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German Pages 370 Year 2016
Thorsten Benkel (Hg.) Die Zukunft des Todes
Kulturen der Gesellschaft | Band 15
Thorsten Benkel (Hg.)
Die Zukunft des Todes Heterotopien des Lebensendes
Gefördert durch Aeternitas e.V.
Aeternitas e.V., die gemeinnützige Verbraucherinitiative Bestattungskultur, informiert und berät in allen organisatorischen, rechtlichen und finanziellen Angelegenheiten rund um den Trauerfall und fördert eine zeitgemäße, bürgerfreundliche Bestattungskultur.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Thorsten Benkel Satz: Patrick Reitinger Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-2992-7 PDF-ISBN 978-3-8394-2992-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Der lebendige Tod. Ein Vorwort
Thorsten Benkel | 7 Symbolische Präsenz. Zum Status der Identität nach dem Ende der Identität
Thorsten Benkel | 11
STERBEDISKURSE Wie nicht vom Tod reden
Peter Fuchs | 43 Zuhause Sterben in der reflexiven Moderne. Private Sterbewelten als Heterotopien
Stephanie Stadelbacher und Werner Schneider | 61 Einschluss der Ausgeschlossenen. Konturen des Sterbens im Hospiz
Doris Lindner | 85 Jugendliche Todesbilder bei flickr.com
Birgit Richard und Birte Svea Philippi | 107
TOD IM W ANDEL Postexistenzielle Existenzbastelei
Matthias Meitzler | 133 »Ich habe dich beim Namen gerufen.« Sozial- und Ordnungsamtbestattungen als Herausforderungen für Kirche und Gesellschaft
Norbert Wichard | 163
Zeus(̓) Platz! Die Zukunft des toten Heimtieres
Dirk Preuß | 181 Tanzt der Tod jetzt anders aus der Reihe? Jean Baudrillard zwischen Utopie und Dystopie
Kathleen Warnhoff | 213 Tod und Maske
Susanne Regener | 237
V ERRÄUMLICHUNGEN Der entfesselte Friedhof. Über die Zukunft von Bestattungs- und Erinnerungsorten
Norbert Fischer | 263 Die Topik gegenwärtiger Bestattungsformen
Barbara Happe | 283 Die anonyme Bestattung zwischen Individualisierung und Entindividualisierung
Nicole Sachmerda-Schulz | 303 Frühe Tode. Verräumlichungen der Trauer um Ungeborene
Julia Böcker | 317 Begraben im Cyberspace. Virtuelle Friedhöfe als Räume mediatisierter Trauer und Erinnerung
Anke Offerhaus | 339 Autorinnen und Autoren | 365
Der lebendige Tod Ein Vorwort T HORSTEN B ENKEL »Alles ist wie immer und nichts ist, wie es war.« INSCHRIFT AN EINEM GRAB IM NÖRDLICHEN HESSEN
Das Bild Le Balcon von Édouard Manet (1869) zeigt zwei Frauen und einen Mann, die sich im vornehmen Dress an einem sommerlichen Tag auf dem Balkon aufhalten, ihre Blicke in verschiedene Richtungen streuend. Manet hat, so wird vermutet, mit diesem Bildnis ein Gemälde von Francisco de Goya interpretieren wollen, welches ebenfalls eine Balkonszene präsentiert. Und auch Manets Variante fand eine Erwiderung – eine surrealistische: 1950 malte René Magritte Perspective II: Le Balcon de Manet. Zu sehen ist derselbe Balkon, doch dort, wo Manet Personen zeigt, hat Magritte Särge platziert. Sie stehen da aufrecht, wo bei Manet Mann und Frau aufrecht stehen, und an der Stelle, an der im Original eine der Damen auf einem Stuhl sitzt, ist bei Magritte ein Sarg mit deutlicher Abknickung im Holz zu sehen, als wäre darin jemand im Sitzen abgelagert. Alles ist eine Sache der Perspektive, scheint das Bild zu besagen: Wer heute als lebendig angesehen wird, den betrachtet man morgen als gestorben. Die Zukunft ist – der Tod. Zurück in die Gegenwart. Die individuelle Aneignung des Todes wird deshalb immer stärker angestrebt, weil kollektive Szenarien ihre Verbindlichkeit verloren haben – so könnte man meinen. Es könnte aber auch umgekehrt sein: Die kollektiven Elemente des Todes und der Todeserklärung könnten Schaden genommen haben, weil sich individualisierte Alternativen aufdrängen und verbreiten konnten. »Der Preis weit voran getriebener Individualisierung ist eine
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durch nichts gemilderte Konfrontation mit der eigenen Vergänglichkeit«, schreibt Ulrich Beck in einem Beitrag über »Vergänglichkeitshoffnungen« (Beck 1997: 125). Das eigene Leben führt zum eigenen Tod, der, da er immer schon eigen war, durch Individualisierungsschübe seinen Charakter vermeintlich nicht verändert. Tatsächlich aber gibt es keinen Tod, der losgelöst von sozialen Strukturen gedacht werden könnte – genauso, wie es auch kein Leben gibt, das entkoppelt von der Gesellschaft vorstellbar ist. Wenn die Gesellschaft sich ändert, ändert das Ende des Lebens sich mit. Belege für das Beziehungsgeflecht zwischen der sozialen Welt und dem Lebensende liefert nicht das Sterbegeschehen als solches, jedenfalls nicht unmittelbar. Sie lassen sich vielmehr an den gesellschaftlichen Einrahmungen des Sterbens, des Todes und der Trauer ablesen und werden insbesondere anhand der sich dort abspielenden Veränderungen evident. Wenn Michel Foucault festhält, dass eine »Disqualifizierung des Todes« am »Absterben der ihn begleitenden Rituale zum Ausdruck kommt« (Foucault 1998: 165), so greift dies zu kurz: Ritualverschiebungen, auch solche, die in ganz andere als die gewohnten Richtungen lenken, sind nicht der Tod des Rituals, sondern der Beweis für seine anhaltende Lebendigkeit. So gesehen, ist der Tod, und sind auch die sozialen Begleiterscheinungen des Todes, heute vielleicht ›lebendiger‹ als je zuvor. Diese Lebendigkeit soll nachfolgend anhand zweier häufig zusammenlaufender, oft aber auch voneinander getrennter Kategorien verfolgt werden, die für Sterben, Tod und Trauer relevant sind. Der Tod und seine gesellschaftlichen Bezüge werden einerseits anhand der Zukunftsoffenheit ihres Verhältnisses und damit explizit im Hinblick auf ihr Entwicklungspotenzial beleuchtet. Andererseits trägt die heterotopische Komponente dazu bei, Thanatophänomene aus einer verräumlichenden Perspektive zu betrachten, denn Sterben, Tod und Trauer haben ihre Orte, die ihnen entweder temporär oder immerzu gewidmet sind bzw. für sie beansprucht werden. Die hier versammelten Texte wählen unterschiedliche Betrachtungsweisen und Gewichtungen, um die zeitliche und/oder die räumliche Facette des Todes einzubeziehen, was nicht zuletzt aufgrund der unterschiedlichen disziplinären Zuordnungen und methodischen Strategien sinnfällig ist. Der Herausgeber erlaubt sich zunächst eine einleitende Auseinandersetzung mit soziologisch relevanten Aspekten des heutigen Totseins, die keineswegs ›abgeschlossen‹ sind, sondern künftige Weiterentwicklungen nachgerade provozieren. Peter Fuchs stellt grundsätzliche Probleme dar, die entstehen, wenn der Tod kommunikativ gemacht werden soll. Stephanie Stadelbacher und Werner Schneider zeigen an einem konkreten Beispiel, wie die reflexive Modernisierung das Sterben verändert. Doris Lindner betrachtet die spezifische Situation des Lebensendes im
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Hospiz, Birgit Richard und Birte Svea Philippi untersuchen Todesinszenierungen im virtuellen Raum. Es folgt Matthias Meitzlers Untersuchung zum Einfluss der Individualisierung auf zeitgenössische Begräbnisanlagen. Norbert Wichard beleuchtet das Problem der so genannten Ordnungsamtbestattungen, Dirk Preuß wiederum nimmt sich thematisch der Tragik des Heimtiertodes an. Kathleen Warnhoff fragt nach der Relevanz von Jean Baudrillards Überlegungen zum Tod. Susanne Regener stellt Beispiele für die Visualisierungsanliegen, aber auch für die Bedeutungszuschreibung im Zusammenhang mit Totenmasken dar. Norbert Fischer greift sich abzeichnende Veränderungen der Friedhofslandschaften auf, während Barbara Happe die heterotopische Komponente zeitgenössischer Bestattungsformen hinterfragt. Nicole Sachmerda-Schulz berichtet über die sozialen Implikationen der anonymen Bestattung. Julia Böcker thematisiert Trauer und Trauerbewältigungsstrategien angesichts des Sterbens von Ungeborenen, und schließlich geht Anke Offerhaus auf die Funktionen der Verlagerung von Trauer in die Weiten des Internets ein. Angestrebt ist ein Überblick über aktuelle Tendenzen und Entwicklungen im Spannungsfeld von Tod und Gesellschaft, was nicht ohne das Eingeständnis funktioniert, dass die Zukunft des Todes immer wieder neu skizziert werden kann bzw. muss. Und weil der kommende Tod nun einmal die unstrittige Zukunft von uns allen ist, sei noch rasch ein Dank an diejenigen ausgesprochen, die den Band ermöglicht haben. Dazu gehören an erster Stelle die Autorinnen und Autoren. Ferner sei gedankt: Christoph Keldenich und Aeternitas e.V. für die großzügige Unterstützung beim Zustandekommen dieses Buches, Christoph Nienhaus (Universität Passau) für seinen Durchblick, Patrick Reitinger (Universität Bamberg) für großes Engagement und technische Raffinesse, und insbesondere Matthias Meitzler (Kulturwissenschaftliches Institut Essen) für permanente Zuverlässigkeit, wertvolle Mitarbeit auf allen Ebenen und für die Mitgestaltung bei den Verwandlungen der soziologischen Neugier des Herausgebers in empirischen Tatendrang.
L ITERATUR Beck, Ulrich (1997): Eigener Tod – eigenes Leben. Vergänglichkeitshoffnungen. In: ders./Ulf Erdmann-Ziegler (Hg.), Eigenes Leben. Ausflüge in die unbekannte Gesellschaft, in der wir leben, München, S. 124-129. Foucault, Michel (1997): Sexualität und Wahrheit, Bd. 1: Der Wille zum Wissen, Frankfurt am Main.
Symbolische Präsenz Der Status der Identität nach dem Ende der Identität T HORSTEN B ENKEL »Allein, ist’s nicht die Pflicht der Überlebenden, sich aller Vermehrung ihrer Bekümmernis zu enthalten, anstatt beständig ihren Schmerz zur Schau zu tragen? Und überdies ist’s ja eine Pflicht uns selbst gegenüber: allzu großer Kummer ist ein Feind aller Besserung und Lebensfreude, ja hindert uns sogar an der täglichen Ausübung unseres nützlichen Tuns, ohne das niemand zum wertvollen Mitgliede der menschlichen Gesellschaft taugen kann.« MARY SHELLEY: FRANKENSTEIN, 1817
E IN T OD MIT G EHEIMNIS Die wissenschaftliche Fachtagung läuft nun schon einige Stunden und das soziologische Kollegium darf sich auf einen Höhepunkt freuen: den Abendvortrag am ersten Konferenztag, der traditionell namhaften Vertretern der Zunft anvertraut wird. Der Augenblick ist gekommen; es tritt Stille ein. Hier und da wird geflüstert, manches Husten durchbricht das Schweigen, überwiegend herrscht aber Lautlosigkeit und Konzentration. Die Blicke sind nach vorne auf das Pult gerichtet, hinter dem niemand steht und auf dem kein Manuskript liegt. Nachdem der Moderator etwa 25 Minuten bedächtig dem akustischen Nichts gelauscht hat, dankt er dem toten, nicht anwesenden, lange Jahre schon in seinem Grab in Oerlinghausen körperlich unsichtbar gemachten Niklas Luhmann für den eigenwillig inspirierenden Beitrag – und eröffnet die Diskussion. Es wird hitzig unter den
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Anwesenden. Der Vortragende indes, der nichts vorgetragen hat, hüllt sich erwartungsgemäß in Schweigen. Ein albernes Szenario? Eine provokative Variante von Anwesenheit durch Abwesenheit? Eine Vision für Nachwuchsfilmer, denen eine zündende Anfangsidee für ihr Debüt fehlt? Ein morbider Spaß, wie er nur jemandem einfallen könnte, der – vielleicht schon zu lange – im Dickicht der so genannte ›Thanatosoziologie‹ unterwegs ist? Oder könnte solch ein Eröffnungsparagraph doch noch als Anstoß dafür durchgehen, die Toten wieder stärker einzubinden in die Debatten und Diskurse, einfacher gesagt: in das Leben der Lebenden? Wie auch immer man dazu stehen mag, eine Koryphäe, die als solche noch überaus lebendig ist, als Kommunikationsteilnehmer vorzustellen, obwohl ihr eine entsprechende Adressierbarkeit doch eindeutig abhandengekommen ist: allemal wird damit die Anregung vermittelt, den Umstand zu bestreiten und gegen ihn anzugehen, dass die soziale Präsenz dieser Figur – die hier Niklas Luhmann heißt, aber auch andere Namen tragen könnte – mittlerweile gewissermaßen theoretisiert worden ist; und dies sogar mit relativ geringen Einbußen für ihren Rang und ihre Anschlussfähigkeit.1 Wer über Nachruhm verfügt, ist irgendwie noch lebendig, aber irgendwie eben auch schon tot. Eine soziale Praxis im engeren Sinne entfalten diese paradox zwischen Da-Sein und Nicht-Sein changierenden Personen nicht; und doch sind sie im Bewusstsein vieler, die sie überlebt haben oder die nach ihnen geboren wurden, noch als Person – und nicht lediglich als abstrakte ›soziale Adresse‹ (zum Beispiel als bloße Namensträger) – aufbewahrt.2 Ihre Existenz ist passiv, theoretisch, virtuell; wer sie sind und wofür sie
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Sogar positive Effekte bleiben nicht aus. Zumindest in der Sphäre der Kunst kann der Tod der Künstlerpersönlichkeit den Wert des Oeuvres steigern, wobei entscheidend sein dürfte, dass das Gesamtwerk nunmehr ›abgeschlossen‹ ist. Doch das ist nur eine sprachliche Bequemlichkeit, die der Realität zeitgenössischer Nachlassverwaltung längst nicht mehr angemessen ist. Wie von einem alten Meister, von dem noch irgendwo einige Frühwerke und Übungsstücke gelagert sind (bzw. der die alte Leinwand mit Neuem übermalte, nichtsahnend, dass Röntgenstrahlen wieder hervorholen können, was unsichtbar gemacht schien), tauchen bei Luhmann immer wieder ›neue‹ Texte auf (siehe etwa Luhmann 2016). Im Lichte der Publikationstätigkeit betrachtet ist der Verstorbene aktiver, als manche lebendigen Kolleg(inn)en.
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Ähnlich verhält es sich mit dem ›ontologischen Status‹ von Autoren. Die Synonymität von Werk und Person ist laut Michel Foucault »charakteristisch für Existenz-, Verbreitungs- und Funktionsweise bestimmter Diskurse in einer Gesellschaft« (Foucault 1979: 18). Dies geht gegen Roland Barthesʼ Idee eines symbolischen ›Sterbens‹ des Autors durch den Umstand, dass nicht der Verfasser, sondern der Rezipient eines
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stehen, bestreiten sie (im doppeldeutigen Sinne) nicht selbst, sondern andere in ihrem Namen. Zumindest angesichts der Sepulkral- und Trauerkultur der westlichen Kulturkreise, wie ausdifferenziert diese im Einzelnen auch sein mögen, sind sie so sehr körperlich wie interaktionsbezogen verschwunden, wie sie andererseits kognitiv, etwa als ›Gesprächspartner im Geiste‹, und als Zuschreibungsadressaten noch vorhanden sind. Hier werden »Grenzen der Verständigung«3 ebenso sehr tangiert und überschritten, wie sie, im Lichte einer anderen, nicht minder zutreffenden Sichtweise, zugleich unangetastet sind und intakt bleiben. Wenn man so will: Dekonstruktion im buchstäblichen Sinne des Wortes.
Abb. 1: »Ein Posten ist vakant«. Wer stirbt, gibt seine gesellschaftliche Stellung preis – hier nach Heinrich Heine. Quelle: Projektarchiv Benkel/Meitzler.
Werkes die Deutungsmacht darüber in den Händen hält (vgl. Barthes 2002). Person und Werk sind nach Foucault getrennt, aber (in »bestimmten Diskursen«) eben doch unzertrennlich und daher gemeinsam lebendig. Siehe näher Benkel 2008a: 72f. 3
Unter diesem Titel erschien zur Hochzeit der Postmoderne-Debatte, als es für einen Moment so schien, als würden sich sämtliche intellektuellen Strömungen in einen Ozean der radikalen Pluralisierung ergießen (statt weiter im Flussbett ihrer je eigenen Legitimations- und Geltungsansprüche fortzufließen), ein imaginäres »Geistergespräch« (Frank 1988). Es fabuliert einen Dialog unter zwei prominenten Kontrahenten des Disputes, Jürgen Habermas und Jean-François Lyotard, den es realiter nie gegeben hat, obwohl natürlich beide Seiten verfolgten, was ›gegenüber‹ passierte. Auch hier also: Nähe und Distanz ohne Unmittelbarkeit. Kommunikationsverweigerung muss nicht schroffe Abkehr bedeuten, sondern kann auch dem Zweck dienen, sich anders zu verständigen.
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Das lautlose Referat beim Soziologiekongress ließe sich, mit Vladimir Jankélévitch, als exemplarische Vor- und Darstellung eines Todes mit Geheimnis verstehen. Der »Tod ohne Geheimnis« (Jankélévitch 2003: 12) sei nämlich jener banalisierte Tod, den die Medizin abstempelt und quittiert und in dessen Folge Ersetzungsmechanismen aktiviert werden: Beruflich wird die Stelle neu besetzt, die Wohnung findet neue Mieter, Eigentum wechselt den Besitzer, in manchen Fällen wird die Lücke in der Intimbeziehung durch jemand anderes gefüllt, und unter Umständen finden sogar familiäre Positionen Ersatz. Die Wunde des Verlustes wird mit Logistik verarztet. Wie passend, dass Luhmann, der die Parole, »der Tod sei der Zweck des Lebens«, zurückweist (Luhmann 1995: 119), die überindividuelle »Dekomponierbarkeit« komplexer Gesellschaften als Garant für ihre Stabilität begreift: »sie gewinnen ihre Permanenz dadurch, daß ihre Zusammensetzung geändert werden kann. Sie überdauern den Tod Einzelner.« (Luhmann 1984: 554) Schließlich wächst dort, wo der Tod bildersprachlich zuschlägt, doch wieder Gras – sozial relevante Rollen werden früher oder später umbesetzt. Gewiss, es geht dabei nicht um mimetische Qualitäten. Ein Mensch kann und soll keinen anderen ›nachspielen‹, als sei der Verstorbene nie gegangen. Gemäß den sozialen Normen des Interaktionsalltags gilt es als problematisch, die Wirklichkeit des Jetzt und Hier im Lichte des früher Gegebenen und, dies wäre die Implikation eines solches Vergleiches, im kritischen Kontrast zu dem zu betrachten, was möglich gewesen wäre, aber nicht möglich geworden ist. Das Gedankenspiel »Was wäre, wenn…« nimmt gerade dann morbide Züge an, wenn die Rückschau auf verlorene Lebendigkeit über das persönliche Gedenken hinausgeht; wenn also zum Beispiel darüber sinniert würde, wer besser hätte sterben sollen als X, oder wie viel angenehmer es wäre, wenn Y zurückkehren und Z von dem zeitweilig vakanten Posten wieder vertreiben könnte.4 Der Unterschied zu den Spielregeln des etablierten Trauerhandelns besteht darin, dass legitimes Gedenken die Faktizität des Verlustes in den Mittelpunkt stellt und nicht die Fiktionalität wunschgerechter Kompensationsutopien. Das etablierte Trauerbewusstsein ist gewissermaßen auf den »Tod ohne Geheimnis« verbürgt, wenn man Jankélévitch folgen möchte: Das Unmögliche wird nicht gefordert, weil das
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Auf sehenswerte Weise wird der Gedanke in Les Revenants (Frankreich 2004, Regie: Robin Campillo) ausbuchstabiert: Die Toten kehren wieder, aber nicht als blutrünstige Zombies, sondern mit gemächlicher (aber auch mysteriöser) Ruhe. Sie fordern nicht weniger als das Maximale: Die Rückkehr in jene sozialen Konstellationen, die sie verlassen haben, und die von den Lebenden längst weiterentwickelt worden sind. Der Film verschweigt nicht, welche Interventionsmacht gefragt ist; zur Lösung der Krise rufen die Verantwortungsträger u.a. explizit die Soziologie auf den Plan.
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Unausweichliche nun einmal unausweichlich ist und überdies der Wunsch, dass der Tod nicht sein möge, was er ist, wie das Eingeständnis persönlicher Realitätsinkompetenz wirken könnte.5 Verdichtet sich das Gedenken an eine verstorbene Person indes dermaßen stark, dass sich auch langfristig der Eindruck einer anhaltenden (para-)sozialen Präsenz aufdrängt, so kann von einem schnörkellosen Austausch und von einer letztlich doch ›rationalen‹ Verlustanerkennung nicht ohne Weiteres die Rede sein. Dann wirkt dieser eine Tod konkret – und bleibt als nachhaltig spürbare, das heißt: als bleibende Lücke im wahrsten Sinne des Wortes merkwürdig. Es ist diese Merkwürdigkeit, die Szenarien wie das eingangs beschriebene provoziert. Der Tod ist dort, wo das Bleiben trotz des Gehens als Widerspruch registriert wird, wirklich noch Geheimnis. Voraussetzung dafür ist, dass die mit ihm assoziierten Vorgänge bei allem vordergründigen, ›aufgeklärten‹ Verständnis letztlich doch unbegreiflich bleiben. Wären die Mitglieder der Gesellschaft so kollektivbewusst, das ominöse ›gesellschaftliche Ganze‹ eher auf- und ihren eigenen individuellen Anteil daran eher abzuwerten, so dürfte man Luhmanns Vorstellung der Stabilität kraft Dekomposition als eine geradezu harmonisierende Zukunftsaussicht verstehen. Mit etwas Geschick ließe sich daraus sogar pseudo-sakrales Kapital schlagen, stünde da nicht ein großes Hindernis im Weg: die Konturierung der eigenen Individualität bzw. Identität. Sie wird heute selbst bereits als quasi-sakraler Bastelerfolg gefeiert, und wie bekanntlich die Individualisierungstheorie zeigt, erhöht dies nicht das gesamtgesellschaftliche Vergemeinschaftungspotenzial, sondern limitiert es bzw. strukturiert es um. »Der Tod«, schreibt Anthony Giddens in diesem Sinne, »wird von vielen Menschen im heutigen Westen als das Ende eines individuellen Lebens aufgefaßt, nicht als Teil des Erneuerungsprozesses der Generationen.« (Giddens 1999: 44) Denn der Tod ist heute nicht lediglich ein Problem der Lebenden, sondern allemal eins der Liebenden. Die Angst vor dem eigenen Sterben und dem Tod nahestehender Personen ist, dies legen auch die historischen Befunde von Philippe Ariès nahe, offensichtlich das Ergebnis einer sozialen Evolution, die mit der Absage an Fremdbestimmungen und dem Anstieg autonomer ›Selbstzentralisierung‹ einherging. War der Tod im Mittelalter alltäglich und
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Theodor W. Adorno hat ein Plädoyer in die umgekehrte Richtung formuliert: Wer den Tod akzeptiert, verfalle »ichfremd« einem »ideologischen Unwesen«. Die »Trivialität purer Wiederholung des Unverkennbaren, man müsse eben sterben«, anderswo (Erzfeind Heidegger) zur daseinsbestimmenden Metaphysik inthronisiert, lehnt er, hier mehr denn je Philosoph, radikal ab. Da der »Trotz« andererseits aber nicht aufgeboten wird, dem Tod wirklich entgegen zu treten, kanalisiere sich die »Dauerpanik« empirisch eben doch in der – letztlich affirmativen – Verdrängung (Adorno 1966: 359ff.).
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»gezähmt«, wirkt er heute, in todesaversiven Zeiten, unnachgiebig und »wild« (Ariès 2002: 42). Er zerstört die unter Anstrengungen errichteten Lebensweltbauten mit einem Handstreich6 – ein nihilistischer Akt, der nur schwach dadurch abgemildert wird, dass mit dem Lebensende ein Raum für die Entfaltung spezifischer, den kulturellen status quo anzeigender Erinnerungsaktivitäten entsteht. Empirische Belege für die ansteigende Individualisierung der Bestattungsund Erinnerungskultur (dazu später mehr) legen die Vermutung nahe, dass ein instrumentelles Sich-Abfinden mit dem Tod7 bzw. die normativ unterfütterte Annahme, eben dies habe sich als ›Vernunftlösung‹ durchgesetzt und müsse daher reproduziert werden, zunehmend von innovativen Taktiken abgelöst wird, die gewissermaßen eine Life-Death-Balance zu bewerkstelligen versuchen. Auch dies – die (Rückkehr zur) Anerkennung der Verschlungenheit von Leben und Tod – gibt dem Tod Geheimnisschattierungen zurück. Profane Auferstehung Es gibt Formen der profanen Auferstehung. Bertold Brecht ließ eine solche 1918 einem Armeeangehörigen zukommen. Seiner Legende vom toten Soldaten zufolge stirbt dieser zunächst den Heldentod, wird aber von den Militärärzten nicht als tot anerkannt, sondern wieder ausgegraben und mitgeschleppt, dem zweiten Heldentod entgegen. Ein wenig anders liegt der Fall bei Luhmanns postmortaler,
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Auch das vorzeitige Ende vor-individualisierter Biografien, etwa der Tod von Kindern, wird betrauert. Tragischerweise macht ihr Sterbeschicksal sie chancenlos für den zentralen Wettstreit der modernisierten Gesellschaft: den Kampf um eine ›gelungene‹ soziale Existenz aufgrund individueller Leistungsfähigkeit. In anderen Kulturen hatte die fehlende soziale Profilbildung hingegen dereinst die Konsequenz, dass der Kindertod weit weniger Aufsehen erregt hat; vgl. dazu Hertz 2007: 151, 162.
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Dort, wo sich dieses Hinnehmen abspielt, dürfte bei genauerer Betrachtung wohl vor allem eine Intimisierung des Verlustes betrieben werden: Auf der sozialen Ebene wird der Tod offiziell ›verkraftet‹, während in der Psyche die Konflikte einbrechen. Die Externalisierung der Problemlagen wird hierbei ›diskret‹ vermieden; allenfalls das engste soziale Umfeld wird eingeweiht. Von Trauerbekundungen bittet es abzusehen. Den externen Druck, der die vermeintliche, bloß äußerliche Rückkehr zur Routine erzwingt, hat Roland Barthes nach dem Tod seiner Mutter folgendermaßen beschrieben: »Nach ein paar Wochen tritt die Gesellschaft wieder in ihr Recht ein, erkennt die Trauer nicht mehr als Ausnahmezustand an: Die sozialen Anforderungen gelten wieder, so als wäre es unvorstellbar, sie abzuweisen; umso schlimmer für Sie, wenn die Trauer Sie länger aus der Bahn wirft, als der Code es zuläßt.« (Barthes 2005: 50)
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letztlich nur den lebzeitigen Ruhm fortführenden Präsenz in den Seminaren, Fachveröffentlichungen, Vorträgen und hier und da in den Feuilletons natürlich schon: Das Schicksal, passive Referenzadresse zu sein, ist kein exklusiv mit dem Tod einhergehender Effekt. Wissenschaft ist per se eine etwas lebensferne Angelegenheit, denn sie setzt das geschriebene vor das gesprochene Wort, sie schiebt also den Wert des lebendigen Dialogs unter den Wert der einsamen Klausur am Schreibtisch. Luhmanns Tod kann als Bruch für diejenigen verstanden werden, die ihm lebensweltlich bzw. biografisch nahestanden – und zugleich kann er als biologisch induzierter Werkabschluss von denjenigen interpretiert werden, die nicht den Menschen, sondern nur den Textproduzenten Luhmann kannten und immer noch kennen. (Tragik steckt zweifellos in beidem.) Ein vergessener Autor (mit einem solchen hat man es in Sachen Luhmann ja ohnehin nicht zu tun) kann eine Renaissance, also eine Wiedergeburt ›erleben‹, ohne sie tatsächlich zu erleben, doch die Auferstehung ist außer Reichweite. Sie ist nur möglich, wenn der Tod als Tatsache feststeht und Zweifel nicht mehr zulässig sind – vom überdies notwendigen metaphysischen Übergewicht ganz zu schweigen! Entscheidend ist also, dass ein Ende vorliegt, auf das eine Negation dieses Endes folgen kann. In lakonischen Worten: Sicheres muss wieder unsicher gemacht werden. Die diesbezügliche Pionierleistung des biblischen Gottessohnes8 ist als Erzählmotiv just deshalb so bestechend – und als theologisches Zukunftsversprechen so tröstlich –, weil zuvor das Leben zu einem Abschluss und Stillstand gekommen ist, ja kommen musste. Als heimlicher Zauber im Narrativ der Auferstehung lässt sich somit eine Relativierung jener brute facts des Totseins identifizieren, die – bis heute – in der Alltagssemantik als Paradebeispiel für das Vorhandensein unstrittiger Objektivität gelten. In der biblischen Geschichte über Jesu Wiederkehr sind Spuren der sozialkonstruktivistischen Relativierungen des Lebensendes, wie sie heute in den Sozial- und Kulturwissenschaften vorherrschen,9 tatsächlich bereits
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Sie kennt ein Vorbild, dem sie semantisch eng verbunden ist: Jesus selbst lässt laut Johannes-Evangelium Lazarus aus dem Grabe auferstehen, was für den christlichen Todesüberwindungsglauben (Sterben nicht als Abschluss, sondern als Übergangsgeschehen) überaus bedeutsam ist: Der Fall Lazarus beweist, dass nicht nur Gotteskinder den Tod (bzw. das, was als Tod erscheint) überwinden können. Vgl. Stefenelli 2003.
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Der Blick auf die Implikationen von Handlungen und Kommunikationen und, daraus resultierend, von performativen Produktivkräften bei der Differenzierung von Leben und Tod gehört in diesen Kanon der Relativierung (oder vielleicht besser: der Relationierung) ebenso sehr, wie die Betrachtung der Rahmenbedingungen der darauf aufbauenden Wissensvermittlung. Dazu näher Schneider 2014; Geimer 2014; Benkel 2016 sowie bereits Schlich/Wiesemann 2001; Lindemann 2002; dies. 2003.
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auffindbar, denn hier geht es, wie Theologen wissen, um mehr als bloß um Fragen des Fleisches. Der Körper impliziert an sich bereits seine Verwandlung in eine Leiche (vgl. Kamper 1989: 297), was auch ihm eine Schnittmenge zwischen Kontinuität und Vergänglichkeit zuweist. In Wahrheit geht nicht der Körper durch das Sterben verloren, sondern das Leben: »Darum muß der Tod und nicht der Körper durch die Auferstehung besiegt werden.« (Cullmann 2010: 17) Postmortales Fortexistieren durch die Werke und Leistungen, die zu Lebzeiten vollbracht wurden, muss demgegenüber als dualistisches Manöver interpretiert werden. In seiner einfachsten Variante impliziert dieser Dualismus eben doch wieder das Auseinanderfallen des körperlichen Menschen von den gewissermaßen transzendenten, jedenfalls sterbensunabhängigen Eindrücken, die er – natürlich letztlich auch körperlich – auf eine Weise produziert hat, dass sie nachwirken, wenn von eben diesem Körper nicht mehr als das übrigbleibt, was ohne Sichtbarkeit in einen Sarg oder in eine Urnenkapsel eingesperrt wird. Elfriede Jelinek spricht von der »unglaubliche[n] Ungerechtigkeit, daß die einen tot sind und die anderen nicht […], daß für die einen die Zeit zu Ende ist und für die anderen nicht.« (Zit. nach Mayer/Koberg 2006: 203.) Es könnte für prominente Persönlichkeiten wie Jelinek (deren Prominenz natürlich eine relative, zeitgeist- und kulturstandsabhängige Größe ist) indes so kommen, wie es für Luhmann (trotz in diesem konkreten Fall vermutlich geringerer außersozialwissenschaftlicher Bekanntheit) gekommen ist. Wenn ihre Lebenszeit zu Ende ist, ›bleibt‹ sie – nicht als die Person Jelinek, sondern als Projektion und Konstruktion, hypostasiert in ihren Büchern und Bühnenstücken, erinnert im Gedächtnis, in Nachrufen und in literaturwissenschaftlicher Forschung, und natürlich bewahrt in den Herzen der ihr Nahestehenden. (Wenn Kritiker es gut meinen, betonen sie dieses Bleiben, als könnten sie bereits sehen, wie wenig der Tod einem kreativen Menschen langfristig anhaben kann.) Offenbar reicht Jelinek das nicht. Wenn die religiöse Überzeugung fehlt oder wenigstens nicht ganz gesichert scheint, wonach der Tod, wie bekanntlich nicht nur das Christentum lehrt, in andere, vielleicht bessere, vielleicht aber auch dem Charakter angemessene Lebensumstände überführt, ist das Lebensende das Ende schlechthin. Dann ist das Weiterexistieren in Besprechungen und Erinnerungen kein Trost, sondern ein von der persönlichen Lebenswelt recht deutlich losgelöstes Eigengeschehen. Apropos, ist man überhaupt noch man selbst, wenn man tot ist? Wer ›Ich‹ sagt und damit ›Selbstbestimmung‹ meint, könnte ins Zweifeln kommen. »Tot sein«, erklärt Jean-Paul Sartre (2001: 934), »heißt den Lebenden ausgeliefert sein«. Die Klärung der Aussicht auf das, was man post mortem noch werden könnte, ist eine Angelegenheit von Zuschreibungen, Deutungsmacht und Wortgewicht. Die
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Ausgänge der Gefechte, die diesbezüglich geführt werden, erreichen die Betroffenen nicht mehr. Den Tod als unfaires Schicksal zu betrachten, fällt anscheinend nur den Lebenden ein. In seinem Drama Le Roi se meurt von 1962 hält Eugène Ionesco ein, was der Titel verspricht. Sein nahendes Ende spürend, bemüht sich ein Monarch zu ergründen, wie sich das Schauspiel des Sterbens aufführen lässt – und sucht, um die Herausforderung zu bewältigen, Hilfe bei denen, die damit schon Erfahrung haben. Persönliches Hadern, wie man es anderswo vielleicht gelassener, aber dennoch in unerbittlichem Duktus findet (siehe nur das Beispiel Elias Canetti; Ruppel 1995), spitzt sich hier in einer verzweifelten Fragestunde zu (zit. nach Han 2002: 7): »All Ihr Zahllosen, die ihr vor mir gestorben seid: helft mir. Sagt mir wie ihr es fertiggebracht habt zu sterben. Einverstanden zu sein. […] Helft mir, die Schwellen zu überschreiten, die ihr überschritten habt. Wie ist es gewesen? Was hat euch die Kraft verliehen?«
Erschütternd ist daran nicht zuletzt, dass die Antwort zwar zunächst einmal ausbleibt, die Frage aber dennoch einen Widerhall finden wird; denn was das Leben auch bringen mag, das eigene Totsein wird einem jeden gelingen. »Keiner kann dem Anderen das Sterben abnehmen«, betont Martin Heidegger in Sein und Zeit (1993: 240). Diskurse wie die Sterbehilfedebatte und das Recht auf Selbsttötung legen nahe, dass eine zeitgenössische Re-Formulierung des Gedankens wohl auch das Verwehren des Sterbendürfens abzulehnen hätte. Vor etwa einhundert Jahren hat Max Weber das Problem der Todesaussicht auf den Kern der Sache geführt und als Sinnproblem angesehen. Man könne, meint Weber, zwar lebensmüde, aber nicht mehr ›lebenssatt‹ sein, weil die Zeit enggeführter, zumal fremdgesteuerter Lebensbestimmungen vergangen sei und Menschen nach einem ›Mehr‹ greifen, also: nach mehr Sinn im Leben (vgl. Weber 1986: 568ff.). Leben zu müssen soll etwas ›einbringen‹. Um nicht als unerträgliche Zumutung verstanden zu werden – eine Zumutung, deren Kenntnis den Menschen vom Tier unterscheidet –, treibt die Gewissheit des eigenen Lebensendes beispielsweise einen sinnhaft besetzten Sterbeheroismus voran, wie ihn junge Soldaten (vielleicht auch der aus der Brecht’schen Legende) beim Marschbefehl manchmal schon empfunden haben – die Geschichte des Ersten Weltkriegs berichtet davon.10 Das Subjekt geht, idealerweise, in seiner Mission
10 Um nur ein bekennerhaftes Beispiel zu zitieren: »Jetzt wäre mir Gelegenheit gegeben, ein anständiger Mensch zu sein, denn ich stehe vor dem Tod Aug in Auge«, heißt es 1914 in den Kriegstagebüchern von Ludwig Wittgenstein (zit. nach Monk 1994: 130).
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buchstäblich auf und weiß um das ›höhere Ziel‹, dem andere – Kameraden, Kaiser, Nation – dadurch näher rücken. Sinnhaftes Sterben können weniger bellizistisch gesinnte Beobachter auch darin erblicken, dass sie den Tod als bloßes Naturschauspiel anerkennen, bei dem sich, weil es durch und durch außermoralisch zugeht, keiner um einzelne Persönlichkeiten zu scheren braucht. Die schon angesprochene Adaption eines religiösen Glaubens zur Sicherung einer todesbezwingenden Jenseits-, was primär meint: Weiterlebensaussicht ist eine weitere, indes schon von Weber als nicht mehr hinreichend sinnhaft apostrophierte Option. Was den Tod und zumal die Zukunftsperspektive auf das eigene Sterben angeht, bleichen die genannten Sinnangebote mittlerweile in der Tat aus: Als Soldat zu sterben, wird schon seit geraumer Zeit nicht mehr als ehrenhafter Abschied honoriert, sondern eher als überflüssiges Opfer bedauert.11 Die sachliche Zustimmung gegenüber dem Kreislauf aus Lebensanfang und -ende wiederum, im ersten Akt von Shakespeares Hamlet knapp umschrieben mit der Formel »All that lives must die«, hört sich nach einem schlüssigen Konzept an, sie raubt jedoch weder Todesängste, noch weiß sie hinsichtlich existenzialistischer Grundfragen zu befriedigen. Wofür das Leben letztendlich gut gewesen sein soll (oder wird), muss man dann (nur?) mit sich selbst ausmachen. Und schließlich die Religionen: Hier ist das Trostpotenzial vielleicht noch am stärksten ausgeprägt, sei es auch nur, weil die Palette der konfessionellen, aber auch der privatreligiösen Anbieter ein dermaßen breites Spektrum aufweist, dass bei Enttäuschung oder Zweifel gegenüber einer einzigen Quelle keine transzendentale Obdachlosigkeit droht – Alternativen sind in der Nähe und leicht abholbar. Die Idee einer abwechslungsreichen, geradezu seriellen Glaubensadaption mag sich auf breiter Front noch nicht durchgesetzt haben, sie kann denjenigen, die von Religionen vor allem Antworten auf das Todesmysterium suchen, aber nur angeraten werden. Anders denn als paradiesischen Überfluss kann man so viele Antworten auf eine einzige Frage schließlich nicht ansehen; und in Sachen Verlässlichkeit nehmen sie sich alle nichts. Auf die Frage, die die unbarmherzige Tatsache des kommenden Todes einem jeden implizit stellt, können generalisierende Sinnangebote heute nur mehr bedingt überzeugend antworten. Innerhalb der zeitgenössischen Todessoziologie könnte als Ausgangsthese somit behauptet werden, »[i]n der intersubjektiven Sinnkonstruktion der Moderne fehle eine plausible symbolische Sinngebung des
11 Ein empirischer Indikator dürfte (in Deutschland) das Fehlen von zeitgenössischen Soldatenfriedhöfen für die im Einsatz Versterbenden sein. Bei Gräbern, die in der Folge also im offenen Friedhofsraum platziert sind, finden sich selten solche, die vorrangig als Soldaten- und erst in zweiter Linie als ›Persönlichkeitsgrab‹ markiert sind.
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Todes« (Nassehi/Weber 1989: 168). Dieses Fehlen forciert da, wo es als solches empfunden wird, die Suche nach Alternativen; doch nicht alles, was dabei heutzutage gefunden und angewendet wird, ist als ›intersubjektive Sinnkonstruktion‹ für jeden Menschen gleichermaßen plausibel. Die zwei Körper der Toten Und der tote Luhmann? Er ruht in Frieden und hat die Sinnprobleme im Kontext des Todes, so wenig sie wohl als Prognose in eigener Sache gemeint waren (vgl. Luhmann 1977), schon vor einigen Jahren selbst erfahren.12 Letztendlich sind sämtliche Beschreibungen von außen (und wie könnten sie je anders, als von dort kommen) unvollständig: Totsein ist ein blinder Fleck, der sich für keinen Beobachter erhellt. Mehr als Inaktivitätsprüfungen stehen den Lebenden als Instrumente nicht zur Verfügung, um die beiden Fundamentalzustände lebendig/tot zu trennen, und diese Unterscheidung wird nur von den Lebenden gefällt. »Die Beobachtung ist immer auf der Seite der Beobachtung, so wie Leben immer nur auf der Seite des Lebens und nicht Leben im Zustand des Todes sein kann.« (Fuchs 2004: 21) Wissen, wie es ist, tot zu sein, kann man nicht. Dieses Wissen ist nicht versteckt, sondern inexistent. Es ist Nicht-Wissen per se. In der Rede vom Tod wird, mit Ludwig Wittgenstein gesprochen, ohnehin nur die »Anwendung eines Worts« betrieben, welches notdürftig als terminologische Zustandsbeschreibung fungiert, nicht aber die Analyse des Phänomens selbst (vgl. Wittgenstein 1997: § 383). Hinsichtlich des Definitionszugriffs auf den Tod sieht auch Zygmunt Bauman nur ein »täuschendes Spiel mit Metaphern« walten (Bauman 1994: 9). Geht es darum, den Denker/den Autor/die Signatur Luhmann einzubeziehen in aktuelle Diskurse, wird sein Tod in der Tat davon abgezogen, als handele es sich um eine überflüssige, allenfalls nebensächliche Information, oder sogar um ein verschämtes Geheimnis. Ist der Tod Privatsache? Soll über den Tod nur leise, ja verschwiegen gesprochen werden? Oder ist ›tot‹ schlichtweg ein Zustand, der außerhalb der Beobachtungsmöglichkeiten lokalisiert ist und sich als Sujet für Lebende folglich nicht anbietet? Selbst wenn man die skizzierten Sinnprobleme und den Wunsch des Ichs nach Weiterleben außer Acht lässt, bleiben Unwägbarkeiten im Raum stehen, die die Grenze zwischen Leben und Tod fragwürdig machen. Dazu nur ein Beispiel: In sozialer Hinsicht kann nicht bestritten werden, dass es ein Fortleben der Ver-
12 Um nicht zu sagen: ›erlebt‹, denn den Tod erlebt man nicht – so lautet Immanuel Kants einzig bekannte Äußerung zum Sterben, ausformuliert 1798 in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (vgl. Taureck 2004: 146).
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storbenen in der Erinnerung und, schon weitaus subtiler, in den von Erinnerungen angestoßenen Anschlusshandlungen derer gibt, deren eigenes Ende noch aussteht. Dieses ›Immer-noch-Fortwirken‹ wird von Angehörigen weniger als Handlung, denn vielmehr als Erleben verinnerlicht, weil sie den Auslöser für ihr Agieren nicht sich selbst zurechnen, sondern einer (hier: parasozialen) Umwelt (vgl. Luhmann 2005). Die Behauptung: »Zu Toten gibt es kein soziales Verhältnis« (Sofsky 2005: 88), ist folglich nur dann wahr, wenn ein stark verengter Sozialitätsbegriff bemüht wird; aber dann sind Sterben und Tod ohnehin nicht mehr im Raster des epistemologischen Interesses. Angemessener erscheint die Aussage, dass Tote »Elemente der Lebenswelten lebender Menschen sein [können]«, ohne selbst über eine Lebenswelt zu verfügen (Hitzler 2012: 360), doch sogar darüber ließe sich noch streiten. (Auf dem weiten Feld kulturwissenschaftlicher Erinnerungsanalysen lassen sich ganz andere Blickwinkel erwirtschaften, die indes auf anderen Betrachtungsweisen solcher für den Tod so bedeutsamer Faktoren wie Raum und Zeit basieren.) Jedenfalls scheinen nur lebendige Menschen als Sozialakteure akzeptabel zu sein (Gesa Lindemann spricht diesbezüglich von einem biomedizinischen »Grenzregime«; 2002: 435), weshalb verständlich ist, dass im Zusammenhang mit Wachkomazuständen, Abtreibung, Sterbehilfe usw. geradezu Statuskämpfe darüber ausgefochten werden (können), wer (noch oder wieder oder bereits) als lebendiger Mensch gelten darf, und wer nicht mehr, oder noch nicht. Selbst ohne größere Vertrautheit mit diesen Auseinandersetzungen lässt sich leicht registrieren, dass in diesen Bereichen mittlerweile eine ›Situationenvielfalt‹ dominiert, eine Pluralisierung der nur relativ gültigen Bedeutungen und der unabgeschlossenen Aushandlungen. Der Tod hat das Zeitalter seiner Unumstößlichkeit mittlerweile hinter sich gelassen. Warum nicht einen Blick auf den Friedhof werfen? Als ›Knochenlager‹ bestätigt er immerhin, dass etwas nicht relativierbares ›Materielles‹ übrig bleibt – auch wenn diese Beweisstücke im Zuge ihrer Aufbewahrung unsichtbar gemacht werden. Wie viele Orte, die eine Nähe der Lebenden zum Tod aus funktionalen, ästhetischen oder anderen Motiven begründen, kann der Friedhof als heterotopische Raumanordnung angesehen werden. Damit sind Platzierungen außerhalb der etablierten Ordnung und außerhalb der wiederkehrenden Anforderungen des Alltags gemeint, die gleichwohl häufig innerhalb benutzter, bevölkerter und somit ›angeeigneter‹ Bereiche lokalisiert sind. Heterotopien als Felder, die oftmals mit einer »biologischen Krisensituation« assoziiert sind (Foucault 2013: 12), verbinden Elemente miteinander, die auf den ersten Blick unvereinbar erscheinen. Der Friedhof beispielsweise bringt Offenheit mit Geschlossenheit zusammen: Er gibt jedem eine Stätte für »seine ganz persönliche Verwesung«, er gilt allerdings im selben Augenblick, paradoxerweise gefürchtet wie ein »Anste-
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ckungsherd«, als ein Raum, der außerhalb gängiger Praxisfelder verbleiben soll (ebd.: 13f.). In der heterotopischen Konstellation liegt aber, dies nur am Rande, auch die Chance eines Aufbrechens von Standardisierungen, die andernorts festgeschrieben wurden. Der Friedhof hat den Vorteil anhaltender gesellschaftlicher Relevanz, er ist also nicht vorrangig nur von historischem Interesse. Jegliche Friedhofskultur, die mehr sein will als Aufbewahrungslogistik für tote Körper, verfestigt und manifestiert auf die eine oder andere Weise die anhaltende Präsenz der Toten. Nun stempelt im Umkehrschluss Luhmanns Gegenwart in den Sozialwissenschaften entsprechende Referenzen, auch den vorliegenden Text, nicht automatisch zu sepulkralen oder nekrologischen Beiträgen ab, im Gegenteil: Der spätere Verweis auf die Toten ist häufig genug, wohl sogar überwiegend, ein Verweis auf ihr früheres Lebendigsein. An dieser Stelle trennt sich die Friedhofssphäre von den sich bald aufdrängenden, bald gezielt bemühten Erinnerungen an Menschen, die einem wertvoll waren oder es post mortem geworden sind. In einem Fall wirkt der körperliche Überrest, gemeinhin begriffen als »nur-noch-vorhandenes […] Unlebendiges« (Heidegger 1993: 238), wie ein symbolischer Anker, der Gedenk- und andere Handlungen im Angesicht des unbestrittenen (physischen) Todes motiviert – und im anderen Fall geht es um delokalisierte Momente des Zurückschauens, die den Tod ausklammern (können), weil er nicht Gegenstand dieser Rückschau zu sein braucht. Rückblicke auf Lebenswelten, besser: auf Ausschnitte von Lebenswelten, an denen andere kommunikativ bzw. interaktiv teilgenommen haben, setzen die Toten auf fragmentarische Weise in ihr verlorenes Recht ein, sozial zu wirken. Es bietet sich an, von passiver Lebendigkeit zu sprechen – denn dominiert wird dieses Verweilen in anerkannter Passivität von den Erinnerungsleistungen derer, die sich erinnern, es liegt also immerzu ein Überleben in der Re-Konstruktion vor. Sofern gilt: »Leben heißt Überleben« (Derrida 2005), bleiben die Verstorbenen der Welt der Lebenden solange erhalten, solange sie erinnert werden – nicht von ungefähr ist dieser Sinngehalt der Ausgangspunkt verschiedener, in der Aussage identischer Grabsteinsprüche. Angelehnt an Ernst Kantorowiczs Überlegungen zur politischen Theologie des Mittelalters (vgl. Kantorowicz 1994) können nun weiterhin die zwei Körper der Toten unterschieden werden: Der erste Körper, die biologische Hülle des Menschseins, wird im Zuge des Todes und mithilfe sepulkralkultureller Einrahmungen sukzessive unsichtbar gemacht. Ein Mensch stirbt – und das, was dann noch bleibt, durchläuft eine hochspezifische Karriere des Sichtbarkeitsverlustes. Im Krankenhaus (gegenwärtig der häufigste Sterbeort) wird das Bettlaken zur ersten Einhüllung – die Toten werden mumienartig eingewickelt, als hätte ihr Antlitz kontaminierende Wirkung. Es folgt ein Umkleiden
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in dafür bereit gestellte, also: ›todesspezifisch‹ gedachte und gemachte Wäsche. Der Bestatter verfrachtet den Körper in einen Sarg, von dort geht es in die fensterlose Kühle der Leichenhalle und schließlich – nach weiteren Stationen – in die Grabstätte. Unterbrochen wird diese logistische Organisationskette allenfalls von Gesten der familiären Verabschiedung bzw. vom Ritual der Aufbahrung, also von nicht-obligatorischen Zwischenstationen auf der Reise des toten Körpers in die Unsichtbarkeit. Zu wissen, dass an einer Grabstätte ein toter Körper bestattet liegt, ist nicht mehr als genau dies: ein sicheres Wissen, das den eigentlichen Beweis nicht mehr braucht. Der erste Körper ist in einer Art Mesalliance mit dem Tod vermählt (eine kulturhistorische geläufige Metapher; vgl. Guthke 1998; Treusch-Dieter 2001).
Abb. 2: Die symbolische Vereinigung des Lebens mit dem Tod, sexuell gedacht. Quelle: Projektarchiv Benkel/Meitzler.
Der zweite Körper wiederum ist jener Körper, der in der Erinnerung lebendig wird, bzw. der sich in der Erinnerung immer schon als lebendig agierender Körper zeigt. Da nun aber im Kern nicht lediglich Körper, sondern Menschen erinnert werden, die einen beseelten Leib ›bewohnen‹, geht der zweite Körper über die Materialität (bzw. das Wissen um die Materialität) des ersten Körpers weit hinaus. Der erste Körper steckt weitgehend in den Fesseln einer bürokratisierten
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»Verwaltung des Todes« (Benkel 2012), während der zweite Körper ohne institutionelle Einrahmung auskommt. Gerade die Freiwilligkeit und Autonomie im Zusammenhang mit Gedenkhandlungen und -ritualen macht hier den sozialen Wert aus. Referenzen auf den zweiten Körper (das Betrachten von Foto- und Videografien; das Ablegen von Bildern am Grab im Zuge anderer Trauerhandlungen; aber auch das Erinnern in der Black Box des je eigenen Bewusstseins) schaffen, als Stellvertretungsverweis auf die Person, der dieser Körper ›gehörte‹, und die dieser Körper ›war‹, eine Verbindung zwischen der Jetztpräsenz der Hinterbliebenen und der Vorpräsenz der Verstorbenen. Daran ist der erste Körper – also: die ›Masse‹, die die verstorbene Person zu Lebzeiten ohne jeden Zweifel ›gewesen ist‹ – unbeteiligt. Das Umschwenken von einem unmittelbaren Kommunikationsrahmen zu Lebzeiten hin zu der parasozialen Beziehungskonstellation der Lebenden und der Toten kann an unterschiedlichen Beispielen beobachtet werden. Die Bandbreite reicht bekanntlich von der Vorstellung, dass lediglich die Kommunikationskanäle gewechselt haben (unter dem Vorzeichen der Esoterik), über die Gewissheit einer temporären Unterbrechung, die wieder aufgehoben wird (religiöser Auferstehungs- bzw. Jenseitsglaube), und weitere Vorschläge (inklusive agnostizistischer Zweifel), bis hin zur resignativen Überzeugung, dass am Schluss wirklich Schluss ist (der materialistische Ansatz, der Kommunikation mit den Verstorbenen nur als erinnerte Erfahrung der Vergangenheit zulässt). Hinzu kommen symbolische Kommunikationsofferten an Gräbern (Briefe, Inschriften), die mitunter auch paratemporale Aspekte aufweisen (Einladung zum Geburtstag, zur Hochzeitsfeier, zum Jubiläum, als sei dies für die Toten noch zu ›vergegenwärtigen‹). Wie sehr im Einzelnen die Kommunikation als einseitige oder doch als möglicherweise ›vollständige‹ eingestuft werden kann, lässt sich nicht pauschalisieren. Trotz des Umstandes, dass sich verschiedene Konzepte im Konkurrenzkampf befinden und Abgrenzungen somit programmatisch sind, ist ihnen jedenfalls allen gemein, dass keines von ihnen es geschafft hat, sich als letztgültige Wahrheit zu etablieren. Das Ensemble der Positionen scheint an Vielstimmigkeit eher noch zuzunehmen. Was hinsichtlich der Trennlinie zwischen Leben und Tod ›stimmt‹, steht somit immer nur in Abhängigkeit vom Standpunkt der Beobachter fest. Dadurch ergeben sich sogar Möglichkeiten unerwarteter Allianzen zwischen den Betrachtungsweisen. Trauer- und überhaupt Sepulkralformen pluralisieren sich also – und büßen damit ihre intersubjektive Plausibilität ein. Luhmanns Gegenwärtigkeit ist für Soziologen mit Händen greifbar. Friseure hingegen dürften, wenn man den Sachverhalt auf Berufsgruppen herunter brechen möchte, mehrheitlich wohl nicht einmal vom Faktum der gewesenen Existenz Luhmanns bzw. von der Tatsache seiner immer noch anhaltenden Präsenz
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gehört haben. Damit ist prinzipiell die Ausgangslange aller Lebensverläufe umrissen: Für manche Menschen sind die Nachwirkungen, die sich aus dem sozialen Austausch mit einer ›ehemaligen Person‹ ergeben haben, momentan (noch) von Gewicht für die Gestaltung des eigenen Fortlebens; andere hingegen bewohnen dieselbe Welt so, als habe es diesen Verlust nie gegeben, weil es ihn für sie tatsächlich nie gegeben hat. Da sich Lebenswelten nicht linear nur in einem einzigen Bezugsfeld abspielen, sondern das Ich sich als »Nullpunkt des Koordinatensystems« (Schütz/Luckmann 2003: 71) in verschiedenen Bereichen bewegt, sind die Resonanzen auf das Leben nach dem Ende dieses Lebens uneinheitlich. Luhmann als Verfasser seines Werkes evoziert andere Erinnerungen (auf Seiten der Leser), als Luhmann in der Rolle des Vaters (durch seine Kinder) und so weiter. Mit dem Vokabular der zwei Körper gesprochen, hat Luhmann durch seinen Tod seine einzige objektive, das heißt beobacht- und sogar anfassbare Referenziabilität verloren, weil sein Körper, den er öffentlich in Erscheinung brachte, wenn es darum ging, sich öffentlich zu zeigen, weggefallen ist. Luhmanns zweiter Körper dagegen existiert in unzähligen Bildern und Vorstellungen. Daraus lässt sich aber keine Summe bilden, die als Lebensweltspiegel würde durchgehen können. Die Menge der Erinnerungen an einen Menschen besorgt eine Auftrennung dieses Menschen in Images, welche ihn in unterschiedlichen Zusammenhängen auf unterschiedlich erinnerungswürdige und -fähige Weise (re-)präsentieren.13 Es gibt somit nicht einen, sondern viele zweite Körper der Toten. Ein letzter Gedanke zu Luhmanns Verweilen in einer lebendigen, oder jedenfalls nicht toten Gegenwärtigkeit: Webers Ansicht, dass das ›Überholtwerden‹ durch die Nachwelt (gemeint sind künftige Wissenschaftsgenerationen) »nicht nur unser aller Schicksal, sondern unser aller Zweck [sei]« (Weber 1988: 592), wird durch die Weigerung dieser Nachwelt konterkariert, von der Schultern der Riesen ihrer Zunft hinabzusteigen, sogar wenn die Riesen nicht mehr selbstständig atmen. Der Tod kann, so betrachtet, nicht einmal mehr zur Renovierung des Wissenschaftsgebäudes beitragen. Welche Schlussfolgerungen das provoziert, zeigt ein Blick nach Großbritannien. Statt wie sonst üblich das Problem durch die Brille möglicher Lösungen zu betrachten, gibt es zumindest für Soziologen die Chance, Problem und Lösung auf einmal zu beseitigen: Denn »Sociologists never die«! (Walter 1993) Es wäre noch zu klären, ob die soziologische Unsterb-
13 Zwar scheinen Foto- und Videoaufzeichnungen dem Erinnerungsprozess ›Objektivitätsmaterial‹ zu Verfügung zu stellen, doch ein Bild ist nichts ohne seine Betrachtung, und Betrachtungsweisen altern genauso wie Körper. Vgl. Benkel/Meitzler 2014; dies. 2016.
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lichkeit Trost oder Drohung ist – einmal abgesehen von den empirischen Gegenbeweisen. Dann wiederum: Nicht alle, die trotz fragloser Soziologie-Expertise gestorben sind, haben zu ihren Lebzeiten Wert auf empirische Beweisführungen gelegt.
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Wenn ein Mensch stirbt, wird ihm in Nachrufen, Traueranzeigen und Grabinschriften für gewöhnlich überdeutlich zugerufen, wie sehr er vermisst wird und wie sehr er geliebt wurde – und dies alles zu einem Zeitpunkt, da es zu spät ist, es ihm ins Gesicht zu sagen. Um verpasste Chancen geht es dabei nur am Rande. Posthume Verehrungskommunikation ist zuallererst der Ausdruck einer Umformatierung von Interaktions- zu Erinnerungspotenzial. Anders gesagt: Es handelt sich um einen etablierten und ritualisierten Handlungszusammenhang, der das lebensweltliche Miteinander durch parasoziale Äquivalente ablöst. Deren konkrete Form verändert sich permanent – nicht aber ihr generelles Vorhandensein. Von einer anthropologischen Konstante zu sprechen, wäre dennoch nicht richtig (siehe unten). Persönliche Erinnerungen und ihr aggregiertes Pendant, kollektive Erinnerungen, sind kulturelle Kompetenzen. Ihr Wert liegt nicht zuletzt darin, dass sie die soziale Existenz einer Person loslösbar machen von den ›Tatsachen‹ des Lebens, sie also entkoppeln von körperlichen bzw. materiellen Existenzbelegen. Die soziale Beziehung wird immateriell. Diesbezüglich sollte man sich klarmachen, dass viele Menschen, die sterben, wenig mehr hinterlassen als die temporäre Fortexistenz im Gedächtnis ihrer Angehörigen, ergänzt vielleicht durch einige wenige ›Materialisierungen‹ in Form von Fotografien, Videos, Briefen oder Alltagsobjekten, die die Verstorbenen verwendet haben und die, ihren Weggang symbolisch kompensierend, in der Folge aufbewahrt werden. Die Erinnerungen, die die Hinterbliebenen hegen und die sich ohnehin im Laufe der Zeit verändern, weil Erinnerungsinhalte mit dem Menschen reifen und jedenfalls kein statisches Abbild einstiger Ist-Zustände abbilden, sterben als letztes Souvenir dann weg, wenn diejenigen gestorben sind, die sich erinnert haben (oder sich zumindest hätten erinnern können). Selbst Bilder, die materiell den Tod von Menschen überdauern, brauchen einen Betrachter, der sie mit mehr Sinn aufladen kann, als das Bild selbst transportiert, um halbwegs als Dokument eines gewesenen Lebens oder als Auslöser für Gedenkmomente durchgehen zu können. Anders als bei menschlichen Umgangsformen, die bisweilen mehr Sinn haben, als den Handelnden bewusst ist (weil sie Verinnerlichtes vorreflexiv reproduzieren; vgl. Bourdieu 1993: 127), sind Erinnerungsobjekte vom Sinnverlust bedroht.
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Trauer- und Abschiedsrituale, sowie überhaupt gemeinschaftsstiftende Aktivitäten im Todeskontext produzieren Sinn bzw. Sinnbewusstsein, weil dies nun nicht mehr im lebendigen Miteinander mit der verstorbenen Person generiert werden kann (vgl. Benkel 2015). Für die allermeisten Menschen – für all diejenigen, die keinen umfangreichen Nachruhm zu erwarten haben, weder im Guten noch im Schlechten – trifft zu, dass am Ende ihres Lebens ein Exklusionsvorgang steht: die Verabschiedung aus der Welt. Bruchstückhaft setzt dieser Abschied schon zu Lebzeiten dann an, wenn der ›soziale Tod‹ sich auswirkt (vgl. Elias 1990: 21f.). Er nimmt erheblich an Fahrt auf, wenn außerdem noch der medizinische Tod konstatiert wird, und er hat sich endgültig vollzogen, wenn nichts mehr bleibt als Artefakte – solche Erinnerungsstücke, die keine Erinnerung mehr evozieren. Dies alles läuft in eine einzige Richtung, nämlich ins erbarmungslose Vergessenwerden, und dieses kommt in der Rückschau beinahe schon einem Nicht-Gewesen-Sein gleich. Ist hier der Grund zu finden, weshalb die Tode der Toten in den verschiedenen Stadien ihres Präsenzverlustes kaum je als solche ausgesprochen werden? Der Tod sei schließlich, meint Michel Foucault (1999: 285), »zur allerprivatesten und verschämtesten Sache der Welt geworden«. Die Gelegenheiten, bei denen der Tod nicht allein als Abstraktum erörtert wird, sondern (auch hier natürlich nur begrifflich, nicht ›spürbar‹) einer Person, womöglich sogar der eigenen, konkret zugewiesen wird, dürften außerhalb medizinischer Einrichtungen rar gesät sein. Ein spontanes Alltagsgespräch über den bestechenden Gegenstand des eigenen Sterbens, womöglich noch garniert mit der Nennung erwünschter Begleiterscheinungen, ist für eine Provokation nach wie vor gut. Von einem geliebten Menschen die Chronik seines angekündigten Todes verkündet zu bekommen, obwohl es keine zwingenden Gründe dafür gibt, löst Beklommenheit aus. Genau genommen bezieht sich das Tabu auf die Vision einer Zukunft fehlender Partizipationsmöglichkeiten, also einer nicht mehr gemeinsamen, sondern einsamen Zeit, von der insgeheim alle wissen, dass sie ohnehin kommen wird. Verschwiegen werden soll nicht weniger als ein bedeutender Bestandteil der Realität; es soll gehandelt werden, als gelte nicht, was in Todesangelegenheiten nun einmal gilt. Der britische Anthropologe Geoffrey Gorer hat schon in den 1950er Jahren Parallelen zwischen der Begutachtung des Todes und der – Pornografie gezogen (vgl. Gorer 1956; Benkel 2008b: 132). Ein falsch verstandener Humanismus habe, so Gorer, dazu geführt, dass die Industriegesellschaften dem Tod eine Tabuisierung zuerkennen, die ursprünglich auf die Sexualität gemünzt war. Lust und Leidenschaften können verstörend wirken, wenn sie nicht mehr nur im Schatten der Privatsphäre ge- und erlebt werden, sondern deutlich ausgeleuchtet für jedermann rezipierbar sind. Verhält es sich beim Tod nicht ähnlich? Ist er, als in die
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Heimlichkeit abgeschobenes Einzelschicksal, nicht eine emotionale und Engagement erfordernde Angelegenheit – und als offenes, auch für Nicht-Betroffene diskutables Gesprächsthema irritierend? Unter Gorers Etikett lässt sich außerdem der Vorwurf packen, dass der Kontext von Tod und Sterben zugleich schamlos ins Zentrum von wissenschaftlichen Nachforschungen (Beispielkontext: Obduktion) gelangt ist und dort hinsichtlich seiner Implikationen mit obszöner Detailtreue beleuchtet wird, wie man es von pornografischen Körperbildern her kennt. Die Folge ist nicht, dass die Dinge nun endlich gesamtgesellschaftlich verstanden und beim Namen genannt werden können. Sie werden – genau wie beim Sex – unter den Bedingungen eines von außen nicht abgefragten und nach außen nicht tradierten, ohnehin aber nie völlig entmystifizierenden Wissensvorsprungs nur für einige wenige zugänglich.
Abb. 3: Der Blick in das Innere – ein Wissensvorsprung, den der Tod ermöglicht. Quelle: Projektarchiv Benkel/Meitzler.
Ein Gespräch über den Tod kann eine Zudringlichkeit sein. Gelangt ein Mensch nun aber konkret in ›Todesnähe‹, müssen die Barrieren der kommunikativen Zurückhaltung zwangsläufig fallen. Am Totenbett kann das Sterben nicht mehr ignoriert werden. Verleugnungsstrategien sind auch dann noch möglich, doch wohin sollen sie noch führen? Mit Sterbenden über den Tod zu sprechen ist ähnlich wie das Gespräch über den Strick im Haus des Henkers: es klingt nach Ressentiment (vgl. Adorno 1970: 10). In jedem Augenblick ist unklar, was als nächstes kommt, nichts Genaues weiß man nicht, und Trost kommt nicht durch
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das Todesgeschehen zustande, sondern allenfalls durch frei adaptierbare, aus mancher Sicht schmerzhaft beliebig wirkende Sinnangebote. Vor allem aber müssen, Jelinek hat es angeprangert, immer nur einige den Tod erleiden, während die anderen weiterleben dürfen. Sterben ist ein Stigma. Wäre es so, dass nur manche Menschen stürben, so wäre die Befähigung zum Totsein wohl entweder etwas zutiefst Beneidenswertes – oder der schärfste Makel. Der reale Tod ist dagegen wahllos, er betrifft jeden und eliminiert Ungleichheiten durch ubiquitäre Gültigkeit. Er lässt sich nicht behandeln, denn der Tod ist keine Krankheit. Rundet er das Leben ab und vollendet es – oder beschert er ihm eine Niederlage? Wer weiß. Für die gesellschaftliche Mikroebene liegen mittlerweile genügend Hinweise darauf vor, dass persönliche Werthaltungen, Aushandlungen mit dem sozialen Umfeld, sowie die Wahl einer als stimmig empfundenen sinnhaften Einrahmung usw. die subjektive Auseinandersetzung mit Sterben, Tod und Trauer individualisiert haben und sie auch weiterhin individualisieren. Fragen rund um die ›letzten Dinge‹ werden, diese Prognose lässt das gewonnene empirische Material zu, weiterhin zunehmend im Lichte der je individuellen Lebenswelt der Todeskandidaten beantwortet. Des Todes Imagewandel Tod und Sterben sind und bleiben Herausforderungen in einer sinnhaft aufgebauten sozialen Welt. Die individualistische Wende im Umgang mit dieser Herausforderung ist die Folge einer Entwicklung, der an anderer Stelle ausführlicher nachgegangen wird (vgl. Benkel 2012; Benkel/Meitzler 2013). Im Wesentlichen lässt sich eine schleichende Abtrennung des Todesdiskurses von ›objektiven‹ Wahrheiten des Todes konstatieren. Erklärungskonzepte und Wissensangebote, die die Tragödie des persönlichen Sterbenmüssens als überindividuelles Problem verzeichnen und folglich überindividuelle Umgangsformen zur Erklärung oder gar zur Lösung dieses Problems bereitstellen, standen im Zuge der gesellschaftlichen Modernisierung immer schon in der Kritik. Die Religion hat, neben vielen anderen Verlusten, auch ihr Monopol für die sinnhafte Erklärung des Todes abgeben müssen. Das bedeutet nun aber nicht, dass die Gegenseite – die naturwissenschaftliche (polemisch: die positivistische) Betrachtung des Todes – deshalb auf breiter Front Zustimmung erhält. Sogar die Medizin hat sich in einen Mainstream und in verschiedene »medikale Subkulturen« (Mildenberger 2011) ausdifferenziert; und zuverlässige Einblicke in das postmortale ›Danach‹ gewährt
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sie ohnehin nicht.14 Eine allgemeingültige, verbindliche und verbindende Sterbeoder gar Todeskultur hat es vermutlich nie gegeben; dieser Umstand ist heute mehr denn je Tugend, statt Not. In der Betrachtung der kleinen Formen des Zusammenlebens, etwa angesichts konkreter Lebensweltgestaltungen, oder, noch konkreter, bei der Analyse von Lebenseinstellungen von Hospizbewohnern, bei der Betrachtung des professionellen Handelns von Sterbehelfern, und auch bei der Untersuchung von Bestattungsfeiern und Grabgestaltungen zeigt sich an mehr oder weniger ›leibhaftigen Beispielen‹, dass das Interesse an einem autonomen Umgang mit Tod und Sterben, wie überhaupt mit den transzendenten Aspekten des Lebens, eben nicht zugunsten eines allgemein gültigen Paradigmas erlahmt ist. In den Vordergrund ist vielmehr die persönliche Individualität gerückt: Sowohl die Individualität der Sterbenden, die noch zu Lebzeiten ihrer Perspektive beispielsweise durch Verlautbarung ihrer Anschauung oder sogar die Planung des eigenen Begräbnisses zum Ausdruck verhelfen, als auch die Individualität der Angehörigen, die aus ihrer Sichtweise heraus in zunehmendem Maße versuchen, der Individualität ihrer verstorbenen Mitmenschen auf die Spur zu kommen. Der Individualitätsfokus aber geht, wie aus den Werken Ulrich Becks und anderer Autoren zu erfahren ist, auf die Entzauberung und Freisetzung aus traditionellen Vergemeinschaftungskontexten zurück und bietet zur Kompensation weniger verbindliche, weil lockerer geknüpfte Reintegrationsmöglichkeiten an. Es war absehbar und ist geschehen: Die Welle der posttraditionalistischen Aneignungsinteressen hat das Lebensende erreicht. Dieser Erfolg hängt auch damit zusammen, dass der Todesaussicht (als Negation des persönlichen Ichs) zunehmend mit einer intensiven Bekräftigung eben dieses Ichs schon zu Lebzeiten begegnet wird (vgl. Han 2002). Denn wenn das, was ist, nicht bleiben wird, ist das, was ist, als solches schon betonenswert. So
14 Allerdings hat die Medizin immer wieder neue Ansätze zur Absteckung der Grenze zwischen Leben und Nicht-Leben formuliert und damit bewiesen, wie eng sich Natur und Kultur zusammendenken lassen. Dazu musste die vermeintlich objektive Natur des Körpers sich allerdings unter dem Zugriff des ärztlichen Blicks (und des Skalpells) bloßlegen lassen, wie Foucault (1988) gezeigt hat. Entscheidend ist hierfür ein Fokussierungsübergang, bei dem Leben letztlich nicht mehr ausgehend vom Leben gedacht wird, sondern von der Lebensnegation her: »Den großen Einschnitt in der Geschichte der abendländischen Medizin macht Foucault dort aus, wo ›die klinische Erfahrung zum anatomisch-klinischen Blick wird‹, und das heißt in erster Linie, wo der Tod und nicht mehr das Leben den ärztlichen Blick bestimmt.« (Nassehi 1995: 213)
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oder ähnlich klingt die Melodie, die ertönt, wenn zeitgenössische Bestattungskultur und gesellschaftlicher Individualisierungstrend zusammenspielen. Der Einfluss der persönlichen Identität(swahrnehmung) auf die rituelle Verarbeitung des Todes ist kein neues Phänomen. Vor etwas mehr als einhundert Jahren wurden individualistische Ausbrüche aus der Nestwärme der Gemeinschaft noch als Bedrohungsszenario verstanden, gegen das angekämpft werden musste, sollte denn das kollektive Miteinanderleben nicht vom Vormarsch radikaler Egoismen zertrümmert werden, deren Ich-besessene Bedürfnis- und Zielorientierung auf das Leben der anderen keine Rücksicht zu nehmen versprachen. Emile Durkheim hat das Problem des drohenden Auseinanderfallens arbeitsteiliger Gemeinschaftsverbindungen nicht nur als Motor der – letzthin unvermeidlichen, weil jeder Gesellschaft immanenten – Kriminalität verstanden, sondern zugleich normative Leitlinien wider den Individualismus formuliert, die – über einige Übersetzungsschritte – in das Feld von Sterben und Tod, mithin: auf den Friedhof führen. Während Durkheim einerseits die Moral als buchstäblich verbindliche Kraft stark macht, die im besten Fall schon deshalb das allzu atomistische Auseinanderdriften der Gemeinschaft verhindert, weil sie für Werte steht, denen ›alle‹ zustimmen können (im Gegensatz zu mancher juristischen Norm, die eher aus Angst vor Strafe befolgt wird), betont er andererseits im Zuge seiner Auseinandersetzung mit den sakralen und profanen Funktionen von Ritualen das gemeinschaftsstiftende Potenzial solcher Handlungsweisen, durch die eigene Interessenslagen zugunsten des Kollektivs transzendiert werden (vgl. Durkheim 1984). Der Clou besteht darin, dass der relative Freiheitsverlust, den die normative Struktur des Zusammenlebens allen ›Inkludierten‹ aufzwingt, sozialisatorisch von vorn herein als Gewinn verbucht werden kann. Das Zelebrieren von Zusammenhalt ist für soziale Gemeinschaften, die zivilisationslogisch den Bannkreis bloßer Naturverehrung und unbedingter Gottheitsfurcht verabschiedet haben, geradezu konstitutiv. Die äußeren Stationen der sozialen Existenz – also: Geburt und Tod, und natürlich auch diverse dazwischen stattfindende »Statuspassagen« (vgl. van Gennep 2005) – sind dafür ein praktischer, weil vermeintlich ›objektiver‹ Anlass.15
15 Es handelt sich, wie bei so vielen Ritualkontexten, um einen Schein-Objektivismus, der an der (menschlichen oder auch tierischen) Körperlichkeit vermeintlich unbestechlich und übersubjektiv abgelesen werden kann. Rituale verweisen, so gesehen, stets auf ein Zeichenrepertoire, dessen Konstanz und Unbestechlichkeit zunächst einmal unhinterfragt bleibt. Zu klären ist allerdings hin und wieder, wer nun aktuell – mit welcher Legitimation – anhand dieser Zeichen eine ›Wahrheit‹ postulieren darf.
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Das Beispiel Totenfeier/Körperbestattung, mithin also: die rituelle Wegverwaltung der Leiche als Fest des Abschieds aus der Gemeinschaft bietet sich zur Illustration besonders gut an. Was dem toten Körper und damit dem toten Menschen an symbolischer Würdigung widerfährt, ist Zukunftsperspektive für alle, die an den Ritualen mitwirken. Die in Trauer- und Bestattungshandlungen ausagierte Verpflichtung gegenüber der Gemeinschaft im Allgemeinen und gegenüber der verstorbenen Person im Besonderen transportiert also unterschwellig ein Zukunftsversprechen: was hier errichtet wird am fremden Grab, werden andere an der eigenen Ruhestätte nicht minder engagiert vollziehen. Umgekehrt formuliert: Ohne Partizipation an den Regeln und Ritualen und ohne Akzeptanz der sie tragenden moralischen Säulen gibt es für einen selbst keine Chance auf die allgemein verheißene Existenzkontinuität im nach-lebendigen Stadium. Subtiler ›Moralzwang‹ dieser Art hat über Jahrhunderte hinweg nicht lediglich Konformität produziert (wie es das Recht nun einmal tut – unter Sanktionsandrohung), sondern freiwillige Wertüberzeugungen. Dem gegenüber fallen Individualismen, die als Gegenentwürfe, zumindest aber als Ausbrüche verstanden werden können, negativ auf. Statt, wie es wohl angemessen wäre, von Kultur(en) des Todes zu sprechen, haben kulturspezifische Abschließungen lange Zeit jeweils für eine bestimmte Region, Religion oder Gemeinschaft festgesetzt, wie die Richtlinien für den Umgang mit Sterben und Tod auszusehen haben und wie weit Variabilität maximal gehen darf. Die Kulturgeschichte der Bestattungsrituale, und noch mehr ein diesbezüglicher Kulturvergleich, machen anschaulich, dass einst voneinander separiert war, was heute beispielsweise auf bundesdeutschen Großstadtfriedhöfen (und nicht nur dort) praktizierter Alltag ist. Allmähliche Verschiebungen in der allgemeinen Wahrnehmung und Wertschätzung bestimmter Einzelaspekte, die – oft scheinbar ganz individuell und situativ – überdacht, überarbeitet und damit an andere Wandlungsabläufe angepasst werden, haben über Jahrzehnte hinweg, manchmal aber auch geradezu revolutionär kurzfristig, zu einer Pluralität und Vielfalt geführt, deren zentrales Merkmal die Offenheit für Neues ist. Diese Pluralität ist die Zukunft des Todes. Ein Schritt hin zur Uniformierung und zum An-den-Rand-Schieben ›alternativer‹ Bekenntnisse, Haltungen und Wertpostulate oder schlichtweg Darstellungsformen wäre der Versuch, die Sepulkralkultur in eine Zeitmaschine mit Stoßrichtung Vergangenheit zu bugsieren. Tatsächlich muss der Umgang mit Sterben, Tod und Trauer, wenn auch nicht als Spiegel mit 1:1-Korrespondenz, so doch als Echo gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen akzeptiert werden. Diese Diagnose darf nicht als Befürwortung oder Zurückweisung konkreter Ausgestaltungen dieses Umgangs verstanden werden; alles könnte auch anders sein, als es ist, und wird auch wie-
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der anders werden.16 Nachhaltig bleiben wird die dominante formale Umstrukturierung: die Interdependenzverkettung der Individualisierung von Lebensführungsprozeduren mit der Individualisierung von Todeskontexten. Sie wird – um dies nur am Friedhof zu zeigen – deutlich über Bilder, Artefakte, Inschriften und andere sichtbare Kommunikationen nach außen projiziert und bewahrt Identität genau dort, wo traditionell ihr Verlust betrauert wird. Entscheidend ist nicht, wie Elias (1990: 53) skeptisch mutmaßt, ob und welche Konsequenzen dies im Einzelfall hat. Denn so viel ist gewiss, aus den einzelnen Gräbern heraus werden keine Forderungen an die Welt der Lebenden gestellt. Entscheidend ist, dass dieser Modus des Zusammenlegens von Vergangenheit, Gegenwärtigkeit und Zukunft als passend zur passiv erlebten wie auch aktiv gestalteten Gesellschaft empfunden wird. Nicht singuläre Modelle oder Veränderungen, sondern die generelle Wende hin zur engeren Verzahnung von (immer persönlicher gestalteten) Lebenswelten mit (just darum auch immer individueller begriffenen) Sterbewelten kennzeichnet also den Imagewandel des Todes. Die so gewonnene Pluralität lässt es eigentlich nicht zu, nur von einer einzigen Zukunft zu reden; angemessener wäre es, von vielen Zukünften des Todes auszugehen. Das Gesagte kann mit Blick auf personale Identität folgendermaßen formulieren werden: Empirisch zeichnet sich gegenwärtig eine Individualisierungstendenz des Sepulkralen ab, die auf den ersten Blick wieder das Subjekt in eine bestimmende Rolle versetzt. Traditionsentbundene Trauerfeiern, ungewöhnliche Grabsteine, außeralltägliche Grabbeigaben und vieles mehr wirken, insbesondere angesichts ihres (für den deutschsprachigen Raum) empirisch bestätigten Einflusses auf die Bestattungskultur,17 schon aufgrund der Buntheit und Einzigartigkeit der involvierten Darstellungsformen wie ein Aufstieg des Lebens an der Stätte des Todes. Rückblicke auf Lebenswelten nehmen unablässig zu, während
16 So können beispielsweise Migrationsbewegungen zu einem Wiedererstarken (bei gleichzeitiger Ausdifferenzierung) religiöser Referenzen im Bestattungskontext führen, sofern durch die Migration nicht nur in Deutschland gelebt, sondern auch gestorben und getrauert werden soll. Dies wäre nichts anderes als der zeitversetzte Gleichschritt außermortaler Kontexte (die sich bereits vollziehen; Joas 2011) mit mortalen. 17 Vgl. die Forschungen des Verfassers in Zusammenarbeit mit Matthias Meitzler. Im Zuge eines qualitativen Projekts zum »Wandel der Bestattungskultur« wurden u.a. mehr als 950 Friedhöfe im deutschen Sprachraum empirisch untersucht (vgl. Benkel/Meitzler 2015). Das daran anschließende Projekt zur »Autonomie der Trauer« ist eine Interviewstudie zu performativen Praxen der Zurückweisung des Bestattungsrechts (Publikation – gemeinsam mit Dirk Preuß – in Vorbereitung).
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Rekurse auf überindividuelle Sinnsysteme tendenziell geringer werden. Kollektiv verordnete, dadurch aber nicht mehr identitätsnahe Hoffnungsschimmer verlieren ebenso sehr an Glanz, wie vereinheitlichte Designs für Ruhe- und Erinnerungsstätten; parallel dazu wachsen autonome Aneignungsbegehren an. Vor das Jenseits rückt die Rekapitulation des (individuellen) Diesseits, und auch wenn dieser Trend noch nicht auf allen etwa 32.000 Begräbnisflächen in Deutschland als eine dominierende Linie erkennbar ist, können die bereits vorhandenen Belege schwerlich übersehen werden. Es grenzte an Fahrlässigkeit, würde man ignorieren, dass die postmortale Auseinandersetzung mit einem Leben auf dem Friedhof zu religiösen und traditionalistischen Überbauten auf Distanz geht – und stattdessen auf bisweilen brachiale Weise in die Nähe der tatsächlich geund erlebten Geschehnisse dieses Lebens rückt. Solch eine Verschiebung wäre nicht möglich ohne einen zugkräftigen Sog im Bereich des sozialen Wandels, der sukzessive auch die Generalressource Sinn in Todes- und Sepulkralkontexten neu, oder wenigstens anders als zuvor justiert. Die Kräfte der Säkularisierung haben schon geraume Zeit an tradierten Überzeugungen genagt, wodurch – ein religionssoziologischer Gemeinplatz – aber nicht ein Verschwinden des Transzendenzstrebens, sondern eine ›Sinnlücke‹ entstanden ist, deren Füllung heute mehr denn je zur Aufgabe der einzelnen Person geworden ist. Was prima facie wie ein spätpostmodernes »anything goes« anmuten mag, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als individualisierungstheoretisch analysierbarer Re-Konstruktionszwang gesellschaftlicher Angebote und Leistungen unter der Regie des auf sich selbst zurückgeworfenen Subjekts. Wie im Fall von Trauerhandlungen, die sich – als sowohl normative, wie auch emotionale Aktivität – wenigstens unterschwellig zwischen Subjekt(rück)bezug und kollektiver Erwartung bewegen, provoziert auch die gegenwärtige Individualisierung des Friedhofs nun aber Nachfragen darüber, ob die skizzierten Persönlichkeitsreferenzen über dem Geist der Gemeinschaft stehen – oder ob nicht tatsächlich die Fokussierung des individuellen Lebens immerzu gesellschaftliche Lebensbedingungen miterfasst (und subtil ausbuchstabiert), weil Individualität anders denn als eine soziale, per se überindividuell angelegte Idee überhaupt nicht zu denken ist. Die Verwandlung der Friedhofsareale verläuft nicht zufällig parallel zu nachhaltigen Veränderungen hinsichtlich der Sterbeorte (vom Krankenhaus über das Pflegeheim bis hin zum – stationären oder ambulanten – Hospiz) bzw. zu Neufassungen der Rechtslage (siehe nur das Bremische Gesetz über das Friedhofs- und Bestattungswesen oder das Bundesgesetz zur geschäftsmäßigen Förderung der Sterbehilfe, beide von 2015). Auch die Visualität von Todes- und Sterbezusammenhängen nimmt zu (vgl. Macho/Marek 2007) – ganz zu schweigen von den Einflüssen und neuen Bedingungen, die das Internet
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mit seinen ambivalenten Möglichkeitsentgrenzungen in diesem Bereich ausübt. Manche Debatte wirkt wie eine Reflexion der bei Durkheim (und anderswo) befürworteten Abwehr gegen zuviel ›Ich‹, andere geben den Anschein, dass das Ich in einem Meer der Gleichförmigkeit ertrinkt und es nur noch auf Schein-Repräsentationen bringt; und wieder andere Diskussionen vermitteln dann doch den Eindruck (oder sprechen es offen aus), dass das Ich und die Gemeinschaft immer noch nicht antagonistisch aufgestellt sind, sondern sich nach wie vor dialektisch bedingen. Nach dem Ende – vor dem Ende Es bedarf mittlerweile keiner umfangreichen Kulturvergleiche mehr, um zu erkennen, dass »das Verhältnis zu Geburt, Altern und Tod eine nahezu uferlose Variabilität« aufweist (Popitz 2006: 62). Insbesondere der gesellschaftliche Umgang mit Sterben und Tod ist, wie angesprochen, von Aufsplitterungen und individualisierter Aneignung deutlich geprägt. Selbstverständlich ist dieser status quo nicht im luftleeren Raum entstanden, sondern die Konsequenz gesellschaftlicher Wandlungsprozesse, auf die er wiederum zurückstrahlt. »Der Verkehr mit den Verstorbenen kann für die gesamte soziale Ordnung konstitutiv sein; an den Tod können sich Verpflichtungen knüpfen, die das ganze Leben formen – wir können ihn aber auch sozial zu ignorieren versuchen.« (Ebd.) Die angesprochene Vielschichtigkeit ist die Zukunft des Todes, was immer zugleich bedeutet: die Zukunft der Verhaltensweisen im Umgang mit dem Tod. Der formale Blick darf nicht verstellen, was bewusst zu Anfang betont wurde: Pluralisierung ist immer auch Verunsicherung ursprünglich ›vor-pluraler‹ Einheitlichkeit. Für die soziale Situation der Toten, die ja im Blickwinkel der traditionellen Soziologie eine imaginäre bzw. virtuelle Situation ist, hat die Verschränkung von Lebensweltrückblick und sepulkraler Gegenwart zu dermaßen entscheidenden, maßgeblich von medialen Innovationen beeinflussten Wandlungen geführt,18 dass eine »Desozialisierung« des Todes nicht mehr bilanziert werden kann (Baudrillard 1982: 206). Identität und Individualität werden durch den Tod transformiert und in parasoziale Positionen gebracht, die sich im Einzelfall
18 In diesem Sinne: »Die modernen Medien ermöglichen die Darstellung von Persönlichkeit und Individualität im Umgang mit dem Verstorbenen: Sie repräsentieren den Toten als Person. Er verschwindet nicht, löst sich nicht auf wie im Grab, im Krematorium oder einem anonymen Bestattungsort. Seine Körperlichkeit spielt zwar keine Rolle mehr, doch seine besonderen Persönlichkeitseigenschaften fließen in die Gestaltung der virtuellen Produkte und Artefakte ein.« (Brukamp 2011: 83)
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stark unterscheiden. Ein Etikettenschwindel dergestalt, dass die Toten mit einem Mal nicht mehr ›ganz tot‹ sind, ist das nicht. Denn die entscheidende Veränderung spielt sich dort ab, wohin die Soziologie als Wissenschaft blickt: bei den Lebenden. Von einem ›Dementi mori‹ im ontologischen Sinne war also nicht die Rede, wenn in diesem Beitrag vom parasozialen Fortleben einer postmortalen Identität die Rede war. Vielmehr wurde mit Verweis auf die empirische Lage versucht, jenen alltagssemantischen Topos anzugreifen, den man etwa als Fragebogenantwort in Gerhard Schulzes Erlebnisgesellschaft vorfindet: »Mit dem Tod ist alles zu Ende.« (Schulze 2000: 601) Ist das, so apodiktisch formuliert, noch up to date? Oder kann Totsein eine paradoxe Lebensstrategie sein? Die Beschwörung des Lebens im Schatten des Todes lässt zumindest daran zweifeln, dass eindeutige Antworten hier noch ihre Berechtigung haben.
