapitel 6.2.1) lassen sich anhand der vorliegenden Daten mehrere Unterscheidungen treffen. Diese sind vor allem durch die unterschiedliche Komplexität der sprachlichen Äußerungen motiviert.48 Zu den ‚einfachen‘ Formen musikalischer Geschmacksurteile gehören die (a) Präferenzäußerung, die sich auf ein einzelnes wertgeschätztes Objekt bezieht. Dabei kann es sich sowohl um eine einzelne Interpretin, ein Album oder auch ein Genre handeln; (b) die Präferenzkette, die in Form einer Aufzählung mehrere wertgeschätzte musikalische Objekte aneinanderreiht; (c) die Genrepräferenz mit Beispiel, führt als wertgeschätztes Objekt einen musikalischen Ordnungsbegriff ein (siehe auch Kapitel 6.1) und präzisiert diesen durch die Nennung eines exemplarischen Vertreters bzw. einer Vertreterin des genannten Genres. Analytisch davon zu unterscheiden sind (d) Immunisierungsstrategien, die den objektiven Legitimierungsdruck von Geschmacksurteilen einschränken bzw. abmildern. Dazu gehört die Vorwegnahme potenzieller Kritik an der bezogenen ästhetischen Position. Hier sind vor allem zwei Varianten besonders hervorzuheben: (i) Äußerungen, welche die Individualität des Geschmacksurteils betonen und (ii) Äußerungen, welche die Relativität von Geschmacksurteilen generell hervorheben. Empirisch treten diese Immunisierungsstrategien häufig in Kombination mit Legitimierungen musikalischer Geschmacksurteile auf. Diese bilden als (e) Geschmacksurteil mit Legitimierung mittels Qualitätskriterien den Hauptfokus der voranstehenden Interpretationen. In ihnen werden
48 Hier besteht also durchaus eine Analogie zu den Stufen der Legitimierung erster Ordnung, wie sie Berger und Luckmann (1966/1969: 100ff.) unterscheiden. Ihre analytische Differenzierung erfolgt in vier Schritten: (a) alltäglichen (vor allem sprachlichen) Konventionen, (b) „theoretische Postulate in rudimentärer Form“ (bspw. Sprichwörter); (c) „explizite Legitimationstheorien“ sowie (d) „symbolische Sinnwelten“.
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musikalischen Objekten Eigenschaften zugeschrieben bzw. abgesprochen. Dies geschieht durch den Einsatz von Qualitätskriterien. In Bezug auf den Inhalt musikalischer Geschmacksurteile (Kapitel 6.2.2) wurde an bereits vorhandene Vorarbeiten angeschlossen. Von besonderem Wert waren dabei die Analysen von Appens (2007) wie auch Parzers (2011). Letztgenannter unterscheidet in seiner Untersuchung vier Legitimierungsstrategien (Parzer 2011: 168ff.): Erstens „Bezugnahme auf musikalische Maßstäbe“; zweitens „Betonung von Funktonen, die einer Musik zugeschrieben werden“, drittens „Hervorhebung einer erwarteten Wirkung von Musik“; und viertens „Bezugnahme auf die einer Musik zugeschriebenen Fähigkeit, Erinnerungen hervorzurufen“. Diese viergliedrige Unterscheidung Parzers wurde aufgegriffen und konstruktiv weiterentwickelt. Der hier präsentierte Vorschlag geht dahin folgende vier analytischen Fokussierungen einzuführen: (a) Die Legitimierung musikalischer Geschmacksurteil mittels musikimmanenter Qualitätskriterien; (b) Legitimierung musikalischer Geschmacksurteile mittels erwarteter Funktionen; (c) Legitimierung musikalischer Geschmacksurteile mittels musikexmanenter Qualitätskriterien und (d) Legitimierung in Bezug auf habitualisierte Hörstrategien. Die (a) Legitimierung mittels musikimmanenter Qualitätskriterien deckt sich im Wesentlichen mit dem was Parzer als „Bezugnahme auf musikalische Maßstäbe“ bezeichnet. Hierunter fallen Qualitätskriterien, die sich wertend auf zum Beispiel Text, Gesang, Geschwindigkeit oder Klang beziehen. Davon zu unterscheiden sind (b) Legitimierungen mittels erwarteter Funktionen von Musik. Dazu wird beispielsweise die Auszeichnung von Musik als interaktiver Ressource gezählt. Anders als Parzer (2011: 176f.) wird hier zudem das Erinnerungspotenzial, das Musik zugeschrieben wird, ebenfalls den funktionalen Legitimierungen zugerechnet. Die Bewertung von Musik aufgrund von Erwartungen an ihre individuelle wie soziale Funktion lässt diese Subsummierung angemessen erscheinen. Die (c) Legitimierungen mittels musikexmanenter Qualitätskriterien fassen im Wesentlichen vier Dimensionen. Darunter sind zu zählen: (i) die Unterscheidung von Kunst vs. Nicht-Kunst. Diese Legitimierung von musikalischen Geschmacksurteilen mittel musikexmanenter Qualitätskriterien kann sich beispielsweise auf den künstlerischen Anspruch von Musizierenden beziehen. Die (ii) zugeschriebene Popularität. Ein musikalisches Geschmacksurteil kann auf den Bekanntheitsgrad und die zugeschriebene Popularität abstellen. Die (iii) Unterscheidung von authentisch vs. nicht-authentisch wird in Anschlag gebracht, um den „ehrlichen Charakter“ politischer Statement o.ä. zu bewerten. Hiermit wird wiederum von Parzers Position abgewichen, der Authentizität als Deutungsmuster im Feld der populären Musik analysiert (Parzer 2011: 189ff.). Ähn-
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lich wie bei von Appen (2007: 115ff.) wird hier Authentizität als Qualitätskriterium verstanden, das v.a. menschlichen Akteuren und ihrem Handeln zugeschrieben wird. Der systematische Platz dieses Kriteriums ist deshalb m.E. innerhalb der musikexmanenten Qualitätskriterien. Die (iv) Unterscheidung von alt vs. neu. Diese Unterscheidung hat als Verweisungshorizont die individuelle musikalische Biographie. Interviewte wie Steffen folgen in ihrer Suche nach für sie neuer, anregender Musik der Formel: Was neu für mich ist, ist gut. Damit ist noch nicht gesagt, dass die bewertete Musik innovativ im Sinne der Konventionen des Felds der Musik ist. Die (d) Legitimierung in Bezug auf habitualisierte Hörstrategien lässt sich in drei Unteraspekte scheiden: (i) Vergnügen vs. Genuss, (ii) Hören von Tonträgern und (iii) Besuchen von Konzerten. Im Anschluss an diese Zusammenfassung sei nochmals betont, dass die herausgearbeiteten Legitimierungen und die verwendeten Qualitätskriterien im praktischen Gebrauch durch die Interviewten sich als grenzüberschreitend herausgestellt haben. Was ist damit gemeint? In Bezug auf populäre Kultur formuliert Simon Frith zwei Thesen, die sich in der Untersuchung zu bestätigen scheinen: „Erstens, daß das Wesen kultureller Praxis darin besteht, Bewertungen vorzunehmen und Unterschiede festzustellen. […] Zweitens gibt es keinerlei Grund, a priori davon auszugehen, daß diese Beurteilungsprozesse in unterschiedlichen kulturellen Sphären anders ablaufen […denn…] aus der Verschiedenheit der Objekte folgt nicht die Unterschiedlichkeit der Beurteilungsprozesse selbst.“ (Frith 1999: 198)
Die erste These kann aufgrund der bisherigen Interpretationen in den Kapiteln 6.1 und 6.2 mehr als unterstrichen werden. Dies gilt umso mehr, als davon auszugehen ist, dass das sozialwissenschaftliche Interview Daten produziert, in denen sich die Befragten in der Regel vorsichtiger positionieren als im Gespräch mit Freundinnen und Freunden. Da die Interviewten in der Regel über ein breites musikalisches Präferenzspektrum verfügen und sich zudem zum Teil auch über andere Themen wie Theater, Literatur oder Architektur geäußert haben, lässt sich auch die zweite These (vorsichtig) bestätigen. Ein dritter Punkt verweist über die Thesen von Frith hinaus. Es hat sich in den obenstehenden Analysen gezeigt, dass die unterschiedenen Qualitätskriterien – die Unterscheidungen von Kunst vs. Nicht-Kunst und authentisch vs. nicht-authentisch sind hierfür fruchtbare Beispiele – in der Mehrheit der Fälle unterschiedslos auf legitime wie illegitime kulturelle Güter und Praktiken ihre Anwendung finden.
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Legitimierung mittels…
Dimensionen Relevanz von Texten Klang als Kriterium Abwechslungsreichtum vs. Gleichförmigkeit
musikimmanenter Qualitätskriterien Komplexität vs. Einfachheit Geschwindigkeit und Rhythmus reproduktiv vs. innovativ Musik als Nebenengagement Bescheid-wissen-wollen erwarteter Funktionen Musik als interaktive Ressource Musik und ihr Erinnerungspotenzial Kunst vs. Nicht-Kunst Popularität und Kulturbedeutung musikexmanenter Qualitätskriterien Authentisch vs. nicht-authentisch alt vs. neu Vergnügen vs. Genuss Bezug auf habitualisierte Hörstrategien
Das Hören von Tonträgern Das Besuchen von Konzerten
Tabelle 13: Qualitätskriterien zur Legitimierung musikalischer Geschmacksurteile Dieses zentrale Ergebnis darf jedoch nicht als Indiz für die Auflösung ästhetischer Hierarchien gewertet werden. Vielmehr scheint es angebracht von einer Pluralität von Legitimierungspraktiken und konkurrierenden Qualitätskriterien auszugehen (vgl. Tabelle 13). Das Repertoire der Alltagsakteure ist deutlich reichhaltiger, als dass eine dichotome Unterscheidung von Rhetoriken der Verfeinerung und Rhetoriken der Authentizität (Meyer 2000) es abbilden könnte.
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6.3 P RAKTIKEN
DES
S ICH -ABGRENZENS
Nachdem in den vorangehenden Kapiteln untersucht wurde, wie Musik geordnet und bewertet wird, soll es nun darum gehen, welche Rolle dies für die Praktiken des Sich-Abgrenzens spielt. In dem Nachdenken über die Zusammenhänge von sozialen Strukturen und kulturellem Konsum wurden in der Vergangenheit ein ganze Reihe von Modellen entworfen, auf die zu diesem Zweck zurückgegriffen werden kann – zu denken wäre etwa an Veblens „conspicuous consumption“ (1899/2007), Webers Überlegungen zur ständischen Lage und Lebensführung (1922/2002) oder eben Bourdieus ungleichheitsanalytische Kultursoziologie (1979/1987). Im Folgenden soll wesentlich an Bourdieus Perspektive auf Praktiken der Distinktion angeschlossen werden. Im Rekurs auf Bourdieu lässt sich der Begriff der Distinktion in drei Bedeutungsvarianten unterscheiden (Müller 1986: 182; Gebhardt 2010; Diaz-Bone 2010). Eine erste Lesart kann als Wiedergänger von Veblens Konzept der „conspicuous consumption“ (1899/2007) angesehen werden. In dieser Variante steht die bewusste Abgrenzung im Fokus, wie Müller betont (1986: 182). Paradigmatisch für diesen Begriffsgebrauch sind Bourdieus Analysen des Kleinbürgers. In der zweiten Bedeutungsvariante kommt die Auseinandersetzung Bourdieus mit dem Strukturalismus zum Tragen. SichAbgrenzen ist somit strukturell bedingt und damit objektiv unausweichlich, da innerhalb eines Raums der objektiven Möglichkeiten Positionen besetzt werden (Müller 1986: 182). Die Positionierungen sind nur innerhalb des Netzes der Relationen zu erschließen. In dieser Variante ist also nicht von Belang, ob die Abgrenzung bewusst geschieht. Die dritte Bedeutungsvariante bezeichnet wiederum laut Müller (1986: 182) unbewusste Abgrenzungsprozesse. In den Worten Bourdieus: „Distinktion ohne Absicht zur Distinktion“ (Bourdieu 1979: 388). Laut Gebhardt ist „damit ein selbstverständlich geltendes, unhinterfragtes, habituell verfestigtes, weil in der ‚Tradition‘ verankertes Verhalten, wie zum Beispiel das Tragen der Tracht“ gemeint (Gebhardt 2010: 185). Er betont in seinen Ausführungen zur Analyse distinktiven Verhaltens von Fans, dass von den genannten Lesarten die zweite zwar die häufig in Ungleichheitsanalysen verwandte sei, aber aufgrund ihres Zuschnitts für die Analyse von Distinktionspraxen wenig geeignet (Gebhardt 2010: 185).49 Diese Hinweise aufnehmend wird hier das
49 Ähnlich argumentiert Diaz-Bone, wenn er für eine Analyse der „Praxis der Distinktion“ votiert. Er unterscheidet dabei drei Verwendungsweisen des Distinktionsbegriffs bei Bourdieu: „[D]er Akt der Distinktion verweist für Bourdieu (1.) auf den sozialen Ort des Dinstingierenden, auf seine Position im sozialen Raum (soziale Selbstverortung), er verweist (2.) auf die distingierten Objekte, wo er eine wahrgenommene
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Phänomen des Sich-Abgrenzens als Distinktionspraxis verstanden und untersucht. Aus methodischen wie theoretischen Gründen spielt die Frage, inwiefern von bewussten oder unbewussten Grenzziehungen auszugehen ist, im Folgenden keine Rolle. Das lässt sich in doppelter Hinsicht begründen: Wenn man von einer habitualisierten Distinktionspraxis ausgeht, vollzieht sich die Mehrheit der Abgrenzungen im Alltag ohne „Absicht“ zur Distinktion – wobei es natürlich immer Situationen geben kann, in denen Akteure ihre Selbstdarstellung bewusst auf Distinktionseffekte hin optimieren. Dabei lässt sich die Frage nach dem Bewusstseinsgrad von Abgrenzungspraktiken empirisch nicht klären, da methodisch gesehen, dieser nicht erhoben wird. Was erhoben wird, sind Aussagen über kulturelle Güter und Praktiken, die immer auch durch eingeübte Formen der Selbstdarstellung mitgeformt werden. Anders als bei Gebhard soll hier nicht die Position vertreten werden, dass die zweite erwähnte Lesart für die empirische Analyse von Distinktionspraktiken ungeeigneter sei. Denn gerade der Raum des objektiv Möglichen hilft, die empirisch realisierten Positionierungen und Abgrenzungen zu interpretieren und stellt zugleich auch ein Ergebnis der Analysen dar. Bei dem, was hier im Folgenden als Sich-Abgrenzen in den Fokus genommen wird, gerät das Wie des distinguierten Musikgeschmacks in den Blick. Dabei gilt zu beachten, dass symbolische Abgrenzungen nicht gleichzusetzen sind mit sozialen Abgrenzungen (siehe auch Bryson 1996; Parzer 2011: 178). Ob eine symbolische Abgrenzung auch als soziale Abgrenzung wirksam wird, ist von weiteren Faktoren abhängig und kann aufgrund der vorliegenden Daten nur selten entschieden werden. Die analytische Erörterung der empirischen Daten erfolgt in fünf Schritten. Zunächst werden das Bühnenbild und die Requisiten als materiale Objekte des Sich-Abgrenzens (Kapitel 6.3.1) untersucht. Im Anschluss an Goffman (1959/1983) richtet sich hierbei der Fokus auf die materialen Voraussetzungen von Abgrenzungspraktiken. Die Distinktionspraxis stellt in dieser Perspektive eine spezifische Form von Selbstdarstellungspraktiken dar. Die zur Schau gestellte Plattensammlung gehört hierzu, wie eben auch das seltene Bandshirt. In einem weiteren Schritt werden die sozialen Objekte des Sich-Abgrenzens (Kapi-
‚Ordnung der Dinge‘ reproduziert und den Dingen einen distingierenden Zeichencharakter zuteilwerden lässt (Semiotisierung) und er verweist (3.) auf eine ‚Zwischensphäre‘, die zwischen den Gruppen im sozialen Raum und den Dingen (Objekten/Tätigkeiten) vermittelt, welche sich in den unterschiedlichen und im Diskurs enthaltenen Prinzipien und Kriterien der Distinktion als ästhetisierender Problematisierungen durch die Individuen materialisiert (Konstruktion und Rekonstruktion von Ästhetik)“ (2010: 37).
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tel 6.3.2) in den Blick genommen.50 Darunter werden im Folgenden sowohl Personen als auch Gruppen verstanden, auf die Akteure Bezug nehmen, um den Wert bzw. die Besonderheit ihres Musikgeschmacks zum Ausdruck zu bringen. Das können im empirischen Einzelfall ganz unterschiedliche soziale Objekte sein: das biographische Selbst, die Eltern, Geschwister, PartnerInnen oder auch Freunde sowie Fremde. Daran anschließend werden Ordnen und Legitimieren (Kapitel 6.3.3) als zwei wichtige Bausteine des Sich-Abgrenzens in den Blick genommen. Diese bauen auf den Praktiken des Ordnens und Legitimierens auf, die in den Kapiteln 6.1 und 6.2 Gegenstand der Analyse waren. Das Kapitel schließt mit einer Zusammenfassung der Ergebnisse (Kapitel 6.3.4). 6.3.1 Bühnenbild und Requisiten als materiale Objekte des Sich-Abgrenzens Folgt man Gebhardts Überlegungen (2010: 188ff.) lässt sich an Goffmans Theorie der alltäglichen Selbstdarstellung (Goffman 1959/1983) anschließen, um Leerstellen in Bourdieus Perspektive auf die Praxis der Distinktion zu ergänzen. Zunächst geht es im Folgenden um die Materialität der Distinktionspraktiken, die in Anlehnung an Goffmans Begriffe des Bühnenbildes und der Requisiten analysiert werden. Beide Begriffe sind Bestandteile der Fassade, die Goffman wie folgt definiert: „Unter Fassade verstehe ich also das standardisierte Ausdrucksrepertoire, das der Einzelne im Verlauf seiner Vorstellung bewußt oder unbewußt anwendet“ (Goffman 1959/1983: 23). Dazu gehört das Bühnenbild als eine räumlich klar umgrenzte, in der Regel unbewegliche Kulisse für die Darstellung (Goffman 1959/1983: 23). Des Weiteren können auch die räumliche Anordnung von Möbeln, CD-Regalen, Stereoanlagen etc. zum Bühnenbild gezählt werden. In Bezug auf Praktiken des Ordnens von Musik wurde dieser Punkt im Kapitel 6.1.2 bereits kurz angesprochen. Zur Fassade rechnet Goffman auch die Requisiten wie Amtszeichen, Rangabzeichen, Kleidung und andere
50 In Blumers vielrezipierten Text „Der methodologische Standort des Symbolischen Interaktionismus“ (1968/2004) definiert er Objekte als „jedes beliebige Ding […], das man anzeigen oder auf das man sich beziehen kann“ (Blumer 1968/2004: 331). Dabei führt er eine einfache Dreiteilung ein und unterscheidet zwischen a) physikalischen Objekten (z.B. eine Schallplatte), b) sozialen Objekten (eine Dirigentin) und c) abstrakten Objekten (die Idee der Authentizität) (1968/2004: 331f.). In Anlehnung an Blumer werden im Folgenden „materiale“ von „sozialen“ Objekten unterschieden. Eine weitere Anregung für diese konzeptionelle Unterscheidung lieferte Bergmanns konversationsanalytische Studie „Klatsch“ (1987). Dort führt er den Begriff Klatschobjekte als Elemente der Klatschtriade ein.
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„Ausdrucksträger“, sowie Prosodie, Mimik etc. In Bezug auf Musik können dann Bandshirts, Aufnäher, Buttons, szenespezifische Kleidungsstücke usw. unter diese Kategorie fallen. Bühnenbild wie Requisiten sind bei Goffman wichtige Elemente für die Analyse von Selbstdarstellungspraktiken. Hier werden sie genutzt, um als analytische Konzepte die Empirie von Distinktionspraxis zu erhellen. Die dahinterstehende These ist, dass Sich-Abgrenzen immer auch SichDarstellen impliziert. 6.3.1.1 Das Bühnenbild des Sich-Abgrenzens Das räumliche Arrangement und die Tonträgersammlung können als Bestandteile des Bühnenbildes interpretiert werden. Eine erste einfache Unterscheidung wurde bereits zu einem früheren Zeitpunkt eingeführt (vgl. Kapitel 6.1.2): Sie lässt sich daran festmachen, ob es innerhalb des Wohnraums bestimmte Refugien für den Konsum von Musik gibt oder Räume multifunktional genutzt werden.51 Unter dem Aspekt des Sich-Abgrenzens betrachtet, werden diese Arrangements zu potentiellen Bühnenbildern der Selbstdarstellung als Fan oder Musikliebhaberin. Gebhardt schreibt hierzu: „Dazu gehört in der Regel, dass die eigenen Wohnräume, insbesondere die für Gäste zugänglichen, mit ‚Devotionialien‘ des verehrten Objekts dekoriert werden“ (Gebhardt 2010: 193). Im Falle von Johanna, die sich selbst als „Sprachenfan“ (Johanna: 2) bezeichnet, äußert sich das Fan-Sein52 darin, dass sie eine nach Sprachen sortierte Sammlung von materiellen Tonträgern im Übergangsbereich zwischen Wohn- und Arbeitszimmer „ausstellt“. Sie kann den Anlass bieten über das Interesse an fremdsprachigen Pop und traditioneller Musik zu sprechen oder einzelne Aspekte zu erläutern, der Besucherin oder dem Besucher CDs in die Hand zu geben und fachzu-
51 Dem privaten Wohnraum als Bühne der Distinktionspraxis wurde bisher wenig Aufmerksamkeit zuteil. Hervorzuheben sind hier vor allem zwei Untersuchungen. Zum einem wäre „Inside Culture“ (1993) von Halle zu nennen, der US-amerikanische Haushalte und ihre Ausstattung mit Kunstwerken oder Reproduktionen von Kunstwerken untersucht. Zum anderen hat Resch eine Bourdieu-kritische Analyse unter dem Titel „Schöner Wohnen“ (2012) vorgelegt, die sich zentral mit Wohnungseinrichtungen und den verbundenen kulturellen Praktiken befasst. 52 Johanna bezeichnet sich in dieser Passage selbst als Fan. Grundlegend sind die Interpretationen in diesem und den vorangehenden Kapiteln aber nicht darauf ausgelegt eine Analyse von „Fans“ zu liefern, da das zugrundeliegende Untersuchungsinteresse ein anderes ist. Einen guten Überblick über soziologische Perspektiven auf Fans geben die Beiträge in Roose/Schäfer/Schmidt-Lux (2010). Desweiteren sei exemplarisch auf die Studien von Fritzsche (2003) und Winter (1995) verwiesen.
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simpeln (vgl. Johanna: 2 sowie Protokoll Johanna). Objektiv stützt das Bühnenbild die Praktiken des Sich-Abgrenzens, deshalb kann es auch notwendig werden, das Bühnenbild zu verändern, wenn die Selbstdeutung sich verändert. Diese Renovierung des Bühnenbilds kann in unterschiedlicher Gründlichkeit durchgeführt werden: Vielleicht werden nur einzelne Tonträger aussortiert oder ein Poster abgehangen aber vielleicht werden auch regelrechte Aufräumarbeiten durchgeführt, die zur Folge haben, dass ehemals wichtige Devotionalien und Tonträger vor den Augen potentieller Gäste (das Publikum für die Selbstdarstellung als Kenner) in Zukunft verborgen bleiben (siehe auch Konrad: 65). Zum Bühnenbild des Sich-Abgrenzens durch Musikgeschmack gehört ganz elementar die Tonträgersammlung. Hier lassen sich mehrere Unterscheidungen einführen. Zur Tonträgersammlung können kanonische Werke der Musikgeschichte im Allgemeinen oder kanonische Werke spezifischer Genres gehören, die in den privaten Räumen ausgestellt werden. Meine Interviewpartnerin Dana verwendet zwar vorwiegend ihren Computer oder MP3-Player zum Musikhören, hat in ihrem Wohnzimmer allerdings auch Schallplatten neben der Stereoanlage aufgestellt. Unter diesen finden sich Alben aus der „goldenen Phase“ der Popgeschichte. So bezeichnet Dana im Interview das Album Pet Sounds der Beach Boys als „Grundausrüstung“53: „Die sind einfach so dahingestellt, das sind ja nicht so viele. Die meisten davon sind auch von meinem Papa [I: mhm] sind nur ganz ganz wenige die ich mir selbst gekauft hab. Letztens hab ich mir die Pet Sounds von den Beach Boys gekauft, die wollt ich schon ganz ganz lange haben weil ich mir dachte das ist so die Grundausrüstung für den Pop Fan von heute. [I: mhm] Und von gestern [beide lachen]. Aber Schallplatten hör ich gar nicht so oft wie ich gern würde. Meistens hör ich tatsächlich am Rechner also aus iTunes. Also ich leg gar nicht so oft CDs auf jetzt wo das alles digitalisiert ist stehen die halt nur noch schön im Schrank.“ (Dana: 46)
Auch die letzte Aussage in Bezug auf die CDs verweist auf die ästhetische Dimension des Bühnenbildes. Neben der Grundausrüstung an kanonischen Werken verfügt Dana auch über „Sammlerstücke“, die sie zum Teil auf Konzerten erworben hat:
53 Grundausrüstung wird im Folgenden als in vivo Code genutzt und bezieht sich auf die Elemente des Bühnenbildes, die von den Akteuren als notwendig definiert werden. Damit ist klar, dass eine Klassikhörerin etwas anderes unter Grundausrüstung verstehen dürfte als ein Jazzfan oder ein Techno-Aficionado.
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„Mhm also was Neues also von Port O'Brien hab ich mir tatsächlich zwei Singles gekauft in Plattenform aber das auch nur weil es sie in keiner anderen Form gibt [I: mhm] also das waren so Sammlerstücke und die musste ich dann schon haben [D lacht].“ (Dana: 54)
Sammlerstücke sind als „rar“ oder „selten“ wahrgenommene Devotionalien. In kritischer Perspektive könnte nun eingewendet werden, dass Dana damit einer Vermarktungsstrategie der Band oder ihres Plattenlabels aufgesessen ist. Durch die künstliche Verknappung der Auflage und den Verkauf auf Konzerten erscheint das als rar, was „technisch beliebig“ reproduzierbar ist. Damit würde man allerdings weder Dana noch anderen sammelnden Fans gerecht. Was hier zum Tragen kommt, ist das Motiv der Seltenheit. Damit folgen die Sammlerstücke, einer anderen Logik als die Grundausrüstung. Während die Grundausrüstung kanonische Werke bzw. Tonträger enthält und als Bühnenbild eine solide Basis für Konversationen etc. mit Gästen darstellt, sind es gerade die Sammlerstücke, die sowohl für die Selbst-Präsentation als Musikliebhaber oder liebhaberin und für symbolische Abgrenzungen von besonderer Relevanz sind. Der Kanon beruht auf einem mehr oder minder geteilten Konsens, die seltenen Stücke heben die Besitzenden potentiell aus der Masse hervor und dienen als Erkennungszeichen für die Eingeweihten. Neben der Tonträgersammlungen können weitere Dinge als Elemente des Bühnenbilds fungieren: Poster (z.B. Tourplakate), Künstlerbiographien, Konzertkarten oder andere Artefakte kommen hierbei häufig zum Einsatz. Diese bieten für Gäste, FreundInnen und Familienangehörige Anlass, Rückschlüsse auf den Lebensstil des Gastgebers bzw. der Gastgeberin zu ziehen.54 6.3.1.2 Die Requisiten des Sich-Abgrenzens Zum Bühnenbild und den Requisiten der Darstellung als Fan oder Kennerin im Bereich der (populären) Musik gehören sicherlich neben dem Besitz aller als relevant erachteten Alben auch der Besitz und das Präsentieren von Devotionalien
54 Ähnlich verhält es sich bspw. mit Bücherregalen oder Fotografien. Wer kennt nicht den Impuls beim ersten Besuch einer Wohnung oder eines Hauses mittels eines Blicks auf die präsentierten Bilder oder Bücher aufschlussreiche Informationen zu finden, die als Indizien das bisherigen Bild, das man von der gastgebenden Person hat, zu komplettieren oder ggf. zu revidieren.
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(bspw. bedruckten T-Shirts).55 In der anschließenden Interviewpassage gibt Kim darüber Auskunft, wie sich ihr Fansein ausdrückt: „Dass ich hmmm fasst alle Alben habe [lacht]. Und die auch immer noch gerne höre. Also die Smashing Pumpkins sind jetzt nicht mehr so akut. Aber bei anderen Bands wo ich mich halt als Fan bezeichne wie neulich erst den Sounds oder so da geh ich halt auch auf Konzerte und zieh T-Shirts an.“ (Kim: 20)
Kim berichtet hier am Beispiel zweier Bands über ihr Fanverhalten – wenn sich auch das „verehrte“ Objekt geändert hat, zeigt sich hier die Kontinuität eines musikzentrierten Fanverhaltens. Während die materiellen Tonträger sie im privaten Raum als Kennerin oder Fan auszeichnen (können), sind es vor allem die Bandshirts, die sie auch im öffentlichen Raum, für andere erkennbar als Fan einer bestimmten Gruppe kennzeichnen – sei es im Alltag oder beim Besuch eines Konzerts. Da die Tonträger von einer relativen Dauerhaftigkeit sind und zudem im privaten Raum meist sichtbar ausgestellt sind, werden bei Veränderungen des Geschmacks und des Selbstbildes zum Teil Aufräumarbeiten fällig, um Bühnenbild und Selbstdarstellung wieder aufeinander abzustimmen (siehe bspw. Konrad: 65). Der Einsatz von Requisiten ist situativ variabel und im Vergleich zum Bühnenbild ist die Abstimmung auf die Situation einfacher. Ähnliches wie Kim berichtet auch Dana über ihr Fanverhalten: „Auf dem vorletzten Konzert glaube ich hab ähm hab ich sehr viel Merch gekauft. Das hab [ich] ganz ganz früher nicht gemacht, also T-Shirts oder so fand ich nicht so toll hab ich mir nie gekauft und jetzt hab ich glaube ich drei Band T-Shirts. Von denen ich aber mindestens eins geschenkt bekommen habe [I lacht] öhm also so ein Fan der so Band TShirts trägt bin ich eigentlich nicht bis auf diese zwei drei Ausnahmen. Ich hab mir da sone Tasche gekauft ein Leinenbeutel. Fand ich halt ganz cool weil sie ganz lustig ist. Und so Buttons kauf ich mir dann auch schon mal. Aber am ehesten kauf ich mir CDs [I: mhm] geh halt in nen Laden und kauf mir CDs. Und wenn ich halt Fan von ner Band bin wie von den Weakerthans dann kauf ich mir die auch blind und muss da nicht vorher reinhören [I: mhm] dann kauf ich die einfach.“ (Dana: 40)
Bandshirts gehören fast in jedem populären Genre zu den wichtigen Requisiten, auch wenn sich die Ästhetik des Bandshirts zwischen den Genres und innerhalb
55 Die Beispiele (z.B. die Nachbildung eines Parzifal-Speers, Gebhardt 2010: 194), die Gebhardt in seinem Aufsatz aufführt, führen deutlich vor Augen, dass sich auch im Bereich der legitimen Genres mit diesen Begriffen sinnvoll interpretieren lässt.
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eines Genres über die Zeit verglichen stark unterscheiden kann. Steffen, der eine Zeitlang auch Metal gehört hat, besitzt eine ganze Reihe von Shirts bekannter Bands aus diesem Bereich: „Nö ich hab Band T-Shirts gehabt also vom diesem dieser von ähh ja Pantera und solche Band T-Shirts hatte ich und Metallica und hauptsächlich aus dem Metalbereich.“ (Steffen: 46)
Da er sich mittlerweile nicht mehr primär in diesem musikalischen Bereich bewegt, hat auch die Frequenz abgenommen, in der diese Requisiten zum Einsatz kommen. Zudem versprechen sie nur unter einer Reihe von Bedingungen symbolische Anerkennung. So lässt sich das Bandshirt nur in bestimmten beruflichen Kontexten – und dann eventuell ironisiert – auch zur Arbeit tragen, während formalere Kleidung in einer Vielzahl von Arbeitszusammenhängen erwartet wird. Die Einschränkungen der Tragbarkeit in verschiedenen sozialen Kontexten wird bei szenespezifischen Requisiten wie der „Kutte“ der Metalszene besonders deutlich. Garantiert diese in szenespezifischen Kontexten, an typischen Orten wie Konzerten oder Festivals symbolische Anerkennung, würde sie in formellen Arragements auf weniger Bewunderung stoßen. Die Differenz zwischen Hochund Populärkultur zeigt sich in den eingesetzten Requisiten zum Teil sehr deutlich. Während im alltäglichen Einsatz meist kleine Requisiten zum Einsatz kommen (wie beispielsweise Buttons) zeigt sich diese Differenz am deutlichsten bei Events. Hier ist Gebhardts Beobachtung zuzustimmen, wenn er über Veranstaltungen schreibt: „Während die sich auf solchen Veranstaltungen offensiv gestaltende Demonstration von Besonderheit sich im Bereich der Hochkultur zumeist in weitgehend distinguierten Formen abspielt (und sich kaum von den Praktiken des Alltags unterscheidet), wird im sportliche und populärkulturellen Bereich ein immer größer werdendes Arsenal von durchaus phantasievollen, originellen Unterscheidungszeichen eingesetzt, wobei in den letzten Jahren ein deutlicher Trend hin zum extensiven Körperschmuck und zur Körperinszenierung zu beobachten ist: von der stylishen Frisur über das body-painting bis hin zu Brandings und Tattoos.“ (Gebhardt 2010: 195)
Am Beispiel der unterschiedlichen Rolle von Kleidung bei hochkulturellen und populären Veranstaltungen lässt sich dies auch anhand meiner Interviews zeigen. Die Kleidung spielt nicht nur im Bereich der populären Musik eine wichtige Rolle. Auch Johanna thematisiert die Kleidung des Publikums, allerdings in ei-
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nem anderen Segment des kulturellen Feldes – der Ruhrtriennale. Hier sind Bandshirts als Kennzeichen des guten Geschmacks weniger gefragt. „(…) Wo es etwas sehr durchmischt ist, ist bei der Ruhrtriennale wo die mit den karierten Hemden genauso vor einem sitzen wie Damen im Abendkleid, das passt auch beides, ich bin nur froh wenn die Legeren sich wenigstens die Haare gewaschen haben. Es ist öhm irgendwie auch die Achtung vor der Darbietung, die doch da so ein bisschen durchkommen sollte (…).“ (Johanna: 82)
Hier im Zitat wird der Besuch eines Konzerts im Besonderen oder einer Kulturveranstaltung im Allgemeinen als Anlass definiert, der durch besondere Kleidung sich vom Alltag unterscheiden kann und auch sollte. Die symbolische Abwertung der „Legeren“, denen nicht nur Nachlässigkeit in der Kleidung, sondern auch in der Körperpflege zugeschrieben wird, ist in diesem Zitat sehr deutlich. Im Anschluss an diese Überlegungen zur Rolle von Bühnenbild und Requisiten als analytische Aspekte von Abgrenzungspraktiken wird nun der Frage nachgegangen, welche sozialen Objekte (explizit) in den Interviews als Objekt der Abgrenzungspraktiken fungieren. 6.3.2 Soziale Objekte des Sich-Abgrenzens Stellt man die Frage nach den sozialen Objekten der Praktiken des SichAbgrenzens kommen die unterschiedlichen Positionierungen in den Blick, die Akteure in Bezug auf Andere und sich selbst vornehmen. Dabei können unterschiedliche soziale Objekte eingeführt werden, von denen man sich (explizit) abgrenzt. Zum ersten wäre das eigene biographische Selbst als Objekt der Abgrenzung zu nennen. Zum zweiten können biographische Andere (Goffman 1963/1975) als Objekte der Abgrenzung genutzt werden. Und drittens können anonyme Andere als Objekte der Abgrenzung genutzt werden. 6.3.2.1 Das biographische Selbst als soziales Objekt der Abgrenzung Auf die eigene Vergangenheit im Sinne einer musikalischen Biographie kann mit symbolischen Abgrenzungen Bezug genommen werden. Ein beliebtes Topos stellt dabei die musikalische Jugendsünde dar. Dieses wird in den Interviews in unterschiedlicher Weise thematisiert und die Bandbreite des dargestellten Verhältnisses zur eigenen musikalischen Biographie reicht von Scham verbunden mit Aufräumarbeiten im Tonträger-Regal bis hin zur Affirmation der eigenen
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musikalischen Biographie. Im folgenden Interviewauszug sinniert Konrad über Musik, gegenüber der er heute ambivalente Gefühle hegt: „So. Und sonstige ähm (1s) wenig also hab ich echt wenig also es gibt son paar son paar Punkscheiben die ich daheim hab da schäme ich mich heute eher für weil ich denk so ok das ist wirklich jugendliches äh ‚ich bin dagegen Gehabe‘ und ähm womit ich also das ist dann aber wirklicher Punk also das ist dann auch nicht mehr Punkrock sondern das ist wirklich Punk und damit kann ich auch [nichts] mehr anfangen. Also äh die auch keine Alternativen aufzeigen oder so in ihren Texten sondern wos wirklich nur dadrum geht wie scheiße es alles ist und so also es is (2s) es is affig und Müll [I: mhm] also es is brauch auch kein Mensch. Wobei des ein Großteil meines Lebens ausgemacht hat [beide lachen kurz]. Ja so. Aber das ist dann eher das wofür ich mich heute schäm so wo ich einfach denk so ok des war (1s) schämen ist auch s falsche ne schämen tu ich mich dafür nich aber wo sagen würde als die stehen zumindest nicht mehr im Regal [lacht].“ (Konrad: 65)
Aus der Retrospektive grenzt Konrad sich hier von der Musik seiner Jugend ab. Dabei konstruiert er en passant einen Gegensatz zwischen „Punk“ und „Punkrock“, der seinen weiteren Ausführungen zur Folge gerade auch in den transportierten Inhalten besteht. Punk wird von ihm verbunden mit (jugendlicher) Rebellion ohne Zielvorstellungen. Eine ‚reine‘ Ablehnung der bestehenden Verhältnisse wird dabei mit einer spezifischen Lebensphase – der Jugend – kurzgeschlossen. Damit wird implizit die Lesart plausibel, dass er – als Erwachsener – mit individuell oder gesellschaftlich definierten Problemen einen anderen Umgang sucht. Die entsprechenden materiellen Tonträger hat er aus dem Regal entfernt, da sie als Bühnenbild für die gegenwärtige Darstellung seines Musikgeschmacks – und damit verbunden für seine politische Haltung – nicht mehr ‚repräsentativ‘ sind. Die mitlaufende Differenzierung von „Punk“ und „Punkrock“, die implizite Änderung der politischen Haltung und die Säuberung des CD-Regals grenzen im Zusammenspiel den Jugendlichen vom Erwachsenen ab. Indem Konrad sich von seinem jugendlichen Musikgeschmack abgrenzt, konstruiert er sich zugleich als Erwachsenen. Der Bezug auf die eigene musikalische Biographie ist keineswegs grundsätzlich mit Scham verbunden. Wesentlich entspannter liest sich denn auch folgende Äußerung von Bernd zu der Musik seiner Jugend: „Ähm also du meinst Musik die ich jetzt gar nicht mehr [I: ja] äh höre ähm so was wie Scooter zum Beispiel [I: mhm] (1s) äh was jetzt der irgendwo was ich für den den irgendwie den billigsten Techno halte und da hab ich dann sicher ein zwei Lieder schon mal gehört ich hab auch glaub ich ne ähm Pet Shop Boys Single von Go West! das würd ich heu-
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te glaube ich auch nicht mehr hörn [I: mhm] (1s) ähm ja äh ne nen Album von Mark ‘Oh (1s) das war auch irgendwie 95 96 son Techno äh DJ ich hab was ich immer noch interessant finde aber heute noch n ähm Album ich glaub auch von 95 von Westbam (1s) ähm das war dann schon wieder so ne andere Sache da waren zwar zwei drei Singles drauf aber der Rest auf dem Album die waren irgendwie ähm äh entweder düsterer oder nicht ganz so ähm (1s) nicht ganz so tanzbar das fand ich dann schon wieder interessant vielleicht war dann tatsächlich auch Westbam neben Massive Attack dann später so einer der ersten ähm wo ich dann auf elektronische Sachen äh auch gehört hab (1s) mich dafür interessiert hab (1s) (…)“ (Bernd: 42).
Anders als Konrad nennt Bernd konkrete InterpretInnen und führt dabei mit Westbam eine Figur ein, die ein Bindeglied zu seinen aktuellen musikalischen Interessen darstellt. Obwohl er sich zum Teil deutlich von der genannten Musik abgrenzt („billigsten Techno“), folgt seine Präferenzkette einer impliziten Dramaturgie: von Scooter („billigsten Techno“) über Pet Shop Boys („nicht mehr hörn“) hin zu Westbam, der als Einstieg in „elektronische Sachen“ gewertet wird. Hier wird also eine ‚positive‘ Entwicklung dargestellt, ohne dass die Präferenzen seines biographischen Selbst mit negativen Emotionen belegt werden. Im weiteren Fortgang seiner Erzählung führt er die Band „Die Prinzen“ an, die er dadurch legitimiert, dass sie seinem damaligen Alter angemessen waren: „(…) ich hab gern Die Prinzen gehört wenn man das als Jugendsünde bezeichnen [Lachen von I] darf aber da w die hab ich tatsächlich in der Grundschule schon gehört das war glaub ich noch keine Jugendsünde sondern das war noch okay [Lachen von I] (1s) das war dann so der der ähm teilweise der der konsequente Schritt nach Rolf Zuckowski oder sowas (1s) wenn man für den zu alt ist hört man halt Die Prinzen irgendwie Anfang der Neunziger (2s) ähm wobei ich die heute auch nicht mehr hörn würde ist zwar schön oder irgendwie nos nostalgisch äh dann irgendwie angehaucht wenn man sich das noch mal anhört aber würd ich halt heute nicht mehr hörn.“ (Bernd: 42)
Im direkten Vergleich grenzt sich also Bernd weniger stark als Konrad von seiner musikalischen Biographie ab. Er spricht einigen InterpretInnen Wert zu für die weitere Entwicklung seiner musikalischen Interessen (Westbam), während andere (Die Prinzen) nostalgischen Wert für ihn besitzen. Anstatt sich für diese zu schämen, verweist er auf eine altersgemäße Ordnung von Musik. Entsprechend erscheinen seine frühen Vorlieben deutlich weniger mit negativen Gefühlen in seiner Darstellung aufgeladen zu sein als bei Konrad. Ähnlich unaufgeregt wie Bernd äußern sich auch andere Interviewte. Sie konstatieren, dass sie bestimmte Gruppen oder InterpretInnen, die ihnen in der Jugend oder als Kinder
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gefallen haben, heute schlicht nicht mehr hören würden – aber ohne Peinlichkeit oder Scham mit ihrer musikalischen Vergangenheit zu verbinden (siehe auch Michael: 44). Zusammenfassend lässt sich an dieser Stelle festhalten, dass das biographische Selbst ein wichtiges Objekt der Abgrenzung sein kann. Dies kann in unterschiedlicher Intensität geschehen und miteinschließen, dass Tonträger aus den Regalen verbannt, Bandshirts entsorgt und ähnliche Aufräumarbeiten durchgeführt werden. Aber auch die Herstellung von Kontinuität in Form einer Bildungsgeschichte ohne Brüche ist denkbar. Unabhängig davon, wie stark die Abgrenzung zum kindlichen oder jugendlichen Musikgeschmack gezogen wird, bringen sich die Akteure dadurch als musikalisch interessierte Individuen zur Darstellung, die sich weiterentwickeln und musikalisch nicht stehenbleiben. 6.3.2.2 Biographische Andere als soziale Objekte der Abgrenzung Neben dem eigenen biographischen Selbst können auch biographische Andere (Goffman 1963/1975) als Objekte der Abgrenzung thematisiert werden. Empirisch fallen darunter in den meisten Fällen Eltern, Geschwister, andere Verwandte sowie FreundInnen. Gemeinsam ist den genannten Personenkategorien, dass sie wechselseitig über biographisches Wissen verfügen, da sie einen Teil ihrer Lebensgeschichte teilen. Auch die Befragten in dieser Studie verfügen potenziell über (intimes) Wissen über ihre biographischen Anderen. Empirisch drängt es sich geradezu auf, dass die biographischen Anderen wiederholt Gegenstand symbolischer Abgrenzungen werden. Auf Basis des verfügbaren Wissens über biographische Andere gewinnen die Abgrenzungen eine andere Detailschärfe als solche gegenüber Fremden. Sie sind den Akteuren nicht als Typen von Handelnden gegenwärtig, sondern als Vater, Schwester oder Freundin. Die symbolischen Abgrenzungen können spezifische Lebensphasen thematisieren. Die Abgrenzung von den Eltern kann beispielsweise als spezifische Leistung im Übergang zur Jugendphase interpretiert werden.56 In diesem Zusammenhang werden dann Eltern als soziale Objekte der Abgrenzung eingeführt.