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F ILME LES REVENANTS (2004) (F, R: Robin Campillo)
Sterbediskurse
Wie nicht vom Tod reden P ETER F UCHS
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VERTRACKTE
AUSGANGSLAGE »Es ist unser Irrtum, daß wir den Tod in der Zukunft erwarten. Es ist zum großen Teil schon vorüber. Was von unserem Leben hinter uns liegt, hat der Tod.« LUCIUS ANNAEUS SENECA
Der Name dieses Aufsatzes spielt ersichtlich auf Jacques Derridas »Wie nicht sprechen. Verneinungen« (Derrida 1989) an. Unsere Variation fügt jedoch ein ›Objekt‹ hinzu, den Tod, der in einem fort besprochen wird – selbst in den Formen seiner Tabuisierung – ein ›Besprechen‹, das die Frage vermeidet, ob der Tod eine Wirklichkeit bezeichnet, die jenseits des Sagbaren liegt, oder ob sich über ihn nur singen und sagen lässt, weil er, klassisch gesehen, kein eigenes Sein, keinen eigenen Ort in der Welt hat. Einerseits kann man formulieren, Tod und Sterben seien immer im Spiel, wenn von Leben, von diesen Konfigurationen organischer Moleküle die Rede ist, anderseits (und hier findet der Sprung in die Theorie der Sinnsysteme statt) behaupten, dass auch diese Annahme sich in Sinn ereignet, wenn und insoweit Sinn als universales Medium aufgefasst wird, mit dem Tod nicht erlebt, sondern nur im Rahmen voreingestellter, historischer Sinnmuster antizipiert, imaginiert, zitiert werden kann. Er wäre dann kein Ding, sondern allenfalls für mystisch gestimmte Denker eine absolute nothingness, the Great Nay and the great compassion (vgl. Hajime 1986). Oder soziologischer: ein Narrativ, eine große Erzählung, vielleicht sogar das primum movens eines modernen Systems der Todes- und Sterbensbearbei-
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tung. Dies alles klingt kontraintuitiv. Deswegen müssen die Argumente sorgfältig entfaltet werden.
S INN UND Z EIT Das Besondere an Sinnsystemen ist, dass ihnen die Welt, was immer sie ohne Sinn sein mag, lediglich sinnförmig zustößt. Sinn ist, wie Luhmann (2004: 72) sagt, eine nur einseitig verwendbare Zweiseitenform. Selbst, wenn es um den Nicht-Sinn geht, ist Sinn im Einsatz (vgl. umfangreich Fuchs 2014). Man kann über das Sinnlose nur ›sinnen‹, nicht aber aus dem Sinn herausspringen. Sinnsysteme erzeugen Sinnwelten, ihr Kontakt mit einem Dahinter oder Darüber der Welt geschieht im Medium Sinn, und schon in diesem Verständnis ist Sinn konkurrenzlos oder absolut immanent, sind Sinnsysteme geschlossene Systeme. Diese Geschlossenheit wird von ihrer Konstruktion her noch plausibler, wenn man einrechnet, dass solche Systeme an eine spezifische Operativität geknüpft sind, psychische Systeme an Kognitionen, soziale Systeme an Kommunikationen. Der Reproduktionsmodus der Operationen ist, wie man sagt: autopoietisch. Die jeweiligen Systeme produzieren ihre elementaren Einheiten aus Einheiten desselben Typs. Diese Elemente sind der These nach aber nicht ›zeit- oder ortsfest‹, sie existieren nicht in einer stabilen Präsenz, sondern als Ereignisse, denen erst im Nachtrag, in einem post festum Sinn zugewiesen wird, also im Zeitmodus der différance (vgl. Derrida 1988). Sinnförmige Operationen kommen, wenn man so sagen darf, in ›Sprüngen‹ zustande, denen weitere Sprünge folgen müssen, damit Sinn retro-aktiv bestimmt werden kann, wobei er aber nicht für immer bestimmt ist, sondern ausnahmslos: passagére. Das heißt für psychische Sinnsysteme: Kein Gedanke ist ein Gedanke ohne einen weiteren, der festlegt (vorstellt), was gedacht wurde, und diese Festlegung oder Vorstellung ist, was sie ›ist‹, wiederum in einem Anschluss, einem Nachtrag, der festlegt … und so weiter und so fort. Die entscheidende Konsequenz: Psychische Systeme kennen keinen ersten, keinen letzten Gedanken. Deswegen: »›Ende‹ kann keine autologische Bestimmung eines Systems sein.«1 Und: »›Den Tod‹ als eine für uns unausweichliche
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Hahn 2000: 154. »Der Tod ist kein Ereignis des Lebens. Den Tod erlebt man nicht. Wenn man unter Ewigkeit nicht unendliche Zeitdauer, sondern Unzeitlichkeit versteht, dann lebt der ewig, der in der Gegenwart lebt. Unser Leben ist ebenso endlos, wie unser Gesichtsfeld grenzenlos ist.« (Wittgenstein 1984, Nr. 6.4311)
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Wesensbestimmung gibt es nicht: Es gibt den Leichnam, den Todesraum des Körpers, der festschreibt, daß die Existenz kein Wesen hat (nicht einmal ›den Tod‹), sondern daß sie einzig existiert.« (Nancy 2013: 18f.) Aus diesem Grunde kann man sagen: Psychische Systeme sterben nicht, sie können (ein alter Topos) ihren Tod nicht erleben. Mit Luhmann lässt sich formulieren: »Im Begreifen des Todes tritt das Medium Sinn in Widerspruch zu sich selbst.« (Luhmann 2000: 51) Diese großartige Sentenz bedeutet nicht, dass es das ›Begreifen des Todes‹ nicht gäbe, sondern nur, dass in Sinn keine ›Aneignung des Elementaren‹ angetroffen werden kann. Diese Aneignung ist immer schon: ›Ex-appropriation‹ (Ent-Aneignung) (vgl. Derrida 1998: 280). Der Versuch, den Tod zu erfassen, fällt unausweichlich in Sinn zurück. Formaler gesagt: Die Differenz von Sinn und Tod tritt im Wege eines re-entry auf der Sinnseite wieder in sich ein – beharrlich. Die Annäherung an das Phänomen des Todes entspricht einer Paradoxie im Betrieb. Die Frage ist, ob sie irgendwie entfaltet werden kann.
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UNKONFRONTIERTE S PÜREN , DIE DER E XISTENZ UND DIE ANGST
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Eine Möglichkeit der Entparadoxierung besteht darin, nach Fällen zu suchen, in denen das Medium Sinn momentweise ›ausgehakt‹ erscheint. Ein Beispiel wäre die Kommisurotomie, ein operativer Eingriff bei epileptischen Patienten, der dazu führt, dass Wahrnehmungen auftreten, die nicht begleitet sind von einem sinnförmig operierenden Bewusstsein. Dieses Phänomen wird damit erklärt, dass eine Störung des Verbalisationsvermögens vorliegt (vgl. Schleichert 1992: 195). Damit lässt sich die These verbinden, dass es neben dem Bewusstsein psychische Bereiche zu geben scheint, die Wahrnehmungen ohne konkomitierendes Bewusstsein prozessieren, Bezirke mithin, die präsymbolisch fungieren. Dies entspräche dem, was Ulrich Pothast (1990) »unkonfrontiertes Spüren« nennt. Klassisch gesehen, könnte man von Emotion, Gefühl, Stimmung, Gestimmtheit, vom Unbewussten […] reden, von einer basalen Registratur von Körperzuständlichkeiten (vgl. Fuchs 2004a). Andere Beispiele wären: Déjà-vu, Déjà-entendu, Déjà-écouté, Déjà-vécu, Jamais-vu, aber auch die epileptische Aura etc. Diese und andere ›Ent-Sinnungs-Vorgänge‹ lassen sich metaphorisch bestimmen als ›Aufrauhungen‹. Peter Handke formuliert (1998: 14): »Die Wiederholung: unauffälliges, nichts antastendes Aufrauhen des Existierens.« Hier beziehen wir dieses Bild auf den Widerspruch, den das ›Begreifen des Todes‹ im Medium Sinn evoziert. Opulenter drückt sich Elisabeth Bronfen aus:
46 | P ETER FUCHS »Apodiktisch formuliert: der Tod ist das privilegierte Aufscheinen des absolut Realen, einer wahren, nicht semiotischen Materialität und Faktizität. Gleichzeitig demarkiert der Tod die sinnbildliche Sprache, das figurale Reden, in dem der Tod uns darauf aufmerksam macht, dass, obgleich die Sprache angesichts des Todes auf keine verlässliche Weise referenziell sein kann (wir können diese Sprache nicht überprüfen), kann die Sprache angesichts des Todes auch eine Referenzialität nicht ausblenden. Weder verhandelbar noch änderbar bildet der Tod die Grenze der Sprache. Er stört unser Sprachsystem wie auch unser Bildrepertoire, während er gleichzeitig der Grund und Fluchtpunkt all unseres Darstellens bildet. Die Aporie, die somit bei der Frage nach der Repräsentierbarkeit des Todes auf dem Spiel steht, kann folgendermaßen formuliert werden: Als der Punkt wo alle Sprache scheitert, ist der Tod auch die Quelle für alles allegorische Sprechen. Aber gerade weil der Tod demzufolge so ausgiebig sinnbildlich ist, verweist er gleichzeitig auf eine Realität jenseits der Zeichen; er ruft eine Referenzialität im Materiellen hervor, auf den Texte oder Bilder verweisen ohne dieses Reale je direkt zu berühren. Der Tod ist demzufolge sowohl extrem referentiell als auch extrem selbst-referentiell; eine Realität für jeden Menschen, aber eine Erfahrung, die für den über den Tod sinnenden Menschen, sowie den den Tod des Anderen betrachtenden und überlebenden Menschen, als Erfahrung nicht verifizierbar ist.«2
Jenes ›nichts antastende Aufrauhen‹ ermöglicht, wie man sagen könnte, ein Ahnen des Jenseits von Sinn, Ahnungen der ›Nothingness‹, die von ubiquitär anfallenden Mystiken ›bearbeitet‹ wird, aber auch die Form der Angst annimmt, die etwa von Kierkegaard in den Kanon fundamentaler Betreffbarkeiten eingeordnet wird, als Angst, die sich bezieht auf die primordiale Unbestimmbarkeit von Sinn (vgl. Kierkegaard 1992). Die berühmte Formulierung Heideggers lautet: »Die Befindlichkeit […], welche die ständige und schlechthinnige, aus dem eigensten vereinzelte Sein des Daseins aufsteigende Bedrohung seiner selbst offen zu halten vermag, ist die Angst. In ihr befindet sich das Dasein vor dem Nichts der möglichen Unmöglichkeit seiner Existenz. Die Angst ängstigt sich um das Seinkönnen des so be-
2
Bronfen 2004. Georg Simmel formuliert im Rahmen seiner Thanatosoziologie (1957: 31): Der Tod »...begrenzt, d.h. er formt unser Leben nicht erst in der Todesstunde, sondern er ist ein formales Moment unseres Lebens, das alle seine Inhalte färbt: Die Begrenztheit des Lebensganzen durch den Tod wirkt auf jeden seiner Inhalte und Augenblicke vor; die Qualität und Form eines jeden wäre eine andere, wenn er sich über diese immanente Grenze hinaus erstrecken könnte.«
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stimmten Seienden und erschließt so die äußerste Möglichkeit. […] Das Sein zum Tode ist wesenhaft Angst.«3 Ohne Pathos schreibt Dirk Baecker: »Das klassische Phänomen der Wiedereinführung des in der Differenz von Kommunikation und Bewußtsein ausgeschlossenen Dritten ist die Angst. In der Angst ereignet sich das, was weder Kommunikation noch Bewußtsein ist. In der Angst ereignen sich daher Kommunikation und Bewußtsein als die eine Seite einer Unterscheidung, deren andere Seite die Welt als das in der Unterscheidung ausgeschlossenen Dritte, das heißt die Welt nicht als marked state, sondern als unmarked state ist. In diesem Moment lassen sich Kommunikation und Bewußtsein nicht mehr unterscheiden. Auf beiden Seiten kommt es zu Evidenzerlebnissen einer fraglosen Einheit, die sich gleichwohl als unmöglich weiß und in diesem Wissen um die andere Seite der anderen Seite das Moment ihrer Überwindung hat. In der Angst ereignet sich die Welt als solche, in der Angst wird jede Unterscheidung unmöglich.« (Baecker 1992: 241)
Diese ›Angst zum Tode‹ ist zweifellos diachron und synchron ein universales Phänomen, das immer sozial bearbeitet werden musste. Die hier interessierende Frage ist die nach seiner ›Verarbeitung‹ unter der Ägide der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft.
T ODESVERGESSENHEIT UND T ODESBESESSENHEIT IN DER MODERNEN G ESELLSCHAFT Die Gesellschaft der Moderne ist gekennzeichnet dadurch, dass sie keine durchgreifende Hierarchie realisiert, dass ihr kein Logos zugrunde liegt, keine Instanz der Selbstübersicht, kein zentrales Organon zur Bestimmung ihrer Einheit. Sie wird deswegen bezeichnet als polykontextural, hyperkomplex, als unerreichbar (vgl. Fuchs 1992). Aber auch diese Einschätzung ist paradox, insofern sie eine Übersicht, eine Fernsicht (theoria, visio) benötigt, die durch die These von der Unerreichbarkeit der Gesellschaft selbst dementiert wird.4 Man kann zwar sagen, dass die moderne Gesellschaft über keinen eigenen Logos, über keine eigene Ontologie verfügt, aber eben dieses Sagen ist Indiz für eine Ontologie, denn die
3
Heidegger 1993: 265f. »In der Angst wird das Seiende im Ganzen hinfällig.« (Heidegger 1967: 10)
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Ebendies zwingt zur Einführung der Beobachtung dritter Ordnung. Vgl. Luhmann 2008: 136f.
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Behauptung eines ›es gibt nicht…‹ setzt eine Welt voraus, in der solche Negationen gültig sein könnten. Unter derart fragilen Denkbedingungen hilft eine Minimierung der Ambitionen oder – anders gewendet – die Luhmannʼsche Technik des ›Wir gehen davon aus, dass…‹5 In diesem Sinne gehen wir davon aus, dass die Gesellschaft eine Art Konglomerat von spezifisch ausdifferenzierten Funktionssystemen bildet, von denen jedes für sich eine singuläre Ontologie auswirft, die sich nicht in eine Generalontologie einfügen lässt. Systeme dieser Art sind Politik, Recht, Wirtschaft, Erziehung, Kunst, Sport etc. Sie alle gravitieren um binäre Unterscheidungen (Codes), beispielsweise: Innehaben/Nicht-inne-haben von Ämtern, Recht/Unrecht, Zahlung/Nicht-Zahlung, bestanden/nicht-bestanden, schön/hässlich, gewinnen/verlieren. Code ist der Begriff dafür, dass solche Systeme ihr Innen/Außen durch Markieren von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit in sich definieren. Diese binären Unterscheidungen haben die Form der Sein/Nichts-Differenz der philosophischen Tradition, die verknüpft ist mit einem Tertium-non-datur: Etwas ist oder ist nicht. Man zahlt oder zahlt nicht. Es gibt keine dritte Möglichkeit. Der Effekt ist die Pluralisierung der einst einzigen Ontologie. Man hat es mit einer Mehrheit von Ontologien zu tun. Was gilt, hat seine Gültigkeit in jedem Funktionssystem – unübertragbar auf andere Systeme des gleichen Typs. Selbst die Religion kann keine Stellvertreterschaft für eine legitime Weltbeobachtung garantieren. Sie ist gegenbeobachtbar geworden. Bezogen auf unser Thema formuliert Luhmann: »Das Recht gibt dem Tod rechtliche Konsequenzen. [...] Die Medizin stellt mit dem Tod ihre Bemühungen ein. Aber in keinem dieser Fälle berührt der Sinn des Todes die Funktion des Systems zentral. Für die Religion scheint dies anders zu sein.« (Luhmann 2000: 47) Dieses ›scheint‹ verweist darauf, dass auch die Religion den Tod nur selbst bearbeiten kann – in einer Eigenregie, die ihn auf die Erscheinung der Transzendenz in der Immanenz reduziert, auf eine zentrale Maschinerie ihrer schieren Selbstreferenz, auf den Tod als Transitorium in das ›ewige‹ Leben. All dies stimuliert die Suche nach einer gleichsam ›mittigen‹ Ontologie, nach der einen Gültigkeit, die unbestreitbar, die authentisch ist über alle Systeme hinweg. Eine solche Unbestreitbarkeit liefert der Tod, das Moriendum esse, es ist zu sterben. Der Tod hat, so könnte man sagen, die Funktion einer Letztontologie der deontologisierten Gesellschaft. Er ist im Blick auf Sinn die Möglichkeit des Den-
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Beispielsweise: »Die folgenden Überlegungen gehen davon aus, daß es Systeme gibt.« (Luhmann 1984: 30)
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kens einer absoluten Entdifferenzierung (vgl. Luhmann 1997: 1145). Es lässt sich auch formulieren, dass der Tod als die vollkommene Exklusion auftritt, als die Demarkierung aller Relevanzen für sinnförmig operierende Systeme, die ihm niemals begegnen außer in der (semantisch konditionierten) Differenz von Leben und Tod – in Sinn. Wenn es zutrifft, dass der Tod die Funktion einer Letztontologie übernimmt, kann weitergefragt werden danach, wie dies geschieht, wie dieser Vorgang in der Moderne symbolisiert bzw. inszeniert wird. Eine geläufige Vorstellung ist etwa, dass diese Moderne gekennzeichnet sei durch die Verdrängung des SterbenMüssens, des Tot-Sein-Könnens und der (unmöglichen) Imagination des Nichtmehr-Sein-Dürfens. Soziologisch gesehen, ist genau diese Verdrängung nicht der Fall.6 Von Todesvergessenheit kann keine Rede sein, der Tod ist kommunikativ und psychisch allgegenwärtig. Ein Blick auf die Massenmedien, die Literatur, die Kunst, die Plastinate (vgl. Fuchs 2004b; 2007), das WorldWideWeb … macht diese These schnell plausibel, liefert aber noch keine Gründe für die grassierende ›Nekrophilie‹ der Gesellschaft, die sich immerhin auch als Verdrängung des Todes lesen ließe: als paradoxe Maskierung der Todesbetroffenheit. So oder so, ein Grund für die überbordende Befasstheit mit dem Tod kann rekonstruiert werden auf der Basis seiner Funktion, der Letztontologisierung einer de-ontologisierten Sinnwelt. Der Tod lässt sich so wie Sinn nicht ›wegbeobachten‹, obgleich es keine sinnförmige Erfahrung von ihm gibt. Er kann nur unterschieden und bezeichnet, also nur beobachtet werden. Aber eben die Einsicht in dieses ›Nur‹ ist typisch für die polykontexturale Moderne: Was immer auch die Realität sein mag, sie hängt an Beobachtern, denen unterstellt wird bzw. unterstellt werden muss, dass sie anders beobachten könnten, also eingehakt sind in je fungierende, lokale Ontologien – mit der Ausnahme des Todes, der als Nicht-Kontingenz phänomenalisiert wird. Da jedoch die Reproduktion von Kontingenz unverzichtbar erscheint, muss sie verlagert werden: in die Wählbarkeit der Beziehungen zum Tod (vgl. Hahn 2000: 193). Ein anderer Ausdruck dafür wäre, dass es um Strukturen und Prozesse geht, die den Umgang mit dem Tod re-arbitrarisieren. Oder noch anders formuliert: Im Zentrum jener Wählbarkeit steht Ontologie-Entlastung, eine Erleichterung durch die zahllose Vermehrung der Möglichkeiten, mit dem Unumgehbaren umzugehen.
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Vgl. Hahn 2000: 192ff. Vgl. ferner zu einer scharfen Witterung Nassehi/Weber 1989.
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D IE Z WEITONTOLOGIE V ERGESSENS
DES INTERMITTIERENDEN
»Wer sich selbst überlebt, verfehlt seine Biographie. Letzten Endes können nur die abgebrochenen Schicksale als vollendet gelten.« EMILE MICHEL CIORAN »Aber diese Geschehnisse des Lebens haben weniger Leben als ein Buch, weil sie keinen zusammenhängenden Sinn haben.« ROBERT MUSIL
Man wird nicht fehlgehen, wenn man behauptet, dass die Zahl der (Auto-)Biographien mit der funktionalen Differenzierung explosiv zugenommen hat. Das schließt nicht aus, dass es schon weitaus früher solche Texte (oder entsprechende Porträts) gegeben habe.7 Aber dabei handelt es sich um intellektuelle, philosophische, künstlerische bzw. mystisch gestimmte oder religiöse Sonderleistungen.8 Sie sind an Schriftlichkeit gebunden, an die kulturelle Deutbarkeit der Kunstwerke und an das Portfolio der Entlastung von Lebensführungsnotwendigkeiten. Dies alles ist nicht flächendeckend verfügbar – mit Ausnahme des Instituts der Beichte im christlichen Kulturraum (vgl. Hahn 1990; Hahn/Willems/ Winter 1991). Im späten Mittelalter kommen Selbstbeschreibungen als Lebensbilanzierungen vor, die sich Kaufleute und Unternehmer gönnen können (vgl. Brosziewski 1995). Selten wird darauf geachtet, dass sowohl diese Beispiele als auch der Boom der (Auto-)Biographien der Moderne die Bedingung ihrer Möglichkeit in der Unausweichlichkeit des Todes haben. Ohne ihn würde Leben, würde Psyche
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Vgl. nur Weiand 1993; siehe auch Schulze 1996: 17. Es gibt Vorspiele dieser Art noch sehr viel früher. Ich denke etwa an die Mumienbilder in enkaustischer Technik (3. Jahrhundert n. Chr.), die uns retrospektiv hoch individualisierend und damit beinahe unglaubwürdig erscheinen (siehe für Beispiele Pretzell 1951/52). Für den Kulturraum des europäischen Mittelalters gilt das Portrait des Königs von Frankreich, Johann II. (der Gute) als eine der ersten, wenn nicht als die erste individualisierende Darstellung im nicht-religiösen und nicht an Bücher gebundenen Bereich, entstanden um 1360.
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Vgl. als eindrucksvolles Beispiel die Selbstbeschreibungen von Teresa von Àvila (siehe Herbstrith 1971).
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endlos sein. Es gäbe keine Befristung, die sicherstellt, dass im menschlichen Leben eine singuläre Ordnung kreiert wird, die sich abschließend erzählen ließe. In einer endlosen Zeit ist jederzeit alles anders möglich, biographische Narrationen wären durch und durch kontingent ebenso wie die an singuläre Biographien geknüpfte Individualisierung, die ihrerseits gebunden ist an die Nur-Erzählbarkeit eines befristeten Daseins im Modus des: ›Ich werde dieser oder jene gewesen sein‹. Von diesen Überlegungen her kann man den Erfolg der (Auto-)Biographien begreifen als Installation einer Zweitontologie, die inzitiert, die ermöglicht wird durch den Tod. Biographien sind aus dieser Perspektive ›Thanatoteleologien‹ oder gar ›Thanatographien‹.9 Der Tod wird zur Garantie intermittierenden Vergessens. Er unterbricht die Kette der sozio-somato-psychischen Zitationen, ein Vorgang, den man auch Interpendenzunterbrechung nennen könnte. Deswegen kann vom Tod als einem Biographiegenerator die Rede sein (vgl. Hahn 1987). Prosaischer ausgedrückt: Ohne die Letztontologie des Todes wäre die Zweitontologie der individualisierten (Auto-)Biographie unmöglich. Deswegen, so kann man vermuten, ist jene Nekrophilie und das mitunter frenetische Vorführen oder Feiern des Todes in der Moderne mit der vanitas vanitatum abgelebter Zeiten, mit all den lacrimae rerum nicht identisch. Aus dem gleichen Grund entsteht eine imposante, vielleicht parasitäre Sozialformation, ein Kompendium der Präskriptionen für Todesbewirtschaftung, für das soziale Bearbeiten des Todes, das man, um eine Abbreviatur zu haben, ›Mortura‹ nennen könnte.10
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Vgl. zu diesem Ausdruck etwa Menninghaus 1999.
10 So wie über die Natur ausschließlich geredet werden kann, weil sie nirgends anzutreffen ist, so ist es mit dem Tod: »Natura ist ein richtiger, aber euphemischer Ausdruck: mit gleichem Rechte könnte es Mortura heißen.« (Schopenhauer 1985: 42) Diesen Hinweis verdanke ich Frau Martina Koniczek von der Schopenhauer-Forschungsstelle der Universität Mainz.
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D IE D ISPONIBILITÄT
DES
S TERBENS »Der Schreiner, der vom Särgezimmern lebt, bedauert kaum, wenn andre sterben. Wo Vorteil lockt, versiegt die Scham.« ALTE CHINESISCHE WEISHEIT
Die Funktion, die der Tod in der Moderne übernehmen könnte, wurde skizziert als Inszenierung einer Letztontologie und der damit verknüpften Möglichkeit individualisierender Biographien. Mit dieser Funktionsbestimmung tritt die Frage auf, welche Leitunterscheidung (welcher Code?) genutzt wird, um die Mortura zu ordnen. Man könnte auch sagen, es geht jetzt um eine zugrundeliegende Form, um eine binäre Differenz, deren Seiten sich zueinander antagonistisch verhalten wie Sein und Nichts – Tertium non datur. Im Falle der Mortura liegt es nahe, die Differenz Tod/Leben heranzuziehen. Die Komplikation, die sich aus dieser Unterscheidung ergibt, ist, dass weder der Tod noch das Leben in einem genauen Verständnis bearbeitet werden können. Was Tod, was Leben ist, kann nicht ›ersonnen‹ werden. Zwar wird man ungezählte Semantiken finden können, in denen der Tod, das Leben ›besprochen‹ werden, aber eine Phänomenalisierung der Differenzseiten ist schlicht ausgeschlossen. Eben deshalb ist diese Leitunterscheidung superprägnant. Sie oszilliert in sich. Handhabbar wird diese Leitunterscheidung (jenseits des unentwegten Redens und Schreibens), wenn man das Tertium-non-datur versuchsweise transformiert in ein Tertium-Datur, also die Möglichkeit eines dritten Wertes in Betracht zieht, durch den die Ausgangsunterscheidung erst zur sozial und psychisch fungiblen Form wird: Tod/Leben // Sterben. Die Heuristik, die das Sterben in die Position einer Drittheit einrückt, rechtfertig sich zunächst aus dem einfachen Umstand, dass Sterben (etymologisch: Erstarren, Starr-werden etc.) der Seite des Todes in der Ausgangsdifferenz nicht zugeschlagen werden kann. Wer stirbt – so der alte Topos – lebt noch, solange er stirbt. Er bleibt auch nach den berühmten letzten Worten für eine gewisse Zeit reanimierbar. Gestorben ist man, wenn eine medizinische Todeserklärung den Tod festgestellt hat, also immer in einem Nachhinein; ab dann ist der Körper eine Leiche, rechtlich gesehen: ein Gefahrenzustand, der verschiedene Phasen der Verwaltung des Todes sozial unterzogen wird – bis hin zur Bestattung, zum Einäschern, zur Verstreuung über der See oder im Walde (vgl. Benkel 2012).
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Anders ausgedrückt: Tod und Leben sind keine Weltsachverhalte. Das ›Todesmanagement‹, von dem mitunter die Rede ist, lässt sich nur als Toten- bzw. Leichenmanagement auffassen. Einschlägige Trauerarbeit referiert auf die nur noch erinnerbaren, einst ›Gelebt-Habenden‹. Das Sterben hingegen ist eine ›mixture impossible‹ zwischen Tod und Leben und gerade deshalb unscharf genug, um eine Welt von Kommunikationen aufzurufen, die an dieser Vagheit parasitieren.11 Erst der eingetretene Tod macht die Zeit davor: zum Sterben – auch für den Fall, dass man, dramatophil gestimmt, das Sterben mit der Geburt beginnen lässt. Anders ausgedrückt: Nur der dritte Wert der Leitunterscheidung ist disponibel. Von dieser Disponibilität her wird es möglich, die Operativität der Mortura tentativ zu behandeln. Dabei ist entscheidend, festzuhalten, dass jetzt soziale, nicht psychische Operationen gemeint sind. Soziale Operationen können der Theorie nach aufgefaßt werden als Kommunikationen, die einerseits die Differenz von Information (worum geht es?) und Mitteilung (wie wird die Information ›verpackt‹?) aufspannen, andererseits in Anschlüssen, die Verstehen genannt werden, ermitteln, was diese Differenz-in-Betrieb für weitere Anschlüsse bedeutet – in einem Set möglicher Fortsetzungen der Kommunikation. Damit wird das Problem formulierbar, wie diese allgemeine Form im Rahmen der Mortura spezifiziert werden kann. Auf dem Abstraktionsniveau, das hier im Spiel ist, wäre die erste These, dass diese Spezifik sich präzisieren lässt, wenn man sagt, es gehe um die kommunikative Operation der ›SterbeErzeugung‹. Das Sterben würde, terminologisch leicht anders gefasst, kommunikativ ›hinbeobachtet‹. Heuristisch kann an dieser Stelle die Theorie der Sinndimensionen, hier der Zeitdimension herangezogen werden (vgl. Luhmann 1984: 114 und passim). Sie referiert darauf, wie in Sinnsystemen Zeit gehandhabt, reguliert, instrumentiert wird. Im hier diskutierten Fall ist diese Dimension oben schon angespielt worden. Das Sterben wird post festum hergestellt. Wenn jemand tot ist, kann man erst sagen, dass er ein Sterben durchlaufen hat, es sei denn, er wäre schlagartig tot gewesen, und man würde aus diesem Grund kein Sterben zeitlich identifizieren können: als eine eigene Lebensphase. Der Tod wirkt demnach wie ein temporaler Katalysator. Oder genauer: Diese Katalyse ereignet sich, wenn jener Nicht-Zustand des Tot-Seins kommunikativ als Information zirkuliert, von der aus Sterben errechnet wird: als soziale und
11 So war es für »für Akteure des Barocksdramas kein Problem, Sätzen ihre Stimme zu leihen, deren Inhalt die Unmöglichkeit, sie noch auszusprechen, besagt: ›Hilff/Himmel! ich bin todt! der Abgrund schlingʼt mich ein!‹« (Dotzler 1991: 98)
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psychische Tatsache. Diese Information generiert deren Faktizität als angstbesetztes ›Zwischenreich‹, als Passage zwischen Leben und Tod, als Existential einer primordialen Betreffbarkeit. Kommunikation besteht aber nicht nur aus Informationen. Sie müssen mitgeteilt werden, also jene Differenz zwischen Information und Mitteilung registrabel machen, obwohl beide Selektionen nur in einer sozial fungierenden (praktischen) ›Realanalyse‹ trennbar sind – exakter: durch Anschlüsse, die festlegen, ob die Mitteilung oder die Information favorisiert wurde, wie also das Thema der Kommunikation (Informativität) sich von Ihrem WIE (der Mitteilung) unterschied. Die These ist, dass die Information, dass es zu Sterben gilt, in der Mortura mitgeteilt wird mit allen Signalen, die auf die Betreffbarkeit durch die Unausweichlichkeit des Todes referieren, kombiniert mit dem Konjunktiv der Mortalität, des Nichtwissens um die Stunde und das WIE des Sterbens. Es scheint um so etwas zu gehen wie die paradoxe Mitteilung einer kontingenten Nicht-Kontingenz.
D IE K ONTINGENZFORMEL DER UND T OD UND S TERBEN
G ESELLSCHAFT
Man wird mit Unschärfen im Detail sagen können, dass die funktional differenzierte Moderne die Letztontologie des Todes in der Konstruktion des Sterbens gleichsam befristet aussetzt: durch die Kontingenz einer erwartbaren Phase des Lebens, deren Abschluss endgültig ist, deren Verlauf aber sozial bearbeitet werden kann. Zwar wird es niemals Zeiten gegeben haben, in denen es nicht zu Regulativen oder Instruktionen für den Umgang mit dem Sterben gekommen wäre. Aber nun gerät das quasi natural-kulturelle Phänomen unter den Druck der Polykontexturalität, der Heterarchie, der Hyperkomplexität der funktional differenzierten Gesellschaft. In gewisser Weise wird das Sterben zu einem Attraktor für multiple, polyvalente, nicht auf eineindeutig zu stellende Beobachtungen. Sterben ist nicht mehr ›Dasselbe‹, es ist jeweils (und in Gleichzeitigkeit) ein ›Anderes‹, abhängig von seinen ökonomischen, politischen, erzieherischen, wissenschaftlichen, religiösen, künstlerischen, sozialarbeiterischen… Inanspruchnahmen, von den Horizonten der fungierenden Ontologien, die in den Referenzsystemen gepflegt werden. Der Effekt: Sterben kann nicht mehr umstandslos die Letztontologie des Todes stützen. Es ist selbst nicht kanonisierbar. Wer der Lebensphase des Sterbens zugerechnet wird oder sich ihr selbst zurechnet, taucht ein in die Kontingenz par
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excellence, obwohl oder weil er auf die absolute Nicht-Kontingenz (auf den Tod) zugeht. Mit dieser Einschätzung lässt sich eine seltsame Funktion konstruieren. Der Begriff, der sich dazu nutzen lässt, ist der der Kontingenzformel: »Die Gesellschaft benötigt jetzt [zur Zeit zunehmender Komplexität und Kontingentisierung; P.F.] zur Kontrolle des Zugangs zu anderen Möglichkeiten Einrichtungen, die wir Kontingenzformeln nennen wollen. Zu den wichtigsten Kontingenzformeln gehören das jeweilige Prinzip politischer Legitimität, also eine Formel für Gemeinwohl, ferner das Prinzip konstanter Gütermengen (…Knappheit), die normativen Strukturen des Rechts und das Prinzip der Limitationalität in der Wissenschaft als Voraussetzung für den binären Ja/Nein-Schematismus der Logik ... Solche Kontingenzformeln leisten eine Rekonstruktion beliebiger Komplexität und Kontingenz in Form von Reduktionen, die für das System bestimmbar sind und Selektionen und Anschlußselektionen ermöglichen: Erst wenn jemand anders handeln kann, als erwartet wurde, und wenn dies antizipierbar ist, entsteht das Problem rechtlicher Normierung...« (Luhmann 1982: 82)
Kontingenzformeln beziehen sich demnach auf Funktionssysteme, die etwas in sich auf nicht-kontingent stellen müssen, auf gültig und unverzichtbar. Diese Systeme verfügen über ontologische ›Gravitationszentren‹, deren Invulnerabilität garantiert ist durch eine Umkehrung der Form von Kontingenz: Weder notwendig noch unmöglich (diese Definition von Kontingenz) wird zu: nicht nur möglich, sondern auch notwendig. So ist für das Religionssystem ›Gott‹ (oder ein transzendentes Äquivalent) unausschließbar. Das Experiment besteht nun darin, die moderne Gesellschaft selbst als System aufzufassen, für das es keinen ›cor et punctus‹ gibt, keinen Ort für die Etablierung von Nicht-Kontingenz. Für sie macht nichts einen Unterschied, sie ist indifferent gegenüber Differenz und Identität. Sie ist nichts weiter als das Prozessieren von ungezählten Kommunikationen, unbekümmert darum, für wen Mitteilungen mit welchen Informationen auch immer irgendetwas bedeuten. Deswegen hatten wir weiter oben den Tod als Letztontologie einer Gesellschaft beobachtet, deren Möglichkeitsbedingung aber gerade perfekte Kontingenz ist, die sich in jener Indifferenz ausdrückt. Auf dem Hintergrund dieses Widerspruches kann man in tentativer Einstellung den Tod als paradoxe Kontingenzformel der Gesellschaft begreifen. Der Widerspruch selbst scheint unauflösbar. Aber: »Kontingenzformeln werden in all diesen Fällen so behandelt, als ob es gälte, ein unlösbares Problem als ein lösbares erscheinen zu lassen. Dabei wird übersehen, daß gerade der Unlösbar-
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keit von Problemen die wichtige Funktion der Katalyse struktureller Entwicklungen zufällt.« (Ebd.: 207) Genau diese Katalyse, die oben schon angesprochen worden ist, wird exerziert anhand der Transformation der Beobachtung des Todes in die des Sterbens. Die Kontingenzformel des Todes, der keine eigene Phänomenalität ›herzeigen‹ kann, wird rekonstruiert in einem Erscheinen des Sterbens, das die Kontingenz des Lebens und des Sterbens in Strukturen übersetzt, die sich ›lesen‹ lassen, Strukturen, die von Hospizen, Sterbebegleitung, Sterbehilfe bis hin zur Frage nach selbstbestimmten Suiziden reichen, die die Kontingenz des Sterbens längst nicht mehr nur randständig antasten.
K ONKLUSION Dieser Aufsatz ist, gemessen am Thema des Todes und des Sterbens, alles andere als dramatophil, verfolgt aber nicht die Absicht, diesen ›Phänomenen‹ ihre existentielle Dignität zu rauben. Dass der Tod einem alten Topos nach das Leben und das Leben den Tod ermöglicht, dass es um eine Art ›Kanon Null‹, um ›konditionierte Koproduktion‹ geht, die sich dem Begreifen, dem Begriff entzieht, ist schwerlich von der Hand zu weisen.12 Hier aber war die Frage wichtig (wenn dies überhaupt eine Frage und nicht ein Formular für viele Fragen ist): ›Wie nicht vom Tod reden‹. Die Antwort: Man kann nicht nicht vom Tod reden. (Todes-)Sinn lässt sich in Sinnsystemen nicht eskamotieren. Er könnte vielleicht verdrängt, tabuisiert, ausgeblendet werden, aber das Gegenteil ist in der Moderne der Fall. Der Tod und das Sterben sind eingehakt in das Register, in die Matrix der fungierenden Ontologien, die durch die Form der funktional differenzierten Gesellschaft erzwungen werden. Der Tod wird damit, so die These, zu einer Letztontologie der Moderne. Einerseits beendet er die différance des Sinnprozessierens und gibt damit dem Raum des Körpers (nicht: des Leibes): Raum, der im Bestattungsmanagement und all seinen mehr oder minder modischen Abwandlungen ausgenutzt wird; anderseits dient er der Beglaubigung individualisierter Biographien. Hinzu kommt, dass in der Mortura (diesem Behelfswort für einen unsicheren Systemstatus) die Paradoxie des Sterbens als ›Lebensphase‹ neu erfunden wird – als Kontingenz vor der Nichtkontingenz, als bearbeitbares Noch-Leben, als Pha-
12 »Der gesamte Text der Laws kann auf ein Prinzip reduziert werden, welches wie folgt aufgezeichnet werden könnte. Kanon Null (Koproduktion): Was ein Ding ist, und was es nicht ist, sind, in der Form, identisch gleich.« (Spencer Brown 1997: IX)
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se der Autonomie der Selbstbestimmung des Zeitpunktes, an dem der Übergang in das nicht Bestimmbare, den Tod, durchgeführt und zelebriert werden kann: in absehbar legitimer bzw. legaler Form. Will man von hier aus über eine Zukunft reden, die schon längst begonnen hat, kann man das ›Zombie-Wesen‹ heranzitieren, die auf historische Vorbilder zurückgreifenden Imaginationen lebender Toter, die beispielsweise in Computerspielen und Horrorfilmen plastische Plausibiltät gewinnen und einen starken Glaubwürdigkeitssog evozieren. Hier wäre es spannend, die Effekte auf psychische Systeme durchzuprüfen. Sei es, wie es sei: Auch in diesem Text haben wir nicht nicht über den Tod geschwiegen, sondern nur geredet. The rest is silence.
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Zuhause Sterben in der reflexiven Moderne Private Sterbewelten als Heterotopien S TEPHANIE S TADELBACHER und W ERNER S CHNEIDER
E INLEITUNG »Das Zuhause, in dessen Namen Kämpfe gefochten werden, ist ein mythischer Ort.« (Bronfen 2013: 150) Dieser Satz findet sich in Elisabeth Bronfens kulturwissenschaftlicher Analyse zu Kriegsfilmen aus Hollywood. Er kennzeichnet ein filmisches Narrativ, in dem das Zuhause jene Heimat repräsentiert, von der die Soldaten der verschiedenen Kriege des 20. Jahrhunderts ausziehen, für die sie kämpfen und zu der sie nach dem Erleben von Sterben und Tod an der Front heimkehren, um dann feststellen zu müssen, dass dieses Zuhause sich für sie mittlerweile selbst zum ›Kriegsschauplatz‹ gewandelt hat: Geschlechterkonflikte, alltägliche Kämpfe ums ökonomische Überleben u.a. In Anlehnung an und Abwandlung dieser Deutungsfigur der widersprüchlichen Dynamik des Zuhauses, einem geradezu exemplarischen mythischen ›Anders-Raum‹ (vgl. Foucault 1992, 2005) der Moderne, widmen sich die folgenden Ausführungen der Frage: Welchen symbolischen und praktisch-materialen Transformationen unterliegt das ›Zuhause‹, wenn heute, in der so genannten reflexiven Moderne, infolge des allseits gewünschten ›Sterbens in den eigenen vier Wänden‹ dieses Zuhause von einem spezifischen Lebensraum temporär für den Sterbenden und seine Angehörigen in einen Sterbensraum und schließlich wieder – nach dem Tod des Betreffenden – zurück in einen Lebensraum für die (noch) Weiterlebenden verwandelt werden muss? Diese konkrete empirische Frage nach der Praxis des Sterbens zuhause steht in einem weiteren Kontext des Wandels des gesellschaftlichen Umgangs mit dem Sterben, der sich spätestens seit den 1980ern abzeichnet und modernisierungstheoretisch gedeutet werden kann. Im Folgenden soll dazu in einem ersten
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Schritt erläutert werden, wie Sterben soziologisch gefasst und in seinem derzeit beobachtbaren Veränderungsprozess hin zum ›riskanten guten Sterben‹ skizziert werden kann. Der zweite Schritt wirft einen genaueren Blick auf das Sterben zuhause – sowohl in begrifflich-analytischer wie in empirischer Hinsicht. In einem letzten Schritt erfolgt eine kurze modernisierungstheoretische Deutung zu den privaten Sterbewelten als Heterotopien in der reflexiven Moderne.
S TERBEN ALS RAUM - ZEITLICH SITUIERTER SOZIALER P ROZESS IN DER R EFLEXIVEN M ODERNE ›Sterben-Machen‹ in verschiedenen Sterbewelten »Orthodoxe Juden erklärten in früheren Zeiten Mitglieder ihrer Gemeinde, die NichtJuden geheiratet hatten, für tot und führten ein symbolisches Begräbnis für diese Personen durch.« (Feldmann 2010: 126)
In diesem Zitat ist exemplarisch benannt, was als sozialer Tod bezeichnet werden kann: Ein Mitglied einer Gruppe wird von dieser als irrelevant, als nicht mehr existent, metaphorisch formuliert als ›gestorben‹ definiert – was in geschlossenen Gruppen sogar zum tatsächlichen physischen Tod der Betroffenen führen kann (sog. ›psychogener Tod‹). Umgekehrt gilt: Bei einer infausten Prognose ist es ein wichtiger Aspekt, inwieweit schon mit der Erkrankung und dann mit dem anstehenden physischen Sterben ein soziales Sterben im Sinne einer solchen Ausgrenzung einhergeht, der soziale Ausschluss also dem physischen Ableben vorausläuft.1 Aus soziologischer Sicht ist Sterben immer schon mehr als ein primär physiologisch bestimmtes Geschehen – Sterben ist auch und vor allem ein sozialer Prozess. Dieser gesellschaftlich organisierte Prozess des ›Sterben-Machens‹ (vgl. Schneider 2014) ist (1.) ausgerichtet an den je vorherrschenden Vorstellungen zu Sterben und Tod, also dem jeweils als ›wahr‹ geltenden Sterbe-/Todeswissen und den entsprechenden gesellschaftlichen Werten, Normen, Leitvorstellungen, die das Handeln am und auf das Lebensende hin orientieren. Und er verläuft (2.) entlang der jeweiligen institutionellen Kontexte und interaktiven Bezüge, in denen das Sterben raum-zeitlich situiert ist – d.h. entlang der entsprechenden Rollendefinitionen und Beziehungsmuster zwischen dem Sterbenden, den Angehörigen, den eh-
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Vgl. hierzu die von Klaus Feldmann (2010) erläuterte Unterscheidung von physischem, psychischem und sozialem Sterben/Tod sowie Weber (1994), Draguhn (2012).
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ren- oder hauptamtlichen ›Sterbearbeitern‹ sowie den dabei vorhandenen materialen Bedingungen und Ausstattungen, in denen ein als ›sterbend‹ definiertes Individuum als sterbend behandelt wird. ›Sterben‹ bezeichnet also eine kulturell gerahmte, auf Deutungsprozessen und entsprechenden sozio-materialen Praktiken beruhende und somit gesellschaftlich bestimmte Transition, bei der ein Mitglied aus und von der sozialen Gruppe, der er angehört, ausgegliedert wird. Kurzum: Menschen sterben nicht einfach so, sondern sie werden von der Gesellschaft, in der sie leben, ›sterben gemacht‹. Dieser Ausgliederungsprozess zielt im Kern auf eine grundlegende Um- und Neudefinition der gemeinsam geteilten Wirklichkeit durch alle am Sterbensverlauf Beteiligten ab. Dabei macht sich die betreffende Gemeinschaft deutlich, dass eines ihrer Mitglieder sie unwiederbringlich verlassen wird, wobei die noch Weiterlebenden den sinnhaften Übergang in eine neue Alltagswirklichkeit ohne diesen dann nicht mehr lebenden Anderen vollziehen müssen. Im Zentrum der gesellschaftlichen Gestaltung des Sterbens steht somit – soziologisch betrachtet – keineswegs, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag, der Sterbende selbst. Vielmehr geht es um die noch Weiterlebenden bzw. um deren Bewältigung der Erfahrung des Sterbens eines für sie wichtigen Anderen in ihren konkreten alltagspraktischen Bezügen ebenso wie in der sinnhaften Ordnung ihrer Welt, um dabei den Glauben an die Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens trotz der Erfahrung des Todes durch das Sterben eines Anderen aufrecht erhalten zu können (Berger/Luckmann 1987).2 Die in modernen westlichen Gesellschaften für das Sterben relevanten gesellschaftlichen Wissensbestände und Praxisfelder, ihre institutionellen Formen und Kontexte mit den jeweiligen sozialen Rollen- und Beziehungsmustern differenzieren sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend aus und konstituieren verschiedene ›Sterbewelten‹3 (Schneider 2014: 66): z.B. Sterben auf der Palliativ-
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In der Regel fungieren hierbei – bis heute – Religionen als ›Glaubens-Garanten‹, soziologisch gesehen können jedoch prinzipiell jedwede ›symbolische Sinnwelten‹ diese Funktion erfüllen (Berger/Luckmann 1987: 102). Zu beachten ist dabei, dass der Tod des Anderen als ›Grenzsituation par excellence‹ in der Erfahrung des radikalen Zerfalls von Intersubjektivität nicht nur unmittelbar die Kontinuität menschlicher Beziehungen bedroht, er stellt »mittelbar auch die Grundvorstellungen von Ordnung in Frage, auf denen die Gesellschaft beruht« (Berger 1973: 24; Berger/Luckmann 1987: 103) – und generiert dadurch nicht zuletzt auch die Möglichkeit sozialen Wandels.
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Der Begriff der Sterbe(ns)welten, von Ronald Hitzler in gemeinsame Diskussionen eingebracht, knüpft an das Konzept der ›kleinen (sozialen) Lebenswelten‹ an, wie es
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station (im Vergleich zum Sterben in der Klinik), Sterben im stationären Hospiz, Sterben zuhause mit Betreuung durch den Hausarzt und Pflegedienst oder mit ambulanter Versorgung und Begleitung durch Hospizdienst, SAPV etc. Gemeint sind damit besondere Welten, genauer: institutionell sich formierende bzw. formierte Sonderwelten, in die – in der Regel – einerseits Sterbende und Angehörige, also Laien, als für sie außeralltägliche Sinnbezirke und Handlungsfelder entlang je spezifischer Zugangsregeln und -rituale eintreten. Andererseits sind diese Welten in ihrer außeralltäglichen Normalität vor allem von (nicht nur medizinischen) Professionellen, von haupt- und ehrenamtlichen Sterbearbeitern bevölkert und werden von ihnen nach je eigenen Typisierungs- und Relevanzstrukturen interaktiv ausgestaltet. In den verschiedenen Sterbewelten wird die Komplexität möglicher Relevanzen reduziert auf ein bestimmtes Relevanzsystem gemäß der je institutionalisierten Versorgungs-, Behandlungs-, Betreuungssettings und den je geltenden konkreten praktischen Maßgaben. Die Modernisierung des modernen Lebensendes: Das ›riskante gute Sterben‹ Diese Ausdifferenzierung verschiedener Sterbewelten mit ihren jeweiligen institutionellen und praktischen Umsetzungen des Sterben-Machens ist Ausdruck der aktuell beobachtbaren Modernisierung des modernen Lebensendes. Im Zuge der ›Modernisierung der Moderne‹ – d.h. des Wandels von der sogenannten ersten, bürgerlichen hin zur zweiten, reflexiven Moderne als umfassende gesellschaftliche Umstrukturierung und Umdeutung moderner ›Basisunterscheidungen‹ und ›Basisinstitutionen‹ wie Familie, Erwerbsarbeit, Gesundheit/Krankheit (vgl. Beck/Bonß 2001; Beck/Lau 2004) – verändert sich auch das Sterben, genauer: das gesellschaftliche Sterben-Machen. Noch bis in die 1970er galt es, das Sterben in der Klinik als einen möglichst lange hinauszuschiebenden, wenngleich letztlich unvermeidlichen ›Betriebsunfall‹ des modernen Gesundheitssystems zu kaschieren. Der Sterbende wurde in das Stationsbadezimmer abgeschoben, um das die Ärzte einen großen Bogen machten und das Pflegepersonal verunsichert versuchte, die störende, weil die klinischen Routineabläufe irritierende, Sterbesituation irgendwie zu bewältigen (vgl. Streckeisen 2001; siehe auch Ariès 1980; Elias 1982). Sterben musste der modernen Medizin als Störfall, ja geradezu als Scheitern gelten, weil die große ›individualistische‹ Verheißung der (ersten, bürgerlichen) Moderne darin be-
prominent von ihm und Anne Honer (vgl. Hitzler/Honer 1984) in Anlehnung an Alfred Schütz und Benita Luckmann entwickelt wurde.
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stand, jegliche Lebensunsicherheit und Lebensgefährdung, jegliches Leid, welches gesellschaftlich bearbeitbar erschien, aus dem selbstbestimmt und selbstverantwortlich zu gestaltenden Leben des modernen Individuums auszutreiben. Das störende, aber dennoch unvermeidliche Sterben in der Klinik gefährdete diese symbolische Ordnung der Moderne umso mehr, als die Erfolge der modernen naturwissenschaftlichen Medizin gleichsam paradigmatisch das Einlösen dieser säkularen, diesseitigen Glücksverheißung repräsentierten. Die daraus resultierende institutionell-organisatorische ›Verrandständigung‹ von Sterben und Sterbenden durch die moderne Klinik erfuhr – im Sinne einer nicht-intendierten Nebenfolge (vgl. Böschen et al. 2006) – in der fortschreitenden Modernisierung mit ihren radikalisierten Individualisierungsprozessen ab den 1970/80ern eine zunehmende Problematisierung: Ein solches SterbenMachen, das den Sterbenden in seiner Individualität sowie in seiner Entscheidungs- und Gestaltungsautonomie nicht ernst nimmt, wurde – insbesondere von der damals in Deutschland aufkommenden Hospizbewegung – immer vehementer als ein unwürdiges und damit ›schlechtes‹ Sterben angeprangert. Als Gegenentwurf des ›form- und raumlosen‹, anonymen und ent-individualisierten Sterben-Machens entstand eine neue Leitvorstellung des ›guten Sterbens‹, die das würdevolle, weil möglichst schmerzfreie und vor allem selbstbestimmte Sterben propagierte. Vor dem Hintergrund der weiteren Individualisierungsschübe in der ›Risikogesellschaft‹ (Beck 1986) konturiert sich dieses gute Sterben heute zunehmend als letztes Lebensprojekt, das jeder individuell gestalten können soll. Das moderne Individuum als eigener ›Herr und Meister‹ soll, kann, muss in seiner Alltagsorganisation all die großen und kleinen Lebensentscheidungen für sich treffen und versucht so, das je eigene Leben möglichst ›gut‹ zu gestalten – im Glauben darauf, dass es selbst entscheidet und handelt. Diesem je eigenen Leben des mittlerweile in sämtlichen Lebensbereichen ›individualisierten‹ Individuums korrespondiert nun auch das in seiner radikalisierten Normativität selbstbestimmte, von jedem selbst zu gestaltende, eigene gute Sterben, welches als ›individuelles Projekt‹ das individualisierte Ende des je eigenen Lebens markiert (Schneider 2005; Stadelbacher 2014). In der Praxis bedeutet dies: Es müssen Überlegungen angestellt werden, wie man sich das eigene Sterben vorstellt (Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht etc.). Es müssen Gespräche geführt werden mit der Familie, mit Ärzten, mit vertrauten Personen. Es müssen zu gegebener Zeit möglichst verlässliche Versorgungs- und Betreuungsnetze geknüpft, Behandlungsoptionen geprüft und der Umfang an gewünschter Begleitung geklärt werden. Und wenn es soweit ist, müssen Entscheidungen über konkrete Maßnahmen in der Schmerzbehandlung und in der psychosozialen Unterstützung getroffen werden. Dabei geht es gar
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nicht so sehr nur um die großen, einmal zu treffenden Entscheidungen zu Leben und Tod (z.B. bei Behandlungsabbruch), die sich gegebenenfalls erst in der Rückschau als richtig oder falsch erweisen können. Notwendig sind vielmehr permanente Entscheidungen zu vielen kleinen, praktischen Prozeduren des alltäglichen Tuns oder Lassens am Lebensende, die ein ›Mehr‹ oder ›Weniger‹ oder ›Gar nicht‹ im Alltag der außeralltäglichen Krisensituation einer zum Tod führenden Erkrankung einfordern und ebenso wenig revidiert werden können (z.B. bei Schmerzlinderung, psychosozialer Begleitung). All das bedeutet: Sterben wird zunehmend zum Resultat einer immer länger werdenden Entscheidungskette und wird deshalb für den Einzelnen zunehmend riskanter (vgl. Schneider/Stadelbacher 2011). Aber auch auf institutioneller Seite wird Sterben zum herausfordernden Projekt, zum bisweilen auch riskanten Experiment. Die Vorstellung des individualisierten, selbstbestimmten Sterbens, erkennbar z.B. bis hinein in die aktuellen Auseinandersetzungen um den ärztlich assistierten Suizid, ist der Dreh- und Angelpunkt der verschiedenen fach- und professionsspezifischen wie der öffentlichen, medial-politischen Diskurse. Diese liefern die institutionelle Programmatik zu den neu entstandenen, noch entstehenden sowie zum Umbau der alten, aber neu auszurichtenden Sterbeorganisationen und bilden somit gleichsam ihre kulturell-legitimatorische Klammer. Gerahmt wird der beobachtbare institutionell-organisatorische Differenzierungsprozess zum ›riskanten guten Sterben‹ durch die Auflösung vormals (vermeintlich) geteilter Selbstverständlichkeiten, dem Brüchigwerden von ehedem kollektiv verbindlichem deutungs- und handlungsleitendem Wissen zu Sterben und Tod und damit auch von Deutungsgewissheit und Handlungssicherheit am Lebensende in den jeweiligen Organisationen, in denen in der Moderne bisher gestorben wurde (Klinik, Alten-/Pflegeheim). Parallel dazu entwickelt sich eine ›finale‹, d.h. auf das ›je eigene Lebensende‹ hin orientierte und im Wesentlichen hospizlich-palliativ ausgerichtete ›Sorge-Kultur‹ (vgl. z.B. Student 1999; Gronemeyer/Heller 2014). Deren Kennzeichen sind: (1.) Die Orientierung an einer ganzheitlichen Perspektive im Sinne der Beachtung der physischen, psychischen, sozialen und spirituellen Dimensionen des Sterbens; (2.) die symbolischpraktische Ausrichtung des Sterben-Machens an den Bedarfen und Bedürfnissen des Sterbenden und seines sozialen Bezugssystems; (3.) Versorgung, Betreuung und Begleitung des Sterbenden und seiner Angehörigen in ihren jeweiligen lebensweltlichen Bezügen – zuhause – sowohl durch professionelle hauptamtliche Sterbearbeiter als auch durch Ehrenamtliche oder engagierte Laien; (4.) der Sterbende soll idealiter als individualisierter, selbstbestimmter und autonomer Akteur – eingebunden in seine eigenen gemeinschaftlichen Bezüge und gesell-
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schaftlich umsorgt – seinen eigenen Tod sterben. Dieser Sorge-Kultur steht auf der praktischen Ebene das Konzept der möglichst breit verfügbar zu haltenden Palliativkompetenz zur Seite, womit mehr gemeint ist als nur eine umfassende medizinisch-pflegerische Versorgung mit dem Ziel der Schmerz- und Symptomlinderung. Darüber hinausgehend beinhaltet Palliativkompetenz auch die Vermittlung eines umfassenden Sicherheitsversprechens für Patienten und Angehörige hinsichtlich verlässlicher Hilfenetze insbesondere beim Sterben zuhause sowie die umfängliche praktische Unterstützung bei der normalisierenden Alltagsrahmung im Krankheitsgeschehen. Dabei gilt es, für den Sterbenden und seine Angehörigen möglichst viele alltägliche Routinen, Alltagsrituale etc. in deren je eigenen lebensweltlichen Bezügen aufrechtzuerhalten (vgl. Schneider et al. 2012).4 Um den expliziten und impliziten An- und Herausforderungen, die ein solches ganzheitliches, lebensweltlich eingebettetes ›gutes Sterben-Machen‹ mit sich bringt, entsprechen zu können, reicht für die beteiligten Sterbearbeiter ein Rückgriff auf etabliertes und bewährtes professionelles Wissen allein nicht mehr aus. Sie benötigen vor allem Privatheitswissen, also Wissen um Relevanzen, Erwartungen, Wünsche, Probleme und Ängste der Betroffenen. Solches Wissen kann nur über möglichst offene, thematisch unspezifische Kommunikation erworben werden. Gutes Sterben-Machen bedarf also intensiver subjektivierender Kommunikations- und Interaktionsarbeit, wobei die bei jedem ›Sterbensfall‹ erneut unklare, erst zu eruierende individuelle Ausgangssituation und seine je eigene Ausgestaltung und Verlaufsdynamik dazu führen, dass die ›vor Ort‹ interaktiv in der Kommunikation und im praktischen Tun möglichst herzustellende Deutungsgewissheit und Handlungssicherheit zwangsläufig prekärer und fragiler werden. Insofern wird das gute Sterben-Machen, je individualisierter es konzipiert ist, in seinem Verlauf und Ausgang auch für die Sterbearbeiter in ihren jeweiligen institutionellen Settings zunehmend riskanter. Das gilt umso mehr, je vielfältiger die jeweiligen Sterbewelten nicht zuletzt infolge der fort-
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Diese Kultur und Praxis des ›sorgenden Sterben-Machens‹ verbreitet sich zusehends in allen Institution, in denen gestorben wird. Beginnend bei den seit den 1980ern sich ausbreitenden Palliativstationen und Hospizeinrichtungen bis hin zum herkömmlichen Alten-/Pflegeheim und der Klinik, für die es jetzt gilt, Hospizkultur und Palliativkompetenz zu implementieren – mit mal mehr, mal weniger praktischer ›Durchschlagskraft‹ (vgl. Göckenjan/Dreßke 2002; Allert 2015); und nicht zu vergessen selbstverständlich das Sterben zuhause mit dem Hausarzt, dem ambulanten Pflegedienst, ggf. ehrenamtlichen Helfern oder einem ambulanten multiprofessionellen Palliative Care Team im Rahmen von SAPV.
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schreitenden Individualisierung, Pluralisierung und Heterogenisierung von privaten Lebenswelten mit ihren dahinter stehenden Privatheitskulturen werden. Und es gilt vor allem für das Sterben zuhause, also dort, wo sich die privaten Lebenswelten und ihre Privatheitskulturen gleichsam an einem spezifischen Ort raum-zeitlich materialisieren.
D AS Z UHAUSE ALS R AUM DES › RISKANTEN GUTEN S TERBENS ‹?! Zuhause zu sterben, also ein Verbleiben in den eigenen, vertrauten lebensweltlichen Bezügen bis zum Lebensende anstelle von Hospitalisierung, wird von der Mehrheit der Bevölkerung gewünscht und ist auch politisch unter dem Motto von ›ambulant vor stationär‹ gewollt (DHPV 2012). Dabei meint das Sterben zuhause, also im Privaten und damit in einem für die Moderne vom Bereich des Öffentlichen abgegrenzten ›mythischen Anders-Raum‹, viel mehr als nur, dass man in einer vertrauten Umgebung stirbt, wie dies etwa auch für einen Lebenslänglichen in seiner Zelle der Fall wäre. Das Zuhause als Lebenswelt ist auf je eigene Weise in weitere sozial-räumliche Beziehungsgefüge eingebettet: Verwandte, Lebenspartner, Freunde, Nachbarschaft. Und das Zuhause ist der Inbegriff von Identität, Selbstbestimmung und Autonomie. Insofern erscheint es konsequent, dass mit dem Anspruch auf einen selbstbestimmten Sterbeprozess dieser nicht im beliebigen ›Irgendwo‹ verwirklicht werden kann, sondern idealiter dort, wo der Einzelne auch über Definitions-, Gestaltungs- und Beziehungsmacht verfügt. Das ›Zuhause-Sterben‹ symbolisiert in der Wahrnehmung der Menschen das gute Sterben deshalb so überzeugend, weil es für ein selbstbestimmtes Sterben in den eigenen vier Wänden im Kreis der Familie steht. Indem Hospiz- und Palliativarbeit dieses Sterben zu ermöglichen sucht, steht sie institutionell für die ›gute‹ Sterbewelt – im Gegensatz etwa zum Sterben in der Klinik, bei dem die Angst vor dem Abgeschobenwerden in das Badezimmer abgelöst wurde durch das Schreckgespenst einer entmenschlichten Technik, die ein ›natürliches‹ Sterben verhindern würde, oder dem noch mehr gefürchteten Sterben im Alten/Pflegeheim. So weit, so simplifizierend. Aus soziologischer Sicht ist hierbei zu fragen: Was bedeutet es, zuhause zu sterben – für den Sterbenden und die Weiterlebenden, aber auch für die ›im Privaten‹ (inter-)agierenden Sterbearbeiter? Welche An- und Herausforderungen gehen damit einher? Welche Folgen hat es für die am Geschehen Beteiligten? Bevor zur Bearbeitung dieser Fragen die Praxis des Sterbens zuhause als besondere ›Sterbewelt‹ empirisch in den Blick ge-
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nommen werden soll, ist zunächst das Zuhause als besondere ›Lebens- und Sterbe(ns)welt‹ kurz näher zu bestimmen. Das Private als Anders- und Gegenraum in der Moderne Der Begriff ›Zuhause‹ markiert jenen Ort, in dem das moderne Individuum sich geborgen, geschützt fühlt, wo es dem modernen Verständnis von Individualität zufolge sein kann, so wie es ist, wo andere, die für den jeweiligen Einzelnen wichtig sind, nah sind, wo jeder selbst bestimmen kann, wie es dort aussieht, was dort geschieht, was zu tun und zu lassen ist (vgl. Rössler 2002). Geborgenheit, Emotionalität, Authentizität, Intimität, Autonomie, Selbstbestimmung – das sind Assoziationsfacetten zum Zuhause, die dem modernen Denken zu eigen sind, wobei dieser Assoziationsraum in enger Verbindung zu einem anderen Begriff steht, der die vielen Facetten von Zuhause gleichsam wie in einem Kaleidoskop versammelt und bündelt: Der Begriff der Privatheit. Privatheit und die jeweils damit verbundenen Be-Deutungen sind eine ›Erfindung der Moderne‹, ein soziohistorisches Konstrukt mit eigener gesellschaftlicher Funktionalität und Variabilität.5 Konzeptionell gesehen ist Privatheit dabei nichts Feststehendes, sondern eine Kategorie, um Wirklichkeit zu ordnen und zu verstehen. Es ist also prinzipiell offen, welche Handlungen, Erfahrungen, inneren Zustände, aber auch Dinge, Orte, Räume – kurzum: welche sozialen Tatsachen (jetzt, wieder oder nicht mehr) als privat ›be-deutet‹ werden. Was das Private im Konkreten bezeichnet, ist demnach immer eine empirische Frage. Modernisierungstheoretisch gesehen ist aber nicht allein Privatheit relevant, vielmehr zeichnet sich die erste, bürgerliche Moderne gesellschaftsarchitektonisch vor allem durch die aufeinander bezogene Unterscheidung zwischen Privatheit und Öffentlichkeit aus. Genauer: Privatheit und Öffentlichkeit werden als dichotome Lebenssphären der modernen Gesellschaftsordnung konstituiert und institutionalisiert, mit je eigenen symbolischen Sinnwelten, Wissens- und Handlungsmustern, die bis in die räumliche Ordnung (z.B. der Trennung von Arbeit und Leben) hinein reichen und mit je eigenen subjektiven Erfahrungsmodi des bürgerlichen Subjekts korrespondieren (z.B. Berger/Berger 1984; Geuss 2013; Rössler 2002).6
5 6
Zur genealogischen Rekonstruktion von Privatheit vgl. Geuss (2013). Z.B. das bürgerliche männliche Subjekt als gleichsam ›kreativ schizophrener‹, weil zwischen beiden Sphären wandernder Grenzgänger und Vermittler von Gesellschaft für seine Frau und seine Kinder – im Gegensatz zum bürgerlichen weiblichen Subjekt, verhaftet in der Innenwelt der bürgerlichen Kleinfamilie mit Haushalt und Kinder-
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Erst vor diesem Hintergrund kann das Private als ›Anders-‹ oder ›Gegenraum‹, als Heterotopie im Foucaultschen Sinne symbolisiert und realisiert werden. Heterotopien sind nach Foucault (1992, 2005) Anders-Räume, GegenRäume im Sinne von Brechungen des Alltags, des Normalen, in denen sich aber eben gerade deshalb das Normale in seiner Kontrastierung oder gar Verkehrung wiederfindet. Hier werden die »wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet« (Foucault 1992: 39). Heterotopien sind also spezifische, historisch variable symbolische Räume in Verbindung mit ihren konkreten, realen materialen Orten (bzw. in ihren konkret ›verortbaren‹ Materialisierungen), die in ihren Bedeutungen für die je gegebene gesellschaftliche Ordnung das jeweils ›Andere‹ repräsentieren, damit also der ›Norm des Alltags‹, den dort vorherrschenden Normalitätsvorstellungen entgegengestellt sind. Dies können verschiedene Institutionen wie beispielsweise das Gefängnis, der Militärdienst oder die Klinik sein, ebenso wie der Garten oder das Theater, die Festwiese oder der Friedhof, die Bibliothek, das Museum oder – für das Kind – das Ehebett der Eltern.7 In ihrer Funktion als Anders-Räume lassen Heterotopien, indem an bzw. in ihnen die zu einer Zeit vorgegebenen Normen nur zu einem Teil durchgesetzt sind (oder die gar nach eigenen Regeln funktionieren), für die dort befindlichen Akteure Reflexionen, Infrage-Stellungen, Gegenentwürfe, Widersprüche, alternative Horizonte zu den herrschenden Normen erfahrbar werden. Und womöglich werden solche privilegierten ›Widerräume‹ eines ›Gegenverhaltens‹ gerade in modernisiert-modernen individualistischen Gesellschaften, die ihrer ehemals kollektive Verbindlichkeit beanspruchenden Utopien beraubt sind, für die Dynamik des sozialen Wandels immer wichtiger. In der für die bürgerliche Moderne konstitutiven Privatheitsvorstellung ist vor diesem Hintergrund mit dem Privaten das der Öffentlichkeit, den gesellschaftlichen Anforderungen und Kontrollen Entzogene gemeint, das, was (dabei keineswegs normfrei) gesellschaftlich dem Individuum und seiner eigenen Verfügungsmacht zugerechnet und überantwortet wird. Anders formuliert: Das Private meint ein dem Individuum von der Gesellschaft überantworteter Verfügungs-, Gestaltungs- und Schonraum mit eigenen Werten und Erfahrungsqualitäten, der bis heute durch Vertrautheit, Sicherheit, Intimität und emotionale Für-
erziehung, deren Zugang zur und Positionierung in der öffentlichen Sphäre nur vermittelt und abgeleitet über ihren Ehemann erfolgt. 7
In dieser konkreten materialen Verortung bzw. verortbaren Materialisierung unterscheiden sich Heterotopien nach Foucault von Utopien, die gleichsam als ›reine Vorstellungen‹ dadurch gekennzeichnet sind, dass sie (noch) keine solchen institutionellen Realisationen erfahren haben.
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sorge, durch selbstbestimmte Gestaltung und Eigenkontrolle, aber auch durch das Angenommen-, Akzeptiert- und Wertgeschätztwerden als ganze Person (Identität) gekennzeichnet ist (vgl. Rössler 2002). Gerade aber diese Kennzeichnung von Privatheit und Kontrastierung zwischen Privatheit und Öffentlichkeit gerät heute immer mehr in Bewegung: Was als privat, was als öffentlich zu gelten hat, wird zunehmend zur Aushandlungssache, die Grenzen zum Nicht-(mehr-)Privaten sowie die Qualität als Schonraum werden umso fragiler, je weniger sie strukturell und kulturell vorgegeben und je mehr sie Ergebnis von situativer Interaktion und Praxis – von ›doing privacy‹ – werden. Und dennoch oder gerade deswegen: Das Zuhause korrespondiert vor diesem Hintergrund immer noch mit einem Verständnis von Zuhause als Inbegriff von Privatheit im Sinne eines besonderen und besonderten Erfahrungsraums – und kann gerade deswegen nun der neuen, modernisierten Konzeption von Sterben im Sinne eines individualisierten, selbstbestimmten und deshalb guten Sterbens als bevorzugte raum-zeitliche Situierung, gleichsam als ›ideale Sterbenswelt‹ dienen. Inwiefern eine solche Aushandlung von Grenzziehungen und die (Re-)Konstruktion, bisweilen auch ›Verteidigung‹ von Privatheit beim Sterben zuhause relevant sind, soll im Folgenden anhand seiner symbolischen, sozialen sowie praktisch-materialen Implikationen und Explikationen gezeigt werden. Die Programmatik des ›guten‹ Sterbens zuhause im Spiegel der Praxis Entscheidend für die Modernisierung des modernen Lebensendes ist also nicht nur wie (selbstbestimmt, individuell), sondern vor allem auch wo gestorben werden soll (zuhause). Mit der Durchsetzung der ersten Moderne wurden Schwerstkranke – und damit auch Sterbende – zu ihrer institutionellen Betreuung aus den gleichsam gerade erst ›erfundenen‹ Privatwelten geholt und damit die neue Lebensform der bürgerlichen Kleinfamilie mit ihrer Intimgemeinschaft von der Sterblichkeit der traditionalen Hausgemeinschaft der Vormoderne bereinigt. Mit der radikal individualisierten und subjektivierten Vorstellung des guten Sterbens geht seine neue, spezifische Verräumlichung einher, so dass konsequenterweise der besonderte Raum des Zuhauses zum besonderen Raum des Sterbens wird. Das bedeutet: In der reflexiven Moderne wird nicht einfach zuhause, dort, wo man lebt, auch gestorben, sondern das ›zu machende Sterben‹ hält Einzug in das Private; die aktuellen Sterbeinstitutionen kommen zum Schwerstkranken, bringen das neue Sterben und folglich einen ›neuen Sterbenden‹ nach Hause. Damit findet eine Aufhebung der Distanz zwischen dem institutionellen Sterben-
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Machen und den privaten Lebenswelten der Patienten statt. Oder anders formuliert: Es kommt zur praktisch zu bewältigenden Verschränkung institutioneller und privater Wahrnehmungs-/Deutungs- und Handlungslogiken zum Lebensende, die es ›vor Ort‹ wechselseitig auszutarieren gilt. Wie sich das im Einzelnen darstellt, soll im Folgenden anhand zweier Bereiche aus der Forschung zur ambulanten Sterbebegleitung skizziert werden:8 (1.) Die kulturelle Einbettung des Privaten und die Organisation sozialer Beziehungen sowie (2.) die Rolle von Materialitäten (Dinge, Räume) und der damit verbundenen Praxis beim ›guten Sterben zuhause‹. Zu (1) Privatheitskulturen und Beziehungsnormen Privatheit ist nicht gleich Privatheit. Was jeweils als privat gilt, welche Zurechnungen und Verantwortlichkeiten dabei zu beachten sind, welche Grenzen wie scharf gezogen werden etc., ist immer abhängig vom sozio-kulturellen Kontext. Da beispielsweise die soziale Kontrolle in dörflich-ländlichen Strukturen wirksamer ist als in Städten und insbesondere bei der existenziellen Versorgung der Familie (Haushalt, Essen etc.) eine Dienstleistungsmentalität noch weniger verbreitet erscheint als in städtischen Milieus, sind bei der Inanspruchnahme von außerfamilialer Unterstützung beim Sterben zuhause für Familien auf dem Land deutlich mehr Schwierigkeiten erkennbar. So berichten ambulante Hospizdienste, die Ehrenamtliche einsetzen, im ländlichen Raum von höheren Hürden bei Kranken und Angehörigen, den Hospizdienst einzuschalten, als in einem städtischen Umfeld (vgl. auch Pfeffer et al. 2009). Dies liegt nicht nur an der Angst, durch den Kontakt mit dem Hospizdienst als ›Sterbender‹ zu gelten bzw. den Betreffenden dadurch zum ›Sterbenden‹ zu machen (so das immer noch zu findende Klischee), sondern auch und vor allem an der unterschiedlichen Begründungspflicht externer Hilfe im Privaten. So gilt es zwar als statthaft, sich Spezialisten von außen zu Hilfe zu holen, da sie einbringen, was eine Familie im konkreten Fall nicht leisten kann: z.B. elaboriertes Wissen und erprobte Technik in Symptombehandlung und Pflege. Das Hinzuziehen von Spezialisten – z.B. der
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Die Beispiele stammen im Wesentlichen aus drei Forschungsprojekten: »›Sterben dort, wo man zu Hause ist‹ – Organisation und Praxis von Sterbebegleitungen in der ambulanten Hospiz- und Palliativarbeit« (August 2006 bis Dezember 2008; Schneider et al. 2009), »Wirksamkeit und Qualitätssicherung in der SAPV-Praxis – eine explorative Begleitstudie« (Januar 2010 bis September 2011; Schneider et al. 2012) und »Struktur- und Prozesseffekte der SAPV in Bayern – Evaluation/Qualitätssicherung und (Aus-)Wirkungen der SAPV auf die AAPV (unter Berücksichtigung des ländlichen Raums)« (April 2012 bis Juni 2014; Schneider et al. 2014).
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Palliativ-Schwester – kann deshalb als besondere Fürsorge der Angehörigen gedeutet werden, während das Hinzuziehen ehrenamtlicher Hilfe in der privaten Lebenswelt als problematischer erachtet wird. Ehrenamtliche verfügen nicht per se über größere Kompetenzen als die Familienmitglieder, sondern sind im Gegensatz zu den Familienmitgliedern zunächst ›nur‹ von der unmittelbaren und dauernden Situationsbewältigung entlastet und können deshalb wiederum die Familie entlasten. Von außen, vom sozialen Umfeld her betrachtet, kann gerade das aber als ein von den Angehörigen betriebenes ›Entpflichten‹ gedeutet und negativ bewertet werden. Entscheidend für die Ausgestaltung der jeweiligen Sterbewelten im Stadt-Land-Vergleich ist somit nicht die Bedürfnislage des Patienten oder der Angehörigen, sondern die ›vor Ort‹ für die soziale Gemeinschaft geltende Wissensordnung zum Verhältnis von privaten/öffentlichen Hilfen mit ihren jeweiligen akzeptierten oder abgelehnten ›Helfenskulturen‹. Generell wird mit Blick auf die praktische Ausgestaltung der ›Sorge-Kultur‹ und die damit verbundenen Hilfsangebote ›vor Ort‹ deutlich, dass insbesondere in der ambulanten Hospiz-/Palliativarbeit Patienten und Angehörige eine doppelte Unsicherheit aufweisen: Zum einen hinsichtlich dessen, was sie insgesamt vom betreuenden Dienst und vor allem von den Ehrenamtlichen erwarten dürfen, zum anderen, wie die sozialen Beziehungen zu den Ehrenamtlichen zu gestalten sind. Aus dieser doppelten Unklarheit resultiert die Schwierigkeit, überhaupt konkrete Wünsche und Erwartungen an die Betreuung bzw. Begleitung zuhause zu formulieren. In anderen Hilfebeziehungen rund um Krankheit und Pflege haben die Betreuten üblicherweise eine Vorstellung, wie die beteiligten Akteure miteinander umzugehen haben und was sie voneinander erwarten können (z.B. bei der Arzt-Patienten- oder Pflegekraft-Patienten-Beziehung). Für hauptamtliche Professionelle gibt es aus Sicht der Betreuten einen eindeutig definierten Status, die klare Zuständigkeit für einen umschriebenen Problembereich und die Tatsache, dass der Professionelle für seine Tätigkeit entlohnt wird. Wesentlich ist aber auch, dass ein Professioneller weder tatsächlich noch potenziell dem Privatbereich, der privaten Welt des Betreuten zuzurechnen ist. Diese recht klaren Rahmenbedingungen der Beziehungsgestaltung zwischen Betreuten und Professionellen fehlen hingegen für Ehrenamtliche, ja sind geradezu kennzeichnend für ihren spezifischen ›Zwitterstatus‹: einerseits als Vertreter einer Einrichtung, die zumeist ›irgendwie‹ dem medizinischen Feld zugeordnet wird, andererseits unbezahlt, aus freien Stücken und persönlicher Überzeugung. Die Rolle als ›helfender Mitmensch‹, unabhängig davon, wie professionell er gegebenenfalls in seinem eigenen beruflichen Tätigkeitsfeld war oder ist, ist diffus und bietet – durchaus beabsichtigt – Anschlussmöglichkeiten an das private Leben.
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Damit eröffnen sich für Patienten und Angehörige aber auch unterschiedliche Reziprozitätsvorgaben, also zumeist latent wirksame Normen und Regeln von Geben und Nehmen sowie die Erfordernis eines sensiblen Umgangs mit Gaben und Gegengaben.9 Insofern, als die geleistete Hilfe, besser: die dargebrachte Unterstützung, von ihrem Empfänger als Gabe gedeutet wird, enthält sie sowohl den Zwang zur Akzeptanz, zur Annahme wie gerade in ihrer Selbstlosigkeit die unmissverständliche Aufforderung zur Gegengabe. Die Beziehung muss im Gleichgewicht gehalten werden, indem eine Gabe – z.B. eine Einladung zum Essen, die Hilfe beim Umzug oder eben die Hilfe in einer existenziell schwierigen Lebenssituation – idealerweise mit einer entsprechenden Gegengabe beantwortet wird. Dabei geht es im Privaten selbstredend gerade nicht um eine rational kalkulierte 1:1-Aufrechnung, sondern um den Austausch von sozialer Wertschätzung, um die Anerkennung von Individualität etc., bei dem der eine dem anderen ›nichts schuldig bleiben‹ sollte – was immer dabei zueinander in Relation gesetzt werden mag (Arbeit gegen Liebe, Anerkennung gegen Fürsorge usw.). Aus der Perspektive des Patienten oder seines Angehörigen im Kontext von ambulanter Hospiz-/Palliativarbeit lautet die soziale Norm des Gabentausches: Dieser Gast, der mir zuhause wertvolle Unterstützung in einer existenziellen Krisensituation bringt, darf dafür etwas erwarten – und das bin ich mir selbst schuldig! Dieses Wissen um Gaben und Gegengaben im privaten Raum macht es für Patienten und Angehörige mitunter schwierig, im privaten Raum in einer quasi-privaten, zumindest aber nicht professionell gerahmten Beziehung Unterstützungserwartungen zu formulieren, Hilfestellungen zu fordern. Anders als in der stationären Arbeit mit den dortigen Sterbewelten, wo die jeweiligen professionellen Austauschlogiken gelten, wird das Geschehen für die Institution zwangsläufig dort uneindeutig und weniger steuerbar, wo eine ›privaten Rahmung‹ des gesamten Settings vorherrscht. Ein wesentliches Merkmal dieser Privatheit besteht in jener ›eigensinnigen‹ Reziprozitätsordnung, einer Ordnung von Geben und Nehmen, Gabe und Gegengabe, die die private Welt von einer professionellen scheidet und ggf. auch unterschiedliche Privatwelten voneinander trennt. Denn der Privatbereich, die Lebenswelt des ›Zuhause‹ ordnet ihre sozialen Bezüge nicht nach dem Ideal von ›Mitmenschlichkeit‹ gegenüber (potenziell irgend-)einem Anderen. Sondern dort ist in der Ausgestaltung und Akzeptanz von Hilfs- und Unterstützungsangeboten hinsichtlich ihrer
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Vgl. hierzu das Prinzip des ›Gabentausches‹ aus der Kulturanthropologie (vgl. Mauss 1968), welches gerade bei Besuchen von Gästen eine wichtige Rolle bei der Gestaltung der sozialen Beziehung zwischen zunächst Fremden, dann bekannten und schließlich miteinander sozial verbundenen Menschen spielt.
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›Selbstlosigkeit‹ zu unterscheiden nach einer komplexen Abstufung von jeweiligen Qualitäten sozialer, lebensweltlicher Nähe zwischen unterschiedlich bedeutsamen Anderen (z.B. in der Eltern-Kind- und Partnerbeziehung, in Verwandtschafts- und Freundschaftsbeziehungen, Nachbarschaft bis hin zu Haushaltshilfen usw.). Diese Unterscheidungen variieren sogar noch je nach verschiedenen Privatheits- bzw. Familienkulturen, nach regionalen Traditionen, ethnischen Herkünften usw. Deshalb erzählen Praktiker mitunter von Betreuungen, bei denen die angebotenen Hilfen insofern zu einer ganz eigenen Belastung für die betreuten Patienten und Angehörigen wurden, als diese sich gerade wegen ihrer hohen Wertschätzung der erhaltenen Unterstützung verpflichtet fühlten, für die Helfer ein reziprokes ›Angebotsprogramm‹ bereitzustellen, was eine ähnlich hohe Wertschätzung ihrerseits zum Ausdruck bringen könnte. Die soweit skizzierte Reziprozitätsproblematik wird vielleicht am deutlichsten im Blick auf den Aspekt Zeit: Was Hospiz-/Palliativarbeit in der Sicht von Patienten und Angehörigen von anderen Betreuungsformen im Hinblick auf die als Gabe mitgebrachte Zeit unterscheidet, ist nicht nur das Ausmaß an Zeit, sondern die Deutungshoheit, Verfügungs- und Ausgestaltungsmacht über sie. Wer darf bestimmen, was wichtige Zeit ist und was nicht? Wer darf bestimmen, wie diese Zeit zu füllen ist? Hospizdienste hingegen vermitteln den Patienten und Angehörigen, dass sie selbst bestimmen können, was mit der verfügbaren Zeit gemacht wird, ob etwa die Zeit für eine gemeinsame Tasse Kaffee besser angelegt ist als für eine andere Tätigkeit. Die in dieser Hinsicht asymmetrische Machtverteilung zugunsten derjenigen, die über ihren Privatraum verfügen können sollen – also der Patienten und Angehörigen, scheint dort, wo eine von den beteiligten Akteuren als ›gelingend‹ bezeichnete Betreuung sich etabliert hat, das hierfür wesentliche Kriterium zu sein. Dies umso mehr in solchen Phasen, in denen für Patienten und Angehörige die gerade für den Privatraum als selbstverständlich erachteten Möglichkeiten zum eigenständigen Gestalten aufgrund des Krankheitsverlaufs zunehmend prekär werden. Zu (2): Von Sterberäumen und Sterbedingen in der Praxis des guten Sterbens zuhause Standen bisher die Deutungs- und Handlungsebene der Herstellung und Aufrechterhaltung des Privaten im sozialen Kontext der professionellen und ehrenamtlichen ›Sorge-Kultur‹ und ›Hilfe-Praxis‹ im Zentrum, so soll nun gezeigt werden, welche Rolle die materiale Ebene der räumlich-dinglichen Anordnungen beim Sterben zuhause spielt (vgl. auch Stadelbacher 2016a). Der Gebrauch der privaten Dinge kann eine zentrale Funktion für die Aufrechterhaltung des Privaten im Umgang mit den fremden Sterbearbeitern über-
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nehmen, z.B. bei der bereits angedeuteten Einladung zum Kaffeetrinken durch die Angehörigen. Eine solche Einladung inklusive Nutzung des eigenen, privaten Kaffeegeschirrs erscheint als eine dinglich-materiale Praxis der Herstellung von Autonomie im Privaten. Denn anschließend an das letzte Beispiel unter (1), der Verfügung über (frei zu gestaltender) Zeit, lässt sich weiter argumentieren: Es geht nicht nur um die Deutungshoheit über Zeit, sondern auch darum, dass diese Zeit eben – aus Sicht des Patienten, seiner Angehörigen – bei sich ›zuhause‹ gegeben und die gemeinsame Tasse Kaffee mit den eigenen Tassen, am eigenen heimischen Tisch eingenommen wird – und nicht z.B. in einem Aufenthaltsraum in einer Klinik mit Kaffee in einem Pappbecher aus dem Automaten. Entscheidend ist also die Verfügungsmacht über das gesamte raumzeitliche Arrangement der sozialen Beziehung und der Dinge, mit denen diese Beziehung ausgestattet, gestaltet bzw. zum Ausdruck gebracht werden kann. Andererseits wirken ›fremde‹ Dinge mit ihrer Praxis auf eigene Weise im Privaten – und zwar mitunter dem guten Sterben gleichsam entgegenlaufend, wie sich am folgenden Beispiel illustrieren lässt: Eine Angehörige berichtete, wie verstörend es für sie war, mitzuerleben, wie die Bestatter beim Abholen des Leichnams ihres Mannes im Wohnzimmer die Handschuhe übergezogen haben. Dabei war es vor allem die Praxis der von außen kommenden professionellen Todesarbeiter – also das von ihr wahrgenommene Handschuhüberziehen im Angesicht des Leichnams in dem für sie und ihren Mann vertrauten, privaten Raum –, die symbolisch jene Personalität, Individualität und Menschlichkeit des gerade Verstorbenen zerstörte, um deren Herstellung die gesamte Sterbebetreuung zuhause bemüht war.10 Dem entsprechend wird in der Hospiz-/Palliativarbeit darauf geachtet, solche professionellen Prozeduren möglichst zu vermeiden oder entsprechend kommunikativ abgeschirmt umzusetzen. Deutlich wird hierbei: Die
10 Von »Herstellung« ist hier deshalb die Rede, weil die Praxis der subjektivierenden Sterbebegleitung die Personalität des Sterbenden als In-Dividuum mit eigener Biographie durch kommunikative Interaktion zunächst re-konstruieren und damit für die Praxis der Sterbebegleitung vor Ort überhaupt erst produzieren muss (vgl. Pfeffer 2005). Und das Subjekt ›Sterbender‹ wird auch in einer zweiten Hinsicht erst hergestellt: Die Praxis der Sterbebegleitung konstruiert eine ganz bestimmte, neue Subjektform, nämlich die des individuellen, aktiven, selbstbestimmten und bewusst sterbenden Sterbesubjekts. Es geht also nicht nur um die Verlängerung von Individualität und Subjektivität im Gegensatz zur ›Ent-Individuierung‹ und ›Ent-Subjektivierung‹ im Sterbeprozess (wie er mit dem Sterben im Krankenhaus verbunden wird), sondern um die Produktion einer neuen Subjektform in der und durch die Sterbebegleitung selbst.