56 Zugleich bewegen wir uns hier bereits in der Phase der musikalischen Sozialisation von der es in der musikpsychologischen Literatur heißt, dass die Abgrenzung von den Eltern immer bedeutsamer wird. In der Lebensphase an, die sich zeitlich bis über die Pubertät bis über das 20. Lebensjahr erstreckt, kann mit der Musikpsychologie von einer „Individualisierung der Musikpräferenzen“ ausgegangen werden (vgl. Kleinen 2008: 46). Diese sei gekennzeichnet durch abnehmende Orientierung an Eltern und Familie bei gleichzeitiger Zunahme der subjektiven Relevanz der Peergroup und der
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„(…) Ich hab angefangen irgendwie mit Queen und dann kamen irgendwie AC/DC und Metallica dazu und das war alles irgendwie neu für mich Queen noch irgendwie so n kleiner Stoppsen davor gabs die ZDF Hitparade, Queen war so das erste was für mich meine Musik war also was ich nicht mit meinem Eltern oder so zusammen gehört habe sondern selber alleine Queen gehört. Dann irgendwann AC/DC und Metallica das wurde dann auch irgendwann langweilich dann ähm hat der Bon Jovi hab ich auch viel gehört das wurde dann auch irgendwie langweilich und dann wie eben angesprochen kam so ne kleine HipHop Phase weil der deutsche HipHop halt irgendwie neu war (…)“ (Steffen: 8).
Steffen stellt hier den Verlauf seiner sich wandelnden musikalischen Präferenzen dar. Die Band Queen nimmt dabei eine besondere Stellung ein, da sie für ihn den Beginn der Entwicklung eines eigenen Musikgeschmacks markiert. Queen ist ‚seine‘ Musik, die erste Musik, die er nicht zusammen mit anderen (v.a. seinen Eltern) hört. Damit bringt er implizit zur Sprache, dass mit der Aneignung von Queen eine für ihn neue Art und Weise des Zugangs zur Musik – eine individualisierte Hörstrategie – an Relevanz gewinnt. Diese Individualisierung des Musikhörens markiert symbolisch den Übergang von Kindesalter zu Jugend. In dieser Phase kann davon ausgegangen werden, dass der Einfluss der Eltern abnimmt, ja dass sogar die Eltern als lebensphasenspezifische Objekte zur symbolischen Abgrenzung dienen können. Die Entwicklung ‚eigener‘ musikalischer Abneigungen und Vorlieben kann in diesem Zusammenhang als wichtige Komponente der Darstellung des Nicht-mehr-Kind-seins gedeutet werden.57 Neben den Eltern stellen Geschwister eine weitere wichtige Gruppe innerhalb der biographischen Anderen dar, die als soziale Objekte der Abgrenzung thematisiert werden. Im folgenden Interviewauszug positioniert sich Steffen in Bezug auf seine beiden Schwestern: „I: Hatten deine Schwestern auch ähnliche Neigungen wie du oder sind die auch immer offen für neue Musik oder haben die sich in ne andere Richtung entwickelt? S: Bei Jessica schon, Jessica ist aber auch nur zwei Jahre jünger, wir haben auch einen überlappenden Freundeskreis und bei Miriam, die ist deutlich jünger, da ist Hopfen und Malz verloren, also halt so Ballermannmusik. Da ist unser Einfluss gering gewesen was Musik angeht. Oder sie hat halt einen entsprechenden Freundeskreis die darauf stehen,
Medien. Auf diese Art bilden sich neue Vorlieben und Abneigungen heraus, die sich im Weiteren zu „stabilen Präferenzmustern“ verdichten. 57 Ähnlich deutet König (2007) die Bemühungen um Darstellung von Autonomie im Kleidungsstil von Jugendlichen.
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halt so Partyschlager oder ein bisschen in den schlimmen Kirmestechno rein, ja. Find ich ziemlich peinlich aber.“ (Steffen: 107-108)
Während Steffen seiner zwei Jahre jüngeren Schwester einen ähnlichen Musikgeschmack wie sich selbst zuschreibt, was er durch den Einfluss der Peers erklärt, grenzt er sich deutlich von den musikalischen Präferenzen seiner jüngsten Schwester ab. Deren Musikgeschmack ist ein hoffnungsloser Fall („Hopfen und Malz verloren“), was zum Teil mangelnden Einfluss von Seiten Steffens und Jessicas bzw. schlechten Einfluss durch die Peers der jüngsten Schwester geschuldet ist – so Steffens Deutung. Die Ordnungsbegriffe „Ballermannmusik“, „Partyschlager“ und „Kirmestechno“ weisen bereits einen negativen wertenden Charakter auf, der durch die Verwendung dieser Bezeichnungen in Steffens Aussage bestätigt wird. Während in den Interviews musikalische Näheverhältnisse zwischen Geschwistern positiv gewertet werden, und in Form von Konsumgemeinschaften (vgl. Kapitel 5.2.2) mangelnde ökonomische Ressourcen ausgleichen können, wird musikalische Distanz – sobald sie ein gewisses Maß überschreitet – durchgängig als negativ gewertet. In diesen Fällen werden Geschwister als Objekte der Abgrenzung thematisiert. Diese symbolischen Abgrenzungen übersetzen sich jedoch nicht zwangsläufig in soziale Abgrenzungen, da es gerade in Verwandtschaftsbeziehungen vielfältige Ressourcen der Vergemeinschaftung zur Verfügung stehen. Wenn ästhetische Distanz im Feld der Musik problematisiert wird, dann in Bezug auf Partner oder Partnerinnen in Paarbeziehungen. So unterstreicht Kim in der folgenden Passage die Relevanz von Musikgeschmack in Partnerschaften: „(…) Irgendwie keine Ahnung außerdem überschneiden sich doch dann in ner Beziehung früher oder später eh die Musikgeschmäcker sonst fänd ichs irgendwie komisch wenn Lars die ganze Zeit irgendwas hören würde was ich total doof finde. Da müsst ich sonst ständig das Zimmer verlassen oder [beide lachen] wenn er Musik hört. Man man lernt ja dann auch über den Partner andere Sachen kennen neue Sachen zum Beispiel die Ganzen Hardcore-Bands die Lars hört die kannt ich vorher gar nicht und jetzt find ich auch en paar davon ganz cool.“ (Kim: 102)
Sie postuliert zunächst, dass sich in einer Paarbeziehung die musikalischen Präferenzen langfristig angleichen. Die Folgen stark abweichender Präferenzen innerhalb einer Beziehung sind dabei für sie an den Grenzen des Vorstellbaren. Abschließend zeigt sie anhand ihrer eigenen Erfahrung, dass sie Elemente des Musikgeschmacks ihres Freundes in den eigenen integriert hat. Inwiefern er auf
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ihre musikalischen Präferenzen eingegangen ist oder eingeht, thematisiert sie hingegen im Interview nicht. Wie die vorangehenden Beispiele deutlich zeigen, sind biographische Andere in mannigfaltiger Form Objekte des Sich-Abgrenzens. Auf Basis des Wissens über sie und ihre kulturellen Vorlieben und Praktiken weisen die symbolischen Abgrenzungen, in denen sie thematisiert werden, in der Regel einen hohen Detailierungsgrad auf. Demzufolge können sie aber auch als VertreterIn eines Typus eingeführt werden, von denen sich die Akteure abgrenzen. Wie gerade das Beispiel biographischer Anderer deutlich vor Augen führt, impliziert symbolische Distanzierung keineswegs soziale Distanzierungen. Wobei gerade bei „gewählten“ Sozialbeziehungen kulturelle Dissonanz auf Dauer andere Risiken zu bergen und Anpassungsleistungen zu fordern scheint, als in Verwandtschaftsverhältnissen. Sich-Abgrenzen bzw. Identifizieren mit biographischen Anderen kann unterschiedliche Effekte zeitigen wie oben deutlich wurde. 6.3.2.3 Anonyme Andere als soziale Objekte der Abgrenzung Unter der symbolischen Abgrenzung von anonymen Anderen wird hier verstanden, dass nicht auf konkrete, biographische Andere Bezug genommen wird, sondern dass auf stärker abstrahierte Typisierungen zurückgegriffen wird. Dabei können sowohl Typen von Handelnden als auch typisiertes Akteursverhalten als Objekt der Abgrenzung thematisiert werden. In der Empirie werden zum Beispiel Publika, Szenen oder auch das Verhalten von Publikumsmitgliedern als Objekte der Abgrenzung eingeführt. Im folgenden Zitat grenzt sich Dana von nicht näher bestimmten PophörerInnen ab. Damit einher geht eine Differenzierung von Eigen- und Fremdgruppe: „D: (…) Also Pop ist für mich nicht mehr so verpönt wie das vielleicht zu Jugendzeiten noch war, ne wie gesagt, der engstirnige Jugendliche. I: Wieso wars denn damals für dich verpönt? D: Naja Pop haben die anderen gehört ne? [beide lachen] Wir haben äh Hamburger Schule gehört und das war halt total schräppig und es war auf Deutsch und es war bewusst dilettantisch und es war eigentlich auch keine Musik zum Feiern aber für uns war es genau richtig. War halt auch so ein bisschen um sich zu positionieren [I: mhm]. Das muss ich halt jetzt nicht mehr machen mit (1s) 30.“ (Dana: 102-104)
Damit ist dieser Auszug ein typisches Beispiel für die symbolische Abgrenzung auf Basis der musikalischen Präferenzen. Die Qualifizierungen der „eigenen“ Musik („Hamburger Schule“) bezieht sich sowohl auf musikimmanente als auch -exmanente Kriterien (vgl. Kapitel 6.2). Während die Präferenz der Fremdgrup-
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pe unterbestimmt und damit offen bleibt, erfährt die Musik der Eigengruppe eine mehrfache Legitimierung. Mit Danas Positionierung geht zugleich eine Hierarchisierung von Popmusikgenres aufgrund der genannten Kriterien einher. Konkreter begründet Konrad in der anschließenden Interviewpassage seine Ablehnung von Ska und Reggae. Hierbei handelt es sich um ein Beispiel für symbolische Abgrenzung von einer Szene aufgrund der zugeschriebenen politischen Haltungen: „Ähm weiß ich nicht weil des so dieses dieses haha wir sind so wir wollen so Spaß haben da fehlt mir so dieses dieses ähm dieses wirklich also in dieser in dieser ähm Ska-FunSzene ja die jetzt grad so extrem populär is fehlt mir ganz extrem dieses dieses Kritische und dieses dieses wir sind gegen was und so. Des geht mir voll aufn Zeiger. Des geht mir voll aufn Zeiger. Ähm (1s) und des verbind ich dann auch mit der Musik (1s) entsprechend. Und und deswegen kann ich auch keinen Reggae hören find ich genauso. Reggae furchtbar. Ja. Auch dieses hah peace und happiness und so geht mir voll aufn Sack wobei das ja wiederum schon wieder ne Musik is die sehr sehr durchaus kritisch ja auch is und und durchaus kritische Ansätze hatte ja. Ähm aber da kann ich einfach auch die Leute dies hören nicht abham. So.“ (Konrad: 85)
Die Ablehnung der genannten Musik wird über die fehlende kritische Perspektive legitimiert. Hinzu kommt, wie das Ende des Abschnitts zeigt, dass er nicht nur die als unkritisch eingeschätzte Haltung der MusikerInnen ablehnt, sondern auch die Szeneangehörigen, die diese Musik konsumieren, werden von ihm abgelehnt. Ähnlich wird er im Anschluss auch mit „White Metal“ und „Christenrock“ (Konrad: 87) verfahren. Ähnlich der symbolischen Abgrenzung gegenüber einer Szene funktioniert die Abgrenzung von einem (anonymen) Publikum. Systematisch ist zwischen Szene und Publikum zu unterscheiden. Abgesehen von der Häufung „ähnlicher Publikumserfahrungen“ (Schulze 1992/2005: 463) zeichnet eine Szene im Gegensatz zu einem Publikum aus, dass sie sowohl in ihrer Binnenwahrnehmung als auch „von außen“ als Szenen wahrgenommen werden – in diesem Sinne existiert keine Szene, solange sie nicht „in Szene gesetzt“ wird (vgl. Hitzler/ Bucher/Niederbacher 2001: 22). Im folgenden Beispiel grenzt sich Johanna aufgrund des wahrgenommenen Verhaltens symbolisch ab: „Aber wenn ich dann mal in anderen Schauspielhäusern war, dann war ich manchmal ganz erschrocken, auch über das Publikum, das manchmal an den falschen Stellen lachte, wo ich mir immer dachte, wo bin ich hier? Ist das ein Kegelklub oder was? [beide lachen].“ (Johanna: 84)
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Vor der Hintergrundfolie der Erwartungen an legitimes Publikumsverhalten stellt sie den Kontrast zum „tatsächlichen“ Publikumsverhalten heraus. Deutlich wird hierbei auf eine Differenz zwischen legitimer (Schauspielhaus) und illegitimer Kultur (Kegelclub) abstellt, indem das kritisierte Publikum eines Schauspielhauses mit den Mitglieder eines „Kegelclubs“ verglichen wird. Damit basiert die Abgrenzung, die Johanna hier vornimmt, auf Erwartungen an angemessenes Verhalten – konventionelle Anforderungen an das Verhalten der Publikumsmitglieder. Dabei muss keineswegs eine „reale“ Erfahrung mit Publikum vorliegen, damit dieses als Abgrenzungsobjekt thematisiert werden kann. Dana beispielsweise führt ein Publikum ein, bei dem anhand ihrer Aussage nicht klar wird, ob es sich um ein imaginiertes oder erlebtes Publikum handelt: „Ahmmm Reggae [lacht] [I: ja] kann ich irgendwie nicht so ab ich weiß nicht warum. Ich glaub das hat auch viel damit zu tun dass ich das immer mit Hippies verbinde. [lacht] [I: ehm] und ähm also ich weiß nicht ich hab da glaub ich in (Stadtname) so ne Abneigung gegen entwickelt also ich hab vorher auch kein Reggae gehört oder so aber da hast man halt immer seine typische, die typischen Leute vor sich und das ist mir irgendwie en bisschen zu vielleicht weil es auch nicht wie sagt man na ja weil es halt nicht so nach vorne geht Reggae. Ist ja schon eher en bisschen zurückgelehnter und das gefällt mir irgendwie nicht so gut.“ (Dana: 8)
Dana verbindet hier musikimmanente Eigenschaften mit den Eigenschaften des thematisierten Publikums, um ihre symbolische Abgrenzung zu plausibilisieren. Die negative Referenz, die sie stereotyp mit der unterstellten Trägergruppe des thematisierten Genres verbindet, bringt sich auf den Begriff „Hippies“. Offenkundig verbirgt sich hinter dieser Typisierung für die Interviewte ein negatives Eigenschaftsbündel. Eine weitere Möglichkeit der Abgrenzung besteht darin auf einen Altersbegriff oder eine Altersgruppe zu referenzieren. Während in Bezug auf das biographische Selbst in der Regel eine Abgrenzung gegenüber Jüngeren stattfindet, illustriert das folgende Interviewexzerpt eine Abgrenzung gegenüber Älteren: „So Sachen aber auch die bei mir gar nicht in Frage kommen wie Country oder Schlager weil das einfach nicht meine Generation irgendwie is. Aber ich hör ganz gern Oldies so von meinen Eltern her also wenn ich irgendwie Radio höre dann am liebsten en OldieRadio [lacht].“ (Kim: 8)
Bestimmte musikalische Genres („Country“, „Schlager“) werden hier von Kim mit einer anderen Generation verknüpft. Die Vermutung liegt nahe, dass es sich
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dabei um ältere Generationen handelt, da sie im Anschluss mit „Oldies“ ein musikalisches Genre einführt, das sie mit ihrer Elterngeneration verbindet und das sie wertschätzt. Damit zeigt Kim zugleich, dass sie nicht grundsätzlich sich von der Musik vorangehender Generationen abgrenzt. Vielmehr gibt es für sie innerhalb dieser Generationen unterschiedliche Trägergruppen mit denen Kim unterschiedliche musikalische Stile verknüpft. 6.3.3 Legitimierungen und Qualitätskriterien als Bausteine des Sich-Abgrenzens Nachdem auf den vorangehenden Seiten der Fokus auf den Objekten des SichAbgrenzens lag, soll im Folgenden nachvollzogen werden, welche Rolle die Legitimierungen und Qualitätskriterien (vgl. Kapitel 6.2) für symbolische Abgrenzungen spielen. Die These hierbei ist, dass diese wichtige Bausteine für symbolische Grenzziehungen darstellen. Ähnlich argumentiert auch Parzer in Bezug auf „sozialästhetische Positionierung“ (Parzer 2011: 177ff.). Da schon zahlreiche Beispiele für das Zusammenspiel von Qualitätskriterien und symbolischen Abgrenzungen in dem vorangehenden Unterkapitel präsentiert wurden – dort allerdings unter einem anderen Fokus – wird hier nicht auf Vollständigkeit abgestellt, sondern in gebotener Kürze exemplarisch aufgezeigt, wie sozialästhetische Positionierungen thematisiert werden können. Außerdem soll an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass eine explizite Benennung von sozialen Objekten der Abgrenzung nicht zwingend notwendig ist, um von Distinktion im Sinne Bourdieus oder symbolischem Sich-Abgrenzen im hier vorgeschlagenen Sinne zu sprechen. Die sozialästhetischen Positionierungen, welche die Interviewten vornehmen, dokumentieren ihre Relationen zu anderen Musikpräferenzen und Hörstrategien. Durch die Markierung von Nähe und Distanz werden so objektiv symbolische Grenzziehungen vorgenommen, die ggf. im Sinne sozialer Grenzziehungen wirksam werden können.58 Eine erste Variante der symbolischen Abgrenzung verweist auf musikimmanente Qualitätskriterien. In der folgenden Interviewpassage schildert Johanna ihre Erfahrungen mit dem Budapester Ballett:
58 Eine eigene Frage wäre es, zu untersuchen, unter welchen (situativen) Bedingungen sich symbolische Nähe- wie Distanzverhältnisse in soziale Grenzziehungen übersetzen. Ein möglicher Ansatzpunkt könnte die Untersuchung von „Bewährungsproben“ darstellen (Berli 2012).
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„Hier war das so, dass wir eine Woche in Budapest waren und meine Freundin ist Ungarin und wir hatten das vorher so ausgesucht, dass es vermutlich die wenigsten Sprachprobleme beim Ballett gibt und wenn es Romeo und Julia gibt dann kann das eigentlich nichts schiefgehen. Und die Haupttänzer waren auch ganz ausgezeichnet, wo ich dann ein bisschen geseufzt habe, waren die Volksszenen gewesen, die waren also arg konventionell aber da muss man auch sehen, dass das Budapester Publikum das so möchte. Und die Haupttänzer haben auch sehr wundervoll getanzt, aber die großen Massenszenen da waren da wirklich alle Leute drauf geschmissen die gingen und es war dann sowohl von den Kostümen als auch von den Abwicklungen her sehr konventionell (…)“ (Johanna: 80).
Unter Nutzung des musikimmanenten Kriteriums reproduktiv vs. innovativ (vgl. 6.2.2.1) kommt Johanna zu dem Urteil, dass die Aufführung, die sie gemeinsam mit einer Freundin im Urlaub besucht hat, zumindest in Teilen zu „konventionell“ gewesen sei. Dabei macht sie die Konventionalität an mehreren Indizien fest (Umsetzung von Massenszenen, Kostüme). Entscheidend ist hierbei, dass sie die Art und Weise der Aufführung mit den Ansprüchen bzw. Erwartungen des Budapester Publikums verbindet („dass das Budapester Publikum das so möchte“). Damit nimmt sie das aufführende Ensemble in Schutz – denn schließlich könnte es auch der Adressat von Kritik sein – und grenzt sich gleichzeitig von dem „konventionellen“ Geschmack des lokalen Publikums ab. Johannas symbolische Abgrenzung unter Bezug auf musikimmanente Kriterien59 trifft damit weniger die KünstlerInnen als vielmehr die anonyme Masse, deren standardisierter Geschmack Experimente nicht gutheißen würde. Neben musikimmanenten Wertungen, die auf die unterstellten Trägergruppen eines Geschmacks übertragen werden, sind es gerade auch Wertungen mit Bezug auf musikexmanente Kriterien, die ein hohes Distinktionspotenzial aufweisen. Zu den musikexmanenten Qualitätskriterien können beispielsweise die politischen Einstellungen von Bands, MusikerInnen oder Genres gezählt werden. Die symbolischen Abgrenzungen von musikalischen Genres und implizit ihrem Publikum aufgrund politischer Einstellungen wird im folgenden Interviewauszug deutlich: „Nee. Ja gibt es gibt es und zwar ähm interessanterweise auch ne Musikrichtung die auch mit Einstellung zu tun hat und zwar dieser unsägliche White Metal und Christenrock. Das ist genau das Gleiche das kann ich aufn Tod nich abham. Wobei da teilweise wirklich gute
59 Natürlich muss hier zugestanden werden, dass es in Bezug auf Musiktheater nicht einfach von musikimmanent die Rede sein kann. Das Konzept wird hier im Sinne von feldimmanent verwendet.
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Bands sind. Die wirklich auch gut spielen. Das ist überhaupt nicht die Sache und die eigentlich genau das Gleiche machen wie andere auch die ich super finde. Aber die (1s) die stehen für etwas (1s) was ich nicht abhaben kann. (2s) Also es ist da da (1s) da is wahrscheinlich genau des wirklich dass Musik für mich (1s) immer Einstellung transportiert und Meinung transportiert. Und ähm ich Leuten das vorwerfe wenn se a das nicht tun als sprich in dem langweiligen Pop so lalala wir haben uns alle lieb und so weiter ja und ähm ich das (1s) furchtbar finde aber auch eben auch in anderen Musikrichtungen wo ich einfach sag da find ich die Einstellung einfach scheiße (…)“ (Konrad: 87).
Konrad formuliert in dieser Passage ein deutliches musikalisches Geschmacksurteil. Dabei wägt er musikimmanente (musikalisches Können) und -exmanente (politische bzw. religiöse Einstellung) Qualitätskriterien gegeneinander ab, und gewichtet letztgenannte deutlich stärker. Implizit kommt durch diese Positionierung auch eine Abgrenzung gegenüber den Publika dieser Musik zum Ausdruck. Denn für Konrad ist es nicht akzeptabel, die musikalische Form wertzuschätzen, wenn die zugeschriebene religiöse oder politische Einstellung seinem Wertehorizont widerspricht. Die symbolischen Abgrenzungen unter Bezug auf funktionale Legitimierungen bewegen sich in den Daten häufig im Grenzbereich zur Ablehnung spezifischer habitualisierter Hörstrategien. Ein repräsentatives Beispiel hierfür ist die folgende Äußerung Kims: „(…) Und bei meiner Mutter ist das eher so dass die in der Küche immer Radio hört halt alles was da gerade gedudelt wird und dann immer schön mitsingt und ja so. Na ja als Betüdelung (...)“ (Kim: 60).