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Dinge sind nicht nur für sich stehend in ihrer Bedeutung relevant, sondern vor allem auch der räumlich-situative Kontext und die Praxis ihrer Verwendung. Illustriert dieses Beispiel die misslungene Kontinuierung der Aufrechterhaltung des Privaten als Erfahrungsqualität, so zeigen die folgenden zwei Beispiele die Ambivalenzen in dieser Verschränkung von institutioneller und privater Logik im Sterben-Machen zuhause. Als erstes sind die Installation und der Einsatz von Schmerzpumpen in der ambulanten Palliativbetreuung zu nennen. Dieses medizintechnische Artefakt, das von den professionellen Sterbearbeitern zur besseren Schmerzbehandlung in die private Wohnwelt implementiert wird, kann für Patienten und Angehörige den Einbruch der unerwünschten Klinikatmosphäre ins vertraute Zuhause markieren und damit bereits durch sein bloßes Da-Sein das Sterben zuhause symbolisch entwerten, indem es die technisierte Versorgungslogik in die eigenen vier Wände überträgt. Es kann aber auch umgekehrt z.B. für Angehörige eine Möglichkeit eröffnen, Fürsorge zu praktizieren, indem sie sich der Überwachung der Technik, die Schmerzen lindert, widmen oder sogar kleinere technische Störungen – angeleitet durch Expertenwissen – selbst beheben. Die Schmerzpumpe fungiert dann als Katalysator der Selbst-Erfahrung von erfolgreicher Sorgearbeit für den betreuenden Angehörigen. Als weiteres Beispiel für solche praktischen Ambivalenzen kann das in das Wohnzimmer verbrachte Pflegebett genannt werden, das von den einen als ›helfendes Ding‹ betrachtet wird, welches es ermöglicht, den Sterbenden besser zuhause zu versorgen oder ihn auch räumlich – eben sogar im Wohnzimmer – zu zentrieren. Mehr noch: Für manchen Angehörigen braucht es das Pflegebett im Wohnzimmer, um diesen vertrauten Lebensraum in einen zeitlich befristeten Sterbe-Raum zu verwandeln. Denn nur durch diese temporäre materiale Umgestaltung kann dieser später, nach dem Tod des Betreuten, wieder in das vertraute Wohnzimmer als Lebensraum für die dann Weiterlebenden zurückverwandelt werden, sobald das Pflegebett abtransportiert wurde (was symbolisch und praktisch deutlich schwieriger wäre, wenn die Couch zum Sterbelager würde). Von anderen wird das Pflegebett als ›Monstrum‹ betrachtet, weil es aus dem vertrauten privaten Lebensraum des Wohnzimmers eine ›Behelfsintensivstation‹ macht und so einen ›quasi-klinischen‹ Sterberaum herstellt, der dann nie wieder zum ›normalen‹ Wohnzimmer werden kann. Und es symbolisiert Tag für Tag, dass es – trotz der Betreuung zuhause – eben nicht möglich ist, den Patienten, wie es sein Wunsch gewesen wäre, auf seiner vertrauten Wohnzimmercouch sterben zu lassen. Die genannten Beispiele zur räumlich-dinglichen Anordnung – vom Kaffeegeschirr und den Handschuhen bis hin zur Schmerzpumpe und zum Pflegebett – zeigen, wie in der interaktiven Herstellung von privaten Sterbewelten die Dinge
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und Räume mitwirken, mithandeln, wenn man so will: als Aktanten (vgl. Latour 2007) in das Netzwerk des Sterbegeschehens eingebunden sind und in und durch die Praxis ihren eigenen, nicht unwesentlichen Teil zum guten oder schlechten Sterben im Privaten beitragen.
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ODER :
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DOPPELTE
Die Programmatik des guten Sterbens stellt darauf ab, dass der Sterbende ›nach Hause‹ geholt wird, weil die privaten lebensweltlichen Bezüge ein selbstbestimmtes, individuelles Sterben ermöglichen sollen, gesellschaftlich gewährleistet durch eigens dafür ausgerichtete Sterbe-Institutionen wie die ambulante Hospiz-/Palliativarbeit. ›Zuhause‹ ist dabei auf den ersten Blick ein Begriff, der in der Regel keiner weiteren Erklärung bedarf, er muss nicht weiter expliziert werden, er ist gleichsam sich selbst genug. Und weil das Wort, der Begriff diese Qualität hat, kann das eigene Heim, das Zuhause in unserer Kultur, in unserer Gesellschaft als symbolischer Raum mit ganz unbestimmten, allgemeinen Bedeutungen wie Geborgenheit, Sicherheit usw. versehen und als konkreter Ort mit je eigenen, höchst individuellen Erfahrungen verbunden werden. Zwischen dieser allgemeinen, abstrakten Ebene und der höchst individuellen Ebene liegt aber – wie wir zu zeigen versucht haben – das gesellschaftlich Typische des (W-)Ortes ›Zuhause‹ im Sinne eines symbolisch-materialen Privatraums mit je eigener raum-zeitlicher Ordnung und von ›Privatheit‹ als einer besonderen Erfahrungsqualität. Vor diesem Hintergrund zeigt sich der neuralgische Punkt dieses SterbenMachens zuhause: die zeitlich und symbolisch zu beschränkenden Grenzüberschreitungen des Privatheitsraums und dessen Umdefinition zum Sterbe-Heterotop (vgl. Stadelbacher 2016b). Das für die reflexive Moderne stehende ›Sterben zuhause‹ verweist darauf, wie die ›letzte sakrale Trennung‹ der Moderne (vgl. Foucault 1992) – die zwischen privat und öffentlich als dichotom sich gegenüber stehende gesellschaftliche Sphären – transformiert wird, indem das Private im institutionellen Sterben-Machen zuhause durch die lebensweltliche Zentrierung des Sterbens zum ›temporär erfahrbaren Anders-Ort‹ wird. Wie gezeigt, erscheint diese Transformation als riskant, sowohl mit Blick auf das Private als auch mit Blick auf das Sterben. Denn bei dieser umdefinierenden Grenzüberschreitung oder grenzüberschreitenden Umdefinition ist zu beachten, dass – mit Blick auf das Sterben – nicht jedes Heterotop (hier die räumliche Struktur der privaten Sterbewelt in Abgrenzung zum Kliniksetting) auch eine Heterotopie
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ist,11 also eine symbolisch-praktische Realisierung der Utopie des guten Sterbens. Damit ist gemeint: Nur weil das Sterben in den eigenen vier Wänden stattfindet – also z.B. im privaten Wohnzimmer als ›Anders-Ort‹ zum Patientenzimmer in der Klinik –, heißt das noch nicht, dass es automatisch ein gutes Sterben ist. Durch die Entgrenzung bzw. Hybridisierung von privaten und institutionellen Wirkräumen (vgl. von Hayek 2006) kann auch der Effekt eintreten, dass das Krankenhaus einfach ›nach Hause kommt‹ und das Sterben daheim nicht die erwartete private oder als privat inszenierte Erfahrung ist – was immer man sich darunter vorgestellt haben mag. Zugleich kann dadurch – mit Blick auf das Zuhause – auch die moderne Privatheits-Heterotopie als der symbolische ›Anders-Raum‹ zum öffentlichen Raum unterminiert werden. Foucault bezeichnet die symbolische, institutionelle und praktische Sphärenaufteilung in privat und öffentlich als »stumme Sakralisierung« in einer ansonsten entsakralisierten Welt (Foucault 1992: 37). Diese Trennung und mit ihr das Private als Schon- und Rückzugsraum droht nun beim Sterben zuhause nachhaltig ›beschädigt‹ zu werden. Umso wichtiger ist es für das gute Sterben und auch für die Zeit danach, dass im Privaten die fremde, von außen kommende Institutionenlogik nicht dominiert. Dies gilt nicht nur deshalb, weil für die Angehörigen nach dem Tod des Betreuten die Beziehung zum zuhause verstorbenen und jetzt im alltäglichen Lebenszusammenhang ›verlorenen‹, weil toten Anderen neu gerahmt werden und das zuhause Sterben-Machen als private Erfahrung gedeutet werden muss, sondern auch, weil der physische Raum ihres Zuhauses, die privaten Dinge wieder zu einem alltäglichen, sinnhaft auf das Weiterleben hin geordneten ›Lebens-Raum‹, zur alltäglichen Lebenswelt gemacht werden (können) muss. Konkret: Das Wohnzimmer als symbolischmaterialer ›Anders-Raum‹ der privaten Sterbe(ns)welt, als Sterbezimmer im Zuhause, muss wieder zum ›Anders-Raum‹ der privaten Lebenswelt werden können.
11 Wir beziehen uns bei der Unterscheidung von Heterotopie und Heterotop auf Brauns (1992). Mit Heterotopie bezeichnet er in Fortführung und Differenzierung des Foucaultschen Konzepts die symbolisch-praktische Dimension des sinnhaften Anderen und mit Heterotop die strukturelle Dimension der räumlich-dinglichen Anordnung, denn das Andere, Widerständige kann sich in einer symbolisch-materialen Symbiose zeigen, muss es aber nicht. Das heißt: Nicht jedes Heterotop, im Sinne eines strukturell-materialen Anders-Raumes, ist auch eine Heterotopie im Sinne einer anderen Wahrnehmung, Be-Deutung, Nutzung des Raumes – und umgekehrt muss nicht jede Heterotopie notwendig ein Heterotop sein.
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Die entscheidende Frage ist also, wie die unvermeidlichen Grenzüberschreitungen des Privaten beim Sterben-Machen zuhause prozessiert und gerahmt werden: Ob also durch die lebensweltliche Integration der professionellen Betreuung – bei Aufrechterhaltung der privatweltlichen Logiken und Wirkmächtigkeiten – ein individualisiert-privatisiertes Sterben ›gemacht‹ wird, oder ob (entgegen dem normativen Programm) durch das Sterben zuhause eine institutionelle Entgrenzung im Sinne von zeitweiser Kolonialisierung der Lebenswelt (vgl. Habermas 1987) durch das medizinische System befördert wird. Im ersten Fall – der Aufrechterhaltung der Privatheitslogik – kann das Zuhause als Kompensation des krisenhaften Sterbens im Krankenhaus fungieren und mit Blick auf das klinische Alternativsetting zur Normalisierungsheteoropie werden: Sterben kann als Teil des Lebens ein Stück weit ›normalisiert‹ werden.12 Im zweiten Fall – dem institutionellen Übergriff auf das Private – kann das Zuhause eher als Krisenheterotopie (Foucault 1992: 40f.) bezeichnet werden, und zwar in zweifacher Hinsicht: zum einen in Bezug auf das Sterben als erfahrbaren Prozess, der weiterhin krisenhaft bleibt, nur dass diese Krise nicht im Krankenhaus, sondern zuhause stattfindet; zum anderen in Bezug auf den privaten ›Anders-Raum‹ selbst, der in eine Krise gerät, in dem Sinn, dass die symbolische Bedeutung und Erfahrung von Raum, Dingen oder Beziehungen von einer ›fremden‹ Logik und Ordnung überfrachtet werden, wenn die institutionelle medizinische Logik so ins Private hinein- und übergreift, dass insbesondere für die weiterlebenden Angehörigen ihre ›wohnlichen Privatwelten‹ gefährdet erscheinen. Dann könnte man von einer in die Krise geratenen Heterotopie des Privaten sprechen. Diese Frage, ob durch das Sterben zuhause der moderne Gegen-Raum zum gesellschaftlichen ›Draußen‹ eine Normalisierungsheterotopie oder eine Krisenheterotopie wird, mitsamt den jeweils beobachtbaren nicht-beabsichtigten Nebenfolgen, Ambivalenzen, Paradoxien und Widerständigkeiten, wird immer empirisch, also in der Praxis vor Ort entschieden.
S CHLUSS So betrachtet erleben wir derzeit ein seit ca. 30-40 Jahren laufendes, großes gesellschaftliches ›Laborexperiment‹, das die Modernisierung des modernen Lebensendes betreibt und das Sterben für alle Beteiligten, den Sterbenden selbst, die Angehörigen, die beteiligten Sterbearbeiter zu einem zunehmend komplexen
12 Vgl. zur Analyse der ›Normalisierung‹ des Sterbens im stationären Hospiz unter Verwendung des Heterotopiekonzepts Heuer et al. (2014).
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Risikospiel werden lässt, mit durchaus ungewissem Ausgang. Denn auch das Sterben zuhause ist nicht unbedingt automatisch ein ›befriedetes‹ und immer schon ›besseres‹ Sterben, vielmehr kann das Projekt Sterben konsequenterweise auch unter der Programmatik des guten Sterbens misslingen. Und mit Blick auf das Zuhause scheint bereits jetzt absehbar: Als mythischer Anders-Raum wird es sich – nicht zuletzt auch gerade durch das dortige Sterben – weiterhin verändern und damit verbundene Konflikte werden nicht verschwinden. Vielleicht werden wir erst dann, wenn wir irgendwann selbst als Sterbende nach Hause kommen, feststellen, dass unser Zuhause – eben weil ›zuhause‹ immer schon einen mythischen Raum bezeichnet – in seiner konkreten Gestalt schon längst nicht mehr dem entspricht, was wir uns heute darunter vorstellen.
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Einschluss der Ausgeschlossenen Konturen des Sterbens im Hospiz D ORIS L INDNER
ANNÄHERUNGEN Seit geraumer Zeit haben sich im deutschsprachigen Raum Hospize als andere Orte des Sterbens etabliert. Es sind dies Orte, wo Sterben und Tod vom Leben erzählen, Orte, die vom ersten Tag ihrer Bestimmung weder Sterben negieren, noch auf Heilung setzen. Das Hospiz ist vielmehr ein Ort, wo ausdrücklich gestorben werden darf, wo Rationalität auf Emotionalität trifft, Sterben ein Spannungsverhältnis zwischen Distanz und Nähe begründet und funktionale, auf ganzheitliche Linderung der Schmerzen ausgerichtete Zielvorstellungen des Hospizpersonals mit subjektiven Bedürfnissen und individuellen Biographien Sterbender (und ihrer Angehörigen) in Einklang gedacht werden können. Es ist dies folglich ein öffentlicher, aber auch sehr intimer Ort, der in vielerlei Hinsicht von kulturellen, sozialen und historischen Komponenten, aber auch politischen und ideologischen Konzepten geprägt ist, die ihrerseits wiederum ihren Niederschlag in menschlichen Raumbeziehungen und konkretem raumbezogenen Handeln finden. Hospize sind sowohl Orte der Verortung und Begegnung, Orte des Lebens als auch Orte der Distanzierung, Orte des Ausgliederns von Menschen aus einer sozialen Ordnung – ein Antagonismus und eine versteckte Wahrheit, die für das Hospiz konstitutiv scheinen. Erst durch das Handeln und Wirken Sterbender und Helfender auf einer Bühne als Ort des Geschehens, auf der das Unaussprechliche zur Aussprache drängt und im Dazwischen von unterschiedlichen Akteuren und Zuschauern als etwas Fremdes zur Entstehung gebracht werden kann, das Raum und Zeit in Form emergenter Strukturen hervorzubringen vermag, wird das Hospiz zu jenem sozialen und kulturellen Ort, den es hier in weiterer Folge zu untersuchen gilt.
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Entlang der heterotopischen Figuration der Foucault’schen Anderen Räume (1967) sind Hospize zunächst real bestimmbare Gegenorte, die sich in erster Linie durch ihre vollkommene Andersartigkeit im Verhältnis zum normalen Raum des Alltags, zu gewöhnlichen und routinierten Gesellschaftsbereichen und in Bezug auf uns vertraute räumliche Organisationen auszeichnen (vgl. Tafalozi/Gray 2012: 9). Als solche sind sie der gesellschaftlichen Wirklichkeit gegenübergestellt, um zwischen bestehenden sozialen Ordnungen und anderen Sicht- und Denkweisen Möglichkeiten der Neuorientierung zu eröffnen. Als ›Orte der InFrage-Stellung‹ bestehender Wirklichkeitskonstruktionen beinhalten sie das Moment der Veränderung einer räumlichen und damit alternativen Gesellschaftsordnung; in ihrer Spezifik (be-)steht ihr Realisierungsanspruch jedoch nicht per se für die ganze Gesellschaft, wiewohl ›andere‹ Räume in einem funktionalen Verhältnis zu ›normalen‹ Räumen beschrieben werden. In ihrer Beschaffenheit als »Außenräume« nehmen sie sich aus Räumen einer bekannten Ordnung heraus, indem sie diese »auslöschen, ersetzen, neutralisieren oder reinigen« (Foucault 2005: 11), sich jedoch zugleich auf ihre Umgebungsorte beziehen. Das Verbindungselement der Räume ist ihre Verschiedenartigkeit an sich und ihr Bezug auf die sie umgebende Raumordnung (vgl. Klaas 2008: 265). Gegenorte unterlaufen die herrschenden Diskurse, höhlen diese von innen her aus und sind in Gestalt von Heterotopien als Konstrukte erkennbar, in denen Bruchstücke größerer Ordnungen entstehen können. Die funktionale Beziehung zwischen der gesellschaftlichen Ordnung als ›normaler Raum‹ und dem anderem Raum drückt sich mitunter in sehr heterogenen Formen aus: in subversiven, systemerhaltenden, neutralisierenden – oder in ganz ›anderen‹ (vgl. Wiechens 1997). Foucault nennt unterschiedliche Grundsätze, die er mit Heterotopien verbindet. Sie werden als Versuch gewertet, sich anderen Räumen und Orten aus verschiedenen Perspektiven zu nähern und sie zu einem Gesamtbild zusammenzufügen. So sind Heterotopien etwa dadurch charakterisiert, mehrere Räume an ein und demselben Ort zusammenzubringen, die unvereinbar sind und oft in Verbindung mit besonderen zeitlichen Brüchen stehen (vgl. Foucault 2005: 14). Bisweilen wird gerade das Hospiz in seiner symbolisch-diskursiven Darstellung als »hybrider Sterberaum« (von Hayek 2006: 245f.) präsentiert, in dem sowohl Leben als auch Sterben möglich ist, als Ort der familialen Gemeinschaft, der Begegnung mit anderen, aber auch mit sich selbst in Konfrontation existentieller Zeit- und Lebensfragen und als Ort eines kollektiv, verloren-verdrängten TodesGedächtnisses; als ein Ort also, der in Verbindung und dennoch im Widerspruch zu allen anderen Orten steht. Das Hospiz ermöglicht Räume, die sich mit je eigenen Eigenschaften und Vorzügen aufladen und eine heterotopische Wirklichkeit erzeugen, die gewissen eigenen Regeln folgt (vgl. Foucault 2006: 317).
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Unter diesem Gesichtspunkt, dem eingelagerten Moment eines Versprechens auf Orte, die anders sind als die vorgefundenen, können Hospize als Gegenorte in Beziehung gesetzt, analysiert und neu akzentuiert werden. Ob Hospize mit dem Begriff der Heterotopien tatsächlich belegt werden können und was das Andere an dem Andersort ausmacht, soll im Zuge des Beitrages in einer diskursiven Annäherung verdichtet werden. Beleuchtet werden sowohl normative Diskurse, Praktiken, Vergegenständlichungen und Subjektformierungen, die ihre Andersartigkeit festlegen, als auch ideologische Phänomene und ihre Wirkungsweise im Zuge der Debatte um ein würdiges, selbstbestimmtes Sterben. Dazu wird zunächst das Beziehungsgefüge skizziert, in dem sich Sterben und Tod im Kontext veränderter Gesellschaftsbedingungen bewegen. Im Anschluss an die gezeichneten Ausführungen soll der Versuch unternommen werden, das (Sterben im) Hospiz entlang heterotoper Grundsätze vorzustellen, um Erkenntnisse alsdann in Form einer Extrapolation in die Zukunft zu resümieren. Ein Versuch bleibt dieses Unterfangen allemal, denn jeder Rückgriff auf die Heterotopologie ist ein kühnes Unterfangen, hat Foucault doch lediglich eine bruchstückhafte Theorie vorgelegt, deren Offenheit wohl gleichzeitig ihre größte Kritik ist.
M OMENTAUFNAHMEN : S TERBEN UND T OD DER G EGENWART Gemäß den kulturellen Tendenzen der Gegenwart werden die Thematisierung des Todes und die Prozesse des Sterbens in einer Reihe von soziologischen Zeitdiagnosen begründet und empirisch belegt. Zu den geläufigen Thesen gehört die Annahme einer sich allmählich entwickelnden neuen Institutionalisierung und Professionalisierung von Tod und Sterben, die vor allem in Studien über Hospize und über die Hospizbewegung bekräftigt wird (vgl. u.a. Pfeffer 1998, 2005; Dreßke 2005; Lindner 2005; von Hayek 2006; Schneider 2014). Diese neue Institutionalisierung zeigt sich vor allem darin, dass spezialisierte Einrichtungen entstehen und sich neue Expertenrollen für die Begleitung und Betreuung dieser letzten Lebensphase herauskristallisieren (vgl. Streckeisen 2001: 36). Sterben wird übersetzt in spezifische Organisationspraxen und ortsgebundene Routinen und wirft die Frage auf, wie es innerhalb dieser normativen Setzungen in die alltägliche soziale Ordnung zu integrieren ist (vgl. Nassehi 2004: 89). Der Hintergrund dieses Bildes ist aus Motiven gefertigt, die in der institutionellen Einbettung Sterbender ein Synonym für die stille Ausgliederung und das Unsichtbar-Schalten von Sterben und Tod sehen, eine der Ursachen für die lange Zeit geltende These von der Verdrängung des Todes (vgl. Knoblauch/Zingerle
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2005a: 16).1 Der Vordergrund dieses Bildes hingegen, das den öffentlichen Diskurs entscheidend prägt, setzt sich aus Motiven zusammen, die erst in der jüngsten Gegenwart entstanden sein sollen und der Verdrängung einer These des Todes vehement widersprechen: Gemeint ist die Aufwertung des Todes mit einer umfassenden Subjektivierung und Psychologisierung des Todes, an deren Ende die Akzeptanz des Sterbens steht. Die »Bewegung der Todesbewusstheit« (ebd.) mündet in Versuchen, dem Tod den Schrecken zu nehmen, Sterben als friedlich, gut oder still zu bewerten und den Verstorbenen im Tode zu verklären. Diese Überhöhungen und Überformungen zeigen eine Seite der Medaille, die Sterben vom Tod entkoppelt und nicht mehr die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Todes primär zu beantworten sucht, sondern die Frage nach dem ›Wie (und Wo) wollen wir sterben‹. Dazu gehören die normativen Orientierungen an Zielen der persönlichen Selbstverwirklichung im Sterben, ferner die ästhetische Einstellung gegenüber dem eigenen Leben, dem guten Leben, das in einem guten Sterben münden soll. Sie zeigen aber auch eine andere Seite der Medaille, die mit zentralen Topoi menschlicher Daseinsvergewisserung in modernen Gesellschaften korrespondiert: Selbstbestimmung und Autonomie, die den öffentlichen Diskurs um ein würdevolles Sterben wesentlich (mit-)bestimmen. Zu den geläufigen Thesen gehört nun auch, dass die subjektive Aneignung des Todes zum einen privatisiert, zum anderen häufig in gesellschaftlich randständigen Institutionen erfolgt (vgl. ebd.: 22). Zwangsläufig ändern sich mit dem Wandel des Todesbewusstseins und der einhergehenden Aufwertung des Todes nicht auch die institutionellen Bedingungen des Sterbens, sie tragen jedoch das Moment der Veränderung in sich. Wichtig erscheint, dass zugleich mit dem Interesse, den Tod ins Bewusstsein zu rücken, parallel auch jene kulturelle Vorstellung herangereift ist, dem Sterben wieder Raum zu geben. Übersetzt wird diese Idee mit dem Leitgedanken des guten Sterbens, eine Entwicklung, die vor allem durch die Hospizbewegung getragen wird. Der Hospizbewegung geht es um die Verwirklichung eines menschlichen Grundrechts, Sterben (als Teil des Lebens) bis zum Ende leben zu können. Im Hintergrund dieses Gedankenganges steht die wortgewaltige Forderung, dass zu einem ›guten‹ Leben (und nicht zum guten Tod!) ein ebensolches Sterben gehört. Damit einher geht die implizite Aufforderung zur Bewusstseinsbildung, die sich in erster Linie aus humanitären Defiziten
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Meines Erachtens wird heute unter ›Verdrängung‹ fast ausschließlich das Sterben verstanden. Die gesellschaftliche Tendenz im Umgang mit Sterbenden macht deutlich, dass Sterben als Prozess möglichst unauffällig (indem man Sterbende in Institutionen verlagert) und ohne emotionale Verunsicherung (der Umgang mit Sterbenden wird als suspekt und peinlich empfunden) vor sich gehen soll (vgl. Lindner 2005: 82).
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im Umgang mit Sterbenden speist. Damit der Ruf nach Einhaltung von Menschenrecht und Menschenwürde nicht als Widerhall verstummt, verlangt es konkrete Orte, die symbolisch für die Gesamtgesellschaft Ideale des guten Sterbens vertreten und diese normativ umzusetzen versuchen. Ihnen kommt die Aufgabe zu, das Fehlen selbstbestimmter Räume durch den sukzessiven Ausbau entsprechender Strukturen und Einrichtungen zu kompensieren. Entgegen aller bisherigen Intentionen, Sterben unsichtbar zu schalten, sind mit der Etablierung stationärer Hospize nun Raum und Ort evident, in dem aus dem sozialen und kollektiven Gedächtnis Ausgeklammertes wieder erscheinen und sich als Bruchstelle im Gegebenen deutlich machen kann. So breit gefächert die empirischen Betrachtungen und Erkenntnisse um Sterben, Tod und Trauerprozesse mittlerweile sein mögen, so irritiert doch, das in der Konfrontation mit der Todesproblematik eine handlungsorientierte, systematische Auseinandersetzung mit der Bedeutung des Sterbeortes als »gelebter Raum« (Lefèbvre 1991: 33) ein Schattendasein führt. Dabei geht es nicht in erster Linie um dessen Funktion und Aufgabe für die Gesellschaft, sondern darum, den Ort als für Individuen bedeutsam und emotional besetzt wahrzunehmen, der einerseits soziales Handeln rahmt, anderseits symbolisch eine Anleitung für alltägliche Sinngebung zur Verfügung stellt (vgl. Bormann 2001: 250). Das mag zum einen daran liegen, dass die im Zuge tiefer Wandlungs- und Ausdifferenzierungsprozesse etablierten Sterbeorte (vorzugsweise Krankenhäuser, Alten- und Pflegeheime) und die damit verbundenen gesellschaftlichen Routinen und Praxen bislang in der Öffentlichkeit negativ rezeptiert wurden und eine sachliche Auseinandersetzung auf vielen Ebenen erfolglos blieb.2 Zum anderen konnten sich Hospize und andere Einrichtungen zur Betreuung Sterbender aufgrund dieser vielfach kritisierten, unwürdigen Versorgungs- und Sterbepraxen als andere Räume innerhalb bestehender sozialer Ordnungen überhaupt erst etablieren, in dem ein neuer Sinnhorizont geschaffen und ein Rahmen für die aufbrechenden Gefühle geboten wurde. Die Auseinandersetzung galt in erster Linie nicht den Orten des Sterbens als Schauplätze von Sterbepraxen und Routinen; die eigentliche Auseinandersetzung galt den fehlenden Räumen, die es ermöglichen, Sterben entlang eigener Vorstellungen und Bedürfnisse zu gestalten. In gewisser Weise hat sich dieser Anspruch in sein Gegenteil verkehrt, sind es nicht mehr
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Man denke nur an die Begriffe »Sterbeghettos« oder »Sterbekliniken«, die mit der Debatte um die Einrichtung von Hospizen eng verwurzelt sind oder die Diskussion um die aktive Sterbehilfe, die in diesem Zusammenhang neu entflammte (siehe dazu auch den Film Noch 16 Tage – Eine Sterbeklinik in London von Siegfried Braun und Reinhold Iblacker, ausgestrahlt am 10. Juni 1971 im ZDF).
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vordergründig die fehlenden Räume, die es zu etablieren gilt, sondern die Orte des Sterbens selbst, die (nun wieder) im Mittelpunkt des Interesses stehen. Mit der Hospizbewegung, die anfänglich die gesellschaftlichen Verhältnisse zum Thema machte und nun selbst im Mittelpunkt des Interesses steht, wird Hospizen ein Versprechen abgerungen: Orte zu sein, die anders sind als die bisherigen Sterbeorte, die im positiven Sinne die neu zu konstituierenden Verhältnisse als alternativ zu den bestehenden Sterbenszuständen darstellen, als eine Möglichkeit des Einzulösenden, auch wenn die Einlösung der Ziele vielleicht nie oder nur in begrenztem Umfang erfolgen kann. Diese definitorische Offenheit des Begriffes der Heterotopie, das ihm eingelagerte Moment der Verheißung und sein Potential als Hoffnungsträger bieten die Möglichkeit zur Reflexion und Problematisierung von gegebenen Normen, stellen es aber gleichermaßen in Frage: Wie kann das Hospiz als reales gesellschaftliches Widerlager wirksam werden? Welchen Zweck erfüllt es und welches Potential für Veränderungen beinhaltet es?
H OFFNUNGSTRÄGER . D IE DISKURSIVE K ONSTITUTION DER H OSPIZE ALS O RTE IDEALEN S TERBENS Hospize3 konstituieren sich nicht wie andere institutionelle Einrichtungen zur Betreuung und Pflege sterbender, zumeist alter, moribunder Menschen auf der Basis zentraler, unauflösbarer Widersprüche, da Leben und Sterben einander nicht unmittelbar ausschließen. Orientierungen leiten sich am Sterben und nicht ausschließlich am Leben ab. Dieses Ausbilanzieren zumeist in der Tat konträrer Handlungsmaxime findet seinen Niederschlag in vielen Aspekten, die mit dem
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Stationäre Hospize sind in der Regel eigenständige Einrichtungen mit eigenen Organisationsstrukturen, die sich durch einen erweiterten pflegedienstlichen Betreuungsstandard (Palliative Care) sowie durch eine interprofessionelle Angebotsstruktur, inklusive der Betreuung und Begleitung durch Ehrenamtliche, auszeichnen. Davon zu differenzieren sind Palliativstationen, die in Krankenhäusern integriert und durch die Krankenhausstruktur geprägt sind. Während die Begriffe ›Stationäres Hospiz‹ und ›Palliativstation‹ eher die Organisationsstruktur und die Finanzierung umschreiben, wird mit ›Hospiz‹ vielfach die Idee, die Bewegung, die Philosophie verbunden. In Deutschland legen die stationären Hospize den Schwerpunkt ihrer Betreuung auf den pflegerischseelsorgerlichen Bereich, eine palliativmedizinische Betreuung ist im Stellenplan meist nicht vorgesehen. In Österreich hingegen ist die medizinische Betreuung wesentlicher Teil der Angebots- und Versorgungsstruktur.
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Hospiz, insbesondere mit der Philosophie der Hospizarbeit, in Einklang zu bringen sind. Hospize verstehen sich nicht lediglich als Orte mit bestimmten Funktionen; ihnen liegt ein umfassendes hospizliches Sterbekonzept4 zugrunde, das durch eine dem Leitbild entsprechende Sterbepraxis verlebendigt wird. Eine diesen Ansprüchen Folge leistende Sterbebegleitung bedingt andere Formen des Umgangs und der Kommunikation und handlungsweisender Orientierungsmuster, da eingeübte (d.h. am Leben ausgerichtete) Routinen in den Leerlauf geraten. Dies setzt – bedingt durch die Akzeptanz des Sterbens – die Ausdifferenzierung von professionellen Rollen und insbesondere einer Sterberolle, die vor allem einen expliziten Bewusstseinszustand und Kommunikationsfähigkeit fordert, grundlegend voraus. Parallel dazu werden neue Macht- und Herrschaftsverhältnisse benötigt sowie Formen des Umgangs, die sich stark an der Biographie und der Lebenswelt des Sterbenden orientieren, um Sterben in eigene Deutungs- und Sinnkonstruktionen integrieren zu können. Im Modus einer strukturellen Kulturentwicklung sind Hospize gleichzeitig gefordert, gesellschaftlich geprägte Gefühlsmuster im Umgang mit Tod und Trauer in einer dem Leitbild angepassten Formensprache aufzufangen und zu übersetzen, der Trauer Raum zu geben und entsprechende Deutungshorizonte zu eröffnen. Die mit der Institutionalisierung des guten Sterbens einhergehenden normativen Erwartungshaltungen müssen daher in eine entsprechende Organisationspraxis umgesetzt werden. Im Hospiz erfolgt dies stark ideologisiert: Gleichsam wie Hoffnungsträger stehen Hospize als Laboratorien des guten Sterbens (vgl. Dreßke 2005: 8) stellvertretend im Schlaglicht der Gesellschaft und sollen die Frage, wie Mitglieder aus einer durch den Tod bedrohten sozialen Ordnung entlassen werden, gesamtgesellschaftlich zufriedenstellend lösen. Über ein Wie herrscht schnell Einigkeit; befreit aus dem jahrzehntelangen Schweigen und Tabuisieren soll die Umsetzung zentraler Handlungsorientierungen im Sinne der Anvisierung einer angemessenen Sterbebegleitung erfolgen. Die neuen institutionellen Verhältnisse sollen sich nicht an eingespielten Praxen und der sozialen Ordnung der Krankenhäuser orientieren, sondern sich bewusst davon abgrenzen (wiewohl diese im Hintergrund als Initialzündung ständig wirksam und wegweisend sind). Zu sehr sind Wissen und Erfahrungen im Umgang mit Patienten in
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Dieses Sterbekonzept ist mehrperspektivisch, da es nicht nur die körperliche Ebene betrifft (vor allem Schmerzlinderung durch palliative Maßnahmen), sondern auch psychische (z.B. Umgehen mit Emotionen wie Ängsten, Zorn, Trauer), soziale (Aufrechterhalten sozialer Kontakte und Netzwerke), transzendente (z.B. Auseinandersetzung mit Fragen nach den Sinn des Sterbens) und sachliche Aspekte (z.B. Raumgestaltung) miteinschließt (vgl. Wittkowski/Dingerkus 2005).
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›Standardkrankenhäusern‹ lebendig: dass der baldige Tod zumeist einen sukzessiven Abbruch der sozialen Beziehungen bedeutet, dass Interaktionen ausgewichen und der Mensch zum Objekt medizinisch-pflegerischer Interventionen wird, dass nicht nur die Identität, sondern auch die Würde des Sterbenden verloren gehen, letztlich der soziale Tod noch vor dem physischen eintritt. Der sterbende Patient ist im Hospiz eben nicht nur eindimensional und auf das Körperliche reduziert; ihm ist vielmehr im Lichte eines ganzheitlichen Sterbekonzeptes zu begegnen, das sich vordergründig aus Kommunikations- und Zuwendungspraktiken speist und dem ethisch geschuldeten Motiv einer Identitätssicherung zweckdienlich ist (vgl. Dreßke 2008: 220f.). Soll Sterbebegleitung angesichts dieser Idealisierungen und normativen Erwartungen gelingen, müsste folglich bei jedem Sterbenden ermittelt werden, wie er persönlich zu seinem Leben Stellung bezieht, welche Gedanken ihn angesichts des nahenden Todes bewegen und welche Art von Beistand und Begleitung sich daraus ergeben. Dies erfordert zum einen vom Sterbenden ein aktives Mitarbeiten: er muss in der Lage sein, dem Helfer seine subjektiven Gedanken und Gefühle mitzuteilen, um ein unmittelbares und persönliches Vertrauensverhältnis zu entwickeln, er muss also in Anbetracht seiner außergewöhnlichen Lebensumstände noch hohen Ansprüchen Folge leisten. Dadurch sind Sterbende nicht nur passive Empfänger von Dienstleistungen, sondern selbst wesentlich an der Herstellung einer angemessenen Sterbesituation beteiligt. Zum anderen bedingt das Herstellen eines guten Sterbens Höchstleistungen und besondere Kenntnisse und Fähigkeiten auch und insbesondere auf Seiten des Hospizpersonals. Arbeit am Sterbenden heißt nicht lediglich, Trost spenden, da sein und aushalten; das entspricht zwar der einen Seite der Medaille, die das Sterben als positiv zu deuten versucht, aber nicht der einzigen Realität. Vielmehr orientieren sich (routinierte) Pflegehandlungen des Personals am Verlauf des sterbenden Körpers, der einerseits versorgt und gepflegt werden muss, andererseits vor allem schmerzfrei sein soll, um den Tod würdevoll zu begegnen (vgl. Nassehi/Pohlmann 1992; Dreßke 2005; Lindner 2005). Sieht man nun genauer hin, entpuppt sich das Wie letzten Endes als selbstüberfordernd. Sterbebegleitung im Sinne der Hospizphilosophie kann nur angemessen erfolgen, wenn der Sterbende angesichts des nahenden Todes sein subjektiv erlebbares Sterben in »interaktiven, Intersubjektivität herstellenden Prozessen« (Knoblauch/Zingerle 2005a: 20) bewältigen kann. Notwendig ruft dies die Palliativmedizin auf den Plan, die körperliche Schmerzen lindern soll, fordert Juristen auf, Willensäußerungen der Patienten zu Papier zu bringen, lässt Seelsorger als Medium religiöser Kommunikation (wieder) zunehmend an Bedeutung gewinnen und Ehrenamtliche als Träger von Normalität und Alltäglichkeit zu einem konstitutiven Eckpfeiler in der Hospizversorgung avancieren. In dem
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Maße, in dem Sterbende zu individuellen Entscheidungsträgern vereinzelt werden und das Gelingen eines guten Sterbens von der ›Kommunikationsfähigkeit‹ abhängt, wächst demnach auch die Abhängigkeit palliativer Behandlungskonzepte, die so gleichartig in die Biographie aller Sterbenden ragen, dass sich der zunächst freigelegte Entwurf eines individuellen Sterbeplans wieder anzugleichen beginnt. Mehr noch als die semantischen Strukturen der Kommunikation (vgl. ebd.) ist es die durch Schmerzlinderung hergestellte Zuwendungsfähigkeit des Patienten, die eine starke Verschränkung mit dem medizinischen System nahelegt. Den Kern dieser Argumentation folgt auch Heidemarie Winkel, wenn sie schlussfolgert, dass durch die (palliative) Hospizarbeit eine Ausdifferenzierung des Gesundheitswesens stattfindet und nicht, wie anfangs intendiert, eine Entinstitutionalisierung mit dem Ziel der Re-Integration von Sterben und Tod in Alltag und Alltäglichkeit (vgl. Winkel 2005). Nun ist es unschwer zu erkennen, dass die Sterbebegleitung im Hospiz in einen größeren Rahmen eingebettet liegt, zwischen dem Zusammenwirken der Helfer und den Sterbenden sowie in Raum und Zeit. Das Hospiz wird zur Bühne, auf der kulturelle und soziale Normen ausgehandelt werden und würdevolles Sterben inszeniert wird; es wird aber auch zu einem lebendigen, sozialen Raum, in dem Begegnungen am Rande des Zentrums der Leitdiskurse stattfinden, die nicht selten und im doppelten Sinn des Wortes ›dramatisch‹ geprägt sind. Wie das Sterben im Hospiz szenisch umgesetzt wird, soll nun entlang der Foucault’schen Grundsätze nachgezeichnet werden.
Z WISCHEN EXISTENTIELLEN K RISEN UND ALLTAGSROUTINEN : H OSPIZE ALS K RISENHETEROTOPIEN In seiner Analyse der Heterotopien nennt Foucault die kulturelle Bedingtheit als immanenten Bestandteil einer Heterotopie, da sie in jeder Kultur zu finden ist und damit eine Konstante bildet (vgl. Foucault 2006: 322). Dieser Grundsatz wird in den Krisen- und Abweichungsheterotopien verortet und entfaltet. Spezifisch in Form der Krisenheterotopie befinden sich Menschen in Übergangssituationen (ebd.), in Krisenzuständen also, um diese zu bewältigen. Insofern können auch Hospize als Krisenräume, als Orte des Übergangs (Schwelle vom Leben zum Tod) charakterisiert werden. Im Sterben als wohl bedeutsamste Krisenerfahrung des Menschen verdichtet sich sein ganzes Leben; gerade an diesem Gipfelpunkt des Lebenszyklus, an der radikalen Grenzsituation Sterben, wird die Sinnfrage aufgebrochen. Sterbende begreifen ihre Situation häufig als ein ›Verrücktsein‹ aus ihrer normalen Wirklichkeit – das Gefühl, ›in der Welt zu sein‹
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wird brüchig, während die Vorstellung, ›aus der Welt zu sein‹, kaum vorstellbar ist (vgl. Lindner 2005: 212f.). Auf den ›Schwellen‹ vom Leben zum Tod spielen sich zahlreiche Dramen und (innere) Dialoge ab, aus denen es kein Entrinnen gibt. Sterbende sind in den Krisenräumen gefangen, sie können diese nur durch den Tod verlassen. Der Krisenraum wächst zudem über die ›Schwelle‹, über die Bühne hinaus und involviert gezielt die Anderen, die Zuschauer, die Angehörigen in den Prozess des Sterbens. Das Hospiz erwächst zu einem vielschichtigen Raum, zum Modell des modernen Sterbens, in dem nicht nur Sterbende mit ihren Tod konfrontiert werden, sondern auch Zuschauer angehalten sind, in einen Lernprozess zu treten. Sterben als Krisenerfahrung regt nicht nur grundsätzlich dazu an, über das Verhältnis zur Welt, über das ›In-der-Welt-Sein‹ zu reflektieren; mit Blick auf das Sterben in einer institutionellen Einrichtung wie dem Hospiz erscheint zunächst vor allem der Umgang mit der ›Lebenskrise Sterben‹ in interpersonellen Interaktionssituationen bedeutsam, aber auch, wie institutionelle Handlungsorientierungen und -strategien die Sterbepraxis konstituieren. Ferner muss entlang der zeitlichen Dimension gefragt werden, wie es im Hospiz gelingen kann, durch den sukzessiven Verlust der Handlungsfähigkeit unter Beibehaltung der Maximen Autonomie und Subjektivität Sicherheit herzustellen. Denn die Prognose des sicheren Todes lässt langfristige Lebensorientierungen nur in sehr begrenztem Ausmaß zu;5 vielfach ist das Herstellen von Alltäglichkeit und Normalität durch die Kontingenzen des Sterbeverlaufs bedroht (vgl. Dreßke 2005: 20). Diese radikale Konfrontation mit dem Tod, die ein Bleiben und Aushalten bis zum Ende fordert, nimmt bestehenden Wissensordnungen ihre Legitimation und lässt Erfahrungen einer Handlungssicherheit durch den Tod immer wieder als erodiert erleben. Auch wenn die beiden Formen Bleiben und Aushalten nun jeweils neue Probleme aufwerfen, die mit der praktischen Einlösung ihres jeweiligen Anspruchs zusammenhängen, so ist ihre bloße Präsenz bereits ein Indikator für Bemühungen, Dasein und Achtsamkeit am Lebensende von Menschen. Diese Formen sind somit als grundlegende Prinzipien des Handelns in dieser spezifischen Hilfesituation anzuerkennen. Während Bedürfnisse in beruflichen Beziehungen tendenziell unberücksichtigt bleiben, weshalb Handlungsorientierungen beruflicher Helfer in der Regel
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Diese Ausrichtungen auf das Leben hin stehen im Gegensatz zu Orientierungen, die sich auf den Zustand und das ›So-Sein‹ nach dem Tod richten. Zu solchen Orientierungen etwa gehören Vorstellungen und Regelungen hinsichtlich Bestattung und Grabgestaltung, die gerade angesichts der Präsenz einer Person im Hospiz nachdrücklich planbar sind.
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als universalistisch normiert identifiziert werden (vgl. Parsons 1994), zeigt das Personal im Hospiz vor allem interaktionsbezogene und körperbezogene Normalisierungsstrategien im Umgang mit Sterbenden, die aus der Tendenz zu einer partikularistischen Handlungsorientierung resultieren (vgl. Pfeffer 1989: 65). Ihre Hilfeleistungen setzen, ähnlich wie jene aus primären Netzwerken (etwa Familie, Verwandtschaft und Freundschaft) an persönlichen Sozialbeziehungen an. Ihre Legitimation erfahren sie durch die »Idee einer Familie« (ebd.), die sich in Notzeiten konstituiert. Die Handlungslogik körperbezogener Normalisierungsstrategien dient dazu, Patienten nicht an ihrem beschädigten Körper(-bild) zu bemessen, sondern als Menschen wie ›Du-und-ich‹ mit dem gleichzeitigen Anspruch, den Status ›Einer-unter-Gleichen‹ zu überwinden. Auch im Hospiz bleibt Sterben ein körperlicher Vorgang, dessen Steuerung sich am körperlichen Verfall gemäß der »Idealisierung eines natürlichen und friedlichen Sterbens« (Dreßke 2008: 233) orientiert. Im Hospiz drängt sich der körperliche Verfall nahezu überall auf, ist ständig und immer omnipräsent, auch wenn das Körperliche (respektive: der körperliche Verfall) durch Mühen des Personals kaschiert wird. Stefan Dreßke spricht in diesen Zusammenhang von dem »Ideal des körperlosen Sterbens« (Dreßke 2005: 87) in Anlehnung an Glaser und Strauss (1974), die in den Praktiken des Pflegepersonals im Umgang mit Ekel auslösenden, körperlichen Situationen die Strategie der rituellen Täuschung fahren, Normalität vorspielen. Der sterbende Körper im Hospiz verliert seine funktionale Integrität und seine organische Zusammengehörigkeit und weicht so von der Norm eines gesunden oder lediglich auf eine Zeitdauer begrenzten, kranken Körpers ab. Hinzu kommt, dass es sich bei einer fortschreitenden, unheilbaren Krankheit nicht um eine einmalige, vorübergehende Krisensituation handelt, sondern um eine Folge existentiell bedrohlicher Erfahrungen. Umgekehrt verfügt das Hospizpersonal üblicherweise wie ›selbstverständlich‹ über Autonomie, Integrität und Würde (auch wenn diese Zuschreibungen realiter nicht immer vorliegen). Ein solches Überlegenheitsbild bedingt gewissermaßen, das Ungleichgewicht der Gefühle nicht zum Ausdruck kommen zu lassen. Während Sterbende durch den Verlust der funktionalen Integrität den Tod rational ins Auge sehen und akzeptieren müssen, dass der Körper auch Grund zur Ablehnung geben kann, sind Betreuende aufgefordert, den Verlust der Integrität auf Beziehungsebene durch Bemühungen von Normalität wiederherzustellen. Wichtig erscheint dabei die minimale Differenz zwischen Heterotopie und Utopie angesichts des sterbenden Körpers, der etwas preisgibt, was jeder sehen kann, und was zugleich nicht gesehen werden darf.
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Mit der Zeit gebrochen: Körperlos im Schwellenraum Nicht nur die Krisenerfahrung, sondern insbesondere die fehlende lebenszeitliche Perspektive des Sterbenden ist eine Eigenschaft, die Hospize mit einem Gegenort verbindet. Hier wird die enge Bindung von Heterotopien an Heterochronien erkennbar (vgl. Foucault 2006: 324), in dem die Funktion an Krisenzeiten gebunden wird.6 Die Merkmale des Sterbeortes, »die an Raum und Zeit gebundenen symbolischen und materialen Gegebenheiten als konkrete institutionalisierte ›Verörtlichungen‹« (Schneider 2014: 120) haben dabei zum einen wesentlichen Einfluss auf den Sterbeverlauf; zum anderen erfahren die zeitlichen Strukturen in diesen Räumen eine andere Bedeutung, da Zeit hier nicht primär den Wert einer positiven Veränderung im Sinne von ›machbar‹ und ›planbar‹ beinhaltet, sondern vordergründig ein Zu-Warten auf den Tod, das Bleiben und Aushalten voraussetzt. Dies führt zu einem Zeitbewusstsein und zu handlungsorientierenden Deutungen des Geschehens, die eine andere Ideologie der sozialen Prozesse bedingen. Insbesondere ist Zeit für den Sterbenden ein knappes Gut, da sein Handeln nicht mehr in eine feste Ordnung gebunden ist und die Sterberolle andere Anforderungen an die Verwendungsmöglichkeiten der Zeit stellt. Zwar ist der Sterbende auch im Hospiz an einen durch die Organisation vorgegebenen Rhythmus bzw. an eine Zeitstruktur gebunden, jedoch ist er insgesamt von einer gesellschaftlich und kulturell geformten Tagesordnung ausgeschlossen bzw. ihr weit weniger unterworfen, da diese (in seinem Fall) ihre normative Kraft verliert. Für Sterbende erfolgt der »Bruch mit der traditionellen Zeit« (Foucault: 2006: 324) beim Übergang in das Hospiz. In den meisten Fällen geschieht der Wechsel nahtlos von einer Institution in die nächste, werden Patienten in der Regel aus dem Krankenhaus entlassen, oft begleitet vom Echo der Worte »es ist nichts mehr zu tun«. Das Hospiz sieht dies gewiss nicht so, Zeit wird hier anders ausbuchstabiert, weit weniger im Sinne von Zeit-Verschwendung. Die verbleibenden Tage oder Wochen laden alle Sterbenden grundsätzlich dazu ein, über das Leben zu bilanzieren, Rückschau zu halten und Unerledigtes zu einem Ende zu bringen. Die Herstellung einer Zukunft besitzt keinerlei Relevanz, da begrenzt Möglichkeiten offenstehen. Die Vergegenwärtigung des Todes beeinflusst nicht nur den Tagesablauf der Patienten, sondern wesentlich auch die Ausrichtung der pflegerischen Interaktionen, die nicht mehr Heilung zum Ziel haben, sondern die fehlende lebenszeitliche Perspektive als Referenzrahmen ihrer pro-
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Die Beziehung zwischen Raum und Zeit ist wesentlicher Bestandteil einer Heterochronie, die Foucault analog zur Heterotopie entwirft (vgl. ebd.).
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fessionellen Hilfeleistungen setzen müssen. Handlungen orientieren sich nicht an langfristigen Zielen, sondern an der momentanen Befriedigung von Bedürfnissen. In hospizlichen Kontexten wird daher die Alltagszeit,7 die Orientierung an alltäglichen Bedürfnissen und an der Lebenswelt des Sterbenden zum Maßstab einer neuen Sinnsetzung, die jeweils individuell zwischen Helfenden und Patienten ausgehandelt und hergestellt werden muss mit dem Ziel, die Identität des Sterbenden möglichst lange stabil zu halten. Ein Verhältnis, das von Vornherein auf eine begrenzte Zeit festgelegt ist, erhält dadurch eine andere Form und Färbung, wie auch die Wirkung der Begrenzung selbst sich danach modifiziert. Die Wertschätzung der sozialen und persönlichen Identität eines Menschen fordert ein gegenseitiges aufeinander Beziehen und Einlassen, ein Erkennen und Äußern von Wünschen und Bedürfnissen, im Grunde jedoch zwischen Fremden. Die Dauer des Aufenthaltes ist als eigentlicher Gradmesser für die Intensität der Beziehung entscheidend: sie fördert nicht nur Nähe, sondern erschwert im gleichen Atemzug die Distanznahme. Ähnlich wie in anderen Einrichtungen setzt sich auch im Hospiz der Trend fort, dass Menschen zunehmend in körperlich, seelisch und geistig desolateren Verfassungen von einer Einrichtung in das Hospiz wechseln. Gerade die Zeit-Qualität ist jedoch jene Eigenschaft, die in besonderer Weise mit dem Hospiz in Beziehung steht; jagt diese nun buchstäblich davon, läuft auch das Hospiz Gefahr, zu einer rein auf das Körperlich bezogene, palliativen Versorgungseinrichtung zu degradieren. Leben und Sterben in Abgeschlossenheit Im Zusammenhang mit den skizzierten Eigenschaften steht ein weiteres Merkmal einer Heterotopie, das Foucault durch bestimmte Prozesse der »Öffnung« und »Schließung« charakterisiert (vgl. Foucault 2006: 325f.). Der Eintritt in eine Heterotopie erfolgt durch Zwangsmaßnahmen oder durch den Vollzug gewisser Rituale, die den Zutritt erlauben. Erst durch diese Mechanismen werden Heterotopien für bestimmte soziale Gruppen und Individuen zugänglich. »Das eigentliche Wesen der Heterotopien« bestehe darin, »alle anderen Räume in Frage [zu stellen]«, in dem Räume »vollkommener Ordnung« (ebd.: 326) konstruiert wer-
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Der Begriff der Alltagszeit wird hier in Abgrenzung zum Begriff der Lebenszeit verstanden, wie ihn Wolfram Fischer (1982) in seiner Analyse der Lebensgeschichte chronisch Kranker verwendet. Während die Lebenszeit durch Irreversibilität gekennzeichnet ist, zeichnet sich die Qualität der Alltagszeit demnach durch die Idealisierung des ›und-so-weiter‹ aus.
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den, die im Gegensatz zur Unordnung aller anderen Räume stehen. Im Hospiz geschieht die Setzung über Einschluss und Ausschluss vor dem Hintergrund eines natürlichen, friedlichen Sterbens. Diese Sterbepraxis bietet eine Heterotopie der Kompensation, indem Sterben ›außerhalb‹ als ungeordnet, wirr oder missraten (in der Regel ›unwürdig‹) gezeichnet wird, um im Inneren einen Raum außergewöhnlicher Ordnung und Kontrolle von Handlungen, Menschen und Dingen einkehren zu lassen, den es in dieser Form im Außen nicht gibt. Als Kompensationsheterotopie formiert sich das Hospiz als besondere Sterbeinstitution, in die Sterbende und Angehörige entlang spezifischer Zugangsregeln eintreten. Im ersteren Fall erwerben Individuen durch den Status ›sterbend‹ exklusives Zugangsrecht; im Fall der Angehörigen sind diese als Teil der ›Familie‹ in ihrer antizipierten Trauer stets willkommen.8 Der Status ›sterbend‹ ersetzt damit das Eingangsritual, ist aber nicht minder bedeutsam. In der Inszenierung des Sterbens wird dem Sterbenden eine explizite Sterberolle zur Verfügung gestellt, die Sozialisierung erfolgt zumeist ohne erheblichen Bruch. Dafür sorgt die familiale Rollenkonfiguration, die einen fast ›nahtlosen‹ Übergang erlaubt und keine wesentlichen Anpassungsleistungen erfordert. Jede Inszenierung legt aber fest, wer auf der Bühne erscheinen darf (der Sterbende) und wer im Hintergrund agiert (die professionellen und ehrenamtlichen Helfer), wer Zugang bekommt (die Angehörigen) und wer ausgeschlossen wird (der auf Heilung ausgerichtete Kranke in einer vorübergehenden Lebenskrise; der Gesunde; der Alte, der noch fit genug fürs Pflegeheim ist). Übrig bleibt ein Raum der Normalität, der sich von all dem, was als abweichend konstruiert wird, abgrenzt. Gleichzeitig grenzt sich der Sterbende jedoch durch seine Andersartigkeit von anderen ab. Auch wenn Sterbende innerhalb des geschützten Rahmens die Hauptrolle spielen, werden ihnen mit dem zugeschriebenen Sterbestatus gleichzeitig eine bestimmte Zeit und ein bestimmter Ort des öffentlichen Auftretens verwehrt. Sterbende können zwar den Ort Hospiz potentiell verlassen; der Zutritt zur Gesellschaft als vollwertige Mitglieder bleibt ihnen jedoch verschlossen. Sie verharren inmitten der Gesellschaft isoliert und können dieser Isolation nicht entfliehen. Ihr Recht auf soziale Teilhabe und öffentliche Präsenz hängt davon ab, wie das Bewusstsein eines anderen Umgangs mit Sterben und Sterbenden in die Gesellschaft getragen werden kann, also auch davon, wie es dem Personal im Hospiz ferner gelingt, Normalität und Alltäglichkeit als nötiges Relevanzsystem festzuschreiben.
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Angehörigen sind Hospize prinzipiell nicht verschlossen; was ihren eigenen Tod, ihr eigenes Sterben betrifft, leben sie jedoch in einem Zustand »geschlossener Bewusstheit« (vgl. Glaser/Strauss 1974: 17f.).
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In Form von Hospizen, die in Verbindung mit dem Sterbezimmer und dem Sterbebett als privilegierte Orte des Sterbens firmieren, in denen sich Individuen in einem (krankheitsbedingten) Krisenzustand befinden, haben Krisenheterotopien heute berechtigterweise noch ihre Funktion. Sterben im Hospiz ist eine Krise, die (im Leben) nicht vorübergeht; insofern können Hospize auch als Halt gebender Schutzraum für Sterbende gesehen werden, indem körperlich und seelisch bedingten Verletztheiten des Sterbenden Anerkennung und Verständnis entgegengebracht werden (vgl. Müller/Brathuhn/Schnegg 2014: 181f.), gleich einem geschützten Innenraum, dem ein indifferenter, öffentlicher Außenraum gegenübersteht.
E INSCHLUSS DER AUSGESCHLOSSENEN : M OMENTAUFNAHMEN EINER Z UKUNFT DES S TERBENS Im Kontext des Sterbe-Diskurses können Hospize als Gegenorte gezeichnet werden, die andere Sterbepraktiken und Werthaltungen im Umgang mit Sterbenden präferieren. Als Heterotopie ist das Hospiz der Ort und der Moment, wo das noch nicht Realisierte erscheinen kann, wo diejenigen sprechen, die noch keine Stimme haben, wo das Fremde, Andere als solches gestalterisch anerkannt werden kann und ihm damit ein Platz in der Gesellschaft zugewiesen wird. Wie beispielhaft am Hospiz dargestellt wurde, geht es auch hier zuletzt um das Erscheinen einer Gestalt, die im Blick auf ein anderes Sterben in seiner Wahrheit und seiner Form wahrgenommen wird. Hospize verweisen auf das innerhalb der Ordnung existente Andere, sie stellen ein konstitutives Außen der Gesellschaft dar, die als räumliche Heterotopien die ›verlorenen‹ Sicherheiten im Umgang mit Sterbenden potentiell zurückerobern können. Dieses Wiedererlernen wird durch eine Differenz der Anderen legitimiert, indem eingeschlossen wird, was eigentlich aus einer Wissensordnung ausgeschlossen ist. Es ist das normative Wir, das die anderen als Andere markiert: Sterbende sind als Lebende mit uns, bei uns, ohne jedoch gänzlich anerkannt zu sein, ohne am öffentlichen Leben als ›normale‹ Mitmenschen teilzunehmen; sie sind nicht ausnahmslos ausgeschlossen, aber dennoch unsichtbar. Sterben im Hospiz rückt die Frage in den Fokus, inwieweit der Ort des Sterbens als ein anderer Raum der Gesellschaft fungieren kann. Der Anspruch, mithilfe des Hospizes eine soziale Heterotopie zu schaffen, scheint in dieser Hinsicht an eine ethische Ambivalenz gebunden, die unmittelbar mit der Konstitution des Hospizes als privater, intimer Raum des Sterbens und als sozialer, öffentlicher Raum des Lebens verflochten ist. Wenn das Hospiz der Gegenwart
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den Sterbenden, den sozial (und kulturell) Anderen, einen Ort gibt, der sozusagen den Einschluss der Ausgeschlossenen inszeniert, ist dann das Hospiz tatsächlich ein Ort, an dem Ideale des Sterbens stellvertretend für die Gesamtgesellschaft verhandelt werden? Lassen sich mithilfe des Hospizes als »Bühne und Überwachungsinstanz des guten Sterbens« (Göckenjan 2008: 3483) andere Formen des Umgangs mit Sterbenden erproben und können diese dem Zuschauer, der Gesellschaft, ein neues Verhältnis zum Sterben vermitteln? Gerade eine ethische Inanspruchnahme des Hospizes im Sinne einer Anerkennung des Anderen, des Sterbenden um seiner selbst willen, ist mit Bedacht zu betreiben, zeichnet das Hospiz stets eine Ambivalenz aus, die mit der Inszenierung des Sterbens auf einer Bühne sowohl einen vom Alltagsgeschehen distanzierten Raum, als auch einen sozialen Raum konstituiert und sich somit bestens eignet, andere Varianten des Sterbens unter dem Deckmantel eines guten Sterbens hervorzubringen. Der Anspruch, Ausgeschlossenen eine Bühne zu geben und über soziale Grenzen zu verhandeln, ist gesellschaftlich nicht neu; die Aufgabe des Hospizes liegt jedoch darin, Sterben als eine aus dem Leben gegriffene Situation auf dieser Bühne darzustellen und den Ausgeschlossenen der Gesellschaft eine Stimme zu geben, um in der Folge Fragen nach Teilhabe und Anerkennung neu zu erörtern. Was Hospiz als Idee und Philosophie vielfach würdigt und auszeichnet, ist in erster Linie die Re-Organisation der Subjektivität, der subjektiven Erfahrung des Sterbens und der Trauer, die thematisiert und kommuniziert werden können (vgl. Winkel 2004: 9), ferner eine Reihe von organisationalen Entwicklungen und sozialer Bewegungen, die in ihren unterschiedlichen, bislang isoliert betrachteten Veränderungstendenzen auf die Entwicklungsdynamik der Individualisierung und der Privatisierung des Todes zurückbezogen werden können. Das Neue an der Diagnose der Selbstbestimmung individuellen Sterbens ist nicht die vorgebrachte Entdifferenzierung und Entinstitutionalisierung, sondern wie diese angesichts bestehender struktureller, gesellschaftlicher Gegebenheiten umgesetzt werden. Wenn heute im Kontext der modernen Sterbebegleitung von der Aufgabe und der Umsetzung eines guten Sterbens gesprochen wird, so ist damit die Frage gemeint, wie Hospiz- und Palliativversorgung als alternative Angebotsund Versorgungsstruktur im Rahmen etablierter Institutionen und bestehender Strukturen implementiert und realisiert werden können. Parallel sorgen Initiativen und ambulante Hospizdienste dafür, Sterben zuhause zu ermöglichen. Sie tragen das Sterben in den privaten, intimen Raum, der jedoch abseits der Öffentlichkeit steht. Aber trifft vor allem Letzteres nicht auch auf das Hospiz zu? Der Einwand gegen den Ausbau von Hospizen entzündete sich zunächst an der Übersetzung, die mit dem Wort ›Sterbeklinik‹ heftige Reaktionen herausforderte (vgl. Godzik 1992: 410). Dieses Wort passt nicht so recht in das hospiz-
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liche Schema, das eine Art Panorama von anderen Formen des Umgangs mit Sterben und Tod zu bieten hat. Es scheint vielmehr konträr ausgerichtet zu sein. Auffällig ist der Gedanke, dass es sich beim Thema Hospiz nicht vordergründig um ein Gebäude handelt, sondern um ein neues Konzept im Umgang mit Sterbenden, das sich mit den Jahren institutionalisierte und mehr oder weniger losgelöst von Ort und Materialitäten ist (vgl. Student 1985). Mag sein, dass es hier eine Verbindung gibt; andererseits konnten Hospize über die Jahre zeigen, dass sie mehr sind als lediglich Sterbekliniken. Warum also die zögerliche Rezeption, weshalb der schleppende Ausbau? Stationäre Hospize sind als Sterbe-Orte immer noch eine Ausnahme und führen ein Schattendasein zwischen etablierten Nutzungsfeldern am Rande gesellschaftlicher Normalität. Das heißt nun nicht, dass ihre Entwicklung aufhört, auch Hospize nehmen zu.9 Dennoch wird deutlich, dass alle Mühen sich dahingehend richten, Hospizarbeit in den ambulanten Bereich zu implementieren und parallel den Ausbau der Palliativversorgung voranzutreiben, denn gestorben wird heute mehr denn je hinter den Kulissen von Organisationen. Während im Zuge der Etablierung moderner Hospize Probleme und Diskurse wie Abschiebung und Auslagerung, Euthanasie und Sterbeghetto, aber auch die Überforderung der Schwerkranken und Sterbenden erörtert wurden, sind nun Stimmen evident, die die Frage aufwerfen, ob es sich in der Gestalt der Hospize lediglich um eine Weiterdifferenzierung des Gesundheitssystems handelt oder ob bereits von einer anderen Sichtweise um Umgang mit Sterben und Tod gesprochen werden kann. Vor allem das Konzept der Palliativmedizin ist anschlussfähig an beide Referenzsysteme, erhält jedoch im Gesundheitssystem eine andere Logik, wenn es gestaltend auf bestehende Handlungsräume und kulturelle Werte zurückzuwirken beginnt. Einig ist man sich indes, dass eine professionalisierte Betreuung und Sterbebegleitung am Ende des Lebens höchste Priorität verdient. Professionalisierung initiiert vor allem Schmerzlinderung und Sterbekontrolle, die jedoch gleichzeitig eine Standardisierung des Sterbeverlaufes nach sich zieht. Diese Medikalisierung ist die Kehrseite der Institutionalisierung und der Preis für Individualisierungsprozesse, die dem Einzelnen ein selbstbestimmtes Sterben auferlegen.10 Das stärkste Argument für eine Stärkung der professionellen Ster-
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Im Jahr 2014 gab es in Deutschland an die 220 stationäre Hospize, in Österreich neun (siehe Zahlen und Statistiken auf den Internetseiten des DHP e.V. und Hospiz Österreich: www.dhpv.de und www.hospiz.at; Zugriffe jeweils am 8. Mai 2015).
10 An diesem Punkt sei daran erinnert, dass das Hospiz Menschen als radikal verwiesene Individuen begreift, die nur in Beziehungen würdig leben und sterben können und nicht in Abhängigkeit die autonomste Entscheidung ihres Lebens treffen sollen.
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bebegleitung liegt darin begründet, dass damit die zum Teil hohe Zustimmung in der Bevölkerung zur Legalisierung der aktiven Sterbehilfe zurückgedrängt werden kann. Einer solchen Argumentation zu folgen ist wohl zum einen ein Hinweis darauf, dass Debatten um ein würdiges Sterben meist völlig abgekoppelt von der breiten Öffentlichkeit geführt werden; zum anderen wohl darauf, dass Hospize als Sterbeorte noch nicht die nötige Resonanz in der Gesellschaft finden konnten und ein Sterben in Einrichtungen vorrangig als letzte Alternative gesehen wird, wenn Voraussetzungen für ein Sterben zuhause nicht (mehr) gegeben sind. Innerhalb des hegemonialen Diskurses um die Hilfe beim Sterben wird vor allem der Sterbende in seinem unerträglichen Leid, von dem er erlöst werden muss – oder sich zumeist gerne selbst erlösen möchte, aber nicht kann – als Modellfall unwürdigen Sterbens insinuiert. Der fortschreitende Diskurs um die individualisierte Verantwortung für die persönliche Sterbesituation läutet einen heimlichen Wandel ein, der den Patient vom passiv zum aktiv Handelnden mutieren lässt, der in jeder Entscheidung seines Lebens auf sich selbst zurückgeworfen ist. Das verändert à la longue nicht nur das Verhältnis zwischen Arzt und Patient, sondern auf massive Weise auch die Hilfestrukturen. Sterbebegleitung lehnt Hilfe beim Sterben ab; Hilfe im Sterben hingegen bedeutet Sorge in Beziehung, zwischenmenschliche Angewiesenheit, das Bedürfnis, »soziale Bedeutung für Andere zu haben, von Anderen gebraucht zu werden« (Dörner 2008: 55), aber auch Anerkennung einer Organisation von Fürsorglichkeit am Ende des Lebens. In der zunehmenden Diskursivierung von Sterben und Tod zeigt sich letzten Endes, dass die Abhandlung um ein gutes (oder unwürdiges) Sterben über ideale (oder unwürdige) Sterbeorte ausgefochten wird. Das Hospiz ist (noch immer) der alternative Sterberaum zum Sterben im Krankenhaus, im Pflege- oder Altenheim, zum Sterben auf der Palliativstation; es versteht sich als Ergänzung bereits vorhandener Einrichtungen, deren Ziel in einer Verbesserung der Kooperation und Zusammenarbeit begründet liegt. Synonym ist das Zuhause der ideale Ort für ein selbstbestimmtes Sterben im privaten, geschützten Raum. Wird die Hospizbewegung als Gedanke und letztlich als gesellschaftliche Notwendigkeit gesehen, dann ist es durchaus legitim zu behaupten, dass diese verortet werden müssen, so wie es in unserer Gesellschaft üblich ist, für alle Funktionen Orte und Räume zu finden. Der Anspruch und die Eröffnung anderer Sterberäume benötigen die konkrete Verortung des Sterbens, sofern materielle Gegebenheiten Voraussetzung dafür sind, dass Sterben gestaltet und begleitet werden kann. Die Heterotopie, die sich die Protagonisten der Hospizbewegung erschaffen haben, hat sich nur bedingt verwirklicht und verfestigt. Ist würdiges, selbstbe-
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stimmtes Sterben ein Teil der (gesamt-)gesellschaftlichen Selbstverständlichkeit, dann geht dem Hospiz seine Legitimationsgrundlage als anderer Raum verloren; dann ist Sterben als Prozess vorstellbar, der als Teil des Lebens begriffen und nicht als notwendiges Übel verdrängt werden muss; dann ist Sterben ein Teil des öffentlichen Diskurses und nicht kanalisiert in Spezialistendebatten; dann muss sich der Blick von der subjektiven Ebene des einzelnen Betroffenen auf die Gemeinschaft als ganze richten, als ein kollektiver Prozess, organisiert und professionalisiert nach bestimmten Regeln. Das Eröffnen von Möglichkeitsräumen ist fraglos eine der bedeutsamsten Leistungen der Institution Hospiz, mit der auf veränderte gesellschaftliche und individuelle Anspruchshaltungen reagiert werden konnte; das Einlösen des Versprochenen lässt freilich noch auf dessen Konkretisierung und Realisierung auf einer breiten Basis warten. Sterben und Leben, ausgeschlossen und eingeschlossen, anders und doch gleich: Im Grunde ist die Paradoxie vom Einschluss der Ausgeschlossenen eine Aufforderung, die (scheinbar) gegensätzlichen sozialen Räume, Leben und Sterben, miteinander zu vereinigen und zueinander in Beziehung zu setzen. Auch wenn Hospize konkret lokalisierte Orte in der Gesellschaft einnehmen, bleiben sie Räume, die aufgrund ihrer atmosphärischen Sonderheit zwischen den Welten angesiedelt sind und von hier aus ihre Wirksamkeit erlangen. Hospize sind nicht nur Sterbe-Orte, an denen sich diskursive Grenzen zeigen, sondern Orte des gesellschaftlichen Lernens, in denen würdiges Sterben in einem sicheren Rahmen zugelassen wird – in seiner Möglichkeit der Realisierung von Humanität. Diese Art der Entwicklung begreift Diskurse als Symptome, die etwas verschieben und gleichzeitig verdecken. Nicht was das Hospiz zeigt, ist wichtig, sondern was es nicht zeigt. Die Hospizbewegung hat dann ihre Aufgabe erfüllt, wenn es gelingt, in einem gemeinsamen Dialog jene Fragen nach dem Ausgeschlossenen zu formulieren, um das es letztlich geht. Die Sterbenden sind keine anderen geworden, nur die Grenzen des Möglichen haben sich verschoben. Letztlich von Bedeutung wird sein, ob Hospize als wirksame Gegenorte die Normen, die sie innerhalb ihrer Grenzen zu produzieren vermögen, auch über ihre Grenzen hinaus für eine breite Öffentlichkeit realisieren können, oder ob ihre Handlungslogik letztlich Idealen verhaftet bleibt, die nur einem kleinen, begrenzten und auserlesenen Teil der Gemeinschaft zweckdienlich sind. Auch darin liegt die Zukunft des Sterbens begründet.
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F ILME NOCH 16 TAGE – EINE STERBEKLINIK IN LONDON (1971) (D, R: Siegfried Braun und Reinhold Iblacker)
Jugendliche Todesbilder bei flickr.com B IRGIT R ICHARD und B IRTE S VEA P HILIPPI
Dieser Beitrag untersucht vor allem die medialen Inszenierungen jugendlichen Selbstdesigns im vor- bzw. nach-›gestellten‹ Tod auf der Fotoplattform flickr. Diese existiert seit 2004, verschwand zwischenzeitlich in der Bedeutungslosigkeit und versucht jetzt, sich gegen die Konkurrenz von Instagram zu positionieren. Die hier zwischen 2008 und 2014 erhobenen und herausgearbeiteten speziellen jugendlichen Bilder des Todes zeigen eine neue Form des gemischten Bildhybrids, das die medialen Vorläuferbilder des Todes immer mittransportiert (vgl. Richard/Grünwald/Recht/Metz 2010). Das Bilduniversum jugendlicher Todesselbstdarstellung im fotografischen Bild soll untersucht werden. Der Betrachtung unterzogen werden sollen auch genderspezifische Darstellungsformen, die sich aus der Auswertung der flickr-Bilder herausarbeiten lassen. Die Bilder auf der Fotoplattform flickr zeigen Inszenierungen, die, geleitet von Bild-Vorgaben und visuellen Konventionen, ein me herstellen, d.h. meine visuelle(n) Identität(en) aus der Sicht der anderen – mein soziales Selbst. Es ist das Ich aus dem Blickwinkel des generalisierten Anderen; meine Vorstellung davon, wie mich andere sehen, wird visualisiert (in Referenz zu George Herbert Meads Unterscheidung des me and I; Mead 1973: 216). Bei flickr findet die unbewusste Vermischung von Eigen- und Fremdbildern statt. Es ist eine Notwendigkeit, denn zur Entstehung eines sozialen Netzwerks bedarf es einer gewissen ästhetischen Redundanz. Das I wird immer beeinflusst, aber nicht komplett determiniert durch das me. Im Bereich der visuellen Identitätskonstruktion über das I lassen sich durchaus eigenständige Bild-Äußerungen aufzeigen.
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HÄSSLICH UND TOT : JUGENDLICHE P ERFORMANCES DES
T ODES
Die Darstellung des Todes ist ein existentiell wichtiges Thema im Speziellen für die Erlebens- und Darstellungswelt von Jugendlichen, so dass es einen sehr großen Raum auf der Plattform flickr einnimmt. Die Selbstdarstellung des jugendlichen Körpers als tot oder versehrt findet mit flickr aufgrund der medienstrukturellen Spezifika eine ideale Plattform der Sichtbarmachung. Unter dem Tag Death finden sich 262.060 und unter dead 215.133 Bilder.1 Die Themenschwerpunkte der getaggten Bilder variieren, sie zeigen Gräber, Friedhöfe, Totenköpfe, tote Tiere, Death Metal-Bands, Fotos des Death Valley und die hier analysierten Performances des Todes.2 Unter dem tag death finden sich nicht mehr 5.816 Gruppen, sie sind auf 3.461 Gruppen zusammengeschrumpft, die sich im Vergleich zu 2008 unter verschiedenen und erweiterten Schwerpunkten mit dem Thema Tod auseinandersetzen: Death to.... (Let’s pretend we’re all dead!); Staged Death (please no real dead bodies); Death by Photoshop (Photoshop manipulated death scenes); Photoshop of Horrors. Auch dies weist zentral auf die große Bedeutung der Thematik und Motive für die junge Community auf flickr hin. Für die Analyse ist also im Besonderen hervorzuheben, dass für eine thematische dichte fotografische Arbeit die flickr-groups von Bedeutung sind, die sich mit dieser spezifischen Form der tödlichen Selbstdarstellung explizit befassen. Einige dieser Gruppen kontextualisieren das Thema Tod neu. Ebenfalls sind neue Sinnzusammenhänge und Motive für die Darstellung des Todes hervorzuheben, wie sie sich beispielsweise in den Gruppen Blue Screen of Death oder Public Windows Crashes zeigen. Diese Gruppen archivieren Bilder von abgestürzten Computersystemen. Sie zeigen alle einen blauen Bildschirm und die Kommandozeile, welche die Situation als Fatal System Error oder The system has been shut down beschreibt. Der verbildlichte Computerabsturz als Todessymbol bietet eine humoristische Diskussionsgrundlage für Kommentare der Rezipienten und der anderen Bildproduzenten. Der humoristische Umgang mit dem Thema Tod auf flickr bleibt jedoch auch über den langen Beobach-
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Stand vom 11. November 2008. Aktuelle Zahlen werden auf der Plattform nicht mehr angezeigt. Das macht die methodische Schwierigkeit von Langzeitstudien zu den Bildplattformen aus: es gibt keine Möglichkeit mehr, einen Gesamtüberblick zu bekommen, auch nicht zu Teilthemen. Die Anbieter schränken NutzerInnen überdies immer mehr ein, indem sie nur noch bestimmte Ausschnitte ihrer Plattform zeigen; so auch bei Youtube.
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Stand: 21. Oktober 2015.
J UGENDLICHE TODESBILDER
BEI FLICKR . COM
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tungszeitraum eine Ausnahme und auf abstrakte Bezüge (wie hier den Computer) beschränkt. Denn die jugendliche (Selbst-)Darstellung als toter Körper wird ernsthaft betrieben und mit einem ›authentischen‹ Gestus versehen, bei gleichzeitigem Betonen der Artifizialität dieser Darstellungen. Tod muss ernst sein und echt aussehen, darf aber nicht echt sein. Bei den Gruppen Staged Death und Death to... geht es darum, sich visuell als tot zu inszenieren. In der Gruppenbeschreibung wird nur eine zu beachtende Regel für die Gruppenmitglieder genannt: It‘s pretend, OK? No actual corpses.3 Obwohl es in den Community Guidelines von flickr4 kein explizites Verbot gibt, finden sich fast keine Bilder, die ›echte‹ Tote zeigen. Selbst in der Gruppe Faces of DEATH, die sich ›echten‹ Todesbildern widmet – the photography of things that have died. Any living thing can be posted in this pool if it has passed – findet sich nur ein Bild, welches wahrscheinlich tatsächlich einen toten Menschen zeigt. Die vielen Gruppen spielen bei flickr generell eine sehr viele größere Rolle als bei YouTube, da sie den thematischen Zusammenschluss zu einer Community von gleichgesinnten FotografInnen fördern.
S TAGED D EATH UND P LAY D EAD : T YPOLOGIE DER JUGENDLICHEN T ODESDARSTELLUNGEN Über die genannten tags und Gruppen lässt sich eine Typologie der jugendlichen Todes(selbst)darstellungen entwickeln. Es wurden nach intensivem Netzscan über 100 Bilder für den Darstellungstypus ›ich selbst tot‹ vorausgewählt, von denen hier einige exemplarisch einer Fallanalyse unterzogen werden. Die Auswertung ergibt 2015 fünf (2008 waren es vier) wesentliche Typen, die im nächsten Schritt auch auf die geschlechtsspezifische Darstellung hin untersucht werden sollen: Schönheit (ästhetisierte Inszenierungen von Tod und totem Körper), Act (die aktive Handlung einer Person, die zum Tode führt), Cool (der Tod als Stil), Still (angelehnt an einem Einzelframe aus einem Film oder einem Kunstwerk) und Untote (Wesen, die nach dem Tod weiterleben; bevorzugt Zombies, aber auch Gespenster, Geister und Vampire). Die Typen weisen Überschneidungen auf und nicht alle der ausgewählten Bilder können ihnen zugeordnet werden. Grundsätzlich fällt auf, dass es sich bei den Abgebildeten und den Bildproduzenten (insofern sie nicht identisch sind) fast ausschließlich um junge Menschen
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http://www.flickr.com/groups/death_to/. Stand: 21. Oktober 2015.
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http://www.flickr.com/guidelines.gne. Stand: 21. Oktober 2015.
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handelt. Die klassischen Darstellungsstereotypen werden von beiden Geschlechtern konsequent eingehalten. Schönheit Die Kategorie Schönheit steht für einen ästhetischen Umgang mit dem toten Körper von Frauen. Die Bilder zeigen fast ausschließlich weibliche Körper, die als schöne Leiche (vgl. Bronfen 1999) inszeniert werden, ein Stereotyp, auf das beinahe jeder Krimi mit einem weiblichen Opfer referiert. Sie wirken aufgrund ihrer Artifizialität teilweise geradezu wie Modefotos. Sie suggerieren das Sublime (vgl. Žižek 1991) des weiblichen Körpers, der in Tod und Blut immer noch frisch und jung wirkt. Im Gegensatz zu anderen Kategorien werden selten Wunden oder Todesursachen dargestellt, sondern es geht hier vor allem um die Unversehrtheit des jungen Körpers.
Abb. 1: Bittersweet. Quelle: Nora Biggio.
Das exemplarische Foto hierfür, Bittersweet, zeigt die farbige Studioaufnahme einer jungen, rothaarigen Frau. Vom linken Mundwinkel erstreckt sich eine dekorative Blutspur, die sich über die Wange zieht und in dem roten Haar verschwindet. Der leblose Blick ist nach oben gerichtet. Der linke Arm liegt gebeugt vom Körper entfernt und grenzt den unteren Bildbereich ein. Das Tanktop der Frau verschwindet im Schwarz des Hintergrundes. Die helle Haut als Zeichen von Unschuld wird durch die Beleuchtung intensiviert und das intensiv-rote Haar heben sich kontrastreich vom Schwarz ab. Das Foto ist ein Anschluss an gängige visuelle Inszenierungspraxen des klassischen Schneewittchen-Themas –
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ein Schwellenbild, welches den Übergang einer Jungfrau zur sexuellen Reife verbildlicht.5 Der Tod als Konservierung weiblich-blasser Schönheit ist gleichsam ein Motiv der schwarzen Romantik. Zwei Unterkategorien des Themas der schönen Leiche stellen der ›Tod in der Badewanne‹, sowie der ›Weibliche Körper als Ornament‹ dar. Der größte Teil der Todesdarstellungen des weiblichen Körpers finden im klinischen Weiß des Bades und der Badewanne seine Verbildlichung. Der Kontrast zum Rot des Blutes kommt in der Inszenierung am besten zur Geltung. Zudem kann bei diesem Motiv ungeniert – weil kontextualisiert – weibliche Nacktheit gezeigt werden. Meist blicken die Augen starr gen Kamera, der Körper ist dekorativ blutverschmiert und an den Armen finden sich angedeutete Schnittwunden. Diese Geste des Entschwindens aus dem Körper – eigentlich des Hingebens an die Blicke der Betrachter – oder das Entgleiten in den Tod sind Teil popkultureller Bildwelten, wie beispielsweise im Musikvideo Everytime von Britney Spears (2004). Das Badezimmer mit Badewanne als antiseptischer Raum des Todes weckt verschiedene Assoziationen, beispielsweise an die aktuell sehr beliebten Forensik-Serien wie CSI. Unter bildästhetischen Aspekten ist dieser Raum geeignet, weil der weibliche Körper beinahe unversehrt präsentiert werden kann, ohne realitätsfern inszeniert zu sein. Realitätsbezüge werden auch dadurch evoziert, dass die Badewanne ein häufig vorkommender Schauplatz des Selbstmordes ist: Nach Einnahme von Medikamenten oder dem Aufschneiden der Pulsadern wird die Überlebenschance durch ein mögliches Ertrinken im Badewannenwasser weiter vermindert. Auch gängige, positiv konnotierte Reinlichkeitsvorstellungen spielen eine Rolle: Man möchte der Nachwelt keine unappetitlichen Blutspuren in der Wohnung hinterlassen. Auffallend ist die große Anzahl von Fotografien, die das Ophelia-Motiv aufgreifen. Es gibt zwar vereinzelt Männer, die John Everett Millais Gemälde re-inszenieren, jedoch ist der Großteil der Protagonisten weiblich. Teilweise wird der Schauplatz von einem blätterbedeckten See in das Badezimmer verlegt. Maillais hat für seine Studien das Ophelia-Model ebenfalls in die Badewanne gelegt.6 Das Arrangement des weiblichen Körpers als Ornament ist auch ein archetypisches Motiv weiblicher Todesdarstellungen. Der Körper wird durch bestimmte Körperhaltungen und Positionen zu einem leblosen, modellierbaren Objekt. Die Geste des Entschwindens als ein kontinuierlicher Bewegungsablauf weicht
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Vgl.http://www.uni-giessen.de/jojo-magazin/artikel/03/01/universitaet/schneewitt chen.htm. Stand: 21. Oktober 2015.
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Vgl. http://www.tate.org.uk/art/artworks/millais-ophelia-n01506/text-summary. Stand: 5. Oktober 2015.
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einem verbogenen Körper in realitätsferner verdrehter Position,7 als Figura serpentina (vgl. Ames-Lewis/Joannides 2003). Es gibt in dieser Sparte jedoch nicht nur Fotografien, die auf die Ästhetik eines toten Körpers hinweisen, sondern auch solche, die das Bild der jungen, schönen Leiche bewusst kontrastieren. So setzen sich Jugendliche mit der Alterung ihres Körpers auseinander – mit dem langsamen Verfall im Gegensatz zum Mythos der unschuldigen Schönheit der Jugend. Stellvertretend für die Unterkategorie »lebende Tote« kann die quadratische Fotografie mit dem Titel Self Portrait… Post_Mortem von Paula R. Feitho gesehen werden, bei dem zwei sitzende Frauen dargestellt werden. Die gezeigten Accessoires vermitteln den Eindruck, dass es sich um eine Fotografie des 19. Jahrhunderts handelt. Unterstützt wird dies durch den verwendeten Sepia-Filter, an den Rändern gibt es überdies leichte türkisfarbene, grüne und orange Verfärbungen sowie dunklere Ränder durch ›Wasserflecken‹. In Feithos Fotografie sitzt in der linken Bildhälfte eine Frau erhöht auf der Armlehne und blickt den Betrachter an. Ihre Hände liegen in ihrem Schoß. Sie trägt eine helle Haube und ein dunkles Blusenkleid. Ihr Schal ist durch eine Brosche am Hals befestigt. Die junge Frau steht im Zentrum des Bildes, da sie sich durch ihre schwarze Bluse und dem weißen Schal deutlich von den anderen Objekten abhebt. Die Frau rechts neben ihr sitzt in sich zusammengesunken auf der hellen Couch. Ihr Kopf lehnt gegen das Rückenteil. Ihre Augen sind geschlossen und ihr Mund ist leicht geöffnet. Die Lippen sind hell und wirken im Gegensatz zu dem dunklen Farbton der zweiten Frau leblos. Die Hände liegen verschränkt in ihrem Schoß. An ihrem Arm liegen eine helle und eine dunkle Rose. Sie trägt eine geblümte Bluse und einen hellen Rock. Auf dem Kopf befindet sich ein Blumenkranz, wobei der Schleier ihren linken Arm verdeckt. Im Gegensatz zu der anderen Frau, die ihren Holz-Rosenkranz in der linken Hand hält, trägt sie ihren um den Hals. Die Unschuld der rechten Frau wird durch verschiedene Symbole dargestellt: die Rosen, der Rosenkranz, der Blumenkranz. Während die linke Frau sich bewusst der Kamera präsentiert, wirkt die andere abwesend und leblos. Diese unterschiedliche Wirkung der beiden Frauen entsteht nicht nur durch die Gestik und Mimik, sondern auch dadurch, dass die rechte Frau sich kaum von den Objekten im Hintergrund abhebt. Dies geschieht einmal durch die Materialität und der Farbigkeit ihrer Accessoires: Ihr Rock ist ebenso hell wie der Überwurf der Couch und hat einen ähnlichen Faltenwurf. Ihr Kopfschmuck geht in den Blumenkranz im Hintergrund über.
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http://www.flickr.com/photos/yenemar/2864054784/. Stand: 11. November 2008.
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Abb. 2: Self Portrait…Post_Mortem. Quelle: Paula R. Feitho.
In der Unterkategorie »lebende Tote« gibt es keine »Hochglanzfotografien« wie bei der Ophelia-Thematik, sondern die Fotografien werden künstlich durch Verfärbungen usw. ›gealtert‹. Dieser Vintage-Look ist sehr beliebt, was daran zu erkennen ist, dass Foto-Apps wie Hipstamatic und Instagram angeboten werden, in denen Benutzer verschiedene Retrodesigns für ihre Fotografien auswählen können. Auch in die jugendlichen Todesdarstellungen zieht diese hier gut passende Ästhetik der materiellen Versehrtheit ein. In der Unterkategorie »Totenkopf« befinden sich ebenfalls Aufnahmen, die mit dem Verfall des Körpers spielen, wobei jedoch im Vordergrund der Übergang zum Endoskelett steht. Es gibt nicht nur Fotografien, bei denen mit Hilfe des Computers der Übergang zum Schädel verdeutlicht wird, sondern der menschliche Körper wird auch direkt bemalt. Hierbei gibt es viele Aufnahmen, die auf das mexikanische Fest ›Día de los Muertos‹ (Tag der Toten) verweisen, bei dem z.B. das Gesicht als Schädel geschminkt wird. In dieser Unterkategorie steht nicht das Verwesen bzw. Altern im Vordergrund. Die Bilder wirken teilweise sehr ästhetisch und könnten eher Modefotografien sein. Ein Beispiel für diese Kategoire ist Melinda Szentes Fotografie Everyone has a dark side. Die Schwarzweißaufnahme zeigt eine Frau, die ihren Mund weit aufgerissen hat. Das Gesicht geht in einen Totenkopf über. Das Foto erinnert an ein Vexierbild, was durch den fließenden Übergang von den beiden Gesichtshälften begründet ist. Es
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ist kaum zu erkennen, an welcher Stelle der Totenkopf anfängt und das Gesicht der Frau aufhört.
Abb. 3: Everyone has a dark side. Quelle: Melinda Szent.
Act Die Kategorie Act beinhaltet solche Aufnahmen, die sich mit der Handlung des Sterbens bzw. des Tötens auseinandersetzen. Es können drei Arten unterschieden werden: Der Jugendliche hat sich seine Wunden usw. selbst hinzugefügt. Eine zweite Möglichkeit ist, dass er Opfer einer Gewalttat geworden ist. In der dritten Darstellungsweise wird nicht ersichtlich, wie die Person umgekommen ist. Hier beschäftigen sich die Jugendlichen auch mit der Aufbahrung der Toten. Teilweise wird auf eine realistische Darstellung verzichtet, z.B. kann der enthauptete Körper den eigenen Kopf noch in der Hand halten. Eine Variante der Dekapitation stellt die Fotografie Della Morte von Arka Devbil dar. Della Morte zeigt eine mit Photoshop bearbeitete Aufnahme, deren Farben ungesättigt sind. Im Mittelpunkt des Bildes befindet sich ein »enthaupteter« Männerkopf, der auf einem beigen Teller drapiert ist. Der Hintergrund be-
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steht aus einer fliederfarbenen Tischdecke mit weißen floralen Ornamenten und stilisierten Libellen. Die Lichtquelle befindet sich oberhalb des Kopfes, so dass der Kernschatten sowie die beiden helleren Halbschatten dem Betrachter entgegenkommen. Die Aufnahme wirkt surreal, da die Schärfe inkohärent ist: Die Ohren sind unscharf, im Gegensatz zu dem dahinterliegenden Teil der Dornenkrone, die scharf ist.
Abb. 4: Della Morte. Quelle: Arka Devbil.
Der bärtige Mann hat die Augen geschlossen. Seine Augen sind dunkelbraunrötlich unterlaufen, die Lippen haben dieselbe Färbung. Er trägt links und rechts ein Labret-Piercing, was auch als Snakebites bekannt ist, mit einem Ball Closure-Ring. Außerdem hat er am linken Nasenflügel einen Ring. Die Dornenkrone ist offenkundig ein Verweis auf die Kreuzigung Christus. Während bei flickr die totspielenden jungen Frauen überwiegend als schön, nackt und dekoratives Objekt gezeigt werden, ist der männliche Körper ein gemarterter. Seine Oberfläche wird oft zerstört, mit Wunden bedeckt und mit Blut bespritzt – jedoch nicht im dekorativen Sinne. Der Tod wird durch Gewalt herbeigeführt – durch sich selbst oder durch Fremdeinwirkung. Die Darstellungsweise rekrutiert sich aus verschiedenen meist filmischen Bildvorlagen. Das Bildrepertoire ist humorvoll-künstlerisch erweiterbar, wie bei dem unbetitelten Bild von niv tishbi: Ein junger Mann, der sich mit einer Pistole in den Kopf geschossen hat, liegt tot auf dem Boden. Der rechte Arm liegt angewinkelt in der Nähe des Kopfes, die Tatwaffe neben seiner Hand. Auch wenn die Armposition der weiblichen Toten gleicht, ist diese in einem anderen Bedeutungszusammenhang
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zu sehen. Hier ist es keine Geste des Aufgebens, sondern die einer durch den Tod zum Stillstand gebrachten, aktiven Bewegung. Die Augen des jungen Mannes sind geschlossen. Das Blut, das aus seinem Hinterkopf austritt, wird durch ein Plastikmodell einer Blutpfütze dargestellt. Diese ist vielfältig in Form und Rottönen, aber klar als artifiziell erkennbar. Der Endpunkt einer Performance des Todes wird über das durchkomponierte Bild klar als solche deklariert. Nicht eine Form von Realismus wird gesucht, sondern die Konstruktion einer Pose des Todes wird sichtbar gemacht bei gleichzeitigem Einhalten anderer TodesbildKonventionen in Technik und Darstellung.
Abb. 5: #3. Quelle: niv tishbi.
Still In der Kategorie Still befinden sich Fotografien, die sich mit der Ästhetik bestimmter Filmgenres oder Kunstepochen befassen. Hierbei wird nicht nur ein bestimmter Bildaufbau oder eine Ästhetik übernommen, sondern auch die Motivik: Die Beliebtheit von Clowns im Film und in der Kunst oder die aktuelle Berichterstattung der Medien zeigt sich auch auf flickr (vgl. Der Spiegel 2015). Vor allem in Horrorszenarien wird er besonders gerne eingesetzt. Die Jugendlichen beziehen sich teilweise auch unmittelbar auf ein bestimmtes Werk, dies kann auch durch den Werktitel deutlich gemacht werden. Harpy_ imagesʼ Aufnahme Children of the corn-ish pt2 verweist auf die amerikanischen Horrorfilmungen von Kinder Des Zorns. Im Mittelpunkt der Fotografie steht ein
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junges Mädchen, das ihren Blick auf den Betrachter richtet. Ihre Augen sind weit aufgerissen und dunkel unterlaufen. Sie trägt einen schwarzen Hut mit breiter Krempe und ein schwarzes Oberteil. Ihre dunkelbraunen Haare sind geflochten. In der rechten Hand trägt sie eine Sichel, bei der sich an der Klinge Blut befindet. Im Hintergrund ist ein Feld angedeutet. Der Bildaufbau orientiert sich an den Kinofilmen: Die Hauptdarsteller sind Kinder, die in einer religiösen Gemeinschaft zusammenleben und jeden Bewohner über 19 Jahren ihrer Gottheit opfern. Ein wichtiger Schauplatz ist dabei das Maisfeld.
Abb. 6: Children of the corn-ish pt2. Quelle: Harpy_images.
Bei der Auseinandersetzung mit dem Tod müssen jedoch nicht nur menschliche Akteure vor der Kamera stehen. So gibt es auch Aufnahmen, in denen Kuscheltiere, Barbies usw. in Szene gesetzt werden. Dies kann man an den Arbeiten von Sergio sehen. Er hat sich zum Ziel gesetzt, bestimmte Filmszenen oder Kunstwerke mit Lego zu re-inszenieren. In seiner Aufnahme 121b stellt er JacquesLouis Davids Werk Der Tod des Marat nach, wobei er den Bildaufbau, die Farbigkeit usw. möglichst präzise nachbaut. Lego ist in Fotocommunities, auf YouTube und anderen Film- und Fotoportalen für das Nachstellen bestimmter Filmsequenzen o.ä. beliebt, weil die Bausteine nicht teuer sind, eine bestimmte Haptik aufweisen, ggf. Kindheitserinnerungen wecken und durch das einfache Stecksystem eine große Vielfalt bieten, Figuren und Räume zu entwerfen.
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Abb. 7: 121b. Quelle: Sergio.
Cool In der Kategorie Cool wird die Todesdarstellung als Stilmittel eingesetzt und mit modischem Outfit kombiniert – somit handelt es sich wörtlich genommen um Mode-Opfer. In dem Bild Day of the Dead ist zu sehen, dass die Selbstdarstellung nicht dazu dient, tot auszusehen, sondern, über Referenzen zu anderen Todesbildern einen individuellen Stil als Untoter zu entwickeln. Die Andeutungen von körperlichem Verfall und Blut erweisen sich als adäquates modisches Stilmittel. Das aufgerissene, mit Blut befleckte T-Shirt des jungen Mannes ist sowohl Zeichen dieser jugendlichen Versehrtheit als auch Symbol der Hingabe an einen vermeintlichen Verletzer. Die darunterliegende Haut ist rot gefärbt, weist aber keine sichtbaren Wunden auf. Das rote Kunstblut wird nicht als Verwundung gebraucht, sondern wie ein Makeup verwendet. Die Nähe zu einem bestimmten Todesbild spielt keinerlei Rolle. Der genderspezifische Habitus wird beibehalten. Es findet ein Oszillieren zwischen klassischer Coolnesspose und entrücktem Selbstdarstellungsmotiv statt, welches einmal die vermeintlich bekannte Darstellung des filmischen Zombie Motivs neu-kontextualisiert und sich zum anderen kulturell, wie im Hintergrund zu sehen ist, an den Motiven des ›Día de los Muertos‹ orientiert.
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Abb. 8: Day of the Dead. Quelle: Alexander Uhrich.
Ein weiteres Beispiel für die Kategorie Cool ist Fallen2piecesʼ Aufnahme So Relaxed. Ein enthaupteter Mann liegt auf einen Stuhl. Seine Beine stützt er auf einem schwarzen Sessel ab. Aufgrund seiner Haltung erinnert die Fotografie an Édouard Manets Olympia oder Tizians Venus von Urbino. Im Gegensatz zu den Gemälden trägt die Hauptperson jedoch noch ein Kleidungsstück – eine Blue Jeans, die dadurch in den Mittelpunkt rückt. Obwohl der Mann kopflos ist, gibt es keine offene Wunde. Auch Blut wird nicht abgebildet, jedoch erinnert die blau bzw. hell türkisene Farbe, die auf seiner nackten durchtrainierten Brust und an seiner linken Hand verteilt ist, an Blut. Wie in der Sparte Schönheit stehen in den Fotografien nicht der körperliche Verfall oder das Sterben im Mittelpunkt, sondern die Mode.
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Abb. 9: So Relaxed. Quelle: Fallen2pieces.
Untote Die Kategorie Untote weist sich dadurch aus, dass die Jugendlichen als Wesen abgebildet sind, die nach dem Tod weiterleben bzw. weiterexistieren müssen, oder die Protagonisten stellen den Tod selbst als Person dar. Zum einen zeugt dies von jugendlichen Fantasien, unsterblich zu sein, den Tod nicht fürchten zu müssen, zum anderen ist aber meist die Orientierung an Filmästhetiken offensichtlich: Die Fotos erinnern an Filmstills aus Horrorfilmen oder bekannten Serien, z.B. The Ring oder The Walking Dead. Jedoch stellen die Jugendlichen nicht eine bestimmte Szene nach, sondern versuchen ihre eigene Darstellungsform zu finden. Insbesondere Zombies sind ein gerne verwendetes Motiv, um sich mit dem Todesthema auseinander zu setzen. Dabei bietet sich auch eine Bildbearbeitung mittels Photoshop an (siehe z.B. die flickr-Groups Photoshop of Horrors oder Death by Photoshop). Tod und Versehrtheit dienen also als Thema und Vorwand für Retuschearbeiten und dafür, technische Möglichkeiten der Bildmanipulation auszuloten, wobei beispielsweise eine Nähe zu filmischen Zombiefiguren zu erreichen versucht und diese im Still als Reenactment präsentiert wird. Denn flickr dient generell nicht nur der Kommunikation über Bilder, sondern auch als Portfolio der eigenen Arbeiten und dem Austausch mit anderen FotografInnen, insbesondere bei der bildlichen Inszenierung der Untoten. Hier stehen der Referenzbereich im Vordergrund sowie der Versuch, eine detailgetreue Nachstellung des Zombiethemas zu erreichen. Einige User legen aktuell, mehr noch als im Jahr 2008, Wert auf die überzeugende Darstellung von offenem Wunden und auseinanderklaffendem Fleisch ohne digitale Bearbeitung. Dies liegt insbesondere an dem hohen Bekanntheitsgrad und der Kommerzialisierung von Halloween und an der Verbreitung von
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theatralen Schminkkenntnissen und Produkten. So existieren nicht nur Fotografien von einzelnen Personen in Halloweenkostümen, sondern auch Aufnahmen von Zombie Walks, bei denen sich mehrere hundert bis tausend Personen als Untote verkleiden und durch die Stadt ziehen. Wichtige Accessoires sind dabei Masken, Prothesen und Schminke.
Abb. 10: Zombie Walk. Quelle: Danilo James.
Ein Beispiel dafür ist die Fotografie Zombie Walk von Danilo James. Abgebildet ist ein junges Brautpaar: Die blonde Frau trägt einen weißen Schleier und hält einen mit Blut bespritzten Brautstrauß aus weißen Rosen in der Hand. Auch an ihrem Hals und ihrem Gesicht ist die rote Farbe des Kunstbluts zu erkennen. Ihre Lippen sind wie die einer jungen Geisha geschminkt. Der innen rot geschminkte und damit klein wirkende Mund steht im Kontrast zu der ansonsten weißen, umschließenden Lippe. Die Braut trägt weißes Make-up, was einerseits ein Hinweis darauf ist, dass sie tot ist, andererseits typisch für eine Geisha ist. Die Augen sind schwarz geschminkt, ihr Blick gesenkt. Das weiße Brautoutfit, die weißen Rosen, der Verweis auf die Geisha durch das Make-up und die blonden Haare stehen für Unschuld, was im Kontrast zu den roten Blutflecken steht. Der junge Mann trägt einen schwarzen Anzug mit weißem Hemd und schwarz-weiß karierter Fliege. Sein Kopf ist zur Seite geneigt, die Augen sind starr aufgerissen. Er ist weiß geschminkt wie die Braut. Im Gegensatz zur Frau trägt er einen schwarzen Geisha-Mund, der ebenfalls für Unschuld und Verschwiegenheit stehen kann. Im Entstehungsjahr der Fotografie ist der Geisha-Mund häufiger in den
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Medien zu finden, z.B. tragen die Dior-Models8 auf dem Laufsteg rote GeishaLippen und Lady Gaga trägt im Video zu Paparazzi schwarze Geisha-Lippen.
Abb. 11: Read Head Zombie. Quelle: Austen Haines.
Der Bräutigam auf der Fotografie hat am Kopf und am Hals deutlich erkennbare Wunden. Das Blut rinnt über das Gesicht und hinterlässt auch auf dem weißen Hemd eine Spur. Auf dem schwarzen Sakko sind weiße Spinnweben befestigt, so dass man davon ausgehen kann, dass das Paar schon seit längerem tot sein soll. Eine Zombiedarstellung in weiblicher Spielart mit dem Titel Red Head Zombie entzieht sich jeglicher Todes- und Verfallsnähe und damit scheinbar auch einem weiblich konnotierten Opfer- und Unterwerfungsgestus. Die junge Frau trägt rotes Haar (rot als hexenhafter, aber erotisch reizvoller Signalreiz). Die Lippen sind dunkelrot geschminkt und ihr Gesicht ist dekorativ blutverschmiert, ohne Verletzung, ohne Verfall. Die auffallend blauen Augen werden von starkem Eyeliner gerahmt. Auf dem rechten Wangenknochen befindet sich
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http://www.vogue.co.uk/beauty/2009/03/12/christian-dior-autumnwinter-2009-10. Stand: 21. Oktober 2015.
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ein dünn gemaltes, umgedrehtes Kreuz, auf dem anderen ein kleines Pentagramm. Trotz der Betitelung der jungen Frau als Zombie ist ihre Darstellung nicht entstellend oder unvorteilhaft. Die Aufnahme wirkt eher wie ein Modefoto, welches versucht, sich gängigen Schönheitsdarstellungen zu entziehen, ohne sich der Darstellung von Schönheit zu verwehren. Somit ist diese Aufnahme auch der Kategorie Cool in der tödlichen Selbstdarstellung zuzuordnen, weil Blut und Darstellung als Stilmittel eingesetzt werden, ohne die dargestellte Person bewusst zu verunstalten, sondern um über Referenzen die Erweiterung der Darstellungsformen zu erreichen – ganz im Gegensatz zur Kategorie Untote, bei der normalerweise konsequent an der Demontage gängiger weiblicher Schönheitsideale gearbeitet wird. Die Darstellung schließt hier üblicherweise an die Motivik unberechenbarer, weiblicher Hexen, Dämonen und She-Devils an, die animalisch und gefährlich auftreten. Der weibliche Horrorzombie von Ms_congeniality stellt sich dagegen furchterregend und gar nicht beschönigend dar, sondern sehr beunruhigend und aggressiv. Er ist damit eine visuelle Ausnahme.
Abb. 12: Surprise!. Quelle: Mc_congeniality.
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Abb. 13: Spirit Levitation – Out of Body Experience. Quelle: Louish Pixels.
Weitere Unterkategorien zum Stichwort Untot sind Dämonen, der personifizierte Tod und Geister. Hierbei fällt auf, dass gängige Darstellungsweisen und Symbolisierungen aus Film, Kunst und Literatur übernommen werden: Dämonen zeichnen sich dadurch aus, dass die Personen Sclera-Kontaktlinsen tragen. Diese stammen aus der Gothic- und Manga-Szene und haben sich über das Internet verbreitet. Der Tod wiederum wird mit schwarzer Kleidung und mit Accessoires wie Petroleumlampe und Sense ausgestattet. Bei Geistererscheinungen ist besonders jener Moment beliebt, bei dem aus einem liegenden (leblosen) Körper eine luzide Gestalt schwebt. Louish Pixels Fotografie Spirit Levitation – Out of Body Experience zeigt eine blonde Frau, die auf einem dunklen Holzboden liegt. Sie trägt ein schwarzes Kleid, ihre Augen sind geschlossen. Ihre linke Hand liegt auf dem Bauch, die rechte neben ihr. Das rechte Bein ist angewinkelt. Über ihr schwebt dieselbe Gestalt nochmals – nur in anderer Kleidung. Sie trägt nun ein wallendes weißes Kleid, das sich vom schwarzen Hintergrund stark abhebt. Aufgrund des von oben kommenden Lichts, der weißen Kleidung und der Gestik der Hände erinnert es an eine christliche Auferstehungs- und Erweckungsszene, die durch den Filter der populären Filmkulturen gesehen wird. Es gibt für die Selbst-Darstellung als tote Person weitgehend klare mediale Geschlechtervorgaben. Der Umgang mit dem abgebildeten Geschlechterkörper ist kein reflektierter, da er auch auf den kulturellen Bildvorgaben anderer Medien gründet, in die sich die soziale Geschlechterkonstruktion visuell eingeschrieben hat. In einem Großteil der Körperinszenierungen präsentieren sich Frauen als schöne Leiche und Männer als Opfer eines gewaltsamen Todes, den sie sich mitunter selbst bereitet haben. Sie entsprechen somit wiederum der
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»Grundregel« binärer Geschlechtsunterscheidung, John Bergers »men act – women appear« (1972). Durch einen, ebenfalls möglichen, eher genderneutralen Zombiehabitus, werden genderspezifische Darstellungsformen indes überflüssig. flickr an sich ist somit eine neutrale Plattform der Kommunikation und des Austauschs über Bilder, deren Inhalte den gebotenen Raum genderisieren bzw. geschlechtlich konnotieren. So ist jugendlichen Todesbildern gemein, dass sie einen attraktiven Anreiz darstellen, sich selbst als tot (bzw. untot) zu imaginieren, dies aber ohne jegliche Ambitionen, sich etwas anzutun oder die Nähe zum Suizid zu suchen. Solche Bilder sind bei flickr auch zu finden, haben aber eine gänzlich andere Motivik. Sie thematisieren Abschied, Schmerz, Verletztheit nicht selten mit der Darstellung echter Wunden. Dagegen sind die erwähnten Fotografien die maximale artistische Perfektion eines Reenactment des Todes. Erstaunlich ist, dass früher solche Themen nur in speziellen Nischen wie der Gothic-Szene oder anderen schwarzen Stilen visuell umgesetzt wurden, also in nicht weithin sichtbaren Musikfankulturen. Jetzt ist das ›Tot-spielen‹ und ›Totstellen‹ bei Jugendlichen zum übergreifenden, popkulturellen Phänomen geworden und es ist kein Tabu mehr, sich selbst als tot zu inszenieren, sondern eher ein Spaß für die Generationen, die mit Horror- und Splatterfilmen oder CSI aufgewachsen sind und gerne Halloween feiern. Diese Affinität zu Todesbildern diente einst einer Abgrenzungsstrategie zur Elterngeneration, weil Jugendliche ursprünglich einem Darstellungsverbot des Todes unterlagen, derweil es aber immer zu den Bildprogrammen aller wichtigen Subkulturen dazu gehörte, sich mit Todesssymbolen zu schmücken oder sich selbst als tot darzustellen (vgl. Richard 1995; Richard/Krüger 2010). Das Phänomen der jugendlichen (Selbst-)Darstellung als toter Körper wird, wie die aktualisierten Analysen zeigen, weiterhin mit großer Ernsthaftigkeit betrieben. Die Geste der Authentizität ist von großer Wichtigkeit für die Bilderzeuger – bei gleichzeitigem Betonen der Artifizialität dieser Darstellungen. Der Gebrauch von Blut ist exemplarisch für diese Darstellungsstrategie: Die Gleichzeitigkeit von authentizitätsstiftender Referenz, dem Gebrauch als Make-Up und seiner offensichtlichen Artifizialität im Sinne einer Ästhetisierung von Tod lassen keinen Zweifel daran, dass alles nur Spiel ist. Es handelt sich quasi um eine Entgrenzung ohne Entgrenzung, bei der der ästhetische Wert von der Szenespezifik losgelöst und somit variabel und ungefährlich benutzbar wird, ohne dass auf den rebellischen Impetus der Referenzen verzichtet werden muss. Zudem dient der Tod als Motivgrundlage, um sich mit den technischen Möglichkeiten der digitalen Bildproduktion und Post-Production vertraut zu machen. Facebook, das im selben Jahr wie flickr gegründet worden ist, zeigt einen anderen Umgang mit jugendlichen Todesdarstellungen – was natürlich auch
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durch die unterschiedliche Zielsetzung der Plattformen zu begründen ist. Facebook dient der Selbstdarstellung in Bild und Text. Fotografien, die ein User unpassend findet, können aus folgenden Gründen gemeldet werden: »Es ist nervig oder uninteressant«, »ich bin auf dem Foto und es gefällt mir nicht«, »Es sollte meiner Meinung nach nicht auf Facebook sein«, »Es handelt sich um Spam«. Auseinandersetzung mit Todesdarstellungen könnten häufiger gemeldet werden, da sie auf NutzerInnen verstörend wirken und sie nicht die breite Masse ansprechen. Ein flickr-Account hingegen ist ein Portfolio des Fotografen/der Fotografin und dient nicht unbedingt zur Selbstdarstellung der eigenen Person. Dies führt dazu, dass experimenteller mit dem Bild umgegangen wird. ›Ich selbst, tot im Bild‹ bietet den Jugendlichen hierbei die Möglichkeit, sich selbst aus der Distanz als ästhetisches Experiment zu sehen, also eine mögliche Außenperspektive auf das Selbst fotografisch zu erzeugen und so aus einem sozialen Konsens-Me ein visuell eigenständiges I im Bild zu entwickeln.
L ITERATUR Ames-Lewis, Francis/Joannides, Paul (2003): Reactions to the Master. Michelangelo’s Effect on Art and Artists in the Sixteenth Century, Surrey. Benthien, Claudia (2003): Das Maskerade-Konzept. In: dies./Inge Stephan (Hg.), Männlichkeit als Maskerade. Kulturelle Inszenierungen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln/Weimar/Wien, S. 36-56. Berger, John (1972): Ways of Seeing, London. Bronfen, Elisabeth (1999): Die schöne Leiche. Weibliche Todesbilder in der Moderne, München. Cole, Shaun (2000): Macho Man: Clones and the Development of a Stereotype. In: Fashion Theory 4, Heft 2, S. 125-140. Mead, George Herbert (1973): Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus, Frankfurt am Main. Richard, Birgit (1995): Todesbilder. Kunst, Subkultur, Medien, München. — (2006): Pictorial Clashes am medialen Gewaltkörper: Abu Ghraib, Nick Berg und Johannes Paul II. In: dies./Klaus Neumann-Braun (Hg.), Ich-Armeen. Täuschen – Tarnen – Drill, München, S. 235-255. — (2007): Inkarnationen der Untoten? Virtueller Tod und Leichen in den digitalen Medien. In: Thomas Macho/Kristin Marek (Hg.), Die neue Sichtbarkeit des Todes, München, S. 579-596.
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Richard, Birgit/Grünwald, Jan/Metz, Nina/Recht, Markus (2010): Flickernde Jugend – rauschende Bilder: Netzkulturen im Web 2.0, Frankfurt am Main. Richard, Birgit/Krüger, Heinz-Hermann (Hg.) (2010): Inter-cool 3.0. Jugend Bild Medien, München. Žižek; Slavoj (1991): Liebe dein Symptom wie dich selbst! Jacques Lacans Psychoanalyse und die Medien, Berlin.
F LICKR -B ILDER Alexander Uhrich: Day of the Dead. http://www.flickr.com/photos/ajuhrich/2596286171/. Stand: 21. Oktober 2015. Arka Devbil: Della Morte. https://www.flickr.com/photos/arkadevbil/14812475596/in/faves-129325 046@N03/. Stand: 5. März 2015. Austen Haines: Red Head Zombie. http://www.flickr.com/photos/austenhaines/2991044857/. Stand: 21. Oktober 2015. Danilo James: Zombie Walk. https://www.flickr.com/photos/jamesvaldo/4070987400/in/faves-129325046 @N03/. Stand: 21. Oktober 2015. Fallen2pieces: So Relaxed. https://www.flickr.com/photos/jinogu/6213427308/in/set-72157623769830 753. Stand: 21. Oktober 2015. Harpy_images: Children of the corn-ish pt2. https://www.flickr.com/photos/harpyimages/15616014166/in/faves-129325 046@N03/. Stand: 21. Oktober 2015. Louish Pixels: Spirit Levitation - Out of Body Experience. https://www.flickr.com/photos/louish/7406161022/in/faves-129325046 @N03/. Stand: 21. Oktober 2015. Melinda Szente: Everyone has a dark side. https://www.flickr.com/photos/melindaszente/15047440654/in/faves-1293 25046@N03/. Stand: 21. Oktober 2015. Ms_congeniality: Surprise!. http://www.flickr.com/photos/henrietta1/2603156857/. Stand: 21. Oktober 2015.
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niv tishbi: #3. http://www.flickr.com/photos/nivtishbi/2405207764/. Stand: 21. Oktober 2015. Nora Biggio: Bittersweet. https://www.flickr.com/photos/norizza/2387504504/. Stand: 21. Oktober 2015. Paula R. Feitho: Self Portrait… Post_Mortem. https://www.flickr.com/photos/paularodriguez/15419084928/in/faves-12932 5046@N03/. Stand: 21. Oktober 2015. Sergio: 121b. https://www.flickr.com/photos/sergiorojas/10182713564/. Stand: 21. Oktober 2015.
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I NTERNET http://www.vogue.co.uk/beauty/2009/03/12/christian-dior-autumnwinter-200910. Stand: 21. Oktober 2015.
J UGENDLICHE TODESBILDER
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http://www.uni-giessen.de/jojo-magazin/artikel/03/01/universitaet/schneewitt chen.htm. Stand: 21. Oktober 2015. http://www.tate.org.uk/art/artworks/millais-ophelia-n01506/text-summary. Stand: 21. Oktober 2015.
P RESSE Der Spiegel (2015): Kollektive Hysterie‹ in Frankreich: Die Angst vor den Horror-Clowns. Unter: http://www.spiegel.de/panorama/justiz/clowns-in-frank reich-verbreiten-angst-und-schrecken-a-999932.html. Stand: 21. Oktober 2015.
Tod im Wandel
Postexistenzielle Existenzbastelei M ATTHIAS M EITZLER
Ausgehend von der Individualisierungsthese nach Ulrich Beck analysiert dieser Beitrag den Wandel zeitgenössischer Friedhöfe in Zentraleuropa. Nimmt man Beck beim Wort und setzt voraus, dass sich individualisierte Biografien u.a. durch ein permanentes ›Basteln‹ an der eigenen Existenz auszeichnen, so stellt sich die Frage nach der postmortalen Relevanz dieses Gedankens. Der Fokus soll insbesondere auf moderne Friedhofsgräber als Orte der Sinnzuschreibung und der Konstruktion von Identität gerichtet werden. Die Individualisierung an der letzten Ruhestätte wird als Rückblick auf eine vergangene Existenz verstanden, die fortan mit anderen Mitteln weitergebastelt wird. Eine empirische Grundlage liefern die Erkenntnisse eines laufenden Forschungsprojektes zum »Wandel der Bestattungskultur«, in dem bislang über 950 Friedhöfe im gesamten deutschsprachigen Raum untersucht wurden.
I NDIVIDUALISIERUNG Individualisierung ist ein inzwischen (nicht nur in wissenschaftlichen Diskursen) weitverbreiteter und bisweilen schon inflationär verwendeter Begriff, der häufig dann herbeizitiert wird, wenn es um das Spannungsfeld von Individuum und Gesellschaft geht. Spätestens seit Mitte der 1980er Jahre wird sozialwissenschaftliche Gesellschaftsbeobachtung verstärkt durch die Brille der Individualisierung betrieben. Maßgebend dafür ist ein weit über die akademische Soziologie hinaus bekannt gewordenes Buch über die Risikogesellschaft, dessen Autor Ulrich Beck einen »neuen Modus der Vergesellschaftung« (Beck 1986: 205) identifiziert haben will. Becks Individualisierungsthese bildet einen Grundpfeiler im Rahmen des von ihm herausgearbeiteten Theoriegebäudes der reflexiven Modernisierung,
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das zwischen einer Ersten und einer Zweiten Moderne unterscheidet (dazu ausführlich: Beck/Giddens/Lash 1996). Ungeachtet der Aufmerksamkeit, die Becks Überlegungen bis heute erfahren, ist er vor dreißig Jahren auf kein gänzlich neues Phänomen gestoßen. Oder anders formuliert: Der Individualisierungsbegriff (im Sinne Becks) ist wesentlich jünger als das, was er beschreiben und erklären möchte. So kann im Grunde die gesamte Sozialgeschichte der Neuzeit individualisierungstheoretisch durchdrungen werden (siehe vor allem Schroer 2001) – und vermutlich ist bereits die »Geburt der Soziologie« durch die Individualisierung begünstigt worden (Nassehi 2000).1 Individualisierung steht für einen mit dem Beginn der Moderne verstärkt einsetzenden kulturellen Strukturwandel, der u.a. auf die voranschreitende funktionelle Differenzierung und soziale Arbeitsteilung (vgl. Durkheim 1992) im Zuge der Industrialisierung und Urbanisierung zurückgeht – und das soziale Leben seither nachhaltig verändert hat. Mit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts habe, so Beck, der jüngste Individualisierungsschub eingesetzt. Dieser geht auf »spezifische gesellschaftliche Rahmenbedingungen [zurück], die sowohl durch ökonomische Prosperität und eine wohlfahrtsstaatlich getragene Verbesserung der allgemeinen Lebensumstände als auch eine Sensibilisierung für soziale – klassen-, geschlechts- und herkunftsbezogene – Ungleichheiten gekennzeichnet sind.« (Poferl 2010: 294; Herv. i. O.)
Als erstes von insgesamt drei wesentlichen Individualisierungskennzeichen nennt Beck die so genannte Freisetzungsdimension. Sie beschreibt die Herauslösung von Individuen aus traditionellen Interdependenzen sowie aus »historisch vorgegebenen und zugewiesenen Rollen« (Beck 2014: 180). Diese sei u.a. von einem sich ausdifferenzierenden Arbeitsmarkt, von räumlicher und von sozialer Mobilität begünstigt worden. Die Folge ist ein gewachsenes Maß an Eigenverantwortlichkeit der Sozialakteure, die sich nicht mehr länger über ihre Gruppenzugehörigkeit definieren, sondern sich als autonome Individuen betrachten und betrachtet werden. Während im prä-individualisierten Zeitalter noch machtvolle und einflussreiche Institutionen wie Staat und Kirche die Lebensgestaltung je
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Von den soziologischen Klassikern bis hin zu zeitgenössischen Theoretikern gab und gibt es zahlreiche Ansätze, mit denen die sich verändernde Beziehung von Individuum und Gesellschaft analysiert wird. Markus Schroer (2008a: 139ff.) zufolge lassen sie sich grob in drei Argumentationslinien zur Individualisierung aufspalten: eine negative (Marx, Weber, Horkheimer/Adorno, Foucault, Bauman), eine positive (Tönnies, Durkheim, Parsons, Luhmann) und eine ambivalente Sichtweise (Simmel, Mead, Elias, Kaufmann, Giddens und eben Beck).
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nach Stand bzw. Klasse ›instruierten‹ (im Ergebnis eine Fremdbestimmung), wird dies angesichts des Erodierens von etablierten Strukturmustern, Verhaltensregeln, Herrschafts- und Versorgungszusammenhängen immer mehr zur persönlichen Angelegenheit des Individuums (folglich zu einem Aspekt der Selbstbestimmung). Zu der damit einhergehenden Abnahme an sozialer Kontrolle gehört auch der Verbindlichkeitsverlust traditioneller Bezugssysteme wie der Familie, deren Mitgliedschaft lange Zeit als unkündbar galt. Vergleichbares lässt sich über die Zugehörigkeit zu einer Religion, einem Berufsstand oder einem Heimatort sagen: »Die Bindungen an Ehe, Region und Herkunftsfamilie konnten gekappt werden, weil die individuelle Existenz nun durch die Versorgungsbindung an den Wohlfahrtsstaat und sozialstaatliche Regulative gesichert war.« (Koppetsch 2010: 231) Da die soziale Herkunft eines Subjekts, obschon sie auch heute nicht zum ganz und gar bedeutungslosen Persönlichkeitsmerkmal verkommen ist, weniger denn je den weiteren Lebenslauf ›determiniert‹, sind Klasse und Stand nach Beck weitgehend zu obsoleten Kategorien geworden (vgl. Beck 1983). Derartige Aufweichungen kollektiver Muster bergen für das Individuum gleichermaßen Chancen wie Risiken. Zunächst tun sich für die Lebensgestaltung (etwa in den Bereichen Bildung, Familie, Arbeit, Freizeit und Wohnen) noch nie dagewesene Freiräume auf, insofern die »Anteile der prinzipiell entscheidungsverschlossenen Lebensmöglichkeiten« abnehmen (Beck 1986: 216). Die Pluralisierung der Lebensstile und die Expansion von Lebensgestaltungsmöglichkeiten inmitten einer »Multioptionsgesellschaft« (Gross 1994) machen es erstrebenswert, in möglichst kurzer Zeit möglichst viel erlebt und möglichst wenig ›verpasst‹ zu haben (vgl. Schulze 1992). Stellte sich das Subjekt früher vorrangig in die Dienste (s)einer Gemeinschaft oder war dies zumindest die Erwartung, so ist Selbstverwirklichung mittlerweile zum Imperativ der individualisierten Gesellschaft geworden. Gleichzeitig ist damit eine existenzielle Verunsicherung verbunden, denn die neuen Entfaltungsmöglichkeiten konstituieren bei näherer Betrachtung »riskante Freiheiten« (Beck/Beck-Gernsheim 1994). Mit den herkömmlichen Bindungen gehen auch »traditionelle Formen der Handlungssicherheit« (Scherger 2010: 120) verloren; und mit den Wahlmöglichkeiten wiederum steigt das Risiko, sich für etwas zu entscheiden, das man später bereut. Nicht nur kann sich das Individuum als »Schöpfer seiner selbst« (Schroer 2008b: 113) eine eigene Existenz errichten – es muss dies auch. »In posttraditionalen Kontexten haben wir keine andere Wahl, als zu wählen, wer wir sein und wie wir handeln wollen.« (Giddens 1996: 142) Die Kehrseite der Entscheidungsfreiheit ist der Entscheidungszwang. Anders gesagt: Ein »individualisiertes Leben ist ein ›zur
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Freiheit verurteiltes‹ Leben« (Hitzler/Honer 1994: 307). Ist die ersehnte Freiheit des individualisierten Lebens also schlichtweg eine Illusion? Im Zuge der Individualisierung werden normative Regelwerke wie der Lebenslauf (siehe den Begriff der »Normalbiografie« bei Kohli 1988) zugunsten einer eigenverantwortlichen Existenzbastelei (vgl. Hitzler/Honer 1994) gelockert. Es ist noch keine hundert Jahre her, als sich bestimmte Biografieverläufe mit vergleichsweise hoher Eintrittswahrscheinlichkeit voraussagen ließen. Meistens entschied bereits die von Geburt an festgelegte soziale Position darüber, welchen Bildungsweg ein Mensch einschlagen, welchem Beruf er nachgehen, wann (und vielleicht sogar schon wen) er heiraten wird, wo er seine Lebenszeit im Großen und Ganzen verbringen und wo er schließlich sterben und beerdigt sein wird. Von einer solchen Absehbarkeit und Linearität des eigenen Lebens ist (in der westlichen Welt) gegenwärtig weniger denn je auszugehen. Subjekte finden sich gewissermaßen ›ohne Netz und doppelten Boden‹ wieder; ob sie wollen oder nicht, sie begeben sich auf eine permanente »Ich-Jagd« (Gross 1999). Identität wird damit »zu einem riskanten Projekt« mit offenem Ausgang (Abels 2010: 228). Sei es im Beruf oder im Privatleben, das Risiko des Scheiterns steigt nicht zuletzt deshalb, weil ein Kollektiv fehlt, das dieses Scheitern auffängt. Einige Leitlinien, an denen man sich zuvor gemeinsam orientieren konnte und die eine gewisse Sicherheit versprachen, machen in einer zunehmend komplexer werdenden Gesellschaft neuen Unwägbarkeiten Platz. Damit ist die zweite Individualisierungsdimension nach Beck angesprochen, die der Entzauberung. Weil das Individuum eigenständig Entscheidungen treffen muss, deren Konsequenzen es einerseits selbst zu verantworten hat (vgl. Beck 1983: 59), ohne sie andererseits antizipieren zu können (vgl. Meitzler 2011: 18f.), und weil es außerdem zu ständiger Veränderungsbereitschaft aufgefordert ist, kann Individualisierung zur »Zumutung« werden (Schroer 2010: 276). Bei all dem muss einer voreiligen Pauschalisierung jedoch mit Vorsicht begegnet werden, denn die beschriebenen (günstigen wie ungünstigen) Effekte gelten nicht für jedermann in gleicher Weise. Wo es sowohl Gewinner als auch Verlierer gibt, da erscheint es sinnvoll, Individualisierung vor dem Hintergrund sozialer Ungleichheit zu thematisieren (vgl. Keupp 2010: 254). Letztere wird nämlich »keineswegs beseitigt, sondern nur umdefiniert in eine Individualisierung sozialer Risiken« (Beck 1986: 158; Herv. i. O.). Koppetsch (2010: 236) betont, »dass die Chancen, ein autonomes Leben zu führen, in Zukunft immer weniger für eine breite Mitte verfügbar sind, sondern zu einem Privileg werden, welches mit größerer Wahrscheinlichkeit zukünftig in den höheren Schichten anzutreffen ist.« Der so genannte »Fahrstuhl-Effekt« (Beck: 1986: 122) ist eine
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metaphorische Beschreibung für den gesamtgesellschaftlichen Aufstieg im »Wohlfahrtshochhaus« (Kron/Horáček 2009: 139), garniert mit der entscheidenden Besonderheit, dass »nicht alle in die gleiche Etage fahren« (ebd.). Denn in Zeiten unsicherer Beschäftigungsverhältnisse steigt nicht nur die Chance des sozialen Aufstiegs, sondern auch die des Abstiegs. Inwieweit Menschen von der Individualisierung profitieren oder ob sie ihnen zum Verhängnis wird, ist letzten Endes von den Ressourcen abhängig, die ihnen zur Verfügung stehen. Ein anderer Diskussionspunkt betrifft den vielbeklagten Solidaritätsverlust, den die Individualisierung mit sich bringe. Müssten aber an der Stelle, an der es zu einer Erosion des gemeinschaftlichen Zusammenhalts gekommen ist, nicht umso engagiertere Bemühungen um alternative Auffangmechanismen aufkeimen? Man würde Beck jedenfalls unrecht tun, würde man Individualisierung mit Singularisierung, Isolation, Entsolidarisierung oder grenzenloser Autonomie gleichsetzen. Schließlich benennt er mit der Reintegrationsdimension noch eine dritte Eigenschaft, worunter er »eine neue Art der sozialen Einbindung« versteht (Beck 1986: 206), die im Sinne einer ›sekundären Vergemeinschaftung‹ die traditionelle Einbindung in Stände und Klassen ersetzt. Solche posttraditionalen Gemeinschaften (vgl. Hitzler/Honer/Pfadenhauer 2008) sind vor allem dadurch gekennzeichnet, dass ihre Mitgliedschaft auf Freiwilligkeit, Unverbindlichkeit und jederzeitiger Kündbarkeit beruht – »was sie freilich anfälliger für vorzeitige Auflösungen macht als die traditionalen Sozialbezüge, die für den einzelnen nicht zur Disposition standen« (Schroer 2001: 456). Statt mit Herkunftsgemeinschaften auf Dauer hat man es also verstärkt mit »Wahlgemeinschaften auf Zeit« zu tun (Beck/Bonß/Lau 2001: 58). Dieser Umstand bedeutet jedoch nicht zwangsläufig, dass traditionelle Beziehungsnetze dem Tode geweiht sind; vielmehr werden sie um »neue Vergemeinschaftungsmuster« erweitert, »deren wesentliches Kennzeichen darin besteht, dass sich ihre vergemeinschaftende Kraft nicht länger auf ähnliche soziale Lagen gründet, sondern auf ähnliche ästhetische Ausdrucksformen« (Hitzler/Honer/Pfadenhauer 2008: 9).2
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Während Becks Individualisierungsthese einerseits wie eine »weitgehend akzeptierte Selbstverständlichkeit der öffentlichen Zeitdeutung« (Müller 1998: 249) anmuten mag, ist sie andererseits nicht unkritisiert geblieben. Immer wieder ins Spiel gebrachte Einwände beziehen sich beispielsweise auf ihre Ungenauigkeit und partielle Widersprüchlichkeit, wobei auch ihre Universalität und letztlich ihr Erklärungspotenzial für gesamtgesellschaftliche Wandlungsprozesse angezweifelt werden (siehe die Beiträge in Friedrichs 1998). Außerdem sei eine »harte empirische Evidenz« (Keupp 2010: 246) bisher nicht erbracht worden, was darauf zurückgehe, dass die ihr zugrunde liegenden Hypothesen nicht hinreichend expliziert worden seien.
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E INE
SOZIOLOGISCHE
N ISCHE
Nichts im Leben ist mehr absehbar, so könnte man eine Kernbotschaft der Individualisierungsthese pointiert zusammenfassen. Und man könnte ihr zugleich entgegensetzen: Nichts – außer, dass man sterben muss! Der Tod scheint eine unrelativierbare Gewissheit zu sein. Indes wird auch er von der Individualisierung und ihren Begleiterscheinungen erfasst. Ein Wandel von Lebenswelten, Sinngebungen, Normalitätserwartungen etc. forciert nicht zuletzt auch einen veränderten Umgang mit Sterblichkeit, Abschied, Trauer und Erinnerung. Während es an Überblicksdarstellungen bezüglich der Individualisierungsdebatte (vgl. Junge 2002) und an empirischen Überprüfungsbemühungen (vgl. Friedrichs 1998) nicht mangelt, hat sich die Soziologie bislang nur sehr zaghaft mit der Individualisierung der ›letzten Dinge‹ auseinandergesetzt. Generelle thanatologische Kontexte tauchen durchaus schon in den Werken einiger Klassiker (etwa bei Weber, Simmel, Durkheim, Parsons oder Luhmann) auf, sie nehmen dort allerdings nur eine randständige Position ein. Explizit thematisierten Soziologen Sterben und Tod ohnehin erst ab den 1960er Jahren (vgl. Feldmann/FuchsHeinritz 1995: 7). Hier liegen die Anfänge der Thanatosoziologie – einer soziologischen Teildisziplin, die dieses Etikett erst einige Zeit später erhielt. Dennoch: Der gesellschaftlichen Omnipräsenz und Tragweite des Todes wurde die soziologische Forschung bislang nicht gerecht. Obwohl sie per se soziologische Grundfragen tangiert, bleibt die Endlichkeit des Lebens bis heute ein soziologisches Nischenthema. Dieses Desiderat ist der Ausgangspunkt eines Forschungsprojektes, das die näheren Facetten des Spannungsfeldes von Tod und Gesellschaft in den Blick nimmt. Neben vielem anderen zählt hierzu auch die Synthese aus Individualisierungstheorie und empirisch informierter Thanatosoziologie. Zu analysieren ist dabei, inwieweit Freisetzung, Entzauberung und Reintegration nicht nur bei der Gestaltung des Lebens, sondern auch beim Umgang mit dessen Endlichkeit stattfinden. Was bedeuten Pluralisierung, Eigenverantwortung und Bastelexistenz für die soziale Präsenz Verstorbener? Haben Menschen in der individualisierten Gesellschaft letztlich nicht nur ein eigenes Leben, sondern auch einen eigenen Tod? Diese und andere Fragen wurden im Rahmen des genannten Projektes bereits umfangreich diskutiert (vgl. Benkel 2012; Meitzler 2012a, 2012b; Benkel/ Meitzler 2013a; Benkel/Meitzler 2015). Zugegeben: Manches spricht dafür, Sterben und Tod außerhalb des Individualisierungsgeschehens zu verorten. Aller Lebensstildiversifizierungen zum Trotz scheint schließlich jedes Leben früher oder später an sein Ende zu kommen. Bald mehr, bald weniger schlagartig entzieht der Tod allen Bemühungen,
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sich seine individuelle Existenz zu erbasteln, die dafür notwendigen Grundlagen. Wer gestorben ist, kann seine Handlungsabsichten nicht mehr selbst verwirklichen. »Post mortem sind die Anforderungen, die sich im Zuge der Selbstgestaltung einer persönlichen Lebenswelt inmitten der sozialen Wirklichkeit aufdrängen, obsolet.« (Benkel 2008: 133; Herv. i. O.) Wacker hält sich außerdem das Bild vom Tod als ›Gleichmacher‹, der sämtliche angeborenen, erworbenen oder schlichtweg zugeschriebenen interindividuellen Unterschiede einebnet. ›Als Leich ist jeder gleich‹ – das ist eine Idee, die vor allem im institutionellen Umgang mit toten Körpern verfolgt wird, schließlich stellt der von bürokratischen Ordnungsprinzipien und juristischen Festschreibungen geprägte Weg der Leiche von der Todesfeststellung bis hin zur Beisetzung weniger auf die Individualität des Verstorbenen ab, als vielmehr auf einen störungsfreien Ablauf, der sich von einem ›Fall‹ zum nächsten wiederholt (vgl. Meitzler 2012b). Das ›Lebensschicksal‹ Tod ist im Prinzip vergesellschaftet, denn Sterbenmüssen gilt nicht als Bürde einiger Auserwählter, sondern als generelles Problem. Genauso wenig, wie man sich vorstellen kann, wie es wäre, tot zu sein, lässt sich der Tod außerhalb kultureller Deutungsrahmen und normativer Setzungen denken: »Die Ordnung der Dinge ist auch eine Ordnung der toten Dinge.« (Stoellger 2008: 21) Von einer soziologischen Warte aus erscheint das plausibel – aber stirbt nicht dennoch jeder für sich allein? Letztlich endet mit jedem Tod ein konkretes, von anderen unterscheidbares Leben; aus der Mitte eines hochspezifischen Beziehungsgeflechts heraus verlieren Angehörige ein für sie unverwechselbares Individuum. Je nach Argumentationsperspektive bewegt sich der Tod damit zwischen Individualität auf der einen und Kollektivität auf der anderen Seite, denn man kann ihn als universellen Bestandteil des Menschseins, als institutionelles Verwaltungsproblem, als Auslöser gemeinschaftsstiftender Rituale, als persönliches Widerfahrnis, als alles auf einmal oder als etwas gänzlich anderes betrachten. War die Sepulkralkultur, als Bündelung sämtlicher sozialer Umgangsformen mit Sterben, Tod und Trauer, lange Zeit »ein konservatives Widerlager gegen den Zeitgeist« (Klie 2008: 7), so lässt sich spätestens seit Beginn des neuen Jahrtausends ein gravierender Wandel beobachten, der insbesondere auf Individualisierungsprozesse zurückgeführt werden kann. Die oben erwähnte Freisetzungsdimension findet ihr postmortales Korrelat beispielsweise in der Vorstellung, dass offenbar in immer geringerem Maße ein Mitglied der Herkunftsgemeinschaft stirbt, dafür aber umso mehr eine einzigartige Person, deren Identität mit dem Tod nicht schlichtweg endet, sondern auch nach dem Tod noch explizit gemacht werden kann – vielleicht sogar gerade dann. Wie ein Verstorbener von seinen Angehörigen verabschiedet, betrauert und erinnert wird, ist, so gesehen,
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eine Fortsetzung der Gestaltungsprinzipien, die das Leben durchziehen, indes mit einer Umschaltung, die die Fremdsteuerung nun vollends vor die Selbststeuerung des Lebens stellt. Einige der zentralen Aspekte im Zuge der »Verwaltung des Todes« (Benkel 2012) sind dafür symptomatisch: Neben der Todesanzeige, der Trauerfeier oder der Wahl von Sarg und Urne kann die Vorstellung einer Passgenauigkeit von Abschiedsritualen zur individuellen Lebenswelt beispielsweise durch die Bestattungs- bzw. Beisetzungsart zum Ausdruck kommen. So etwa dann, wenn jemand, der ein besonderes Verhältnis zum Meer hegte, eine Seebestattung erhält, wenn die Asche eines Hobbypiloten von einem Flugzeug aus verstreut wird oder die eines bekennenden Naturfreunden unter einer Baumwurzel ihr ›Totenlager‹ findet. »Der Mensch hat heutzutage die Freiheit, ein letztes individuelles, diesseitiges Ausrufezeichen zu setzen, das durch die Beisetzungsart das eigene Leben zugleich spiegelt.« (Gernig 2011: 122) Die damit verbundene Entzauberungsdimension wiederum äußert sich in einer Flexibilisierung von Sepulkralkonzepten, die mit der gesellschaftlichen Pluralität Schritt hält. Lange Zeit unterlag die klassische Körpererdbestattung in Zentraleuropa einem alternativlosen christlichen Deutungs- und Ritualmonopol, derweil sie heute nur mehr eine Möglichkeit unter vielen darstellt. Die Nachfrage ist seit Jahren rückläufig; im deutschen Bundesdurchschnitt wird die Erdbestattung zugunsten der Kremation mittlerweile nur noch in weniger als der Hälfte aller Todesfälle vollzogen. Ihr auf religiösen Glaubenssätzen gebautes Fundament scheint von profan anmutenden Vorstellungen und Wünschen allmählich eingerissen zu werden. Während der unverbrannte Leichnam hierzulande ausschließlich erdbestattet wird, ermöglicht die Kremation einen vielförmigen Umgang mit den Körperresten. Aber nicht nur die Bestattung, sondern auch die ihr vorausgehenden, die sie begleitenden und die ihr nachfolgenden Rituale stehen heute im Zeichen der Optionenvielfalt (vgl. Benkel 2015). Ein subtiler Kampf um die ›Durchsetzungsfähigkeit‹ von Angeboten hat begonnen (vgl. Akyel 2013) – und diese Entwicklung wird sich in Zukunft weiter fortsetzen. Für Angehörige stellt die ›neue Unübersichtlichkeit‹ bei Bestattungsangelegenheiten eine potenzielle Belastung dar. Auf ihre Rolle als Bestattungskunden würden die meisten Betroffenen vermutlich gerne verzichten. Überdies liegt häufig ein Informationsdefizit vor, da der Kauf von Totenfürsorgeleistungen ein vergleichsweise seltenes Lebensereignis darstellt. Sofern die verstorbene Person zu Lebzeiten keine eigenständige Bestattungsvorsorge betrieben hat, sind von den Angehörigen unmittelbar nach dem Todesfall kurzfristige Entscheidungen mit langfristigen und meist irreversiblen Folgen zu treffen. Zur Krise des erlebten Verlustes gesellt sich also noch das Problem, sich ›nicht nicht entscheiden‹ zu können. Ganz im Sinne der Individualisierungsthese werden Menschen heute
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nicht mehr nur in solchen Gebieten Entscheidungen abverlangt, in denen sie sich auskennen. Daraus ergibt sich als Effekt die Ausbreitung eines Expertentums in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Handlungsfeldern – nicht zuletzt im Bestattungswesen, wo die Beratungskompetenz der damit vertrauten Berufsakteure (und sogar spezifisch beauftragter Subunternehmer) an Bedeutung gewonnen hat.
D IE F RIEDHOFSLANDSCHAFT
VERÄNDERT SICH
Seit jeher gelten Friedhöfe als Kulturarchive und als ›Spiegel der Gesellschaft‹. Gräber und deren Anordnung zeugen davon, wie Menschen miteinander leben, einander verabschieden, einander betrauern und einander erinnern. In jedem Fall gehen die (Be-)Deutungen des Friedhofs weit über die Lösung eines ›Körperverwaltungsproblems‹ hinaus. Die empirische Sozialforschung ›vor Ort‹3 lässt auf einen tiefgreifenden Wandel schließen, der ganz im Zeichen einer Loslösung von etablierten Mustern steht. Gesamtgesellschaftliche Transformationsprozesse, die einander bedingen, aufeinander wirken und sich prinzipiell unter das Schlagwort der Individualisierung subsumieren lassen, führen gemäß empirischer Befunde zu einer sukzessiven Veränderung von Friedhofslandschaften. Um hier nun sowohl den sichtbaren, wie auch den weniger sichtbaren Individualisierungsspuren zu folgen, lohnt zunächst ein kurzer Blick auf die Friedhöfe der (jüngeren) Vergangenheit. Noch vor wenigen Dekaden zeichneten die Ruhestätten größtenteils ein uniformiertes Erscheinungsbild und folgten Gestaltungsrichtlinien stark kollektivistischer Prägung. Lange Zeit blieb die besagte Vorstellung von der Gleichheit nach dem Tod, deren Wirkung sich folglich auch auf der räumlichen Ebene heraus zu kristallisieren hatte, in die Friedhofsarchitektur ein-
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Ein wesentlicher Teil des Projektes besteht aus explorativer Feldforschung. Gemäß einem zuvor ermittelten Kategoriensystem werden dabei bestimmte Grabstätten fotografisch dokumentiert. Üblicherweise handelt es sich um Gräber, die als ›außertraditionell‹ eingestuft werden können und Hinweise auf den sepulkralen Wandel der vergangenen Jahre geben (dazu gleich mehr). Die mittlerweile über 53.000 fotografierten Ruhestätten werden nach vorgegebenen Kriterien katalogisiert und vereinzelt bildhermeneutisch ausgewertet. Ergänzend dazu werden qualitative, leitfadengestützte Experteninterviews geführt (u.a. mit Friedhofsverwaltern, Bestattern, Steinmetzen, Pfarrern, Friedhofsgärtnern und Trauerrednern). Zur methodischen Ausrichtung des Projektes siehe ausführlich Benkel/Meitzler 2015. Nähere Informationen finden sich außerdem unter: www.friedhofssoziologie.de (letzter Zugriff am 30. April 2016).
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geschrieben. Genauso wie nun einmal niemand »›toter‹ als der andere« ist (Benkel 2012: 75), wiesen die Grabsteine hinsichtlich ihrer Ästhetik und der nüchternen Informationen untereinander kaum merkliche Unterschiede auf; vielmehr legten sie Assoziationen zu Reihenhaussiedlungen nahe (vgl. Büsche 2006: 37). Inzwischen jedoch zeigt der Friedhof4 kein derart monotones, sondern ein vergleichsweise vielseitiges Gesicht. Veränderte normative Strukturen, d.h.: ein verändertes Bewusstsein über Sterben und Tod und alternative Bilder der Bestattungskultur, schlagen sich offenkundig auch auf dem Friedhof nieder. Bemerkbar macht sich der soziale Wandel sowohl im Hinblick auf die Grabarten, als auch in Bezug auf Grabgestaltungen. In beiden Fällen sind Pluralisierungseffekte und die Abkehr von Traditionen zu verzeichnen. Wie bereits angedeutet, hat die Erdbestattung (die vormals üblicherweise im Familienwahlgrab stattfand) ihren Charakter geändert: von der Konvention wurde sie zur Option. Dank Kremation sind inzwischen neue Grabformen entstanden, deren Gemeinsamkeit im Wesentlichen darin besteht, dass sie tendenziell platz-, kosten-, sowie pflegesparenden Motiven folgen. Reihengräber, Urnenwandnischen oder anonyme Beisetzungswiesen erfahren aktuell eine erhöhte Nachfrage und bilden einen Kontrast zum vergleichsweise monumentalen und breitflächigen Familienwahlgrab, das immer seltener beauftragt wird. Inwieweit sich dieser Wandel auf Individualisierungsschübe zurückführen lässt, kann anhand der Freisetzungsdimension veranschaulicht werden. Der Verbindlichkeitsverlust der Familie als Ausdruck einer traditionellen Gemeinschaft ist u.a. dadurch bedingt, dass ihre Mitglieder (die ja üblicherweise für die Grabpflege zuständig sind) immer häufiger nicht mehr gemeinsam am gleichen Ort oder zu-
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Dass an dieser und anderen Stellen von ›dem‹ Friedhof gesprochen wird, dient lediglich einer vereinfachten Darstellbarkeit. Fraglos lassen sich Friedhöfe hinsichtlich ihrer Flächengröße, ihrer geografischen Lage, ihrer Trägerschaft (konfessionell, kommunal oder privat), ihrer Bestattungsmöglichkeiten und nach einigen weiteren Kriterien unterscheiden. Solche Variablen werden im oben genannten Forschungsprojekt bei der Auswahl und der Kategorisierung der Friedhöfe berücksichtigt. Modernisierungsprozesse wie Säkularisierung und Individualisierung können insofern auch nicht auf jedem Totenacker gleichermaßen beobachtet werden. Mancherorts sind sie bereits seit Jahrzehnten sichtbar, anderswo dagegen erst seit wenigen Jahren, und auf wieder anderen Friedhöfen stößt man bislang lediglich auf zaghafte Ansätze. Wie die empirische Erfahrung offen gelegt hat, können insbesondere die Nekropolen von Großstädten als Vorreiter und Entfaltungsorte einer sepulkralen Individualisierung verstanden werden, während kleinere Dorffriedhöfe diesem Trend erst allmählich folgen.
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mindest in unmittelbarer geografischer Nähe zueinander leben. Als Grund dafür kann vor allem eine veränderte Arbeitsmarktstruktur ausgemacht werden, die einem ein erhöhtes Maß an (räumlicher) Flexibilität abverlangt. Die zugenommene Mobilität, aber auch ein Wandel ökonomischer Verhältnisse forcierten einen ›neuen Pragmatismus‹ bei der Wahl der Grabform. Wenn einer dauerhaften Grabpflege nicht nachgekommen werden kann (oder sie aus anderen Gründen bewusst gemieden wird), nimmt es kaum Wunder, dass die Entscheidung vermehrt auf solche Begräbnismodelle fällt, die den ›verpflichtenden Charakter‹ eines Friedhofsbesuchs abfedern.
Abb. 1 und 2: Insignien der Persönlichkeit an zeitgenössischen Grabstätten. Quelle: Projektarchiv Benkel/Meitzler.
Auch der Friedhof selbst muss – trotz bestehender, letzthin aber umgehbarer Verordnungen – nicht mehr länger als finaler Ruheort der Toten dienen. Alternative Bestattungen jenseits der Friedhofsmauer erfreuen sich aktuell einer gewachsenen Beliebtheit. Ihre Bandbreite reicht von Naturbeisetzungen im Wald über Seebestattungen und Ascheverstreuungen bis hin zur häuslichen Urnenverwahrung und sogar zu exotisch anmutenden Varianten wie der Diamant- oder der Weltraumbestattung (dazu ausführlich: Meitzler 2013: 250ff.). Nur ein Bruchteil dieses Angebots lässt sich in Deutschland zurzeit ohne größere Hürden realisieren; vieles ist verboten. Der juristische Wandel, der sich parallel in den vergangenen Jahren im Bestattungsrecht abgespielt hat (vgl. Spranger/Pasic/
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Kriebel 2014), deutet indes an, dass sich an diesem Umstand in naher Zukunft noch einiges verändern wird. War es lange Zeit ein Privileg, in der ›geweihten Erde‹ des Gottesackers beigesetzt zu werden, was einigen Menschen (beispielsweise Mördern oder Selbstmördern) ausdrücklich verwehrt blieb, unterliegt der zeitgenössische Friedhof als primärer Ort von Trauer und Andenken bisweilen stark divergierenden Bedeutungszuschreibungen, die auch mit der Vielfalt von Lebensstilen einhergehen. Für einige ist der Friedhof eine wöchentliche oder gar tägliche Anlaufstelle; er bildet für sie das Zentrum der rituellen Verlustverarbeitung. Von manchen wird das Grab dagegen nur an bestimmten Tagen (etwa an Allerseelen, an Weihnachten oder an Geburtstagen des Toten) aufgesucht – und für andere spielt diese Stätte überhaupt keine Rolle. Das Auseinanderdriften von Beisetzungs-, Trauer-, und Erinnerungsort (vgl. Fischer 2011: 125), spricht für ein in Richtung Selbstbestimmung verändertes Trauern – und für ein verändertes Erinnerungsmanagement von Hinterbliebenen, die heute mehr als früher eigene Wege und Orte suchen und finden müssen.
B ILDERGRUSS
DER
L EBENDIGKEIT
Von nun an richtet sich der Fokus weg von den Beisetzungsformen und hin zu konkreten Gestaltungsprinzipien ›posttraditionaler‹ Ruhestätten. Die Feldforschung hat offenbart, dass die These von der zunehmend um sich greifenden ›Friedhofsflucht‹ und das Szenario vom leerstehenden Friedhof aktuell keine empirische Evidenz aufweisen (vgl. Meitzler 2013: 307). Stattdessen ist der Friedhof mehr denn je ein Ort der Aneignung – und er ist ein Ort, an dem Lebenswelten bzw. deren Darstellungsformen auf bemerkenswerte Weise Einzug erhalten. Dass sich heutige Gräber und Inschriften immer öfter von traditionellen Konzepten lösen und somit von ihren historischen Vorläufern unterscheiden, lässt so mancher Friedhofsbesuch rasch erkennen. Waren die meisten »Grabtexte«5 früher noch von einer Art religiösem Überbau geprägt, etwa indem ihre Inschriften die Aussicht auf ein Fortexistieren im Jenseits transportierten, ist aus
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Damit ist »die Gesamtheit jener dem Grab beigefügten Gestaltungs- und Verzierungselemente« gemeint, »die in die Wahrnehmung des Betrachters geraten können und üblicherweise so platziert wurden, dass sie ein entsprechendes Maß an Aufmerksamkeit wenigstens hypothetisch erregen können« (Benkel 2012: 48).
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einer derartigen Vorschau heute eine Rückschau geworden. Durch kompakte Lebensweltbilanzen gewinnen moderne Ruhestätten an Individualität.6 Mal ausführlich und mal eher lakonisch, mal verhalten oder kryptisch und mal drastisch und unmissverständlich berichten Gräber zunehmend über die Biografie und Persönlichkeit eines Verstorbenen. Wenn man so möchte, taten sie das früher zwar auch schon – qua Namen und Lebensdaten –, doch spätestens seit Ende des 20. Jahrhunderts lassen sich deutliche quantitative und qualitative Veränderungen von Ritualen, Zeichen und Symbolen beobachten. Friedhofslandschaften werden hierdurch um mitunter sehr persönliche, überraschende und eigensinnige, ja buchstäblich ›ungewöhnliche‹ Einsichten bereichert (vgl. Benkel/Meitzler 2014a, 2016a). An diesem vermeintlichen Ort der Stille und des Todes wird mehr denn je deutlich, dass in Wahrheit eine (Rück-)Besinnung auf die Mitte des Lebens stattfindet. Während sich Lebensweltrekurse an der Begräbnisstätte in viele verschiedene Kategorien einteilen lassen (Berufe, Hobbys, Alltagsartefakte, ›Privatpoesien‹, Tierdarstellungen etc.; siehe dazu Benkel/ Meitzler 2013b: 104ff.), soll nun mit der Einbindung von Fotos ein Sepulkralphänomen näher beleuchtet werden, bei dem Individualisierung, Erinnerung und Visualität auf besonders bemerkenswerte Art zueinander finden. »In keiner anderen Gesellschaftsform der Geschichte hat es eine derartige Konzentration von Bildern gegeben, eine derartige Dichte visueller Botschaften« (Berger 1974: 122). Vor dem Hintergrund einer »visuellen Kultur« (Balázs 2001: 104), in der man sich einem »Dauerregen von Bildern ausgesetzt« (Anders 1980: 250) sieht, ist der Einzug fotografischer Lebensweltindikatoren auf dem Friedhof eine nur allzu konsequente Entwicklung. Dadurch, dass Menschen nicht nur Konsumenten, sondern auch Produzenten bewegter wie unbewegter Bilder sind, und dadurch, dass das Anfertigen von Fotos dank der technischen Möglichkeiten zu einer gesellschaftlich weit verbreiteten Praktik geworden ist, lassen sich Biografien heute bildhaft und darin überaus detailreich, potenziell sogar ›lü-
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Die Idee vom individuellen Grab ist streng genommen kein Kind der Gegenwart, auch wenn ihr – wie weiter unten veranschaulicht wird – heute eine andere Bedeutung und Verbreitung zukommt. Als Ausdruck von Bürgerlichkeit wurden für einige Vertreter in der frühen Neuzeit besonders prunkvolle Ruhestätten eingerichtet, die allein schon durch ihre Größe aus der Masse hervorstachen und die distinguierte Position dieser Verstorbenen (und ihrer Angehörigen) überdeutlich ausbuchstabierten. Anders als heute waren individuelle Grabmäler damals vor allem solche, die sich nur die wenigsten leisten konnten. Abgesehen von einigen Ausnahmen scheint die übermäßige Repräsentanz des gehobenen sozialen Status (oder auch: die Konstruktion dieses Status durch die Grabgestaltung) längst aber aus der Mode gekommen zu sein.
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ckenlos‹ dokumentieren. »Leben heißt fotografiert werden und Aufzeichnungen vom eigenen Leben zu besitzen«, hielt Susan Sontag fest (zit. nach Schroer 2010: 283). Welche mannigfaltigen Funktionen Fotos für die Erinnerung an Tote besitzen, kann mit der Fokussierung auf Bilder an Grabsteinen hier nur ausschnitthaft betrachtet werden (siehe stattdessen ausführlicher: Sykora 2009, 2015; Meitzler 2011: 209ff.; Benkel/Meitzler 2014b, 2016b). Innerhalb der mitteleuropäischen Memorialkultur ist das Anbringen von Fotos an Gräbern kein modernes Phänomen, sondern im Grunde schon so alt wie die fotografische Technik selbst. Dass es sich dabei um ein traditionsreiches Ritual handelt, bezeugen die Porzellanovale an oft über hundert Jahre alten Grabsteinen, die sich noch auf dem einen oder anderen Totenacker (beispielsweise auf dem Wiener Zentralfriedhof) finden lassen. Zur Zeit des Nationalsozialismus war die individuelle Kennzeichnung der Ruhestätte unpopulär, weil darin ein Widerspruch zur damals geltenden Ideologie einer kollektivistisch geprägten Volksgemeinschaft gesehen wurde. An der fotografischen Abstinenz auf Friedhöfen hat sich auch in der Zeit nach 1945 lange nichts geändert. Erst seit den 1990er Jahren sind Bilder an Gräbern wieder en vogue – und das mittlerweile in einer noch nicht dagewesenen Verbreitung und Ausdifferenzierung.7 Der Gang über einen Friedhof erinnert heute zunehmend an das Betrachten eines Fotoalbums, dessen Bilder gewissermaßen als Individualitätsgaranten wirken: Mögen symbolische Versinnbildlichungen von Berufen, Freizeitkontexten, Lebenseinstellungen und dergleichen zwar Essenzielles über den Toten verraten, so erscheint doch nichts persönlicher und besitzt mehr Wiedererkennungswert als seine vermeintlich ›unbestechliche‹ visuelle Vergegenwärtigung. Das erscheint erst recht plausibel, wenn man bedenkt, dass schon zu Lebzeiten die Einzigartigkeit eines Akteurs durch sein Gesicht evident wird. Als soziales Display liefert es im Alltag relevante Informationen über seinen ›Eigentümer‹ und dient als primärer Adressat von Kommunikationsanliegen. Genauso wie Menschen in erster Linie an ihrem Gesicht (wieder-)erkannt werden, macht sich auch die Erinnerung an sie an ihrem Antlitz fest.8 Waren es zunächst vorrangig Portraitaufnahmen professioneller Fotografen, die die Grabanlagen zierten, sind mit der Verbreitung der Amateur- und spätes-
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Erste Vorläufer dafür waren in Stein gemeißelte Gesichter, Portraitbüsten und Körperstatuen bekannter Würdenträger.
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Es verwundert also nicht, dass die allermeisten Fotos, die einem an Ruhestätten begegnen, Gesichter abbilden. Zwar finden sich mitunter auch Teil- oder Ganzkörperaufnahmen, doch ist selbst in solchen Fällen üblicherweise das Gesicht des Verstorbenen (teilweise) zu erkennen (vgl. Benkel/Meitzler 2014b: 49).
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tens seit dem Durchbruch der Digitalfotografie auch zunehmend Alltagsschnappschüsse zu verzeichnen, die den Verstorbenen in vielerlei Lebenssituationen zeigen – im Urlaub, bei einer Feier, beim Golfen, am Strand, vor dem Schachbrett, auf der Kegelbahn, im Getränkemarkt, beim Reparieren eines Fahrrads, beim Autofahren oder beim Telefonieren. Standen für die Auswahl des ›passenden‹ Bildes früher, wenn überhaupt, nur ein paar wenige Aufnahmen zur Verfügung – Fotografieren und Fotografiertwerden waren aufwändig –, muss heute in vielen Fällen aus einer kaum mehr zu überblickenden Bildfülle ausgewählt werden. Die ›Hypervisualisierung‹ des Alltagslebens forciert, wenn man so möchte, eine weitere Multioptionalität des Totengedenkens. Generell weisen Fotos an Gräbern eine starke Variabilität auf. Mal handelt es sich um professionell angefertigte und befestigte Porzellanovale, mal wurden sie von den Angehörigen selbst ausgedruckt, provisorisch an den Stein geklebt oder in einem Bilderrahmen auf den Boden gestellt. Mal sind sie aufgrund ihrer Größe und ihrer exponierten Platzierung schon aus der Ferne zu sehen, mal sind sie winzig und erst bei näherem Hinschauen erkennbar, mal ist nur der Verstorbene abgebildet, mal sind es Freunde und Verwandte, mal wurde ein relativ aktuelles Foto gewählt, das den Verstorbenen einige Wochen vor seinem Tod zeigt, mal handelt es sich um ein über 50 Jahre altes Jugendfoto; mal ist es nur ein einziges Bild, mal sind es ganze Fotocollagen, mal diente die Fotografie nur als Vorlage für eine aufwändige Steingravur und manchmal blickt dem Grabbesucher sogar ein dreidimensionales Gesicht im gläsernen Hologramm entgegen. Bei aller Vielfalt der Körperrepräsentation haben solche Fotos doch die Gemeinsamkeit, dass sie mutmaßlich nicht aus dem Anlass entstanden sind, später einmal als ›Erinnerungsanker‹ auf dem Friedhof zu dienen. Überdies zeigen die meisten Bilder weder tote noch augenscheinlich todkranke Menschen, sondern lebendige Akteure, die in dem Moment, als der Kameraauslöser betätigt wurde, wohl nicht daran gedacht haben, dass genau dieses Foto in naher oder ferner Zukunft Bestandteil ihrer eigenen Ruhestätte sein wird (vgl. Meitzler 2013: 314). Doch geht es bei Fotos auf dem Grabstein tatsächlich nur darum, einen Bildergruß der Lebendigkeit zu hinterlassen? Bei fremden, zufälligen Grabbesuchern evoziert das Foto keine Erinnerungen an die abgebildete Person. Wer den Verstorbenen hingegen kannte und dessen Beisetzungsort gezielt aufsucht, benötigt das Foto nicht, um sich zu erinnern. Man hat den Verstorbenen entweder noch mental ›vor sich‹ oder im Fotoalbum bzw. auf der Computerfestplatte gespeichert (vgl. ebd.: 315). Worin also liegt die Funktion von Grabsteinfotos? Hier scheinen vor allem symbolische Komponenten von tragender Bedeutung zu sein. Zum einen mag es Angehörigen tröstlich erscheinen, dem Verstorbenen an seiner Grabstätte »in die Augen schauen« (Benkel 2012: 139) zu können. Zum an-
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deren stellt das Foto des Toten nicht nur eine besonders eindrückliche Art der postmortalen Sichtbarkeit, sondern auch eine Evokation von Lebendigkeit dar – just an jenem Ort, an dem seine materiellen Körperreste zum Verschwinden gebracht wurden. Das Spannungsfeld zwischen Präsenz und Nichtpräsenz am Grab lässt sich mit der Idee der zwei Körper der Toten illustrieren, in die sich der Leib nach dessen Tod aufspaltet (siehe dazu ausführlich Benkel 2013: 58ff.). Mit dem ersten Körper ist die Leiche gemeint, die aus dem sozialen Umfeld der Hinterbliebenen ausgegliedert wird und am Begräbnisort ihre Sichtbarkeit letztlich vollständig verliert. An ihre Stelle tritt nun der zweite Körper in Form eines Erinnerungskörpers, der für die Angehörigen weiterhin sichtbar und von sozialer Relevanz ist. Der den Verstorbenen repräsentierende zweite Körper findet mannigfaltige Erscheinungsformen – und eine davon ist seine Visualisierung an der Grabstätte.
W ER BASTELT
POSTMORTEM ?
»Totsein heißt den Lebenden ausgeliefert sein«, lautet eine Feststellung von Jean-Paul Sartre (1993: 934), die in mehrerlei Hinsicht zutrifft. Den Lebenden ausgeliefert ist nämlich sowohl der erste, als auch der zweite Körper der Toten. Weder können sich die Nicht-mehr-Lebenden dagegen wehren, was mit ihrem Leichnam passiert, noch sind sie dazu im Stande, das Erinnern der Hinterbliebenen aktiv zu beeinflussen. Als lebendiger Mensch stehen einem bei der Konstruktion und Inszenierung der eigenen Identität unterschiedliche Mittel zur Verfügung. Man ergreift beispielsweise einen bestimmten Beruf oder geht bestimmten Hobbys nach, man partizipiert an bestimmten gesellschaftlichen Bereichen und Gütern, knüpft und pflegt bestimmte soziale Kontakte usf. All das geschieht im Lichte der Existenzbastelei und trägt maßgeblich zur Entstehung und Entwicklung eines Selbst- und Fremdbildes bei. Doch wer bastelt post mortem? Und was wird dabei mit welchen Werkzeugen erbastelt? Mit der leiblichen Existenz endet zwar die selbstinitiierte Existenzbastelei – unter geänderten Vorzeichen kann sie aber stellvertretend durch die Hinterbliebenen fortgesetzt werden. Der Friedhof macht auf bemerkenswerte Weise deutlich, wie sehr Existenzen der Bastelei durch andere ausgeliefert sind. Die Einrichtung, Gestaltung und Sinngebung der Grabanlage wird bekanntlich nicht von den Toten, sondern von den Lebenden vorgenommen. Sie sind es, die eine ›abgeschlossene‹ Biografie am Grab rückblickend inszenieren. Die Bewahrung bzw. (Re-)Konstruktion einer über den Tod hinausgehenden Identität
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und Individualität ist in erster Linie die Angelegenheit derjenigen, für die der Tote eine soziale Bedeutung hatte – und noch immer hat. Das der Individualisierung zugrundeliegende »Gebot zur Selbstinszenierung« (Schroer 2010: 286) findet in Form einer Fremdinszenierung also seinen sepulkralen Widerhall. An dieser Form der Existenzbastelei ist der Verstorbene nicht mehr eigenverantwortlich beteiligt. Wird die Ich-Jagd auf dem Friedhof folglich zur ›Du-Jagd‹? Auch wenn Menschen lange Zeit vor ihrem Tod spezifische Wünsche bezüglich der späteren Grabkomposition prinzipiell äußern bzw. testamentarisch festlegen können (vgl. Willer/Weigel/Jussen 2013), ist die über das eigene Lebensende hinausreichende Autonomie bloß symbolischer Natur. Inwiefern ihre früheren Anliegen von den Lebenden postmortal umgesetzt werden, können die Toten, wenn es dann ›soweit‹ ist, nicht evaluieren.9 Ist vor diesem Hintergrund die Individualisierung der Toten nicht auch und vor allem eine Individualisierung der Lebenden? Sagen die Lebenden, wenn sie etwas über ›ihre‹ Toten sagen, nicht unweigerlich auch etwas über sich selbst – und über die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sie leben? Dient das, was auf dem Friedhof der Fall ist, also ohnehin nicht eher den Lebenden als den Toten – und wäre es daher nicht sogar treffender, weniger vom ›Grab der Toten‹, als vielmehr vom ›Grab der Lebenden‹ zu sprechen? Analog zur Unterscheidung der zwei Körper kann diesbezüglich zwischen den zwei Gräbern der Toten differenziert werden. Dabei markiert das erste Grab jene Stelle (unter der Erdoberfläche, hinter der Urnenwandplatte etc.), an welcher der erste Körper, also die Leiche, verwahrt und der Sichtbarkeit entzogen wird. Alle weiteren Funktionen der Ruhestätte beziehen sich indes auf ihren oberirdischen, sichtbaren und gestaltbaren Teil, der für die Lebenden weitaus relevanter ist, und der deshalb als zweites Grab verstanden werden kann. Sämtliche Erinnerungen, Trauerhandlungen, Projektionen und Sinnzuschreibungen der Lebenden zielen damit für gewöhnlich
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Ein Fall, der nicht eben selten vorkommt, lautet in etwa so: Nach dem Tod eines Ehepartners wird dieser in einem Doppelgrab beigesetzt. Der noch unbelegte zweite Platz in diesem Grab ist fortan für die noch lebende Witwe bzw. für den Witwer reserviert. Zugleich entscheidet diese Person, wie das Grab gestaltet werden soll. U.a. um den Nachkommen Aufwand und Kosten zu ersparen, lässt sie nicht nur Namen und Lebensdaten ihres verstorbenen Partners in den Stein eingravieren, sondern auch ihren eigenen Namen und ihr Geburtsdatum, das später nur noch um das Todesdatum zu ergänzen ist. Ebenso wird ein Bild angebracht, das den inzwischen Verstorbenen gemeinsam mit dem Noch-Lebenden zeigt. Auch wenn letzterer genau jene Ruhestätte gestaltet und pflegt, von der er annimmt, dass sein Körper dort später selbst bestattet wird, tut er all dies natürlich nicht als Toter, sondern lediglich als ›Toter in spe‹.
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nicht auf den ersten Körper und das erste Grab, sondern auf den zweiten Körper und das zweite Grab.10 Der gewählte Terminus von der postexistenziellen Existenzbastelei kann wiederum mit dem Konzept der zwei Körper bzw. zwei Gräber verbunden werden. ›Postexistenziell‹ bezieht sich dabei auf den Zustand der Nicht-mehr-Anwesenheit, genauer: der dem mitmenschlichen Zugriff enthobenen Präsenz des ersten Körpers. Als ehemals aktiv sinnhaft handelnder Mensch und sozialer Adressat existiert dieser Körper nicht mehr. Was hingegen bleibt, ist der zweite Körper, dessen Existenz von den Angehörigen am zweiten Grab erbastelt und dadurch aufrechterhalten werden kann.11 In Gestalt seines zweiten Körpers wird der nichtpräsente Tote durch die rituelle Konstruktion seiner Person (vgl. Hitzler 2012) am zweiten Grab wieder präsent. Der Verstorbene wird dadurch identifizierbar; er bleibt nicht anonym, sondern wird zu jemandem gemacht. Dieser Vorgang ist immerzu mit Selektion verbunden, denn der auf relativ wenige Mitteilungsebenen limitierte Rahmen einer Grabstätte stellt Hinterbliebene vor die Herausforderung, aus der Menge an Möglichkeiten eine konkrete Darstellungsform auszuwählen – unter Vernachlässigung von allem anderen. Zudem erschwert die nur geringfügig veränderbare Materialität des Grabes eine flexible Anpassung an den sich verändernden Trauerprozess.12 Weil Angehörige über die konkrete Grabgestaltung – im Gegensatz zu anderen Fragen (etwa die nach der Wahl der Bestattungsart) – nicht binnen kürzester Zeit entscheiden müssen, kann davon ausgegangen werden, dass sie zumeist das
10 Nur in sehr seltenen Fällen wird im Grabtext unmittelbar auf den ersten Körper Bezug genommen – etwa dann, wenn explizit gemacht wird, dass sich die körperlichen Überreste nicht an diesem, sondern an einem anderen (bekannten oder unbekannten) Ort befinden. 11 Es gibt aber auch eine Facette der Individualisierung, die am ersten Körper bzw. am ersten Grab ansetzt und nach der Beisetzung nicht visuell zugänglich ist. Ein Beispiel ist die Wahl des Sarges; mittlerweile existieren zahlreiche Modelle, die von traditionellen Standards abweichen. Zudem besteht die Möglichkeit, den Sarg vor seiner Beisetzung zu bemalen oder zu beschriften. Ferner kann der Verstorbene in einer für ihn bedeutsamen Kleidung (wie Fußballtrikot oder Karnevalskostüm) bestattet werden, darüber hinaus können ihm Angehörige bestimmte Artefakte in den Sarg legen (statt sie typischerweise an der Erdoberfläche als Teil des zweiten Grabes zu drapieren). Angesichts dessen könnte auf dem Friedhof zwischen einer sichtbaren und einer unsichtbaren Individualisierung unterschieden werden. 12 An diesem Punkt setzen im Übrigen so genannte Online-Friedhöfe an, die einen flexibleren Umgang mit Trauer versprechen (vgl. Meitzler 2013: 293ff.).
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Resultat längerfristiger Entscheidungsprozesse ist, bei denen bewusst abgewogen wird, was dargestellt und wie es dargestellt werden soll. Daneben wird die Anordnung der Grabelemente offenkundig von der Überlegung angeleitet, welche Lebensweltversatzstücke des Verstorbenen darstell- und erinnerbar, genauer: darstellens- und erinnernswert sind. So betrachtet, erzählt ein Grab nicht nur etwas darüber, wer der Verstorbene für seine Angehörigen war, sondern auch darüber, was und wer er nicht war. Die Gestaltung eines Begräbnisortes erfolgt damit stets unter Ausblendung all dessen, was verborgen bleiben soll. Nicht das ›objektive‹ So-Gewesen-Sein ist für die postmortale Repräsentation von Belang, sondern die Art und Weise, wie sich die Lebenden erinnern können und wollen. Anders als die Erinnerungsfestschreibung bzw. -konstruktion am Grab verlaufen die kognitiven Erinnerungsprozesse der Hinterbliebenen nicht auf derart kontrollierbaren Wegen.
Abb. 3: Auf seinem Grabstein wird der Verstorbene als Mitglied eines Motorradclubs erinnert. Quelle: Projektarchiv Benkel/Meitzler.
Das Nebeneinander von unterschiedlichen Strukturmerkmalen, sozialen Rollen, Persönlichkeitsfacetten und -zuschreibungen, die eine Person im Leben besaß, provoziert an ihrem Grab die Frage nach der Deutungshoheit über ein erinnertes Leben. Der Tote kann gleichzeitig deutscher Staatsbürger brasilianischer Her-
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kunft mit portugiesischen Vorfahren, Akademiker, Pathologe, Christ, SPD-Mitglied, Veganer, männlich, Fan von Borussia Dortmund, Saxophon-Spieler, ehemaliger Klassensprecher, Judoka, Comicleser, bisexuell, langhaarig, geschieden, Flüchtlingshelfer, Vater, Opelfahrer, Angler, Berliner, bester Freund, Hundehasser und vieles mehr gewesen sein.13 Nicht alles davon kann und soll im Grabtext auftauchen; entscheidend ist allein die Bedeutung, die jedem einzelnen Biografiepartikel zugeschrieben wird – und wer diese Zuschreibung vornimmt. Unter seinen significant others hatte jeder seine eigenen Berührungspunkte zur Lebenswelt des Verstorbenen, wovon sich spezifische Erinnerungen bzw. Erinnerungspräferenzen ableiten. Zumindest auf dem Friedhof liegt das Entscheidungsmonopol für gewöhnlich aber bei den nahesten Verwandten, etwa dem Ehepartner, den Eltern, den Kindern oder den Geschwistern.14 Meist ist es sowieso nur eine der genannten Eigenschaften, die am Grab zum Ausdruck gebracht wird. Gewiss ist der Verstorbene mehr gewesen, als dessen Ruhestätte über seine Leidenschaft für einen bestimmten Sportverein verrät. Das ranghohe Mitglied eines Motorradclubs war für bestimmte Hinterbliebene ebenso Vater, Bruder, Sohn oder Nachbar, auch wenn sein Grabstein nur ersteres betont und alles andere unausgesprochen lässt. Inwieweit sind individualisierte Ruhestätten also zuverlässige Auskunftgeber über die Lebenswelt des Beigesetzten? Und inwiefern ist es selbst den engsten Angehörigen überhaupt möglich, Zugänge zu dieser durch den Tod nun ohnehin nicht mehr gelebten Lebenswelt zu bekommen? Wäre es, statt von der Lebenswelt als Gesamtheit aller Erfahrungen zu sprechen, die einem Menschen zu eigen ist, nicht treffender, von »kleinen Lebenswelten«15 (Luckmann 1978) auszugehen – und sind Gräber nicht gewis-
13 Nicht die Elemente an sich machen die Einzigartigkeit eines Individuums aus, sondern deren einzigartige Kombination – derweil manches wahrscheinlicher ist als anderes: »Der Museumsdirektor wird sich nach dem Abendessen nicht in Skinhead-Kluft werfen und zum Kriegsspiel eilen […]. Ein Marxist macht selten den Job als Vorstandsassistent einer Großbank. Metzger sind keine Vegetarier.« (Prisching 2010: 180f.) 14 In selteneren Fällen – meist bei Jugendlichen – können es auch Personen aus dem Freundeskreis, der Schulklasse oder dem Verein sein, die den Grabtext (mit-)prägen. Doch ist der Friedhof im Unterschied zu Unfallkreuzen oder vor allem in Kontrast zum Internet nicht der primäre Ort der Trauer- und Erinnerungsfestschreibung durch die peer group. 15 Dem Konzept der kleinen Lebenswelten zufolge lebt der moderne Mensch »nicht mehr in einem sozialen Raum, sondern er belebt eine Art ›patchwork‹ von kleinen, in sich mehr oder minder geschlossenen Teil-Zeit-Welten. Er wandert gleichsam von einem Mikro-Universum ins nächste, von einer kleinen Gemeinschaftsveranstaltung
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sermaßen als Vehikel zu verstehen, die zumindest bruchstückhaft auf diese kleinen Lebenswelten (bzw. auf einige von ihnen) verweisen?