Einerseits schildert sie in dieser kurzen Sequenz das aus ihrer Sicht typische Hörverhalten ihrer Mutter, die das Radio in der Küche zur Unterhaltung zu nutzen scheint. Dabei stellt Kim auf die „Wahllosigkeit“ bzw. „Beliebigkeit“ dieses Hörverhaltens ab und führt zugleich ein funktionales Motiv ein: „Betüdelung“, also Unterhaltung. Die Wortwahl Kims („gedudelt“, „Betüdelung“) lässt sich im gleichen Maße als Distanzierung vom Programm lesen, dem man sich unterwirft – in dieser Hinsicht evoziert sie die typische Höherbewertung des aktiven gegenüber dem passiven Konsumenten –, als auch als Kritik an der funktionalen Hörstrategie ihrer Mutter. Bestimmte habitualisierte Hörstrategien können auch als Kriterien für symbolische Abgrenzungen fungieren. Hierbei bietet die Praxis des Konzertbesuchs sowohl historisch als auch gegenwärtig vielfältige Beispiele. So führt beispiel-
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weise Johanna im folgenden Zitat an, dass sie vom Besuch eines bestimmten Konzerts absehen wird, denn: „Und jetzt mag ich nur nicht zu dem Konzert gehen weil das nur Stehplätze hat und das find ich unfein [beide lachen].“ (Johanna: 12)
Wie wir uns erinnern, hatte sich Johanna bereits an anderer Stelle von der legeren Kleidung einiger Besucher der Ruhrtriennale abgegrenzt – mit einem Hinweis auf Körperhygiene. Mit dieser kurzen Äußerung disqualifiziert sie eine Form des räumlichen Arrangements bei Konzerten, das in vielen Bereichen der populären Musik gegenwärtig üblich ist. Diese Entscheidung begründet sie nicht in Bezug auf ihr Alter oder die Vorzüge von Sitzplätzen, zum Beispiel weil diese die Territorien des Selbst schützen – Goffman spricht hier von „Boxen“ (1971/1982: 59ff.). Sie urteilt, dass Konzerte ohne Sitzplätze generell „unfein“ sind. Mit dieser Qualifizierung öffnet sich ein weiter Assoziationshorizont, der auch Schicklichkeit mit einschließt. Wie die vorangehenden Beispiele zeigen lassen sich die Legitimierungen und Qualitätskriterien in vielfältiger Form für die Positionierung im Feld der Musik nutzen. Sie stellen wichtige Bausteine für die symbolischen Abgrenzungen dar, welche die Akteure vornehmen – unabhängig davon, ob explizit Abgrenzungsobjekte eingeführt werden. Denn jede spezifische Grenzziehung erschließt ihren vollen Sinn erst im relationalen Rückbezug auf den objektiven Möglichkeitsraum des Musikgeschmacks. 6.3.4 Praktiken des Sich-Abgrenzens: Zusammenfassung Die vorliegenden Analysen zur Dimension des Sich-Abgrenzens erfolgten in den vorangehenden Kapiteln in vier Schritten. Erstens wurden in Anlehnung an Goffman das Bühnenbild und die Requisiten der Abgrenzungspraktiken untersucht (Kapitel 6.3.1). Zweitens wurde der Frage nachgegangen, vom wem sich die Akteure abgrenzen, wenn sie explizit ein soziales Objekt der Angrenzung einführen (Kapitel 6.3.2). Drittens wurde exemplarisch die Rolle von Legitimierungen und Qualitätskriterien für symbolische Grenzziehungen in den Blick genommen (Kapitel 6.3.3). Die folgende Tabelle fasst die einzelnen analytischen Aspekte zusammen und nennt jeweils Beispiele für die angeführten Dimensionen:
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Analytische Aspekte Bühnenbild und
Beschreibung
Beispiele
Bühnenbild
Tonträgersammlung
Requisiten
Bandshirts
Requisiten als materiale Objekte der Abgrenzung
Musikalische Jugendsünden; Biographische Selbst der Abgrenzung
Biographische Andere
Familienangehörige, Freunde
Anonyme Andere
Publika, Szenen
Musikimmanente Qualitätskriterien Legitimierungen und
Musikexmanente
Qualitätskriterien als
Qualitätskriterien
Bausteine des Sich-Abgrenzens
Kontinuität, Entwicklung, Brüche
Soziale Objekte
Funktionale Legitimierungen Habitualisierte Hörstrategien
Rhythmus
Authentizität
Feiern
Auftreten einer Band
Tabelle 14: Analytische Aspekte der Praktiken des Sich-Abgrenzens In Bezug auf Bühnenbild und Requisiten des Sich-Abgrenzens wurde hier einem Vorschlag von Gebhardt (2010) gefolgt, die Analyse der Distinktionspraxis um Konzepte der Theorie der Selbstdarstellung (Goffman 1959/1983) zu ergänzen. Auf diese Weise gelingt es die Materialität von symbolischen Abgrenzungen stärker in den Blick zu bekommen. Unter Bühnenbild wird dabei eine räumlich klar definierte, in der Regel immobile Kulisse für die Selbstdarstellung verstanden (Goffman 1959/1983: 23). In Bezug auf die Darstellung des persönlichen Musikgeschmacks gewinnen folglich die räumliche Aufteilung und Anordnung von Tonträgern, Stereoanlagen und Fanartikeln bzw. Devotionalien für die Analyse an Bedeutung. Im Gegensatz dazu lassen sich unter Requisiten bewegliche „Ausdrucksträger“ verstehen. Im Hinblick auf die Interviewten lassen sich an dieser Stelle Kleidung (wie beispielsweise Bandshirts), Buttons und Ähnliches fassen. Das Bühnenbild erlaubt es den Akteuren vor allem innerhalb des privaten Raums, sich selbst und ihre musikalischen Präferenzen in des „rechte Licht“ zu rücken. Dabei lässt sich vor allem das Bühnenbild – unabhängig von der präfe-
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rierten Musik und ihrem Legitimitätsgrad – untersuchen. Die Requisiten sind stärker in den Bereichen der weniger legitimen Genres vertreten. Am Beispiel von Kleidung lässt sich das leicht verdeutlichen. Während im Bereich der legitimen Genres eine „angemessene“ Kleidung kaum oder nur unter besonderen Bedingungen von der Kleidung für den Besuch eines teuren Restaurants zu unterscheiden ist, trifft dies nur bedingt für populärkulturelle Genres zu. Denn gerade im Bereich der Populärkultur – aber nicht ausschließlich dort – gibt es eine Vielzahl (szene)spezifischer Kleidungscodes und Requisiten, die nur bedingt auf unterschiedliche situative Rahmungen transponierbar ist. In Bezug auf die sozialen Objekte des Sich-Abgrenzens lässt sich zusammenfassend festhalten: Wenn in musikalischen Geschmacksurteilen explizit soziale Objekte der Abgrenzung eingeführt werden, können dabei ganz unterschiedliche Objekte thematisiert werden. Hier wird vorgeschlagen drei Typen von sozialen Objekten der Abgrenzung zu unterscheiden. Erstens das biographische Selbst, zweitens biographische Andere und drittens die sogenannten anonymen Anderen. Zu den Aspekten, die im Zusammenhang mit dem biographischen Selbst thematisiert werden, zählen sogenannte „musikalische Jugendsünden“, die Darstellung von Kontinuität oder Brüchen in der musikalischen Biographie, die unter Umständen in musikalischen Renovierungs- oder Aufräumarbeiten (des Tonträgerbestands) ihren Ausdruck finden. Je nachdem, ob eine kontinuierliche Entwicklung hin zum besseren Musikgeschmack mit oder ohne Brüche erzählt wird, variieren auch die Emotionen in Bezug auf das biographische Selbst. Hier stehen Aussagen, die Scham oder Peinlichkeit kommunizieren, solchen gegenüber, die auf negativ konnotierte Emotionen verzichten. Als zweite wichtige Gruppe von sozialen Objekten der Abgrenzung kommen nun die biographischen Anderen in den Blick. Darunter sind Familienmitglieder wie die Eltern oder auch Freunde zu zählen, die potenziell über umfangreiches und intimes biographisches Wissen verfügen, was natürlich auch vice versa gilt. Dieses intime Wissen wird von den Akteuren genutzt, um sich von den musikalischen Präferenzen und den habitualisierten Hörstrategien beispielsweise der eigenen Eltern abzugrenzen. Vor allem in der symbolischen Markierung der Übergänge von Kindheit zu Jugend und wiederum von Jugend zum Erwachsenenalter sind diese Grenzziehungen besonders gut zu beobachten. Mit der symbolischen Abgrenzung vom musikalischen Geschmack der Eltern dokumentieren die Akteure ihre persönliche Entwicklung.60 Ebenso lassen sich Abgrenzungen von dem Geschmack der FreundInnen als Darstellungen eines (zunehmend) individualisierten Ge-
60 Dabei ist im Erwachsenenalter diese symbolische Abgrenzung nicht mehr im selben Maße notwendig, wie die Interviewpassage mit Kim zeigt.
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schmacks lesen. Die letzte Gruppe von sozialen Objekten der Abgrenzung umfasst anonyme Andere. Hier wird häufig auf Typen von Handelnden und typisierte Handlungen verwiesen, von denen sich die Akteure symbolisch abgrenzen. Das können beispielsweise Szenen oder Publika sein. Diese werden als anonyme Gruppen thematisiert und nicht als konkrete Individuen wie es bei den beiden erstgenannten Objekten der Abgrenzung der Fall ist. Entsprechend allgemeiner sind die Urteilsstrukturen, die den Grenzziehungen zugrunde gelegt werden. In einem dritten Schritt wurden Legitimierungen und Qualitätskriterien als Bausteine des Sich-Abgrenzens untersucht. Unter Rückgriff auf die Ergebnisse zu den Praktiken des Legitimierens (Kapitel 6.2) konnte dabei gezeigt werden, wie die unterschiedlichen Legitimierungen und Qualitätskriterien genutzt werden, um nicht nur Musik zu werten, sondern auch symbolische Grenzen zu markieren. Dies kann beispielsweise dadurch geschehen, dass musikimmanente Wertungen („Musik ist zu konventionell“) auf die unterstellte Trägergruppe („das Publikum möchte das so“) übertragen werden. Auf diese Weise fungiert das musikalische Geschmacksurteil zugleich als symbolische Abgrenzung von Individuen oder Gruppen. Dabei können sowohl einzelne Qualitätskriterien zum Einsatz kommen als auch mehrere gegeneinander abgewogen werden. Strenggenommen lässt sich in diesem Zusammenhang auf Basis der Interviewdaten nur wenig darüber sagen, inwiefern sich diese Praktiken des Sich-Abgrenzens als soziale Grenzziehungen fungieren. Dazu sind weitere Untersuchungen notwendig.
7. Grenzen des Musikgeschmacks und grenzüberschreitender Musikgeschmack
Die Selbstdeutungen und Selbstdarstellungen der Interviewten werden im Folgenden hinsichtlich des Spannungsverhältnisses von Offenheit und Abneigung bzw. Ekel untersucht. Dieses Spannungsverhältnis erscheint vor dem Hintergrund aktueller soziologischer Analysen zur Struktur distinktiver Geschmacksmuster in gegenwärtigen Gesellschaften von besonderem Interesse. In einer Reihe von Untersuchungen werden Konzepte wie „demonstrative Toleranz“ (Gebesmair 1998), „kulturelle Mobilität“ (Emmison 2003) oder „Modi der Offenheit“ (Ollivier 2008) als zeitgemäße und zentrale Merkmale des „guten“, d.h. gesellschaftlich anerkannten, legitimen Geschmacks gedeutet. In zeitdiagnostischer Perspektive konstatiert beispielsweise Peterson einen Bedeutungsgewinn des „cultural omnivore“ zu Lasten des Kultursnobs (Peterson 1997a). Hiermit eröffnet sich ein relevantes Untersuchungsproblem, denn vorangehende soziologische Theorien des Geschmacks betonen die Bedeutung der symbolischen Abgrenzung, des Widerwillens und Ekels, der gegenüber dem Geschmack anderer zum Ausdruck gebracht wird. Der klassische Ort für eine solche Position sind natürlich die Arbeiten Bourdieus. Für ihn zeigten sich die Grenzen des Geschmacks in den Abneigungen bzw. im Ekel oder Abscheu am deutlichsten. Denn der Geschmack ist Bourdieu zufolge „zunächst einmal Ekel, Widerwille – Abscheu oder tiefes Widerstreben [...] gegenüber dem anderen Geschmack, dem Geschmack der anderen“ (Bourdieu 1979/1987: 103).1 Dieser These folgend sich
1
Auch wenn das obige Zitat den Eindruck erweckt, dass Ekel und Widerwillen als symbolische Grenzziehungen nicht nur von oben nach unten, sondern auch von unten nach oben geäußert werden können – oder auch horizontal zwischen den Fraktionen einer Klasse –, dominiert in Bourdieus Schriften die vertikale top-down Grenzziehung. Im Gegensatz dazu wird im Rahmen der vorliegenden Untersuchung davon
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haben sich einige Studien – gerade auch im Gefolge der Omnivorizitätsforschung – eingehender mit der Thematik der Abneigungen und ihrer Strukturen befasst. Allen voran ist hier Bryson (1996) zu nennen, welche die „cultural omnivore“-These und die damit verbundene Offenheitsannahme auf Basis von musikalischen Abneigungen untersucht hat. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass in den USA ein Zusammenhang zwischen Bildung und musikalischer Toleranz besteht. Allerdings zeigt sie auch auf, dass diese Toleranz in mehrfacher Hinsicht strukturiert ist (Bryson 1996: 894f.) – wichtige Determinanten sind laut ihren Ergebnissen die Trägergruppen musikalischer Genres (und ihre sozialstatistischen Merkmale wie Bildungsstatus oder „race“ bzw. Ethnizität). Ein weiterer wichtiger Beitrag ist von Alan Warde (2011) zu diesem Thema zu verzeichnen. Im Anschluss an Bourdieu (1979/1987) und Douglas (1996) untersucht er die „cultural hostility thesis“, wie er sie nennt. Schließlich lassen sich weitere Hinweise für die Diskussion bei Parzer (2011) finden, der Toleranz und Offenheit im Zusammenhang mit dem sogenannten „Querbeet-Geschmack“ diskutiert. Dieser stellt eine Variante grenzüberschreitenden Geschmacks innerhalb der populären Musik dar. In den vorangehenden Kapiteln wurde eine Theorie des unterscheidenden Hörens entwickelt, die auch jenseits der Untersuchung von Phänomenen der Omnivorizität ihre Anwendung finden kann. Hier soll sie jedoch dazu herangezogen werden, um zentrale Elemente grenzüberschreitenden Musikgeschmacks näher zu bestimmen. Die analytischen Aspekte der Theorie des unterscheidenden Hörens aufgreifend, sollen im Folgenden aus der Perspektive der Interviewten die Grenzen dessen herausgearbeitet werden, was als guter Musikgeschmack gilt – mit Fokus auf das Phänomen des grenzüberschreitenden Geschmacks. In einem ersten Schritt wird untersucht, wie sich in den Statements der Interviewten Offenheit beziehungsweise Ablehnung und Widerwillen äußern (Kapitel 7.1). Dazu werden die analytischen Fokussierungen der Theorie des unterscheidenden Hörens genutzt, um grenzüberschreitenden Musikgeschmack als empirisches Phänomen in den Blick zu nehmen. Den Abschluss des Kapitels bilden zusammenfassende Überlegungen (Kapitel 7.2). Hier wird im Kern diskutiert, inwiefern Offenheit von den Akteuren als Zeichnen guten Geschmacks gedeutet und welche konkurrierenden Vorstellungen kommuniziert werden.
ausgegangen, dass symbolische Grenzziehungen vertikal (in beide Richtungen) wie horizontal vollzogen werden können.
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7.1 E LEMENTE DES GRENZÜBERSCHREITENDEN M USIKGESCHMACKS Der Widerwillen gegen eine bestimmte oder mehrere Musikformen wird in den Interviews nur selten offen formuliert – was vielleicht nicht zuletzt an den Rahmenbedingungen des Interviews liegt. Denn wer möchte sich gegenüber einem mehr oder minder Fremden, der zudem wenig bis nichts von sich preisgibt, als kulturell intolerant darstellen? Zu vermuten ist es, dass deutliche symbolische Abgrenzungen und ästhetische Positionierungen im Gespräch zwischen miteinander Vertrauten tendenziell einfacher zu beobachten sind. Denn hier wird Gemeinschaft gestiftet, indem symbolische Abgrenzungen (gegenüber Abwesenden) vorgenommen werden. Dennoch finden sich entgegen aller Wahrscheinlichkeit auch in den vorliegenden Interviews zum Teil sehr deutliche Bekundungen des Widerwillens bzw. Ekels. Im folgenden Interviewauszug thematisiert Steffen die Grenzen seines Musikgeschmacks. Eine bedingungslose Offenheit ist für ihn nicht denkbar: „Aaargh ich glaub sone weibliche Sopranstimme oder so ein tiefer Tenor das ist zu übertrieben das wirkt nicht authentisch [I: mhm]. Während Klassik jetzt so, vielleicht ein Klavierkonzert, wenn man gestresst ist und das ne Stunde hört, ich glaub das kann einen runterbringen. Das glaub ich wär eine Sache wo ich mir Klassik anhören würde, bei Oper kann ich mir nicht vorstellen was ich davon mitnehmen würde, ich glaub das würde mich auch an die Grenze zum aggressiv werden bringen wenn da sone jaulende Oper kommt [I: mhm]. Ich glaub Musicals ist so die moderne Form von Opern, find ich auch ganz grausam.“ (Steffen: 122)
Steffen wertet durchgängig Oper symbolisch ab, indem er sowohl ein musikexmanentes Kriterium (Authentizität) einführt als auch auf die erwartete emotionale Wirkung („aggressiv werden“) abstellt. Während er klassische Musik und deren Konsum durchaus Wert zugesteht – hier mittels einer funktionalen Legitimierung – scheitert er daran, eine funktionale Legitimierung für Oper zu formulieren. Abschließend stellt er einen Bezug zwischen Opern und Musicals her, wobei er letztgenannte apodiktisch negativ bewertet („grausam“). Ähnlich hart urteilt Steffen auch in Bezug auf Reggae und den hypothetischen Besuch eines Reggae-Festivals: „Aber Reggae hab ich oft so aus Spaß gesagt aber Summerjam Festival (1s) ich glaub nach nem halben Tag würd ich das Gelände verlassen [beide lachen] ich glaube das ging gar nich, drei Tage am Stück nur Reggae hören [I: mhm] ne.“ (Steffen: 36)
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Anhand dieser Beispiele lässt sich deutlich zeigen, wie sich Widerwillen und Abneigungen – von denen Bourdieu spricht – in Geschmacksurteilen äußern. Demgegenüber gibt es allerdings eine ganze Reihe von Nuancen und Varianten der Darstellung von Offenheit und kultureller bzw. musikalischer Toleranz, die es im Folgenden näher zu untersuchen gilt. Die analytischen Perspektivierungen, welche die in Kapitel 6 entwickelte Theorie des unterscheidenden Hörens liefert, leiten dabei die folgenden Interpretationen an. 7.1.1 Praktiken des Ordnens Bereits auf die Eingangsfrage reagierten die Interviewten sehr unterschiedlich: Während die einen sich selbst als „nicht festgelegt“ beschreiben, können andere sehr klar und eindeutig ihre präferierte Musik benennen. In der Gegenüberstellung dieser zwei Optionen, wird deutlich, wie Offenheit im Musikgeschmack – grenzüberschreitender Musikgeschmack – aussehen kann. So beschreibt Michael seine Musikgeschmack (und damit sich selbst) als nicht festgelegt: „Ähm was für Musik hör ich besonders gerne ähm (2s) äh was meinste jetzt in ne bestimmte Richtung oder Band oder (1s) ja da schon mal direkt ne Frage die für mich immer schwer zu beantworten ist [I: mhm] weil ich eigentlich grundsätzlich nicht auf eine Richtung so festgelegt bin [I: mhm] aber natürlich schon so im Laufe der Zeit nen paar Lieblingsband entwickelt hab (…)“ (Michael: 2).
Auf die Frage nach Musikpräferenzen reagiert Michael hier zunächst mit einer Problematisierung. Die Offenheit der Frage – bezieht sie sich auf Musikrichtungen oder einzelne InterpretInnen oder Gruppen – wird von ihm thematisiert und geschlossen, indem er formuliert, dass er musikalisch nicht auf Musikrichtungen bzw. Genres festgelegt sei. Sein Musikgeschmack ist, so lässt sich seine Selbstbeschreibung unschwer lesen, eher bandzentriert. Ein bandzentrierter Musikgeschmack spricht jedoch nicht per se gegen die Angabe von Präferenzen für musikalische Stile oder Genres. Schließlich können andere Interviewte wie beispielsweise Dana „Lieblingsbands“ benennen und zugleich klare Präferenzen für ein oder mehrere Genres angeben. Die Fokussierung auf einzelne Bands, Gruppen oder InterpretInnen kann auch dazu führen, dass ein Musikgeschmack als widersprüchlich bzw. eklektizistisch wahrgenommen oder beschrieben wird. Dies ist beispielsweise bei Bernd der Fall. Ähnlich wie Michael beschreibt auch Bernd seinen Musikgeschmack als bandzentriert. Anders als bei Michael stehen aber die wertgeschätzten Bands für unterschiedliche und sich zum Teil widersprechende Musikrichtungen.
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„Ähm (2s) ja äh vielfältig weil es ähm vielleicht vielfältig weils keine einzelne Musikrichtung is die ich die ich mag [I: mhm] weil ichs auch nicht auf Musikrichtungen aus- äh lege sondern (1s) ähm ich da eher schau was mir ähm (1s) äh gefällt [I: mhm] das hängt dann hauptsächlich von einzelnen Bands ab und dann ist es mir eigentlich auch egal in welche ähm Schublade sag ich jetzt mal die gesteckt werden ähm (2s) und das sind auch teilweise ähm Dinge wo ich weiß äh also teilweise Musikrichtungen wo ich weiß dass ähm oder ich mag zwei Richtungen (1s) und in meinem Freundeskreis wird dann nicht beides zusammen gehört sondern es gibt dann Teile von meinen Freunden die hören das eine und Teile die hören dann das andere das sind also teilweise Sachen die sich sozusagen bei anderen Leuten widersprechen würden (…)“ (Bernd: 2).
Zunächst führt Bernd sich hier im Interviewauszug als Musikhörer ein, der einen vielfältigen Musikgeschmack hat. Die Vielfältigkeit macht er daran fest, dass er nicht auf Musikrichtungen festgelegt ist, sondern sich an „einzelnen Bands“ orientiert. Dabei signalisiert er Desinteresse an den konventionellen Zuordnungen zu Musikrichtungen bzw. Genres. Gleichzeitig erhebt er seinen individuellen Geschmack zur einzigen Selektionsregel („schau was mir gefällt“) – auf die Hervorhebung des individuellen Geschmacks müssen wir gleich nochmals zurückkommen. Die präferierten Bands repräsentieren gleichwohl unterschiedliche Musikstile, die innerhalb von Bernds Freundeskreis von unterschiedlichen Personen bevorzugt werden. In seiner Darstellung hat es den Anschein, dass sich Präferenzen für diese Bands zumindest für viele seiner FreundInnen nicht ohne weiteres verbinden lassen. Damit konstruiert er sich letztlich als Musikkonsument, dessen Musikgeschmack Widersprüche vereint – und dies im Gegensatz zu den Musikpräferenzen seiner FreundInnen. Im Gegensatz zur demonstrierten Offenheit und dem „Nicht-festgelegt-seinwollen“ steht die Selbstbeschreibung als Spartenhörer. Hier lässt sich die Anfangssequenz aus dem Interview mit Konrad heranziehen, der auf dieselbe Frage wie Michael signifikant anders reagiert: „Ähm, pfff uh. (2s) Wahrscheinlich schon äh sehr (2s) ähm auf das Instrument Gitarre gemünzt bei mir. Also im Endeffekt äh würde ich sagen im Prinzip ist es schon nen sehr festgelegter Musikgeschmack nämlich eben Sparte (1s) in dem Falle (1s) ähm wobei ich aber auch durchaus auch andere Musik höre aber es muss immer ne Gitarre mit dabei sein. Was aber ja eben dann bei mir durch mein eigenes (2s) Spielen zusammenhängt. Aber ich glaube ich würde es schon im ersten Gespräch relativ klar auf Punkrock eingrenzen können, auf auf auf ne wirklich Szenemusik oder halt auf ne wirkliche Richtung. Ist ja klar eigentlich.“ (Konrad: 2)
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Im Vergleich zu Michael wird hier deutlich, dass sich Konrad auf eine Richtung („Punkrock“) festlegen kann, obwohl er konstatiert, dass er auch andere Musik hören kann. Der kleinste gemeinsame Nenner seiner stilistischen Bandbreite ist die Instrumentierung: Aufgrund seiner eigenen musikalischen Praxis, die er damit en passant einführt, gehört für ihn eine Gitarre zwingend dazu. Dem Sichnicht-festlegen-wollen steht hier ein Festgelegt-sein als Selbstbeschreibung gegenüber. Die Offenheit im musikalischen Konsumverhalten muss sich nicht zwingend in einer Zentrierung auf bestimmte Gruppen oder InterpretInnen äußern, wie bei Michael. So macht Steffen in seiner ersten Selbstbeschreibung im Interview deutlich, dass seine musikalischen Präferenzen stark dem entsprechen was Parzer einen populärkulturellen „Querbeet-Geschmack“ (Parzer 2011) nennt: „Mhm. Ich hör gute Musik gerne. Also eigentlich ist die Frage=Antwort ‚alles‘. Ich hör alles gerne so lange es gut ist. Also ich bin da relativ offen egal ob das jetzt Rockmusik ist oder HipHop oder elektronische Sachen oder ähäh auch gute Popmusik gibts natürlich von daher hab ich keine spezifische Richtung mehr die ich ausschließlich höre.“ (Steffen: 2)
Zum Zeitpunkt des Interviews beschreibt sich Steffen hier als „relativ offen“ und führt eine Reihe von musikalischen Genres ein. Einziges Kriterium ist die Qualität der Musik, die für ihn zu entscheiden scheint. Dabei bleibt er sehr unspezifisch und antwortet quasi tautologisch. Außerdem schwingt in seiner Antwort mit, dass diese relative Offenheit gegenüber Genres – im Gegensatz zu einer bandzentrierten Offenheit Bernds – nicht immer vorhanden war. Denn sein Statement endet mit der Aussage „von daher hab ich keine spezifische Richtung mehr, die ich ausschließlich höre“ (Steffen: 2, Herv. d. A.). Wie sich später im Interviewverlauf zeigen wird, gab es Phasen in Steffens musikalischer Biographie, die durch den exklusiven Konsum einer spezifischen Musikrichtung gekennzeichnet waren. Die Frage stellt sich, inwiefern die verschiedenen Formen von Offenheit und Festlegung, die in den Interviews exemplarisch zu Vorschein kommen, auch als Ausdruck unterschiedlicher Verläufe musikalischer Biographien und Sozialisationsprozesse zu interpretieren sind (siehe auch Kapitel 5). Die verschiedenen Formen musikalischer Offenheit sind nicht zu verwechseln mit unbedingter oder bedingungsloser Offenheit. Das lässt sich bereits an den zitierten Aussagen von Steffen verdeutlichen, der sich einerseits deutlich ablehnend gegenüber Opernmusik positioniert und andererseits gleichzeitig eine Offenheit gegenüber aller „guten“ Musik für sich reklamiert. Bedingungslose Offenheit würde von allen Interviewten als Beliebigkeit wahrgenommen und wird dementsprechend abgelehnt. Das legen auch die Ergebnisse nahe, die
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Bryson (1996) dazu veranlassen, in ihrer Untersuchung musikalische Offenheit als strukturierte Toleranz zu begreifen. Dana äußert sich in der anschließenden Passage über Grenzen der Offenheit. „Ja wer alles hört kann nicht ganz dicht sein, ne? [beide lachen] Wer für alles offen ist kann nicht ganz dicht sein. Das kann und will ich von mir nicht behaupten [D lacht] man muss auch ein paar Sachen richtig scheiße finden können sonst kann man sich ja gar nicht richtig reiben es muss ja auch ein bisschen polarisieren. (3s) Es ist echt schwierig ich mag total harmonische Musik die einfach nur ja pff schön ist, für mein Verständnis aber ich mag auch Sachen die ein bisschen vertrackter sind (1s) also was hör ich denn jetzt? Skeletons das ist ne Band die hab ich neulich für mich entdeckt. Die haben halt auch so Disharmonien und ganz zerhackter Beat, das find ich dann auch wieder ganz spannend [I: mhm] (3s) ja ich weiß nicht ist schwer sich da so festzulegen und zu sagen ‚das ist mein Musikgeschmack‘.“ (Dana: 38)
Zu Beginn signalisiert sie deutlich unter Rückgriff auf eine sprichwortartige Wendung, dass ihre musikalische Offenheit auch ihre Grenzen hat. Damit legitimiert sie die Behauptung, dass ausgeprägte Aversionen zum Geschmack dazu gehören. Inwiefern sich die anschließend formulierte Funktion („reiben können“, „polarisieren“) auf Dana selbst oder andere bezieht wird dabei zunächst nicht deutlich. Allerdings legt der konventionelle Sprachgebrauch nahe, dass sie damit die Funktion von Musik als Interaktionsressource thematisiert. Danach führt sie ein Beispiel für die stilistische Bandbreite ihres Geschmacks an, bei dem sie vor allem auf musikimmanente Qualitätskriterien zurückgreift. Damit zeigt sie auf, dass sie Gefallen an unterschiedlicher Musik finden kann – die Unterschiedlichkeit wird dabei von ihr vor allem an musikimmanenten Kriterien festgemacht. Ein weiteres Merkmal grenzüberschreitenden Musikgeschmacks stellt m.E. die Problematisierung von musikalischen Ordnungsbegriffen dar. Anhand der vorliegenden Daten lässt sich ein Konzept für eine typische rhetorische Figur entwickeln, das zunächst als Schubladen-Kritik bezeichnet werden könnte. Darunter ist eine Problematisierung bis hin zur offenen Ablehnung eines „Denkens in Schubladen“ zu verstehen. Der Interviewpartner Bernd ist ein typischer Vertreter dieser ablehnenden Haltung gegenüber einem subsumtionslogisch verfahrenden Denken. Ähnlich wie Konrad problematisiert er, dass einzelne Songs auf einem Album gemäß stilistischer Merkmale unterschiedlichen Genres zurechenbar sind. Anders als Konrad, der versiert seine Vertrautheit mit Subgenres wie Sleazerock zur Darstellung bringt, lehnt er das Klassifizieren per se ab. Im Hinblick auf eine typische Äußerung in den Auseinandersetzungen um den Abstand
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zwischen Genres weist auch Parzer auf die „Metapher der Schublade“ hin, ohne diese Figur weiter auszudeuten (vgl. Parzer 2011: 164). Ein letzter Aspekt, der hier noch angeführt werden kann, bezieht sich auf das Anordnen von Tonträgersammlungen. Wie bereits ausgeführt (Kapitel 6.1.2) finden sich bei den Interviewten sowohl Tonträgersammlungen, die nach ähnlichen Logiken wie im Musikhandel (alphabetisch, evtl. zusätzlich nach Genre) aufgestellt sind, als auch Sammlungen, die diesen Kriterien völlig widersprechen (bspw. nach der Farbe der Plattenhüllen). Das Arrangement von Tonträgern nach eigenen Logiken kann – allerdings in einer alltagsästhetischen Logik – an kuratorische Tätigkeiten gemahnen. Es liegt nahe, wenn schon das Ablehnen von „Schubladen-Denken“ als ein Ausdruck eines grenzüberschreitenden Musikgeschmacks interpretiert werden kann, zu fragen, wie sich dieser in den Sortierungslogiken der Tonträgersammlungen dokumentiert. Eine Deutung von kreativen und eigenständigen Sortierungen der Tonträgersammlungen als Ausdruck eines grenzüberschreitenden Geschmacks, lässt sich auf Basis der Daten allerdings nicht eindeutig vornehmen. Zwar kann das Arrangement nach eigenen Maßstäben für überraschende Kombinationen von Aufnahmen, InterpretInnen oder Gruppen sorgen, die im kommerziellen Handel so niemals nebeneinander stehen würden. In vielen Fällen gehorcht die praktische Logik des Arrangierens und Sortierens der Tonträger den unterschiedlichen Verwendungsweisen von Musik. Dies ist beispielsweise bei Johanna der Fall, die eine separat aufgestellte Sammlung mit fremdsprachiger Musik hat, die sie zum Sprachenlernen nutzt. Ihre Klassikaufnahmen verwahrt sie größtenteils an anderer Stelle, zudem werden sie von ihr anders genutzt. Grenzüberschreitender Musikgeschmack, der sowohl legitime wie auch illegitime Musikgenres umschließt, verträgt sich auch mit einer Tonträgersammlung, die den Logiken des Arrangierens im Musikhandel folgt. Das lässt sich am Vinylsammler Markus zeigen. Dieser verfügt über ein eigenes Musikzimmer, in dem ein großer Teil seiner Sammlung untergebracht ist. Zu den von ihm gesammelten Genres zählen neben Jazz, Soul, Funk und Latin auch Rockmusik (insbes. Progrock) und seit einiger Zeit Klassik (Markus: 13, 25). Nicht nur das Arrangement nach Genres erinnert an ein Musikgeschäft, sondern auch das „Neueingangsfach“ (Markus: 13). Wie Johanna und Markus im Vergleich zeigen, verweist eine kreativ sortierte Tonträgersammlung nicht zwangsläufig auf einen grenzüberschreitenden Musikgeschmack. 7.1.2 Praktiken des Legitimierens Wie bereits einige der obigen Interviewpassagen und Auswertungen zeigen, erscheint das Betonen des persönlichen, individuellen Geschmacks für die Selbstdeutung wie Darstellung als MusikhörerIn relevant zu sein. Unter der analyti-
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schen Fokussierung auf Praktiken des Legitimierens kam dieser Sachverhalt bereits als Immunisierung von Geschmacksurteilen in den Blick. Hierunter wurden alle pragmatischen Verfahren gefasst, die Kritik an der bezogenen ästhetischen Position vorwegnehmen. Darunter sind vor allem zwei Varianten besonders hervorzuheben: (i) Äußerungen, welche die Individualität des Geschmacksurteils betonen und (ii) Äußerungen, welche die Relativität von Geschmacksurteilen generell hervorheben. Dies kann beispielsweise in Form eines Verweises auf den persönlichen Geschmack geschehen. Verbinden die Interviewten diese Immunisierungen mit musikalischen Geschmacksurteilen können sie eine wertende Aussage, mittels Relativierungen und den Hinweis auf die „persönliche Meinung“, gegen potenzielle Kritiken immunisieren. In Kapitel 6.2.1 wurde diese Kombination von Immunisierung und Geschmacksurteil an einer Interviewpassage mit Michael exemplarisch analysiert (Michael: 8). An dieses Beispiel sei hier nochmals kurz erinnert: Selbst nachdem ihn der Interviewer offensiv aufgefordert hat, kundzutun, was schlechte Musik seiner Meinung nach ausmacht, leitete Michael sein Urteil vorsichtig mit dem Hinweis ein, dass erstens jede Musik generell ihre Berechtigung habe und zweitens ihm die Autorität fehle abschließend zu urteilen. Zudem wies er drittens darauf hin, dass das folgende seine persönliche Meinung sei. Die ersten beiden impliziten Botschaften verweisen auf eine kulturelle Toleranz, die kommuniziert wird, während letzter Hinweis auf die Individualität von Geschmacksurteilen abstellt. Gerade diese Form der Immunisierung erscheint unter den Bedingungen gegenwärtiger Gesellschaften als besonders wirkmächtig, da sie vor dem Hintergrundannahme der „Heiligkeit der Person“ operiert und auf ein unteilbares individuelles Erleben abstellt. Am Beispiel des Plattensammlers Markus lässt sich diese Darstellung von musikalischer Toleranz weiter analysieren. Zu Beginn des Interviews reagiert er in folgender Weise auf die Aufforderung des Interviewers zu guter Musik Stellung zu beziehen: „Ach ich glaube ich bin da=bin nen Schritt weiter [I: mhm] ich sach gar nich gute und schlechte Musik so weil das is ja wie mit allen Sachen wo äh wo Menschen Geschmack entwickeln [I: mhm] oder nich ne also für mich gibts keine gute und schlechte Musik ähm wenn ich das vielleicht später in dem (1s) in dem Gespräch dann relativieren sollte aber (2s) äh ich sach mal auf jeden Topf nen Deckel (…)“ (Markus: 3).
Auf den ersten Blick scheint das Statement von Markus ein Paradebeispiel für „demonstrative Toleranz“ (Gebesmair 1998) zu sein. Musik per se werde von ihm nicht als schlecht oder gut gewertet. Markus weitet die Reichweite seiner Aussage sogar über den Bereich der Musik hinaus aus. Er enthält sich zunächst nicht nur in Bezug auf Musik wertenden Aussagen, sondern verweist darauf,
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dass seine Offenheit für alle Bereiche gelte, in denen „Menschen Geschmack entwickeln“. Selbst für den Fall, dass im späteren Verlauf des Gesprächs von dieser Haltung abgewichen werden sollte, ist kommunikativ bereits eine relativierende Schleife eingebaut, in dem er auf die sprichwörtliche Wendung „auf jeden Topf nen Deckel“ zurückgreift. Was an dieser Passage allerdings auch zu beachten ist, ist die Eröffnung. Markus nimmt für sich in Anspruch „einen Schritt weiter zu sein“. Diese Wendung kann auf mindestens zwei Aspekte verweisen. Zum einen kann damit auf die eigene musikalische Biographie verwiesen werden. In den anderen Interviews finden sich ebenfalls Passagen, die sich dahingehend interpretieren lassen, dass das musikalische Spektrum und die Offenheit gegenüber diversen Stilen biographisch bedingt sind. So kann beispielsweise der Austritt aus einer musikzentrierten Szene mit einer Erweiterung des musikalischen Präferenzraums einhergehen. Eine andere Lesart lässt sich dahingehend entwickeln, dass Markus weiter ist als andere. Dann würde die Eröffnung seiner Antwort, die eigene Zurückhaltung in Fragen der Wertung von Musik als positiver Wert erscheinen lassen, die zudem objektiv höher bewertet wird als Aussagen, die eindeutige musikalische Werturteile formulieren. Die Formulierung von Markus würde dann zwar eine Botschaft wie „Jeder Jeck is anders“ transportieren aber zugleich die eigene musikalische Offenheit oder besser Zurückhaltung gegenüber wertenden Aussagen, gegenüber Geschmacksurteilen aufwerten. Der Fortgang der Interviewpassage ist in dieser Hinsicht aufschlussreich: „(…) und ähm (1s) ja ich kann dir eher sagen was mir gefällt [I: mhm] und ich persönlich ja ich hör gerne organische Musik also Musik die (1s) von Händen gemacht ist und nicht am Computer zusammengeschraubt ist weil (1s) ich immer ähm ja meine (1s) das Musik was sehr Kommunikatives is und ähm das da (1s) halt viele Menschen zugehören und nich nur nen Produktionsprozess im Studio vorm=vorm Computer.“ (Markus: 3)
Unter dem relativierenden Hinweis auf den persönlichen Geschmack führt Markus ein Qualitätskriterium für die Qualität von Musik ein. Gute Musik ist organische Musik, d.h. für ihn macht sich die Qualität von Musik am Produktionsprozess fest. Dieses Qualitätskriterium wird sogleich von ihm in rudimentärer Form theoretisch unterfüttert, indem er eine Aussage über den generell kommunikativen Charakter von Musik macht. Die eingeführte Opposition zwischen handgemacht und computergeneriert wird somit auch legitimiert. Im Anschluss daran stellt er allerdings wieder auf die Existenzberechtigung von computergenerierter bzw. elektronischer Musik ab:
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„Hat au- alles auch seine Berechtigung und da gibts sicherlich auch viele innovative äh Sachen und (1s) ähm ich sach mal auch auch die äh die Experimentierphasen mit=mit äh elektronischer Musik sind natürlich sehr spannend (1s) ich meine das geht in (Stadtname) ja weit zurück [I: mhm] ja als eine der Städte für elektronische neue Musik schlechthin (1s) aber ne irgendwie gibts keine gute und keine schlechte Musik es gibt kein gutes und kein schlechtes Essen [beide lachen] so jeder wird mit was anderem satt.“ (Markus: 3)
Mit dem musikimmanenten Qualitätskriterium der Innovation legitimiert er seine wertende Aussage und verweist anschließend auf die Tradition elektronischer Musik in der Stadt, in der das Interview stattfindet. Abschließend kommt er wieder auf das Grundthema seiner Antwort zurück, indem er ein zweites Mal eine sprichwortartige Wendung nutzt, um darauf zu verweisen, dass es keine an sich gute oder schlechte Musik gibt. Die Qualität einer spezifischen Musik begründet sich – hier in Analogie zum Essen – in der Funktion für die jeweilige Konsumentin oder den jeweiligen Konsumenten. Hier zeigt sich wiederum deutlich die Bedeutung von Immunisierungsstrategien, wie sie in Kapitel 6.2.1 analysiert wurden, als zentrales Element grenzüberschreitenden Musikgeschmacks. Diese Form der vordergründigen Abschwächung von musikalischen Geschmacksurteilen hat nicht zu vernachlässigende Folgen für die Praxis der symbolischen Abgrenzung, wie im Folgenden zu zeigen sein wird. Abschließend sei daran erinnert, dass die in Kapitel 6.2 herausgearbeiteten Legitimierungen und die verwendeten Qualitätskriterien sich in vielen Fällen im praktischen Gebrauch durch die Interviewten als grenzüberschreitend herausgestellt haben. Es hat sich in den obenstehenden Analysen gezeigt, dass die unterschiedenen Qualitätskriterien – die Unterscheidungen von Kunst vs. Nicht-Kunst und authentisch vs. nicht-authentisch sind hierfür fruchtbare Beispiele – in der Mehrheit der Fälle unterschiedslos auf legitime wie illegitime musikalische Güter und Praktiken ihre Anwendung finden. Es erscheint folglich angebracht von einer Pluralität von Legitimierungspraktiken und konkurrierenden Qualitätskriterien auszugehen. 7.1.3 Praktiken des Sich-Abgrenzens Ein wichtiger Aspekt des grenzüberschreitenden Geschmacks, der bereits im vorangehenden Interviewauszug mit Markus angeklungen ist, ist das Abstellen auf die Individualität von Geschmack. Ähnliches hat König (2007, 2011) bereits in Bezug auf Mode und Jugendliche festgestellt. Das individuelle Gefallen wird zur alleinigen Selektionsregel aufgewertet. Mit anderen Worten: der gute Geschmack wird individualisiert gedeutet. Diese Selbstbezüglichkeit findet sich in
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vielen Interviews. Das folgende Beispiel ist typisch für die beiläufige Einflechtung dieser Selbstdeutung: „(…) ich geh allein danach äh was mir gefällt [I: mhm] und das sind relativ viele Sachen also da kommts mir hauptsächlich auf den Klang an weniger auf äh Text oder Inhalte sondern hauptsächlich der Klang.“ (Bernd: 4)
Einerseits lässt sich diese Aussage als Immunisierungsstrategie lesen (vgl. Kapitel 6.2.1), denn mit dem Verweis auf individuelles Gefallen werden musikalische Geschmacksurteile gegen potenzielle Kritiken geschützt. Andererseits lässt sich das Rekurrieren auf den persönlichen Geschmack aber auch als Reaktion auf soziale Anforderungen verstehen. Denn mit dem Erodieren der Orientierungsfunktion sozialer Bezugsgruppen wird die gewonnene individuelle Freiheit zum Zwang. Zum Zwang einen eigenständigen, persönlichen Geschmack auszubilden und zur Darstellung zu bringen. In Kombination mit dem Verweis auf den individuellen Geschmack lassen sich dann auch „entschärfte“ symbolische Abgrenzungen formulieren. Damit realisieren die Akteure in ihren Äußerungen zugleich die Anforderung einen individuellen Geschmack zu haben und können dennoch andere für ihren (persönlichen) Geschmack kritisieren. In der folgenden Passage verdeutlicht Michael mustergültig wie gleichzeitig auf die Individualität von Präferenzen abgestellt und eine tolerante Ablehnung formuliert werden kann: „(…) aber ja es sind eigentlich von allen Dingen Bands wie zum Beispiel jetzt irgendwie so Nickelback oder so die ich finde musikalisch (2s) äh für mich irgendwie nicht so besonders Tolles machen irgendwie I wanna be a Rockstar hmm und dann aber trotzdem irgendwie ganz viele toll finden so und naja kann ich nicht so ganz verstehen [I: mhm] aber es stört mich auch nicht mehr so dass ich sagen würde ich müsste jetzt deswegen n T-Shirt tragen wo die Band durchgestrichen drauf steht oder irgendwie sowas [Lachen von B und I] also wie gesagt irgendwie hat alles so seinen Platz und jeder kann sich selber aussuchen was er hört (...)“ (Michael: 24).