G RENZEN
DER
E INZIGARTIGKEIT
Während eine wachsende Zahl an Ruhestätten also im Sinne einer postmortalen Identitätsstiftung eingerichtet wird, lässt sich gleichzeitig ein vermeintlich gegenläufiger Trend beobachten, der bisweilen als Entindividualisierung interpretiert wird. Nicht alle der untersuchten Grabanlagen jüngeren Datums entziehen sich durch einen starken Personen- bzw. Lebensrekurs, durch avantgardistische Züge oder durch andere Auffälligkeiten der Uniformität. Beispielhaft dafür sind anonyme Wiesengräber, welche sich nicht nur über die Namen (als das vielleicht bedeutendste Personenmerkmal), sondern auch über die konkreten Beisetzungsorte der Verstorbenen ausschweigen. Fehlende Namensbezüge weisen aber auch einige Reihen- bzw. Wahlgräber auf: Mal fehlt der Name ganz, mal wird er durch die (mutmaßlichen) Initialen des Verstorbenen bloß angedeutet, mal ist nur der Vor- oder Nachname zu lesen und mal wird er durch einen Kose- oder Spitznamen ersetzt. Auch wenn solche lakonischen Inschriften eher die Ausnahme darstellen, sind sie dennoch hinsichtlich der ›Mitteilungsfunktion‹ der Grabgestaltung interessant. Da die Angehörigen genau wissen, wer hier bestattet ist, liegt eine textliche Reduktion vor, die nur für Fremde eine (Halb-)Anonymisierung bedeutet. Dahinter mag u.a. eine Geste der Intimität stecken – die verstorbene Person wird mit dem Kürzel ›etikettiert‹, unter dem sie im sozialen Umfeld bekannt war. Wenn nur Initialen angegeben sind oder Namensangaben völlig fehlen, könnte damit ein Exklusivitätsverhältnis angezeigt werden: Nur die Eingeweihten sollen wissen, wer hier bestattet ist (vgl. Meitzler 2013: 320). Die wie auch immer gearteten Formen der ›postmortalen Anonymisierung‹ am Grab lassen sich dennoch mit dem Individualisierungsgedanken verbinden. Beides steht zumindest nicht in einem derart starken Gegensatz zueinander, wie zunächst anzunehmen wäre. Zum einen sind jeweils ähnliche gesellschaftliche Prozesse (Urbanisierung, Pluralisierung, Enttraditionalisierung, Entkollektivierung, Mobilität usw.) wirksam; zum anderen muss die Entscheidung für eine anonyme Beisetzung nicht zwingend auf den Wunsch zurückgehen, nach dem
zur anderen. Das bedeutet aber nun nicht etwa, daß er ›vereinzelt‹ wäre, sondern nur, daß er eine mehr oder minder ›einmalige‹ Collage unterschiedlichster sozialer Partizipationen fabriziert, zu deren Kernbestandteilen normalerweise das Familienleben, das Gemeindeleben und die Arbeitswelt zählen« (Hitzler/Honer 1984: 66; Herv. i. O.).
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Tod anonym zu sein bzw. vergessen zu werden (vgl. Benkel/Meitzler 2013c: 32). Sie kann ebenso gut als Ausdruck einer Lebenseinstellung verstanden werden. Nur weil eine Ruhestätte nicht (auf Anhieb) verrät, wessen Körper sie ›beheimatet‹, bedeutet das nicht automatisch, dass hierdurch keinerlei Lebenswelteinblicke gewährt werden. Dieser Umstand wirft die spannende Frage auf, ob es überhaupt möglich ist, anhand der Wahl eines Grabes und dessen (minimalistischer) Gestaltung nichts über den Verstorbenen bzw. seine Hinterbliebenen zu verraten.16 Bei aller Popularität des Einzigartigkeitsgedankens diesseits und jenseits des Friedhofs darf nicht vergessen werden, dass es sich tatsächlich nicht um eine individuelle, sondern um eine kollektiv getragene Idee handelt, die das Individuelle aus der Mitte sozialer Verflechtungen heraus akzentuiert. Individualität und strukturelle Wirkung schließen einander keineswegs aus (vgl. Scherger 2010: 124), sondern sind eng miteinander verzahnt. Wenn das Individuum die »lebensweltliche[] Reproduktionseinheit des Sozialen« (Beck 1986: 119) darstellt, dann erscheint individuelles Handeln außerhalb gesellschaftlicher Bezüge schwer vorstellbar. Würde Individualisierung hingegen eine völlige Isolation und Unabhängigkeit des Subjektes bedeuten, käme dies einem »Herausfallen aus der Gesellschaft« (Koppetsch 2010: 234) gleich – und würde langfristig zu deren Auflösung führen. Stattdessen werden der Anspruch bzw. das subjektive Empfinden, ein autonomes Leben zu führen, von »biographischer Kontrolle« (Burkart 1998) durch strukturelle und institutionelle Effekte konterkariert. In der vermeintlich selbstbestimmten individuellen Bastelbiografie realisieren sich damit immerzu normative Ordnungen und gesellschaftlich überformte Handlungsmuster. »Das Individuelle ist die Illusion der Individuen, denen die Einsicht in die sozialen Bedingungen und Bedingtheiten ihrer Existenz verstellt ist« (Beck/Beck-Gernsheim 1994: 30). Auch der Friedhof ist kein normfreier Raum. Es gelten die Vorschriften der Friedhofssatzungen, obschon die Grenzen des Erlaubten und Machbaren mittlerweile umfangreich ausgelotet werden. Abgesehen davon erfolgt selbst die Gestaltung solcher Epitaphe, die sich sämtlichen traditionellen Vorgaben widersetzen und in dieser Komposition tatsächlich nur einmal auftreten, nicht isoliert von
16 Außerdem sei darauf hingewiesen, dass sich üblicherweise in unmittelbarer Nähe der anonymen Beisetzungswiese eine Sammelstelle befindet, an der Hinterbliebene neben Blumenschmuck auch Erinnerungsobjekte (zum Beispiel Fotografien) ablegen können. Ihnen wird auf diesem Weg ein Raum gegeben, wo sie den zweiten Körper der verstorbenen Person – abseits des Beisetzungsortes ihres ersten Körpers, aber dennoch auf dem Friedhof – inszenieren können.
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»Klassifikationen, Ordnungsraster[n], Muster[n], die […] [sie] allerdings bereits wieder in Schubladen befördern, in denen die tatsächliche Individualität höchst begrenzt ist« (Prisching 2010: 183). So überraschend, unerwartet, eigensinnig, abweichend, provokant, eben: ›individuell‹ viele moderne Ruhestätten heute daherkommen, so sehr werden die dahinterstehenden Entscheidungen tatsächlich durch Sachzwänge präformiert. Ohnehin sind Akteure gerade bei sepulkralen Fragen gemeinhin auf ein ihren Alltag transzendierendes Expertenwissen angewiesen. Sie entwickeln Grabideen meistens nicht im Alleingang, sondern in Zusammenarbeit mit Berufspraktikern. Letztere sind es schließlich auch, die Angehörigenwünsche auf dem Friedhof zur (nicht nur) steinernen Wirklichkeit werden lassen.17 Die Auswertung des als posttraditional identifizierten Grabmaterials im Rahmen des genannten Forschungsprojekts macht außerdem deutlich, dass es sich bei den Lebensweltbezügen eben nicht um singuläre Fälle handelt, sondern um wiedererkennbare Typiken. Der immer häufiger zu beobachtende Verweis auf die früheren Hobbys und persönlichen Vorlieben der Toten betont zwar einerseits deren Individualität. Es wird zum Ausdruck gebracht, was einem Verstorbenen im Leben wichtig war und wodurch er sich folglich von anderen (lebenden oder toten) Menschen unterscheidet, die seine Hobbys und Vorlieben nicht teil(t)en. Andererseits sind dies in der Regel Präferenzen, die er wiederum mit einer Vielzahl Gleichgesinnter gemein hat(te). Insofern transportiert das nachträgliche Basteln einer individuellen Existenz durch die Einrichtung einer individuellen Ruhestätte nicht nur den Verweis auf ein einzelnes Leben, sondern oftmals auch auf einen Lebensstil18 sowie auf spezifische Interessensgruppen und Subkulturen. Der Verstorbene wird als Mitglied einer Gemeinschaft und damit als Träger einer Rolle inszeniert, die er prae mortem besaß und post mortem gewissermaßen immer noch innehat. So genannte Gemeinschaftsgräber tragen die
17 Hinzu kommt die interessante Beobachtung, dass so manche auf den ersten Blick einzigartige, weil originelle Gestaltungsidee sich auf den zweiten Blick (und oftmals in unmittelbarer räumlicher Nähe) auf vergleichbare oder gar identische Weise wiederholt. Individuelle Symbole können so gesehen eine Eigendynamik entfalten: Je mehr es von ihnen gibt, desto stärker inspirieren sie andere zu einer ähnlichen Gestaltung – und desto häufiger kommen sie vor. 18 Wurde einerseits eine zunehmende Diversifikation von Lebensstilen als Individualisierungseffekt ausgemacht, so lässt sich andererseits konstatieren, dass Lebensstile zwar von Distinktionsbemühungen geprägt sind, Menschen, die ähnliche Lebensstile aufweisen, dies jedoch aufgrund entsprechend ähnlicher Anliegen, Interessen, Normalitätserwartungen und Sinnkonstruktionen tun.
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Idee bereits im Namen; es handelt sich hierbei u.a. um solche Ruhestätten, in denen Menschen mit gemeinsamen Eigenschaften und Interessen beigesetzt sind.19 Einen Widerspruch zur Individualisierungsthese stellt dies trotzdem nicht dar; vielmehr kommt hier zum Tragen, was Beck mit der Reintegrationsdimension beschrieben hat. Zugleich könnte in Anlehnung an Hitzler et al. (vgl. 2008) ein Hinweis auf eine postmortale/posttraditionale Vergemeinschaftung auf dem Friedhof vorliegen. Selbst das eigenwilligste Grab, dessen Botschaft der ›uneingeweihte‹ Betrachter ohne Hintergrundwissen nicht zu entschlüsseln vermag, bedient sich kollektiv anerkannter Muster. »Was sind die ›Signale der Eigenwilligkeit‹, die von anderen als solche wahrgenommen werden? […] Jede Art von Besonderung dementiert sich insofern von selbst, als es offensichtlich verstehbare Muster geben muss, durch die das Besondere einer Person auf kommunikationsfähige Weise inszeniert wird.« (Prisching 2010: 183)
Damit eine Grabkomposition von anderen als individuell dechiffriert werden kann, bedarf es eines gesellschaftlichen Konsenses darüber, was als individuell gilt und mit welchen Mitteln Individualität überhaupt zum Ausdruck gebracht wird. Jener Grabtext, der gänzlich ohne »Beipackzettel« und »How-to-do-Rezepturen« (ebd.: 179) auskommen will, erscheint vor diesem Hintergrund als schwer realisierbares Ansinnen. Ist die Individualisierung also nur eine »halbierte Individualisierung« (ebd.), weil kein Grabstein wirklich neu erfunden wird? Ist das vermeintlich Noch-nievorher-da-Gewesene bloß die Zitation des Vorher-schon-da-Gewesenen? Ist das, was zunächst ›posttraditional‹ anmutet, bei näherer Betrachtung nicht doch in einer wie auch immer gelagerten Tradition verhaftet? Wer sich für den eigenen Grabstein oder für den eines anderen beispielsweise ein Motiv aus der Populärkultur, ein bestimmtes Automodell, eine Musiksequenz in Noten, einen Songtext oder das Emblem eines Fußballvereins wünscht, greift damit notwendigerweise auf bereits bestehende kulturelle Produkte zurück. Das ist selbst dann der Fall, wenn es sich etwa um ein eigens kreiertes Logo, um ein persönliches Zitat des Verstorbenen oder um dessen Unterschrift handelt. Man bedient sich solcher
19 Neben vielen anderen Formen von Gemeinschaftsgräbern gibt es beispielsweise eigene Bestattungsfelder für die Anhänger einer bestimmten Fußballmannschaft. Derartige Begräbnisareale sind auch als ›Fanfriedhof‹ bekannt. In Deutschland können sich seit 2008 Freunde des Hamburger Sportvereins und seit 2012 Fans des FC Schalke 04 in einem solchem ›Friedhof im Friedhof‹ beisetzen lassen.
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Techniken, die zum festen und intersubjektiv verstandenen Bestandteil der Kultur gehören. Ein anschlussfreies Grab gibt es nicht. Diese einschränkenden Bemerkungen zur ›Individualitätsfähigkeit‹ von Ruhestätten führen zu der Erkenntnis, dass hier nicht so sehr von Individualität, als vielmehr von der Inszenierung einer Vorstellung von Individualität gesprochen werden sollte – eine Inszenierung, die ihrerseits aber gar nicht individuell ist. Man könnte beinahe schon von modischen Trends sprechen. Moden haben die Funktion, dass sie Menschen »die Überforderung der permanenten individuellen Entscheidung abnehmen« (Schroer 2008a: 153). Da nun aber das Ideal »nur ja nicht so zu sein wie alle Anderen« (Abels 2010: 234) in sepulkralen Kontexten (und nicht nur dort) allmählich zur Normalität wird, drängt sich die Frage auf, ob diese Entwicklung nicht früher oder später an ihre Grenzen zu stoßen droht. Noch sind die ›aus der Norm‹ heraustretenden Gräber bemerkenswert, noch stechen sie aus den weitgehend homogenen Reihen hervor. Vor allem in neueren Friedhofsarealen scheint das Ausgefallene jedoch bereits zum Kanon des Erwartbaren zu gehören und die Enttraditionalisierung wird allmählich selbst zur Tradition. Bunte Grabstätten mit Fotos, persönlichen Artefakten und egozentrischen Zeichen fallen dort nicht mehr als Einzelstücke ins Auge, weil sie sich in eine Friedhofslandschaft einfügen, die dieser Heterogenität gestalterisch a priori Rechnung trägt. Hinzu kommt, dass manche Symbole, die Lebensweltnähe ausstrahlen sollen, inzwischen so weit verbreitet sind, dass sie kaum mehr als Signum des Einzigartigen durchgehen. Die Frage nach der Zukunft des Todes ist letztlich auch eine Frage nach der Zukunft der Individualisierung. Für den Umgang mit dem eigenen Leben gilt das gleiche wie für den Umgang mit dem Tod: Es gibt keine Kontinuitätsgarantie. Vielleicht werden bald jene Begräbnisorte aus dem Rahmen fallen, die den Trend zur Individualisierung ausdrücklich nicht mitmachen? Dazu abschließend eine Anekdote aus der Feldforschung: Auf einem kleinen Kommunalfriedhof in Hessen begegneten wir einer älteren Dame, die uns ansprach und starkes Interesse an unsere Forschung zeigte. Als sie hörte, dass wir uns für individuelle Gräber interessieren, bat sie uns, ihr zum Grab ihres verstorbenen Gatten zu folgen. Dort befände sich nämlich ein Symbol, welches heutzutage »besonders originell« sei, beteuerte sie mit tiefem Ernst. Als wir voller Erwartung vor der Ruhestätte ankamen, erblickten wir: ein Kreuz.
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»Ich habe dich beim Namen gerufen« Sozial- und Ordnungsamtbestattungen als Herausforderung für Kirche und Gesellschaft N ORBERT W ICHARD
K IRCHLICHE B ESTATTUNG
GEWÜNSCHT
Die tradierten Sozialformen der Kirchen in Deutschland stehen seit Jahrzehnten unter Druck, und Kirchenmitgliedschaft ist kein Automatismus mehr. Der Historiker Thomas Großbölting sieht daher »die Kirche als Organisation, die auf zugeschriebener (nicht freiwilliger) Mitgliedschaft beruht und für ihre Angehörigen Rollen vorgibt, die diese weitgehend unabhängig vom eigenen Willen zu erfüllen haben«, an einem Endpunkt (Großbölting 2013: 259). Die pastoralen Herausforderungen sind groß für eine Kirche, die für Menschen ansprechbar und einladend bleiben will. Die Rede und Einsicht vom ›Ende der Volkskirche‹ hat sich allerdings innerkirchlich weitgehend etabliert und die Anstrengungen für Veränderungen sind inzwischen vielerorts stark ausgeprägt (vgl. z.B. Zollitsch 2008). Fragt man Mitglieder der katholischen oder evangelischen Kirche, was sie (noch) an ihre Religionsgemeinschaft bindet, so erscheint gerade die Kasualie ›Kirchliche Bestattung‹ als ein herausragendes Motiv. Die Evangelische Kirche in Deutschland hat in ihrer V. EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft auch gefragt, warum ihre Mitglieder der Kirche angehören. Die Antwortmöglichkeit mit der höchsten Zustimmung lautet: »weil ich einmal kirchlich bestattet werden möchte« (Kretzschmar 2015: 211ff.). Im Bereich der katholischen Kirche hat eine qualitative Untersuchung – das MDG-Milieuhandbuch 2013 über Religiöse und kirchliche Orientierungen in den Sinus-Milieus – Ähnliches aufgezeigt: So
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sei ein Kirchenaustritt oft keine Option, weil »insbesondere die Aussicht auf eine kirchliche Beerdigung gewahrt werden soll« (Kläden 2013: 13). Gesamtgesellschaftlich ist in Deutschland eine zunehmende Distanz zur Kirche und eine deutlich abnehmende religiöse Sozialisation feststellbar (vgl. Bertelsmann Stiftung 2013: 15ff.). Die hohe Bindungskraft der Kasualie ›Bestattung‹ an die Kirchen stellt eine große seelsorgerische Verantwortung dar, Sterbende bzw. Verstorbene und Trauernde auch vor dem Hintergrund veränderter gesellschaftlicher Rahmenbedingungen angemessen zu begleiten. Die kirchliche Tradition hat die Bestattung der Toten als eines der so genannten ›Werke der Barmherzigkeit‹ ihrem diakonischen Auftrag eingeschrieben. Das, was in der Kunst vom Meister von Alkmaar, von Caravaggio u.v.m. seit Jahrhunderten ermahnend oder erinnernd veranschaulicht wird, muss im tatsächlichen Handeln vor den Zeichen der Zeit je neu verhandelt werden. Daraus folgt die besondere Herausforderung gegenüber dem aktuellen Anstieg von den Sterbefällen, bei denen die Verstorbenen bzw. ihre Angehörigen für die Kosten der Bestattungen nicht aufkommen können. Die Datenlage ist aufgrund der vielfältigen Zuständigkeiten unübersichtlich, gleichwohl ist der Trend nachvollziehbar: In Nordrhein-Westfalen erhielten beispielsweise im Jahr 2006 1.080 Personen Bestattungskosten nach dem Sozialgesetzbuch erstattet (vgl. Information und Technik NRW 2009: 116), im Jahr 2013 waren es 3.678 Leistungsempfänger (vgl. Information und Technik NRW 2014: 125).1 Umgangssprachlich werden diese Bestattungen ›Sozialbestattungen‹ genannt. Die Zahl der davon zu unterscheidenden Ordnungsamtbestattungen ist ebenfalls ansteigend: Auf Basis einer Befragung unter den Mitgliedern des Städtetages NRW spricht die Arbeitsgemeinschaft der kommunalen Spitzenverbände NRW von einer »stetige[n] Zunahme von ordnungsbehördlichen Bestattungen (ca. 10% pro Jahr örtlich und gesamt)« (Landtag NRW, Stellungnahme 16/1300, 4. November 2013: 2). Gemeinsam ist den Sozial- und Ordnungsamtbestattungen, dass die betroffenen Bestattungen möglichst kostensparend sein sollen, was oft zu preisgünstigen einfachen Bestattungsformen führt. Dieser Beitrag möchte zeigen, inwiefern so genannte Sozial- und Ordnungsamtbestattungen als Schnittmenge juristischer bzw. gesellschaftlicher und kirchlich-religiöser Diskurse lesbar werden. Im Fokus stehen dabei insbesondere der Verstorbene und der Umgang mit seinem Leichnam. Die individuelle Trauer der Angehörigen und deren Trauerbegleitung (zum Beispiel durch kirchliche Seel-
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Zu beachten ist, dass die Zahl der Leistungsempfänger nicht unbedingt identisch ist mit der Zahl der betroffenen Verstorbenen. Vgl. zu dem Komplex und zu bundesweiten Zahlen den Bericht von Jalsovec (2012).
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sorger) stehen nicht im Mittelpunkt. Aufgrund einer pragmatischen Reduktion der Ausführungen wird der Schwerpunkt im Folgenden auf den christlichen Kontext und dort auf die katholische Kirche sowie die Praxis in NordrheinWestfalen gelegt.
S OZIAL - UND O RDNUNGSAMTBESTATTUNGEN Die rechtlichen Normen, die sich auf den Komplex der Bestattung beziehen, sind in Deutschland auf verschiedene Rechtsgebiete verteilt und zum Teil landesrechtlich geregelt. Im Folgenden sei die Rechtslage anhand der einschlägigen juristischen Literatur allgemein skizziert. Dabei können nicht alle rechtlichen Aspekte berücksichtigt werden; die Auswahl orientiert sich an der Relevanz für die in diesem Text verfolgte Fragestellung. Zunächst ist das Augenmerk auf das Zwölfte Sozialgesetzbuch (SGB XII) zu richten. § 74 widmet sich den Bestattungskosten: »Die erforderlichen Kosten einer Bestattung werden übernommen, soweit den hierzu Verpflichteten nicht zugemutet werden kann, die Kosten zu tragen.«2 Diese Erstattungsleistungen sind Teil der Sozialhilfe, die zur Aufgabe hat, »den Leistungsberechtigten die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht« (§ 1 Satz 1 SGB XII). Das Zwölfte Sozialgesetzbuch formuliert in § 74 also einen finanziellen Anspruch für die Hinterbliebenen, sofern sie zur Bestattung verpflichtet sind und ihnen nicht zugemutet werden kann, die Kosten für eine Bestattung zu tragen. In der Praxis sind die Sozialhilfeträger bzw. die Sozialämter zunächst die Anlaufpunkte: Sie prüfen die Kostenübernahme, veranlassen aber selbst keine Bestattungen. In der Rechtsprechung wird regelmäßig in Streitfällen geprüft: Wer ist tatsächlich bestattungspflichtig? Welche Kosten sind ›erforderlich‹ im Sinne des Gesetzes? Diese rechtliche Norm betrifft also nicht allein den Verstorbenen: Es hängt es in der Regel von der Finanzkraft der Verpflichteten ab, ob diese Anspruch auf Kostenübernahme durch die Sozialhilfeträger haben. Zu dieser Gruppe zählen zunächst zivilrechtlich Verpflichtete, dann greifen die jeweiligen landesrechtliche Bestattungsgesetze (vgl. ausführlich Trésoret 2015: 4ff.). Zur regelmäßig strittigen Frage, welche Kosten erstattungsfähig sind, gibt es zahlreiche Entscheidungen. In einem wichtigen Urteil hat das Bundessozialgericht 2011 entschieden (Bundessozialgericht 2011; vgl. hierzu auch Trésoret/ Seifert 2012: 436f.), dass allein Kosten für die Bestattung einschließlich »der
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Vgl. grundlegend zur Sozialbestattung Schmitt/Spranger 2014 und Gotzen 2016.
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ersten Grabherrichtung« (Bundessozialgericht 2011: Rn 20), nicht aber Kosten, die allgemein aus Anlass des Todesfalls entstehen, übernommen werden können (also nicht »Todesanzeigen, Danksagungen, Leichenschmaus, Anreisekosten, Bekleidung«, ebd.). Der Standard der Bestattung muss sich dabei an den örtlichen Bestattungsgewohnheiten für Menschen mit unterem oder mittlerem Einkommen orientieren (vgl. ebd.: Rn 21). Zu den Bestattungskosten im Sinne von § 74 SGB XII zählt das Bundessozialgericht explizit auch Kosten, »die aus religiösen Gründen unerlässlicher Bestandteil der Bestattung sind« (ebd.).3 Dabei ist zu berücksichtigen, dass das Grundgesetz zur Religionsfreiheit bekanntermaßen übergeordnet festlegt: »Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.« (Art. 4 Abs. 1 GG, vgl. auch Abs. 2, ebd.). Eventuelle zusätzliche Kosten für übliche religiöse Bestattungsrituale sind daher erstattungsfähig (vgl. Bundessozialgericht 2011: Rn 18); die Rechtsprechung trägt dem entsprechend ebenso etwa bei islamischen oder jüdischen Bestattungen Rechnung und schließt die Erstattung dieser Kosten ein (vgl. Gotzen 2016: 111f.). Die Sozialämter müssen außerdem angemessene Wünsche der Bestattungspflichtigen bzw. der Verstorbenen berücksichtigen (vgl. Bundessozialgericht 2011: Rn 18). So gehören nicht nur günstige Feuer-, sondern auch Erdbestattungen zu den erforderlichen Kosten (vgl. Gotzen 2016: 103ff.). Im Gegensatz zu den Sozialämtern müssen die Ordnungsämter aktiv werden, wenn niemand innerhalb der gesetzlichen Frist für eine ordnungsgemäße Bestattung Sorge trägt. Dies ist dann regelmäßig der Fall, wenn insbesondere bestattungspflichtige Angehörige nicht vorhanden sind oder diese sich nicht um eine Bestattung kümmern. Die Rolle der Ordnungsbehörden ist damit grundsätzlich von der der Sozialhilfeträger zu unterscheiden. Letztere sorgen – wie zuvor dargelegt – auf Basis des SGB allein für die Erstattung von Bestattungskosten. Das Ordnungsamt veranlasst hingegen als ›Ersatzvornahme‹ tatsächlich die Bestattung, um u.a. die hygienische Gefahr, die von einem Leichnam ausgeht, abzuwehren. Zu den regelmäßig strittigen Fragen bei der Ordnungsamtbestattung zählt insbesondere die nach der Bestattungspflicht. Diese wird durch die Bestattungsgesetze definiert,4 was jedoch in der Praxis bezüglich der Ermittlung der
3
Die Erstattung von Kosten für schlichte Grabkreuze/-platten wird insbesondere dann anerkannt, wenn die Friedhöfe diese vorschreiben und keine einfachen Holzkreuze oder Holztafeln dauerhaft erlauben. In anderen Fällen kann die Erstattung strittig sein (vgl. Schmitt/Spranger 2014: 99ff.; Gotzen 2016: 106).
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Das Bestattungsgesetz in Nordrhein-Westfalen (BestG NRW) formuliert in § 8 (1): »Zur Bestattung verpflichtet sind in der nachstehenden Rangfolge Ehegatten, Lebens-
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Bestattungskostenpflichtigen zu viel Klärungsbedarf in der Rechtsprechung führt (vgl. Seifert/Wabnitz 2015). Im Folgenden soll jedoch der Fokus auf der Frage nach der Art und Ausstattung der Ordnungsamtbestattung liegen. Ein Grundproblem besteht darin, dass es keine festgelegten Regelungen hierfür gibt. Spranger kommt in seiner umfangreichen Arbeit zum Thema Ordnungsamtbestattungen zu folgendem Schluss, der sich von der sehr verbreiteten Auffassung absetzt (vgl. dazu Spranger 2011: 45f.; ergänzend Eicher 2013), die allgemein und automatisch den Ordnungsamtbestattungen eine nochmalige Ausstattungsreduzierung gegenüber der Sozialbestattung zugesteht: »Da bereits die Bestattung nach § 74 SGB XII einen verfassungsrechtlich fundierten Mindeststandard umschreibt, ist nicht erkennbar, mittels welcher Begründung dieses Mindestniveau bei der Bestattung im Wege der Ersatzvornahme unterschritten werden könnte.« (Spranger 2011: 61)
Das verfassungsrechtlich verankerte Prinzip Menschenwürde ist im Sozialhilferecht bereits der Bezugspunkt; Menschenwürde muss selbstverständlich auch im Ordnungsrecht Beachtung finden. Vor diesem Hintergrund ist nicht ersichtlich, warum die in der Rechtsprechung etablierten Standards des Sozialhilferechts unterschritten werden können (vgl. Spranger 2011: 46f.; ergänzend Gotzen 2012: 426). Ein spezifisches Problem in der Praxis ist, dass mit dem Argument der Kostenreduzierung meistens Feuerbestattungen durchgeführt werden, zudem oft mit Beisetzung in anonymisierter Form. Die Vorschriften in den Bundesländern setzen, wenn auch mit einigen Varianten im Grundsatz eine Willensberücksichtigung des Verstorbenen bzw. der Angehörigen für eine Feuerbestattung voraus. Die Ordnungsbehörden sind daran auch gebunden (vgl. Spranger 2011: 51ff.). Lässt sich ein Wille nicht ermitteln, scheint jedoch zumindest aus verfassungsrechtlicher Sicht eine Feuerbestattung zulässig (vgl. ebd.: 58). Etwas anders verhält es sich mit der anonymen Bestattung. Ohne Zustimmung des Verstorbenen
partner, volljährige Kinder, Eltern, volljährige Geschwister, Großeltern und volljährige Enkelkinder (Hinterbliebene). Soweit diese ihrer Verpflichtung nicht oder nicht rechtzeitig nachkommen, hat die örtliche Ordnungsbehörde der Gemeinde, auf deren Gebiet der Tod eingetreten oder die oder der Tote gefunden worden ist, die Bestattung zu veranlassen.«
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sei keine anonyme Bestattung durch die Ordnungsbehörde erlaubt;5 es sei anzunehmen, dass anonyme Bestattungen nämlich nicht so weit gesellschaftlich anerkannt sind wie Feuerbestattungen und daher ausgrenzend wirken könnten (vgl. ebd.: 60f.). Bei der Ausgestaltung einer Ordnungsamtbestattung mit Blick auf ein religiöses bzw. kirchliches Begräbnis ist eine Entscheidung des Oberverwaltungsgerichtes NRW einschlägig, in der es heißt: »Durch die Nichtveranlassung religiöser Beerdigungsfeierlichkeiten […] seitens der die Ersatzvornahme anordnenden Ordnungsbehörde werden derartige Aufwendungen nicht verhindert und damit weder die Religionsfreiheit noch die Gebote der Frömmigkeit und Ehrfurcht verletzt.« (Oberverwaltungsgericht NRW 2000: 83; Entscheidung von 1996)
Unabhängig davon könnten, so das Gericht, Angehörige oder die Religionsgemeinschaften auf eigene Kosten entsprechende Feierlichkeiten veranlassen. Spranger führt dazu aus, dass der Integration von religiösen Zeichen durch die Ordnungsbehörden bei einer Bestattung im Sinne der Religionsfreiheit nach Art. 4 GG aber auch nichts entgegensteht, wenn der Verstorbene entsprechende Wünsche geäußert hatte, zumal die Kosten meist sehr moderat sein würden (z.B. für ein schlichtes Kreuz) (vgl. Spranger 2011: 80ff.).
E XKURS
ZUM
B ESTATTUNGSGESETZ NRW
Die zuvor nur grob skizzierte Rechtslage bezogen auf die Sozial- und Ordnungsamtbestattungen zeigt ein komplexes Bild von einschlägigen Rechtsnormen, Rechtsprechung und praktischen Zuständigkeiten, auch mit Blick auf religiöse Bestattungsrituale. Möglicherweise sind diese Rechtslage und die Kosten für die Kommunen in Folge einer Standardisierung dieser Bestattungsarten Gründe dafür, dass bei der Änderung des Bestattungsgesetzes in Nordrhein-Westfalen im Jahr 2014 keine näheren Präzisierungen diesbezüglich vorgenommen wurden. Gleichwohl waren Sozial- und Ordnungsamtbestattungen wiederholt Thema im Gesetzgebungsverfahren. So hat u.a. in einer öffentlichen Anhörung der Vertreter des Bestatterverbandes Nordrhein-Westfalen aus der Praxis berichtet:
5
Eine Willensbekundung fehlt in den meisten Fällen, wie die Arbeitsgemeinschaft der kommunalen Spitzenverbände NRW ausführt (vgl. Landtag NRW, Stellungnahme 16/1300, 4. November 2013: 2).
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»Bei den ordnungsbehördlich angeordneten Bestattungen wird in der Regel, wenn nicht ausdrücklich irgendwo vermerkt ist, dass jemand eine Erdbestattung wünscht, eine Feuerbestattung durchgeführt. In den meisten Fällen erfolgt eine anonyme Beisetzung. Es wird auch keine Trauerfeier, kein Trauergottesdienst oder Sonstiges durchgeführt. Anders sieht es bei den Sozialamtsbestattungen aus. Wenn Angehörige vorhanden sind, die bestattungspflichtig sind, haben sie in einem einfachen Rahmen die Möglichkeit, zu wählen, wo und in welcher Form die Bestattung stattfindet. In diesem Zusammenhang existieren auch Vereinbarungen der Sozialämter mit den örtlichen Bestatterverbänden, die teils ganz gut laufen.« (Landtag NRW, Apr 16/281, 26. Juni 2013: 36)
Auch Fehlentwicklungen wurden benannt, was beispielsweise der Fall ist, wenn etwa eine Beisetzung weit entfernt vom Wohnort durch die Ordnungsbehörden veranlasst wird, so dass Angehörigen, Freunden und Bekannten ein (im Friedhofsrahmen angelegter) Ort der Trauer entzogen ist (vgl. ebd.). Die Fraktionen der Regierungskoalition, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben das Thema in Form eines Entschließungsantrages in den Landtag ergänzend eingebracht. Der Landtag hat dem Antrag entsprochen und somit die Kommunen formal aufgefordert, »bei Sozial- und ordnungsbehördlichen Bestattungen für eine würdevolle, wenn auch einfache Bestattung [...] (entsprechend § 74 SGB XII) Sorge zu tragen. Den Wünschen der/des Verstorbenen und der Angehörigen ist so weit möglich Rechnung zu tragen« (Landtag NRW, Drucksache 16/6225, 2. Juli 2014: 4). Sinngemäß gehören zu würdevollen Bestattungsformen auch religiöse Formen, die entsprechend ermöglicht werden sollen (vgl. ebd.: 3). Die parlamentarische Diskussion hat damit zwar keine neue gesetzliche Situation in Nordrhein-Westfalen geschaffen, das Problem aber öffentlich angezeigt.
D IE B ESTATTUNG
ALS
D IENST
AM
M ENSCHEN
Der Friedhof (im weiteren Sinne auch die jeweiligen Rituale der Bestattungskultur) wird für den Menschen zum letzten irdischen ›Ort‹. Foucault zählt den Friedhof treffend zu den Heterotopien, die auszeichnet, dass es sie zwar tatsächlich gibt, sie jedoch durch ihr Bezugsnetz zu gewöhnlichen Orten strukturell herausgehoben sind (vgl. Foucault 2005: 935). Die Heterotopie Friedhof ist dabei in der Zeit nicht statisch; Foucault zeigt, dass sie im gesellschaftlichen Wandel Funktionsänderungen unterliegt (vgl. Foucault 2005: 937f.; aktuell Benkel/ Meitzler 2013). Mit Blick auf das hier verfolgte Thema Sozial- und Ordnungsamtbestattungen wird der Friedhof zu einem sozialen Kristallisationspunkt: Ein
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Verstorbener ohne Angehörige und ohne Geld findet im Rahmen einer Ordnungsamtbestattung ggf. auch auf dem Friedhof bei einer anonymen Bestattung einen ortlosen Raum. Der Umgang mit dem Leichnam bleibt so auf das Leben bezogen und die Bestattungspraxis wird zu einem Spiegel (Foucault nutzt den Spiegel bekanntlich ebenfalls als Erklärungsmodell für eine Heterotopie, vgl. Foucault 2005: 935f.), der der Gesellschaft (und der Kirche) ihre Praxis und ihren Umgang mit den verstorbenen Menschen vor Augen hält. Der Dienst am Toten ist bereits früh in der christlichen Praxis ein Gebot der Nächstenliebe: »Ich gab den Hungernden mein Brot und den Nackten meine Kleider; wenn ich sah, dass einer aus meinem Volk gestorben war und dass man seinen Leichnam hinter die Stadtmauer von Ninive geworfen hatte, begrub ich ihn«, so berichtet Tobit in dem gleichnamigen biblische Buch (Tob 1,17; n. Einheitsübersetzung wie im Folgenden). Der Kirchenvater Laktanz hat mit Bezug auf das Buch Tobit die Bestattung der Toten in den Kanon der erwähnten ,Werke der Barmherzigkeitʻ aufgenommen, die noch immer in der Tradition der Kirche präsent sind (vgl. Müller 2014: 31; Haunerland 2009). Schließlich ist es im Neuen Testament insbesondere der fürsorgliche Umgang mit dem Leichnam Jesu, der prägend für die Bestattungspraxis wurde (vgl. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 2005: 14): »Sie [Josef und Nikodemus; N.W.] nahmen den Leichnam Jesu und umwickelten ihn mit Leinenbinden, zusammen mit den wohlriechenden Salben, wie es beim jüdischen Begräbnis Sitte ist.« (Joh 19,40) Wendet man diese diakonische Perspektive auf den Komplex der Sozial- und Ordnungsamtbestattungen an, zeigt sich, dass es der Kirche nicht gleichgültig sein darf, wie mit Menschen nach ihrem Tod umgegangen wird, insbesondere wenn diese zu Lebzeiten bereits am Rande der Gesellschaft stehen. Papst Franziskus hat programmatisch das Bewusstsein für die Ränder geschärft und den Blick auf die Armen und Schwachen freigelegt. Jesus hat Barmherzigkeit besonders gegenüber den Armen vorgelebt und die Kirche ist darauf verpflichtet (vgl. Suess 2015: 167). Papst Franziskus betont, dass es jedoch nicht nur um Hilfsaktivismus gehen darf, sondern um echte Zuwendung: »Diese liebevolle Zuwendung ist der Anfang einer wahren Sorge um seine Person, und von dieser Basis aus bemühe ich mich dann wirklich um sein Wohl. Das schließt ein, den Armen in seinem besonderen Wert zu schätzen, mit seiner Wesensart, mit seiner Kultur und mit seiner Art, den Glauben zu leben.« (Franziskus 2013: Abs. 199)
Dem Begriff Menschenwürde kommt auch für diesen Zusammenhang eine zentrale Funktion zu. In Theologie und Kirche wird der Begriff Menschenwürde regelmäßig mit dem Verständnis der Ebenbildlichkeit von Gott und Mensch ver-
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knüpft (vgl. die Diskussion bei Frevel 2009). Reinhard Kardinal Marx betont 2014 in einem Vortrag die daraus resultierende Verantwortung für den Menschen: »Die Gottesebenbildlichkeit zeichnet den Menschen vor allen anderen Lebewesen aus, aber unterstreicht so seine Verantwortung, die in der Freiheit begründet ist, dem eigentlichen Zeichen der Gottebenbildlichkeit. Wie die Bibel Gott und Welt unterscheidet, unterscheidet sie auch den Menschen von der Welt. Der Mensch kann in Distanz zur Welt treten. Sie wird zu Gabe und Aufgabe.« (Marx 2014)
Die Gottesebenbildlichkeit begründet dabei allerdings keine besondere Berufung eines bestimmten Menschen, etwa eines Königs, sondern gleichermaßen die aller (vgl. ebd.). Bereits Karl Rahner hat ausgeführt, dass der Mensch als Individuum keineswegs »ein bloßer Fall des Allgemeinen« ist (Rahner 1960: 251). Der einzelne Mensch ist stets mit einer ihm eigenen Würde ausgezeichnet. Obgleich der Mensch als Person auch auf Gemeinschaft bezogen ist, hebt dies den Menschen als Individuum nicht auf (vgl. ebd.: 251f.). Der Würde des Menschen ist, wie Rahner es nennt, auch ein »übernatürliche[s] Existential« zu eigen: Die »Person ist berufen zur unmittelbar-personalen Gemeinschaft mit Gott und Christus, und zwar dauernd und unausweichlich […]. Die Person ist angesprochen durch die persönliche Wortoffenbarung Gottes in der Heilsgeschichte […].« (Ebd.: 252) Diese die Natur übersteigende Relation ist als »ungeschuldete Gabe Gottes« zu verstehen (ebd.: 252f.). Würde kommt daher nach Rahner jedem Menschen zu, sie ist fundamental und nicht abhängig von Bedingungen in der Welt (vgl. Mack 2001: 273f.). Theologisch argumentierend entsteht so der zwingende Anspruch, dass es keine Bestattungen geben darf, die den Anschein einer unterschiedlichen Wertigkeit der Verstorbenen suggerieren. Für den kirchlich-liturgischen Bereich formuliert das (römisch-katholische) Kirchenrecht entsprechend einen Bestattungsanspruch, Can. 1176, § 1: »Den verstorbenen Gläubigen ist nach Maßgabe des Rechts ein kirchliches Begräbnis zu gewähren.« § 2: »Das kirchliche Begräbnis, bei dem die Kirche für die Verstorbenen geistlichen Beistand erfleht, ihren Leib ehrt und zugleich den Lebenden den Trost der Hoffnung gibt, ist nach Maßgabe der liturgischen Gesetze zu feiern.« (Codex des Kanonischen Rechtes 1983) Das skizzierte christlich-anthropologische Verständnis der Gottesebenbildlichkeit kann als eine Quelle (neben anderen) für den heutigen rechtsstaatlichen Begriff der Menschenwürde gelten. Jürgen Habermas sieht in der Übertragung dieses Begriffes aus einem biblisch-religiösen Kontext in einen zentralen allge-
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mein-gesellschaftlichen Bereich ein Kennzeichen der postsäkularen Gesellschaft, in der der säkulare Staat auch von den Normen und Werten der Religionsgemeinschaften profitieren kann (vgl. Habermas 2005: 115f., vgl. dazu auch Grotefeld 2014: 338). Im Praxisfeld der Sozial- und Ordnungsamtbestattungen überlagert sich diese Konstellation produktiv, wenn die (staatliche) Rechtsprechung eine würdevolle Bestattung einfordert.
B ESTATTUNG UND Z EICHEN
DER
P RÄSENZ
Ein zentrales Element eines kirchlichen Begräbnisses ist der aktive Bezug auf die Individualität des Verstorbenen. In den liturgischen Bestattungsformen wird entsprechend bewusst und wiederholt der Verstorbene benannt.6 Während der katholischen Begräbnisliturgie wird zudem die Feier der Messe »praesente corpore« empfohlen: »Mit Blick auf den Verstorbenen ist die Eucharistiefeier unaufgebbar, weil sie seit frühchristlichen Zeiten als seine symbolisch letzte Teilnahme am eucharistischen Mahl verstanden wurde. Mit dem bedauernswerten Verschwinden der Särge aus den Kirchen im Rahmen der Begräbnisliturgie verschwand dieses Bewusstsein immer mehr.« (Mussinghoff 2014: 40f.)7
In einer Arbeitshilfe der Deutschen Bischofskonferenz heißt es: »Aus Respekt vor der Individualität jedes Menschen hält es die Kirche für notwendig, dass das Grab jedes Verstorbenen mit seinem Namen versehen wird.« (Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 2009: 13). Die vielleicht bekannteste biblische Stelle, in der der Name als individuelles Zeichen für die Verbindung von einem Menschen zu Gott zum Ausdruck kommt, ist in diesem Zusammenhang das Wort Gottes im Buch Jesaja: »[…] ich habe dich beim Namen gerufen [...]« (Jes 43,1). Durch die Taufe wird der jeweils konkrete menschliche Leib zu einem ausgezeichneten Ort: »Oder wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch wohnt und den ihr von Gott habt?« (1 Kor 6,19); die Beteiligung der Gemeinde an der Beisetzung sowie die dauerhafte namentliche Markierung des Grabes sind somit wichtige Bestandteile der Bestattung (vgl.
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Zur katholischen Begräbnisliturgie vgl. grundlegend das so genannte Manuale (Deutsche Bischofskonferenz 2012) sowie Haunerland/Poschmann 2009.
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Vgl. ergänzend zur Diskussion über Symbolik und Rolle der Asche im Rahmen der Bestattungsliturgie kontrastiv zum Leichnam: Saberschinsky 2011.
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Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 2005: 13, 21, vgl. ders. 2009: 31f. sowie Baumgartner 1995). Dies sind zentrale Gründe, warum anonyme Bestattungsformen aus katholischer Sicht sehr kritisch zu sehen sind. Unter dem Begriff ›anonyme Bestattung‹ sind heutzutage normalerweise keine Bestattungen gemeint, bei denen die Identität der Verstorbenen unbekannt ist, sondern es handelt sich dabei um Formen, die am Ende auf eine namentliche Kennzeichnung des Grabs durch Ämter oder Angehörige verzichten (aus unterschiedlichen Motiven und nur ggf. unter Berücksichtigung des Willens des Verstorbenen). Gleichwohl gibt es in der Praxis zahlreiche verschiedene Ausprägungen hinsichtlich der Anonymität einer Beisetzung bzw. der Grabstelle. Happe (1996: 41ff.) hat diese Formen differenziert und fünf verschiedene Typen herausgearbeitet (zu berücksichtigen ist zum Beispiel, ob die Trauergemeinde anwesend sein kann oder nicht). Die Bestimmung und Zählung von anonymen Bestattungen ist in Deutschland aufgrund der Vielfalt in Praxis und in Zuständigkeit komplex. In einer umfangreichen Studie von Happe/Jetschke/Schulmann (2011) – Untersuchungszeitraum: 1999-2009, befragt wurden Friedhofsträger – zeigt sich, dass die Zahl der anonymen Bestattungen nicht pauschal ansteigt. Vielmehr muss differenziert werden. Obwohl der Anteil der Urnenbestattungen zwischen 1999 (51%) und 2009 (62%) ansteigt, bleibt der Anteil der anonymen Bestattungen relativ konstant (1999: 20%; 2009: 22%; vgl. ebd.: 256). Seit dem Jahr 2004 ist keine Steigerung der anonymen Bestattungen mehr feststellbar; dabei ist anzumerken, dass speziell in den Großstädten anonyme Bestattungen abnehmen. Für Großstädte darf daher eine ›Sättigung‹ des Bedarfs an anonymen Bestattungen vermutet werden. Zusätzlich ist eine differenzierte geographische Verteilung feststellbar (vgl. ebd.: 266ff.). Studien mit einem anderen Design kommen abweichend zu anderen Zahlen zur anonymen Bestattung in Deutschland.8 Methodisch können die Arbeiten an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Sozial- und Ordnungsamtbestattungen sind zwar nicht automatisch anonyme Bestattungen. Bei Ordnungsamtbestattungen ist dies jedoch anscheinend regelmäßig der Fall. Wie ausge-
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In einer (nicht repräsentativen) Studie wurden Bestattungsunternehmen befragt: Anonyme Bestattungsarten machen demnach einen Anteil von 11,4% aus; der Anteil ist dabei in den verschiedenen Sozialmilieus (Sinus-Milieus) unterschiedlich ausgeprägt. Am höchsten liegt der Wert bei den Menschen, die am Rand der Gesellschaft (›prekäres‹ Milieu: 18,2%) stehen (Thieme 2013: 14). Sachmerda-Schulz kommt bei der Befragung von Friedhofsverwaltungen zu dem Ergebnis, dass im Bundesdurchschnitt 27,9% der Bestattungen anonym durchgeführt werden (Sachmerda-Schulz 2010: 59f.).
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führt, wird in diesem Beitrag lediglich angenommen, dass die Anzahl von Sozial- und Ordnungsamtbestattungen ansteigt. Kirche und Gesellschaft sind dabei gleichermaßen herausgefordert, dass dem Willen der Verstorbenen entsprochen wird. Wenn kein klares Bekenntnis zu einer anonymen Bestattung erkennbar ist, so erscheint es juristisch geboten, andere Formen zu wählen. Die erläuterten Zahlen verdeutlichen, dass anonyme Bestattungen auch nicht automatisch zunehmen. Auch jenseits von theologischen Begründungen erscheint die Anonymität einer Bestattung herausfordernd. Hans Ulrich Gumbrecht hat sich intensiv mit der Frage der Präsenz in der gegenwärtigen (westlichen) Kultur (vgl. Gumbrecht 2004: 12) beschäftigt. Die (geisteswissenschaftliche) Wahrnehmung der Dinge ist häufig allein durch eine hermeneutische, eine den Sinn suchende Perspektive geprägt: Es sei zwar so, dass die Beziehungen zur Welt »sowohl auf Sinn als auch auf Präsenz beruhen« (ebd.: 127), die Frage der Präsenz sei aber häufig nicht bewusst. Gegenstände besitzen immer »Präsenz- und Sinneffekte [...]«, die durch »Oszillieren« miteinander verbunden sind (ebd.). Ein Gedicht lässt sich dem Sinn nach interpretieren, sorgt aber auch durch die sprachliche Form für eine spezifische ästhetische (Klang-) Präsenz. Beides gehört zusammen (vgl. ebd.: 127f.). Vor diesem Hintergrund wird eines klar: Durch eine anonyme Bestattung, insbesondere wenn fehlende Angehörige (zum Beispiel bei Ordnungsamtbestattungen) keinen anderen Ort des Erinnerns etablieren, hinterlassen die betroffenen Menschen keine sinnlichen Spuren. Durch den Namenszug allerdings, als kleinstes sinnliches und zugleich individuelles Zeichen, könnte der Verstorbene eine dingliche Präsenz in der Welt aufrechterhalten, die immer wieder auch die Rezeption des Wahrnehmenden anregt. Der Grabstein kann dann »als visueller Anker« (Benkel 2012: 46) verstanden werden, der die Verbindung von sozialer Umwelt und der Individualität des Verstorbenen gewährleistet. Die Präsenz bzw. das indexikalische Zeichen an der Grabstelle (vgl. ebd.: 48) fordert daher den hermeneutischen ›Sinn‹ heraus: Wer war dieser Mensch? Durch eine bezeichnete Grabstelle kann der individuelle Mensch mit seiner individuellen Würde in der Welt fortbestehen. Namentlich gekennzeichnete Grabstellen sind daher nicht nur Trauerorte, sondern auch würdevolle Orte, an denen Verstorbene ihren Platz in der Gesellschaft behalten. Dieser allgemeine Zusammenhang ist jedoch in der gesellschaftlichen Wahrnehmung nicht selbstverständlich und erklärungsbedürftig geworden.9
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Für Friedhofsverwalter kann zum Beispiel eher das Verhältnis von Namenskennzeichnung und Trauerort im Vordergrund stehen (vgl. die Studie zu Ordnungsamtbestattungen in einer niedersächsischen Stadt von Köhler 2008: 12). Dies ist selbstver-
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Der deutsche Sozialstaat hat durch das Sozialgesetzbuch den rechtlichen Rahmen dafür geschaffen, dass jeder Verstorbene ein würdevolles Begräbnis erhalten kann. Auch die ordnungsbehördlich veranlassten Bestattungen dürfen minimale Standards nicht unterschreiten. Wenn dieser Rahmen allgemeiner Konsens ist, muss Gesellschaft und Politik die Akteure praktisch und finanziell so ausstatten, dass stets ein angemessener Umgang mit den betroffenen Verstorbenen möglich ist. Erfahrungen zeigen aber, dass in der Praxis sehr unterschiedlich verfahren wird. In diesem Beitrag wurde der Fokus zunächst darauf gelegt, dass die Ansprüche des rechtlichen Rahmens in Fragen von Sozial- und Ordnungsamtbestattungen mit diakonischen Perspektiven konvergieren. Vor diesem Hintergrund ist eine enge Vernetzung von kirchlichen und staatlichen Akteuren wünschenswert, wie es an vielen Orten auch schon passiert. So gibt es in einigen Kommunen regelmäßige Treffen u.a. von Behörden- und Kirchenvertretern, bei denen zum Beispiel Gottesdienste für Verstorbene organisiert werden, die durch das Ordnungsamt bestattet werden. Solche Initiativen sind zu begrüßen, weil Staat und Kirche ergänzend einen Beitrag für einen würdevollen Umgang mit den Verstorbenen leisten können. Grundsätzlich dürfen diese Projekte den Staat allerdings nicht aus der Verantwortung nehmen, selbst angemessene Rahmenbedingungen zu gewährleisten. Für die kirchlichen Akteure ist außerdem in diesem Bereich eine gute Kooperation mit den zuständigen Ämtern anzustreben: Wird zum Beispiel das Ordnungsamt aktiv, sind Kriterien zu entwickeln, wann im Sinne einer positiven und negativen Religionsfreiheit die zuständige Kirchengemeinde informiert werden sollte, damit sie ein kirchliches Begräbnis veranlassen kann.10 Für die katholische Kirche wurde gezeigt, dass sie anonymen Bestattungsformen ablehnend gegenübersteht. Gleichwohl müssen die kirchlichen Akteure selbst klug und pastoral angemessen mit dem Wunsch der Menschen umgehen, die aktiv sagen, dass sie anonym bestattet werden möchten. Darunter können auch Personen sein, die sich als bekennendes Kirchenmitglied verstehen.11 Zu Beginn wurde zwar herausgestellt, dass ein kirchliches Begräbnis für viele Kirchenmitglieder ein sehr wichtiges Anliegen ist. Ebenso ist aber deutlich, dass
ständlich auch eine zentrale Perspektive für die Trauer und kirchliche Trauerbegleitung. 10 Zu Praxisbeispielen und kirchlichen Handlungsfeldern vgl. u.a. Sörries (2015: 43f.), Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (2011: 20f.) und Köhler (2011). 11 Vgl. hierzu ergänzend die Diskussion bei Sachmerda-Schulz 2010: 67.
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insgesamt die religiöse und damit auch kirchliche Sozialisation abnimmt. Das Verständnis für ein Begräbnis als diakonischer Dienst am Verstorbenen sowie die Grabkennzeichnung als ein Ausdruck seiner Würde über den Tod hinaus kann heute nicht mehr allgemein vorausgesetzt werden. Die Gestaltung des Lebensendes bleibt vor dem Hintergrund einer sich dynamisch entwickelnden gesellschaftlichen Pluralität für die Kirche eine stete Herausforderung; dies gilt im Besonderen für eine diakonische Kirche, die für die Verstorbenen am Rand der Gesellschaft da sein will.
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»Zeus(̓) Platz!« Die Zukunft des toten Heimtieres1 D IRK P REUSS
Tierfriedhöfe sind ein todernstes Thema – und zugleich entbehrt dieses nicht komischer Elemente. Dass der Tod des geliebten Heimtieres für die meisten verwaisten Halter ein trauriges Ereignis darstellt, das der Rücksichtnahme bedarf und verarbeitet werden muss, ist evident (vgl. Preuß 2015a: 184f., 249f.). Dass die Bestattung des Tieres – zumal auf einem Tierfriedhof – zugleich amüsante Aspekte birgt, wird mit Blick auf die Humorforschung schnell einsichtig (siehe Samson et al. 2009). Denn Lachen wird nach dieser u.a. durch Brüche bzw. Inkongruenzen ausgelöst – und solche Verwerfungen lassen sich auf dem Tierfriedhof durchaus entdecken. Daher verwundert es auch nicht, dass neben einer vielfältigen, meist sehr persönlich motivierten und emotionalen Ratgeberliteratur zu Fragen der Trauer um das verstorbene Tier, seine Bestattung oder sein postmortales Schicksal einerseits (siehe z.B. Müller 2009; Kowalski 2013; Zöpfl 2012) eine größere Zahl an humoristischen bis satirischen Schriften andererseits existiert, die das Schicksal der Tiere nach ihrem Ableben aufgreifen (siehe z.B. Henscheid 1995; Moseley/Kirk 2009).2 Wenn sich der vorliegende Beitrag dem Phänomen Tierfriedhof in theologischer Perspektive annähert, wird dieser vor allem als eine Herausforderung identifiziert, die bisher nur punktuell – und eher im Kontext der Schuldidaktik (siehe Gaus 2011: 5; Radlbeck-Ossmann 2005; Wenzel 2014) – aufgegriffen wurde
1
In memoriam Adi v. Beerenhausen.
2
Bereits für die Antike lassen sich neben ernsthaft-sentimentalen Epigrammen parodistische Tierepikedien finden. Siehe zu deren Einordnung und Analyse Herrlinger 1930: 57-91.
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(vgl. auch Preuß 2015b). Der tópos Tierfriedhof ist hierbei anhand der Zukunft des toten Heimtieres in einem doppelten, miteinander verschränkten Sinn zu beleuchten: geht es auf bzw. in und unter ihm doch um die Zukunft des körperlichen Rückstandes (des Kadavers oder der Leiche?); und geht es auf bzw. über ihn hinaus doch um die Zukunft der tierlichen Seele (falls es sie denn gibt und was auch immer das sein mag). Werden dem Titel des Sammelbandes folgend hierbei einige Aspekte des Heterotopischen aufgegriffen (vgl. Foucault 1990, 2005), folgt der Beitrag Foucault jedoch insbesondere darin, vieles nur andeuten zu können.3
D ER T IERFRIEDHOF
ALS NEUER
O RT
Tierbestattungen sind ein Jahrtausende altes Phänomen. Allgemein bekannt sind die rund 120 Tiernekropolen Ägyptens, die seit dem 14. Jahrhundert v. Chr. angelegt wurden, im 1. Jahrtausend v. Chr. einen Aufschwung erlebten und deren Höhepunkt im 4./3. Jahrhundert v. Chr. zu datieren ist. Hier wurden im Rahmen des Tierkultes Tierkörper, etwa von Rindern, Katzen, Hunden, Falken, Ibissen oder Krokodilen, beigesetzt.4 Den mutmaßlichen Vorstellungen jener Zeit gemäß konnten einzelne, ausgewählte Tiere im Rahmen der Tempelaktionen Götterrollen einnehmen, da sich in den – zeremoniell versorgten – Tieren die jeweilige Gottheit inkarnieren konnte. Erst der Tod und die Behandlung des Tieres (Mumifizierung, Mundöffnungsritual) führten dann wohl zur Vergöttlichung des Tieres selbst. Diesem brachte man wiederum als Votivgaben, vor allem in der Spätund Ptolemäerzeit, eine große Menge mumifizierter Tiere – oft derselben Spezies – dar, die in großem Umfang gezüchtet und dann getötet bzw. als Tierkadaver eingesammelt und anschließend konserviert worden waren. Tierfriedhöfe dienten also keineswegs der Beisetzung geliebter Einzeltiere; die dortige Bestattung war vielmehr ein zentral vom Königshof organisiertes und auch finanziell zugunsten des Staatshaushaltes angelegtes Geschehen. Verstarb ein die Gottheit verkörperndes Tier, war dies ein so bedeutendes Geschehen, dass sogar der Pharao selbst aktiv an den Beisetzungsfeierlichkeiten teilnehmen konnte (vgl. Hoh-
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Ergänzend müsste man beispielsweise auch konfessionelle Unterschiede noch genauer in den Blick nehmen (vgl. Wiedenmann 1993: 201) oder eine umfänglichere Rückbindung an ontologische bzw. schöpfungstheologische Prämissen suchen.
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Waren die Friedhöfe zunächst einer einzelnen Tierart gewidmet, wird diese Regel ab dem 4. Jahrhundert v. Chr. aufgeweicht (vgl. Lorenz 2000: 296f.).
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neck 2007; Ikram 2007; Kessler 1986, 2009; Lorenz 2000: 294ff.; Pasek 2007: 239ff., 265ff.). Bestattet wurden Tiere aber auch schon in der Zeit zuvor und danach, oft als Grabbeigaben in den letzten Ruhestätten der Menschen,5 sollten sie doch zum einen den sozialen Stand der bestatteten Person anzeigen, ihr zum anderen womöglich im Jenseits dienen oder sie dort bzw. dorthin begleiten. So finden sich in neolithischen und bronzezeitlichen Gräbern relativ oft Mitbestattungen von zu diesem Zweck getöteten Wild- und Haustieren wie Hirschen, Elchen, Pferden, Rindern, Schafen oder Ziegen. Aus der Altsteinzeit ist bereits die Mitbestattungen von Wolfs- oder Hundewelpen bekannt (vgl. Lorenz 2000: 257f., 266).6 Zur letztgenannten Art schreibt Lorenz (2000: 258, vgl. ebd.: 351 sowie Herrlinger 1930: 9f.): »Die besondere Rolle des Hundes in all diesen Zusammenhängen resultiert sicherlich aus seiner vielfältigen Funktion im realen Leben: Jagdgenosse, Wächter und Verteidiger, als einziges der domestizierten Tiere auch gerne Zelt-, Hütten- und Hausgenosse, Warner, von sich aus treu und anhänglich [...], dadurch auch so etwas wie von Natur persönlicher Besitz, Freund und Spielgenosse, allenfalls aber auch genießbar – jeder dieser Aspekte konnte für einen Verstorbenen im Grab, auf der Jenseitsreise, im Jenseits wichtig werden!«
Diese Form der Tiermitbestattung erhält sich bis in das Mittelalter hinein, wie Gräber beispielsweise aus dem Rheingau zeigen (vgl. Hemmer/Jaeger 1968). Allerdings konnte die bildliche oder figürliche Darstellung eines Tieres im oder am Grab dessen zeitgleiche Bestattung – und somit auch dessen Tötung – ersetzen (vgl. Lorenz 2000: 347f., 351f.). Ein individuelles Grab ließ man Tieren offenbar dann zukommen, wenn sie sich verdient gemacht oder einen besonderen Status erworben hatten. Von dem Philosophen Lakydes (3. Jahrhundert v. Chr.) etwa wird berichtet, er habe einen Ganter besessen, der ihm stets folgte und den er wie einen Sohn oder Bruder be-
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Neben der Bestattung in Tiernekropolen ist auch diese Beisetzungsform – in der Deutung umstritten – für das Alte Ägypten gut dokumentiert (vgl. Behrens 1963; Hohneck 2007: 89; Ikram 2007: 281).
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Zur Schwierigkeit, ›Tierdeponierungen‹ im prähistorischen Kontext zu deuten, vgl. mit entsprechenden Beispielen Augstein 2014.
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statten ließ.7 Theophrast schreibt – nicht ohne Spott – in seiner Charakterstudie über den Eitlen: »Ist ihm das Malteserhündchen gestorben, läßt er ihm Grabmal und Säule errichten mit der Inschrift: Klados aus Malta« (Theoprast 2000: 53 = Charaktere 21, 9). Archäologisch sind Einzelgrabstätten von Hunden spätestens aus dem Athen des 4. Jahrhunderts v. Chr. bekannt, denen man nun ihrerseits von Tieren stammende Gaben – wie einen Rindsknochen – beilegte (vgl. Lorenz 2000: 352). Gräber und Grabsteine widmete man aber auch bewährten Pferden, wie sich schon bei Herodot nachlesen lässt.8 Man denke ebenso an die Totenklage um ein Pferd bei Anyte von Tegea (vgl. Herrlinger 1930: 14f., 58) oder, sehr viel später, an die mittelalterliche Bestattung eines Hengstes in Schleenhain (Sachsen) (vgl. Campen 1998/99). Für die Neuzeit seien exemplarisch das Grab des Hundes Stutzel aus dem 17. Jahrhundert im thüringischen Winterstein, die Bestattung der Windspiele Friedrich des Großen im Park von Sanssouci, die Baumbestattung von Matthias Claudiusʼ Hund und die Grabstätte von Richard Wagners Neufundländer Russ(umuck) genannt.9 Während Einzelbestattungen von individuell geliebten bzw. geschätzten Tieren über viele Jahrhunderte hinweg – zumindest punktuell – durchgeführt wurden, ist es anscheinend spätestens im 19. Jahrhundert auch gesellschaftliche Praxis und selbstverständlich, sein verendetes Heimtier nicht dem Abdecker zu überlassen bzw. nach dem Tod des Tieres nicht einfach zur Tagesordnung überzugehen (vgl. Sörries 2012: 183).10 Zumindest äußert sich in dieser Richtung Alfred Brehm, wenn er 1864 in seinem äußerst populären Illustrirten Thierleben den St. Gallener Professor für Philosophie und Naturkunde Peter Scheitlin zitie-
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Vgl. Aelianus 2009: 184f. = De nat. anim. VII, 37 (bzw. je nach Ausgabe VII, 41]): »[...] ὃνπερ καὶ ἀποθανόντα ὁ Λακύδης ἒθαψε καὶ πάνυ φιλοτίµως, ὣσπερ οὖν ἢ υἱὸν ἢ ἀδελφὸν ἐκεῖνος θάπτων.«
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»Begraben aber ist Kimon vor der Stadt neben der Straße, [...] und ihm gegenüber sind auch die Pferde begraben, die dreimal in Olympia gesiegt hatten (Herodot 1985: 106 = Geschichtswerk VI, 103).
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Friedrich des Großen und Richard Wagners sterbliche Überreste sind (mittlerweile) neben ihren Tieren beigesetzt. Vgl. mit zahlreichen weiteren Beispielen Kolbe 2014: 10ff. sowie für Steinepigramme bzw. die literarische Totenklage von der Antike bis in die Moderne Herrlinger 1930.
10 Laut Herrlinger (1930: 120, 177ff.) findet auch insofern eine Veränderung statt, als in der Antike (und im Mittelalter) nicht das tote Tier beklagt werde, sondern der Besitzer sich selbst beklage bzw. den Verlust eines verdienten Tieres betrauere, während in der Moderne auch das Tier um seiner selbst willen betrauert werde.
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rend11 über den Hund schreibt: »[...] man lobt ihn, pflegt ihn sorgfältig, giebt ihn an den Arzt, wenn er leidend ist, trauert mit ihm, um ihn und weint, wenn er gestorben; man setzt ihm ein Denkmal.« (Brehm 1864: 335) Während es für den Thüringer Naturforscher anscheinend normal war, den vierbeinigen Weggefährten zu begraben, kamen öffentliche Beisetzungsorte in Form von Tierfriedhöfen erst um 1900 auf. Als erster kontinentaleuropäischer öffentlicher Tierfriedhof der Neuzeit ist der 1899 bei Paris eröffnete Cimetière des Chiens zu erwähnen, in Deutschland entstehen sie in Berlin, Hamburg oder – seit 1932 bis heute bestehend – in Mainz (siehe Jaedicke 1927; Kolbe 2014: 25ff.; Wolf 2007: 55).12 Eine Expansion dieses Phänomens ist allerdings erst in den letzten Jahrzehnten zu beobachten (vgl. Wolf 2007: 55), wobei mittlerweile unterschiedlich gestaltete und konzipierte Friedhöfe zu finden sind. Neben klassisch symmetrischen oder parkähnlichen Anlagen entstanden so zum Beispiel Waldfriedhöfe13 oder Dünenfriedhöfe.14 Betreiber bzw. Initiatoren sind hierbei Tierbestattungsunternehmen, Tierkrematorien, Tierheime, Floristen oder Tier-
11 Bei Scheitlin (1840: 248) heißt es: »[...] man lobt ihn, pflegt ihn sorgfältig, gibt ihn dem Arzt, wenn er leidend ist, trauert mit ihm und um ihn, und weint, wenn er gestorben; man setzt ihm ein Denkmal wie einem Canarienvogel, Pferde und Menschen, und wenn Plato von einem Thiere gemeint hat, es diene im Elysium den Menschen auch wieder zum angenehmen Umgange, so muß er’s von einem gutgearteten und gut erzogenen Hunde gemeint haben.« Zum Setzen von einem »marmorne[n] Denkmal« für Pferde vgl. ebd.: 246. 12 In Hartsdale (New York) wurde bereits 1896 ein Tierfriedhof eröffnet, im Hyde Park (London) bestand zwischen 1881 und 1903 ein erster privater Tierfriedhof (vgl. Witt 2003: 757; Wolf 2007: 55). Auch in Barsberge in der Altmark befindet sich ein seit 1878 zunächst wohl inoffiziell genutzter Bestattungsplatz für Hunde. 13 Vgl. höv 2008. Als Prototyp hierfür kann – neben den sog. ›Friedwäldern‹, ›Ruheforsten‹ etc. aus dem Humanbereich und dem Hundefriedhof Barsberge – vermutlich der ›Djurkyrkogården‹ im Stockholmer Nationalstadtpark Ekoparken gelten, der mit der Bestattung von August Blanches Hund Nero seinen Ausgangspunkt nahm, 1940 zwar geschlossen, dennoch aber weiter genutzt wurde und seit 1993 wieder offiziell für die Aschebeisetzungen zur Verfügung steht. 14 Bemerkenswerterweise ging der Kleintierfriedhof in den Dünen auf der Insel Norderney aus einem Beisetzungsort für (landwirtschaftlich genutzte) Pferde hervor (1987 wiedereröffnet), nachdem diese seit den 1970er Jahren gemäß dem Tierkörperbeseitigungsgesetz auf andere Weise entsorgt werden mussten (vgl. Lorenzen-Maertin 2013: 13).
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schutzvereine.15 Die Zahl der Tierfriedhöfe wird mit rund 120 kolportiert bei, je nach Autor, 5.000 bis 20.000 Beisetzungen pro Jahr (vgl. Feldkamp 2008: 42; Mars Petcare Deutschland 2012: 80; Merker 2008: 49; Simeonov 2014: 65; Wolf 2007: 55). Ferner existieren seit 2015 auch in Deutschland die ersten beiden Friedhöfe für Urnenbeisetzungen von Menschen und Tieren.16 Wie diese Zahlen indizieren und wie sich im Folgenden zeigen sollte, ist ein differenzierter und zu intensivierender Blick auf Tierfriedhöfe auch aus kirchlich-theologischer Sicht längst angezeigt, ohne dass dafür die Idee, Tier- und Humanbestattungen auf dem gleichen Areal durchzuführen, erst aufkommen musste (vgl. u.a. Bürgeramt – Statistik und Wahlen 2013/2014: Tab. 6; Kolbe 2014: 132; Sörries 2012: 186; Wolf 2007: 57). Denn auch jenseits der Frage, ob sich kirchliche Friedhöfe der Bestattung von Heimtieren öffnen oder Tierfriedhöfe auf dem Areal entwidmeter Friedhofsflächen eingerichtet werden sollen, bieten Tierfriedhöfe eine Reihe wichtiger Indikatoren bzw. Beobachtungen. Um sich in der Vielfalt der oben erwähnten Tierfriedhofsformen und -betreiber nicht zu verlieren, stammen die im Folgenden herangezogenen Beispiele von einem einzigen, parkähnlichen und zudem waldnah gelegenen Bestattungsplatz, der in unmittelbarer Nähe eines Tierheims im November 1989 eröffnet wurde und dessen Gesellschafter der örtliche Tierschutzverein ist. An ihm soll exemplarisch der Gedankengang zu diesem »anderen Raum« (Foucault 1990) des Tierfriedhofs entwickelt werden.
15 So gehört auch zum Phänomen, dass in den letzten Jahrzehnten zahlreiche (derzeit circa 150) Tierbestattungsunternehmen gegründet und Tierkrematorien gebaut wurden. Von Letzteren existieren mittlerweile rund 26 in Deutschland, das erste von ihnen wurde 1978 in München eröffnet (vgl. Lorenzen-Maertin 2013: 13; Sörries 2012: 184 sowie nach dankenswerter Auskunft vom 11. November 2015 von Herrn Martin Struck, Bundesverband der Tierbestatter e.V.). 16 Vgl. www.unser-hafen.com, Stand: 1. November 2015. Zu den juristischen Voraussetzungen für die gemeinsame Bestattung menschlicher und tierlicher Aschen (letztere gelten als Grabbeigaben) vgl. Spranger 2015 bzw. den Erlass des Ministeriums für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter des Landes Nordrhein-Westfalen vom 17. Juni 2015 (Az. 232-0260). Im Ausland war die gemeinsame Bestattung von Menschen und Tieren auf überwiegend als Tier- bzw. Humanfriedhof ausgelegten Arealen schon zuvor stellenweise möglich (so z.B. jüngst in Zürich oder Läufelfingen [Schweiz] und seit langen Jahren – mit Unterbrechung – in Hartsdale [New York]). Faktisch wird man erwarten dürfen, dass auch auf deutschen Humanfriedhöfen längst eine große Zahl an Heimtieren ihre letzte Ruhe im Familiengrab gefunden hat.
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Lassen sich (Human-)Friedhöfe als Orte der Abweichung und der Krise beschreiben (vgl. Foucault 1990: 40), so trifft dies gleichfalls für die Tierfriedhöfe der Gegenwart zu. Unbestreitbar sind Tierfriedhöfe Orte der Erinnerung an ein verstorbenes Heimtier, wie beispielsweise folgende Grabinschrift belegt: »Zur Erinnerung an meine geliebte Angelina[.] Dich werde ich niemals vergessen.« Ergänzend – und vor allem aber – sind sie Orte der Trauer und womöglich auch der Trauerbewältigung. Einsichtig wird eine solche Trauerreaktion der hinterbliebenen Tierhalter, wenn man bedenkt, dass zum Tier, meist über Jahre hinweg, eine intensive Beziehung aufgebaut wurde.17 Zerbricht eine solche zentrale Bindung durch den Tod des tierlichen Partners, muss dies betrauert werden (vgl. hierzu Ochsmann 2008). Trauer als innere Gefühlslage und psychische Bewältigungsstrategie umfasst hierbei nicht nur Traurigkeit und seelisch-körperlichen Schmerz, sondern einen Wechsel von Gefühlen, so dass sich neben Kummer ebenso Erleichterung, Wut, Schuldgefühle oder Dankbarkeit gesellen können. Das resultierende emotionale Ungleichgewicht macht Trauernde denn auch besonders verletzlich. Dass die Trauer, wie im zwischenmenschlichen Bereich auch, unterschiedlich stark ausfallen kann und von verschiedenen Mediatoren geprägt wird, sollte ebenfalls klar sein (vgl. Bowlby 2006: 44ff. und 167ff.; Ochsmann 2008; Worden 2011: 43-81). Primär oder sekundär kann diese Trauer um ein Tier aber auch Anlass sein bzw. werden, den vorausgegangenen Verlust eines Menschen zu betrauern bzw. sich der Notwendigkeit, diesen (noch) zu betrauern, bewusst zu werden. Bei Bowlby (2006: 155) wird beispielsweise der offensichtliche Fall einer Frau geschildert, »die sich dabei ertappte, dass sie den Tod eines Wellensittichs, der zuvor ihrer Mutter gehört hatte, bitterlich beweinte. Erstaunt über die Tiefe ihrer Trauer erkannte sie bald, dass
17 Nicht zu übersehen ist an dieser Stelle, dass sich trotz mancher Ähnlichkeit die Art der Bindung in der Mensch-Mensch- und Mensch-Tier-Beziehung hirnphysiologisch unterscheidet (vgl. hierzu Stoeckel et al. 2014). Zur sich auf dem Humanfriedhof abzeichnenden Beziehung zwischen Mensch und Heimtier ›über den Tod hinaus‹ siehe Benkel 2014: 14f.
188 | DIRK P REUSS der gegenwärtige Verlust den Kummer um ihre Mutter geweckt hatte, die in hohem Alter zwei Jahre zuvor gestorben war und die sie nicht tief betrauert hatte«18.
Zudem kann der Tod des Tieres mit der eigenen Sterblichkeit und Endlichkeit konfrontieren (vgl. Simeonov 2014: 64) und so nochmals mit Blick auf das eigene Leben negative Gefühle wie Furcht und Angst hervorrufen. Bisweilen mögen alle drei Aspekte – die Trauer um das Tier, die Trauer um einen verstorbenen Menschen und die Trauer über die eigene abschiedliche Existenz – zusammenfallen. Im Unterschied zum Humanfriedhof wird man für den Tierfriedhof voraussetzen dürfen, dass um alle dort bestatteten Wesen getrauert wurde bzw. wird. Löst das Versterben des Tieres keine Trauerreaktion aus, wird der einstige Tierhalter mutmaßlich nicht den Aufwand einer Tierbestattung wählen, sondern den Tierkadaver der Biotonne oder der Tierverwertung übergeben.19 Auf dem Menschenfriedhof wird man hingegen die letzten Ruhestätten mancher Verstorbener finden, um die nicht (intensiv) getrauert wurde, die aber, etwa bei nicht mehr vorhandenen Angehörigen, gleichwohl den Gepflogenheiten mehr oder weniger gemäß bestattet wurden oder sogar, bei anwesenden Hinterbliebenen, unter konventionellem Trauerverhalten, aber frei von Traurigkeit beigesetzt wurden.20 Vor diesem Hintergrund mag der Tierfriedhof hinsichtlich ›ehrlicher Trauer‹ im Vergleich zum Humanfriedhof vielleicht sogar als der ›authentischere‹ Ort erscheinen. So wäre auf jeden Fall auch der Tierfriedhof als ein Ort der Krise zu deuten. Er offeriert den Betroffenen einen Schutzraum, in dem sie offen trauern und Menschen mit ähnlichen Erfahrungen treffen können. Dieser Punkt ist insofern
18 Siehe hierzu auch Friedrich den Großen, der anlässlich des Todes seiner Hündin schrieb: »[I]ch habe meine Biche verloren, und ihr Tod hat in mir das Gefühl des Verlustes aller meiner Freunde wieder erneuert« (Hein 1914: 280 = Brief an Wilhelmine vom 29. Dezember 1751). Bisweilen klingen diese Zusammenhänge profaner, wie das Zitat einer jungen Frau anlässlich der Beerdigung ihres Heimtieres belegt: »It’s been a bad year for us. First daddy, then I wrecked my Volkswagen, and now this.« (Zit. nach Witt 2003: 764). 19 Womöglich besteht keine (tiefe) Trauer um das Tier, die Tierkörperbeseitigung wird aber dennoch als inadäquat empfunden. Mutmaßlich wird in einem solchen Fall nicht die Beisetzung auf dem Tierfriedhof gewählt, sondern die einfache Einäscherung ohne eigenes Grab. 20 Hier würde man also mourning als äußerlichem Trauerverhalten, aber nicht grief als zugrundeliegendem Gefühl begegnen (siehe weiterführend z.B. Lammer 2013: 36ff.).
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wichtig, als die Trauer um ein totes Tier nicht selten belächelt oder spöttisch betrachtet wird, weil »es ja nur ein Hund [respektive Wellensittich, Leguan, Meerschweinchen o.ä.] war« (vgl. auch Blohm 1991: 213; Feldkamp 2008: 43; Wiedenmann 1993: 199; Witt 2003: 761, 765). Neben Furcht vor Vandalismus, wie man ihn leider von Humanfriedhöfen kennt, mag dies einer der Gründe sein, weshalb manche Anlagen nur mit Chipkarte oder Schlüssel zugänglich sind. Im Gegensatz zum Humanfriedhof, dessen Kennzeichen seine Öffentlichkeit ist und deren Sinn auch damit begründet wird, dass es in der Regel mehrere Personen sind, die um einen verstorbenen Menschen trauern und die letzte Ruhestätte besuchen wollen und können sollen, fällt dieser Aspekt bei Heimtieren mit ihrem sehr überschaubaren Kreis an Bezugspersonen wohl nicht ins Gewicht. Jedoch könnte es – gegebenenfalls zukünftig – für das Selbstverständnis der Tierhalter durchaus bedeutsam sein und werden, dass der Friedhof – wie der hier betrachtete und viele weitere – ein frei zugänglicher, quasi öffentlicher Ort ist, der perspektivisch auch an einer im Stadtbild prominenteren Stelle angelegt wird. Dies ließe sich nämlich als Ausdruck eines intendierten gesellschaftlichen Stellenwertes deuten, der dem verstorbenen Heimtier und vor allem der Trauer zugeschrieben wird bzw. werden soll (vgl. Merker 2008: 46). Die Bedeutung des Tiertodes für den Menschen wird hier nun nicht mehr selbstregulativ relativiert (vgl. Ochsmann 2008: 36);21 dies ist nicht zu unterschätzen, da die soziale Anerkennung der Trauer ein wichtiger Aspekt für die Bewältigung des Verlustes ist (vgl. Worden 2011: 67). Darin könnte denn auch ein ›Mehrwert‹ des Friedhofs gegenüber dem Grab im eigenen Garten liegen. Der Tierfriedhof wäre dann nicht nur für all jene, die kein eigenes Grundstück besitzen, die »zweite Wahl« (Mars Petcare Deutschland 2012: 80), sondern könnte (zukünftig) auch für Grundstückseigentümer zur ›ersten Wahl‹ werden.22 In theologischer Perspektive sind hier nun vor allem zwei Punkte hervorzuheben. Erstens stellt sich unter pastoralem Gesichtspunkt die Frage, wie eine adäquate Begleitung der trauernden Tierhalter aussehen kann. Gewiss ist an dieser Stelle ein weiter theologisch-anthropologischer bzw. -systematischer Diskurs darüber denkbar, wie sich der Mensch zum (Heim-)Tier ins Verhältnis zu setzen
21 Vgl. hierzu auch Friedrich den Großen: »Ich habe mich geschämt, daß ein Hund meine Seele so stark eingenommen hatte, und doch, mein eingezogenes Leben, und die treue Anhänglichkeit des armen Tieres hatten unser Verhältnis so innig gestaltet, seine Leiden hatten mich so heftig gerührt, daß ich ihm, wie ich gestehe, schmerzlich nachtrauere.« (Hein 1914: 280 = Brief an Wilhelmine vom 29. Dezember 1751). 22 Natürlich kann dem ehemaligen Tierhalter das Grab im eigenen Garten auch räumlich zu nahe liegen und so zu oft an den erlittenen Verlust erinnern (vgl. Witt 2003: 761).
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hätte. Ist eine enge emotionale Bindung an das Tier, die in intensive Trauer bei dessen Tod mündet, Ausdruck eines ›gesunden‹ und ursprünglichen Verhältnisses zum Mitgeschöpf Tier? Oder ist sie eine pathologisch anmutende Manifestation jener Beziehungsform, die nur dem zwischenmenschlichen Bereich vorbehalten sein sollte und mutmaßlich weder dem Menschen als Person noch dem Tier als nichtpersonalem Wesen gerecht wird?23 Diese Alternativen müssen an dieser Stelle weder bewertet noch differenziert werden. Für unseren Kontext entscheidend ist vielmehr, dass eine ggf. als notwendig postulierte Korrektur des Mensch-Tier-Verhältnisses schon früher, nämlich zu Lebzeiten des Tieres ansetzen müsste (siehe aber unten). Ist das Tier verstorben, befinden sich viele Heimtierhalter de facto im Zustand tiefer Trauer (vgl. Brackert/van Kleffens 1989: 216; siehe auch Witt 2003: 759) und lassen sich wohl kaum mit dem Hinweis trösten, dass sie eine falsche Art der Beziehung zu ihrem Hausgenossen gepflegt hätten. Ein abschätziger Hinweis, dass es doch »nur ein Hund« gewesen sei, wird dem Ernst der Lage für die Betroffenen, ihrem faktisch vorhandenen Schmerz und den resultierenden Problemen bis hin zu Depressionen nicht gerecht (vgl. Ochsmann 2008: 35; Simeonov 2014: 64).24 Die Kirchen werden sich deshalb fragen müssen, ob sie in der Krise beistehen oder außerhalb des Friedhofzauns, des Krisenortes, stehen bleiben und sich selbst ausgrenzen wollen. Dies gilt zusätzlich und insbesondere, weil – zweitens – der Tod des Tieres mit all den genannten Facetten die religiöse Weltdeutung in Frage stellen kann. Das Versterben des Hausgenossen kann insbesondere die Frage nach dem Sinn des Leidens, das Problem der Theodizee, aufwerfen und somit auf den Kernbereich christlichen Glaubens und Hoffens zielen, weit über den Bereich der MenschTier-Beziehung hinaus (vgl. Knörzer/Baumgartner 2006: 34).25 So kann man etwa auf einem Grabstein des ausgewählten Tierfriedhofes lesen: »Lieber Gott, du hast doch schon so viele Engel, warum nahmst du mir meinen Einziegen [sic!]
23 Auch dies ist wiederum keine sonderlich neue und originelle Fragestellung. So wird das Heimtier als vermeintlicher Kinderersatz bereits bei Plutarch (1955: 107) kritisiert. 24 Das Aufsuchen des Friedhofs könnte fallweise zugleich als Suche nach Geordnetheit gedeutet werden, die gegen den metaphysischen Abgrund des Todes gesetzt wird (vgl. dem gegenüber kritisch Jankélévitch 2003: 90f.; siehe auch Foucault 2005: 20). 25 Zur existentiellen Bedeutung des Tiertodes und der Anfrage, die dieser an die eigenen Überzeugungen stellen kann, vgl. nochmals Friedrich den Großen zum Versterben seiner Hündin: »Einen häuslichen Kummer hatte ich, der mich an meiner ganzen Philosophie irre gemacht hat« (Hein 1914: 280 = Brief an Wilhelmine vom 29. Dezember 1751).
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Engel.« (Grab von Kucki). Dies führt zur Frage, ob tierliches (und menschliches) Leid und der Tod eingebettet sind in eine umfassende und umfangend-bergende Perspektive des Heils.
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ALS UTOPISCH - ESCHATOLOGISCHER
Würde man jede Grabkerze im Sinne der Verheißung der zukünftigen Herrlichkeit Gottes auf dem Zion verstehen (vgl. Jes 60), würde man jedes Kreuz als Zeichen für den Glauben an die Auferstehung deuten und brächte man jede Engelfigur mit der Funktion eines Psychopompos in Zusammenhang, so ließen sich auf dem hier betrachteten Tierfriedhof bei knapp der Hälfte der Grabstätten transzendente Bezüge finden.26 Versteht man das Kreuz hingegen (auch) als allgemeines Symbol für den Tod, das Licht (auch) als Ausdruck des bloßen Gedenkens und Engelfiguren (auch) als säkularisierten Grabschmuck, bleibt zumindest ein größerer Teil der Gräber in seiner Gestaltung ohne eindeutige religiöse Bezüge. Aussagen wie »Wir vermissen Dich«, »Wir vergessen dich nie« (Grab von Charlie), »Aus unserem Leben bist du gegangen, in unserem Herz bleibst du« (Grab von Schnuffel), »In Liebe Dein Frauchen und Herrchen / Wir werden Dich immer lieben und im Herzen haben / Deine Liebe und Treue bleibt unvergesslich« (Grab von Minki), bewegen sich dann im Kontext einer diesseitig orientierten Trauer- und Erinnerungskultur. Gleiches gilt für das Grablicht, auf dem unter einer Teddybärenabbildung »Du fehlst!« steht, und den davor abgelegten Ball (Grab von Elfi), den stilisierten Hundeknochen auf einer Grabstele (Grab von Jacky) oder die seriell produzierte Hundeskulptur in Erinnerung an den Vierbeiner (Grab von Aisha). Allerdings finden sich auf dem Tierfriedhof ebenso zahlreiche Grabgestaltungen mit religiös-transzendenten Bezügen, die vom Grabnutzungsberechtigten offenkundig bewusst hergestellt oder zumindest dem Anschein nach intendiert werden. Sie verweisen auf die Hoffnung bzw. Erwartung einer postmortalen Existenz des verstorbenen Tieres jenseits des verwesenden oder kremierten kör-
26 Einige Tierfriedhofssatzungen untersagen das »Anbringen von Kreuzen oder sonstigen religiösen Motiven« (so z.B. die Satzung des Mainzer Tierfriedhofs vom 5. Dezember 1993, unter: http://www.tierheim-mainz.de/PDF/Satzung_fur_den_Tierfried hof.pdf; Zugriff am 28. Mai 2015). Inwieweit dieses Verbot gegenüber den Kunden durchgesetzt wird, ist jedoch eine andere Frage. Die Satzung des hier untersuchten Bestattungsplatzes enthält solche Vorgaben nicht.