Michael führt hier die US-amerikanische Band Nickelback als Beispiel für Musik an, die er nicht wertschätzt. Dabei verweist er diffus auf musikimmanente Qualitätskriterien zur Begründung seines Geschmacksurteils. Gleichzeitig gibt er zu verstehen, dass ihm die Popularität der genannten Band bekannt ist, er aber nicht nachvollziehen kann, warum sie anscheinend von vielen (anonymen) Anderen gehört wird. Seine Toleranz bringt er zunächst durch ein surreal erscheinendes Beispiel zum Ausdruck – ein T-Shirt mit dem durchgestrichenen Bandnamen würde er nicht (mehr) deswegen tragen. Damit führt er allerdings eine
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Form der symbolischen Abgrenzung an, die eher an politische Aktionen als an Differenzen in Bezug auf den Lebensstil gemahnt. Mit dem Verweis darauf, dass alles „so seinen Platz“ hat, führt eine zusätzliche Formel an, die auf die grundsätzliche Berechtigung von Musik im Besonderen und Kultur im Allgemeinen verweisen kann. Und abschließend verweist er auf das uns bereits bekannte Selektionsprinzip des individuellen Geschmacks – und damit zugleich auf die individuelle Verantwortlichkeit bei ästhetischen Fehltritten. Zur Darstellung von Offenheit gehört auch das Gebot andere nicht für ihren Musikgeschmack zu kritisieren. Am deutlichsten wird dies, wenn der Mangel an Toleranz bzw. Offenheit als Objekt der Kritik eingeführt wird (vgl. Kapitel 6.3.3). Als mangelnd wahrgenommene kulturelle oder musikalische Offenheit kann dann auch konkrete Folgen für das Interaktionsgeschehen haben. Dies lässt sich sehr plastisch an der folgenden Interviewpassage verdeutlichen. Der Interviewte Caspar beschäftigt sich zum Zeitpunkt des Interviews mit deutschsprachigen HipHop und zwar mit zum damaligen Zeitpunkt kontrovers diskutieren Vertretern wie Sido oder Kool Savas. Im Interview formuliert er dann, dass einige seiner Freunde keinen Zugang zu dieser Musik finden. „I: Wie gehst du dann damit um dass ähm deine Freunde da keinen Zugang dazu haben? Habt ihr schon öfters mal drüber diskutiert, oder? C: Mhm ja also ich diskutier da nich so viel mit Leuten drüber wo ich (1s) nich erkennen kann dass die (1s) nen Willen hätten irgendwie sich damit zu befassen also ich bin da jetzt auch kein Missionar [I: mhm] mhm mit Leuten die sich dafür interessieren diskutier ich da auch drüber ähm (1s) da werd ich dann auch nicht müde irgendwie das darzulegen was ich äh was ich im HipHop sehe also (…)“ (Caspar: 33-34).
Hier berichtet Caspar über seinen Umgang mit Freunden und anderen in Bezug auf seine Auseinandersetzung mit dieser Variante des HipHops. Grundvoraussetzung scheint für ihn zu sein, dass er beim Gegenüber eine explizite Absicht zur Auseinandersetzung mit dieser Musik wahrnehmen kann. Dann steht ausführlichen Diskussionen über Inhalte und Deutungsmöglichkeiten seiner Aussage nach nichts im Wege. Wobei die Einschränkung, dass er kein „Missionar“ sei, darauf verweist, dass das Gegenüber nicht von der eigenen Meinung überzeugt werden muss. Diese Selbstdeutung erzeugt zusammengenommen mit der Aussage, dass er dann nicht „müde“ wird, seine Perspektive darzulegen, eine gewisse Spannung. Diese wird im Fortgang der Äußerungen aufgelöst, indem er darauf hinweist, dass es eine Reihe von Faktoren gibt, welche die Auseinandersetzung mit dieser Musik begünstigen:
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„(…) aber auf der anderen Sache dass ist auch wieder son (1s) son Gefühlsding also (1s) da muss man halt sich son bißchen reinarbeiten oder man muss einfach auch Lust äh da drauf haben oder es vielleicht früher mal gehört haben oder ähm man kann es ja auch keinem (2s) einfach so neutral darlegen [I: mhm] objektiv erklären ‚hier, finde das jetzt gut‘ oder ‚nach diesen Maßstäben äh müsste man das eigentlich jetzt gut finden‘ oder so (…)“ (Caspar: 34).
Neben den genannten Faktoren, die eine Auseinandersetzung mit Musik in seinen Augen positiv beeinflussen, erteilt Caspar hier objektiven oder neutral gekleideten Aussagen über den Wert von Musik eine Absage. Im Spannungsfeld zwischen emotionaler Beziehung zur Musik und Arbeit am Geschmack vollzieht sich etwas, was für Caspar perspektivisch gefärbt ist und deshalb keine neutrale Beziehung zum Gegenstand oder auch objektive Werturteile zulässt. Hiermit kontinuiert sich seine Selbstdarstellung als offen, im Sinne von nicht missionarisch zu sein. Zudem nimmt er für sich in Anspruch gelassen auf negative Wertungen der verhandelten Musik zu reagieren, wie das Ende der Interviewpassage zeigt. „(…) ähm (2s) ich hab da kein Problem mit also wenn da jemand sagt ‚das ist mir zu asozial wie das klingt‘ dann=dann ist das für ihn so dann sag ihn ‚ja, ok‘ ähm ich seh da drin jetzt einfach- also für mich ist das einfach ein Teil der Gesellschaft und ich wüsste nich warum die stumm bleiben sollten oder nich gehört werden sollten (1s) ähm und ja. Solang die irgendwie versuchen was Gutes zu machen (2)s mhm hab ich da ein offenes Ohr (1s) wenn andere das dann nich einsehen dann ist das ok [lacht] [I: ja] ja.“ (Caspar: 34)
Erstmals führt er hier auch eine Legitimierung für seine Beschäftigung mit deutschsprachigen HipHop ein. Die Musik erscheint in der ausgeführten Perspektive als Ausdruck eines Teils der Gesellschaft, schon allein deshalb erscheint sie legitim und gleichermaßen ist die Auseinandersetzung mit ihr legitim. Insofern hat diese Legitimierung eine politische Komponente. Darüber hinaus wird von Caspar auf eine diffuse Qualität verwiesen, die mit der Motivstruktur der MusikerInnen zusammenzuhängen scheint. Zusammengenommen mit dem Hinweis, dass der behandelte HipHop der Ausdruck eines Teils der Gesellschaft sei, lässt sich hier die Lesart entwickeln, dass neben musikimmanenten Qualitäten hier auch auf das musikexmanente Qualitätskriterium Authentizität verwiesen wird. An dieser Stelle erscheint noch eine Anmerkung zum Bühnenbild und den Requisiten des grenzüberschreitenden Musikgeschmacks angebracht. Wie bereits in Bezug auf das Sortieren der Tonträgersammlung dargelegt wurde (Kapitel
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7.1.1), erweisen sich Arrangements der Tonträgersammlung nach eigensinnigen, kreativen Logiken als unzuverlässiger Indikator für einen grenzüberschreitenden Musikgeschmack. Was aber auf die Vielfalt der präferierten Genres verweisen kann, ist die Art und Weise der Präsentation der Sammlung, hier verstanden als Bühnenbild des Sich-Abgrenzens (vgl. Kapitel 6.3.1). So sind im Musikzimmer von Markus immer mehrere der Schallplatten quer ausgestellt, so dass die Cover prominent sichtbar werden. Beim Interviewtermin reichte die so dargestellte Spannweite der musikalischen Präferenzen von Heavy Metal, über Soul und Jazz bis hin zu Rock der 1960er Jahre (Markus: 49). Auf diese Weise können BesucherInnen im Musikzimmer Aufschluss über den Gastgeber gewinnen – ähnlich wie beim Inspizieren der Bücherregale in fremden Wohnungen.
7.2 G RENZEN
DES M USIKGESCHMACKS UND GRENZÜBERSCHREITENDER M USIKGESCHMACK : Z USAMMENFASSUNG
Die These des Wandels von symbolischen wie sozialen Abgrenzungen ist nicht ohne historische Vorläufer und lässt sich auch in Publikationen finden, die nur selten in der gegenwärtigen Diskussion zu Omnivorizität im Besonderen und zum Wandel von Geschmacksmustern im Allgemeinen herangezogen werden. In dem bekannten Kulturindustrie-Kapitel der „Dialektik der Aufklärung“ beispielsweise finden sich einige wenige Aussagen über den Zusammenhang von kulturindustrieller Produktionsweise und veränderten Geschmacksmustern. Die Standardisierung der Produkte der Kulturindustrie und ihre Formelhaftigkeit führen aus Perspektive der Autoren in letzter Konsequenz zu Verdummung (Horkheimer/Adorno 1969/2003: 153) und Pseudoindividualität (Horkheimer/Adorno 1969/2003: 163). Da die Zeitdiagnose Horkheimers und Adornos als bekannt vorausgesetzt werden kann, sei hier nur auf einen Punkt hingewiesen, der für die vorliegende Diskussion von Bedeutung ist. Bereits die Autoren der „Dialektik der Aufklärung“ diagnostizieren das Entstehen neuer Muster der symbolischen Abgrenzung: „Was man den Gebrauchswert in der Rezeption der Kulturgüter nennen könnte, wird durch den Tauschwert ersetzt, anstelle des Genusses tritt Dabeisein und Bescheidwissen, Prestigegewinn anstelle der Kennerschaft“ (167). Und an anderer Stelle formulieren sie: „Kennerschaft und Sachverständnis verfallen der Acht als Anmaßung dessen, der sich besser dünkt als die anderen, wo doch die Kultur so demokratisch an alle verteilt.“ (Horkheimer/Adorno 1969/2003: 142) Die Kulturindustrie-Theorie stellt sicherlich keine hinreichende Basis für eine zeitgemäße analytische Perspektivierung von Geschmacksmustern
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dar. Dennoch wird hier vor dem Hintergrund der Erfahrung der US-amerikanischen Gesellschaft (vgl. Offe 2004) en passant ein möglicher Wandel diagnostiziert, der von Richard A. Peterson Jahrzehnte später mehrfach konstatiert werden wird (Peterson 1992, 1997a, 2005; Peterson/Kern 1996; Peterson/ Rossman 2007). Weniger kritisch im Impetus erscheint Petersons These zunehmender Omnivorizität, weil er letztlich davon ausgeht, dass ein elitäres auf Exklusivität abstellendes Distinktionsmuster durch ein neues inklusives abgelöst wird. Im Rahmen der vorliegenden Studie wurde dieses inklusive Distinktionsmuster der „cultural omnivores“ als grenzüberschreitender Musikgeschmack untersucht. Inwiefern dieser selbst wiederum Grenzen aufweist, beispielsweise gegenüber Geschmacksmustern mit einer geringen stilistischen Bandbreite, wurde im vorliegenden Kapitel untersucht. In einem ersten analytischen Schritt wurde deshalb die Thematisierung von Offenheit und Widerwillen in den Blick genommen. Ausgehend von den widersprüchlichen Befunden zur Rolle von Widerwillen als deutlichste Manifestation von Geschmack (Bourdieu) einerseits und der These, dass in (westlichen) Gegenwartsgesellschaften der „gute“ Geschmack inklusiv (Peterson 1997a), offen (Ollivier 2008) und „demonstrativ tolerant“ (Gebesmair 1998) sei andererseits, wurde dieses Spannungsverhältnis auf Basis der Selbstbeschreibungen der Interviewten analysiert. Eine bedingungslose Offenheit hat sich dabei bei keinem der Interviewten gezeigt. Allerdings erscheint auch Bourdieus These in Bezug auf Ekel als negativen Ausdruck von Geschmack, zumindest in Bezug auf Musik zu stark zu sein – jedenfalls lässt sich das unter Bezug auf die vorliegenden Interviews sagen. Vor allem diejenigen Akteure, die sich auf einzelne Bands, Gruppen oder InterpretInnen fokussieren, beschreiben sich als nicht festgelegt und lehnen zudem häufig das Denken in Schubladen ab. Häufig wird diese Form der Selbstbeschreibung mit einer Abgrenzung von engen Präferenzspektren oder dezidierten SpartenhörerInnen kombiniert. Das Festgelegt-sein erscheint aus Perspektive derjenigen, die sich Nicht-festlegen-wollen als mindere Position. Nicht toleriert wird hier also mangelnde musikalische Toleranz. Ebenso abgelehnt wird allerdings beliebige Offenheit im musikalischen Geschmack. Als Instanz in ästhetischen Urteilen und Selektionsregel wird dann in der Regel, der individuelle Geschmack in der Selbstbeschreibung betont. Überträgt man diesen vorläufigen Befund auf die analytischen Differenzierungen, die Gegenstand des vorangehenden Kapitels zur Theorie des unterscheidenden Hörens waren, lassen sich weitere Elemente grenzüberschreitenden Musikgeschmacks identifizieren. Diese Elemente grenzüberschreitenden Geschmacks müssen sich nicht notwendig bei jeder der als „cultural omnivore“ identifizierbaren Personen wiederfinden. Grenzüberschreitender Musikgeschmack lässt sich als Geschmack beschreiben, der in
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Hinsicht auf die hier angelegten analytischen Differenzierungen folgende Elemente vereint: Im Hinblick auf die Praktiken des Ordnens (Kapitel 7.1.1) von Musik fällt vor allem die zurückhaltende Verwendung von Genrebegriffen auf. Hinzu kommt, dass häufig aber nicht generell das Denken in Schubladen, das Kategorisieren von Musik in Frage gestellt wird. In Bezug auf die materialen Aspekte der musikalischen Praxis der Interviewten sind die Befunde weniger eindeutig. Im Hinblick auf das Sortieren und Arrangieren von Tonträgersammlungen zeigt sich zwar bei einigen Interviewten, dass sie von den bekannten Logiken des Musikhandels in kreativer und eigensinniger Weise abweichen. Allerdings ist dies für sich genommen noch kein hinreichendes Indiz für einen grenzüberschreitenden Musikgeschmack. Im Gegenteil, es finden sich auch InterviewpartnerInnen, die genau der Logik des Musikhandels folgen – alphabetische Anordnungen, getrennt nach Genres und evtl. besondere Plätze für Neuheiten – aber in einem ausgeprägten Sinne eine grenzüberschreitende Praxis des Musikkonsums aufweisen. Eine kreative Logik der Sortierung kann auf spezifische Verwendungsweisen hindeuten, ebenso wie eine differenzierte Genresortierung Anzeichen für eine Vertrautheit mit dem Spiel der Namen, Epochen und Unterteilungen sein kann. Bezogen auf die Praktiken des Legitimierens (Kapitel 7.1.2) lässt sich grenzüberschreitender Musikgeschmack dadurch charakterisieren, dass sowohl Qualitätskriterien aus Hoch- wie auch aus Populärkultur angewendet werden. Im Gegensatz kann man sich beispielsweise einen langjährigen Szeneangehörigen – im Sample durch Konrad repräsentiert – vorstellen, der „passgenau“, d.h. feldspezifische Deutungen und Qualitätskriterien anwendet, um „seine“ Musik und sein Gefallen daran zu legitimieren. Die Interviewten, die einen grenzüberschreitenden Musikgeschmack aufweisen, lehnen in der Regel „objektive“ Qualitätszuschreibungen ab. Hinzu kommt als weiteres Element die individualisierte Deutung von Musikgeschmack, welche die Reichweite von musikalischen Geschmacksurteilen relativiert. Bereits auf dieser Ebene gewinnen verschiedene Immunisierungsstrategien musikalischer Geschmacksurteile ihre Bedeutung. Wie an anderer Stelle definiert wurde, handelt es sich hierbei um pragmatische Verfahren, die potenzielle Kritik an Geschmacksurteile antizipieren. Auf der Ebene der Praktiken des Sich-Abgrenzens (Kapitel 7.1.3) lassen sich mehrere Dinge beobachten. Das Nicht-festlegen-wollen wird verbunden mit einer Kritik an engen Präferenzspektren. Die eben noch Kritik antizipierenden Immunisierungsstrategien können in Verbindung mit symbolischen Abgrenzungen genutzt werden, um „enge“ Präferenzspektren oder „festgelegte“ MusikkonsumentInnen abzuwerten. Hier verwandelt sich also die ehemals defensive Immunisierung eines musikalischen Werturteils in eine offensive Praktik des Sich-
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Abgrenzens. In Bezug auf das Bühnenbild lässt sich feststellen, dass die Tonträgersammlung – ebenso wie Konzertplakate oder andere Devotionalien – dazu dienen kann die Spannweite des eigenen musikalischen Horizonts darzustellen. Aber auch die vielfältigen Requisiten des Musikgeschmacks können im Alltag eine Vertrautheit mit unterschiedlichen Stilen und musikalische Offenheit signalisieren. Hier wird die Bühne bereitet für Praktiken des Sich-Abgrenzens.
Analytischer Aspekt
Ordnen
Elemente
Opposition
Ablehnung der Verwendung
Selbstverständliche
von Genrebegriffen
Verwendung von Genre- und
(Schubladen-Kritik)
Subgenrebegriffen
Verwendung von Qualitätskriterien aus Hochund Populärkultur Legitimieren
Qualitätskriterien und Legitimierungen werden „passgenau“, d.h. feldspezifisch verwendet
Ablehnung von objektiven musikalischen Werturteilen
Legitimierung von Geschmacksurteilen mit
Individualisierte Deutung von
Objektivitätscharakter
musikalischem Geschmack Nicht-festgelegt-sein Bühnenbild und Requisiten signalisieren Offenheit und Sich-Abgrenzen
ggf. Vertrautheit
Festgelegt-sein Bühnenbild und Requisiten signalisieren Kohärenz
Kritik an engem musikalischen Präferenzspektren
Bekenntnis zum Spartenhören
Demonstrative Offenheit
Tabelle 15: Elemente grenzüberschreitenden Musikgeschmacks
Im Ergebnis wird eine demonstrative musikalische Offenheit zur Darstellung gebracht, die allerdings nicht mit bedingungsloser Toleranz verwechselt werden sollte, da Abgrenzungen gegen enge oder festgelegte musikalische Präferenzspektren und Praktiken des Hörens zum grenzüberschreitenden Musikgeschmack konstitutiv dazu gehören.
8. Grenzenlos guter Geschmack: Zusammenfassung und Ausblick
In einer Rückblende in Woody Allens Tragikomödie „Hannah und ihre Schwestern“ (1986) erinnert sich der Protagonist Mickey (Woody Allen) an sein erstes Date mit Holly (Dianne Wiest) – das alles andere als glücklich verlaufen ist. Die Erinnerung beginnt mit dem gemeinsamen Rockkonzertbesuch in einer kleinen Bar mit unverputzten Wänden. Die Kameraeinstellungen auf das Publikum und die Band zeigen Punks und diverse andere Individuen, die aufgrund ihrer Kleidung und Frisuren als Angehörige von Subkulturen identifizierbar sind oder zumindest bohemienhaft wirken. Inmitten des Publikums sitzen Mickey und Holly. Sie trägt einen weißen Blazer mit einer auffälligen Brosche und Orden am Revers, große rote Ohrringe, mehrere Ketten um den Hals und fällt gemessen an Frisur und Kleidung innerhalb des Publikums wenig auf, während Mickey mit seiner eher gesetzten Kleidung – graues Jackett, Hemd und dunkle Krawatte – eher deplaziert wirkt. Diese Wirkung wird durch die unterschiedliche Gestik und Mimik der beiden unterstützt. Während Holly den Kopf im Takt der Musik wiegt, raucht und sich auf die Musik einzulassen scheint, macht Mickey ein Gesicht, das sich zwischen Widerwillen und Schmerzen einordnen lässt. Darauf entspinnt sich zunächst folgender verbaler Austausch: „HOLLY: Warum ziehst du denn so nen Gesicht? MICKEY: (lehnt sich zu Holly und gestikuliert) Ich kann dich nicht hören. Ich kann überhaupt nichts hören. Ich werde, ich werde, ich werde mein Gehör verlieren! Ich verstehst duH: (deutend in Richtung Bühne) Hör zu, du bist Zeuge eines genialen Augenblicks! (…) M: Holly ich hab furchtbare Angst, wenn die aufhören zu singen, werden sie Geiseln nehmen!”
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Im Fortgang des gemeinsamen Abends werden die musikalischen Differenzen zwischen Mickey und Holly immer deutlicher. Während sie ihm mangelnde Offenheit vorwirft, revanchiert er sich damit, dass er auf den guten Geschmack von Hollys Schwestern verweist und die Frage formuliert, was bei ihr wohl falsch gelaufen sei. Die unterschiedlichen musikalischen Präferenzen werden weiter auf die Spitze getrieben, als sie im Anschluss an das Konzert, auf Mickeys Wunsch hin, ein Jazzkonzert besuchen. Das Interieur der Bar und die Zusammensetzung des Publikums – gehobene Abendgarderobe dominiert – stehen im deutlichen Kontrast zum ersten Konzert. Diesmal ist es Holly, die ihr Missfallen deutlich signalisiert. Sie ist gelangweilt und etikettiert das Publikum später als „Mumien“. Nach diesem zweiten Konzert verabschieden sich die beiden. Die letzte Bemerkung Mickeys lautet: „Ja ich hab mich großartig amüsiert heute Abend. Es war wie bei den Nürnberger Prozessen.“ Auch wenn im Alltag geschmackliche Differenzen oftmals subtiler ausgehandelt werden, zeigt diese Filmszene doch auf anschauliche Weise die Relevanz von musikalischen Präferenzen und Praktiken für Akteure und die Probleme, die aus unterschiedlicher Wertschätzung für bestimmte Musikstile erwachsen können. Weder Mickey noch Holly können sich auf die präferierte Musik des jeweils anderen einlassen und bewerten die dargebotene Musik nach unterschiedlichen Qualitätsmaßstäben. Die Grenzen des individuellen Musikgeschmacks treten gerade auch bei Holly, die demonstrativ für sich kulturelle Offenheit reklamiert, deutlich zu Tage. An diese kurze Filmsequenz lässt sich eine Reihe von Fragen anschließen, die genuin Gegenstand einer Soziologie des Musikgeschmacks sind. Dazu gehören Fragen nach der Genese von Musikgeschmack – man denke an Mickeys Bemerkung hinsichtlich Hollys Schwestern und deren „guten Geschmack“ – ebenso wie Fragen nach der Bewertung von Musik und deren Legitimierung, Fragen bezüglich der Anforderung offen für Musik zu sein, die anderen gefällt, wie auch Fragen nach den sozialen Funktionen von Musikgeschmack.
8.1 D IE G RENZEN DES GUTEN M USIKGESCHMACKS ALS G EGENSTAND DER S OZIOLOGIE : U NTERSUCHUNGSINTERESSE Die Untersuchung musikalischer Geschmacksurteile und der Zusammenhänge zwischen diesen Wertungen einerseits und symbolischen wie sozialen Abgrenzungen andererseits bilden ein Kernanliegen der vorliegenden Arbeit. Dieses Untersuchungsinteresse hat seinen Ursprung in rezenten Diskussionen zu den sich wandelnden Grenzen des guten Geschmacks. Ausgehend von den zeitdiag-
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nostischen Analysen von Richard A. Peterson und anderen (Peterson 1992, 1997a; 2005; Peterson/Simkus 1992; Peterson/Kern 1996; Peterson/Rossman 2007) wird gegenwärtig in einer Vielzahl von Studien – vor allem außerhalb des deutschsprachigen Raums – untersucht, inwiefern sich ein Wandel von Distinktionsformen in Gegenwartsgesellschaften beobachten lässt. In der ursprünglichen Fassung der These Petersons wird das Aufkommen eines „neuen“ Distinktionsmusters konstatiert, das sich als inklusiver oder auch demonstrativ toleranter Geschmack beschreiben lässt. Damit stellt diese These vordergründig eine Herausforderung des distinktionsanalytischen Profils der Bourdieuschen Theorie dar. Zumindest wird sie in einer Reihe von Studien als alternative Zusammenhangshypothese hinsichtlich sozialer Ungleichheit und kulturellen Differenzen verwendet (bspw. Chan/Goldthorpe 2007a, 2007b, 2007c). Von dieser Lage in der gegenwärtigen soziologischen Diskussion hat die vorliegende Untersuchung ihren Ausgang genommen (vgl. Kapitel 3.1). Das Untersuchungsinteresse wurde im Verlauf der Analyse dahingehend konkretisiert, dass (a) auf grenzüberschreitenden Musikgeschmack fokussiert wurde. Musik bildet in einer Vielzahl der vorliegenden Untersuchungen einen oder den zentralen Fokus, da in der Anlehnung an Bourdieu davon ausgegangen wird, dass in diesem Bereich des kulturellen Feldes die Hierarchie der legitimen kulturellen Güter und Praktiken besonders deutlich zu Tage tritt. Bourdieu selbst spricht dem Musikgeschmack eine herausragende Bedeutung zu, wenn er formuliert: „Über Musik zu sprechen ist der Anlaß schlechthin, Breite und Universalität der eigenen Kultur und Bildung vorzuführen“ (Bourdieu 1978/1993: 147). Dabei geht er bekanntlich davon aus, dass zwischen den kulturellen Differenzen und den sozialen Positionen eine homologe Beziehung besteht. In seiner Konzeption einer ungleichheitsanalytischen Kultursoziologie sind Vorlieben für eine bestimmte Musik oder auch der regelmäßige Besuch von Jugendkonzerten kein Ausdruck individueller Leidenschaften, sondern vielmehr (unbewusste) Einsätze in einem in die Sphäre der Kultur verlagerten Klassenkampf (ausführlicher Kapitel 2.1). Auf Basis der vorliegenden quantitativen Befunde zum deutschsprachigen Raum lässt sich das durchaus vertreten. So hat beispielweise Neuhoff (2001) anhand einer BesucherInnenstudie gezeigt, dass die Präferenzen für bestimmte Musikrichtungen weiterhin stark mit der sozialen Position der Befragten korrelieren. Die Zuneigung zu legitimen musikalischen Genres wie Klassik oder Oper ist zumindest in Deutschland auf Basis dieser Befunde weiterhin eine sozial eher exklusive Angelegenheit. Gleichwohl müssen die Ergebnisse von Neuhoff in zweifacher Hinsicht mit Vorsicht rezipiert werden, da einerseits aufgrund des Stichprobendesigns eine Verzerrung festzuhalten ist (vgl. Rössel 2006: 263f.) und andererseits generell mit einer Tendenz zu sozial erwünschtem Antwortver-
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halten im Bereich der Partizipation an Hochkultur zu rechnen ist (vgl. Reuband 2007). Allerdings – so könnte man an dieser Stelle hinzufügen – spricht gerade diese Tendenz, die eigene Partizipation an Hochkultur in standardisierten Befragungen zu überschätzen, dafür, dass eine Hierarchie der Legitimität von Musikstilen und -praktiken auch gegenwärtig weithin Geltung besitzt. Eine weitere Fokussierung der Untersuchung lässt sich darin finden, dass (b) vornehmlich – aber nicht ausschließlich – leitfadengestützte Interviews mit MusikhörerInnen durchgeführt wurden, die zumeist nach den Kriterien der standardisierten Sozialforschung als „cultural omnivores“ gelten können. Die Auswahl der einzelnen Befragten lässt sich anhand der Ausführungen in Kapitel 4 näher nachvollziehen. Zur methodischen Vorgehensweise sei hier nur angemerkt, dass sich sowohl die Selektion als auch die Auswertung an den Verfahrensvorschlägen der Grounded Theory orientiert. Zusätzlich zu den leitfadengestützten Interviews wurden wenn möglich Beobachtungsprotokolle angefertigt, vor allem bezüglich der privaten Musiksammlungen und des Arrangements von musikalischen Objekten im Wohnraum der Befragten.
8.2 M USIK ALS M ITTEL DER D ISTINKTION G EGENSTAND DER L EGITIMATION : ZENTRALE E RGEBNISSE
UND
Die empirischen Befunde der vorliegenden Untersuchung wurden im zweiten Teil dieser Arbeit „Musik als Mittel der Distinktion und Gegenstand der Legitimation“ in drei Schritten zur Darstellung gebracht. In einem ersten Schritt wurden die „Generierungsbedingungen von Musikgeschmack“ (Kapitel 5) untersucht. Daran schließt in einem zweiten Schritt das empirische Kernstück der Untersuchung an. Dieses lässt sich als „Theorie des unterscheidenden Hörens“ (Kapitel 6) charakterisieren. In einem abschließenden dritten Schritt wurden „Grenzen des Musikgeschmacks und grenzüberschreitender Geschmack“ (Kapitel 7) diskutiert. Die zentralen Ergebnisse dieser drei empirischen Kapitel lassen sich wie folgt zusammenfassen: (a) Im Kapitel 5 wurden die Generierungsbedingungen von Musikgeschmack auf Basis der leitfadengestützten Interviews untersucht. Die Prozesse und Bedingungen der Genese von individuellen Geschmacksmustern und Umgangsweisen mit Musik bildeten aufgrund des oben skizzierten Untersuchungsinteresses nicht den Schwerpunkt der durchgeführten Interviews, dennoch erwiesen sich die Daten auch in dieser Hinsicht als instruktiv für explorative Analysen. Innerhalb der soziologischen Forschungsliteratur stellen die Prozesse der musikalischen Sozia-
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lisation sicherlich ein Desiderat dar, wie auch Lenz unlängst argumentiert hat (Lenz 2013). Die wenigen vorliegenden soziologischen Untersuchungen, wie beispielsweise Silbermanns „Der musikalische Sozialisierungsprozeß“ (1976), weisen in der Regel Fokussierungen und Verkürzungen auf, die – vor dem Hintergrund des gegenwärtigen Standes der Sozialisationsforschung – als problematisch zu bezeichnen sind. Ein Anschluss an die Bourdieusche Kapitalanalytik, wie er zum Teil in der soziologischen Literatur zu Kulturkonsum und -rezeption präferiert wird, erweist sich als nicht weniger problembehaftet. Dies liegt wesentlich darin begründet, dass Bourdieu zwar wiederholt die Bedeutung des „kulturellen Erbes“ konzeptionell betont, aber nur wenig Hinweise liefern kann, wie die dahinter liegenden Prozesse zu untersuchen und zu konzeptualisieren sind (vgl. Kapitel 2.2.1). Eine zweite relevante soziologische Perspektive auf musikalische Sozialisation stellt das Konzept der „musikalischen Selbstsozialisation“ (bspw. Rhein/Müller 2006) dar, das viel stärker als Bourdieus Vorschlag das Augenmerk auf die Eigenaktivität der Akteure lenkt. Allerdings gilt es die generellen Vorbehalte gegenüber dem Selbstsozialisationskonzept im Auge zu behalten. Einer Hypostasierung der Eigenaktivität der Akteure soll denn hier auch nicht das Wort geredet werden. In der vorliegenden Untersuchung wurde deshalb zunächst mittels musikbiographischer Anamnesen der Raum der Prozesse und Bedingungen der individuellen Genese von Musikgeschmack geöffnet. Auf diese Weise konnte eine Reihe von Aspekten identifiziert werden, die in einem weiteren Schritt näher untersucht wurden. Dabei wurde zum Teil auf die Heuristik von Pape (1996) zurückgegriffen, die im Wesentlichen die mittels der Anamnesen entwickelten Prozesse und Generierungsbedingungen berücksichtigt. Im Einzelnen wurden sodann die „musikalische Sozialisation in Kleingruppen und sozialen Beziehungen“ (Kapitel 5.2), die „musikalische Sozialisation und organisierte Sozialisationsinstanzen“ (Kapitel 5.3) sowie die „wiederholte Beschäftigung mit symbolischen Gütern als Grundmodus des Erwerbs kulturellen Kapitals“ (Kapitel 5.4) untersucht. Wie gezeigt werden konnte, kommt der Familie für die Ausbildung von musikalischen Praktiken und Präferenzen weiterhin eine wichtige Rolle zu. Allerdings hat sich auch gezeigt, dass weitere Akteure, wie beispielsweise Geschwister, die von Bourdieu wenig beachtet wurden, eine große Relevanz für die Genese des Geschmacks besitzen. Zudem zeigte sich in den Interviews, dass die Eltern in der Regel eine ambivalente Rolle für die Ausbildung des Musikgeschmacks spielen, da sie die musikalische Entwicklung ihrer Kinder sowohl einschränken als auch ermöglichen (ausführlicher dazu Kapitel 5.2.1). Dies lässt sich anhand von Fahrdiensten zu Konzerten verdeutlichen. Diese ermöglichen einerseits eine jugendliche Praxis des Konzertbesuchs – und damit die Ausbildung (populär)kulturellen Kapitals –, andererseits lässt sich durch sie
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aber auch Kontrolle ausüben. Im Hinblick auf organisierte Sozialisationsinstanzen im schulischen Bereich, die ein weiteres Standardelement für ungleichheitsanalytische Analysen bilden, lässt sich anhand der vorliegenden Interviews zeigen, dass diesen aus Perspektive der Akteure keine große Relevanz zukommt. Wenn sie thematisiert wurden, dann in der Regel negativ oder als Rahmen, in dem sich die Jugendlichen mit ihrer Peergroup – beispielsweise während einer Klassenfahrt – über Musik austauschen können. Eine positive Bezugnahme auf den Musikunterricht fehlt auffälligerweise im gesamten Sample. Deutlich positiver wird von den Interviewten die Bedeutung des außerschulischen Bereichs eingeschätzt. Auch aus analytischer Perspektive erscheint für die Weitergabe musikspezifischen kulturellen Kapitals die Relevanz von organisierten Sozialisationsinstanzen wie Musikschulen, Vereinen oder auch Jugendhäusern eminent. Ein letzter zentraler Ertrag der Interpretation stellt die Rekonzeptualisierung von der Bourdieuschen Kapitalanalytik dar (Kapitel 5.4). Im Rückgriff auf Bourdieus „Elemente einer soziologischen Theorie der Kunstwahrnehmung“ (1968/1974) wurde die „wiederholte Beschäftigung mit symbolischen Gütern“ als Grundmodus der Inkorporierung von kulturellem Kapital gedeutet. Anhand von Interviewauszügen zur Praxis des Konzertbesuchs konnte das Verständnis der Generierung kulturellen Kapitals weiter vertieft werden. (b) Der Schwerpunkt der analytischen Arbeit der vorliegenden Untersuchung hat eine „Theorie des unterscheidenden Hörens“ (Kapitel 6) zum Ergebnis. Im Zuge der Auswertungen hat sich eine analytische Differenzierung von drei Aspekten als fruchtbar erwiesen, die hier nochmals kurz ausgeführt werden soll. Unterschieden wurde in systematischer Perspektive zwischen Praktiken des „Ordnens“, „Legitimierens“ sowie „Sich-Abgrenzens“. Diese analytischen Aspekte werden hinsichtlich ihrer Foki und zentraler Befunde im Folgenden rekapituliert. Unter dem analytischen Aspekt der „Praktiken des Ordnens“ (Kapitel 6.1) wurden das Einordnen, Zuordnen und Unterscheiden von musikalischen Objekten und Praktiken verhandelt. Der soziologische Blick auf Praktiken des Ordnens weist dabei vor allem aus wissenssoziologischer Perspektive eine lange Tradition auf und lässt sich mit klassischen Analysen wie „Über einige primitive Formen der Klassifikation (Durkheim/Mauss 1903/1987) oder „Die elementaren Formen des religiösen Lebens“ (Durkheim 1912/1981) verbinden. Diese Grundlegungen einer strukturanalytischen Wissenssoziologie finden ihre Fortführung in vielen Arbeiten, wobei in der vorliegenden Untersuchung vor allem an die Arbeiten Pierre Bourdieus angeschlossen wurde. In Bezug auf Musik werden in soziologischen Analysen vor allem Genres in den Blick genommen, die mehrere Funktionen übernehmen können (vgl. Frith 1998: 75ff.). Dazu zählt die Organisation des
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Verkaufs- und Produktionsprozesses ebenso wie die Strukturierung der Hörpraxis. An diese Vorarbeiten und Perspektiven konnte in den vorliegenden Analysen konstruktiv angeschlossen werden. Im Wesentlichen lassen sich die Ergebnisse dieser Analysen in zwei Schritten darstellen. In einem ersten Schritt wurde sowohl aufgezeigt, wie die Interviewten mit Genrebegriffen umgehen, aber auch, wie sie gängige Ordnungsbegriffe für Musik unterlaufen (Kapitel 6.1.1). Dies geschieht beispielsweise, indem sie eigene oder maximal offene Typisierungen verwenden. Ein Beispiel hierfür wäre die Verwendung des Etiketts „Heulmusik“. Im zweiten Schritt wurde der Fokus stärker auf die materialen Aspekte des Ordnens von Musik gelenkt. Hier konnte gezeigt werden, dass die Akteure in ihrem Alltag vielfältige Formen des Sortierens ihrer materiellen Tonträger zur Anwendung bringen. Diese unterlaufen wiederum zum Teil die Sortierungen, die vielen aus dem kommerziellen Tonträgerhandel geläufig sind, wie im Fall eines ästhetisch motivierten Arrangements der Tonträger nach der Farbe der Hüllen (vgl. Kapitel 6.1.2). Ein weiterer Aspekt, der sich hier bereits andeutet und seine volle Bedeutung in Bezug auf Praktiken des Sich-Abgrenzens enthüllt, ist das räumliche Arrangement der musikalischen Objekte im Wohnraum. Wie anschließend gezeigt wurde, wird dergestalt die Bühne für Distinktionspraktiken vorbereitet. Im Hinblick auf den analytischen Aspekt der „Praktiken des Legitimierens“ (Kapitel 6.2) wurde untersucht, welche Qualitätskriterien und Legitimierungen von musikalischen Geschmacksurteilen in den Aussagen der Interviewten beobachtbar sind. Aus soziologischer Perspektive ist die empirische Untersuchung der Praxis von Alltagsästhetiken noch ein relativ unbearbeitetes Feld, was insbesondere für den Untersuchungsbereich Musik gilt (Hesmondhalgh 2007). Im Hinblick auf die existierende Forschungsliteratur haben sich vor allem die Arbeiten von Frith (1998), von Appen (2007) und Parzer (2011) als „wertvoll“ erwiesen, da sie sich zentral mit dem Bewerten von Musik durch MusikhörerInnen befassen und eine ganze Reihe von Qualitätskriterien und ästhetischen Positionierungen herausarbeiten. Grundlegend wurden im Rahmen der vorliegenden Arbeit zunächst Formen musikalischer Geschmacksurteile (Kapitel 6.2.1) analytisch getrennt von den Inhalten musikalischer Geschmacksurteile analysiert (Kapitel 6.2.2). Im Hinblick auf die Formen konnte eine Reihe typischer Aussagen unterschieden werden, die sich vor allem hinsichtlich ihrer aufsteigenden Komplexität unterscheiden lassen und von der einfachen Präferenzäußerung („Ich höre gerne Oper“) bis hin zum Geschmacksurteil mit Legitimierung mittels Qualitätskriterien („An Opern finde ich keinen Gefallen, da Gesang für mich wichtig ist und die meisten Sängerinnen in diesem Bereich für mich artifiziell klingen“) reichen können. Davon unterschieden wird ferner die Immunisierung von Geschmacksurteilen, die häufig im Rekurs auf die unantastbare Individualität des Sprechers
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operiert. Als sehr reichhaltig haben sich die Interviews hinsichtlich der Inhalte musikalischer Geschmacksurteile erwiesen (Kapitel 6.2.2). Hierbei wurde die Auswertung auf die verwendeten Qualitätskriterien und Legitimierungen fokussiert. Da diese Kriterien sehr zahlreich sind, soll hier nur auf die grundlegenden Typen verwiesen werden, die Ergebnis der Interpretationen sind. Unterschieden wurden Legitimierungen von musikalischen Geschmacksurteilen: (1) mittels musikimmanenter Qualitätskriterien, (2) mittels erwarteter Funktionen, (3) mittels musikexmanenter Qualitätskriterien sowie (4) in Bezug auf habitualisierte Hörstrategien. In Bezug auf den dritten Aspekt der Theorie des unterscheidenden Hörens wurden „Praktiken des Sich-Abgrenzens“ (Kapitel 6.3) in den Fokus genommen. Leitend war hierbei die Annahme, dass Bourdieus Distinktionsanalytik zwar in Anspruch nimmt, auch die Praxis symbolischer wie sozialer Abgrenzungen in den Blick zu nehmen, diesen Anspruch aber nur bedingt einlöst (Gebhardt 2010). In der Fokussierung auf den konkreten Vollzug symbolischer wie sozialer Grenzziehungen ergaben sich drei zentrale konzeptionelle Beiträge, die hier kurz zusammengefasst werden sollen. Zum ersten wurden das Bühnenbild und die Requisiten als materiale Objekte des Sich-Abgrenzens in den Blick genommen (Kapitel 6.3.1). Hierbei konnte analytisch gewinnbringend an Konzepte Goffmans (1959/1983) angeschlossen werden. Vor dem Hintergrund der Interpretationen erscheinen Sortierlogiken von Tonträgersammlungen oder das Tragen von Bandshirts nicht mehr als individuelle und harmlose Ausdrucksmöglichkeiten, sondern als wichtige Elemente der alltäglichen Distinktionspraxis. Sodann wurden zweitens die sozialen Objekte des Sich-Abgrenzens genauer analysiert (Kapitel 6.3.2). Hierbei wurden die unterschiedlichen sozialen Objekte differenziert, von denen die Interviewten sich (explizit) abgrenzen. Darunter fallen das eigene biographische Selbst (beispielweise in Form musikalischer Jugendsünden), biographische Andere (z.B. die Eltern) sowie anonyme Andere (z.B. das Reggaepublikum). Abschließend wurden drittens Legitimierungen und Qualitätskriterien im Hinblick auf ihre Relevanz für die Praxis des Sich-Abgrenzens untersucht (6.3.3). Hierbei konnte gezeigt werden, welchen analytischen Gewinn die in den vorangehenden Kapiteln gewonnen Konzepte für die Untersuchung von symbolischen wie sozialen Abgrenzungen versprechen. (c) Im Rahmen abschließender Analysen wurden in Kapitel 7 „Grenzen des Musikgeschmacks und grenzüberschreitender Musikgeschmack“ zum Gegenstand der Untersuchung gemacht. Ausgehend von der These Bourdieus, dass sich Geschmack besonders deutlich in der Ablehnung, dem Widerwillen und Ekel manifestiere (Bourdieu 1979/1987: 103), wurden zunächst Interviewpassagen in den Blick genommen, in denen die Interviewten die Grenzen ihres bzw. des gu-
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ten Geschmacks artikulieren (Kapitel 7.1). Nach dieser Öffnung der Teilfrage wurde stärker auf die einzelnen Elemente des „grenzüberschreitenden Musikgeschmacks“ (Berli 2010) fokussiert. Dieser wurde auf Basis der Konzepte der Theorie des unterscheidenden Hörens näher in den Blick genommen. Zu den zentralen Elementen grenzüberschreitenden Geschmacks gehören auf dieser Grundlage folgende Punkte (Kapitel 7.2): (i) Im Hinblick auf musikalische Ordnungsbegriffe wie Genres wird Kritik geübt. Diese lässt sich auf den Begriff Schubladen-Kritik bringen, da die Ablehnung oder Problematisierung der Verwendung von Genrebezeichnungen häufig mit dieser Metapher operiert (vgl. Parzer 2011: 164). Konsequenterweise werden dann eher weite Ordnungsbegriffe verwendet, die zudem quer zu gängigen Genrebezeichnungen liegen können. Die selbstverständliche Nutzung von Genre- und Subgenrebezeichnungen wird von den entsprechenden InterviewpartnerInnen vermieden. (ii) Zu den Elementen des grenzüberschreitenden Musikgeschmacks gehört die Verwendung von Qualitätskriterien und Legitimierungen von Geschmacksurteilen über Genregrenzen hinweg. So werden beispielsweise musikexmanente Qualitätskriterien wie Authentizität auf legitime wie illegitime musikalische Stile und Formate gleichermaßen angewendet. Die gegenteilige – also nicht grenzüberschreitende – Verwendungsweise von Qualitätskriterien und Legitimierungen setzt diese „passgenau“ ein, so dass beispielsweise genrespezifische Kriterien nur innerhalb dieses einen Genres Anwendung finden. Auf dieser Basis lassen sich Geschmacksurteile mit höherem Objektivitätsanspruch formulieren, als dies von den VertreterInnen des grenzüberschreitenden Musikgeschmacks vorgenommen wird. Diese deuten Musikgeschmack in der Regel als individualisiert und lehnen objektivistische musikalische Werturteile ab. (iii) In der Selbstbeschreibung stellen sich die entsprechenden Personen als nicht festgelegt dar. Damit ist zum Teil eine explizite Ablehnung des festgelegten Geschmacks verbunden. Ferner können dann die Immunisierungsstrategien, welche die Reichweite von musikalischen Geschmacksurteilen relativieren, in ihr Gegenteil umschlagen und zur symbolischen Abgrenzung von „SpartenhörerInnen“ und zur Darstellung demonstrativer Offenheit genutzt werden. Implizit zeigt sich hier ein Offenheitsimperativ, der zum Teil normativ akzentuiert wird. Die Implikation daraus ist eine Höherbewertung der eigenen musikalischen Offenheit. Und schließlich weisen das Bühnenbild und im schwächeren Maße auch die Requisiten des Musikgeschmacks die Akteure als musikalisch offen aus. Insgesamt deuten die Ergebnisse also nicht auf eine Auflösung von Distinktionsphänomenen hin, vielmehr erweist sich grenzüberschreitender Musikgeschmack als Variante des legitimen Geschmacks im Bourdieuschen Sinne.