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perlichen Rückstandes im Grab bzw. auf eschatologische Bilder, die eher einer allgemein gehaltenen Erwartung Ausdruck verleihen oder dezidiert biblisch bzw. christlich konnotiert oder geprägt sein können. Auf dem Grab eines namentlich nicht genannten Hundes findet sich beispielsweise der laminierte Ausdruck des folgenden Prosagedichtes »Die Regenbogenbrücke«, das im Kontext der Tierbestattung vielfach, etwa auf den Homepages und in den Prospekten von Tierkrematorien bzw. Tierbestattern und so auch im Facebook-Auftritt des untersuchten Friedhofs27 zitiert wird: »Eine Brücke verbindet den Himmel und die Erde. / Wegen der vielen Farben nennt man sie die Brücke des Regenbogens. / Auf dieser Seite der Brücke liegt ein Land mit Wiesen, Hügeln und saftigem grünen Gras. / Wenn ein geliebtes Tier auf der Erde für immer eingeschlafen ist, geht es zu diesem wunderschönen Ort. / Dort gibt es immer zu fressen und zu trinken, und es ist warmes schönes Frühlingswetter. / Die alten und kranken Tiere sind wieder jung und gesund. / Sie spielen den ganzen Tag zusammen. / Es gibt nur eine Sache, die sie vermissen. / Sie sind nicht mit ihren Menschen zusammen, die sie auf der Erde so geliebt haben. / So rennen und spielen sie jeden Tag zusammen, bis eines Tages plötzlich eines von ihnen innehält und aufsieht. / Die Nase bebt, die Ohren stellen sich auf, und die Augen werden ganz groß! / Plötzlich rennt es aus der Gruppe heraus und fliegt über das grüne Gras. / Die Füße tragen es schneller und schneller. / Es hat Dich gesehen. / Und wenn Du und Dein spezieller Freund sich treffen, nimmst Du ihn in Deine Arme und hältst ihn fest. / Dein Gesicht wird geküsst, wieder und wieder, und Du schaust endlich wieder in die Augen Deines geliebten Tieres, das so lange aus Deinem Leben verschwunden war, aber nie aus Deinem Herzen. / Dann überschreitet Ihr gemeinsam die Brücke des Regenbogens, und Ihr werdet nie wieder getrennt sein ...«28
27 Zugriff am 1. April 2015. 28 Die Urheberschaft dieses Textes, der ursprünglich aus dem Englischen bzw. Amerikanischen stammt, wird verschiedenen Personen zugeschrieben; die hier wiedergegebene deutsche Übersetzung entspricht dem ausgedruckten Text auf dem Tiergrab. Der häufige Rekurs auf den Regenbogen gehört wiederum zu den hinterfragbaren Elementen der Tierfriedhöfe (und -bestattungen), denn biblisch ist der Regenbogen (in der jetzigen Textgestalt) nicht nur das Zeichen des Bundes zwischen Gott und den Menschen bzw. Gott und den Tieren – und könnte so auf die nicht abreißende Beziehung Gottes zu seinen tierlichen Geschöpfen schließen lassen. Die Setzung des Regenbogens markiert zugleich jenes Datum, ab dem es den Menschen erlaubt ist, Fleisch zu essen (vgl. Gen 9,1-17), und markiert damit einen Bruch zwischen Menschen und Tieren (vgl. auch Beuken 2003: 314). Vgl. ferner Schabert (1985: 97f.), der feststellt, dass »genau genommen nicht die Tiere, sondern […] die in den Tieren wirksame Le-
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Zusammen mit Anreden wie »Mein Hundeengel« (Grabstein von Tapsi) oder den seriell gefertigten Gedenksteinen »Gute Zeit im Katzenhimmel« (Grab von Puschkin et al.), »Du findest deinen Platz im Himmel« (Grab von Nina und Püpple) verweist so ein Teil der Grabstätten auf die Erwartung oder zumindest die Hoffnung, dass lediglich das irdische Leben der Vierbeiner geendet, zugleich aber eine jenseitige Existenz begonnen hat.29 Bisweilen steht der Grabschmuck in einem deutlicher sichtbaren Bezug zur christlichen Auferstehungshoffnung bzw. zum Glauben der Kirche, wenn neben Kreuzen und betenden Engelfiguren Grablichter mit der Ikonographie des Gekreuzigten oder Mariens aufgestellt werden (namenloses Grab), ein Rosenkranz über dem Grabstein arrangiert ist (Hundegrab ohne Namen; Abb. 1) oder Dürers berühmte Betende Hände abgebildet werden (Grab von Asta et al.). Ganz ausdrücklich im Horizont des jüdischchristlichen Glaubens sind dann Grabstätten wie jene zu verorten, die auf den Grabzeichen oder auf dem Grabschmuck biblische Textstellen wiedergeben, etwa aus dem Buch Kohelet:30 »Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: / Geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; / pflanzen und ausreißen, was gepflanzt ist; / töten hat seine Zeit und heilen hat seine Zeit; / Zelte abbrechen und Zelte bauen; / weinen hat seine Zeit; lachen hat seine Zeit; / klagen hat seine Zeit und tanzen hat seine Zeit; / Steine wegwerfen und Steine sammeln; / Umarmen hat seine Zeit, aufhören zu umarmen seine Zeit; / suchen und verlieren; / behalten und loslassen; / zerreißen und zunähen; / schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit; / lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit; / Streit hat seine Zeit und Frieden hat seine Zeit. / Ich merke, dass alles, was Gott tut, ewig besteht. / Man kann nichts dazutun noch wegtun. Was geschieht, ist schon gewesen, / und was sein wird, ist auch schon längst gewesen. / Gott holt wieder hervor, was vergangen ist.« (Auf dem Grab von Wirbel).
benspotenz Nebenpartner des Bundes« ist; der Bund »mit allen Tieren der Erde« (Gen 9,10) sei eine sehr späte Ergänzung, um den Text verständlich zu halten. 29 Zumindest erwecken die Gedenksteine nicht den Eindruck – im Gegensatz zur Antike (vgl. Herrlinger 1930: 77, 85, 115ff.) –, die eschatologischen Verweise allein scherzhaft bzw. poetisch verstanden wissen zu wollen (siehe z.B. Ovid 2010: 76ff. = II, 6). Zur Regenbogenbrücke schreibt Kolbe (2014: 129) etwa: »Mit dieser Vorstellung entwickeln offenbar auch nichtreligiöse Menschen einen naiven Glauben, um mit dem geliebten Tier irgendwann wieder vereint zu sein.« Vgl. auch Sörries 2012: 185. 30 Der Text gibt hier die Verse 1-8 und 14f. aus Kapitel 3 angelehnt an die Lutherübersetzung von 1984 (mit Kürzung in Vers 14) wieder.
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Abb. 1: Hundegrab ohne Namen. Quelle: Dirk Preuß.
Auf einem weiteren Grab, auf dem auch ein kleines Holzkreuz mit der Aufschrift »GOTT sei mit dir« aufgestellt wurde, ist zu lesen: »Verweile nicht auf dieser Erde, mein Schatz! / Geh durch den dunklen Tunnel/dunklen Raum. / In das wunderschöne Licht. / Und wenn GOTT es mir erlaubt, / werden wir dort zusammen sein, / wenn meine Zeit gekommen ist.« (Grab von Berry)
Gewiss sind solche Grabstätten, die eine bewusste und explizite Rückbindung an den christlichen Glauben suchen, in der Minderzahl. Entsprechend ließe sich der Tierfriedhof als Ganzes bzw. die größere Zahl seiner Grabstellen primär als Ort von Trauer und Gedenken ohne offensichtliche transzendente bzw. religiöse Bezüge und somit als ein überwiegend diesseitig orientierter Platz deuten. So gibt auch die Friedhofsordnung den zunächst profan zu deutenden Anspruch vor, »wie der Name schon sagt, ein Ort des Friedens« zu sein,31 »[e]s sollte jeder, der hierher kommt, die Möglichkeit haben, in der Natur Ruhe und Frieden zu finden, fernab von Lärm und Hektik« (Friedhofsordnung, Stand: März 2015). Allerdings sucht zumindest die Facebook-Präsenz des Friedhofs, hier sehr wahrscheinlich abhängig vom Betreiber, sehr deutlich die Nähe zum christlichen Bekenntnis und zur eschatologischen Hoffnung auch für Tiere, wenn das Tier dort beispielsweise als eine »Leihgabe von Gott« bezeichnet wird oder von »Hunde[n] und Tier-
31 Tatsächlich wird der Begriff des Friedhofs etymologisch eher davon herzuleiten sein, dass es sich um einen abgegrenzten, ›umfriedeten‹ Ort handelt.
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freunde[n] im Himmel« berichtet wird. Auf die Frage »Was ich mir wünsche?« heißt es: »Besuchszeiten im Himmel, nur für einen kurzen Moment!«, wobei der Betreiber des Friedhofs, der gerne zu den kirchlichen Festtagen postet, fest davon ausgeht, dass »all unsere Tiere[,] die schon vorausgegangen […] sind [, …] ganz fest in unseren Herzen Ihren Platz haben, bis zu dem Tag[,] an dem wir uns Wiedersehen [sic] werden«. Und fast schon selbstverständlich ist auch hier vom »Regenbogenland« die Rede. Das Interesse des Theologen wird jedoch bereits durch die (halb-)öffentliche sowie gesellig-gesellschaftliche Bestattung auf dem Tierfriedhof geweckt. Diese lässt Aspekte aufscheinen, die bei der Bestattung des Heimtieres im eigenen Garten nicht fehlen müssen, hier aber konturierter hervortreten. Erstens könnte man auf dem Tierfriedhof etwas von jenem Tierfrieden aufblitzen sehen, der bei Jesaja (11,6f) verheißen wird: »Dann wohnt der Wolf beim Lamm, / der Panther liegt beim Böcklein. Kalb und Löwe weiden zusammen, / ein kleiner Knabe kann sie hüten. / Kuh und Bärin freunden sich an, / ihre Jungen liegen beieinander. / Der Löwe frißt Stroh wie das Rind.«
Denn Tiere, die sonst wie ›Hund und Katzʼ‹ aufeinander zu sprechen sind, liegen nun einmütig nebeneinander – »Streit, Ärger und Zwietracht sind hier nicht erwünscht!«, heißt es, jedoch wohl eher mit Blick auf die Menschen, auch in der Friedhofsordnung.32 Jene »gewaltfreie Sicht der Mensch/Tier- und auch der Tier/ Tier-Beziehung« (Janowski 2011: 4) und damit jene utopisch-eschatologische Hoffnung der Entfeindung, die im Jesaja-Text propagiert werden, wären hier sinnbildlich – und gesellschaftskritisch, wie gleich zu zeigen sein wird – umgesetzt. Denn zweitens gleicht die Beisetzung der Tiere auf einem Friedhof und die zugehörige Grabgestaltung, wie man sie von Humanfriedhöfen kennt, die Stellung von (Heim-)Tieren und Menschen anscheinend einander an. Der Tierfriedhof ließe sich so als öffentliches Statement, als Ort der Kritik am gegenwärtigen, gesellschaftlich dominierenden Mensch-Tier- bzw. Mensch-Natur-Verhältnis lesen. Das Tier wird eben nicht bestattet ›wie ein Hund‹. Der Tierfriedhof begehrt gegen Herrschaftsmuster der Unter- und Überordnung auf, er ließe sich als eine Art von Zukunftsvision deuten, deren Umsetzung bereits beginnt. Angestrebt wird offenbar ein Zustand der Harmonie, der Gleichwertigkeit von Menschen
32 Eine entsprechend bildhafte Steigerung erfährt der eschatologische Friede auf jenen Friedhöfen, wo »Natter und Menschenkind« (vgl. Jes 11,8) offiziell nebeneinander beigesetzt sind.
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und Tieren, der hier zumindest exemplarisch angedeutet wird und, so die Utopie33, einst für die Beziehung zu allen (Wirbel-)Tieren oder zur Natur insgesamt gelten könnte. Dass der Übergang zwischen Mensch und Tier fließend geworden, die Trauer um einen zwei- oder vierbeinigen Hausgenossen angeglichen ist, legt beispielsweise das Grab von Zamperle nahe, auf dem die seriell geprägte Tafel »Menschen, die wir lieben, bleiben für immer in unseren Herzen« angebracht wurde (Abb. 2).
Abb. 2: Grab von Zamperle. Quelle: Dirk Preuß.
Wollte man die Tierbestattung auf dem Friedhof unter diesen beiden Hinsichten als untergründige oder sogar ganz explizite Botschaft sehen, fallen jedoch sofort Widersprüchlichkeiten auf, die dieses Unterfangen begleiten und den Tierfriedhof möglicherweise komisch-amüsant erscheinen lassen könnten.34 Zum einen wird der eschatologische Tierfriede karikiert, wenn auf den Grabinschriften vom Hunde- oder Katzenhimmel gesprochen, d.h. die »speziesistische« Separation der Tiergattungen aufrechterhalten wird (vgl. Singer 2014: 81ff.). Hund und Katze lagern dann auf dem Friedhof in scheinbarer Eintracht nebeneinander, sind aber ›im Himmel‹ getrennt. Schon fast sarkastische Züge nehmen darüber hinaus jene Gräber an, auf denen dem karnivoren Vierbeiner – in alter Tradition (sie-
33 Zu den utopischen Momenten der Mensch-Tier-Beziehung vgl. auch Borchers 2013: 211f. 34 In der Tat ist es ein Charakteristikum von Utopien, dass sie sich mit Satiren und Parodien überschneiden können (so Ottmann 2006: 500).
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he oben) – als Leckerbissen ›Sticks vom Rind‹ mitgegeben werden (Gräber von Dzenni bzw. Ledy; Abb. 3). Während dem beigesetzten Hund offenbar ein im doppelten Sinne paradiesisches Leben mit seiner Lieblingsspeise winkt, dient die Kuh – wie schon zu Lebzeiten – nur als Fleischlieferant ohne Perspektive auf ein – wenigstens postmortal – gutes Leben. Solche Brüche sind nicht nur Produkt einer vielleicht wenig reflektierten Praxis vor Ort, sondern finden sich bereits in der einschlägigen Literatur vorgezeichnet. Zöpfl (2012: 28) beispielsweise zitiert vollkommen unkritisch Uli Hoeneß, der auf die Frage, ob Tiere in den Himmel kommen, gesagt haben soll: »Wenn ich darüber nachdenke, ist das eigentlich ein schöner Gedanke. Ich jedenfalls würde mich sehr freuen.« Ob Herausgeber und Sprücheklopfer dabei im Blick hatten, dass es sich bei dem Befragten nicht nur um den prominenten (damaligen) Präsidenten des FC Bayern München, sondern zugleich um einen großen Wurstwarenfabrikanten handelte, und dass er nicht nur auf Labrador Kuno, sondern auch in tausende Augenpaare geschlachteter Kühe und Schweine würde blicken müssen, muss offen bleiben.
Abb. 3: Grab von Ledy. Quelle: Dirk Preuß.
Zum anderen sind auf dem Tierfriedhof weniger – im Bild der Arche Noah und als Zeichen für die gesamte belebte Schöpfung – Exemplare einer Art zu finden, als vielmehr bestimmte Arten (Hund, Katze, Papagei) als Exemplare für eine Vielzahl von Tiergattungen und -familien. Vor allem aber sind es Tierindividuen, die hier beigesetzt sind und – wie der Rinderstick indiziert – die Solidarität mit den anderen tierlichen Kreaturen vermissen lassen. Es liegt der Verdacht nahe, dass in der Tierbestattung zum einen unser Umgang mit dem (Heim-)Tier
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(naiv) idealisiert wird und/oder – anders als bei Jesaja35 – ein naiv-idealisiertes Bild vom ›guten‹ Tier transportiert wird. Gleichwohl ergeben sich aus dem geschilderten expliziten und impliziten utopisch-eschatologischen Charakter der Grab- und Friedhofsgestaltung Anfragen für die Theologie: Wie ist es um das postmortale Schicksal der Tiere jenseits ihres verweslichen Körpers bestellt? Wie ist schöpfungstheologisch und mit Blick auf eschatologische Erwartungen das Verhältnis des Menschen zu den (Heim-)Tieren bzw. darüber hinaus zur Natur angemessen zu bestimmen? Grob gesprochen lassen sich für Theologie und Verkündigung drei Positionen ausmachen, die jeweils mehr Anfragen als Antworten generieren. Erstens bleibt die Eschatologie mit Blick auf die Tiere nicht selten sprachlos: »Und gleichwohl – schweigt sich die Christenheit, auch und gerade die katholische in Lehre und Dekret, hier aus; Roma tacet. Leider. Ist säumig oder ganz offenbar scheelsüchtig verantwortungsscheu – und dies seit einem Drittel Jahrtausend. Es ist ein Schweigen der Unentschiedenheit, der mißvergnügten Verlegenheit, der verräterischen Verleugnung und der Problemverdrängung«,
schreibt der Satiriker Henscheid (1995: 17) und liegt damit nicht ganz falsch. In den klassischen Eschatologien, etwa von Ratzinger (1981), kommen Tiere praktisch nicht vor. Im Fokus steht hier vielmehr der Mensch und dessen Verortung im Reich Gottes, die übrige Schöpfung wird als Materie, Kosmos bzw. »neuer Himmel und neue Erde« (vgl. Jes 65,17) in der Regel nur – wenn überhaupt – kursorisch bedacht (vgl. Kölbl 2015: 4; Phan 1996: 3; Radlbeck-Ossmann 2005: 181). Zweitens kann das Tier in einer Form ›gewürdigt‹ werden, die vielen Zeitgenossen nicht mehr adäquat erscheint (vgl. Baranzke 2002: 104). Das Benediktionale etwa kennt zwar den Tiersegen, doch wird hier eher das Nutztier – neben Maschinen und Geräten bzw. Gaststätten und Hotels – unter der Rubrik »Arbeit und Beruf« aufgrund seiner Bedeutung für den Menschen und keineswegs um seiner selbst willen gesegnet: »Auf die Fürbitte des heiligen N. schütze diese Tiere (Pferde, Rinder) vor Krankheit und Gefahr und halte alle schädlichen Einflüsse von ihnen fern. So können sie dem Menschen
35 Bei Jesaja sind zumindest manche Tiere Gefahr und Bedrohung für andere Arten, eine Konversion der Raubtiere – und was sind Hund oder Katze anderes? – ist folglich auch bei ihnen notwendig (vgl. Janowski 2011: 13).
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helfen und eine Freude für ihn sein. Uns aber, die wir deine Größe und Liebe erkennen, führe zum Ziel unseres Lebens.« (Liturgische Institute 1981: 336; Hervorhebung: D.P.).
Und so ist es auch die These mancher Eschatologie, dass die Tiere nur als Bestandteil menschlicher Lebensgeschichte auf ein postmortales Schicksal hoffen können: »Wenn wir aufbrechen zum Punkt Omega […] nehmen wir nicht nur uns mit, sondern alles, was zu unserem Ich gehört: Erinnerungen, unsere Vergangenheit, unsere Gedankenwelt und unsere Lebensgeschichte«, schreibt Rupp (2012: 10f.) dieser Lehrmeinung folgend im Vorwort des Buches Tiere kommen in den Himmel und gibt dem Leser damit nicht jene Auskunft, die dieser sich mutmaßlich von Seiten der Theologie erhofft hätte. Das postmortale Schicksal des Tieres bleibt so weithin – wenn auch je nach Autor im Grad verschieden – auf die Mit-Vollendung durch und im Menschen beschränkt (vgl. Baranzke 2002: 97ff.; Kehl 2000: 158f.). Oder das Tier, so die dritte Option, wird ebenso als Heilsadressat gedeutet wie der Mensch. Unter Bezug auf biblische Belegstellen wird versucht, ökologische Motive aus der Bibel herauszuarbeiten und in ihrer Relevanz zu betonen bzw. im Diskurs deutlicher zu positionieren. Zentrale Passagen sind dann neben Jes 11,6-9 beispielsweise Röm 8 (»Auch die Schöpfung soll von der Sklaverei und Verlorenheit befreit werden zur Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes«),36 Kol 1,20 (»Alles im Himmel und auf Erden wollte er zu Christus führen«)37 oder die Perikope Mk 1,12f. Zu letzterer, nach der Jesus »bei den wilden Tieren« lebt, fragt Raabe (2014: 157), warum man sie denn nur symbolisch und nicht als konkrete eschatologische Verheißung mit einer »perfect harmony between God’s human creatures and animals« verstehen solle (vgl. auch Beuken 2003: 314). Ebenso müssten die Schöpfungserzählungen im Buch Genesis (1,12,4a; 2,4b-25) als prophetische, »hoffnungserfüllte Vision vom Paradies« gelesen werden, die »eine gewaltlose und lebensfreundliche Welt« als Gegenentwurf zur Gegenwart zeigen (so Rotzetter 2012: 13, 145, 160). Als Vorreiter eines ökologisch ausgerichteten Motivs gelten für die Kirchengeschichte u.a. Franziskus oder Philip Neri (vgl. Ecclesia Catholica 1993: 609 = 2416; Phan 1996: 5f.,
36 Vgl. hierzu Baranzke (2002: 103) für den Kontext der frühen Tierschutzbewegung: »Als Gott-unmittelbare Individuen finden die Tiere dann übrigens auch – auf den Schwingen einer individualisierten Röm 8-Exegese – immer öfter in den Himmel zu ihrem eigenständigen Heil«. Siehe auch Moo 2006: 476f. 37 Vgl. hierzu aber auch die exegetische Schwerpunktsetzung bei Pfammatter (1987: 65): »Kol 1,15-20 will nicht als Lehrstück der Kosmologie, sondern als hymnische Verkündigung des Christusgeheimnisses verstanden werden«.
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10f.), Belege finden sich aber auch in Sentenzen von Angelus Silesius38 oder bei Martin Luther.39 Eugen Drewermann wiederum glaubt, die Unsterblichkeit der Tiere als regulative Idee der praktischen Vernunft postulieren zu müssen, um deren unmittelbare moralische Berücksichtigung begründen zu können (Drewermann 1992: 46).40 Auch wenn man ehrlicherweise zugeben muss, dass über das ›Jenseits‹41 nichts zu wissen, wenn auch vieles zu hoffen ist, dass diese Apophatik gerade in Hinblick auf die Tiere gilt und dass deren Stellung in der biblischen Überlieferung zudem umstritten und vielschichtig ist,42 so lässt sich der Tierfriedhof in seiner Ausgestaltung und mit seinen Grabstellen doch als Appell verstehen, dass auch in der breiten Theologie eine neue, zumindest aktuelle Verhältnisbestimmung zum Tier und seiner Bedeutung für die Glaubenserfahrung (unter den Stichworten Schöpfung, Communio, Theodizee etc.) notwendig und virulent ist. Denn offensichtlich gilt die Diagnose von Link-Wieczorek (2013: 214): »Aber es muss auch klar sein, dass ein Schweigen auf solche Fragen der Plausibilität des christlichen Bekenntnisses Abbruch tut.« Tierfriedhöfe sind offenbar Orte, an denen – auch als Herausforderung an eine überkommenen Theologie – eine neue Verhältnisbestimmung zum Tier angestrebt wird, die den Menschen einerseits aus dem Zentrum führt, andererseits wieder ins Zentrum stellt. In dieser Selbstbespiegelung bzw. -verortung ist er damit aber zugleich ein hochgradig anthropologischer Ort: »We are both less important and more important in the new eschatological vision. Decentered and less important, because humans are no longer placed at the summit of creation in a hierarchical, anthropocentric, dualistic, and consumer-oriented fashion and because oth-
38 »Im Himmel sind auch Tiere [:] Man sagt, es kann kein Tier zu Gott, dem Herrn, eingehn. / Wer sind die Viere dann, die nah bei ihme stehn?« (Silesius 1948: 124 = IV, 121). 39 »Ich glaube, daß auch die Belferlein, die Hündlein, in den Himmel kommen und jede Kreatur eine unsterbliche Seele habe« (zit. n. Brüllmann 1983: 173). 40 Zu einer dogmatisch ausgereifteren Begründung vgl. Kehl 2000: 160ff. Siehe ebenso Radlbeck-Ossmann 2005. 41 »Jenseits« ist hier nicht in einem räumlichen Sinne zu verstehen (vgl. z.B. Ratzinger 1981: 188). 42 Zumindest besteht die »Schwierigkeit bzw. Unmöglichkeit einer biblisch begründeten, eindeutigen Antwort« (Wenzel 2014: 17). Vgl. auch Gaudium et Spes 39,1: »nec universi transformandi modum novimus«. Siehe ferner Ratzinger 1981: 155f., aber auch ebd.: 109.
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er non-human creatures are no longer viewed as instruments to serve human needs. Recentered and more important, because humans now must live in solidarity with and care for the planet […]. In this sense, the ecological sin is the refusal to accept and live out a relationship of solidarity and sharing with other human beings, other animals, and nature and to want everything for oneself and one species« (Phan 1996: 14).
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Aus der Distanz betrachtet ähneln sich die Gestaltungen von Tier- und Humanfriedhöfen oft so sehr, dass sich Zuordnungen erst bei genauer Betrachtung, etwa beim Blick auf die Grabsteine, treffen lassen (vgl. auch Brackert/van Kleffens 1989: 215). Diese Nähe zur klassischen Humanbestattung verwundert nicht. Denn Menschen, die eine andere Bestattungsform für ihr Heimtier als passender erachten, sind – ist das Tier erst kremiert oder kann es auf dem eigenen Grundstück beigesetzt werden – deutlich weniger gesetzlich reglementiert als im Falle einer Humanbestattung. Sie können, ohne eine Ordnungswidrigkeit zu begehen, die Asche auf dem sprichwörtlichen Kaminsims aufbewahren oder dem toten Tier im eigenen Garten und somit ganz in ihrer Nähe ein Denkmal setzen. Und natürlich können sie die Bestattung auch ganz unterlassen. Wer den Friedhof als Beisetzungsort wählt, sucht also mutmaßlich mehr oder weniger dezidiert Anschluss an die klassischen Formen der Humanbestattung und reproduziert diese (vgl. Merker 2008: 51), etwa um das Tier als vollwertiges Familienmitglied zu würdigen.43 Dass hierbei Elemente des Humanfriedhofes »aufgegriffen und mitunter sogar überspitzt« (Meitzler 2014: 12) – d.h. pointierter fassbar – werden, verheißt Erkenntnisgewinn für sepulkralkulturell Interessierte – und für die Theologie. So »kann die Betrachtung der Trauer um ein Tier zum Spiegelbild allgemein üblichen Trauerverhaltens werden« (Sörries 2012: 182), Tierfriedhöfe lassen Trends – wie Gravuren, Statuen und Fotografie als Zeichen einer zunehmenden Individualisierung und Personalisierung (Meitzler 2014: 13) – in der Dichte der Umsetzung schneller greifbar werden. Vor allem aber fungieren Tiergräber »als Projektionsfläche menschlicher Fantasien, Sehnsüchte, Wünsche und Hoffnungen« (ebd.). Zwei dieser Sehnsüchte wurden bereits thematisiert: die Sehnsucht nach einem harmonischeren Verhältnis des Menschen zu Tieren und Natur – am
43 Ob nicht »vielleicht gerade eine Grabstätte im eigenen Garten der Unverwechselbarkeit des Tieres in seinem früheren Lebenszusammenhang gerecht« wird (Wenzel 2014: 17), muss an dieser Stelle nicht erörtert werden.
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(meist domestizierten) Heimtier exemplifiziert; und die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tode – gerne nicht nur mit Oma Ella, sondern auch (oder vor allem?) mit Hund Kira. Ein weiterer Trend sei ergänzend genannt, der sich auch auf Humanfriedhöfen beobachten lässt, hier aber eventuell noch einmal freier von (eigenen oder fremden) Konventionen umgesetzt werden kann und zeigt, was Menschen umtreibt, bewegt und wie sie ihr Leben interpretieren: die sich auf Gräbern bisweilen deutlich abzeichnende ›Patchwork-Religiosität‹. Eklektizistisch wird hier aus religiösen Angeboten, Bildern und Deutungsmustern herausgesucht, was hilfreich und tröstlich erscheint. Engel kommen dann neben buddhistischen Figuren zu stehen, esoterische Texte neben christlichen Zeichen (vgl. Kolbe 2014: 73f.; Wiedenmann 1993: 215f.). Es bleibt dann nicht aus, dass nur schwer Vereinbares zusammenkommt, das sich kaum ohne Schmunzeln betrachten lässt, etwa wenn Zeus unter dem Zeichen des Kreuzes seinen letzten Ruheplatz findet (Abb. 4). Der Tierfriedhof zeichnet auch dort einen weiteren Trend der Humanbestattung nach, wo sich »rund um den Tod eines Tieres […] ein prosperierender Wirtschaftszweig entwickelt« (Wolf 200: 56; vgl. auch Merker 2008: 50; Simeonov 2014: 65; für die USA: Witt 2003). Für die Humanbestattung haben wir uns offensichtlich längst daran gewöhnt, dass üblicherweise weder die Nachbarschaft, noch die Kirchengemeinde oder eine christliche Bruderschaft die Bestattung übernimmt. Der Tierfriedhof und die Tierbestattung wären eine Gelegenheit, sich dieser Kommerzialisierung des letzten Weges von Tier – und Mensch! – neu bewusst zu werden, zumal es bis vor kurzem weder eines Tierbestatters noch eines Tierfriedhofes bedurfte, um sein Heimtier unter die Erde zu bringen.44 Dies ist auch insofern bemerkenswert und stellt einen jener vielen – komischen – Brüche im Bereich des Tierbestattung dar, als sich die oben skizzierte Verhältnisbestimmung auf dem Tierfriedhof eigentlich gegen die »Verkommerzialisierung« des Tieres richtet (Rotzetter 2012: 63). Und so ist auch mit Blick auf Angebote von der Grabgestaltung über die Trauerrede bis hin zur Trauerbegleitung die Beobachtung von Sörries (2009: 257) gültig: »An kaum einer anderen Stelle wird deutlicher, wie sehr die gegenwärtige Bestattungskultur zwischen purem Kommerz und einfältiger Gefühlsdudelei ihre Kapriolen schlägt. Es
44 Mit etwas Fantasie (siehe inspirierend Moseley/Kirk 2009) ließen sich Biotonne oder Tierkörperbeseitigung mutmaßlich schon immer umgehen, auch wenn kein eigener Garten zur Verfügung stand bzw. die Beisetzung dort nicht gestattet war.
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ist kaum zwischen echter Anteilnahme und raffinierter Marketingstrategie zu unterscheiden«.
Abb. 4: Grab von Zeus. Quelle: Dirk Preuß.
Zu denken geben manche wohl umsorgten und häufig besuchten Tiergräber aber noch aus einem anderen Grund. Wie geschildert verwundert der oftmals gute Zustand nicht, da nur wirklich geliebte Tiere eine Bestattung auf dem Tierfriedhof erfahren dürften (und die Liegezeiten kürzer sind). Allerdings zeigen sie, wieviel Energie Menschen in die Beziehung zu ihrem Tier investieren und wie intensiv dieses betrauert wird, wenn die Gräber ausgiebig gepflegt und mit vielerlei Grabschmuck – Kindergräbern oftmals nicht unähnlich45 – bedacht werden. Es wäre eine Mutmaßung, wollte man dies als Ausdruck von Einsamkeit sehen, die im Halten von Tieren kompensiert wird – hier sind sicherlich zunächst noch soziologische Untersuchungen geboten.46 Zu erwarten wäre aber doch, dass sich (auch) die (fehlende) Gestaltung bzw. Gestaltungsmöglichkeit zwischen-
45 Möglicherweise ist es angesichts der Gewohnheit, bei Fehl- und Totgeburten von ›Sternenkindern‹ zu sprechen, tatsächlich Ausdruck von Unüberlegtheit oder mangelnder Pietät gegenüber verwaisten Eltern, wenn zusätzlich auf den Grabstätten zu lesen ist: »Hier ruhen in Frieden unsere Sternchen« (Grab von Wuschi et al.) oder »Der Himmel ist um viele Sterne reicher« (Grab von Angel et al.). 46 Grabinschriften, wie die Folgende, indizieren dies durchaus: »Meine innigstgeliebte [sic!] Cherry, Du warst mein ganzer Lebensinhalt, mein vollkommenes Glück. […] Du warst mein Traummädel.« (Grab von Cherry).
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menschlicher Beziehungen und Interaktionen auf dem Tierfriedhof widerspiegeln. Nicht zuletzt darin wäre der Tierfriedhof eine reflektierende und zur Reflexion anhaltende Fläche, die uns auf uns selbst zurückwirft, sobald wir in bzw. auf ihn blicken. So sagt er etwas über die menschliche Gesellschaft, etwa über Solidarität und Kommerzialisierung auch angesichts des Todes, oder über Lebensformen aus. Er macht mit Blick auf die Tiere den Platz kenntlich, wo sich Menschen angesichts von Tieren, Natur bzw. Mitgeschöpfen ökologisch und/oder spirituell zu verorten bestrebt sind (siehe oben). Und schließlich steckt er je nach Lage und Betreiber auch Zuständigkeiten für letzte Fragen ab: Sind dies Tierschutzorganisationen, Gewerke wie Friedhofsgärtnereien – oder Kirchen?
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Aufmerksamkeit verdient der Tierfriedhof in kirchlicher und theologischer Perspektive nämlich auch insofern, als dort Trauerrituale bzw. der Umgang mit Tod und Sterblichkeit eingeübt werden und existentielle Fragen, bis hin zur Theodizee (siehe oben), aufkommen und nach Antwort bzw. Deutungsversuchen verlangen. Werden Kinder und Jugendliche heute nicht mehr oder nur sehr vereinzelt mit dem Versterben eines ihnen nahen (menschlichen) Familienangehörigen konfrontiert, findet die erste Begegnung mit dem Tod sehr häufig beim Verenden eines Heimtieres statt, zumal in rund jedem dritten Haushalt Tiere leben (vgl. Mars Petcare Deutschland 2012: 26).47 Hier lernen Kinder nicht nur das Phänomen des Todes kennen, sondern hier bekommen sie auch Deutungsmuster dieses Skandalons an die Hand bzw. üben Formen der Bewältigung ein (vgl. Gaus 2011: 2f.; Kolbe 2014: 67; Wenzel 2014: 20; Wiedenmann 1993: 209f., 2002: 53f.; Wolf 2007; Witt 2003: 761). Augenzwinkernd zeigt dies z.B. sehr schön der Kurzfilm Zwei Sterben (2008) von Marc Rühl: Als der Hund eines kleinen Mädchens stirbt, erzählt ihm die Mutter vom Hundehimmel, in dem der vierbeinige Hausgenosse nun mit einem riesigen Vorrat an Knochen beschenkt mit anderen Hunden herumtollt. Als kurz darauf der Großvater verstirbt, stellt sich das Kind folgerichtig auch diesen auf allen Vieren krabbelnd und mit anderen Verstorbenen spielend im Himmel vor und gibt ihm ein Würstchen mit ins Grab. Dass die meisten Kinder nicht mehr in die Bestattungskultur einer (Dorf-)
47 Jüngst hat dieses Thema Kleeberg (2015) in seinem Roman Vaterjahre literarisch und unter Andeutung mehrerer der hier aufgeworfenen Aspekte aufgegriffen.
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Gemeinschaft hineinwachsen, sondern diese ihnen erst erklärt werden muss, zeigen ferner zahlreiche Kinderbilderbücher rund um das Thema, die dies sehr oft anhand von Tieren unternehmen (vgl. Nilsson/Eriksson 2012; Erlbruch 2007). Der Tiertod und der Tierfriedhof sind damit vielleicht weniger Datum und Ort, neue Bestattungsformen zu entwickeln (vgl. Merker 2008: 50), als Gelegenheit, die Tragfähigkeit von Sinndeutungen unter tod-ernsten Bedingungen zu erproben. Während die Frage nach dem Schicksal des toten Heimtieres leicht als lächerlich und naiv abgewiesen werden mag, wenn sie von Erwachsenen gestellt wird – und daher im Rahmen einer ›Selbstzensur‹ gar nicht mehr formuliert wird –, erweist sich die kindlich aufgeworfene Frage, »Daddy, Will Animals Be In Heaven?« (Raabe 2014: 148) als eine echte theologische Herausforderung – etwa für Eltern und Lehrer – und als Möglichkeit, von der Auferstehungshoffnung – überzeugend? – Zeugnis abzulegen.
F AZIT Kirche und Theologie täten gut daran, das Thema des Tierfriedhofs ernst zu nehmen, tiefergehend zu reflektieren und dogmatische Zugänge, pastoraltheologische Konzepte und praktische Ansätze zu entwickeln, um den aufgeführten Aspekten und deren epistemologischen und kerygmatischen Potential Rechnung zu tragen. Denn eines lässt sich mit Blick auf die ›Zukunft des Todes‹ sicherlich konstatieren: Tierfriedhöfe dürften nicht nur als Institution – vielleicht auch in der gemeinsamen Bestattung von Menschen und Tieren48 – expandieren und zukunftsträchtige Orte sein, sondern auch die Frage nach der Zukunft des toten Tieres jenseits seines Grabplatzes wird eine für die jeweilige Zeit auszulegende und (noch) zu beantwortende Herausforderung bleiben.
48 Ein Indiz dafür, dass eine stärkere Verknüpfung von Human- und Tierbestattung und so auch ein gemeinsamer Beisetzungsort von Menschen und Heimtieren bevorsteht, lässt sich darin finden, dass der Bundesverband Deutscher Bestatter e.V. (2014) für die Humanbestatter nicht die Übernahme von Tierbestattungen ausschließt, wenngleich dies auch »nicht das hauptsächliche Tätigkeitsfeld« sei.
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Tanzt der Tod jetzt anders aus der Reihe? Jean Baudrillard zwischen Utopie und Dystopie K ATHLEEN W ARNHOFF »Also gilt es, die Ordnung gerade dort, wo das Reale nicht vorhanden ist, näher zu betrachten.« BAUDRILLARD 1978: 37
Existenzielle Fragen sind naturgemäß nicht einfach zu beantworten. Besonders Zukunftsfragen zum Tod scheinen, von einigen Ausnahmen abgesehen (Feldmann 1997: 110ff., 2010: 252ff.; Geisler 2006; Tag/Groß 2010), nur selten wissenschaftlich beleuchtet worden zu sein. Über die Gründe dieser Absenz lässt sich nur spekulieren: Vielleicht sind das beklagte schlechte ›Image‹1 oder unangenehme Angstgefühle dem Kommenden gegenüber für die mangelnde Auseinandersetzung verantwortlich. Möglich ist auch, dass der wissenschaftliche Zugang versperrt bleibt, weil ein zu starker Kontrast zwischen einer stark ästhetisierten Umwelt und unattraktiven Bildern vom Sterben entsteht, auch wenn dabei mitunter Erlösendes enthalten ist. Die unzureichende Verarbeitung von Zukunftsthemen in der Thanatologie könnte ferner darauf zurückzuführen sein, dass Zukunftsforschung oft mit Science-Fiction und damit allenfalls mit bloßer Unterhaltung gleichgesetzt wird.
1
Klaus Feldmann fordert für die Zukunft des Todes eine Imageverbesserung. Thanatologie soll demnach nach Impulsen suchen, die den Tod nicht nur in negativer Ausprägung darstellen (vgl. 1997: 111f.). Eine aktive Auseinandersetzung mit normativen Erwartungen kann Futurologie fernab unterhaltsamer Utopien anregen, wobei die Eintrittswahrscheinlichkeit der Ereignisse nicht entscheidend ist (vgl. Gausemeier 1995: 27ff.).
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Ganz anders – und irgendwie doch ähnlich – stellt sich dies bei dem französischen Autor Jean Baudrillard (1929-2007) dar. Er beleuchtet fundamentale Aspekte der genannten Art in seinem Hauptwerk Der Symbolische Tausch und der Tod (1976). Aus verschiedenen Richtungen nähert Baudrillard sich dem Lebensende an und ergründet gewissermaßen aus seiner Gegenwart heraus die Vergangenheit, um daraus Zukunftsvisionen zu entwickeln. Obwohl die Lektüre seiner Texte als herausfordernd und polarisierend gilt (vgl. Strehle 2012; Blask 2002: 8ff.), von Kritik aus naturwissenschaftlichen Kreisen ganz zu schweigen (vgl. Sokal/Bricmont 1999: 20), ist sein Werk ergiebig; oder vielleicht gerade deshalb. In Baudrillards Positionen spiegeln sich zentrale Leitfragen der Zukunftsforschung2 wider, die sich sowohl normativ als auch spekulativ darstellen. Versucht wird mit der vorliegenden Rekonstruktion ein doppeltes Wagnis: Die Auseinandersetzung mit Baudrillard, dessen Werk in der Vergangenheit liegt – und zugleich die Auseinandersetzung mit Gegenwart und Zukunft. Mit Baudrillard (1979) soll also gefragt werden: Tanzt der Tod jetzt anders aus der Reihe?
W ER WAR J EAN B AUDRILLARD ? »Die Masse ist die immer dichtere Sphäre, in der das ganze Soziale implodieren und sich in einem Prozess ununterbrochener Simulation verzehren wird.« BAUDRILLARD 1978: 71f.
Die Idee, Baudrillard disziplinär zuzuordnen, muss schnell verworfen werden. Er entzieht sich diesem Versuch durch seinen ungewöhnlichen Stil, der sich in drei grobe Kategorien fassen lässt: Er tritt auf als postmoderner Denker, als wissenschaftlicher Poet und als mediale Figur. Eine Kostprobe für seine oft als pessimistisch gewertete Sicht auf die soziale Wirklichkeit bietet das obige Zitat. Bei genauerer Betrachtung seiner Texte offenbart sich, dass es keine oder zumindest keine einzige Antwort auf die Frage gibt, wer Jean Baudrillard gewesen ist. Beispielsweise wird er folgendermaßen porträtiert – als
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Futurologie, eine inzwischen anerkannte wissenschaftliche Disziplin, kreist um drei wesentliche Leitfragen: »Wie wird die Zukunft aussehen? Wie sollte Zukunft aussehen? und Wie kann wünschenswerte Zukunft erreicht werden?« (Gausemeier 1995: 27). Sie ist durch interdisziplinäre Vernetzung gekennzeichnet, aber auch dadurch, dass sie intuitive und spekulative Gedanken zulässt (Ossip Flechtheim, zit. nach ebd.).
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»Verfechter einer Re-Evaluation des prekären Verhältnisses von Mensch und Wirklichkeit, der sich mit einem publizistischen Feldzug für die Erkenntnis der Einheit von Wirklichkeit und Fiktion trotz der Vielheit ihrer spezifischen Ausprägungen stark macht. […] Seine eigenwilligen Thesen nehmen innerhalb des postmodernen und medienphilosophischen Spektrums eine Sonderstellung ein.« (Benkel 2008: 36)
Baudrillard ist in disziplinärer Hinsicht ein eigenwilliger Exot, obwohl er institutionell in der Soziologie verankert ist. Mit multiperspektivischer Methode entwickelt er zugleich einen poststrukturalistischen Denkstil und benutzt spezifische Passwörter (vgl. Baudrillard 2002). Hinter Worten wie Objekt und Verführung oder symbolischer Tausch verbergen sich eigene kleine Bedeutungswelten mit vieldeutigen Interpretationsspielräumen. Für Baudrillard (und für die Lektüre seiner Schriften) ist ein dezidiert unbegrenztes Denken überaus wichtig, was seine Leserschaft dazu zwingt, sich parallel mit philosophischen, ethnologischen, soziologischen, psychoanalytischen und medientheoretischen Überlegungen auseinanderzusetzen, aber auch Schriften von Ovid oder Augustinus zu reflektieren. Mit solchen argumentativen Verkettungen erzeugt Baudrillard ein schwer zu durchdringendes Gedankenlabyrinth und (de-)konstruiert Sachverhalte, nüchtern betrachtet, manchmal bis zur Unkenntlichkeit, wobei er sich gleichzeitig in mehrere Richtungen bewegt: Einmal von innen nach außen und wieder zurück zum Mittelpunkt des Themas, um es sternförmig immer wieder neu zusammenzufügen. In diesem »simulativen Stil« verfasst Baudrillard eine »Theoriefiktion« (Bohn/Fuder 1994: 8), die Prosa und spekulative Theoriebildung zugleich ist und inkohärente Argumentationen nicht scheut. Dies wird in der Rezeption mitunter als »praktischer Beleg« für den Einsatz referenzloser Zeichen gewürdigt – und sukzessive zur »ideologiekritische[n] Position[]« (ebd.: 9) veredelt. Trotz prinzipieller Anschlussfähigkeit in vielen Bereichen reagierte das »diskursive Feld« auf Baudrillard überwiegend mit »Ignoranz, Skepsis« oder »wütender Ablehnung« bzw. mit »Rezeptionsabstinenz« (Schetsche et al. 2011: 76, zit. nach Strehle 2012: 25f.). Einige Autoren, die sich ausführlicher mit Baudrillards Werk im Ganzen auseinander gesetzt haben, wollen in seinen späteren Arbeiten lediglich eine »Restverwertung« oder »Selbstreflexion« erkennen (vgl. Strehle 2012; Blask 2002: 7ff.). Baudrillards Gedankenkosmos lässt sich am besten im zeitlichen Zusammenhang erschließen, zumal manch argumentativer Strang ihn ohnehin über längere Zeit beschäftigte. Deutlich wird die Querverbindung seiner Texte etwa darin, dass die Metapher vom Zusammenhang des symbolischen Tauschs mit dem Tod das Feld der Medienwirklichkeit tangiert und Baudrillard hier eine »Agonie des Realen« (1978) aufscheinen sieht, weil fiktionale Bilder mittlerweile tiefere und intensivere Gefühlsauslotungen darstel-
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len, als Rezipienten privat an sich selbst empfinden. Es wird auf dem Bildschirm wirkmächtiger und nachhaltiger geliebt, gehofft, gefürchtet und gestorben, als die Zuschauer am eigenen Leib nachempfinden können. Baudrillard spricht näher von einer visuellen »Illusion des Krieges am Bildschirm« (1992: 101), die er z.B. in der Berichterstattung zum Golfkrieg bestätigt sieht. Besonders seine damit verbundene Auffassung von der Hyperrealität scheint immer dann evident zu sein, wenn das eigentliche Geschehen auf Monitoren und Bildern als bedeutsam wahrgenommen wird, während die abgebildete Wirklichkeit, also die Realität dahinter, nicht mehr zu zählen scheint (vgl. Baudrillard 1991; ferner Kneer 2005: 147f.). Für diese Phänomene führt Baudrillard den Begriff des Simulakrums ein. Dem Lateinischen entlehnt, benennt dieser zwei wertende Seiten eines Bildnisses, die einerseits Abbild, Nachbildung oder Gebilde – oder aber Trugbild, Gespenst oder Schatten sind (vgl. Baier 1986; Zapf 2010). Sei es im ökonomischen Warentausch, im kommunikativem Zeichentausch oder aber im politischen Kontext: Baudrillard konstatiert das Verschwinden der wahren Wirklichkeit (vgl. Karpenstein-Eßbach 2010). Insbesondere das Politische verliert für ihn nicht nur an Bedeutung, es wird zum Schauspiel. In Die göttliche Linke (1985) rechnet Baudrillard mit der 1968er Bewegung, und damit gewissermaßen mit seiner eigenen Generation ab. »Wenn alles politisch wird«, bedeutet dies für ihn das Ende der Politik und den »Beginn von Politik als [Pop-] Kultur« (Baudrillard 1985: 68). Zurechenbar ist ihm die Rede vom »Nullpunkt des Politischen« (vgl. Günzel 2010). Einige Jahre zuvor richtet sich Baudrillard in Oublier Foucault bereits angriffslustig gegen Foucaults Analyse zur Macht und wirft ihm und anderen Poststrukturalisten vor, »Sprachrohr« des Systems zu sein (1977: 70). Provokant postuliert er schließlich in Kool Killer, dass »Macht nur deshalb da ist, um zu verbergen, dass sie nicht mehr da ist« (1978: 48). Vom Politischen abgewandt, widmet er sich noch vor der Jahrtausendwende dem Y2K-Problem, insofern er in seinem Buch Das Jahr 2000 findet nicht statt (1990) das ›Ende der Geschichte‹ in hochbeschleunigten Zeiten diskutiert. Hauptangriffsfläche, aber irgendwie auch der Ort insgeheimer Faszination, ist für Baudrillard Amerika, das er in einem ganzen Buch (2004) als Stätte einer fundamentalen Illusionsmaschinerie anprangert. So kann Baudrillard sich selbst treu bleiben, wenn er über die Jahrtausendwende und diversen Katastrophenszenarien einerseits mitmischt und andererseits einen Schleier paradoxer Beruhigung über die Gesellschaft legt. Vom ersten bis zum letzten Text beschäftigt sich Baudrillard in mehrfacher Hinsicht mit dem Todesmotiv. Während es anfangs nur zaghaft durchschimmert (vgl. 1973) und schließlich prominent thematisiert wird (vgl. 1976, 1979), bekommt es beim Rückblick auf sein Lebenswerk eine neue Passform, bei der die
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Realität des Todes am Ende sogar ganz verschwindet. Wie üblich verankert er diese These bereits in einem Titel – und so stellt sein letzter Text Warum ist nicht schon alles verschwunden? (2007) einen ironischen und doch plausiblen Zusammenhang dar, der den Kreis zu allem Vorherigen schließt. In den 1980er Jahren avanciert Baudrillard zur medialen Figur. Er ruft, gemeinsam mit anderen, das Zeitalter der Postmoderne aus, mit dem zugleich der »Tod der Moderne« (Hesse 1983) eintreten soll, und stößt damit auf öffentliches Interesse. Mit dieser erneuten provokativen Loslösung vom Mainstream werden seine Texte zum Dreh- und Angelpunkt vieler Diskussionen, die sich sukzessive mit neuen Sinnkonstruktionen und Freiheitsvorstellungen auseinandersetzen. Angesichts dynamisierter Veränderungen durch massenmediale Einflüsse verkündet Baudrillard konkret eine Zukunft, in der »alles vollendet« ist und es »nichts mehr zu tun« gibt (vgl. ebd.: 5). Seine vieldeutigen Aussagen zur postmodernen Utopie verschleiern indes immer wieder, wieviel Utopie und wieviel Postmoderne tatsächlich enthalten sind. Mit Warnungen und Forderungen, die herrschenden ökonomischen, politischen und massenmedialen Systeme kritisch zu hinterfragen, ist Baudrillard nichtsdestotrotz rezipierbar. Zwei seiner in diesem Zusammenhang populär gewordenen Kontexte beziehen sich auf das Todesmotiv: Zum einen der Tod der Moderne, der als Neuanfang für die postmoderne Zukunft apostrophiert wird, und zum anderen der Tod in der Moderne, ein unvermeidbarer Teil des Lebens, der aufgrund seiner Ökonomisierung zunehmend entwertet wird. Der »Tod [ist] nicht ein entscheidender Tag des Lebens, er ist eine Nuance des Lebens und das Leben eine Nuance des Todes.« (1979: 87). Später erweitert Baudrillard die Metapher vom symbolischen Tausch um so genannte terminologisch passende fatale Strategien (1991). In einer Welt, in der Privatfernsehen, Videorecorder und später Handy und Internet neue mediale Wirklichkeiten erzeugen und zunehmend fingierte Authentizitäten erschaffen, verblasst seine öffentliche Stimme allmählich. Ein vorläufig letztes Mal wird seine Sicht im Zusammenhang mit den ›9/11‹-Terroranschlägen in New York prominent. Dieser Anlass erscheint ihm passend, um auf vorherige gedankliche Konzepte zurückzugreifen: Interventionistisch will Baudrillard erneut auf die Medienrealität aufmerksam machen, die zunehmend realer als die wirkliche Realität zu sein scheint. Kurzzeitig zurück auf der medialen Bühne, spricht er im Zusammenhang von ›9/11‹ öffentlich davon, dass er »von diesem Ereignis geträumt« habe (2001: 30). Das sorgt für Empörung auch in jenen Lagern, die gegenüber postmoderner Medienphilosophie bisher ignorant gewesen sind. Im Irrtum, dass Baudrillard nicht ereignisbasiert veröffentlicht, sondern vielmehr an etablierte Diskurse zur Wirklichkeit anschließt, sehen die Empörten nicht, dass er aktuelle, im weiten Sinne politische Ereignisse zum Anlass
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nimmt, frühere Prognosen zu aktualisieren. Es geht ihm nicht um ›9/11‹, sondern darum, dass jegliche reale Realität ›schmerzhaft‹ erscheint, weil die eigentliche Wirklichkeit eben die Wirklichkeit des Bildschirms und des Monitors ist. »Man muss Baudrillard wie Science-Fiction lesen« lautet ein posthumer Werbespruch zu seinem Werk. Baudrillard erlebte seinen eigenen Tod leibhaftig im Jahr 2007. Sein Nachlass birgt eine vielschichtige Collage aus zahlreichen Texten mit scharfkantigen Argumentationssplittern. Eine Abhandlung ragt aus seinem umfangreichen Werk aber besonders hervor: Der symbolische Tausch und der Tod aus dem Jahre 1976, ein Buch, das sicherlich als Hauptwerk bezeichnet werden darf. Drei Jahre später erschien daraus die Auskopplung Der Tod tanzt aus der Reihe (1979). Die Rekonstruktion dieser beiden Texte soll im Folgenden den Zugang zum Tod und zum Zukünftigen in Baudrillards Werk aufschließen.
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»Und so ist denn der Lebenslauf des Menschen in der Regel dieser, dass er, von der Hoffnung genarrt, dem Tode in die Arme tanzt.« ARTHUR SCHOPENHAUER
In philosophischer Tradition orientiert sich Baudrillard offenbar an Schopenhauer, der sich bereits 160 Jahre zuvor in Die Welt als Wille und Vorstellung (1818) recht ähnlich mit dem Lebensende beschäftigt hat, wie in nuce schon das genannte Zitat deutlich macht. Mit vielen Parallelen und doch wesentlich radikalisierter verkürzt Baudrillard Schopenhauers zentrale Gedanken metaphorisch und verzichtet gänzlich auf den Faktor Hoffnung. Vermutlich, um den massenmedialen Phänomenen seinerzeit Rechnung zu tragen, lässt Baudrillard den Tod weniger ›streng philosophisch‹, aber dafür mitsamt vielfältiger Verflechtungen in zerteilten Räumen aus der Reihe tanzen.3 Im ersten Raum: Archaischer Tod Inmitten archaischer Gesellschaftsformen findet Baudrillard, der den Tod in der Moderne durch den Blick auf die Vergangenheit verstehen will, ein abstraktes
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Nachfolgend beziehen sich Seitenzahlen ohne Angaben sämtlich auf Baudrillard 1979.
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Ideal und erschafft dafür ein eigenes Wortkonstrukt: den symbolischen Tausch. Im ungestörten (vorzivilisatorischen) Daseinszyklus stehen sich demnach Leben und Tod an zwei gleichberechtigten Polen gegenüber und befinden sich in einem Gleichgewicht (vgl. 11ff.). Dieser Zyklus wird bestimmt durch kommunikative und kulturelle Austauschriten, durch die in der Gemeinschaft getrennte Ereignisse gemeinsam überwunden und mithilfe von Ritualen kollektiv transzendiert werden können. Der Tod im archaischen Raum ist frei und beweglich, er ist voller »Bereicherung« bzw. voller »luxuriöser Verschwendung« (77ff.), aber noch kein Simulakrum. Daraus lässt sich ein Bild vom Lebensende ableiten, das herrschaftsfrei, kommunikativ und kollektiv gerahmt ist, sich in symbolischen Riten oder Instanzen abspielt, die ohne Täuschung auskommen, und dem Tod somit einen angemessenen Platz in der Gesellschaft, aber auch im physischen und geistigen Raum gewährt. In »unteilbarer Einheit« (22) erscheint der Tod mit dem Leben verbunden, in einem Kreislauf, der eine symbolische Ordnung erschafft. In der Nahaufnahme ist, wie bereits zitiert, für Baudrillard der »Tod nicht ein entscheidender Tag des Lebens, er ist eine Nuance des Lebens und das Leben eine Nuance des Todes« (87). Tote Zustände sind »in jedem Augenblick des Lebens anwesend« und daher »keine Schwäche des Lebens« (11). Mit dem Anliegen, die Vorstellung vom »Leben ohne Tod« (12) zu verwerfen, orientiert sich Baudrillard also am Ideal einer metaphysischen Gleichwertigkeit von Leben und Tod. Zum Vorschein kommt dadurch ein exzessives Prinzip, bei dem sich natürliche Kräfte »prunkvoll und nutzlos« (77) austauschen, vergleichbar dem sexuellen Akt. Akzentuiert treten daraus schemenhaft einige wünschenswerte Zukunftsbilder hervor, die ohne Äquivalenz keine Realität des Todes zulassen, weil Leben sonst unvollständig und sinnentleert bliebe (vgl. ebd.). Weit vom Zustand der Moderne entfernt, entnimmt Baudrillard hier dem archaischen Raum eine normative Schablone mit künstlichen Bezugspunkten und projiziert gesellschaftliche ›Abweichungen‹ der Moderne darauf. Axial gespiegelt, tanzt der Tod in diesem Raum eben nicht aus der Reihe. Im zweiten Raum: Tod in der Moderne Nach allen Seiten hin grenzt sich der zweite Raum – die Moderne – gegen die Logik des ersten Raumes ab, denn durch Trennungen kommt der unendliche Daseinszyklus nicht mehr ins Gleichgewicht. Leben und Tod entfernen sich als Pole voneinander und verlieren ihre Gleichwertigkeit. Riten, die nur noch vereinzelt ausgelebt werden, und fehlende symbolische Instanzen verhindern damit jegliche kollektive Transzendenz. In der abendländischen Praxis darf der Tod nicht mehr luxuriös oder verschwenderisch sein, weil das rationale Denken alles
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domestiziert: Natur, Kultur oder schließlich sogar das Selbst werden der ›Vernunft‹ unterworfen. Das Lebensende ist selbst in philosophischer Einkleidung nur mehr »in homöopathischen Dosen« (62) thematisierbar. Die Realität des Todes in der Moderne ist verzerrt, weil ökonomische, politische oder kommunikative Verhältnisse den Tod von dem als ›normal‹ Empfundenen abweichen lassen. Dies betrifft nach Baudrillard alle Lebensbereiche, was eine unausgewogene »Thanatopraxis« begünstigt (140). Entfernt vom symbolischen Kreislauf, ist der Tod gesellschaftlich und individuell generell entwertet (vgl. 22f.) und Ängste dem unvermeidlichen, aber dennoch Kommenden gegenüber, werden mit individueller Trauerarbeit abbezahlt (28). An allen Stellen erzeugen die Loslösungen vom symbolischen Tausch ein Ungleichgewicht. Die Folge ist ein Stigma: »Es ist nicht mehr normal, tot zu sein« (10). Die Trennung von Körper, Geist und Seele, die zum »psychischen Funktionieren« (13) des objektivierten Ortes des Todes, des Körpers, führt (vgl. 61f.) ist davon ebenso betroffen wie der kulturelle Austausch über den Tod: »Man fasst sich kurz, man schweigt – eine Mißachtung des Todes. […] Anstand verbietet jede Anspielung auf den Tod. […] Vom Tod sprechen macht lachen, ein verkrampftes und obszönes Lachen. […] Sex ist legal, allein der Tod ist pornografisch.« (150)
In einem Aufeinandertreffen der ersten beiden Räume verdeutlicht sich nun die Differenz zwischen dem normativen Paradigma, das in der archaischen Gesellschaft vorliegt, und dem der Moderne, die vom Ungleichgewicht geprägt ist. In den verschiedenen Entwicklungsstufen der Moderne tanzt der Tod jetzt aus der Reihe. Angereichert mit zahlreichen Erkenntnissen aus verschiedenen Disziplinen, mit denen Baudrillard einzelne Aspekte fundiert, entsteht zwar ein gewisses Argumentationsgewicht, aber auch das – schon erwähnte – undurchsichtige Labyrinth. Aus der vielschichtigen Collage des Todes, die Baudrillard vorlegt, und die als Standortbestimmung zum aktuellen Todesverhältnis dient, werden Kernaspekte diverser neuer bzw. anderer Umgebungen herausgeschält, was auf Kosten der Vollständigkeit, aber zugunsten größerer Klarheit geht. In den Umgebungen des zweiten Raumes befindet sich der Tod »nie dort, wo man ihn erwartet« (151), denn »herkömmliche Orte des Todes oder der Trauer verschwinden« (9). In den Blick nimmt Baudrillard zunächst die natürlich-biologische bzw. die künstlich-technische Umgebung, denn in diesem Zwiespalt sind alle natürlichen Orte, also Friedhöfe, Gräber oder auch der biologische Körper, an den Rand gedrängt und erhalten zu wenig Platz, zu wenig Zeit und geringschätzende Aufmerksamkeit. Selbst auf Ewigkeit angelegte Grabstätten oder tagelange feierliche Totenandachten verkleinern sich, ganzheitlich betrachtet, auf
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ein bedenkliches Minimalmaß. Fragwürdig sind für den natürlichen Tod künstliche Umgebungen wie Krankenhäuser oder Altenheime, denn dort wird nicht nur die Abwendung von der Natur des Menschen überdeutlich, sondern auch der entwertete Tod. Genau genommen, vollzieht sich die Entwertung am biologischen Ort des Todes, am Körper (vgl. 105), wo ursprünglich die Natur »unpersönliche Zerstörung« (ebd.) vornehmen durfte. In der Moderne kommt es dagegen zur »Medizin der Leichname« (57), bei welcher der Körper therapeutisch-technologisch umschlossen bleibt und somit am technisch-ökonomisierten Ort verharrt. Der Körper wird zum biologischen Simulakrum, sofern er begrifflich von Geist und Seele getrennt ist und wird zudem im alltäglichen Sprachgebrauch mit funktionstüchtigen Maschinen verwechselt, weil er schließlich effektiv und effizient geheilt werden soll. »Der tote Körper kann mit dieser Ausklammerung und dieser Heilung nichts anfangen. [...] es gibt weder genügend technische Manipulationen, noch genug humane Umgebung oder selbst eine Möglichkeit zum realen Tod, um ihn schweigend zu machen.« (149)
Schon am materialisierten Körperbild zeigen sich in dieser Umgebung – auch außerhalb der Sprach- bzw. Begriffsebene – weitere Entwertungen.4 Die lineare Zeitvorstellung im westlichen Kulturkreis beispielsweise ist es, die überhaupt erst biologische Vergänglichkeit erzeugt. So ist der »Tod verloren, weil er dazu bestimmt ist, mit dem Körper zu verschwinden« (24). All dies hängt stark mit ökonomisierten Orten zusammen, die zu einer Exterritorialität des Todes, mithin also und zu einem »Erkalten des Todes« an ›verkümmerten‹ Orten und mit verkürzten Trauerzeiten (vgl. 145ff.) führt. In Kombination mit der wissenschaftlich-technischen Umgebung wird der gesamtgesellschaftlich schwindende Wertekanon des Todes besonders deutlich. Aus Baudrillards Perspektive erscheint ein Medizinverständnis, das mit lebensverlängernden Maßnahmen das Lebensende zum Feindbild ausruft und es so lange wie möglich wegschiebt oder zukünftig womöglich sogar abschaffen will, »unakzeptabel« (93). Nach der Logik
4
Der Skandal in der Moderne liegt in einer medizinisch-technischer Umgebung, die ihre ›Katastrophen‹ erst erschafft – was just dann deutlich wird, wenn die Technik versagt. Tod ist jedoch kein technischer Vorgang, sondern ein Ereignis »unbändiger Natur« (Baudrillard 1979: 75). Sterben ist banal, profan und irreversibel. Die Anomalie des Todes entsteht durch die Gesellschaftsauffassung, das alles zu normalisieren und somit der ›natürliche Tod‹ in der Moderne fremd, domestiziert, verdrängt und nicht akzeptabel sei. Was sich abspielt, ist eine »systematische Leugnung des Todes mit wissenschaftlichen Befugnissen« (ebd.).
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des symbolischen Tausches können auch Technik und Medizin nicht von ambivalenten Gefühlen befreien (vgl. 57). Daher sind die zeitlichen und örtlichen Schieflagen, die das in Frage stehende ›Wertgesetz‹5 abschaffen und zur Objektivierung des Körpers beitragen wollen, besonders bedenklich. Körperbetonte Heilungskonzepte verstärken diesen Verlust noch, was sich bis in die Gedenkkultur fortsetzt, die bereits sprachlich die Toten diskriminiere (vgl. Baudrillard 1976: 28). Im Sinne seines symbolischen Modells kritisiert Baudrillard die menschliche Fantasie, »so lange wie möglich zu leben« (12f.). Parallel zur wissenschaftlich-technischen Umgebung steht dem weggedrängten natürlichen Tod eine überhöhte Präsenz in der medialen Umgebung gegenüber. Im Medialen erhält Tod einen omnipräsenten Raum, der ästhetisch inszeniert und abstrakt skandalisiert wird, etwa wenn auf Bildschirmen Tote hyperstilisiert in (semi-)fiktionalen Formaten erscheinen (vgl. 95). Unfälle, Morde, Krankengeschichten und Trauerzeremonien einzelner Menschen prägen das öffentlich gestaltete Bild vom Tod und sickern dabei in die kollektive Wahrnehmung. Stark vom ursprünglichen Naturverständnis abweichend, fehlen in der Moderne direkte Berührungspunkte und Erfahrungen mit dem unbeeinträchtigten Sterben. Es wird lediglich eine mediale Realität erzeugt, die ökonomisiert und damit stark beschleunigt ein möglichst ›rationales‹ Bild vom Tod vermittelt. Zuschauer geraten in passive Haltungen, wodurch sie gegenüber dem Daseinsende wenig Halt gewinnen und der Zugang zum eigentlichen kollektiven Wissen versperrt bleibt. Die Struktur des Mediensystems ist verzweigt und ein Hindernis für den symbolischen Tausch, weil einem Massenpublikum nur vereinzelte Medienmacher gegenüber stehen, weil eine technisch-mediale Zwischenschaltung erfolgt und weil ökonomische Prozesse auf die Format- und Zeichenkultur Einfluss nehmen. Das verzerrte Todesbild im vergesellschafteten System der Gewinnmaximierung inmitten medialer Umgebungen entfernt sich weit von den Qualitäten des symbolischen Tausches. Die psychische Umgebung wiederum bringt den Tod anderweitig zum Schweigen. Im Unbewussten offenbart sich, so Baudrillard, die »kontinuierliche Angst« (28f.) vor der eigenen Endlichkeit.6 Das Unbewusste ist als eine Art
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Seitenblick zu Karl Marx: Baudrillard bezieht den symbolischen Tausch auf das ökonomische Wertgesetz, um damit den Einsatz von Lebenskapital für kapitalistische Zwecke zu beschreiben, etwa als Motor, um Werte zu erzeugen und zu akkumulieren.
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Seitenblick zu Sigmund Freud: Das Unbewusste (der Mythos) verzerre in der Psychoanalyse das Todesbild und den symbolischen Prozess (d.h. den rituellen, kommunikativen und ökonomischen Tausch). Freud habe bereits erkannt, dass die Trieblehre letztlich eine moderne Mythologie ist und Triebe wie unbestimmte mythische Wesen
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›Mythos‹ ohne Anspruch auf eine übersubjektive Wahrheit ein nicht offen zu legendes Geheimnis und ist aufgrund dieser unbestimmten Nähe zum Symbolischen Baudrillard durchaus sympathisch. Der moderne Mensch jedoch endet beim »Streben nach jenem Zustand [...] ohne Mangel« (28), der ein subjektives Gleichgewicht mit sich bringt, letztlich als »erschöpftes Selbst« (Ehrenberg 2004). Die gefährliche Nähe zum Symbolischen gibt Baudrillard in diesem Zusammenhang Anlass zur eindringlichen Warnung vor einer psychologisierten Kultur, weil sie Seele und Bewusstsein vermischt und diese Vermischung die urtümliche Einheit von Körper, Geist und Seele stört (vgl. 45). Deshalb erklärt er die psychische Umgebung für »sinnlos und nicht hilfreich« (41), ja sogar für »irreführend und gefährlich« (45). Offensiv verteidigt er aber zugleich das Symbolische, das Seelische und den Körper (vgl. ebd.), denn der sterbliche Körper und die unsterbliche Seele gehören gleichermaßen nach Baudrillard zum menschlichen Dasein. Die Verselbständigung psychischer Sphären führt, genau wie das allgegenwärtige Medienspektakel, zum Vergessen von Gedenkkulturen und zur Bedürfnisbefriedigung mit ökonomischen Mitteln. Gerade die ökonomischen Umgebungen sind mit allen anderen Umgebungen kompliziert verästelt und somit zentral für den Raum der Moderne (vgl. 21). Verknüpft mit Technologien, Zeitkonzepten, kulturellen Praktiken, aber auch mit dem politischen und medizinischen Bereich, kommt der gesamte zweite Raum eben nicht ohne ökonomische Operationen aus. Dank der hier skizzierten, gravierenden Trennung vom symbolischen Tausch, die das wesentliche Merkmal im Vergleich zum ersten Raum markiert, kommt es unweigerlich zu objektivierten Körperbildern bzw. zu Strategien der Verwaltung des toten Körpers (vgl. 51f.; siehe auch Benkel 2012). Die Moderne entwickelt sich mit ihrer Vielzahl ineinander verschlungener Macht- und Herrschaftsverhältnisse vermehrt zu einer individualisierten Gesellschaft, die Mangelerscheinungen erzeugt, welche mit Produkten und mit Werbeglanz beseitigt oder kompensiert werden. Der symbolische Warentausch wird gewissermaßen zum semiotischen Warentausch mit ›toten Werten‹. Der Wert des Todes wird sozusagen wie ein ökonomischer Nutzen im Umfeld des Massenkonsums definiert. Damit verbunden ist die Vorstellung, dass Menschen vom Leben zum Tod gehen, sodass am Ende des Lebens nur ein Leben im Gedenken bleibt – als eine Art Wert. In diversen Religionen spiegelt sich diese Vorstellung im Konzept der Verheißung, wonach in einem anderen Leben alles ausgeglichen wird, was die Menschen an die »Notwendigkeit von Opfern [...] im hiesigen Leben« bindet (ebd.). Im »Feld der Produktion« (ebd.) wandelt
agieren, so Baudrillard (1979: 68). Freuds Ödipuskomplex mache individualisierte Todesangst oder individuelle Schuld überhaupt erst begreifbar (vgl. ebd.: 28f.).
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sich archaischer Gabentausch zum Warentausch und wird zum ökonomischen Antrieb transformiert, der z.B. auch Kirchen betrifft (vgl. 15f.). Im zweiten Raum ist »jeder seines Todes enteignet, weil es nicht möglich [ist], so zu sterben, wie er es möchte«, weil »Technik für den Tod jedes Individuums verantwortlich wird« (97). Diese Situation zwingt dazu, solange zu leben, wie es nur möglich ist; Baudrillard versteht dies als ein Freiheitsdilemma (vgl. ebd.). Menschen im dritten Lebensalter wiederum erfahren einen »gesellschaftlich vorweggenommenen Tod« (98) in Altenheimen. In diesem »Terrain des Todes« bleiben sie ohne »symbolisches Zentrum« und ohne »angemessenen Status«: Hier existiert ein anderswo weggedrängtes Vorfeld des Todes, das den Reichtum an weiteren Lebensjahren, technologisch ausgeweitet, ohne gesellschaftlichen Wert sein lässt (98ff.). In dieser letzten Lebensphase werden Menschen gesellschaftlich diskriminiert, was persönlich verletzend und allemal ethisch bedenklich ist. Eine Gesellschaft, die mitten im Leben Menschen zu kolonialisierten Greisen ökonomisiert und sie damit zur sinnlosen Last deklariert, ist aus Sicht der Betroffenen verständlicherweise ein Alptraum. Dieser Umgang mit dem Tod enthüllt für Baudrillard eine versteckte »Wahrheit«, aber auch eine »absolute Lächerlichkeit« (75). Er erklärt, dass der Wunsch irrsinnig ist, wonach »es nur Leben gibt, denn [dies] bewirkt, dass es ausschließlich Tod gibt« (76). Im dritten Raum: Fraktaler Tod Von einem dritten Raum kann im herkömmlichen Sinne nicht mehr gesprochen werden, denn im Prisma des Fraktalen7 (vgl. Baudrillard 1986a) erscheint der Tod in mehreren verkleinerten Kopien seiner selbst: Verzerrt, zersplittert und orientierungslos, gespiegelt im mehrdimensionalen Raum, der ein Illusionsraum ist – beinahe eine Heterotopie. In diesen fraktalen Raumsplittern wird das menschliche Bewusstsein »in totaler Programmierung« und mit einem »Überfluss an Vorhersehbarkeit« (156) in die Irre geführt. Der Tod gerät in diesen virtuellen Arealen völlig außer Rand und Band, bis er sich darin auflöst. Umherirrend zwischen realer Gegenwart und vorausschauender Zukunftsfiktion driften der Tod und der symbolische Tausch auseinander. So findet sich, wie oben bereits angesprochen, die heutige Leserschaft Baudrillards an Bildschirmen im »geschrumpften Raum mit rasend stillstehender Zeit« wieder (Baudrillard 1986a: 5; vgl. 1979: 100f.). In den fraktalen Räumen ist symbolischer Tausch weiter denn je vom Tod entfernt. Obwohl dies
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Der Begriff des Fraktalen (lat. für gebrochen, zerbrochen), wurde von Benoît Mandelbrot geprägt und beschreibt künstlich gespiegelte Gebilde oder geometrische Muster.
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für Baudrillard zunächst ein fiktionaler Zukunftsraum war, beschreibt seine Vorstellungswelt nunmehr eine evident gewordene Gegenwart, die am Bildschirm reale Vorstellungen vom Tod in eine »Allegorie des Todes« (Baudrillard 1982: 113) verwandelt. Jede technologische Neuentwicklung verstärkt diesen allegorischen Charakter. Das Stigma des Todes verfestigt sich am unnatürlichen Bild mit zunehmend unmenschlicher werdenden Zügen auf immer neue Art. Es wird »mit den Farben des Lebens verfälscht und idealisiert« (Baudrillard 1983: 18). Der Graben zum ersten Raum vertieft sich damit zusehends, besonders wenn bereits stilisierte Bilder des Todes bzw. das Bild vom Sterben im Internet auf Plattformen wie Instagram und Twitter oder auch im Darknet sichtbar werden. Aktuell verbreiten sich diese Bilder in hoher Geschwindigkeit; sie können weltweit in Echtzeit abgerufen werden von einer Masse, die im virtuellen Raum selbst nicht erfassbar erscheint. Auf diesem Weg sieht Baudrillard eine Abschaffung der Realität des Todes wirken, weil immer mehr reale Bezugspunkte verloren gehen. Am Körper, der seelen- und geistlos inmitten einer künstlichen, virtuellen Organisation von Maschinen umgeben ist, die Menschenleben mithilfe ihrer medialen Mechanismen ebenso virtuell verlängern oder es binär entweder für »tot oder lebendig« (vgl. 82) erklären, sieht Baudrillard ein Schreckensszenario walten. In »vernetzten Schnittstellen« (154) kann sich das Spannungsverhältnis zwischen Leben und Tod nicht ausgleichen. Es gibt »lebendiges Wissen in Glassärgen« (ebd.) und das »ganze sterilisierte Gedächtnis der Welt [wird zur] Quintessenz der Welt« (ebd.). Die »wirklichen Nekropolen sind nicht mehr Friedhöfe, Hospitäler, Kriege oder Blutbäder« (41), denn sie sind längst an virtuelle Orte verdrängt worden. In diesem Raum verschwimmen Realität und Wirklichkeit zusehends zur Fiktion. Umgekehrt wird aus der Fiktion nun aber wieder ein Teil der Realität, denn es kündigt sich ein zukünftiger Raum an, der mit digitaler Automatisierung einen ultramodernen Tod zu erschaffen verspricht. Angesichts virtueller Friedhöfe, einer Grabkultur im 3D-Druck, Smart Identities oder implantierten Chips bzw. Wearables, die Körperfunktionen überwachen, erweisen sich Baudrillards Prognosen aus dem Jahre 1979 heute als hoch aktuell. Spätestens durch augmented reality oder Hologramme zeichnet sich ab, dass die bisherigen Schemata stets neu definiert werden müssen, weil Realität und Illusion nun vielschichtiger verschmelzen (vgl. 151ff.). Das gilt besonders für die Internetpräsenz des Todes, die eine rein zweckmäßige Erfassung zur ökonomischen »Wunscherfüllung« (156) zulässt und den Tod in virtuelle Archive außerhalb der direkten menschlichen Reichweite verschwinden lässt. Fernab von technikpessimistischen Haltungen ist hier problematisch, dass sich der Tod in zu vielen Räumen zunehmend
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vom Realen entfernt, wodurch zeitliche und räumliche Bezugspunkte verloren gehen.
U TOPIE
UND
D YSTOPIE »Es lohnt sich nicht, zu träumen oder irgendeine Utopie der Umwälzung zu nähren, […] alles hat schon seinen Ort verloren.« BAUDRILLARD 1985: 103
Räume im Netzwerk der Begriffe Baudrillard, der sich abwechselnd zwischen Utopie und Dystopie bewegt, montiert aus seinem Werk eine normative, aber auch explorative Zukunftsdimension. Er geht dabei mehrheitlich von künstlichen Ausgangspunkten aus, um fern der Empirie polare Modelle zu konstruieren. Damit verdeutlicht er nachdrücklich die Entfremdung der Gesellschaft gegenüber dem Tod. Baudrillard demonstriert, wie sich im symbolischen Tausch Leben und Tod gleichwertig gegenüberstehen und sich zyklisch austauschen (57f.). Er erzeugt damit (aus heutiger Sicht) eine Utopie, die sich am Äquivalenzprinzip bzw. an der archaischen Gesellschaft orientiert. Baudrillard sieht im funktionierenden symbolischen Tausch ein utopisches Ordnungssystem, bei dem sich Leben und Tod verbinden und wieder trennen. Im menschlichen Zusammensein gelingt die zyklische Trennung und Verbindung der Teile durch kulturelle Riten wie Initiation und aufgrund von Kommunikationsakten. Im symbolischen Tausch äußert sich nicht nur ein ritueller Gabentausch, sondern es offenbart sich daneben ein kulturelles Verständnis von Kommunikation mit unzähligen Interpretationsvarianten. Die stets unterschiedlichen Blickwinkel, die zumeist in Verbindung mit konkreten Kommunikationen stehen, bringen keine unumstößliche, gar letztgültige Interpretation hervor. Im Gesamtkontext zeigt Baudrillard mit dem konstruierten Denkmodell in eine andere Richtung: ins Utopische. Baudrillard diagnostiziert für die Moderne dystopische Abweichungen, die im Unterschied zur archaischen Gesellschaft im Dienste ökonomischer Zeichen stehen und die Realität des Todes, wie bereits angedeutet, verzerren. Beispielsweise ist diese Gleichwertigkeit gestört, wenn Leben mehr wert ist als der Tod oder wenn der symbolische Tausch im kommunikativen Verständnis durch Macht- und Herrschaftsverhältnisse aufgetrennt wird. Baudrillard räumt zwar ein, dass gravierende ›Trennungen‹ längst schon Einfluss nehmen, z.B. durch
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existenzielle Rahmenbedingungen wie Raum, Zeit und Materie, doch der wesentliche Unterschied besteht darin, dass im Zeitalter der Moderne all dies rituell völlig unverbunden bleibt und sich somit der »Effekt des Realen«8 (21) einstellt. »Alle Ereignisse, alle Räume, alles Erinnern« (Baudrillard 1987: 20) ist davon vereinnahmt und wird in den – vorherrschenden – unübersichtlichen Lebensbereichen und angesichts des gesteigerten Lebenstempos sichtbar. Durch die analytische Betrachtung dieser Facetten ergibt sich eine vielschichtige Collage vom Tod (in) der Moderne, bei der es letztlich strittig bleibt, ob es sich um die Realität oder nur mehr um das Abbild vom Tod handelt. Utopisches und Dystopisches im Spannungsfeld »Der virtuelle Mensch, bewegungslos vor seinem Computer, macht Liebe per Bildschirm […]. Er wird ein Bewegungsbehinderter, und zweifellos auch ein geistig Behinderter.« BAUDRILLARD 1989: 127
Der symbolische Tausch und der Tod, der gegenwärtig (wenigstens in Baudrillards Gegenwart) stark vom Ideal abweicht (zumindest von Baudrillards Ideal), werden, wie gesagt, von ökonomischen Strukturen beherrscht. Die (unsicher werdende) Realität des Todes ist gekennzeichnet von sozialer Isolation und hyperrealer Verdrängung, die sich beispielhaft am »Toten von Barmbek« (Koelbl 1998) verdeutlichen lässt. Hier lag ein Mensch, vom Umfeld unbemerkt, fünf Jahre lang leblos in seiner Wohnung vor einem eingeschalteten Fernsehgerät. Solche Geschehnisse sind empirische Bekräftigung von Baudrillards Gedankensplittern. Mediale Bilder, die keine Erfahrung vermitteln, aber omnipräsent die gegenwärtige Realität bestimmen, werden ferner darin greifbar, dass mancher 15-jährige Jugendliche im Durchschnitt bereits tausende Menschen auf Bildschirmen hat sterben sehen. Ist das überhaupt noch ein Tod, der irgendwie als ›real‹ bezeichnet werden kann – ganz gleich, ob es um Fiktion oder Journalismus geht? In allen Umgebungen der Moderne ist der Tod entfremdet, sei es, dass er desozialisiert oder vorweggenommen oder doch als hyperschnelle Angelegenheit
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Der Effekt des Realen beruht auf »Trennung zweier Teile […] mit normativen Implikationen […] auf allen Ebenen« (Baudrillard 1979: 21). Gemeint ist etwa die Trennung von Leben und Tod bzw. von Körper, Geist und Seele, was zur jeweiligen (Einzel-)Realität des Körpers, Geistes oder der Seele führt.
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gerade noch zu erkennen ist. In der Realität erhält er zu wenig Aufmerksamkeit, als Simulation auf dem Bildschirm dagegen zu viel. Begründet im Zeitmangel, der aufgrund von ökonomischen Zwängen den symbolischen Tausch wegdrängt, fehlen ›offline‹ und medienfern mittlerweile adäquate Orte und Gedenkrituale. Ausgehend vom irritierten Gleichgewichtsgedanken breitet sich Leben zu Lasten des Todes aus (vgl. 68ff.), was eine Schieflage erzeugt. Die Betrachter medialer Offerten erscheinen so als Gefangene im »Massengrab der Zeichen« (Baudrillard 1976: 153ff.) und erzeugen eine Erinnerung an Platons Höhlengleichnis. Die moderne Gesellschaft gerät in »Sackgassen« (128) und entfernt sich von der Wirklichkeit des Todes, eben weil die Abbilder vom Tod so nüchtern und wirklichkeitsfern rationalisiert sind (vgl. 68). Betrachtet man das gegenwärtige Todesbild in der westlichen Welt, scheint sich bei aller Pluralität Baudrillards Kernüberlegung doch zu bestätigen. Öffentlich zur Schau gestellt, offenbart sich der Tod zunehmend als Inszenierung, die hyperschnell vervielfältigt und medial verbreitet werden kann. Das dabei entstehende ›Spiegelbild vom Tod‹ kann anhand zweier exemplarischer Fälle verdeutlicht werden. In der ex-post-Betrachtung stellt sich Tod im Jahre 2013 beispielsweise als Teil einer bildhaft inszenierten Marketingkampagne heraus, bei der das Schicksal eines Extremsportler durch die Getränkefirma ›Red Bull‹ posthum zum Heldenmythos stilisiert wurde (vgl. Schobelt 2013; Mozart 2013). Ein anderes Mal, im Jahre 2000, wird ein Totkranker im realen Moment des Sterbens dokumentarisch abgelichtet; doch was im ersten Moment unverfälscht daher kommt, wirkt auf den zweiten Blick künstlerisch und entpuppt sich im dritten Schritt als Markenkampagne von Benetton. Stilistisch ist das Bild vom Tod zugleich ökonomisch und politisch inszeniert und erscheint auf vervielfältigten Plakaten mitten auf der Straße unter dem Titel Dem Tod ins Gesicht schauen (vgl. o.V. 2001). Diese Art öffentliche Stellungnahme zum Tod ist im Sinne Baudrillards für zukünftige Generationen keinesfalls wünschenswert. Der Ausweg ist die Utopie. »Kräfte innerhalb des Lebens« sollen im besten Fall für »Ausgleich« sorgen und daran erinnern, dass »das Leblose früher da ist als das Lebende« und folglich einen »zeitlichen Vorrang« (68) hat. Die Utopie ist zugleich eine Dystopie, denn Baudrillard warnt zugleich eindringlich vor weiteren Entwicklungen der beschriebenen Art. Für die Zukunft des Todes wünscht er sich durchaus eine normative Schablone mitsamt eines Wertekanons, der universelle Gesetze berücksichtigt:
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»Das Symbolische macht Schluss mit dem Code der Trennung und den getrennten Teilen. Es ist die Utopie, die Schluss macht mit der Topik Seele und Körper, Mensch und Natur, Realem und Nicht – Realem, Geburt und Tod.« (22)
Wenngleich Baudrillard alle Trennungen abschaffen will, führt auch bei ihm der Tod seine Tänze in »zerteilten« Räumen auf (13). Undenkbar erscheint ihm ein funktionierender Tauschzyklus, der ganz ohne Symbolisches auskommen soll, denn Symbole verbinden erst die Welt der Lebenden, der Ahnen oder der Götter miteinander (vgl. 37). In der Utopie des Symbolischen existiert jedenfalls keine Ökonomie, sodass der symbolische Tod Altes ohne Verflechtung und Vernetzung zerstören kann, um Neuem Platz zu machen. Eingereiht in eine eher linke Denktradition, zeigt sich in der Utopie bzw. Dystopie Baudrillards also durchaus eine subversive Botschaft, bei der Symbolisches »ohne ökonomische Operation« auskommen möge (57). Baudrillard imaginiert mit dem Tod der Moderne also den Anfang einer dezidiert postmodernen, gewissermaßen antikapitalistischen Utopie. In der Querverbindung zu Baudrillards Texten bestätigt sich, dass er eine Vision vom »Ende der Produktion« (22f.) verfolgt. In vorhergehenden Ausführungen wie Pour une Critique de l’Economie politique de Signe (1972) und Le Miroir de la Production ou l'Illusion critique du Matérialisme historique (1973) offenbart sich auf dem ersten Blick tatsächlich ein kritischer Impetus aus marxistischer Perspektive, der am Massenkonsum, am Produktionssystem (1972: 123ff.) und am Kapital- und Arbeitsbegriff (1976: 69ff.) ansetzt. Ablehnend gegenüber allen rationalistischen Prinzipien (vgl. Baudrillard 1976: 55ff.) lautet die Botschaft also, den symbolischen Tausch und den Tod in »radikaler Unbestimmtheit« zu begreifen (vgl. ebd.: 26f.). Allerdings verpasst Baudrillard in seinem Kampf gegen moderne Verflechtungen die Chance, realisierbare Möglichkeiten für eine bessere Zukunft des Todes näher auszuloten. Vielmehr klammert er sich an seine düsteren Warnungen und erstarrt am Ende in einer Kritik an allen »Neuschöpfungen der Wirklichkeit« (156). Trotz aller pessimistischen Grundtöne: Er deutet ein bereicherndes Bildnis des Todes inklusiver aller natürlichen, biologischen, ästhetischen, inszeniertöffentlichen und auch privaten Aspekte an. Eines, das allgegenwärtig und kulturell vielfältig gefärbt ist, aber auch intim, obszön und tabuisiert sein darf. Je nach Beobachter und Denkhaltung ist es in hellen oder dunklen Farben gehalten. Es kann ein Geheimnis oder sogar etwas Verbotenes sein. In jedem Fall ist es ein Bild, das von Spannungen befreit. Sein Rahmen bzw. sein Entfaltungsraum darf dementsprechend natürlich, künstlich, schlicht oder opulent sein. Dieses Bild des Todes kommuniziert mit dem Betrachter bisweilen sowohl virtuell als auch ritu-
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ell und erzählt ihm etwas vom vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Tod. Als ein solches Bild muss Baudrillards Vorstellung wohl entschlüsselt werden. Tanzt der Tod in Zukunft anders aus der Reihe? »Das Simulationsprinzip überwindet das Realitätsprinzip.« BAUDRILLARD 1976: 119
Mit den ständig innovierten technologischen Aspekten im Medien- und Kommunikationsbereich stellt sich die Frage, wie in der Realität künftig der Umgang mit dem Tod angesichts virtueller Simulationskontexte und »Erfassungsmaschinen« (Parisi/Hörl 2012: passim) verlaufen wird. Angenommen, dass ein symbolischer Tausch im Sinne Baudrillards realiter künftig weiter verhindert wird und damit kein Gleichgewicht in Reichweite kommt, kann sein Collagenverständnis vom Tod doch einiges zur Gestaltung des Zukünftigen beitragen. Einzelne Orientierungspunkte in seinem Werk offenbaren Ansatzpunkte für praktikable Teillösungen, die möglicherweise die an sich undeutliche Zukunft des Todes deutlicher werden lässt. Baudrillards Prognosen, die zum Teil inzwischen fast 40 Jahre alt sind, fallen damit auch im Jahre 2016 noch auf fruchtbaren Boden. Im Zeitalter digitaler (R-)Evolutionen, die als Epocheneinschnitt gelten dürften (vgl. Benkel/Meitzler 2014: 43), stellt sich die Frage, ob der Tod jetzt in der »globalen Veröffentlichungsmaschine« (ebd.) anders aus der Reihe tanzt. Wenn »visuelle Daten mittlerweile den Aktionsradius der privaten Lebenswelt in kürzester Zeit […] enträumlicht [verlassen] und im selben Augenblick potenziell von jedem Ort abrufbar« werden und wenn mediale Bilder »immer dichter und aufdringlicher neben die vom Menschen unmittelbar – mit eigenen Augen – gemachten Erfahrungen [rücken]« (Raab 2008: 7, zit. nach ebd.), wird die Thematisierung des Lebensendes davon künftig wohl nicht ausgenommen sein. Zum Thema Tod in digitalisierten Umgebungen werden Antworten auf solche Fragen gesucht wie: Wie stellt sich Tod mit wearable computing dar und wie wirkt sich Automatisierung, digitale Haptik, Archivierung und erschwerte Auffindbarkeit auf den Umgang mit dem Tod aus? Welche ökonomische Bedeutung haben die Daten(-vernetzungen) von Lebenden und Toten? Und generell: Was ereignet sich in der Realität und was findet im Internet statt? Ist digitaler Raum ein zeitgemäßes kollektives Idealbild? Steht informationelle Selbstbestimmung dem im Weg?