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8.3 M USIK ALS M ITTEL DER D ISTINKTION UND G EGENSTAND DER L EGITIMATION : OFFENE F RAGEN UND A USBLICK Die Analysen im empirischen Teil der vorliegenden Arbeit liefern – so zumindest die Hoffnung des Autors – Anregungen und Bausteine für weiterführende Überlegungen und Untersuchungen zum Gegenstand Musikgeschmack im Besonderen wie auch Geschmack im Allgemeinen. Vor dem Hintergrund der oben skizzierten Ergebnisse und Erträge lassen sich m.E. eine Reihe von Punkten und Fragen ansprechen, die Gegenstand weiterführender Untersuchungen sein könnten. Diese lassen sich wiederum anhand der internen Logik der Ergebnisdarstellung gliedern. Im Hinblick auf die Befunde zu den „Generierungsbedingungen von Musikgeschmack“ (Kapitel 5) lässt sich weiterer Handlungsbedarf feststellen, sowohl in theoretischer wie empirischer Hinsicht. Was bislang m.E. fehlt, ist eine theoretische wie empirische Fundierung der soziologischen Perspektiven auf Prozesse und Bedingungen der Generierung von Musikgeschmack im Besonderen wie kultureller Geschmacksmuster im Allgemeinen. Auch wenn derzeit für viele ungleichheitsanalytische Untersuchungen in diesen Bereichen die Bourdieusche Position als theoretische Leitwährung fungiert, lassen sich die blinden Flecken dieser Perspektive nicht leugnen. So beachtet Bourdieu nur unzureichend zentrale Akteure für die Genese eines individuellen Geschmacks, wie beispielsweise König (2007) am Beispiel der Bedeutung von Peergroups für das vestimentäre Handeln von Jugendlichen zeigen konnte. Auch in der vorliegenden Untersuchung zeigte sich die Relevanz von unterschiedlichen Akteursgruppen, wie oben bereits angedeutet wurde, die in der ungleichheitsanalytischen Forschung nur selten in den Blick geraten. Hier sind vor allem die Geschwister und ihre komplexe Rolle im Prozess der Ausbildung von kulturellem Kapital zu nennen. Zu diesem Konnex sind weitere Untersuchungen notwendig, welche die Prozesse der Weitergabe von kulturellem Kapital innerhalb der Familie wie auch innerhalb von Kleingruppen in den Blick nehmen. Die instruktive Studie „Unequal Childhoods“ von Lareau (2003) bietet hierfür hinreichend Anregungspotenzial. Aber auch die komplexe Rolle der organisierten Sozialisationsinstanzen für Prozesse der Generierung von Musikgeschmack bedarf m.E. weiterer Elaborierung. Die Theorie des unterscheidenden Hörens (Kapitel 6) nimmt wichtige Impulse aus distinktionsanalytischer Kultursoziologie und strukturanalytischer Wissenssoziologie auf. Die aus der Interpretation der empirischen Daten gewonnene dreifache analytische Differenzierung von Praktiken des Ordnens, Legitimierens und Sich-Abgrenzens stellt dabei m.E. einen relevanten Beitrag zu den bisher
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vorliegenden soziologischen Studien in diesem Untersuchungsfeld dar und bietet hinreichend Anregungspotenzial für weitere Analysen. Im Hinblick auf Praktiken des Ordnens ließen sich beispielweise die Zusammenhänge zwischen Genrebegriffen, Genregrenzen unterlaufende Typisierungen und materialen Aspekten der musikalischen Praxis weiter vertiefen. Bislang liegen überwiegend soziologische Studien zu Genreklassifikationen vor, die auf das Feld der musikalischen Produktion fokussieren (bspw. Lena 2012; Negus 1999; Peterson/Lena 2008). Eine weitere Auseinandersetzung mit den Praktiken des Ordnens durch MusikhörerInnen, wie sie oben bereits begonnen wurde, könnte gerade auch im Kontrast zu den bereits bestehenden Vorschlägen das soziologische Verständnis von Klassifikationsprozessen in unterschiedlichen kulturellen Feldern vertiefen. Bezogen auf die Praktiken der Legitimierung zeigte die Untersuchung von Prozessen und Kriterien des Wertens und Wertzuschreibens im Bereich der Musik die Vielfalt und Differenziertheit auf, die diese auch im Diskurs von MusikkonsumentInnen aufweisen. Wobei bedacht werden muss, auch das zeigen die Interpretationen, dass es sich bei den Befragten nicht um DeutungsexpertInnen handelt. Die hier als Praktiken des Legitimierens aufgefassten Aspekte von musikalischen Wertungen finden sich in ähnlicher Weise in anderen Untersuchungsbereichen wieder, beispielsweise in Gesprächen über Literatur oder Film. Im Kontext einer im Entstehen begriffenen Soziologie des Wertens (vgl. Lamont 2012) wären weitere, sowohl feldspezifische als auch komparative Untersuchungen von Interesse. Diese könnten das bisher noch relativ unterentwickelte Feld einer auf empirischen Studien basierenden Theoretisierung von Alltagsästhetiken weiter voranbringen. Hierbei könnte eine verstärkte Auseinandersetzung mit rezenten Beiträgen der Soziologie der Konventionen – verwiesen sei exemplarisch hier auf Karpiks Studie „Mehr Wert“ (2011) – Anregungspotenzial bieten. Der letzte analytische Aspekt der Theorie des unterscheidenden Hörens – die Praktiken des Sich-Abgrenzens – widmete sich den Praktiken und Strategien der symbolischen wie sozialen Abgrenzung. Hier wurde das Ziel verfolgt, die Praxis der Distinktion näher zu beleuchten. Dabei kamen auch materiale Aspekte dieser Praxis in den Blick, die bis auf wenige Ausnahmen (z.B. Gebhardt 2010) bislang eher en passant behandelt oder gänzlich vernachlässigt wurden. Hier liegt m.E. für zukünftige Untersuchungen die Chance, dem Zusammenspiel von Bühnenbild und Requisiten für die konkrete Praxis der Selbstdarstellung als distinguiert oder auch kulturell offen weiter auf den Grund zu gehen. Zudem konnte, wie oben angeführt, gezeigt werden, dass Praktiken des Ordnens und Legitimierens elementare Bausteine für symbolische wie soziale Abgrenzungen bereitstellen. Auch hier besteht m.E. die Möglichkeit das Zusammenspiel dieser drei analytischen Aspekte in anderen materialen Feldern zu untersuchen und im Vergleich
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unterschiedlicher kultureller Felder ein höheres Generalisierungsniveau anzustreben. Daneben zeigen ländervergleichende Studien wie Lamonts „Money, Moral & Manners“ (1992) weitere Optionen für vertiefende Studien auf. Im Hinblick auf die typischen Elemente grenzüberschreitenden Musikgeschmacks wurde eine Reihe von Aspekten identifiziert, die Gegenstand der Interpretationen in Kapitel 7 waren. Anschließende Untersuchungen und erweiternde Analysen sind auf Basis der vorliegenden Ergebnisse in zwei Richtungen denkbar. Zum einem könnte innerhalb des Untersuchungsbereichs Musikgeschmack unter Einbeziehung komparativer Fälle eine empirisch gehaltvolle Typologie entwickelt werden, die an Stelle der dominanten Dichotomie von „cultural omnivores“ und „cultural univores“ treten kann. Zum anderen ließe sich die Untersuchung auf andere Felder kulturellen Konsums ausweiten, um beispielsweise innerhalb des Feldes der Literatur die Distinktionspraxis der Alltagsakteure in den Blick zu nehmen. Hier sei exemplarisch an Zaviscas (2005) Studie erinnert, mit der die Autorin bereits an die Omnivorizitätsdiskussion anknüpft. Gerade im Hinblick auf kulturelle Präferenzen und Praktiken jenseits des Untersuchungsfelds Musik liegen bislang nur wenige distinktionsanalytische Studien vor. Mit den Überlegungen zu Elementen grenzüberschreitenden Musikgeschmacks ist in dieser Hinsicht eine Vorarbeit geleistet worden.
Literatur
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F ILM Hannah und ihre Schwestern (1986) (USA, R: Woody Allen).
Anhang
L EITFADEN Wie wir bereits in unserem Vorgespräch geklärt haben, werden wir uns im folgenden Interview eingehend über Ihren Musikgeschmack und Ihren Umgang mit Musik unterhalten. Einstieg Was für Musik hören Sie besonders gerne? Musik bewerten Was macht Ihrer Meinung nach gute Musik aus? Welche Musik gefällt Ihnen besonders gut? Was gefällt Ihnen an XY besonders gut? Welche Musik gefällt Ihnen überhaupt nicht? Was missfällt Ihnen an XY besonders? Welche InterpretInnen oder Gruppen haben eine besondere Bedeutung für Sie? Welche InterpretInnen oder Gruppen gefallen Ihnen überhaupt nicht? Welche einzelnen Musikstücke haben eine besondere Bedeutung für Sie? Gibt es Musik, die für Sie absolut indiskutabel ist? Was finden Sie an XY nicht gut? Wie würden Sie Ihren eigenen Musikgeschmack beschreiben?
A NHANG | 291
Bezeichnen Sie sich selbst als Fan? Warum (nicht)? Hören, Spielen, Auswählen Schildern Sie bitte eine typische Alltagsituation in der Sie Musik hören. Welche Medien nutzen Sie, um Musik zu hören (im Auto/unterwegs, z.B. mit MP3-Player/Radio/Internet-Radio/Fernsehen)? Wann hören Sie Musik? Gibt es besondere Anlässe? Was bedeutet für Sie Musikhören? Was bedeutet für Sie Musik? Beschreiben Sie Situationen, in denen Sie (zu Hause) Musik hören. Erzählen Sie von der letzten Situation in der Sie Live-Musik gehört haben. Erinnern Sie sich an das erste Konzert, dass Sie besucht haben? Wie war das Konzert? Was hat begeistert? Was hat Ihnen weniger gefallen? Wie kommen Sie zu neuer Musik? (Kauf/Tausch etc.) Wie informieren Sie sich über Musik? Sprechen Sie mit Ihren Freunden über Musik? Lesen Sie Plattenkritiken? Spielen Sie ein Instrument? Wie sind Sie dazu gekommen? Wie würden Sie die Musik die Sie machen beschreiben? Ausbildung von Dispositionen/Formative Phase Was ist das erste „musikalische“ Erlebnis, an das Sie sich erinnern können? Welche Bedeutung hatte Musik in Ihrem elterlichen Haushalt? Wenn Sie sich an Ihre Schulzeit zurückerinnern, wie würden Sie Ihre musikalische Prägung durch die Schule beschreiben? Was für Musik haben Sie früher gerne gehört? Welche Bedeutung hatte Musik für Sie in Ihrer Jugend? Welche Musik hat für Ihr Leben eine besondere Bedeutung?
292 | GRENZENLOS GUTER GESCHMACK
Wie würden Sie die Entwicklung Ihres Musikgeschmacks beschreiben? Wir haben alle was unseren Musikgeschmack anbelangt Jugendsünden vorzuweisen. Welche musikalischen Jugendsünden haben Sie begangen? Abschluss Gibt es etwas, dass Ihrer Meinung nach für meine Untersuchung wichtig sein könnte, aber bisher in unserem Interview noch nicht zur Sprache kam?
A NHANG | 293
K URZPORTRAITS
DER I NTERVIEWTEN
Konrad ist zum Zeitpunkt des Interviews 31 Jahre alt und hat ein sozialwissenschaftliches Studium abgeschlossen. In seinem Beruf gehört er zu der Gruppe der QuereinsteigerInnen, da er ohne pädagogische Zusatzqualifikation im Bereich der Sozialen Arbeit untergekommen ist. Musikalisch ist er in doppelter Hinsicht aktiv, da er nicht nur gerne und viel Musik hört, sondern seit seiner Jugend im Amateurbereich musiziert. Seine Liebe gilt vor allem dem Punkrock. Allerdings ist er gegenüber anderer Musik durchaus offen, solange sie ihn „an den Eiern packt“. Er selbst charakterisiert sich als Spartenhörer. Seine Abneigungen sind zum Teil deutlich ausgeprägt – gerade auch gegenüber kulturell als legitim angesehenen Genres wie Oper oder Jazz. Bernd ist zum Zeitpunkt des Interviews 25 Jahre alt. Er hat Abitur gemacht und studiert Sozialwissenschaften und Deutsch auf Lehramt an einer westdeutschen Universität. Bernd nimmt für sich in Anspruch, dass er nicht auf einzelne Musikrichtungen festgelegt ist, sondern nach dem geht, was ihm gefällt. In seiner Freizeit spielt er in einem Studierendenorchester Cello und kann so seiner Neigung für klassische Musik folgen, die einem Teil seiner Freunde unbekannt ist. Michael ist zum Zeitpunkt des Interviews 26 Jahre alt. Er hat Abitur gemacht und studiert die Fächer Englisch und Geschichte auf Lehramt an derselben Universität wie Bernd. Michael beschreibt seinen Musikgeschmack als nicht festgelegt. Seine Leidenschaft gilt dabei vor allem einzelnen Bands wie Radiohead oder REM. Letztgenannte hat für ihn besondere Bedeutung, was sich auch darin zeigt, dass er sie in den vergangenen zehn Jahren etwa zwanzigmal live gesehen hat. Mit seiner Neigung für Musik ist er in seiner Familie nicht alleine, seiner Schwester attestiert er ebenfalls ein breites Präferenzspektrum und fundiertes musikalisches Wissen. Caspar ist zum Zeitpunkt des Interviews 27 Jahre und studiert unter anderem Kunst an derselben Universität wie Michael und Bernd. Er interessiert sich für eine Vielzahl von Musikrichtungen, wie Rock in unterschiedlichen Spielarten, HipHop, elektronische Musik und mittlerweile auch Klassik und Jazz. Womit er bei vielen seiner Freunde auf weniger Verständnis stößt, ist sein aktuelles Interesse für deutschsprachigen HipHop à la Kool Savas. Kim, die zum Zeitpunkt des Interviews 25 Jahre alt ist, hat Medienwissenschaft, Kunstgeschichte und Kulturwissenschaft studiert und lebt mit ihrem Freund in
294 | GRENZENLOS GUTER GESCHMACK
einer westdeutschen Großstadt. Ihre musikalischen Vorlieben bewegen sich überwiegend im Bereich der Rockmusik, wobei sie mittlerweile auch elektronische Musik mit Vergnügen hören kann. Daneben artikuliert sie eine Reihe von Präferenzen im Popbereich. Generell hebt sie die positive Bedeutung von Musikerinnen für sich hervor. Zum Zeitpunkt unseres Gesprächs ist sie Praktikantin in einer Online-Redaktion. Dana ist zum Zeitpunkt unseres Gesprächs 31 Jahre alt. Sie hat in einer kleinen Universitätsstadt studiert und arbeitet gegenwärtig als „Chefassistentin“ im Printbereich, wie sie es ausdrückt. Ihre musikalischen Vorlieben decken unterschiedliche Genres ab. Eine Zeit lang hat sie viel „Hamburger Schule“, vor allem Tocotronic, gehört. Mittlerweile konsumiert sie unterschiedliche Spielarten von Rockmusik, Instrumentalmusik wie auch einiges aus dem Bereich SingerSongwriter. Dana spielt seit einigen Jahren hobbymäßig Gitarre. Sie besucht in relativ hoher Frequenz Konzerte, gerne auch alleine, wenn sie niemanden findet, der ihre Präferenz teilt. Wenn die Performance stimmt, kann sie auch Gefallen an einem Metalkonzert finden. Steffen ist zum Zeitpunkt des Interviews 31 Jahre alt und wohnt zusammen mit seiner Freundin Dana in einer deutschen Großstadt. Er hat nach dem Abitur VWL studiert und arbeitet gegenwärtig in einer Agentur. Seine musikalischen Vorlieben bewegen sich vor allem im Bereich der Populärkultur, wobei er im Laufe seiner musikalischen Biographie Vorlieben für so unterschiedliche Genres wie HipHop, Metal, Hardcore oder auch elektronische Musik entwickelt hat. Neben regelmäßigen Konzertbesuchen findet er Gefallen an Festivals, die gerne auch mit den Urlaubsplänen verbunden werden. Johanna ist zum Zeitpunkt des Interviews 65 Jahre alt. Sie hat nach ihrer Ausbildung lange an einer Universität als Verwaltungsangestellte gearbeitet und ist mittlerweile Rentnerin. Vor Ende ihres Berufslebens hat sie aus Interesse parallel zur Arbeit ein sozialwissenschaftliches Studium absolviert. Johanna ist kulturell sehr aktiv, geht regelmäßig ins Theater und ist auch Konzertbesuchen nicht abgeneigt. Diese lassen sich überwiegend im Bereich der Klassik verorten, wobei sie auch manchmal bei Jazz- oder Popkonzerten anzutreffen ist. Ihr Interesse fürs Sprachenlernen verbindet sie mit musikalischen Entdeckungsreisen, bei denen sie sich mit Musik aus unterschiedlichen Sprach- und Kulturräumen auseinandersetzt.
A NHANG | 295
Uwe ist zum Zeitpunkt unseres Gesprächs 69 Jahre alt und lebt in einer westdeutschen Großstadt. Im Anschluss an sein Abitur hatte er ein wirtschaftswissenschaftliches Studium absolviert. Bevor er in Rente gegangen ist, arbeitete er im Bankenbereich. Seine Abonnements für die Philharmonie und die Oper gehören zu seiner „musikalischen“ Grundausstattung. Daneben besucht er regelmäßig Kirchenkonzerte, und seine Reisen in kulturell interessante Städte verbindet er nach Möglichkeit auch mit Konzertbesuchen. Anderen Musikrichtungen gegenüber, wie beispielsweise Jazz, ist er aufgeschlossen. Markus ist zum Zeitpunkt des Interviews 46 Jahre alt. Hauptsächlich lebt er von seiner Tätigkeit als DJ, nebenbei arbeitet er in einem Plattenladen. Zudem veranstaltet er auch Veranstaltungen, wie beispielsweise Konzerte mit MusikerInnen, die er schätzt. Als Vinylsammler verfügt er über eine umfangreiche Sammlung, so dass seine Arbeit im Plattenladen denn auch eher als Strategie verstanden werden kann, direkt „an der Quelle“ zu arbeiten. Markus Sammlung hat ihre Schwerpunkte in den Bereichen Jazz, Soul und Funk. Daneben besitzt er aber auch „klassische“ Rockscheiben und einen wachsenden Bestand an Klassikaufnahmen.
296 | GRENZENLOS GUTER GESCHMACK
T RANSKRIPTIONSSYMBOLE Sprechernamen Pausen ab einer Sekunde Unverständlich Unsichere Transkription Auslassung Lachen/Husten (nicht-sprachliche Ereignisse) Überlappungen schneller Anschluss Vokaldehnung Abbruch
INTERVIEWER/I: (Xs) [...] [Jazz] (...) [beide lachen] [I: Mmh] wie=wir aaber waru-
Intonation schwach ansteigende Intonation stark ansteigende Intonation schwach fallende Intonation stark fallende Intonation
wie wir, wie wir? wie wir; Genau.
CASPAR/C:
Kultur und soziale Praxis Naime Cakir Islamfeindlichkeit Anatomie eines Feindbildes in Deutschland August 2014, 274 Seiten, kart., 27,99 €, ISBN 978-3-8376-2661-2
Gesine Drews-Sylla, Renata Makarska (Hg.) Neue alte Rassismen? Differenz und Exklusion in Europa nach 1989 November 2014, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2364-2
Jörg Gertel, Rachid Ouaissa (Hg.) Jugendbewegungen Städtischer Widerstand und Umbrüche in der arabischen Welt Juli 2014, 400 Seiten, Hardcover, zahlr. z.T. farb. Abb., 19,99 €, ISBN 978-3-8376-2130-3
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Nadja Thoma, Magdalena Knappik (Hg.) Sprache und Bildung in Migrationsgesellschaften Machtkritische Perspektiven auf ein prekarisiertes Verhältnis Februar 2015, ca. 300 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2707-7
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Jonas Bens, Susanne Kleinfeld, Karoline Noack (Hg.) Fußball. Macht. Politik. Interdisziplinäre Perspektiven auf Fußball und Gesellschaft
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Februar 2014, 192 Seiten, kart., 27,99 €, ISBN 978-3-8376-2558-5
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Anamaria Depner Dinge in Bewegung – zum Rollenwandel materieller Objekte Eine ethnographische Studie über den Umzug ins Altenheim
Kristin Pfeifer »Wir sind keine Araber!« Amazighische Identitätskonstruktion in Marokko
Januar 2015, ca. 250 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2765-7
Forschungsgruppe »Staatsprojekt Europa« (Hg.) Kämpfe um Migrationspolitik Theorie, Methode und Analysen kritischer Europaforschung Januar 2014, 304 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2402-1
Heidrun Friese Grenzen der Gastfreundschaft Die Bootsflüchtlinge von Lampedusa und die europäische Frage Juli 2014, 250 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2447-2
Jacqueline Grigo Religiöse Kleidung Vestimentäre Praxis zwischen Identität und Differenz Januar 2015, ca. 330 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2839-5
Februar 2015, ca. 320 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 36,99 €, ISBN 978-3-8376-2781-7
Wiebke Scharathow Risiken des Widerstandes Jugendliche und ihre Rassismuserfahrungen Juli 2014, 478 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2795-4
Henrike Terhart Körper und Migration Eine Studie zu Körperinszenierungen junger Frauen in Text und Bild Januar 2014, 460 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2618-6
Yeliz Yildirim-Krannig Kultur zwischen Nationalstaatlichkeit und Migration Plädoyer für einen Paradigmenwechsel Mai 2014, 260 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2726-8
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