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Baudrillard sieht bereits im massenmedialen, d.h. im vor-vernetzten Zeitalter einen zerfallenden Tod, der aus »tausenden Fragmenten ohne Horizont« besteht (vgl. 12) und spricht von einer selbstreferentiellen Bilderflut, die kein Ganzes mehr ergibt. Obwohl sich der virtuelle Raum bisher weitaus herrschaftsfreier und kollektiver darstellt als im früheren massenmedialen Medien, und auch wenn selbst früher unerreichbar erscheinende Machtträger wie der Papst oder die Bundeskanzlerin sich an virtuellen Ort mitvernetzen und in Echtzeit kommunizieren wollen, sieht Baudrillard, der diese Entwicklungen prognostiziert, aber nur zum Teil miterlebt hat, die künftige Gesellschaft auf einen radikalen Schlusspunkt zulaufen. Dies deshalb, weil sich der Tod von seinem anvisierten (und fraglos normativen) Idealbild so weit entfernt hat, dass er sich selbst im Nichts auflöst – und mit ihm das menschliche Dasein (vgl. 156). Zwar kann der gemeinschaftlich vernetzte Raum ein neuer Ort des Todes sein, der viele Möglichkeiten bereithält – diesen Raum als normativen Raum zu betrachten, dürfte jedoch Schwierigkeiten mit sich bringen. Beispielsweise können Totenandachten in Echtzeit abgehalten werden, ohne an physische Orte gebunden zu sein, doch aktuelle Debatten zu Big Data und zu Digital Humanities (vgl. Berry 2014; Fabretti 2014) deuten bereits an, wie der virtuelle Austausch in Echtzeit und mit unbekannter Detailgenauigkeit zur technisch-ökonomisierten Operation werden kann, die jenseits der Kontrolle der unmittelbar Beteiligten abläuft. Internet ist weder von ökonomischen Zwängen noch von performativer Inszenierung befreit und den meisten Menschen bleibt verborgen, was mit ihren Kommunikationsdaten hinter einer benutzerfreundlichen Oberfläche geschieht. In dieser Debatte treiben uralte Fragen in neuem Gewand an die Oberfläche, die fernab vom Kultur- oder Technikpessimismus weitestgehend noch unbeantwortet sind, sich aber auch, und womöglich gravierend, auf den künftigen Tod auswirken können. Wie letztendlich eine »Rückgabe des Lebens an den Tod« (22) erfolgen und mehr Gleichgewicht herstellen könnte, und wie die Verbindung aller rationalökonomisch getrennten Teile konkret gelingen soll, das lässt Baudrillard – man möchte beinahe sagen: selbstverständlich – offen. Hier kann zumindest die metaphysische Einsicht, dass der Tod vor dem Tod beginnt und Leben nach dem Leben fortwährt, zur symbolischen Gestaltung beitragen. Hilfreich mag auch die Erkenntnis sein, dass es nicht möglich ist, den Tod wirklich wegzudrängen, weil er sich dann lediglich in andere Umgebungen verschiebt. Die »bloße Voraussicht des unvermeidlichen Endes« (65) reicht jedenfalls nicht (mehr) aus. Baudrillard, der selbst in genau jene Sackgasse geraten ist, die er dem Tod prognostiziert hat, droht aufgrund von Resonanzarmut der Verlust utopischen Gehaltes. Auf die künftige Thanatokultur kann er nur dann sinnstiftend einwirken, wenn seine Angebote aufgegriffen werden. Sie mögen kreativ und schwer
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greifbar wirken, zu bedenken ist jedoch: Dem Geheimnis des Todes ist schwer auf die Spur zu kommen, wenn menschliche Phantasie oder Vertrauen ins Kommende außer Acht gelassen werden. Verloren ist die Zukunft des Todes deshalb noch lange nicht.
H OFFNUNG
AUF EINE TANZENDE
Z UKUNFT
»Bin ich nun Mensch oder Maschine?« BAUDRILLARD 1989: 125
Thanatologie kann Suchende darin unterstützen, eine humanistische Zukunft des Todes zu gestalten (vgl. Brandes 2011). Dazu sollten vermehrt Auseinandersetzungen zu Werten in der Gedenk- und Bestattungskultur oder – in diesem Lichte – zu neu verhandelten Freiheits- und Sinnfragen initiiert werden, die sich etwa an die Debatten zur Sterbehilfe anschließen. Zudem können institutionelle Umgebungen mehr Wert auf Riten und Sprechweisen legen und Zeiten bzw. Räume so gestalten, dass feierliche Orte entstehen, gerade auch in virtuellen Umgebungen. Hier ist gegenwärtig einiges in Bewegung und sicherlich darf dabei der kritische Blick auf ökonomische Zwänge nicht fehlen, die diese Entwicklungen blockieren oder in eine tendenziöse Richtung drängen. In einer Gesellschaft, in der Tod aus dem Blickfeld gerät, während zunehmend mediale oder digitale Bilderfluten das Todesbild verzerren, reichen letztlich auch Baudrillards Utopien und Dystopien oder auch andere vergleichbare Modelle nicht aus, einen sinnvollen Zukunftsdialog einzuleiten. Prognosen der Thanatologie, die damit rechnen, dass »Tod eines der am lautesten verhandelten Tabus sein [wird]« (Knoblauch/Zingerle 2005: 14), benötigen gewissermaßen experimentelle Möglichkeiten zur Gestaltbarkeit des Lebensendes. Der Tod wird ambivalent bleiben, wie alle anderen menschlichen Daseinsfacetten. Diese ›Gleichstellung‹ wäre, würde sie realisiert, vielleicht schon ein Gewinn. Mit ausreichend Phantasie und Kreativität aufgeladen, kann das Nachdenken über die Zukunft des Todes überaus sinnstiftend wirken, insbesondere dann, wenn ein zukünftiges Todes-Image existenzielle Bedingungen wie Zeit, Raum und Materie einbezieht (vgl. Bloch 1985: 469). Dann tanzt der Tod in Zukunft wieder in ganz andere, neue, belebende Richtungen. Und vielleicht hilft dabei auch ein wenig (buchstäbliche) Science-Fiction.
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L ITERATUR Baier, Lothar (1986): Der Schwindel der Simulation. Versuch, dem Allerneusten und Jean Baudrillard auf der Spur zu bleiben. In: Merkur, Nr. 451, S. 807824. Baudrillard, Jean (1972): Pour une Critique de l’Economie politique de Signe, Paris. — (1973): Le Miroir de la Production ou l'Illusion critique du Matérialisme historique, Paris. — (1975): The Mirror of Production, Saint Louis. — (1976): Der symbolische Tausch und der Tod, München. — (1978): Agonie des Realen, Berlin. — (1979): Der Tod tanzt aus der Reihe, Berlin. — (1983): Oublier Foucault, München. — (1986a): Subjekt Objekt: fraktal, Bern. — (1986b): Die Göttliche Linke, München — (1988): Videowelt und fraktales Subjekt, Berlin — (1989): Philosophien der neuen Technologie. Berlin. — (1990a): Transparenz des Bösen, Berlin. — (1990b): Das Jahr 2000 findet nicht statt, Berlin. — (1991): Das System der Dinge, Frankfurt am Main/New York. — (1993): Virtual Reality, Berlin. — (1994): Das Andere selbst, Wien. — (1988): Videowelt und fraktales Subjekt, Berlin — (2002): Passwörter, Berlin — (2004): Amerika, Berlin. — (2010a): Kool Killer oder der Aufstand der Zeichen, Berlin. — (2010b): Warum ist nicht schon alles verschwunden?, Berlin. Benkel, Thorsten (2008): Soziale Welt und Fiktionalität. Chiffren eines Spannungsverhältnisses, Hamburg. — (2012): Die Verwaltung des Todes. Annäherungen an eine Soziologie des Friedhofs, Berlin. Benkel, Thorsten/Meitzler, Matthias (2014): Sterbende Blicke, lebende Bilder. Die Fotografie als Erinnerungsmedium im Todeskontext. In: Medien & Altern. Zeitschrift für Forschung und Praxis 3, Heft 5, S. 41-56. Berry, David M. (2014): Die Computerwende. Gedanken zu den Digital Humanities. In: Ramón Reichert (Hg.), Big Data. Analysen zum digitalen Wandel von Wissen, Macht und Ökonomie, Bielefeld, S. 47-62. Blask, Falko (2013): Baudrillard, Hamburg.
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M EDIALE B ERICHTERSTATTUNGEN Koelbl, Susanne (1998): Ist doch irre. In: Der Spiegel vom 23. November 1998. Mozart, Franziska (2013): Sechs tote gesponserte Sportler. ARD dokumentiert die dunkle Seite von Red Bull. In: Werben und Verkaufen vom 30. April 2013. Schobelt, Frauke (2013): Stuntpilot von Red Bull stürzt in den Tod. In: Werben und Verkaufen vom 2. Mai 2013. [o.V.] (2001): Auf die Probleme der Welt aufmerksam machen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2. Oktober 2001.
Tod und Maske S USANNE R EGENER
V ORBEMERKUNG Totenmasken sind besondere Abbildungsformen des menschlichen Gesichts, die wir zumeist nur von berühmten Persönlichkeiten kennen.1 Im Hamburg Museum allerdings sind Überreste einer Sammlung von Masken archiviert, die Kriminellen nach der Hinrichtung in der Zeit zwischen 1856 und 1949 abgenommen worden waren. Ob Berühmtheiten oder Verbrecher − in beiden Fällen sind die dreidimensionalen Abbildungen Ausdruck eines physiognomischen Interesses, das seit dem 19. Jahrhundert viele Bereiche der Wissenschaft und des Alltagslebens durchdrungen hat. Die Totenmasken von Hingerichteten waren Studienobjekte für Kriminalisten und Schreckgespenster in Wachsfigurenkabinetten. Fast hundert Jahre lang wurde in Hamburg die Todesstrafe mit Hilfe der Guillotine vollzogen. Gleich nach der Exekution wurden von den abgeschlagenen Köpfen Masken abgenommen. Es gibt zwar Berichte über die den Totenmasken zugehörigen Kriminalfälle (Beiträge 1926), aber keine Aufzeichnungen über die Funktion der dreidimensionalen Abbildungen von Verbrechern. Man kann von einem kulturgeschichtlichen Randphänomen sprechen, denn es sind Objekte, die nur einem speziellen Fachpublikum aus den Bereichen Justiz und Kriminalistik zugänglich waren. Aber selbst das vermeintlich Abseitige kann Auskunft geben über kulturelle Tatbestände eines Glaubens an das Gesicht, das
1
Dieser Text ist die stark überarbeitete Fassung von »Totenmasken« (1993), der in Ethnologia Europaea – Journal of European Ethnology 23, Heft 2, S. 153-170 erschien. Ich danke Silvano Montaldo und Cristina Cilli vom Museo di Antropologia Criminale der Universität Turin und Bernd Heide vom Polizeimuseum Hamburg für die Erlaubnis der Reproduktionen.
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sich in Form einer Maske abbildet, verewigt, dreidimensional erscheint. Skizzenhaft werden im Folgenden die kulturgeschichtlichen Kontexte der VerbrecherTotenmasken ermittelt, die in die kulturanthropologische Brauchforschung, in die Geschichte bürgerlicher Totenmasken und in die kriminalanthropologische Trophäenproduktion führen.
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Die Totenmaske stellt eine besondere Form der in Bräuchen seit der Antike bekannten Masken dar. Eine geläufige Vermutung ist, dass jede Maske, sowohl die in der archaischen Verwendung der verschiedenen Völker als auch die der rituellen Fastnacht bis in die Gegenwart, mit dem Tod in Verbindung steht, beziehungsweise das Maskenwesen eine Form der Auseinandersetzung mit dem Tod ist.2 Die Maske würde eine Beziehung zwischen den Lebenden und den Verstorbenen schaffen, schreibt der ungarische Religionswissenschaftler Karl Kerenyi (1948: 186). Er verweist auf eine Vorstellung, nach der die Maske archetypisch als Kommunikationsmittel für die seelische Vereinigung mit den Verstorbenen dient. Im Maskenbrauch werden plastische Gebilde dem Gesicht appliziert, die eine temporäre Verwandlung der Maskenträger in spielerischer Absicht im Rahmen einer Performance vor Zuschauern bewirken sollen. Die Identifizierung mit einer durch die Maske vorgegebenen Rolle ist ein lustvolles Spiel mit einem anderen Wesen. Doch wie für Georg Büchners Figur Leonce wird der Wunsch, wenigstens für eine Minute jemand anderes sein zu können, nie in Erfüllung gehen: Das Individuum bleibt auch im Verwandlungsspiel hinter der Maske erhalten (Kramer 1992: 187). Die Physiognomie der Maske wird als Verweis auf einen Charakter interpretiert: »Die Maske wiederholt die ›Züge‹ von etwas. Morphologisches wird hier geistig verdeutet« (Lipps 1977: 177). Diese Züge seien eine Verkürzung auf das Wesentliche, und darin wird eine besondere Ausdruckskraft vermutet. Die reduzierte Form und die Starrheit einer Maske können aber auch Leblosigkeit symbolisieren. Die Beziehung der Maske zum Tod wird in Shakespeares Heinrich IV. in einer von Falstaff gesprochenen Passage folgendermaßen aufgegriffen:
2
Siehe Jansen/Jansen 1978: 37-53. Hier wird auch Bezug genommen zur symbolischen Verflechtung von Maske und Tod in der Belletristik und in der Kunst.
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»Ich lüge, ich bin keine Maske, sterben heißt, eine Maske sein, denn der ist nur die Maske eines Menschen, der nicht das Leben eines Menschen hat; aber die Maske des Todes annehmen, wenn man dadurch sein Leben erhält, heißt das wahre und vollkommne Bild des Lebens sein.« (Shakespeare 1979: 255)
Ein Spiel des Auf- und Zudeckens und ein Spiel mit Identitäten wird in der Interaktion mit der Maske vermutet:3 Hinter einer Maske sich verbergen, um lebendig zu bleiben, im Tod nur noch Maske zu sein, das sind Entscheidungen zwischen Ich und Nicht-Ich, zwischen Endlichkeit und Ewigkeit. August Wilhelm Schlegel und Ludwig Tieck übersetzten Shakespeares Begriff »counterfeit« mit Maske und gaben damit dem Begriff die Konnotation von bildhaft, im Sinne einer Imitation. In diesem Kontext ist die Totenmaske mithin Nachahmung, im Sinne von Vortäuschung von etwas Lebendigem. Sie wurde nicht vorbehaltlos als authentisches Zeichen gedeutet. Der Anblick einer Leiche scheint ähnlich doppelsinnige Gedanken auszulösen. Der Kulturwissenschaftler Thomas Macho bezeichnet die unerklärliche, rätselhafte Ambiguität (Macho spricht von »Verdopplung«) als Leichenparadox: »Auf der einen Seite ist die Leiche ganz offensichtlich identisch mit einem bestimmten Menschen: wir wissen genau, wer da liegt und gestorben ist; auf der anderen Seite ist dieselbe Leiche – ebenso offensichtlich – nicht identisch mit diesem bestimmten Menschen« (Macho 1987: 409). Was also bildet die vom Toten abgenommene Maske ab? Im Jahre 1927 erschienen unabhängig voneinander die ersten beiden Publikationen über Totenmasken von Ernst Benkard und Richard Langer, die zwar mehr illustrierend denn analytisch vorgehen, aber von der Vorstellung geleitet sind, dass das Antlitz im Augenblick des Todes als die ›wahre Gestalt‹ erscheint. Benkards Werk hat den Rang eines Klassikers zum Thema Totenmasken. Seine und alle später darauf aufbauenden Gedanken kreisen um einen Symbolsinn der Totenmaske für die Lebenden. Angesiedelt wird die Totenmaske in einem Zwischenreich von Natur und Transzendenz oder von Biologie und Geistigkeit. Es ist eine Suche nach dem ›wirklichen‹, dem seelischen und charakterlichen Ausdruck, der in der Maske als letztem Abbild vom Körper festgehalten werden soll. Ein kurzer Einblick in die Geschichte der Totenmaske und die mystifizierenden Deutungsversuche der Philosophie führen zu Denkansätzen des 19. Jahrhunderts, wo sich eine Kluft auftut: Zeitgleich mit der aufkommenden Praxis, berühmte Persönlichkeiten des Geistes- und Kulturlebens durch eine Totenmaske
3
Auch Elias Canettis Vorstellung von der Verwandlung des Menschen endet mit der starren Maske des Todes (Holzwart 1996: 61f.).
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zu verewigen, wurden auch von Köpfen hingerichteter Verbrecher Totenmasken abgenommen.
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UND BÜRGERLICHE
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Wann entstanden die ersten Totenmasken? Der Volkskundler Wolfgang Brückner (1966: 87ff.) resümierte, dass über ihre mittelalterliche Geschichte nur sehr ungenau Auskunft besteht. Relativ gesichert ist heute die Information, dass es Abguss-Sammlungen seit dem 15. Jahrhundert zunächst in Italien und Frankreich gab: Die Totenmaske war aber zu dieser Zeit (und bis ins 18. Jahrhundert) nur ein Hilfsmittel für die Anfertigung von Effigies, eine Art Mannequin, das dem Verstorbenen in Lebensgröße nachgebildet wurde. Für den Trauerzug und die Sakristei wurde der aus Wachs bossierte Kopf eines verstorbenen Königs auf eine mit Gewändern verhüllte Puppe aus Weidengeflecht oder Holzstatuen montiert. An Leiche und Schaupuppe wurden die letzten gottesdienstlichen Handlungen vollzogen (Benkard 1927: XI). Die Bezeichnung Effigies gehört ursprünglich zum Bildbegriff der römischen Antike und wurde in Verwandtschaft mit den Termini Simulacrum und Imago verwendet (Waldmann 1990: 45). Die Bildmasken der römischen Ahnen – die Imagines – wurden in den Seitenteilen des Atriums aufbewahrt. Ihnen wurde ein magischer Charakter zugesprochen, man meinte es mit Versinnbildlichungen der Kraft der Verstorbenen zu tun zu haben (Brückner 1966: 16f.). Es handelte sich um Maskierungen, um Scheingesichter, die weniger die Identifikation von Mensch und Bild durch Lebenstreue der Wachsmaske erreichten, wie der Kunsthistoriker Julius von Schlosser annahm, sondern die Wiedererkennung vollzog sich eher vor dem Hintergrund von glaubensmäßigen traditionell-abergläubischen Einstellungen (ebd.: 23). Die Masken wurden verformt und retuschiert; bei den römischen Masken gewinnt man gar den Eindruck, als sollte ihnen nachträglich Leben eingehaucht werden (Berg/Rolle/Seemann 1981: 154f.). Auf diesen Zusammenhang weist auch laut Grimms Wörterbuch die Wortbedeutung des Wachsbossierens, die handwerkliche Ausführung von Masken, auf das Spiel und auf einen Entwurf, der nicht erschöpfend das Vorbild konterfeien will.4
4
Siehe Grimms Wörterbuch, Bd. 2, Spalte 263-265: »Bosse: jocus, ludus, doch nie in der alten Bedeutung eines Bildwerks […], nur im Sinn eines Spiels […]. Bossieren: fingere, adumbrare, abreiszen, in Bossen stellen: die welt mit einer kolen nur entwerfen und bossieren, aber nit erschöpfen, abmalen oder conterfeien […]«.
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Der Chronist der Totenmaske, Ernst Benkard, trifft eine Unterscheidung zwischen Effigies/Imago und Totenmaske aus kunstgeschichtlicher Sicht: Nicht vor dem 15. Jahrhundert hätte sich die ästhetische Norm der bewusst gewollten Erfassung der Wirklichkeit bei der Herstellung der Totenmaske entwickelt. Noch im Trauerritual des 16. und 17. Jahrhunderts waren die Totenmasken nur Vorstufen der Schaupuppen, nach denen idealisierte und stilisierte Gesichter geformt wurden. Die Totenmaske Heinrichs IV. (1610) beispielsweise diente bildenden Künstlern als Modell für eine Büste des ermordeten Monarchen; d.h. hier wurde die Maske in das Porträt eines Lebenden umgearbeitet (Benkard 1927: XV). Für Porträtstatuen adeliger Grabmäler waren Totenmasken auch im 19. Jahrhundert weiterhin Vorlagen. Der dänische Künstler Bertel Thorvaldsen beispielsweise bekam 1824 von Augusta Amalie von Bayern den Auftrag, ihren verstorbenen Ehemann zu porträtieren. Als Orientierungshilfen schickte man dem Bildhauer eine ungenügende Zeichnung und eine Totenmaske (Helsted 1985: 22). Ein Vergleich der beiden Abbildungsformen macht deutlich, dass Thorvaldsen für die Gestaltung der Porträtbüste die Totenmaske keinesfalls kopierte, sondern die Figur, als sei sie nach dem Lebenden geformt, dem klassischen Stilideal angepasst hatte. Die letzte Verwendung einer Effigies in Frankreich bezog sich auf das Begräbnis von Jean Paul Marat, der bekanntlich 1793 von Charlotte Corday ermordet wurde. Nach Benkards Informationen war Marats Leichnam zu spät, d.h. nach Eintritt der Totenstarre, einbalsamiert worden und außerdem sei sein Gesicht durch Lepra entstellt gewesen, sodass man aus ästhetischen Gründen den Volkshelden nur als idealisierte Schaupuppe der Öffentlichkeit zeigte (Benkard 1927: XVIIf.). Allerdings zeichnete sich für die Totenmaske von Marat in dieser Zeit schon ein Doppelcharakter ab, als sie nicht nur als Vorbild für eine Effigies, sondern auch als eigenständiger Grabschmuck fungierte. Vom Hilfsmittel im Künstleratelier wurde die Totenmaske um 1800 zu einem selbstständigen Objekt (siehe auch Richter 2010: 215ff.). In Deutschland ist die Abkehr von den Effigies mit dem Trauerzeremoniell von Gotthold Ephraim Lessing (1781) verbunden.
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Abb. 1: Totenmaske von Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781). Quelle: Benkard 1927.
Es waren nun Freunde Lessings, die eine Maske anfertigen ließen und damit ein Stück Erinnerung manifestierten welches, wie Benkard (1927: XXXVIIf.) beschreibt, »dem Rätselhaften des Todes« verbunden sei. Die Totenmaske versinnbildliche »das letzte Bild des Menschen, sein ewiges Antlitz«. Neu ist die retrospektive, die individuelle Erinnerung betreffende Funktion der Totenmaske, wodurch zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Frage nach der Authentizität des Objekts in den Vordergrund gestellt wurde.5 Bedeutete die Abwendung von der idealisierten Effigies eine bewusste Auseinandersetzung mit dem Rätsel des Todes? Oder sah man in der Totenmaske lediglich eine andere Ausdrucksform der Herrschaft über den Tod? Das Sterben eines Mitmenschen ist für die ihm Nahestehenden eine Grenzerfahrung: »als Erfahrung der Verletzlichkeit des sozialen Körpers« (Macho 1987: 408). Der ver-
5
Zu den Herstellungsverfahren im 19. und 20. Jahrhundert siehe Richter (2010: 200ff).
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bale und körperliche Kontakt zum Sterbenden wird abgebrochen, sein Aussehen verändert sich schnell. Der Schrecken des Todes liegt in dem unwiderruflichen Kommunikationsabbruch, der beim Blick auf die Leiche offenbar wird (ebd.). Eine Maske wird in jenem Moment angefertigt, in dem der Mensch zwischen Noch-Sein und dem Verfall des Körpers sich befindet. Folgt man Macho (ebd.: 196 ff.) mit dem Gedanken, dass der Tod und der tote Körper eine Chiffre für die Grenzerfahrungen in unserem Umgang mit dem Tod bezeichnet, wäre die Totenmaske folgerichtig Ausdruck der Fixierung dieser Grenze.
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UND PHYSIOGNOMISCHE
W AHRHEIT
In der Zeit des Umbruchs in der Einstellung zum letzten Abbild eines Menschen, die durch die Französische Revolution eingeleitet wurde, zeichnete sich im Bereich der Medizin eine entscheidende neue Einstellung zum Tod ab. »Der Tod ist nicht mehr, was er so lange Zeit gewesen ist: die Nacht, in der sich das Leben auflöst und selbst die Krankheit sich trübt; es ist nun jene Macht, die den Raum des Organismus und die Zeit der Krankheit beherrscht und ans Licht bringt... [...] Der Tod ist nun der große Analytiker, der die Verbindungen zeigt [...], der die Wunder der Genese in der Unbarmherzigkeit seiner Zersetzung aufleuchten lässt«,
wie der französische Philosoph und Historiker Michel Foucault (1988: 158) es resümierte. Der Blick auf die Leiche ist nun einer, der das vergangene Leben des Menschen befragt; im Tod findet »das Leben seine Exposition und damit seine Wahrheit« (ebd.: 159). Ist nicht die Abkehr von der idealisierten Maske der Effigies ein Verweis auf eine spezifische Form der Vergegenwärtigung des Lebens? Das Antlitz des Toten wurde mithin zum Symbol für Leben, wenngleich auch nicht für Lebendigkeit. Die Ablösung von Scheingesichtern im Zeitalter der Aufklärung war ferner auch ein Zeichen für die zunehmende Individualisierung. Totenmasken drückten in diesem Sinne das Interesse am Lebensverlauf der abgebildeten Person aus. Die individuelle Zeichnung des Gesichts, die sich in der Maske abdrückt, wurde als Textur, als aussagefähige Oberfläche angesehen. Man könnte hier von einem sezierenden Blick sprechen, gleich dem des Anatomen, der im Inneren des Körpers nach pathologischen Ursachen forscht. Analog zum Blick des Mediziners steht der Blick des Physiognomikers, der die äußeren Gesichtszüge stets mit einer Geistigkeit verbinden will. Den Anfang machte 1775 Johann Caspar Lava-
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ters Studie Physiognomische Fragmente, in der eine neue Be-Schau des Menschen beschworen wurde und die Wahrheit des Visuellen als ein neues Dogma erscheinen sollte. Lavater glaubte an eine Stillstellung der Physiognomie im Augenblick des Todes und ihrer Verbildlichung in der Totenmaske (Belting 2013: 100).
Abb. 2: Totenmaske von Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781). Quelle: Benkard 1927.
Im 19. Jahrhundert entwickelte sich allgemein ein besonderes Interesse am Gesicht: Man glaubte, das Gesicht würde auf innere Verfassungen deuten und einen Status oder einen Typus repräsentieren. Auch in Bezug auf die Totenmaske wurden Abbildung und Biografie derart miteinander verbunden: »Man suchte in der Physiognomie nach einem Charakter, der im Tode zu einer bleibenden Erscheinung gekommen war« (ebd.: 101). Nicht nur verschiedene Wissenschaften forcierten dieses Interesse an einem ›Spiegelbild‹, sondern auch das neue Medium Fotografie rief die Aufmerksamkeit für das eigene Gesicht und das des anderen auch in der Bevölkerung hervor. Während ab 1850 die Lehre der Physiognomik in Anthropologie, Ethnologie, Medizin und Kriminologie Anwendungsbereiche fand, entstanden mit der populären Atelierfotografie für den Alltagsgebrauch
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standardisierte Abbildungen, die die Gesichter mit einem bestimmten Habitus und einer gesellschaftlichen Position verknüpften.
T OTEN -F OTOGRAFIE Etwa zur gleichen Zeit, als man sich von der idealisierten Schaupuppe abwendete, wurden im Totenkult auch öffentlich bürgerliche Berühmtheiten aus dem Wissenschafts- und Geistesleben geehrt. Die Abnahme ihrer Totenmasken geschah – wie im Falle von Lessing – auf Veranlassung von Familienangehörigen und Freunden. Die Masken verblieben zwar nicht in einem rein privaten Zusammenhang, da sie im Original oder als Abguss in musealen Sammlungen oder als Reproduktionen in Publikationen erschienen. Dennoch war diese neue Form des Totengedenkens eine an bestimmte Bevölkerungsschichten gebundene, elitäre Erscheinung. Der populäre Totenkult bediente sich anderer Gedenkartefakte. Das 19. Jahrhundert kennzeichnete eine Übertreibung der Trauer, wie Philippe Ariès (1976) ausgeführt hat: Nicht der eigene, sondern der Tod des Anderen wurde gefürchtet und nur widerwillig hingenommen. Zeichen dieses Wunsches nach Unsterblichkeit sind die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts populär werdenden Leichenporträts. Fotografen warben damit, die Leiche in »treffender Ähnlichkeit« abbilden zu können und sie auf Wunsch so vor der Kamera zu platzieren, dass sie wie lebendig wirkten (Gebhardt 1978: 96f.; Frank/Kuntner 1983: 23; Sykora 2009: 146ff.). Daneben dienten dem Totengedenken Fotografien, die zu Lebzeiten des Toten hergestellt wurden, reproduziert auf Sterbebildchen oder Porzellanträgern. Die Fotografien aus der Vergangenheit des Toten sind bis in die Gegenwart wichtiges Erinnerungsmittel, sogar auf Friedhöfen in Bilderrahmen oder auf Porzellan gebrannt als Grabschmuck. Leichenporträts und Lebendfotografien sind Maskierungen der Toten; die Erinnerung heftet sich nicht an den Anblick der Leiche, sondern an das gewohnte Wahrnehmungsmuster vom Lebenden. Der populäre, die Objekte idealisierende Totenkult hat in den ebenfalls sich im 19. Jahrhundert entwickelnden Wachsfigurenkabinetten eine weitere Ausdrucksform. Marie Grossholz, die spätere Madame Tussaud, wurde beauftragt (oder ihr wurde gestattet), alle geköpften Häupter der Revolutionszeit in Wachs nachzubilden. Obwohl nach Brückner (1966: 176) nicht eindeutig nachgewiesen, hat sie wahrscheinlich für diese Aufgabe Masken von den Toten abgenommen hatte, die sie dann im so genannten Chamber of Horrors ausstellte (Benkard 1927: 61). Eine Gleichzeitigkeit von Phänomenen, die die Abbildung von Toten betreffen, kann festgehalten werden: Einerseits wurden Totenmasken eigenständiger
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Teil eines kulturell elitären Totenkultes und andererseits wurden auch Kriminelle durch eine Totenmaske verewigt. Das Aufkommen der Fotografie wenige Jahrzehnte später löste diese Praktiken nicht ab, schaffte aber für die Massenkultur ein Medium, sich der Toten als Noch-Lebende zu erinnern. Im populären Totenkult hielt man an Bildern der Unsterblichkeit fest, d.h. an Idealisierungen der Objekte durch die Fotografie und Wachsfiguren. Allen drei Formen – Totenmaske, Fotografie, Wachsbüste – war gemeinsam, dass ihnen jeweils eine ›Wahrheit des Ausdrucks‹ unterstellt wurde. Doch die Abbilder standen nicht in einem individuellen Rezeptionszusammenhang, sondern die Interpretation dessen, was man sah, war auf komplizierte Weise mit kulturell gültigen Beschreibungs- und Deutungsmustern verknüpft. Hier sei an den Unterschied zwischen der Totenmaske und der in Brauchhandlungen verwendeten Maske erinnert. Die rituellen Masken entsprechen bekannten Wahrnehmungsmustern. Der Schweizer Perchtenlauf beispielsweise, die Initiationsfeierlichkeiten von afrikanischen Ethnien oder auch die Schauspieler der Commedia dellʼArte bedienten sich immer gleichen, typisierten Masken, deren bildliche Aussagekraft zum Inventar einer kulturellen Gemeinschaft gehörten. Die Totenmasken hingegen – so ist zu vermuten – sollten etwas über das Individuum erzählen. Doch was kann und was wurde tatsächlich gesehen anhand dieser Abbildungen? Die Beschäftigung mit dem Äußeren des Menschen und seinem ›wahren‹ Charakter, den die Physiognomiker im Gesicht dechiffrieren wollten, sowie die Determinierung des ›guten‹ und des ›bösen‹ Gesichtes waren erste Zeichen für eine Entwicklung des klassifikatorischen Sehens, das im 19. Jahrhundert Wissenschaft und Alltag langsam durchdrang.
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In dem damals so benannten Hamburger Kriminalmuseum, das 1893 eingerichtet wurde, gab es eine Sammlung von Totenmasken der »mittels des Fallbeils hingerichteten Verbrecher« (Beiträge 1926 I, H. 2: 5f.).6 Mit der Guillotine wurde erstmals 1792 in Paris eine Hinrichtung vollzogen. Die französische Verwaltung führte 1812 dieses Gerät in Hamburg ein, um die Strangstrafe und das Richtschwert abzulösen. Noch im selben und im darauffolgenden Jahr wurde die Guillotine jeweils einmal eingesetzt, während für die Vollstreckung der drei
6
Nach Auskunft des Kriminologen Robert Heindl (1930) gab es zu Beginn des 20. Jahrhunderts in verschiedenen deutschen Kriminalmuseen Gipsabdrücke von Köpfen hingerichteter Krimineller, z.B. in Berlin und Dresden.
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Todesurteile bis 1823 wieder das Schwert benutzt wurde (Beiträge 1926, 1, H. 1). 33 Jahre lang gab es in Hamburg dann keine Hinrichtung. Das Jahr 1856 ist bedeutungsvoll, da aufgrund einer verhängten Todesstrafe eine neu gebaute Guillotine wieder eingeführt wurde und gleichzeitig die Vollstreckung eines Todesurteiles zum ersten Mal hinter den Gefängnismauern stattfand. Mit dem Ausschluss der Öffentlichkeit ist in Hamburg seit 1856 das Zeremoniell der Strafe nur noch ein Akt des Verfahrens der Justiz. Die Bestrafung »verlässt den Bereich der alltäglichen Wahrnehmung und tritt in den des abstrakten Bewusstseins ein« (Foucault 1976: 16). Just in diesem Moment wurde im Auftrag der Polizeibehörde in Hamburg die nachweislich erste Totenmaske von einem Hingerichteten angefertigt, und man ist geneigt, von einem Akt der Spurensicherung und Dokumentation der verborgenen Vorgänge zu sprechen. Es fand eine Verschiebung statt: Das frühere Schauspiel reduzierte sich auf ein bildhaftes Objekt. Diese mediale Verschiebung und Verwandlung war nur möglich, weil die neue Hinrichtungsart mit der Guillotine den Kopf nahezu unversehrt beließ, im Gegensatz zu den folterartigen Vollstreckungsmethoden früherer Zeiten. Zwei fotografische Quellen über die Hamburger Sammlung von Totenmasken hingerichteter Krimineller sind überliefert, die zum einen ihre Aufstellung im Kriminalmuseum (1856 bis 1912) (Abb. 3) und zum anderen eine Präsentation von 31 Totenmasken aus der Zeit zwischen 1856 und 1949 zeigen (Abb. 4) – ein Regal, das möglicherweise im Strafjustizgebäude untergebracht war.7 Heute sind die Totenmasken teilweise im Hamburg Museum magaziniert und einige wenige im Polizeimuseum Hamburg. Über die Gründe für ihre Auslagerung während des Zweiten Weltkrieges existieren keine Angaben. Im Hamburger Untersuchungsgefängnis wurde 1936 eine sogenannte kriminalbiologische Untersuchungs- und Sammelstelle eingerichtet (Neureiter 1940: 10). Es ist zu vermuten, dass die Totenmasken zu diesem Zeitpunkt als wissenschaftliches Anschauungsmaterial dorthin gelangten. Oder gab es für die Totenmasken in der
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Die Abbildung von 1949 zeigt vermutlich die Ausstellung im Strafjustizgebäude. Nicht alle Masken des Kriminalmuseums sind hier zu sehen, und wie ein Vergleich mit dem Todesregister der Gefängnisverwaltung (Staatsarchiv Hamburg, Abl. 4/141) zeigt, erscheinen für die Zeit zwischen 1933 und 1949 nur ein Bruchteil von Gipsabdrücken derjenigen, die tatsächlich hingerichtet wurden. Aufgrund der defizitären Quellenlage ist nicht zu klären, ob von allen in Hamburg Guillotinierten eine Maske abgenommen wurde. Bis zum Jahre 1926 ist das nachweislich der Fall (Beiträge 1926, I, H. 1: 4), danach verliert sich die Spur. Für den Hinweis auf die Fotografie von 1949 nebst dem Verzeichnis danke ich Herrn Böttcher, Kriminalpolizeiliche Lehrmittelsammlung Hamburg (jetzt: Polizeimuseum Hamburg).
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Nähe der Guillotine einen Gedenk- oder Schauraum? Selbst noch nach 1945 hatte man in Hamburg Totenmasken von guillotinierten Köpfen anfertigen lassen, bis durch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland die Todesstrafe abgeschafft wurde.
Abb. 3: Aufbewahrung der Totenmasken im Kriminalmuseum Hamburg (1912). Quelle: Roscher 1912.
T OTENMASKEN VON V ERBRECHERN – P RAXIS Das Kriminalmuseum in Hamburg enthielt eine Sammlung von Lehr- und Vergleichsobjekten, Realien der Kriminalistik, die dem angehenden Kriminalbeamten hilfreiches Anschauungsmaterial sein sollten. Kriminalmuseen wurden als wichtige Lehrstätten angesehen und waren Bestandteil des Studiums der Kriminalistik (Beiträge 1926, I, H. 1: 1; Regener 2003). Das Hamburger Kriminalmuseum war kein öffentliches Museum, sondern es stand seit dem Amtsantritt des Polizeipräsidenten Gustav Roscher (1892) im Dienste der Ausbildung von Kriminalisten. Die Totenmasken der Hingerichteten waren hier eingegliedert unter der Rubrik »Sammlung aus der Praxis, Straftaten gegen Leib und Leben«: »Die Mordtaten der letzten 70 Jahre [vor 1926; S. R.] sind durch die Werkzeuge und
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verletzten Körperteile der Getöteten, sowie durch die Totenmasken der in diesem Zeitraum hingerichteten Personen dargestellt« (Beiträge 1926, I, H. 1: 4). Damit wurden keine Erklärungen zu Gebrauchsweise und Bedeutung der Totenmasken angeboten, auch nicht in Roschers Handbuch mit dem Titel Großstadtpolizei (1912: 228), wo der mit Gardinen verhängte, verglaste Holzschrank als Präsentationsort für Totenmasken erstmals gezeigt wurde (Abb. 3). Es war nicht ungewöhnlich, dass zeitgenössische Museumsvitrinen bürgerlichen Wohnzimmerschränken glichen, doch hier wurden die Reliquien bei geschlossenen Türen dem Blick verborgen. Die einzelnen Masken sind aufrecht auf Holzträger montiert und mit einem Namensschild versehen. Viel nüchterner ist die spätere Präsentation (Abb. 4) im Bereich der Strafjustiz, wo die Masken auf schräggestellten Regalflächen abgelegt wurden.
Abb. 4: Totenmasken zwischen 1856 und 1949 in Hamburg. Quelle: Anonym, 1949; Polizeimuseum Hamburg.
Ein Mediziner, der Anfang des 20. Jahrhunderts einigen Hinrichtungen beiwohnte, beschrieb 1926 die Herstellung der Totenmasken. Auf Weisung der Polizeibehörde wurden zunächst Stuckateure und später Anatomiegehilfen damit beauftragt, unmittelbar nach Überweisung des Leichnams in die Anatomie (etwa 20 bis 30 Minuten nach der Hinrichtung) einen Gipsabdruck herzustellen (Beiträge 1926, I, H. 2: 5f.). Ungleichheiten in der technischen Ausführung habe es immer wieder gegeben, bis 1893 der in der Anatomie tätige Kustos Krüger das Herstel-
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lungsverfahren mit Zinkleim und Stützvorrichtungen derart verbessert habe, dass ein »naturgetreuer« Eindruck entstanden sei. Der deutsche Bildhauer Georg Kolbe äußerte sich ähnlich wie der Mediziner: »Erstarrung ändert die Züge« (zit. nach Benkard 1927: XLI). Wie in der Anatomie wurde auch im Künstleratelier der tote Kopf so gebettet und gestützt, dass ein »richtiger« Ausdruck entstehen sollte, der nicht entstellte und eher noch mit dem Leben, als mit der Starre des Todes verbunden sei. Ob es nun sanft entschlafene, von einer Krankheit durch den Tod erlöste oder gewaltsam enthauptete Personen waren – für das plastische Abbildungsverfahren schien die Todesart offenbar keine Rolle gespielt zu haben. Das Sterben durch die Guillotine war jedoch in Medizin und Philosophie eine kontrovers diskutierte Praxis. Die Erfindung der Tötungsmaschine wurde im Vergleich zu den früheren Verfahren als ein Akt der Menschlichkeit gepriesen: Gegenüber dem Opfer einerseits, weil die Guillotine dessen Schmerz verringerte, gegenüber den Zuschauern andererseits, weil das Blutvergießen reduziert wurde (Arasse 1988: 23). Die Enthauptung durch das Fallbeil der Guillotine erfolgte ungeheuer schnell. Schnell wie der Blitz entschied das Beil zwischen Leben und Tod, was »schon bald als monströse Obszönität empfunden werden [sollte], als eine Herabwürdigung des Individuums im entscheidenden Moment seines Lebens«, wie der Kunsthistoriker Daniel Arasse schreibt (ebd.: 51). Eine Debatte entfachte sich über die Frage, ob der Kopf sofort nach seiner Abtrennung vom Körper jegliches Bewusstsein verliert und wann der Todeszeitpunkt festgesetzt werden könne (ebd.: 52 f.). »Die sofortige Wirkung der Guillotine wird zu einer Ungeheuerlichkeit in philosophischer Hinsicht: Sie zwingt dazu, das Ende des physischen Lebens von dem des psychischen Lebens zu unterscheiden. Dies aber bedeutet eine zeitliche Diskrepanz, bei der die Einheit des Subjekts in Stücke geht.« (Ebd.: 54) Mit der Totenmaske allerdings sollte diese Einheit des Individuums wieder versinnbildlicht werden. Bezogen auf Menschen, die eines natürlichen Todes starben, galt der Tod als erlösender, das Leben abrundender Vorgang, wie Georg Kolbe beschrieb: »Des Menschen Tod bezeichnen wir als eine Erlösung. Und wirklich folgt dem letzten Atemzug alsbald ein fast überirdisches Lächeln. Allen Leides enthoben, vollbracht! Wie eine Erfüllung, eine Vollendung als das höchste Moment des Lebens erscheint so das Sterben.« (Zit. nach Benkard 1927: XLI.) Technischer und nüchterner wurde etwa zur gleichen Zeit (Mitte der 1920er Jahre) das Sterben bei einer Hinrichtung von einem Kriminalbeamten beschrieben. Von zwei Seelsorgern begleitet, wurde der zum Tode Verurteilte dem Scharfrichter und seinen drei Knechten am Schafott übergeben und auf ein Brett
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geschnallt, das danach waagerecht vor eine Apparatur geschoben und in die der Kopf eingespannt wurde: »Jetzt wurde die Halskrause heruntergeklappt, ein Knecht zog den Kopf des Delinquenten am Haar nach vorn; der Scharfrichter berührte den Hebel des Beiles, und das schwere Beil fuhr wie ein Blitz nieder und trennte den Kopf vom Rumpfe; der Kopf fiel in den schlauchartigen Sack, der unter das Schafott führt. [...] Sofort eilten einige Ärzte und andere Personen in den unteren Raum des Schafotts, und als der Physikus Gernet das Haupt des Delinquenten am Haare emporhob, schnappte der Mund noch zweimal auf und zu und ebenso öffneten und schlossen sich Augen noch zwei- oder dreimal.« (Beiträge 1926, I, H. 1: 114f.)
Der abgetrennte Kopf führte laut dieser Beobachtung noch für Sekunden ein Eigenleben. Solche Bewegungen lösten eine tiefe Angst vor dem geheimen Leben der Leiche aus, die in diesem nüchternen Bericht zwar nicht unmittelbar deutlich wird, von der aber zahlreiche Rituale des so genannten Volksglaubens Zeugnis ablegen (Macho 1987: 412f.). Man kann sich vorstellen, dass der abgeschlagene Kopf nicht jenes von Kolbe idealisierte Lächeln trug, sondern im Gegenteil von der Angst gekennzeichnet war, die in den Tagen, Stunden und Sekunden vor dem herabschnellenden Beil durchlebt wurde. Nicht Erlösung und Erfüllung kennzeichneten dieses Sterben, diese technische Ausschaltung von Leben. Der Blick auf den Toten war ein anderer: Bestrafung mit dem Tode für einen Menschen, der einen Mord begangen hatte und aus der sozialen Gemeinschaft ausgeschlossen wurde. Der juristische Terminus »dauernder Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte« war über den Tod hinaus auch noch symbolisch mit der Totenmaske verbunden. Da die Marter bis an den Nullpunkt reduziert wurde, gab es bei der Guillotinierung nur eine winzige Zeitspanne dessen, was man als Sterben oder Ringen mit dem Leben bezeichnet. In den Fallbeschreibungen der in Hamburg Hingerichteten wurden manchmal »Die letzten Stunden des Delinquenten« (Beiträge 1926) dokumentiert. Es sind Beobachtungen über den seelischen Zustand der Todeskandidaten, beurteilt nach einem einfachen Schema: ob sie reumütig und gefasst oder uneinsichtig und kalt dem Schafott entgegentraten. Die Debatte um das Wie des Sterbens und seine Auswirkungen auf den Gesichtsausdruck, der dann als »ewiges Antlitz« zum Abdruck gelangte, wurde bei der Polizei und in der Kriminologie nicht geführt. Dabei unterscheiden sich einige Totenmasken von Hingerichteten sehr offensichtlich von denen, die berühmte Persönlichkeiten darstellen. Beispielsweise wurden Augen und Mund geöffnet abgebildet. Indes handelte es sich bei dieser Geste um ein Tabu im Totenkult des europäischen
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Abendlandes: Durch den geöffneten Mund, glaubte man, könne die Seele des Verstorbenen entweichen und mithin Furcht auslösen. Ebenso angstbesetzt sind die geöffneten Augen nach dem Tod eines Menschen. Die Angst, dass die Leiche dadurch weiter ›lebt‹, führt im westlichen Totenkult noch heute dazu, dass zu allererst die Augenlider des Verstorbenen verschlossen werden (Macho 1987: 412f.).
AUSSTELLUNG DES B ÖSEN Besondere Totenmasken von Kriminellen wurden in den 1880er Jahren in Italien angefertigt, die aufgrund ihrer differenten Ästhetik hier Erwähnung finden sollen. Der Arzt und Anatomieprofessor Lorenzo Tenchini (1852-1906) aus Parma war begeisterter Phrenologe und sammelte und untersuchte Verbrechergehirne. Angeregt von dem in Italien sich insbesondere durch den Arzt Cesare Lombroso (1835-1909) entwickelnden Forschungsfeld der Kriminalanthropologie interessierte sich Tenchini für Anatomie, Physiognomie und Anthropometrie bei Kriminellen. Von im Gefängnis verstorbenen Kriminellen wurde auf Tenchinis Anweisung während der Autopsie eine Maske abgenommen. Auf diese Weise sind auch die Masken des Diebes und die des Mörders entstanden (Abb. 5 und 6), die auf roten Stoffkissen befestigt wurden. Sie sind mit Wachs überzogen, Haare, Bart und Augenbrauen wurden eingesetzt, Augäpfel und Pupille aufgemalt. Über den Mörder (»Omicida«) weiß man, dass er im Alter von 32 Jahren zu zehn Jahren Haft wegen eines Gewaltverbrechens verurteilt worden war und im Gefängnis von Parma 1888 an Tuberkulose starb (Musomeci 2009: 236). Beiden Toten bzw. ihren Masken hat man die Augen nicht verschlossen. Diese Differenz zu Totenmasken aus dem bürgerlichen Leben hat etwas Gewaltsames: Wollte oder konnte man sie nicht schließen? In beiden Fällen kommt eine gewisse Monstrosität zum Ausdruck, die durch die Ausstellung auf der Kissenunterlage noch ästhetisiert wird. Wie zur Veranschaulichung der wissenschaftlichen Ergebnisse über den uomo delinquente wurden die wächsernen Totenmasken auf den Internationalen Kongressen der Kriminalanthropologie (in den Jahren 1889-1906) ausgestellt (ebd.: 69-72). 1906 dann, kurz vor seinem Tod, verschenkte Tenchini einen Teil dieser Totenmaskensammlung an den von ihm verehrten Kollegen Lombroso. In dessen Museo di Antropologia Criminale (Barbos 1989: 587ff.) wurden die Masken neben anderen, weniger spektakulären Gipsmasken hochkant ausgestellt und bekamen in exemplarischer Auswahl auch in der Neuaufstellung des Museums
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2009 einen Platz in der historischen Präsentation. Lombroso exponierte diese Masken zwar in seinem Museum, ging aber in seinen wissenschaftlichen Veröffentlichungen nicht auf sie ein. Als Beweismittel seiner Theorien über angeborene körperliche Zeichen bei Verbrechern nutzte er in seinen Büchern vielmehr die Fotografie (vgl. Regener 1999).
Abb. 5: Totenmaske eines Diebes (»Ladro«), hergestellt von Lorenzo Tenchini, 1888. Quelle: Museo di Antropologia Criminale, Turin.
Tenchinis Totenmasken von Mördern, Dieben, Vergewaltigern, Fälschern und Straßenräubern erhielten durch die besondere Inszenierungsform eine Bedeutung als Trophäe. Die kunstvoll mit Wachs nachmodellierte Maske mit den Ohrnachbildungen wirkt fast wie eine Büste. Dieser Kopf ruht nicht wirklich auf dem roten Stoffkissen, sondern ist so befestigt und auf der Rückseite mit einer Aufhängung verbunden, dass er aufrecht dem Betrachter (auf Augenhöhe) gezeigt werden konnte. Noch weniger als bei einer polizeilichen Fotografie zu Lebzeiten hatte der Delinquent Einfluss auf sein dreidimensionales Porträt. Bei diesem Siegeszeichen über den Verbrecher verweigerte man dem Toten ein friedliches Gesicht mit geschlossenen Augen und Mund. Das letzte Bild des Menschen, »sein ewiges Antlitz« (Benkard), wurde im Raum und durch die Praxis der Polizei zur
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konservierten Fratze mit der Botschaft, dass es sich hier um den anderen, den anormalen Menschen handele.
Abb. 6: Lorenzo Tenchinis Totenmaske eines Mörders (»Omicida«), 1890. Quelle: Museo di Antropologia Criminale, Turin.
Tenchinis Totenmasken von Mördern, Dieben, Vergewaltigern, Fälschern und Straßenräubern erhielten durch die besondere Inszenierungsform eine Bedeutung als Trophäe. Die kunstvoll mit Wachs nachmodellierte Maske mit den Ohrnachbildungen wirkt fast wie eine Büste. Dieser Kopf ruht nicht wirklich auf dem roten Stoffkissen, sondern ist so befestigt und auf der Rückseite mit einer Aufhängung verbunden, dass er aufrecht dem Betrachter (auf Augenhöhe) gezeigt werden konnte. Noch weniger als bei einer polizeilichen Fotografie zu Lebzeiten hatte der Delinquent Einfluss auf sein dreidimensionales Porträt. Bei diesem Siegeszeichen über den Verbrecher verweigerte man dem Toten ein friedliches Gesicht mit geschlossenen Augen und Mund. Das letzte Bild des Menschen, »sein ewiges Antlitz« (Benkard), wurde im Raum und durch die Praxis der Polizei zur konservierten Fratze mit der Botschaft, dass es sich hier um den anderen, den anormalen Menschen handele.
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Auch die Hamburger Totenmasken von Hingerichteten waren Fetische – Dinge, die offenbar mit Energien aufgeladen waren (Böhme 2006: 17ff.), sodass sie in einem schreinähnlichen Schrank im Kriminalmuseum aufbewahrt wurden (Abb. 3). Sammlung und Ausstellung sollten sowohl die Wirksamkeit der Justiz bezeugen, als auch das Böse in einem Bild bannen.
Abb. 7: Totenmaske von Johann Adolf Christian Benthien, 1890. Quelle: Polizeimuseum Hamburg.
Mit Fallberichten zu den einzelnen Guillotinierten wurde der Kontext aus Sicht von Kriminologen und Museumsakteuren erweitert. Am Beispiel des Falls des »Knabenmörders Benthien« und seiner Totenmaske (Abb. 7) skizzierte der Verwalter des Kriminalmuseums in Hamburg, Richard Wosnik, in den Beiträgen zur Hamburgischen Kriminalgeschichte eine polizeiliche Erfolgsgeschichte der Fahndung, der Ergreifung und der Hinrichtung des Täters (Beiträge, 1926, I, H. 2: 7ff.). Diesem Text geht eine Abbildungsseite voraus, die sowohl das fotografische Porträt (ein Polizeifoto) als auch die Totenmaske von Benthien von vorne und von der Seite zeigen (Abb. 8). Der 22-jährige Schuhmachergeselle hatte am 7. April 1889 einen zehnjährigen Jungen ermordet und wurde am 16. Januar 1890 hingerichtet, heißt es in diesem Bericht. Über den Verdächtigen werden Zeugenaussagen wiedergeben, die u.a. »fahle Gesichtsfarbe, dünne Lippen, lange gebogene Nase, kleiner hellblonder Schnurrbart, stechender Blick [...] und schlottriger Gang« hervorheben. Aus der Charakterisierung »Die ganze Erscheinung war eine unheimliche« (ebd.: 10) wurde nach Ergreifung des Täters folgende Beschreibung: »Die Vergangenheit des Benthien bot ein Bild gröbster sittlicher Verwahrlosung und Verkommenheit. [...] Es handelte sich um einen Menschen, der auf der niedrigsten sittlichen Stufe stand [...]« (ebd.: 17f.). Allerdings habe er sich nach dem Todesurteil als
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»reumütig« gezeigt und die Angehörigen des Opfers um »Verzeihung« gebeten (ebd.: 19).
Abb. 8: Reproduktion von Fotografie und Totenmaske von Benthien. Quelle: Beiträge 1926, I, H. 2.
Im Gegensatz zu den italienischen Totenmasken haben diese aus Gips gefertigten Masken (Abb. 7) keine prägnanten ästhetischen Hinweise auf eine differente, möglicherweise als anormal auslegbare Form; sie ähneln im Prinzip den Totenmasken der bürgerlichen Kultur (siehe Lessings Totenmaske). Als Ausstellungsobjekt im Kriminalmuseum wurde die Maske von Benthien rückseitig mit einem Draht versehen; sie war sicherlich an der Wand aufgehängt. Der in der »Anatomie assistierende Kustos« Krüger (ebd.) signierte die Maske wie ein Kunstwerk. Die Verbindung von Totenmaske in der Ansicht der erkennungsdienstlichen Fotografie (en face und en profil) mit der Polizeifotografie von vorne ist eine Illustration, die Bezeugungscharakter hat (Abb. 8): Die erkennungsdienstliche Fotografie, die direkt nach der Festnahme des Delinquenten von der Polizei gemacht wurde, war Visualisierung des Verdachts. Zusammen mit der Trophäe Totenmaske sollte suggeriert werden, dass aus dem Verdacht eine deutliche Gewissheit entstanden war, die schließlich als dreidimensionales Objekt für die Kriminologie tradiert wurde. Das Porträt des Kriminellen wurde zum anthropo-
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logischen Material für die Forschung, behauptete man hier (Beiträge 1926, I, H. 2: 6). Es gibt aber keine konkreten Hinweise für eine Praxis des TotenmaskenLesens, wohl aber eine allgemeine physiognomische Strömung, die Gesellschaft und Wissenschaften erfasste.
M ENSCHENKENNTNIS Mitte des 19. Jahrhunderts erschien das Buch Die Symbolik der menschlichen Gestalt von Carl Gustav Carus, das eine Anleitung für die körperliche Ausdruckskunde des menschlichen Charakters darstellte. Carus, der selbst eine umfangreiche Totenmasken-Sammlung besaß, empfahl Übungen für das Erkennen von Strukturen. Doch das Studium der physiognomischen Zusammenhänge allein würde nicht reichen, »um den wahren Menschenkenner zu schaffen«; hinzukommen müssten »Spürkraft«, »ein gewisses natürliches Gefühl« und »ein gewisser angeborener Blick« (Carus 1858: 381; vgl. Schmölders 2007). Um den Blick, der alles erfassen kann, geht es Ende des l8. Jahrhunderts auch dem Philosophen und Staatsrechtler Jeremy Bentham, der die Bezeichnung »Panopticon« für seine Gefängnis-Architektur wählte – eine Strafanstalt, die qua Macht des Blicks umerziehen sollte (Oettermann 1992: 40). Als Panoptikum bezeichneten ebenfalls die Brüder Castan in den 1870er Jahren ihr Wachsfigurenkabinett in Berlin, in dem berühmte Persönlichkeiten in Wachs auftraten und eben auch eine »Verbrechergalerie« zu besichtigen war. Die Arbeit an der Zurschaustellung von fremden und kriminellen Köpfen war im Falle von Louis Castan eng mit der anthropologischen Wissenschaft verknüpft. Er war aktives Mitglied der von Rudolf Virchow geleiteten Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, deren ethnographisch-anthropologische Forschungsergebnisse teilweise in modellierten Wachsporträts festgehalten und vor der Gründung des Museums für deutsche Volkstrachten und Erzeugnisse des Hausgewerbes (1889) im Panoptikum ausgestellt wurden (Karasek/Neuland 1991: 3f.). Als 1922 Castans Panoptikum versteigert wurde, sicherte sich das Berliner Kriminalmuseum die Porträtbüsten von Mördern, die bis dahin neben seltenen Abnormitäten und »Wilden« die Schaulust am Fremden für ein großes Publikum befriedigt hatten (Oettermann 1992: 54). Die enge Beziehung zwischen Fotografie und Maske, die im Falle des Mörders Benthien in der erwähnten Schrift des Kriminalmuseums hergestellt wurde, zeigt die Denkrichtung an: Der Blick auf Totenmasken sei eine Befragung des Lebens der dargestellten Person. Die Macht des Staates machte sich nach Abschaffung öffentlicher Hinrichtungen unsichtbar – und die Totenmaske wurde
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zum pars pro toto für die erfolgreiche Praxis von Polizei und Justiz. Gleichzeitig wurde das Objekt Totenmaske gebraucht, um daran Wissen über das Böse anschaulich auszudehnen. Im Vergleich zu den Totenmasken bürgerlicher und berühmter Persönlichkeiten gab das Objekt kein Rätsel auf, sondern war ein Studienobjekt der Klassifikation.
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Schmölders, Claudia (2007): Das Vorurteil im Leibe. Eine Einführung in die Physiognomik, 3. Aufl. Berlin. Shakespeare, William (1979): Dramatische Werke, Bd. 9, Basel.
Verräumlichungen
Der entfesselte Friedhof Über die Zukunft von Bestattungs- und Erinnerungsorten N ORBERT F ISCHER
Z UR E INFÜHRUNG Kulturhistorisch ist der Friedhof mit seinen zumeist familienbezogenen Grabstätten bis zum Ende des 20. Jahrhunderts der zentrale Schauplatz von Bestattung, Trauer und Erinnerung gewesen. Die Grabstätte bedeutete gesellschaftliche Identität auch nach dem Tod. Mit Grabdenkmal, Grabbepflanzung und Grabbesuchen gab es einen festgefügten Rahmen. Diese idealtypischen Muster entstammten der bürgerlichen Trauerkultur des 19. Jahrhunderts: Die eigene (erfolgreiche) Biografie wurde in immer monumentaleren Grabmälern gefeiert. Der häufig beträchtliche Aufwand für solche Familiengrabstätten lohnte, weil der Kreis der Hinterbliebenen in der Regel über mehrere Generationen vor Ort ansässig war. Die Grabstätte auf dem Friedhof bildete also den klassischen Ort des gesellschaftlichen Weiterwirkens nach dem Tod. In dem von hoher gesellschaftlicher Mobilität und Fluktuation geprägten postindustriellen Zeitalter hingegen haben solche traditionellen Ortsbindungen an Bedeutung verloren. Neuartige, partikularisierte Lebenswelten haben seit dem späten 20. Jahrhundert zu einer funktionalen Neugliederung des öffentlichen Raumes geführt. Dies gilt – mit einer gewissen Verzögerung – auch für den Umgang mit den Toten. Folgerichtig entfaltet sich im frühen 21. Jahrhundert eine gewandelte Bestattungs-, Abschieds- und Erinnerungskultur. Sie schafft sich neue Räume auch jenseits des Friedhofes und konstituiert häufig keine generationsübergreifenden Zusammenhänge mehr, sondern neue soziale Beziehungen jenseits der Familie. Statt sich in einzelnen Grabmälern dauerhaft zu materialisieren, erweisen sich ihre Muster als transitorisch und bringen häufig gemeinschaftliche, temporäre und provisorische Orte hervor.
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Dies hat grundlegende Auswirkungen auf die Entwicklung der Begräbnisplätze. Die klassischen Friedhöfe, die in Deutschland in der Regel von Kommunen oder Kirchengemeinden betrieben werden, verlieren tendenziell an Bedeutung. Stattdessen wird die freie Landschaft (vor allem Waldflächen) zu neuen, in der Regel von privatwirtschaftlichen Unternehmen unter Markennamen wie ›Friedwald‹ und ›Ruheforst‹ betriebenen Schauplätzen der Bestattungskultur (in Deutschland seit 2001). Auch darüber hinaus spielt der öffentliche Raum in Form des ›Public Mourning‹ eine immer wichtigere Rolle für die Erinnerungskultur, wie nicht allein, aber zuerst und vor allem die zunehmende Zahl der Unfallkreuze am Straßenrand zeigen. Dies ist auch ein Indikator für das zunehmende Auseinanderdriften von Bestattungsort einerseits und Erinnerungsort andererseits. Zugleich verändern die klassischen Friedhöfe ihr Erscheinungsbild. Wichtigstes Merkmal ist hier die Überformung der alten räumlichen Strukturen. Dabei wird die bislang als Gestaltungsprinzip dominierende Familien- bzw. Einzelgrabstätte abgelöst von naturnah gestalteten Themenfeldern und jenen Gemeinschaftsanlagen, die besondere soziale Gruppierungen, Kulturen oder Religionen repräsentieren (Sörries 2015a). Ein frühes Beispiel ist der 2001 angelegte ›Garten der Frauen‹ auf dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg. Auf diese Weise entstehen zunehmend besondere sepulkrale Miniaturlandschaften, die ganz unterschiedlichen Gestaltungseinflüssen unterliegen und in ihrem Patchwork den Friedhöfen insgesamt ein neues Erscheinungsbild geben. Diese Entwicklungen sind eng verknüpft mit einer rasch wachsenden Zahl und zunehmenden Formenvielfalt von Aschenbeisetzungen. Sowohl der steigende Anteil von Aschenbeisetzungen als auch die zunehmende Zahl von Beisetzungen außerhalb der klassischen Beisetzungsplätze führen insgesamt zu einem stetig verringerten Flächenbedarf auf den Friedhöfen (Venne 2010). Die Asche ist zum sepulkralen Signet der mobilen Gesellschaft geworden, ihr Beisetzungsort ist nicht mehr zwingend an den klassischen Friedhof gebunden. Als erstes deutsches Bundesland gestattet Bremen seit dem 1. Januar 2015 die Aschenbeisetzung – unter bestimmten Voraussetzungen – außerhalb von Friedhöfen. Damit wird die Bestattungs- und Erinnerungskultur tendenziell exterritorialisiert. So lässt sich der aktuelle Wandel als eine gesellschaftliche, kulturelle und räumliche Partikularisierung charakterisieren. Diese repräsentiert die sepulkralen Muster veränderter gesellschaftlicher Lebenswelten: Tradierte soziale Strukturen wandeln sich bzw. lösen sich auf, räumliche Bindungen und Eingrenzungen verflüssigen sich. Diese Entwicklungen können unter Leitbegriffen wie Flexibilisierung, Individualisierung und Exterritorialisierung gefasst werden. Insgesamt
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ENTFESSELTE
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kann von einer ›Entfesselung‹ der Bestattungs- und Friedhofskultur gesprochen werden.
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DES MODERNEN
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Historisch gesehen, war der Begriff »Friedhof« über Jahrhunderte hinweg der allgemeine Sammelbegriff für Begräbnisplätze. Bis weit in die Neuzeit hinein waren Tod und Bestattung eine Domäne der Kirche. Das altgläubige Christentum hatte die Toten in das Zentrum der Siedlungen geholt. Weil es der Glaube erstrebenswert machte, in der Nähe der Reliquien bestattet zu werden, wurden zunächst Kirche und Kirchhof zum klassischen Ort christlicher Bestattung. Dabei galt die Beisetzung in der Kirche als gesellschaftliches Vorrecht. Jener Teil des Raumes um die Kirche, der im Mittelalter als »coemeterium« (Schlaf-, Ruhestätte) bezeichnet wurde, entwickelte sich zum allgemeinen Bestattungsplatz der christlichen Bevölkerung (Sörries 2005). Aus dem christlichen Kirchhof entwickelte sich zu Beginn der Neuzeit der moderne Friedhof. Hygienisch motivierte Kritik an den meist überbelegten innerstädtischen Kirchhöfen einerseits, der religiös-soziale Aufbruch der Reformationsbewegungen andererseits läuteten im 16. Jahrhundert – zumindest in den Städten – das schrittweise Ende der Kirchhofsbestattung ein. Nun entstanden reguläre Friedhöfe außerhalb der Städte. Im Zuge von Aufklärung, Reform und Bevölkerungswachstum kam es im 18. und 19. Jahrhundert zu weiteren Friedhofsverlegungen. Die Trägerschaft für die Friedhöfe ging tendenziell aus kirchlichen in kommunale Hände über. Die Einführung der modernen Feuerbestattung im Kontext von Industrialisierung, Technisierung und Urbanisierung hat die Rahmenbedingungen seit dem späten 19. Jahrhundert aufs Neue verändert. Die Bestattung wurde durch den Kremationsvorgang beschleunigt, die Aschenbeisetzung verminderte einerseits den Raumbedarf auf den Friedhöfen und erlaubte andererseits – zumindest theoretisch – eine Auffächerung der Bestattungsmöglichkeiten jenseits des Friedhofes. Im 20. Jahrhundert wurde die Friedhofs- und Grabstättenkultur in Deutschland von einer starken Bürokratisierung und Reglementierung geprägt. Dies resultierte aus einer kulturreformerisch orientierten Bewegung, die in der Zeit um den Ersten Weltkrieg einsetzte und sich zunächst kritisch gegen die als ausufernd empfundene sepulkrale Monumentalität der Kaiserreich-Epoche wandte. Unter dem Stichwort »Friedhofs- und Grabmalreform« führte sie letztlich zu einer über Friedhofssatzungen streng reglementierten Vereinheitlichung der Grabstätten. Der Friedhof wurde nun als sachlich-funktionales, ›organisches‹ Gesamtsystem
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verstanden. Gestalterisches Leitbild waren geometrisch-zweckrationale Formen, denen Friedhofsanlage nebst Vegetation und Grabstätten unterworfen wurden. Insgesamt wurden die Gräber – nicht zuletzt befördert durch die zunehmende Zahl von Aschenbeisetzungen – tendenziell verkleinert und typisiert. Zum vorherrschenden Grabmaltyp der Reform wurde die schlichte Stele (Neumann 2002). Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahmen sowohl die Bundesrepublik als auch die DDR die Leitlinien der Friedhofs- und Grabmalreform. Ihren vorläufigen Höhepunkt fand diese Miniaturisierung der Grabstätten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der anonymen Rasenbestattung bzw. den so genannten Urnengemeinschaftsanlagen. Sie bildeten erste Stadien zur räumlichen Neustrukturierung des Friedhofs jenseits von Einzel- und Familiengrabstätten (Helmers 2004; Happe 2009). Dies zunehmend überlagernd, spielt seit Beginn des 21. Jahrhunderts die Individualisierung und Exterritorialisierung der Bestattungs- und Erinnerungskultur eine immer bedeutendere Rolle. Dies gilt beispielhaft für die Ausdehnung der Bestattungs- und Erinnerungskultur in den öffentlichen Raum bzw. die freie (Natur-)Landschaft ebenso wie die tendenzielle Aufgabe der abgegrenzten Einzelgrabstätte. Dies zeigt, dass die namenlosen Rasenflächen den gesellschaftlichen und kulturellen Bedürfnissen der Gegenwart keineswegs genügten. Seit den letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts sind auch die Reglementierungen der Friedhofs- und Grabmalreform verstärkt kritisiert worden, weil sie eine individuelle Bestattungs- und Erinnerungskultur kaum zulassen. Alternativen ließen sich auf Grund der meist strengen Friedhofssatzungen vor Ort allerdings nur schrittweise realisieren. Noch Anfang 2015 forderte der Bestatter David Roth in einem Essay eine generelle Aufhebung der Reglementierungen und »absolute Freiheit für die Friedhöfe« (Roth 2015).
P ATCHWORK VON M INIATURLANDSCHAFTEN : D ER NEUE F RIEDHOF DES 21. J AHRHUNDERTS Allerdings sind einzelne, hier pionierhaft wirkende Friedhöfe schon seit einigen Jahren andere Wege gegangen. Haupttendenz ist die Auflösung der reglementierten Einzel- und Familiengräber und die neuartige, zumeist themenspezifische Modellierung von Miniaturlandschaften als Beisetzungsflächen. Dabei handelt es sich nicht immer, aber in der Regel um Aschenbeisetzungen. Ein frühes Beispiel bildet die Anlage ›Mein letzter Garten‹ auf dem Hauptfriedhof Karlsruhe (2003 eröffnet, 2007 erweitert). Diese naturnah-landschaftlich gestaltete Anlage
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wird von einem in Granitblöcken eingefassten Wasserfall dominiert, dem sich ein trocken gefallenes Bachbett als Symbol für das beendete Leben anschließt. Felssteine, geschwungene Wege, Bäume und Grünflächen prägen die abwechslungsreich gestaltete Fläche. Den Verstorbenen wird auf gemeinschaftlichen Erinnerungsmalen aus Stein und Holz namentlich gedacht. Die Karlsruher Anlage wies jener Gestaltung den Weg, die künftig immer stärker die neue Friedhofsstruktur prägen sollte: eigene, naturnah gestaltete Sonderanlagen innerhalb des Gesamtraumes Friedhof. Sie dokumentieren zugleich die auf soziale Wandlungsprozesse zurückgehende allmähliche Auflösung der traditionellen Familiengrabstätten. Vergleichbar sind die so genannten ›Memoriam-Gärten‹, die erstmals auf der Bundesgartenschau in Schwerin 2009 präsentiert wurden. Es sind nach naturbezogenen Gestaltungsprinzipien gebildete Miniaturlandschaften, zum Beispiel als Auengarten. Die einzelnen Grabstätten mit namentlicher Nennung der Verstorbenen werden auch hier ohne feste Abgrenzungen hineinkomponiert. Wurden die genannten Anlagen noch in die klassische Friedhofsstruktur integriert, so zeigen andere Beispiele deren gänzliche Auflösung. Dies gilt beispielsweise für die Aschenbeisetzungsanlage des ›Friedgartens Mitteldeutschland‹ in Kabelsketal bei Halle. Es ist ein homogen gestalteter Natur- und Kulturraum mit Einzel- und Gemeinschaftsgrabstätten. Durch individuelle Namensgebungen erhalten die einzelnen Bereiche eine spezielle Atmosphäre und Bedeutung. Eine vergleichbare räumliche Struktur gilt für den ›Freien Friedhof‹ des bereits erwähnten Bestatters David Roth in Bergisch Gladbach. Zu den wichtigsten neueren Entwicklungen innerhalb der klassischen Friedhofskultur zählen die so genannten Naturfriedhöfe (Sörries 2015b). Unter diesem Begriff, der von den unten noch zu beschreibenden Naturbestattungen in der freien Landschaft zu unterscheiden ist, werden Anlagen zusammengefasst, in denen nicht Einzel-, Familien- oder Gemeinschaftsgrabstätten den Raum strukturieren, sondern unterschiedliche Varianten möglichst naturnaher Landschaften. Leitbildhaft ist dieses Modell beim Naturfriedhof Tannöd in Fürstenzell bei Passau umgesetzt: Klassische Grabstätten sind nicht mehr zu erkennen. Vielmehr sind vielfältig gestaltete Erinnerungsorte in die Sepulkrallandschaft eingefügt. In der Zielrichtung ähnlich, aber stärker ökologisch orientiert ist die 2010 im südostholsteinischen Ahrensburg eingeweihte ›Wildblumenwiese‹. Es handelt sich um ein zwei Hektar großes, von der evangelischen Kirchengemeinde verwaltetes Areal, das als Aschenbeisetzungsanlage dient und seit der Einrichtung erweitert wurde. Sind dies Beispiele konsequent durchmodellierter Anlagen, so ist der 2006 eingerichtete ›Ohlsdorfer Ruhewald‹ eine fast unberührte kleine Waldlandschaft
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innerhalb des Parkfriedhofes (Schoenfeld 2010). In dem anfangs rund zwei Hektar umfassenden Mischwaldbestand liegen die Urnengräber um einzelne Bäume herum. Auf größere Pflegearbeiten wird verzichtet, um den ursprünglichen Charakter der Naturlandschaft zu erhalten. Die Namen der Verstorbenen können auf Tafeln, die an den Bäumen stehen, ebenso vermerkt werden wie Informationen zur Baumart. Dieser ›Ruhewald‹ geht – wie vergleichbare Anlagen auf anderen Friedhöfen – zurück auf jene Herausforderung, der sich die kommunalen und kirchlichen Friedhofsverwaltungen seit dem Aufkommen der Baumbestattung in freien Waldflächen ausgesetzt sehen (siehe unten Abschnitt 5). Der Rückgriff auf die Natur bei der Gestaltung von Friedhöfen ist keineswegs neu (Leisner 2005, 2015a). Erste landschaftliche Vorbilder für die Synthese von Tod und arkadischer Landschaft stammten aus dem späten 18. Jahrhundert. Der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau sah den Garten als idealen Schauplatz jener Verschmelzung mit der Natur, von der er die wahrhafte ideale Bildung des bürgerlichen Individuums erhoffte. Dies war ihm noch im Tod bedeutsam: Sein Inselgrab im Park zu Ermenonville (entstanden 1776-78) wurde zu einer vielbesuchten Pilgerstätte des gebildeten Bürgertums und fand etliche Nachahmer. Die Synthese von Tod und Natur ergriff im 19. Jahrhundert auch die Friedhöfe. Ihre Gestaltung – die zuvor nur vereinzelt gartenarchitektonische Besonderheiten erkennen ließ – orientierte sich nun zunehmend am Leitbild des englischen Landschaftsparks. Neben dem weithin als internationales Vorbild wirkenden Pariser Friedhof Père Lachaise sorgte die aus den USA kommende ›rural cemetery‹-Bewegung (zuerst in Mount Auburn, Cambridge, Massachusetts, 1831) für einen weiteren Ästhetisierungsschub. In Deutschland begann diese Entwicklung in den 1860er und 1870er Jahren mit den Friedhöfen in Schwerin, Kiel (Südfriedhof) und Bremen (Riensberg). Seinen Höhepunkt fand der ›englische Stil‹ im 1877 eröffneten Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg. In den Jahrzehnten nach seiner Eröffnung entwickelte sich dieser Landschaftsfriedhof dank reicher Ausstaffierung mit einheimischer und exotischer Vegetation zu einem elysischen Gefilde. Er wurde zum sepulkralen, international viel gerühmten ›Gesamtkunstwerk‹, das bis heute im landschaftlichen Gedächtnis die für das Kaiserreich so zeittypische Synthese aus Natur, Kultur und Technik speichert und die grundlegende Bedeutung der ästhetisch gestylten Natur für die Mentalität des bürgerlichen Zeitalters in sich aufgenommen hat. Damit hatte der Friedhof seine Blütezeit als zentraler Schauplatz von Bestattung, Trauer und Erinnerung erreicht. In den Familiengrabstätten des bürgerlichen Zeitalters entstand eine Art weltliche Unsterblichkeit. Diese Entwicklung hing zusammen mit veränderten Vorstellungen von der Zeit nach dem Tod, namentlich mit neuen, säkularisierten Imaginationen der Wege ins Jenseits. Als Kataly-
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sator wirkte eine durch die Malerei vorgeprägte Landschaftsästhetik, die Natur als arkadisches Idyll idealisierte. Die in der Kulturgeschichte seit langem verankerte Idee des Gartens als irdisches Paradies spielt hier eine wichtige Rolle. Landschaft wurde im bürgerlichen Zeitalter zum irdischen Ersatz für das verlorengegangene himmlische Paradies. Unter diesen Voraussetzungen konnte Landschaft in einer tendenziell sich säkularisierenden Gesellschaft Kompensation bieten für die allmählich verlorengehenden christlichen Auferstehungs- und Jenseitsgewissheiten. Im frühen 21. Jahrhundert werden diese Ansätze weiterentwickelt. Neben den oben dargestellten naturnahen Themenanlagen spielen hierbei auch besondere soziale Gruppen, die eine eigene gesellschaftliche Identität jenseits der klassischen Rollenmuster ausgebildet haben, eine wichtige Rolle. Dies geschieht auf allgemeiner wie auf besonderer Ebene. Die so genannten ›Paargräber‹ auf dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg (seit 2011) sind ein Beispiel dafür, wie sich neue Beziehungsformen jenseits von Ehe und Familie in eigens gestalteten Gemeinschaftsanlagen auf den Friedhöfen niederschlagen (vgl. auch Benkel/Meitzler 2013: 123ff.). Ein ungleich bekannteres, besonderes Beispiel für neue soziale Gemeinschaften, aber auch für innovative gartenarchitektonische Lösungen ist der eingangs bereits erwähnte ›Garten der Frauen‹ (ebenfalls Hamburg-Ohlsdorf). Die 2001 eröffnete Anlage vereint Grabstätten für Mitglieder des gleichnamigen Vereins mit museal aufgestellten historischen Grabdenkmälern bedeutender Hamburgerinnen. Damit wird er auch zum kulturhistorischen Freilichtmuseum. Zur Anlage gehören Erläuterungstafeln, Ruhebänke und vor allem vielfältige gartenarchitektonisch-gestalterische Elemente, die den Begräbnisplatz als naturnah modellierte Miniaturlandschaft erscheinen lassen. Der ›Garten der Frauen‹ ist ein frühes und repräsentatives Beispiel, wie sich neue soziale Beziehungsstrukturen im Friedhofsraum niederschlagen. Nicht zuletzt verkörpert der ›Garten der Frauen‹ die neuere Diversifikation des sepulkralen Raumes (siehe unten). In seiner Rolle als zugleich Freilichtmuseum und Bestattungsort bildet er eine besondere Gedächtnislandschaft, die Geschichte und Gegenwart vereint. Er ist Zeugnis der nun eingeläuteten Aufteilung des Friedhofs in zahlreiche partikulare, unterschiedlich gestaltete Sonderanlagen. So ist der ›Garten der Frauen‹ ein sepulkrales Abbild der sich wandelnden sozialen Beziehungen im frühen 21. Jahrhundert. Er spiegelt zudem die sepulkralästhetische Dimension eines neuen Umgangs mit Tod, Trauer und Erinnerung wider (Bake 2006). Bereits Mitte der 1990er Jahre wurden Gemeinschaftsgrabstätten für Menschen eingerichtet, die an AIDS verstorben waren (u.a. auf dem Kölner Melatenfriedhof und dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg). In Hamburg-Ohlsdorf wur-
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de 1995 auf Betreiben des Vereines Memento e.V. eine aus dem Jahr 1897 stammende, aber nicht mehr genutzte Grabstätte mit einem historischen Grabmal umgestaltet: Das denkmalgeschützte Monument wurde restauriert und mit dem Schriftzug »Memento« versehen (»Memento I«). Eine neu eingravierte Schleife symbolisiert Verbundenheit und Solidarität mit den Verstorbenen. Auf der Grabstätte sind jeweils die Namen der Toten aufgeführt. Für die Entwicklung einer neuen Bestattungs- und Erinnerungskultur bedeutsam sind die Gedenk- und Erinnerungsplätze früh- bzw. totgeborener Kinder (so genannte Stillgeburten). Dies zeigt beispielhaft der 2004 eingeweihte ›Sternengarten‹ auf dem Hauptfriedhof Mainz. Eine ähnliche, allerdings weitaus größere Bestattungs- und Erinnerungslandschaft für Kinder ist auf dem Zentralfriedhof Wien zu finden: der so genannte ›Babyfriedhof‹. Hier werden die klassischen räumlichen Strukturen des Friedhofes insofern aufgelöst, als neue Erinnerungsorte – wie ein Laternenkarussell – geschaffen wurden (das übrigens auch einen neuartigen Klangraum hervorbringt). Eine besondere Anlage zur Erinnerung an frühverstorbene Kinder ist im April 2015 in Wyk auf der nordfriesischen Insel Föhr vom Verein Verwaiste Eltern und trauernde Geschwister Schleswig-Holstein e.V. eingeweiht worden: die ›Himmelsbäume‹. In diesem Gedenkwald wird für jedes frühverstorbene Kind zu regelmäßigen gemeinsamen Terminen ein Baum gepflanzt. Ein früher im lokalen Hafen verwendeter, nun künstlerisch gestalteter Dalben bildet den Mittelpunkt des Gedenkwaldes (Heinen 2015). Gemeinschaftsanlagen für Fußballvereinsfans sind aus anderen Staaten, wie Großbritannien, seit längerem bekannt. In Deutschland wurde die erste Anlage auf dem Hauptfriedhof Hamburg-Altona 2007 mit dem stadionähnlich gestalteten ›HSV-Friedhof‹ eingerichtet. Drei ›Tribünenränge‹ dienen der Aufnahme der einzelnen Gräber für Anhänger des Hamburger SV. Die Fläche, die mit Unterstützung des Vereines angelegt wurde, befindet sich direkt gegenüber dem HSVStadion. In Gelsenkirchen entstand danach ein Schalke-04-Fanfeld (Herzog 2005, 2013, 2014). Gänzlich neue soziale Beziehungsmuster treten hervor, wenn die gemeinsame Bestattung von Mensch und Haustier praktiziert wird. Seit Mitte 2015 ist dies auf den Friedhöfen Dachsenhausen (Rheinland-Pfalz) und Essen-Fintrop (Nordrhein-Westfalen) möglich. Das Konzept unter dem Titel ›Unser Hafen‹ stammt von der Deutschen Friedhofsgesellschaft GmbH, die in Deutschland 15 Friedhöfe betreibt. Die Bestattung von Mensch und Tier im gemeinsamen Grab erfolgt hier ausschließlich als Aschenbeisetzung. Eine Hamburger Seebestattungs-Reederei bietet seit 2014 eine gemeinsame Seebestattung von Mensch und Tier an (Schonschek 2015).
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D ER DIVERSIFIZIERTE F RIEDHOF Wie die Entwicklung der letzten Jahre zeigt, gewinnt der Friedhof als kultureller Raum – und zusätzlich zur eigentlichen Bestattungsfunktion – eine immer größere Bedeutung. Eine wichtige Rolle spielen dabei kultur- und ortshistorische sowie pädagogische Aspekte. So gibt es mittlerweile auf fast allen größeren Friedhöfen museale Bereiche als Sonderflächen, in denen historische Grabdenkmäler neu aufgestellt und dokumentiert werden (Leisner 2015b; Thienel 2015). Auch bilden die klassischen Friedhöfe ökologische Nischen. Ökologisch wertvolle Areale werden zunehmend – beispielsweise in Zusammenarbeit mit Naturschutzorganisationen – als wichtiger Bestandteil betrachtet und dienen der gesellschaftlichen Aufwertung des Friedhofs. Dies gilt auch für die Einrichtung so genannter Naturschutzlehrpfade oder die gängige Praxis botanischer oder ornithologischer Führungen. Radikal aufgelöst wird die Tradition des Friedhofs als Bestattungsfläche im ›Park der Ruhe und der Kraft‹, der als Meditations- und Erholungsort auf dem Zentralfriedhof Wien Ende der 1990er Jahre angelegt wurde. Die Diversifikation des Friedhofsraumes lässt sich beispielhaft am Assistens Kirkegård in Kopenhagen beobachten. Auf Teilbereichen der Anlage entstanden neben den Bestattungsarealen unterschiedliche Funktionsflächen: Der museale Bereich umfasst historische Grabstätten aus dem ältesten Teil des 1760 eröffneten Friedhofs und der Kapelle und ist als Ensemble erhalten geblieben. Ein ›Gedächtnispark‹ (›mindepark‹) beherbergt ebenfalls kulturhistorisch bedeutende Grabstätten, dient aber zugleich der Erholung. Ein allgemeiner Park ist ausschließlich für Erholungs- und Freizeitzwecke vorgesehen (Leisner 2007). Einen vergleichbaren Weg geht der Ohlsdorfer Friedhof mit seiner langfristigen Entwicklungsstrategie ›Ohlsdorf 2050‹. Darin ist vorgesehen, den Friedhof sowohl als Gedenk- wie auch als Kultur- und Erholungsraum zu entwickeln. Im Hintergrund steht der verringerte Platzbedarf auf Friedhöfen: Der Anteil der Sargbeisetzungen sinkt kontinuierlich, große Familiengrabstätten werden kaum noch nachgefragt. Künftig wird, so erste Überlegungen, wohl nur noch ein kleiner Teil des knapp 400 Hektar großen Parkfriedhofes für Bestattungszwecke bewirtschaftet. Noch ist die detaillierte Ausarbeitung in der Konzeptionsphase, aber schon aktuell wird deutlich, dass die Grabdichte auf dem Friedhof im Vergleich zu heute deutlich verringert wird (Behörde für Umwelt und Energie 2015). Dass der Ohlsdorfer Friedhof nicht selten Pionierfunktion ausübt, hatte sich schon 2011 bei der Einweihung des ›Bestattungsforums Ohlsdorf‹ neben dem zu diesem Zweck umgebauten und erweiterten Krematorium des Architekten Fritz Schumacher gezeigt. Das Bestattungsforum entstand als Antwort auf
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veränderte Bedürfnisse. Es sieht die Bestattung als ganzheitlichen Vorgang: Kremation, Trauerfeier und Beisetzung können auf Wunsch an einem Tag durchgeführt werden. Bei den Trauerfeiern kann durch das neue räumliche Konzept auf individuelle Wünsche in besonderem Maße eingegangen werden, zum Beispiel dem Beiwohnen des Einäscherungsvorganges. Zugleich finden im Bestattungsforum Ausstellungen, Vorträge, Tagungen, Musik- und Tanzveranstaltungen u.ä. statt (Leisner 2012). Insgesamt wird deutlich, dass Friedhöfe künftig immer stärker eine über die eigentliche Bestattungsfunktion hinausgehende Bedeutung haben werden. Dass dies unter kulturhistorischen Aspekten der Fall ist, wurde anhand der Musealisierung der Grabsteinkultur bereits vermerkt. Eine wissenschaftliche Untersuchung der Kasseler Landschaftsarchitekten Martin Venne und Klaus Güß bestätigt zudem den hohen Tourismus-, Erholungs- und Freizeitwert von Friedhöfen (Venne/Güß 2015).
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F RIEDHOFS : Ü BER N ATURBESTATTUNGEN
Neben dem Wandel auf den Friedhöfen ist die Nutzung des öffentlichen Raumes bzw. der freien Landschaft das wichtigste Kennzeichen der Bestattungskultur des frühen 21. Jahrhunderts. Als herausragendes Beispiel unter der Kategorie der Naturbestattungen in der freien Landschaft ist die so genannte Baumbestattung in Bestattungswäldern zu nennen, die in Deutschland seit 2001 vorwiegend unter Markennamen wie ›Friedwald‹ und ›Ruheforst‹ privatwirtschaftlich vermarktet wird. Der Baum mit seinem Wurzelwerk in einem möglichst naturbelassenen Waldgebiet ist hier Grabstätte und Grabzeichen zugleich. Je nach ortsspezifischen Bedingungen und Anbieter ist es möglich, Zeichen von Trauer und Erinnerung zu positionieren. Dienten in der Frühzeit der Bestattungswälder lediglich Plaketten mit Nummern als Orientierungszeichen, so finden sich neuerdings immer häufiger Namensplaketten (Beispiel Friedwald Neukloster bei Buxtehude). Die als solche belassene Umgebung des Waldes soll weitgehend naturnah wirken, die Bestattungsflächen sind nur bei genauerem Hinsehen zu erkennen. Die Baumbestattung in der freien Landschaft kollidierte zunächst mit den Bestattungsgesetzen der einzelnen Bundesländer, bevor diese nach und nach entsprechend novelliert wurden. Inzwischen bieten auch reguläre, das heißt kommunale und kirchliche Friedhöfe solche Baumbestattungsflächen an, zum Beispiel der Friedhof Ohlsdorf in Hamburg als ›Ruhewald‹. Hier zeigt sich neuerdings, dass die Bäume auch als Ablageort für individuelle Erinnerungszeichen dienen (Eppler 2005; Assig 2007; Rüter 2011).
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Generell spielt der Trend zu Naturbestattungen, wie Baum-, Alm- und Bergbestattungen, seit Ende der 1990er Jahre eine immer wichtigere Rolle. In Deutschland stehen den Naturbestattungen – mit der oben erwähnten Ausnahme des Bundeslandes Bremen im Allgemeinen (das seit 1. Januar 2015 u.a. das Verstreuen auf besonders ausgewiesenen öffentlichen Flächen erlaubt) und der Baumbestattung in Waldflächen im Besonderen – die Bestattungsgesetze der Länder entgegen. Dies gilt jedoch nicht für die Seebestattung, die als reguläre Bestattungsart bereits seit den 1970er Jahren praktiziert wird und ebenfalls neue sepulkrale Orte geschaffen hat. Historisch blieb sie zunächst auf Grund besonderer, aus der Zeit der Segelschifffahrt stammender und hygienisch begründeter Privilegien jenen Seeleuten vorbehalten, die auf hoher See verstarben. Heute ist die Seebestattung sowohl eine besondere Form der Naturbestattung als auch der anonymen Bestattung (Fischer 2014). Der regulären Seebestattung geht eine Einäscherung in einem Krematorium voraus. Die Versenkung der wasserlöslichen Urne geschieht in speziell ausgewiesenen Gebieten, zumeist vor der deutschen Nord- oder Ostseeküste. Zwar setzt die Seebestattung eine amtlich-behördliche Genehmigung voraus, um die Entbindung vom Friedhofszwang für Beisetzungen zu erhalten, aber faktisch ist der Zugang zur Seebestattung im frühen 21. Jahrhundert gelockert worden. Die Seebestattung hat auch neue Formen der Erinnerungskultur hervorgebracht. Für häufig frequentierte Meeresgebiete, zum Beispiel Kieler Bucht und Lübecker Bucht an der Ostsee sowie Büsum an der Nordsee, werden jährliche Gedenkgottesdienste mit regelmäßigen Gedenkfahrten zur Beisetzungsposition angeboten. Hinzu kommen allgemeine Gedenkstätten, die einem bestimmten Seebestattungsgebiet zugedacht sind, jedoch nicht die Namen der Seebestatteten aufführen (zum Beispiel bei Travemünde an der Lübecker Bucht). Darüber hinaus bieten einzelne Friedhöfe die Möglichkeit, die Namen von seebestatteten Personen auf einem Gemeinschaftsdenkmal vermerken zu lassen. Dies ist u.a. in Westerland auf Sylt, auf der Insel Norderney und im Ostseebad Großenbrode möglich. Teilweise werden dabei auch die Koordinaten des Bestattungsortes auf See verzeichnet. Eine besondere Gedenkstätte für Seebestattungen mit namentlichen Kennzeichnungen wurde im Jahr 2011 von der Stadt Wilhelmshaven (Jadebusen/Nordsee) auf dem Rüstringer Berg eingeweiht. Unter dem Namen ›Seefrieden‹ besteht sie aus Holzstelen, die auf Messingtafeln die Namen der Seebestatteten mit den Geburts- und Sterbedaten sowie die Koordinaten des Seebestattungsortes tragen. Allgemein ist die Seebestattung ein wichtiges Beispiel für das zunehmende Auseinanderfallen von Bestattung einerseits, Gedenken andererseits. Die Verflüchtigung der Asche im Meer geht einher mit einer immer vielfältigeren Gedenkkultur an Land.
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Als wichtigste Tendenz der Bestattungs- und Erinnerungskultur im frühen 21. Jahrhundert bleibt die Entfaltung neuartiger, meist naturnaher Gedächtnislandschaften festzuhalten. Voraussetzung für die Beisetzung ist hier nicht zwingend, aber doch in aller Regel die Einäscherung. Sie hat sich als die grundlegende Bestattungsform erwiesen, da die Asche – im Gegensatz zu einem unkremierten toten Körper – theoretisch an jeden beliebigen Platz mitgenommen werden kann. Die Asche ermöglicht im Gegensatz zur Erdbestattung vielfältige Beisetzungsmöglichkeiten außerhalb der klassischen Friedhöfe. Man kann die Asche teilen und verschiedene Bestattungs- und Erinnerungsorte generieren (Mädler 2008: 73). Diese Flexibilisierung erleichtert sowohl die Überwindung der einzelnen Grabstätte als auch die Einbindung des Bestattungsortes in naturnahe Umgebungen. Werden nun die naturnahen Bestattungen von räumlicher und symbolischer Verdichtung geprägt, kann von einer Gedächtnislandschaft gesprochen werden – der Begriff ›Landschaft‹ hier verstanden als kulturell geprägter Raum, der unter jenem besonderen Interesse kreiert wird, über den einzelne soziale Formationen einen ästhetischen motivierten Konsens hergestellt haben.
P UBLIC M OURNING
UND DIGITALE
E RINNERUNGSKULTUR
Bisher wurde bereits deutlich, dass der klassische Friedhof im frühen 21. Jahrhundert nicht mehr alleiniger Schauplatz von Trauer und Gedenken ist. Dies gilt in besonderem Maße für jenes Phänomen, das unter dem Begriff Public Mourning bekannt geworden ist und zugleich als weiterer Indikator für das zunehmende Auseinanderdriften von Bestattungsort einerseits, Erinnerungsort andererseits gelten kann (Benkel/Meitzler 2013: 287ff.). Public Mourning bezeichnet unterschiedliche Varianten materialisierter Trauer in Form von improvisierten, nichtinstitutionalisierten Gedenkstätten. Ihre Kennzeichen sind spontane Entstehung, provisorische Gestaltung und temporäre Präsenz. Diese Orte materieller Trauerkultur stellen einen Gegenentwurf zur offiziellen Gedenkkultur dar, wie sie sich etwa in dauerhaften Denkmälern zeigt. Sie bilden in den meisten Fällen Schauplätze eines vorzeitigen, gewaltsamen Todes, wie er häufig durch Unglücksfälle geschieht. Die bekanntesten Varianten des Public Mourning bilden jene Gedenkstätten am Straßenrand, die im Allgemeinen als ›Unfallkreuze‹ oder als ›Kreuze am Straßenrand‹ bezeichnet werden (wenngleich sie nicht immer oder jedenfalls nicht allein aus Kreuzen bestehen). Auch Unglücksfälle, die nicht auf Verkehrsunfälle zurückgehen, fallen in diese Kategorie – ebenso Gedenkstätten für Opfer krimineller Gewalt.
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Mit den Unfallkreuzen wird Trauer und Gedenken direkt am Schauplatz der Tragödie materialisiert – zumindest für eine gewisse Zeit und in ausdrücklich provisorischer Form. Diese Unfallkreuze sind ein kreativer Akt der Trauer- und Erinnerungsarbeit im öffentlichen Raum des Straßenverkehrs, in den Trauer und Erinnerung mit einem lokalen oder auch regionalen Radius einfließen. In Deutschland sind sie seit den 1980er Jahren bekannt. Die Orte des Public Mourning können auch zu Schauplätzen von ritualisierten Gedenkveranstaltungen werden, etwa von jährlichen Trauerfeiern anlässlich des Todes- bzw. Unglückstages. Sie tragen eine hohe symbolische Bedeutung in sich, weil sie einerseits individuelle Orte der Trauer und Erinnerung sind und andererseits eine öffentliche Mahnung darstellen, denn sie sind auch für all jene präsent, die nicht zu den direkt Betroffenen gehören (Aka 2008; Belshaw/Purvey 2009). Eine besondere Form des Public Mourning bilden die Gedenkstätten für verstorbene Prominente. Ein bekanntes Beispiel ist das Memorial für den am 25. Juni 2009 verstorbenen Popmusiker Michael Jackson in München. Zu diesem Zweck wurde ein bereits bestehendes Denkmal auf dem Promenadeplatz vor jenem Hotel, in dem der Star in München gelegentlich übernachtete, umfunktioniert. Betreut von einer über Facebook organisierten Gruppe so genannter ›Denkmal-Feen‹ wird die Gedenkstätte regelmäßig gepflegt und mit neuen Erinnerungsrelikten versehen. Der Eindruck der Verwahrlosung soll vermieden werden. Die Stadtverwaltung München hat diese Umfunktionierung des öffentlichen Raumes toleriert (Michael Jackson-Memorial 2013). Ein anderes Beispiel betrifft den am 10. November 2009 durch Freitod aus dem Leben geschiedenen Fußballtorwart und Nationalspieler Robert Enke. Hier verwandelte sich der Bereich um das Stadion seines letzten Vereins Hannover 96 in der Zeit nach dem Tod in eine riesige provisorische Gedenkstätte. Später wurde in diesem Bereich eine Straße nach Robert Enke benannt. So ist die Eroberung des öffentlichen Raumes ein aufschlussreiches Indiz für einen neuen Umgang mit Trauer und Gedenken. Trotz ihres zweifellos provisorischen Charakters haben die Kreuze am Straßenrand wie auch die Gedenkstätten für Prominente eine wichtige gesellschaftliche Funktion. Anna Petersson zeigt in ihrer Dissertation über Public Mourning, wie wichtig die Materialisierung der Emotionen vor Ort ist, um den Tod des oder der Betroffenen zu realisieren und zu verarbeiten. Der programmatische Titel ihrer Arbeit (»Representing the Absent«) verweist darauf, dass die Materialisierung der Trauer im öffentlichen Raum der Reflektion über den oder die Verstorbene dient (Petersson 2010). Abschließend sei noch auf den digitalen Raum verwiesen, der ebenfalls eine ganz andere, lokal nicht gebundene Dimension von Öffentlichkeit und ebenfalls neue Muster der Trauer- und Erinnerungskultur hervorgebracht hat. Die Kultur-
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wissenschaftlerin Sabine Schaper untersuchte jüngst am Beispiel eines tödlich verunglückten Jugendlichen die Praktiken der Trauer- und Erinnerungskultur auf dessen Facebook-Profil. Als Akteure traten sowohl die Kernfamilie als auch der Freundeskreis auf. Bedeutsam waren vor allem die hohe Zahl der anteilnehmenden User, die Vielfalt der kulturellen Muster und die kommunikativen Beziehungen untereinander. Als bemerkenswert zeigte sich darüber hinaus die relative Langlebigkeit der auf Facebook vollzogenen Trauerbekundungen. Sie geschahen im Übrigen parallel zu den klassischen Formen der Trauer vor Ort: von der Leichenaufbahrung und Trauerfeier über die Beisetzung auf dem lokalen Friedhof, Grabgestaltung bis hin zu weiteren öffentlichen Trauerformen, wie einer schulischen Gedenkfeier. Insgesamt zeigt sich, dass digitale Praktiken die klassischen Formen der Trauer- und Erinnerungskultur nicht aufheben, sondern um neue Dimensionen erweitern (Schaper 2013, 2014). In diese Richtung verweist zugleich eine vorangegangene Studie von Katrin Gebert über »Erinnerungskultur im digitalen Zeitalter« (Gebert 2009). Traueranzeigen in der Tagespresse werden seit einigen Jahren immer häufiger digital veröffentlicht. Hier erweitert sich gegenüber der gedruckten Todesanzeige die Kommunikationsrichtung, denn online können – meist gegen Bezahlung – digitale Kerzen angezündet oder private Trauerbekundungen veröffentlicht werden. Bereits seit den 1990er Jahren sind so genannte virtuelle Friedhöfe und digitale Gedenkseiten bekannt. Manche Einträge umfassen seitenlange (Lebens-)Geschichten, persönliche Dokumente wie Tagebuchaufzeichnungen, Fotos, Videos, Musik, Erinnerungsobjekte (Schwibbe/Spieker 1999). Die Digitalisierung des Sepulkralen schreitet auch auf anderen Gebieten voran. So werden neuerdings von Steinmetzbetrieben Grabsteine mit QR-Codes angeboten. Sie ermöglichen es Grabbesuchern, mit ihrem Smartphone Websites aufzurufen, die Informationen über den Verstorbenen liefern. Auch eine Friedhofs-App gibt es inzwischen, sie bietet Informationen zu historisch bedeutenden Friedhöfen und Grabstätten in Deutschland.
R ESÜMEE Die neuartige Partikularisierung der Bestattungs- und Erinnerungskultur spiegelt gesellschaftliche Entwicklungen des 21. Jahrhunderts wider. Der klar abgegrenzte und definierte Raum des neuzeitlichen Friedhofes verliert zunehmend an Bedeutung, der öffentliche Raum bzw. die freie Landschaft werden zu Schauplätzen der Bestattungs- und Erinnerungskultur. Auch die klassischen Friedhöfe selbst befinden sich in einem grundlegenden Umbruch: Statt Einzel- und Fami-
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liengrabstätten strukturieren neuerdings immer mehr Aschenbeisetzungslandschaften und Gemeinschaftsgrabstätten mit ihrer speziellen ›corporate identity‹ den sepulkralen Raum. Der Friedhof entwickelt sich tendenziell zu einem Patchwork von Miniaturlandschaften. Hinzu kommt die Diversifikation des Friedhofsraumes jenseits seiner ursprünglichen Funktion als Bestattungsort mit der Musealisierung auf der einen, Kultur-, Tourismus- und Freizeitaktivitäten auf der anderen Seite. Beispiele für letztere sind Führungen für Besucher (auch ornithologische oder botanische), kulturelle Veranstaltungen sowie die Nutzung von Friedhofsflächen zu Erholungszwecken (etwa im Park der Ruhe und Kraft auf dem Zentralfriedhof Wien). Friedhöfe werden künftig immer stärker eine über die eigentliche Bestattungsfunktion hinausgehende Bedeutung haben. Parallel dazu hat sich die Bestattungs- und Erinnerungskultur im frühen 21. Jahrhundert neue Orte jenseits des klassischen Friedhofs erobert. Dabei spielen Natur und Landschaft eine bedeutsame Rolle. Zugleich resultiert daraus ein tendenzielles Auseinanderdriften von Bestattungsort einerseits und Trauer- und Erinnerungsort andererseits. Erinnerung und Gedächtnis bleiben ohne gesellschaftliche Relevanz, wenn sie nicht auch vermittelt werden – was bisher auf die Friedhöfe konzentriert war, wandert nun vermehrt in unterschiedlichen Materialisierungen in den öffentlichen Raum. Der in der Neuzeit ausgeprägten räumlichen Abgrenzung und Ausschließung, die sich im Sepulkralen in dem vor die Tore der Stadt verlegten Friedhof wiedergefunden hat, setzen die neuen Bestattungs- und Erinnerungsorte eine Verknüpfung mit den Räumen der Lebenden entgegen. Der Umgang mit den Toten, das heißt hier vor allem: die Bestattungs- und Erinnerungskultur, unterliegt also jenen allgemeinen gesellschaftlichen und kulturellen Wandlungsprozessen, durch die das postindustrielle Zeitalter gekennzeichnet ist. Deren Muster sind in der Regel individualistischer und pluralistischer als die des bürgerlichen Zeitalters. Die neuen Bestattungs- und Erinnerungsorte in der freien Natur und im öffentlichen Raum zählen nicht mehr zu jenem ausgegrenzten Anderen und Fremden, das der klassische Friedhof immer bedeutete.
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Die Topik gegenwärtiger Bestattungsformen Von der Heterotopie zur Atopie B ARBARA H APPE
E INLEITUNG Der außerörtliche Friedhof, der erst im ausgehenden 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand, war bis vor gut zehn Jahren der einzige Ort, auf dem bis auf wenige Ausnahmen alle Toten oder deren Aschenreste beigesetzt wurden. Seither hat der Friedhof diese uneingeschränkte Monopolstellung durch Friedwälder und andere Formen der Beisetzung in der freien Natur, wie die Seebestattung, aber auch durch die Urnen- oder Grabeskirchen eingebüßt. Für Michel Foucault ist der Friedhof das Beispiel einer Heterotopie schlechthin, eines anderen Ortes spezifischer Funktion innerhalb einer Gesellschaft. Als Philosoph lässt er sich bei seiner fast assoziativen Ableitung allerdings nicht von empirischen Daten leiten. Seine Typologie eines Friedhofes war schon vor 50 Jahren stark vom Friedhof des katholischen Frankreichs geprägt. Und seine Vorstellungen vom Friedhof befassen sich wenig mit seiner tatsächlichen Gestalt, seinen räumlichen Strukturen, der architektonischen oder landschaftsarchitektonischen Gestaltung, sondern er verbleibt in der Formulierung von Prinzipiellem. Foucault schrieb zwei berühmte Texte, Die Heterotopien und Andere Räume. Der erste aus dem Jahr 1966 basiert auf einem Radiovortrag, der zweite wurde 1967 in Tunesien verfasst, aber erst 1984 zur Veröffentlichung freigegeben. Er bezeichnet darin das 20. Jahrhundert als die Epoche des Raumes. Der Mensch lebe in einem vielfach unterteilten Raum mit unterschiedlichen Ebenen und Stufen, »mit harten und mit weichen leicht zu durchdringenden, porösen Gebieten« (Foucault 2013: 9f.). In jeder Gesellschaft gäbe es Räume, die anders sind. Es seien »Gegenplazierungen oder Widerlager« oder kurz die Heterotopien. »Es sind gleichsam Orte, die außerhalb aller Orte liegen, obwohl sie sich durchaus
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lokalisieren lassen« (Foucault 2007: 935). Als Gegenorte sind es Räume, die anderen Normen als der gesellschaftlichen Norm unterliegen, sie sind räumliche Gestaltungen von Alterität, reale Negationen des Raumes, in dem wir leben. Es sind Orte, »die sich allen anderen widersetzen und sie in gewisser Weise sogar auslöschen, ersetzen, neutralisieren oder reinigen sollen. Es sind gleichsam Gegenräume« (Foucault 2013: 10). So unterscheidet er zwischen dem Raum des Innen (espace du dedans) und dem Raum des Außen (espace du dehors), in dem sich die anderen Räume, die heteroi topoi befinden. Die heute in Deutschland scheinbar unaufhaltsamen Bestrebungen, sich vom Friedhof als einzigem Bestattungsort loszusagen, stoßen nicht nur bei Gewerbetreibenden als wirtschaftlichen Trägern der Bestattungskultur, sondern vor allem bei den Kirchen und bei wertkonservativen Kräften auf Widerstand und Skepsis, da sie den Verlust des Friedhofes als einem besonderen Ort des gemeinschaftlichen Trauerns, der rituellen Praktiken und der namhaften und kollektiven Erinnerung befürchten. Sie wollen an einem Bestattungsort als einem ›anderen‹ Raum mit eigenen Qualitäten und einer eigenen Gefühlslage festhalten. Diese Vorstellungen und Ideale sind mehr oder weniger explizit mit dem, was Michel Foucault als den »anderen Ort«, als Heterotopie beschrieben hat, verknüpft. Es stellt sich nun die Frage nach der kategorischen Anwendung von Heterotopie auf den Friedhof und insbesondere, inwieweit die heutige Bestattungskultur in Deutschland noch mit den Begriffen von Foucault beschrieben werden kann. Erfüllen der Friedhof, der Friedwald, das Meer oder die anderen Bestattungsoptionen noch die Funktion eines Gegenortes zum Alltäglichen? Oder hat sich die Bestattung besonders im letzten Jahrzehnt vom Heterotop zum Atop, einem Ort, der seine spezifische Funktion nicht mehr zu erkennen gibt, entwickelt? Es geht also auch um die Beurteilung der topischen Qualitäten der heutigen Bestattungsorte und ihrer gefühlsräumlichen Sonderstellung.
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EINE
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In seinem Radiovortrag von 1966, in dem er die Heterotopologie, d.h. die Beschreibung des anderen Raumes als »neue Wissenschaft« ins Leben gerufen hat, nennt Foucault fünf Grundsätze. Der erste besagt, dass Heterotopien zwar universell, aber in ihrer Konfiguration nicht konstant und homogen sind. Foucault unterscheidet hier zwischen Krisen- bzw. Abweichungsheterotopien. Zu den letzteren zählen heutzutage z.B. psychiatrische Kliniken, Altersheime, Gefängnisse oder Erholungsheime.
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Der zweite Grundsatz betrifft die Differenz der heterotopischen gegenüber anderen Räumen und ihrer Wandlungsfähigkeit. Als »offenkundigstes Beispiel« für den »absolut anderen Ort« (Foucault 2013: 13) nennt er den Friedhof, der sich von allen anderen kulturellen Orten beträchtlich unterscheide und gleichzeitig mit der jeweiligen Gesellschaft eines Dorfes oder einer Stadt in Verbindung steht, da jede Familie dort Gräber von Verwandten hat. »Bis ins 18. Jahrhundert hinein bildete er das Herz der Stadt und lag mitten im Stadtzentrum, gleich neben der Kirche. Aber man maß ihm keinerlei feierliche Bedeutung bei« (ebd.). Mit der Verlegung der Friedhöfe im 19. Jahrhundert sind die Friedhöfe »nun nicht mehr der heilige und unsterbliche Geist der Stadt sondern die ›andere Stadt‹, in der jede Familie ihre dunkle Bleibe besitzt« (Foucault 2007: 938). Beim dritten Grundsatz wird die Fähigkeit der Heterotopien beschrieben, an einem einzigen Ort mehrere, an sich unvereinbare Platzierungen und Räume zu vereinen. Als ältestes Beispiel hierfür nennt Foucault den Garten, der die Totalität der Welt auf kleinstem Raum abbildet. Der vierte Grundsatz betrifft den Umgang mit der Zeit und zwar das Brechen mit der herkömmlichen Zeit als wesentlicher Voraussetzung für die Funktionalität von Heterotopien. Diese sind untrennbar mit den Heterochronien verbunden. »So ist der Friedhof der Ort einer Zeit, die nicht mehr fließt« (Foucault 2013: 16). »So wird auch deutlich, dass der Friedhof tatsächlich ein hochgradig heterotoper Ort ist, denn er beginnt mit jener seltsamen Heterotopie, die der Verlust des Lebens für den Einzelnen darstellt, und mit jener Scheinewigkeit, in der er sich unablässig auflöst und verschwindet.« (Foucault 2007: 939)
In dieser vierten Form der Heterotopie wird die Zeit gespeichert, Friedhöfe sind also gewissermaßen Sammelstellen, in denen die Zeit aufgehoben ist, und dieses unablässige Anhäufen von Zeit wie auch in Museen, Archiven oder Bibliotheken bezeichnet Foucault als ein Merkmal der Moderne. Durch die endlose Speicherung der Zeit wird ihre räumliche Gleichzeitigkeit erzeugt. Die »Idee, einen Raum aller Zeiten zu schaffen, als könnte dieser Raum selbst endgültig außerhalb der Zeit stehen, ist ein ganz und gar moderner Gedanke« (Foucault 2013: 16). Als fünftes Merkmal besitzen die Heterotopien schließlich ein System von Schließungen und Öffnungen, das sie in ein bestimmtes Verhältnis zur Umgebung setzt. Es sondert sie von den sie umgebenden Räumen ab, sie werden exklusiv und gleichzeitig wird der Zutritt in den anderen Raum, ggf. zu rituellen Handlungen, markiert. So kann eine Verbindung von Innenraum und Außenraum
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erfolgen. Die Heterotopie ist somit ein System von Exklusion und Inklusion. »Das Andere der Heterotopie ist von daher nicht einfach als Andersheit zu denken, sondern auch als Zusammenfügung des Differenten und Anderen« (Tafazoli/Gray 2012: 13). Und genau dies ist für das Verhältnis von Lebenden und Toten ja von eminenter Bedeutung. Für Foucault ist der Friedhof somit das Paradebeispiel einer Heterotopie, hier wird der Endlichkeit des menschlichen Lebens etwas entgegengesetzt. Die Utopie ist ein Ort jenseits aller Orte, an dem der Körper zum Verschwinden gebracht werden soll. »Diese Utopie ist das Land der Toten« (Foucault 2013: 27). Grabskulpturen und Bilder verwandeln Körper und halten die Verstorbenen in ihrer ewigen Jugend fest. »Und heutzutage gibt es diese einfachen Marmorquader, in Stein geometrisierte Körper, regelmäßige weiße Figuren auf der großen schwarzen Tafel der Friedhöfe. In dieser utopischen Totenstadt erhält mein Körper die Festigkeit von Dingen und die ewige Dauer eines Gottes.« (Ebd.)
Der Übergang vom Leben zum Tod muss gestalterisch bewältigt werden, damit dem Fremden ein Platz in unserer Welt zugewiesen werden (Gerhardt 2007: 23) und dieser geordnet werden kann.
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MACHT EINEN
F RIEDHOF
ZUM
H ETEROTOP ?
Michel Foucault legt seiner Definition des Friedhofes als Heterotop einige allgemeine idealtypische Merkmale zugrunde, die am außerstädtischen Friedhof des 18. und 19. Jahrhunderts orientiert sind. Er spricht vom Friedhof als der »anderen Stadt«, die mit allen Orten der Stadt, der Gesellschaft oder des Dorfes in Verbindung (Foucault 2007: 937) stehe. Mit der zunehmenden Individualisierung auf dem Friedhof des 19. Jahrhunderts und dem Aufkommen des Einzelgrabes erhält jeder ein »Anrecht auf seine eigene kleine Kiste und seine ganz persönliche Verwesung« (Foucault 2013: 14). Der Friedhof ist der Ort, wo jede Familie ihre eigenen Gräber besitzt, womit er zum Spiegel der Gesellschaft der Lebenden wird. Hier erfolgt dann auch die Speicherung der Zeit wie in einem Museum und die Konstruktion von Scheinewigkeit, die mittels Grabskulpturen und Grabmälern erzeugt wird. Als wesentlich für den anderen Ort erweist sich das System von Öffnungen und Abschließungen, das den anderen Ort von seiner Umgebung separiert und zugleich den Zugang zu ihm ermöglicht.
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Der Friedhof ist immer wieder als ein fest definierter und materiell markierter Ort bezeichnet worden, der sich eindeutig von der übrigen Lebenswelt abgrenzt. Seine Separation vom übrigen Stadtraum ist ein zentrales Moment innerhalb der topischen Festlegung (Gerhardt 2007: 163) durch die topographische Trennung zwischen Diesseits und Jenseits. Die Geographin Andrea Gerhardt geht sogar so weit zu behaupten, dass der Friedhof erst durch die Einfriedung zum Friedhof werde (ebd.). Er ist der Ort, auf dem Trauer praktiziert und Erinnerung zeichenhaft gemacht wird und er ist ein Ort der Kommunikation mit den Toten. Grabsteine dienen der Verortung und sind der Versuch, das Abwesende anwesend zu machen. Sie sind somit ein Zeichen gegen die Vergänglichkeit. Wenn man die Grenzziehung zwischen der Sphäre der Lebenden und der Toten als eine wesentliche Bedingung für die Existenz des »Sonderraums« Friedhof, wie Jürgen Hasse es formulierte, ansieht, so ist die Umfriedung eine unerlässliche Voraussetzung. Denn erst die materielle Grenzziehung vermag ein Inneres herzustellen, in welchem die Gefühle eine Ordnung erlangen bzw. »in dem namentlich den Gefühlen trotz ihrer Abgründigkeit und uferlosen Ergossenheit mehr oder weniger eine Heimstatt gewiesen ist, die sie menschlichem Verfügen eher zugänglich macht« (Hermann Schmitz, zit. nach Hasse 2005: 330). Selbstverständlich zählen hierzu auch die Eingangssituationen, die als architektonisch besonders gestaltete Schwellenelemente den Eintretenden den Übertritt in eine »andere« Welt sinnlich wahrnehmen lassen.
D ER HEUTIGE F RIEDHOF IN D EUTSCHLAND – EIN HETEROTOPER O RT NUR UNTER DEN B EDINGUNGEN DES F RIEDHOFSZWANGES ? Auf dem Friedhof werden trotz der Fliehkräfte der Nutzer heutzutage nach wie vor 95% aller Verstorbenen in Deutschland beigesetzt (vgl. Happe/Jetschke/ Schulmann 2012), aber seine räumlichen und symbolischen Qualitäten haben sich in den letzten Jahrzehnten beträchtlich verändert. Selbst der seit 1934 im Reichsgesetz erlassene, sogenannte Friedhofszwang, d.h. die Beisetzungspflicht von Leichnamen und Urnen auf einem Friedhof, wurde durch eine Gesetzesnovelle im Bundesland Bremen aufgehoben, nach der seit dem 1. Januar 2015 die Bürger von Bremen und Bremerhaven erstmals die Asche von Verstorbenen unter bestimmten Auflagen, d.h. in ausgewiesenen öffentlichen Räumen sowie auf privaten Grundstücken, also im eigenen Garten, verstreuen dürfen. Anlässlich der tektonischen Verschiebungen in der Bestattungskultur und dem zunehmenden Pluralismus von religiösen Deutungssystemen hat die Deut-
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sche Bischofskonferenz im Jahre 2005 den Text Tote begraben und Trauernde trösten. Bestattungskultur im Wandel aus katholischer Sicht herausgegeben. Darin wird speziell im Hinblick auf die neuen Bestattungsorte wie den Friedwald und die anonymen Bestattungen die Notwendigkeit eines Friedhofes als abgegrenzter Bezirk bekräftigt. Von Friedhofskultur könne man nur sprechen, »wenn der Friedhof eindeutig und klar als solcher zu erkennen ist, wenn die Bestattung der Toten und die Erinnerung an sie im Mittelpunkt stehen« (Deutsche Bischofskonferenz 2005: 52). Und: »Als abgegrenzter Raum macht er deutlich, dass die Trennung von den Verstorbenen notwendig ist und auch innerlich vollzogen werden muß« (ebd.: 71). Aus Gründen der Humanität sei es dabei »unverzichtbar, dass Begräbnisorte gleichsam im Sichtbereich der Lebenden liegen, um in diesen so das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit wach zu halten« (ebd.: 71). Und die Achtung vor den Toten gebiete es, dass man ihre Namen auf das Grab schreibe (ebd.: 16), denn jede Form der Anonymisierung trage dazu bei, den Tod unsichtbar zu machen (ebd.: 26); »Trauer wird ortlos« und es greife eine zunehmende »Geschichtslosigkeit« um sich (ebd.: 27). Die katholische Kirche, die sich als Gemeinschaft der Lebenden und Toten versteht, sei deshalb auch Trägerin eines fortdauernden kulturellen Gedächtnisses, das der Zeichenhaftigkeit und einer Verortung bedarf. »Durch das Angebot textlicher und ikonographischer Elemente kann der Friedhof den Charakter eines ›Gegenortes‹ gewinnen« (ebd.: 48). Diesen expliziten Bezug auf Foucault erwartet man nicht unbedingt von der katholischen Kirche, belegt aber umgekehrt, dass Foucault eigentlich den katholischen Friedhof in Frankreich beschrieben hat.
D IE E INDEUTIGKEIT DES F RIEDHOFES ALS ANDEREM R AUM HAT NACHGELASSEN – D IE F RIEDHÖFE SIND VOM P ATHOS DES T ODES BEFREIT Bereits im späten 19. Jahrhundert, als die landschaftliche Gestaltung auf den Friedhöfen Einzug hielt, wurde diese kritisiert, weil die parkartigen Szenerien die Gräber und damit auch den Tod angeblich kaschieren. In der Stildiskussion über die friedhofsarchitektonische Gestaltung nach der Jahrhundertwende attackierten die Anhänger des architektonischen Friedhofs wie etwa Peter Behrens oder Hermann Muthesius u.a. die landschaftlichen Anlagen wie z.B. den einst hoch gelobten Friedhof in Hamburg-Ohlsdorf als »Vertuschungssystem« und »Gartenstadt des Todes« und priesen dagegen die »Wesenhaftigkeit« und »Wahrhaftigkeit« der regelmäßigen Grundrissformen. So heißt es immer wieder, dass mit der Anlage von Waldfriedhöfen zu Beginn des 20. Jahrhunderts die
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Verdrängung des Todes aus dem Friedhof geradezu programmatisch betrieben werde (Hoemann 1907: 27ff.). In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg nahm der Friedhof eine Entwicklung, die ihn als Heterotop zunehmend verhüllte. Sekundärfunktionen wie ökologische Anforderungen, biologische Artenvielfalt oder die Komposition landschaftlich ansprechender Szenerien rückten als Gestaltungsprämissen in den Vordergrund, so dass sich das Schlagwort vom Friedhof als ›grüne Lunge‹ des großstädtischen Lebens mit einer Erholungsfunktion für die Bürger zusehends etablierte. So entstanden beispielsweise in Berlin Neuanlagen mit großräumigen Landschaftsachsen, die nicht der Bestattung dienten. In den 1970er und 1980er Jahren sollten dann die Friedhöfe vor allem die Grünflächenbilanz der Städte verbessern und Gründefizite in dicht besiedelten Räumen kompensieren oder gar der Biotopvernetzung und Klimaverbesserung dienen. Es bestand Konsens darüber, dass die Friedhöfe auf das Landschafts- und Ortsbild abzustimmen seien und mit der umgebenden Landschaft zu verschmelzen, ja sich ihr möglichst unauffällig unterordnen zu hätten, weswegen sie vielfach hinter einem dichten Grüngürtel verborgen wurden. Martin Spiekermann hat in seiner Diplomarbeit 29 Wettbewerbe für Friedhofsneuanlagen ausgewertet und gezeigt, dass der landschaftsarchitektonische Typus der vorherrschende im Untersuchungszeitraum von 1956 bis 1983 ist. In den Bundesbaugesetzen wurden die Friedhöfe lediglich als Grünflächen eingestuft und deren Funktion als Orte der Trauerbewältigung nicht einmal erwähnt, was natürlich Auswirkungen auf die Planung und Gestaltung hatte (Spiekermann 1989: 32). Im Vordergrund der Planungen stand also die Morphologie des Friedhofes und nicht seine Funktion, die landschaftliche Gestaltung wurde zum Selbstzweck. Selbst kleinere Friedhöfe in ländlichen Regionen wie etwa der sogenannte Wiesenfriedhof in Pliezhausen (Württemberg) oder der Bergfriedhof Lindenberg im Allgäu wurden als naturnahe Anlagen konzipiert, die den Begräbnisplatz mit dem äußeren Landschaftsraum verschmelzen ließen (Happe 2003: 208). Diese Entwicklung wurde von etlichen Architekten und Landschaftsarchitekten durchaus kritisch beurteilt, die dem Friedhof seine unverwechselbare Qualität einer Architektur des Todes zurückgeben wollten. Exemplarisch belegen dies einige markante Plädoyers. Günther Pfeifer hat unter direktem Bezug auf Foucault mit der Erweiterung des Bergfriedhofes 1991 in Maulburg im Schwarzwald einen radikal der Welt abgewandten Raum geschaffen. Mittels Sichtbeton, groben Schotterflächen und rohen Felsblöcken wird hier die »Gewalttätigkeit« des Todes schonungslos symbolisiert. Seine Raumdisposition bildet ein Kontinuum unterschiedlicher Räume, das von der Dialektik von Drinnen und Draußen geprägt ist.
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Pfeifer bemängelte, dass die »heutige Alltagsarchitektur der Friedhöfe ausgestattet [sei] mit den Chiffren des Freizeitbetriebes. Die Orte sind austauschbar und verwechselbar geworden, sie ähneln oft Bootshäusern, Sport- oder Freizeitzentren« (Pfeifer 1994: 114). Er war der Überzeugung, dass die Architektur für den Tod, als eine Architektur der evokativen Leere, sich mit dem Schweigen, der Stille und der Leere auseinandersetzen müsse. »Sie sollte sich jeglicher weltlicher Chiffren entziehen und versuchen, mit Distanz und Reduktion das Nichts darzustellen, in dem man das Schweigen mit dem Toten erleben und erfühlen kann […] Eine Architektur der Leere ist eine Architektur der Distanz; sie muss eine distanzierte Option sein, keine Anbiederung und keine Aufdrängung. Der Ausgrenzung muss ein architektonischer Ausdruck gegeben werden, um die Grenzen erlebbar zu machen.« (Ebd.: 116)
Auch der bedeutende Landschaftsarchitekt Dieter Kienast, der etliche Friedhöfe entworfen hat (u.a. in Fürstenwald bei Chur; vgl. Happe 2005), wollte dem Friedhof seine unmissverständliche Identität als Ort des Todes und der Trauer wiedergeben. Er bemängelte das Konzept der Park- und Waldfriedhöfe, auf denen ein weiterer Schritt zur Verdrängung des Todes aus dem Friedhof getan werde und wo unauffällige Grabzeichen in geringer Belegungsdichte von gartenkünstlerischer Meisterhand vollends ihrer Wirkung enthoben würden. Trotz der sinnvollen stadtökologischen Prämissen an die Begräbnisplätze war er davon überzeugt, dass der »Totenkult im Zweifelsfalle zugunsten ökologischer Forderungen vernachlässigt« werde und dass durch eine »ausschließlich naturnahe Friedhofsgestaltung das Bezeichnende des Friedhofs verloren« gehe (Kienast 1999: 49). Er prägte den treffenden Begriff vom »unsichtbaren Friedhof«, auf dem das Naturschöne dominiere und die Präsenz des Todes negiert werde. Nachdrücklich forderte Kienast, dass die Friedhöfe äußerlich erkennbar in Erscheinung treten sollten und wieder zu Merkpunkten werden müssten. Die kultische Funktion müsse in den Mittelpunkt der Gestaltung stehen, um dem Friedhof seine Authentizität und Unverwechselbarkeit zurückzugeben. Er zweifelte zudem an, dass der Friedhof sich künftig zur Erholungsfläche entwickeln werde, da der Anteil der Besucher, die keine Grabstätte aufsuchen, mit 10 bis 15% relativ niedrig sei. Seine Zweifel belegen Erhebungen, laut denen weniger als 10% der Besucher diese Funktion wahrnehmen, zumal die Friedhöfe ja meist weitab von Siedlungsgebieten liegen (vgl. Spiekermann 1989: 52). Der Architekt Max Bächer, der sich zeitlebens mit sepulkralkulturellen Fragen befasst hat und selbst Friedhöfe, Friedhofsbauten und Krematorien baute (wie zuletzt 1992 den Friedhof Heiligenstock in Frankfurt am Main), verwahrte
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sich entschieden gegen »Hübschheit, Unscheinbarkeit und Bescheidenheit gegenüber dem Tode« und gegen eine »Tränendrüsenarchitektur«. Für ihn war die Abkehr vom Landschaftsgarten unabdingbar und in der von ihm favorisierten Formensprache sollten Eindeutigkeit und Großzügigkeit regieren. Dies hat er in Heiligenstock eindrucksvoll realisiert, dessen Anlage durch markante Schwellenelemente wie einen dunkelblauen Torbau, einen monumentalen Kuppelbau für die Trauerfeierlichkeiten und markante Totenhäuser zur Aufbahrung der Verstorbenen und eine ausgeprägte Wegearchitektur charakterisiert ist. Max Bächer sandte mir während unseres mehrjährigen Briefwechsels folgenden Kommentar zu seiner Architektur des Todes zu: »Mauer und Tor bezeichnen Schwelle und Übergang von der einen in die andere Welt. Die hohe Mauer trennt den Landschaftsraum des Friedhofs vom Alltag, schafft ein Drinnen und ein Draußen. Der Torbau verwehrt den Einblick, der sich erst beim Durchschreiten des Portals öffnet«
und in die andere Welt hinüberführt. »Eine andere Welt von eigener Ordnung, die man von einer Schicht zur anderen durchschreitet. Wer sie wieder verläßt, soll diesen Ort durch die Inschrift im Gedächtnis behalten: ET IN ARCADIA EGO«. Besser und präziser hätte die Beschreibung dieses anderen Ortes nicht ausfallen können. Sein Wunsch nach Eindeutigkeit und Prägnanz für die Formensprache der Friedhöfe lautet (Bächer 1978: 11): »Archaisches statt Geistreichem Lapidares statt Eleganz Rauhes statt Lieblichkeit Erhabenes statt Schönem Sprödigkeit statt Gefälligkeit Zurückhaltung statt Sentimentalität Distanz statt Vertraulichkeit Ungeschminktheit Statt Verschleierung«.
Ob die von den hier zitierten Architekten und Landschaftsarchitekten geforderte Kehrtwende in der Anlage und Gestaltung von Friedhöfen auf breiter Ebene befolgt wurde, lässt sich nicht abschließend beurteilen. Immerhin gibt es Projekte die, wie ich an anderer Stelle gezeigt habe, diesem Plädoyer gefolgt sind und wo
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die Gestalter versucht haben, den Friedhof als anderen Ort aus dem Alltag auszugrenzen und ihn mit einer eindringlichen Symbolik und Architektur spirituell aufzuladen (vgl. Happe 2005). Eine radikale Form eines heterotopen Bestattungsortes sind die Urnenkirchen, die inmitten der Städte einen schon immer anderen Ort, nämlich die Kirchen, seit 2006 als »Friedhof« nutzen. Mit den Urnen- oder Grabeskirchen wurden Orte geschaffen, die dem Wunsch der Nutzer nachkommen und ihnen – neben pragmatischen Vorteilen – Räume mit einer besonderen Spiritualität und einer besonderen Atmosphäre der Geborgenheit bieten. Die eindringliche und überzeugende Gestaltung der Urnenkirchen scheint dem Anderen viel mehr Rechnung zu tragen als die vielfach als zu belanglos empfundenen Friedhöfe (Happe 2012: 125ff). Der anhaltende Erfolg der Urnenkirchen zeigt sich somit in der stetig steigenden Anzahl von als Urnenfriedhöfen genutzten Kirchenräumen. Fazit: Mit der seit dem späten 19. Jahrhundert einsetzenden Landschaftsgestaltung auf den Friedhöfen, die einerseits den Friedhof als Park- und Grünzone für künftige Generationen gestalten und gleichzeitig die seinerzeit kritisierte Qualität der damaligen Grabmalkultur verdecken sollte, wurde der Großstadtfriedhof zum Aufgabengebiet der öffentlichen Grünplanung. Dieser Trend setzte sich nach dem Zweiten Weltkrieg fort. Die für die 1970er und 1980er Jahre nachgewiesene Dominanz der landschaftsarchitektonischen Anlagen, bei denen die Eingliederung in den Landschaftsraum die Friedhöfe zu sinnentleerten Grünflächen verkommen lässt, haben dem Begräbnisplatz seinen Charakter als einem »anderen Ort« im Foucaultʼschen Sinne weitestgehend genommen. Umfriedungen und Mauern, die den Schutzraum Friedhof markieren, wurden bewusst dem Postulat des Naturschönen und einer wie auch immer gearteten meist faden Ästhetisierung geopfert. Der Friedhof wird, überspitzt formuliert, zur austauschbaren Grünfläche banalisiert, die seine eigentliche Bestimmung als einem Ort der Begegnung mit dem Tod negiert.
H ETEROTOPIE
DER
G RABLAGE
Das angesprochene System von Schließungen und Öffnungen, das den Friedhof als Ganzes von der Umgebung separiert, betrifft natürlich auch den Mikrokosmos der einzelnen Grabanlage, die bekanntlich lange Zeit Umfriedungen in Form von Hecken, kleinen Mäuerchen, Zäunen oder steinernen Einfassungen aufwiesen. Damit wurde der Raum der Grabstätte auch hinsichtlich der Pflege besonders abgegrenzt und als kleiner Innenraum vom Außenraum getrennt. Die gusseisernen und schmiedeeisernen Grabumfriedungen, Gitter, Ketten und Ket-
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tenständer auf den mehrstelligen Familiengräbern und Erbbegräbnissen des späten 19. Jahrhunderts markierten unmissverständlich diese Grenze zwischen Grab und Friedhof und wiesen damit das Grab als »Privatbesitz« und intimen Gedenkstätte im öffentlichen Raum aus. Die »Anhäufung von Blumen, Kränzen und Lampen innerhalb dieser Einfriedungen und auch der Pomp zum Allerseelentag mit der Bewachung der Gräber wurden zu Bestandteilen dieser gesellschaftlich verabredeten Rituale«, bemerkt die Kunsthistorikerin Steffi Röttgen über den südlichen Friedhof in München (Röttgen 1984: 295). Die Grabgitter wurden im Zuge der Friedhofsreformbewegung, die derartige Parzellierungen ablehnte und einer dirigistischen Gleichheitsästhetik anhing, untersagt. Nach dem Zweiten Weltkrieg genoss das Ideal des Rasenfriedhofes bei ›progressiven‹ Landschaftsarchitekten und Planern große Akzeptanz. Heutzutage sind Grabeinfassungen in vielen Friedhofsordnungen verboten, da sie dem geforderten Gemeinschaftsgedanken und der Gleichheitsästhetik zuwiderlaufen und zudem die Pflegemöglichkeiten der Friedhofsträger erschweren. Auch bei maßgeblichen Gestaltern sind Grabeinfassungen unerwünscht und als kleinbürgerliche Attitüde der Besitzmarkierung verpönt. So legten auf dem 1971 angelegten Bergfriedhof Lindenberg im Allgäu die Architekten besonderen Wert darauf, das Einzelgrab in die Natur einzubetten und alles zu vermeiden, was »unnatürlich« wirken könne. »Hierzu gehört, dass das Grab allseitig von Rasen umgeben ist und nicht durch hohe Steineinfassungen von seiner Umgebung isoliert wird« (Hagel 2015: 196). Die federführenden, »progressiven« Architekten der 1960er Jahre waren nahezu einhellig der Überzeugung, dass auf »individuelle Absichten« und »auf jedes durch Menschenhand gestaltete Beiwerk in Stein und nicht gewachsene Material verzichtet« werden solle (Happe 2012: 102). Zur weiteren Auflösung der Grenzen an der individuellen Grabstätte zählen auch die in jüngster Zeit entstandenen Memoriam-Gärten, die von Steinmetzen und Friedhofsgärtnern erstmals auf der Bundesgartenschau 2009 in Schwerin vorgestellt wurden. Es handelt sich um kleine Gartenareale auf Friedhöfen mit persönlichen Grabmälern, die in die Gartenlandschaft eingebettet sind und von den Friedhofsgärtnern dauerhaft gepflegt werden, um den Nutzern die Grabpflege zu ersparen. Die Grabstelle wird hier zum Bestandteil des öffentlichen Grüns und erlaubt nicht mehr die Absonderung als privater Trauerraum.
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Abb. 1: Familiengrab und anonymes Gräberfeld. Quelle: Thorsten Benkel/Barbara Happe. Illustratorische Bearbeitung: Jonas Lauströer.
Im Zuge der Einführung der Feuerbestattung ist der Wunsch nach einer Kennzeichnung der Grabstätte bereits stetig zurückgegangen. Durch das »Abstreifen des Leiblichen« bei der Kremation und die schnelle technische Zersetzung der menschlichen Überreste beim Verbrennungsvorgang, die den Verstorbenen nur mehr als ein Häufchen Asche repräsentiert, verringert sich offensichtlich der Wunsch nach einem zeichen- und dauerhaften Grab. Die Anhänger der Feuerbestattung hatten dies zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht nur prognostiziert, sondern auch propagiert und zur Abschiednahme vom Grab als einer archaisch-primitiven Vorstellung von der Wohnung des Toten aufgerufen (Happe 2012: 95ff). Feuer- und Erdbestattung scheinen demzufolge unterschiedliche Voraussetzungen für den Grabkult zu bieten. Der Anthropologe Geoffrey Gorer hat dies für Großbritannien in den 1960er Jahren exemplarisch belegt und gezeigt, dass bei 40 Feuerbestattungen nur in einem Fall ein Grabstein errichtet wurde. Er schloss daraus, dass »cremation is chosen because it is felt to get rid of the dead more completely and finally than does burial« (zit. nach Spiekermann 1989: 20). Durch das Aufkommen der anonymen Bestattung in den 1970er Jahren, d.h. durch Urnenbeisetzung in einem Gemeinschaftsfeld ohne oberirdische Kennzeichnung der Einzelgrablage, hat der Friedhof weiterhin an symbolischer Prägnanz verloren. Bei der anonymen Bestattung wird auf eine eindeutig lokalisierbare Grablage in Form eines Familien- oder Wahlgrabes verzichtet. Die Beisetzung in den namenlosen Gemeinschaftsfeldern erfolgt in Urnengräbern mit einer Grabgröße von 25 x 25 cm oder 40 x 40 cm, worüber die Friedhofsverwaltungen einen sogenannten Beisetzungsnachweis in Form eines Rasterverzeichnisses führen, der aber den Hinterbliebenen nicht zugänglich ist. Eine persönliche Grabpflege ist auf diesen Feldern demzufolge von wenigen Ausnahmen, bei denen der Grabort nummeriert wurde, weder notwendig noch möglich. Nur an zentralen Ablageflächen oder an den Rändern der namenlosen Gemeinschaftsfelder kann der den einzelnen Toten zugedachte Blumenschmuck hinterlegt werden.
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Auf dem Urnenrasenfeld abgelegte Blumengrüße, Grablichter, Porzellanengel oder andere Memorabilien, dort wo die Hinterbliebenen das Grab ihrer Angehörigen vermuten, werden in der Regel von den Friedhofsverwaltungen auch aus praktischen Gründen entfernt, da sie der verfügten Anonymität der Grablage zuwider laufen.1 Die fehlende Lokalisierbarkeit der Einzelgrabstätte entspringt dem Bedürfnis nach völliger Befreiung und Entgrenzung, denn wie die Studie von Traute Helmers über die Motive bei der Wahl einer anonymen Bestattung zeigt, empfinden einzelne der befragten Probanden Grabumrandungen als persönliche Einengung (Helmers 2004: 107, 158). Was hat sich hier im Vergleich zum traditionellen Familien- oder Einzelgrab geändert? Durch den Verzicht auf eine Kennzeichnung und Markierung der persönlichen Grabstätte und durch den fehlenden Wunsch nach einer symbolischen Verortung des Toten mittels einer gekennzeichneten Grabstätte verliert der Friedhof als Ganzes natürlich elementare heterotope Merkmale. Eine Episode bei Josef Winkler veranschaulicht dies: »Mit dem roten Tretroller jagt das Kind den fliehenden Eichkätzchen hinterher. [...] Ich bitte Sie, sagte eine neben mir auf der Bank sitzende Witwe, lassen Sie doch das Kind nicht mit dem Tretroller über den grünen Rasen fahren, denn hier werden die Urnen Verstorbener vergraben, die anonym beigesetzt werden wollen«. (Winkler 2003: 115)
Das Zeichensystem Friedhof wird sich durch die Zunahme anonymer Bestattungen und aufgrund des damit verbundenen Wegfalls vom Grab als materiellem Zeichenträger, wie es beispielsweise die Semiotikerin Silvia Koch schon 1989 prognostizierte, nicht auflösen (Koch 1989: 133). Denn der räumliche Bezug zum Verstorbenen wird bei einem anonymen Grab ja nicht gänzlich aufgehoben, sondern er verlagert sich vom konkreten Ort des Einzelgrabes auf ein weitläufigeres konturloses Areal innerhalb des Friedhofes, das letztlich auch andere (kollektive) Formen der Trauerarbeit zulässt. Hasse spricht diesbezüglich von einer relativen Enträumlichung (Hasse 2005: 344). So scheint es, dass der Friedhof, um es mit dem Vokabular von Foucault auszudrücken, zunehmend von »weichen, leicht zu durchdringenden, porösen Gebieten« durchsetzt wird. Seine Zei-
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Stellvertretend für viele Orte siehe etwa die Definition in der Friedhofssatzung der Ortsgemeinde Seelbach vom 4. Juli 2011: »Anonyme Reihengrabstätten sind äußerlich nicht in Erscheinung tretende Gräber in einem hierfür vorgesehenen Grabfeld, das ausschließlich als Grünfläche ohne Hinweise auf die Verstorbenen und ohne Grabeinfassung gestaltet wird. Die Pflege der Grabstätten erfolgt durch die Gemeinde. Eine Kennzeichnung der Gräber erfolgt nur in einem Belegungsplan«.
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chenhaftigkeit, die im späten 19. Jahrhundert mit der repräsentativen Grabmalkultur ihren Höhepunkt erreichte, wobei die Trauer im öffentlichen Raum des Friedhofs zur Schau getragen wurde, wird zusehends reduziert. Stattdessen etablierte sich eine Kultur des Natürlichen, welche die Merkmalsintensität des »anderen Ortes« verblassen lässt. Durch den Verzicht auf das Speichermedium eines zeichenhaften Grabes geht aber vor allem der Mechanismus der Heterochronie verloren, der Akkumulation sowie des Einfrierens wie auch des Brechens mit der Zeit. Grabsteine sind die materielle Grundlage für die Konservierung der Erinnerung und es ist unklar, inwieweit beispielsweise virtuelle Gräber diese Funktion übernehmen können.
N EUE HETEROTOPE O RTE : D ER F RIEDWALD DIE S EEBESTATTUNG
UND
Als konsequente Fortsetzung der skizzierten Entwicklungen erfreut sich die Beisetzung im Naturraum seit der Jahrtausendwende eines großen Zuspruchs. 2001 entstanden in Deutschland die ersten Friedwälder, gefolgt von Ruheforsten und anderen Waldarealen oder Parks, in denen Urnenbeisetzungen erfolgen. Mittlerweile werden etwa 2% aller Verstorbenen in der freien Natur beigesetzt.2 Das Leitbild der Betreiberfirmen von Waldbestattungen ist die Natur und die Natürlichkeit, die keine Grenzen, Einfriedungen, Mauern oder dergleichen kennt. Die Ursprungsidee des Friedwaldgründers Ueli Sauter ist die Entgrenzung und die Aufhebung des Zeichenhaften, nicht das Festhalten an einer Scheinewigkeit mittels zeichenhaften Gedenkens, sondern die Auflösung des Körperlichen und die Verwandlung seiner Restbestände in »Natur« (Happe 2010). Hier wird also bewusst auf das System der Abschließungen und Ausgrenzungen als eines konstituierenden Merkmals eines Heterotops verzichtet. Der Friedwald ist ein Raum ohne Grenzen und kein besonderer Raum, der Alltagsferne erzeugen soll. Hier etabliert sich so etwas wie Georg Simmels »Grenzwüste« (Simmel 1995), nämlich ein Territorium, das frei ist von allen Ansprüchen auf Besitznahme oder Aneignung. Der Ort des Grabes verflüchtigt sich, er wird nicht symbolisch markiert und ist gemäß der Ursprungsidee von Sauter zunächst zeichen-
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So verfügt die Friedwald GmbH über ein Netz von 56 Standorten und die Ruheforst GmbH betreibt 60 Standorte. Im Friedwald wurden seit 2001 rund 67.006 Bestattungen vorgenommen. 2015 wurden dort 12.024 Aschen beigesetzt. Im Ruheforst wurden bis Dezember 2013 32.000 Aschen beigesetzt. Der Ruheforst verfügt über keine aktuelleren Zahlen.
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los. Doch gerade an der konsequenten Zeichenlosigkeit wird der Friedwald von der Realität eingeholt. Die Bestattungsbäume unterscheiden sich mittlerweile zumindest durch eine kleine Marke von den anderen Bäumen. Und die Friedwälder werden zunehmend »besiedelt«. Es begann mit wilden Anpflanzungen von Blumen an den Bestattungsbäumen oder dem Hinterlegen von Erinnerungsstücken in Form kleiner Porzellanherzen, Engel, Windräder etc. Kinder heften Zeichnungen an die Bäume ihrer Großeltern. Heute wollen kirchliche und hier im Besonderen protestantische Ambitionen dem Friedwald mehr topische Qualitäten verleihen und ihn mit rituellen Inszenierungen aufladen. Die Bäume werden mit christlichen Symbolen markiert, es werden Gedenkgottesdienste und andere Aktivitäten wie sogar Taufen in den Wäldern veranstaltet und Hochkreuze und rudimentäre Altäre in Form von Baumstümpfen werden aufgestellt, um potentiellen »naturreligiös-immanentisierenden Reinkarnationsvorstellungen« (Kirchenamt der EKD 2004) das christliche Zeugnis der Auferstehung entgegenzusetzen. Die Gegensätze und Trennungen und der einem Heterotop charakteristische Dualismus von Innen und Außen wurden im Friedwald kurzfristig durch eine höhere Durchlässigkeit und Grenzverwischung aufgehoben, doch die jüngsten Bestrebungen können als Beleg der »stummen Sakralisierung« gewertet werden, die nach Foucault (zit. nach Barck 1992: 37) die gängigen Raumvorstellungen immer noch prägen. Die Beisetzung von Menschen auf hoher See, die ursprünglich eine Notbestattung für an Bord der Schiffe verstorbene Menschen war, erfährt ab den 1970er Jahren, zeitgleich mit dem Aufkommen der anonymen Bestattung, eine gewisse Akzeptanz und wird seither mit kontinuierlich ansteigenden Zahlen kommerziell durchgeführt. Unter einer Seebestattung versteht man heutzutage die Beisetzung einer mit Sand oder Kies beschwerten, wasserlöslichen und biologisch abbaubaren Urne auf hoher See. Das Aufkommen der Seebestattung dürfte bei ca. 1% liegen, genaue Erhebungen gibt es nicht. Die Beisetzungen folgen einem »seemännischen« Reglement; entscheidend ist, dass den Hinterbliebenen eine Gedenkurkunde mit der genauen Position der Urnenversenkung ausgehändigt wird. In einer der typischen Ansprachen heißt es: »Der Verstorbene hat sich für seine Asche das Verlöschen im weiten Meer ersehnt, die Rückkehr in die Zeitlosigkeit, die Heimkehr ins Meer, aus dem alles Leben gekommen ist. Er wollte keinen Grabstein und kein Denkmal, keinen Anspruch an die Lebenden«. (Jennerich 2003: 24)
Die Seebestattung scheint also die Wünsche nach Auslöschung der leiblichen Überreste und ihrer örtlichen Verankerung zu versinnbildlichen. Denn hier ent-
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fallen alle Bezugspunkte für ein ortsgebundenes und fest umgrenztes Totengedenken (wie auf dem traditionellen Friedhof), was von denjenigen Menschen, die eine Seebestattung verfügten, vermutlich als Begrenzung und Einengung empfunden wird. Gleichwohl wird auch bei Seebestattungen neuerdings der Versuch unternommen, die bewusste Verfügung und den Wunsch der Verstorbenen nach einer »Ent-Örtlichung«, wie Marc Augé es formulierte, zu »korrigieren«, indem etwa die Seebestattungs-Reederei Hamburg 2007 einen Gedenkstein für die in der Lübecker Bucht beigesetzten Urnen errichtete. Am Rüstrower Berg an der Nordseeküste wurde 2011 ferner die Gedenkstätte »Seefrieden« im Rahmen einer ökumenischen Andacht eingeweiht (Happe 2012: 165). Selbst auf Friedhöfen gibt es mittlerweile die Möglichkeit, die Namen von auf See bestatteten Menschen und sogar die Koordinaten ihres Beisetzungsortes auf einem Gemeinschaftsdenkmal verzeichnen zu lassen (vgl. Fischer 2015: 13). Die als Bestattungsareale genutzten »Nicht-Orte«, die sich im Unterschied zu Friedhöfen durch das Fehlen von Geschichte, Relation und Identität auszeichnen und sich elementar vom anthropologischen Ort mit seinen identischen, relationalen und historischen Eigenschaften unterscheiden, sollen durch diese Eingriffe wieder den Charakter von Heterotopen erhalten.
ATOPE B ESTATTUNGEN : AUSSTREUUNGEN Die radikalste Form einer atopischen Bestattung sind Ascheverstreuungen. Diese sind gemäß dem in Deutschland bestehenden ›Friedhofszwang‹ außer in Bremen nur auf Umwegen möglich. Wie viele Menschen in Deutschland von der Möglichkeit Gebrauch machen, ihre Asche ins Ausland transportieren und sie dort verstreuen zu lassen, ist unbekannt und derzeit eine irrelevant niedrige Zahl. Aber immerhin bieten einige Bestatter sogenannte ›Naturbestattungen‹ im Ausland an. Der deutsche Kaufmann Dieter Kapelle wirbt mit seinem wohlklingenden Firmennamen Oase der Ewigkeit mit verschiedenen Serviceangeboten, z.B. mit der Ascheverstreuung auf Almwiesen in der Schweiz oder mit BergbachBestattungen, bei denen die Asche in die Rhone gestreut wird, um dann bis zum Mittelmeer gespült zu werden. Zu seinem Angebot gehören auch Ausstreuungen in Schweizer Seen oder Luftbestattungen. Da seine Kunden ausschließlich Deutsche sind, nimmt er die Verstreuungen meist in Abwesenheit der Angehörigen vor. Von der Möglichkeit der Ascheverstreuung auf Streuwiesen innerhalb von
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Friedhöfen wird bislang nur wenig Gebrauch gemacht; so finden etwa in Dortmund jährlich 15 Ascheverstreuungen statt.3 Dass es auch den umgekehrten Weg gibt, ist eine Randnotiz wert, denn am 1. Oktober 2015 wurde in Hamm das erste hinduistische Gräberfeld eröffnet. Dort sollen künftig neben der im Hinduismus üblichen Körperbestattung von Priestern oder kleinen Kindern vor dem Zahndurchbruch erstmals auch Urnen beigesetzt werden. Die üblicherweise im Hinduismus praktizierte atopische Ausstreuung in Fließgewässer, die in Deutschland nicht erlaubt ist, hat nun für die Hindus eine neue Kultur der Beisetzung erzeugt. Hier findet also erstmals eine Hinwendung zum Friedhof und zum eigenen, zeichenhaften Grab statt. Ein Beispiel aus Norwegen, wo vor einigen Jahren ein Gräberfeld für Hindus eingerichtet wurde, aber kurz darauf der Friedhofszwang fiel, weshalb es dort nie zu einer hinduistischen Bestattung auf einem Friedhof kam, deutet indes auf eine Art erzwungene Akkulturation hin.
S CHLUSS Die Dynamik und Vielfalt von Bestattungsweisen hat in Deutschland in den letzten Jahrzehnten zugenommen und der Friedhof als Heterotop hat Konkurrenz durch andere Erinnerungsorte und -medien bekommen. Die hierfür in der Säkularisierung und Individualisierung der Bestattungswünsche zu suchende Ursache ermöglicht es Menschen in Deutschland zunehmend, bestehende rituelle Bindungen zu durchbrechen. Seit dem Erscheinen des Aufsatzes von Michel Foucault, der sich im Wesentlichen auf die katholischen Friedhöfe in Frankreich bezieht, haben sich in Deutschland die Bestattungsverhältnisse nachhaltig verändert. Neue Formen von Bestattungsörtlichkeiten aber auch die schiere Ortlosigkeit, die in der Folge entstanden sind, führen zwangsläufig zu einem Verlust an Zeichen und ›Zeitreisen‹.
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Auch in der zeitgenössischen Belletristik wird die Ascheverstreuung thematisiert, so in dem Roman Glücklich die Glücklichen von Yasmina Reza, wo Ernest Blot seiner Frau anträgt, dass sie seine Asche in einen Wasserlauf streue, weil ihm Bestattungsrituale und andere »Affentheater« zuwider seien und die Dinge zum Verschwinden gemacht seien. »Alles wird fröhlich vom Wasser davongetragen« (Reza 2014: 59ff.).
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Die anonyme Bestattung zwischen Individualisierung und Entindividualisierung N ICOLE S ACHMERDA -S CHULZ
Das Bild der Friedhöfe hat sich in den letzten Jahrzehnten wesentlich verändert. Statt – zumeist christlich geprägten – traditionellen Erinnerungsritualen und Trauerbräuchen zu folgen, werden zunehmend ›individuelle‹ Bestattungen und Grabformen gewählt (vgl. Benkel 2012). Eine in ihrem Ausmaß immer bedeutendere Form zeitgenössischer Bestattungskultur ist die sogenannte anonyme Bestattung, die sich dadurch auszeichnet, dass die Kennzeichnung der individuellen Grablage entfällt. Wie die Zunahme anonymer Bestattungen den Raum Friedhof verändert und welche individuellen Ursachen und Motive hinter der Entscheidung für eine anonyme Bestattung stehen, ist Gegenstand des vorliegenden Beitrags.
D IE Z UNAHME ANONYMER B ESTATTUNGEN IN D EUTSCHLAND Seit den 1970er Jahren nehmen die Anteile anonymer Bestattungen auf den Friedhöfen stetig zu. In manchen Regionen – insbesondere in den neuen Bundesländern – werden heute sogar mehr als die Hälfte aller Beisetzungen auf kommunalen Friedhöfen anonym durchgeführt. Durchschnittlich erfolgte bundesweit im Jahr 2009 fast jede dritte Bestattung auf kommunalen Friedhöfen anonym (vgl. Sachmerda-Schulz 2010). Aber auch auf kirchlichen Friedhöfen steigen die Anteile anonymer Grabstätten stetig (vgl. Evangelische Kirche von KurhessenWaldeck 2012). Die Zunahme anonymer Bestattungen wandelt den Raum Friedhof sichtbar: Statt traditioneller Gräber finden sich nun immer mehr anonyme
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Bestattungsfelder auf den Friedhöfen, die oftmals kaum als Grabanlage markiert sind. Allerdings sind die Regelungen für anonyme Friedhofsbestattungen weder auf Bundes- noch auf Länderebene einheitlich. Letztlich bestimmt die Friedhofsverwaltung über die jeweilige Art und Weise der anonymen Bestattung, weshalb deren Gestaltung auf dem Friedhof sehr unterschiedlich ausfällt. Am häufigsten wird die anonyme Bestattung als Urnenbeisetzung auf großen Grabgemeinschaftsflächen durchgeführt. Diese Gesamtfläche kann durch ein zentrales Grabmal markiert sein, die einzelnen Urnengräber aber sind nicht erkennbar und dürfen nicht individuell geschmückt werden. Das Niederlegen von Grabschmuck ist ausschließlich an dafür vorgesehenen, zentralen Stellen erlaubt. Das anonyme Grabfeld ist zumeist nur mit Rasen bewachsen, der ausschließlich von der Friedhofsverwaltung instandgehalten wird, wodurch die Grabpflege für die Angehörigen entfällt. Aus dieser Art der Gestaltung anonymer Beisetzungsflächen folgt auch die weit verbreitete Redeweise von der ›Bestattung auf der grünen Wiese‹. Anonyme Bestattungen gibt es jedoch ebenso außerhalb von Friedhöfen in Form von Naturbestattungen, deren Anteile ebenfalls stetig zunehmen. Aufgrund der eher restriktiven Bestattungsgesetzgebung sind Naturbestattungen in Deutschland ausschließlich als Seebestattung oder als Bestattung in einem dafür zugelassenen Waldstück gesetzlich erlaubt. Beide Formen sind zudem nur als Urnenbeisetzung zulässig. Bei der Seebestattung entfällt natürlich die Kennzeichnung des Grabes, womit die individuelle Grablage nicht auffindbar und das Grab zwangsläufig anonym ist.1 Auch bei den Waldbestattungen wird das individuelle Grab nicht gekennzeichnet, um den ›naturbelassenen‹ Eindruck zu bewahren. Die Bäume können auf Wunsch zwar mit kleinen Schildern versehen werden, aber die eigentliche Grabstätte liegt etwa drei Meter entfernt vom Baum und wird nicht markiert. Wie bei den anonymen Friedhofsbestattungen nehmen auch die Anteile der See- und Waldbestattung stetig zu: Seit den 1970er Jahren steigen die Zahlen der Seebestattungen jährlich (Happe 2012: 163). Laut Schätzungen liegt der Anteil an der Gesamtzahl der Bestattungen aber noch bei unter einem Prozent (Sörries 2009: 225). Dagegen beläuft sich der Anteil der Waldbestattungen im Jahr 2013 auf insgesamt circa fünf Prozent aller Verstorbenen – und hat sich damit im Vergleich zum Jahr 2009 mehr als verdoppelt (vgl. Aeternitas 2014). Dieser Trend wird auch in einem starken Zuwachs an Bestattungswäldern deutlich. Das bekannteste Beispiel für Bestattungswälder ist die Firma FriedWald, die im Jahr 2001 den ersten Bestattungswald in Deutschland eröffne-
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Allerdings sind die Koordinaten bekannt und die Reedereien bieten dorthin Erinnerungsfahrten an.
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te. Im Jahr 2015 betreute sie bereits 56 eigene Bestattungswälder.2 Zusammen mit weiteren, ebenfalls kommerziell erfolgreichen Anbietern von Bestattungswäldern ergibt sich für die Friedhöfe somit erstmals eine ernst zu nehmende Konkurrenzsituation. Dieser anhaltende Trend zu anonymen Bestattungen auf dem Friedhof und in der Natur verändert die Bestattungskultur nachhaltig. Wie die zur Personalisierung neigenden neuen Bestattungsvarianten, bei denen die Individualität des Verstorbenen im Vordergrund steht, weicht auch die anonyme Bestattung in ihrer Form klar von der traditionellen Bestattung ab, was als Ausdruck eines Prozesses von Enttraditionaliserung bzw. Individualisierung gedeutet werden kann. Gleichzeitig gibt es bei der anonymen Bestattung keinen Verweis auf den individuellen Beisetzungsort, wodurch die tote Person bzw. die individuelle Grablage für die Angehörigen wie für die Öffentlichkeit nicht mehr auffindbar sind und eine Form von Entindividualisierung des Verstorbenen impliziert wird. Wie konnte die anonyme Bestattung zum Trend werden? Und welche Ursachen und Motive stehen hinter einer solchen Bestattungsentscheidung? Diesen Fragen wird in den nächsten Abschnitten anhand von ausgewählten Interviewausschnitten mit Personen, die sich selbst für eine anonyme Beisetzung auf dem Friedhof oder in der Natur entschieden haben, nachgegangen.3 Insgesamt wurden 21 Interviews als offene Leitfadeninterviews in Anlehnung an das Verfahren der Grounded-Theory-Methodologie nach Strauss und Corbin (1996) durchgeführt und analysiert.
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ALS SELBSTBESTIMMTE
Die Analysen von Interviews mit Personen, die sich anonym bestatten lassen wollen, zeigen ein zentrales Ergebnis: Die Interviewten wählen die anonyme Bestattung, da diese für sie eine selbstbestimmte Wahl darstellt. Dies bezieht sich zum einen auf den Kontrast der anonymen Bestattung zur traditionellen Beisetzung innerhalb der geltenden deutschen Bestattungsgesetze. Zum anderen wollen
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Vgl. http://www.friedwald.ch/friedwald/index.shtml; Zugriff am 5. Februar 2016. Die Interviews wurden im Rahmen meines Dissertationsprojektes geführt (vgl. Sachmerda-Schulz 2016). Die Interviewten wurden mittels offener Leitfadeninterviews befragt. Ziel der qualitativen Analysen war es, die motivationalen Ursachen individueller Entscheidungen für eine anonyme Bestattung herauszuarbeiten.
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sie über die Anonymität bei dieser Bestattungsform Selbstbestimmung und Kontrolle nach dem Tod realisieren. Die in Deutschland gültigen Bestattungsgesetze werden von den Befragten häufig als sehr einengend wahrgenommen und aufgrund dessen kritisiert. Für den Interviewpartner Patrick E. ist es etwa von grundsätzlicher Bedeutung, dass die Bestattung individuell gestaltet sein darf – und das unabhängig von Ansichten anderer: »Was Würde für einen ist, bestimmt man selber. Wenn man etwas gegen den Willen anderer Leute macht, ist es würdelos, egal wie würdevoll es aussieht. Wenn jemand heimlich, still und leise unter die Erde möchte und man kommt mit Pömb und Pompos und macht einen mit Trompetensaus, ist das unwürdig. Für jemand anders, da ist es vielleicht ganz toll. Es geht immer um das- um denjenigen, was der derjenige selber empfindet. Und nicht darum, was irgendwie irgendwelche, was weiß ich, irgendwelche Muftis oder irgendwelche Pfarrer oder irgendwelche Moraltheologen oder so, da meinen, was gut und richtig ist. Und deshalb sollte da auch halt wirklich mehr Freiheit gegeben werden.« (Patrick E.)
Für Patrick E. geht es also weniger um die Frage, ›wie‹ ein Mensch bestattet werden möchte als darum, die Selbstbestimmung des Verstorbenen nach seinem Tod zu erhalten, indem die Bestattung gemäß seiner subjektiven Wünsche durchgeführt wird. Als ›Gegenstück‹ zu den eigenen Bestattungswünschen nennt er die Vorgaben geistlicher Würdenträger. Damit bezieht er sich auf religiöse Vorgaben zu Tod und Bestattung, die er als ›überholt‹ bewertet, da sie nicht die individuellen Wünsche und Bedürfnisse der verstorbenen Person berücksichtigen. Traditionen und insbesondere kirchliche Bestattungspraktiken lehnen viele Interviewte ab, da sie diese als standardisiert und damit als unpersönlich empfinden. Beispielsweise äußert die Interviewpartnerin Hilde O. über kirchliche Bestattungen: »Das ist so Nullachtfünfzehn, ne? Immer dasselbe. Das sagt mir überhaupt nicht zu.« (Hilde O.) Den Interviewten ist es wichtig, dass der Verstorbene bei der Bestattung individuell behandelt wird. Viele Interviewpartner sehen auch den Friedhof als einen Ort der Standardisierung, wie etwa Frank S.: »Diese einzelnen Gräber, die da so nebeneinander sitzen, so so konform irgendwie nebeneinander hocken. […] So dieses Nebeneinander und jeder so den gleichen Stein« (Frank S.). Frank S. sieht in einem Friedhof einen Ort der Gleichförmigkeit, wo ein individuell gestaltetes Grab nicht verwirklicht werden könne. Zwar sind es »einzelne« Gräber, aber für Frank S. sieht jeder Stein gleich aus, weshalb man die individuellen Grabstätten letztlich nicht voneinander unterscheiden könne. Neben der Standardisierung sind soziale Kontrolle und Sanktionierung weitere Aspekte, die von den Interviewten
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negativ mit dem Raum Friedhof verbunden werden. Die Interviewpartnerin Melanie M. beschreibt dies wie folgt: »Jeder guckt, diese Woche war die gar nicht aufm Friedhof und hat geharkt oder es wurden noch gar keine neuen Blumen gepflanzt und das Gesteck, na das ist bestimmt von Aldi oder so. Also da wird so richtig drüber hergezogen und das ist was, was mir total gegen den Strich geht und das sind halt alles so Dinge, die ich eigentlich nicht möchte.« (Melanie M.)
Melanie M. hat sich daher – ebenso wie Frank S. – für eine Waldbestattung entschieden. Den Bestattungswald sieht sie gegenüber dem Friedhof als einen Bestattungsort der Freiheit und Individualität: »Die Sache im Wald ist halt so natürlich, da kann man eigentlich machen, was man möchte, nur nicht pflanzen und ja, das kam mir sehr entgegen. Und wenn man möchte, kann man da halt hinfahren als Angehöriger und wenn da halt niemand hinfährt, ist das auch ok.« (Melanie M.)
In der Wahrnehmung von Melanie M. kann im Bestattungswald nicht von anderen bewertet werden, wie häufig das Grab besucht wird, was sie als Freiheit ansieht. Das Verbot, das Grab zu schmücken, stellt für sie keinen Widerspruch zu dieser Freiheit dar. Sie bezeichnet es sogar als Vorteil, vermutlich, da mit dieser Regel die Grabpflege komplett entfällt, was wiederum den Grabbesuch aus freiem Willen der Angehörigen und nicht allein aufgrund der Notwendigkeit der Grabpflege ermöglicht. Für die Interviewten kann die anonyme Bestattung also dazu beitragen, Selbstbestimmung und Individualität über den Tod hinaus zu erhalten. Andererseits wird bei der anonymen Bestattung aber die Individualität der beigesetzten Person symbolisch ausgelöscht. Die Interviewten wollen mit ihrer Bestattungsentscheidung jedoch nicht einfach die Unauffindbarkeit ihrer individuellen Grabstätte sicherstellen, sondern möchten vorwiegend selbst bestimmen und kontrollieren, was nach ihrem Tod mit der Ruhestätte ihrer Überreste geschehen soll. Damit können sie einem absoluten Kontrollverlust, der in sozialer Hinsicht mit dem Tod einhergeht, entgehen. Dies ist über die anonyme Bestattung beispielsweise deswegen möglich, da hier den Hinterbliebenen die Möglichkeit entzogen wird, auf die Grabstätte in irgendeiner Weise Einfluss zu nehmen. So können bestimmte Personen ein- oder ausgeschlossen werden, wie dies etwa die Interviewpartnerin Edith H. beschreibt: »Fremde hat das [die Lage der Grabstätte] nicht zu interessieren. Und meine Leute, entweder sie merken sich meine Daten oder ich
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war für sie nicht wichtig.« (Edith H.) Die Interviewpartnerin hat über eine Baumbestattung auf einem Friedhof verfügt. Über den Baum können die Angehörigen die ungefähre Grablage ausfindig machen, womit sie einverstanden ist. Für eine ›fremde‹ Öffentlichkeit möchte sie aber nicht auffindbar sein. Der Interviewpartner Dirk Q. möchte dagegen über eine anonyme Bestattung sogar garantiert wissen, dass auch die nächsten Angehörigen seine Grabstelle nicht ausfindig machen können. So hat er verfügt, dass seine Beisetzung unter Ausschluss der Öffentlichkeit, inklusive seiner Angehörigen, zu denen er ein schwieriges Verhältnis hat, durchgeführt werden soll: »Ich möchte das nicht, dass nach meinem Ableben irgendwelche Leute, die mich während meines Lebens entweder nicht mochten, ich meine, das hat man ja oft, dass Leute an ein Grab gehen und den beschimpfen, der da drinne liegt. Oder irgendwelche Leute, die zu meinen Lebzeiten aus irgendwelchen Gründen, damit meine ich die dort [zeigt auf Fotos seiner Kinder], nichts mit mir zu tun haben wollten. Dass die danach an meinem Grab stehen und sonst was tun. Das möchte ich nicht. Die Vorstellung, die macht mich wütend. Und wenn ich dazu beitragen kann, das zu verhindern, dann tue ich das.« (Dirk Q.)
Für Dirk Q. gibt es keine Personen mehr, für die seine Grabstätte einen wichtigen Erinnerungsort darstellen würde. Stattdessen fürchtet er über seinen Tod hinaus Zielscheibe negativer Handlungen zu sein. Dirk Q. wünscht sich, dass die Personen, die ihm zu seinen Lebzeiten nicht nahe standen beziehungsweise nahe stehen wollten, auch nach seinem Tod die emotionale und physische Distanz wahren. Er kann sie über die stille Beisetzung und die nicht-gekennzeichnete Grabstätte ausschließen und ihnen damit sowohl die Möglichkeit des Grabbesuchs als auch etwaiger Diffamierungen nehmen. Die anonyme Bestattung ermöglicht hier also die Unauffindbarkeit der Grabstätte, was Voraussetzung dafür ist, soziale Distanz auch nach dem Tod selbst bestimmen zu können. Zum anderen kann die anonyme Bestattung damit das Bedürfnis nach Selbstschutz auch nach dem Tod erfüllen. Eine anonyme Bestattung kann aber auch dazu beitragen, Angehörige vor Belastung zu schützen. Insbesondere die Grabpflege ist für die Interviewten mit einem hohen Aufwand verbunden: Weder möchten sie den Hinterbliebenen damit zur Last fallen, noch wollen sie sich von deren Grabpflegebereitschaft abhängig machen. Dies verdeutlicht etwa die Äußerung der Interviewpartnerin Edith H., die auf die – auch für die Öffentlichkeit sichtbare – Verwahrlosung von Grabstätten verweist, welche sie aus ihrer eigenen Erfahrung auf dem Friedhof kennt: »Wenn ich heute übern Friedhof gehe und die wunderbaren Steine sehe und die wunderbaren Texte dafür und dann ist trotzdem alles verwildert, dann
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sage ich mir, solche Bekenntnisse sind immer bloß zeitweise und hat nichts von Sinn [sic!].« (Edith H.) Für sie verliert das aufwendig gestaltete Grab seine Funktion, wenn es nicht besucht und gepflegt wird. Mit einem anonymen Grab kann sie dem vorsorgen, da dieses von der Friedhofsverwaltung gepflegt wird und so vor Verwahrlosung gefeit ist: »Hauptgrund eigentlich, nicht jetzt mit meinem Namen irgendwann in ferner Zukunft dann dort für Unordnung stehen zu müssen. Ja? Ob in Stein oder ne Plakette oder oder oder. Ich weiß genau, dort kommt von meinen Leuten niemand mehr in Regelmäßigkeit hin um zu kontrollieren, ob mein Vertragspartner seine Verpflichtungen einhält. Und wenn der sie nicht einhält, wenn irgendwas passiert, geht das wieder ganz normal ins Grün über, so dass das sauber dann aussieht. Für meine Begriffe sauber, weil es dann die Natur wieder gefressen hat, nicht?« (Edith H.)
Die Bestattungsentscheidung kann also auch eine Entlastung für die Interviewten selbst darstellen, da durch die anonyme Bestattung gesichert ist, dass ihr Grab unabhängig von den Grabbesuchen ihrer Angehörigen immer gepflegt aussehen wird. Damit versuchen sie offenbar, vor ihrem Tod das Aussehen ihrer zukünftigen Ruhestätte im öffentlichen Raum Friedhof zu kontrollieren. Diese Sichtweise untermauern die Interviewten mit der – tatsächlichen oder antizipierten – räumlichen Mobilität ihrer Angehörigen: Anonyme Bestattungen stellen für sie eine Möglichkeit dar, mit dem Problem der Grabpflege bei wachsender geografischer Entfernung der Familienmitglieder umzugehen und diese nicht zusätzlich zu belasten. Hier tragen die Interviewten auch der zunehmenden Mobilität Rechnung, angesichts derer sie ihre Hinterbliebenen nicht an einen bestimmten, zu pflegenden Erinnerungsort binden wollen. Ein persönliches Erinnern oder auch Diffamierungen sowie auch ein ›Vergessen‹ im Sinne einer Verwahrlosung des Grabes sind für Friedhofsbesucher – und damit für die Öffentlichkeit – nicht sichtbar. Mit der Entscheidung für ein anonymes Grab wird die Pflege des Grabes durch die Friedhofs- oder Forstverwaltung über den Tod hinaus gesichert. Die Interviewten können so kontrollieren, was postmortal mit ihnen beziehungsweise ihrer letzten Ruhestätte passiert und damit Autonomie erhalten, die mit dem Tod eigentlich beendet ist. Damit machen sich die Interviewten zugleich unabhängig von ihren Angehörigen, die traditionell für die Grabpflege verantwortlich wären, und können sie ebenso von dieser Pflicht entlasten. Hier überschneiden sich die Motivlagen von Selbstbestimmung und Kontrolle mit dem Motiv, in dem die Entlastung und Unabhängigkeit betont wird.
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ALS ENTINDIVIDUALISIERTER
Wenn es kein persönliches Grab mehr gibt, entfällt nicht nur die Notwendigkeit der Grabpflege, sondern auch der Grabbesuche. Für die Interviewten ist dies ein weiterer Vorteil der anonymen Bestattung, da sie hier auch Selbstbestimmung ihrer Angehörigen in Bezug auf das Erinnern und Gedenken ermöglichen, das sie nun nicht mehr an einen festen Ort gebunden sehen. Die Grabstätte an sich ist für sie nicht länger ein wichtiger Ort, um sich an die Toten zu erinnern – was eine wichtige Funktion des Raums Friedhof als einem Ort der Erinnerung bestreitet. Für die Interviewten aber ist ein Gedenken ohne einen festen Ort und damit unabhängig von Grabbesuchen besser möglich. Ihr eigenes Erinnern an Verstorbene findet stattdessen vor allem im Privaten statt, wie dies etwa die Interviewpartnerin Stefanie I. beschreibt: »Ich find, ich kann besser in der Natur trauern äh um jemanden, kann mich besser irgendwo an den Deich setzen, wo ich den Gänsen zuhören kann, den Vögeln zuhören kann, den Enten, äh wo wo ich denn zurück denke an jemanden, um den ich trauer. Das ist für mich viel viel mehr Trauer. Ich renn doch nicht zum Trauern zum Friedhof. Um jemanden. Das kann ich doch nicht. Ich kann das nicht auf Kommando. Um jemanden trauern. Das muss schon aus mir rauskommen. Ja und dazu brauch ich keinen Friedhof und kein Grab.« (Stefanie I.)
Die Interviewpartnerin Heike L. erinnert sich beispielsweise über Dinge an den Verstorbenen, was für sie bedeutsamer als das Erinnern über eine Grabstätte ist: »Also ich denke, da sucht man sich da so seine Teile raus, die für einen persönlich wichtig waren und wo man was mit verbindet und das haben wir dann auch gemacht und das ist dann jetzt bei uns unten untergebracht und das finde ich eigentlich, finde ich wichtiger.« (Heike L.)
Interviewpartner Thomas C. wertet es sogar als eine Befreiung für seine Kinder, wenn er durch eine anonyme Bestattung für sie keinen festen Erinnerungsort schafft: »Und die sollen da wirklich losgelöst werden und deswegen möchte ich sie gar nicht da in die Pflicht kommen lassen, indem ich erst gar keine Stätte schaffe, sondern es einfach ihnen überlassen wo immer sie sind mir zu gedenken oder dieses auch nicht zu tun.« (Thomas C.)
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Die Interviewten sehen die Grabstätte nicht länger als einen notwendigen Ort an, um eines/einer Toten zu gedenken. In ihrer Sicht kann die Erinnerung auch ohne diesen Ort und damit ohne den Bezug zu dem toten Körper erhalten werden, was ein flexibles und selbstbestimmt gestaltbares Erinnern ermögliche. Dieses Gedenken findet dann im privaten Raum, etwa über persönliche Gegenstände oder geteilte Erlebnisse, statt. Diese Entwicklung steht in Kontrast zur Funktion des Friedhofs als öffentlicher und gemeinschaftlicher Gedenkort, auf dem der Tod einer Person und das Gedenken an sie für alle sichtbar gemacht werden. Traditionell stellten Gräber bislang einen wichtigen symbolischen und materiellen Anlaufpunkt bei der Trauer dar (vgl. Rugg 2000).
Abb. 1: Steckvasen auf einem anonymen Grabfeld (Südfriedhof Leipzig). Quelle: Nicole Sachmerda-Schulz.
Die Interviewten schließen von ihren Ansichten und Praktiken zu Erinnern und Gedenken auf die ihrer eigenen Angehörigen. Vielen Hinterbliebenen reicht es aber oftmals nicht aus, ihre Blumen und anderen Grabschmuck an eine zentrale Ablagestelle für die anonyme Grabanlage zu legen. Sie versuchen daher, das anonyme Grab »ihres« Verstorbenen zu pflegen wie ein traditionelles Grab, um es aus der Anonymität der kollektiven, entindividualisierten Erinnerungslandschaft hervorzuheben und damit wieder zu ›individualisieren‹. Trotz der Verbote seitens der Friedhofsverwaltungen und obwohl die individuelle Grabstelle bei einer sehr engen Rasterlegung der Urnen für die Angehörigen praktisch nicht
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mehr auffindbar ist, platzieren sie daher etwa Steckvasen, kleine Blumen oder (namentlich markierte) Steine an genau der Stelle, wo sie die Grablage vermuten (vgl. etwa Helmers 2005). Friedhofsverwaltungen berichten auch davon, dass Angehörige um Auskunft über die genaue Beisetzungsstelle oder sogar um Umbettung bitten. Aufgrund der Wahrung der Totenruhe (insbesondere der anderen Verstorbenen auf dem Grabfeld) ist aber eine Umbettung in der Regel nicht möglich und die genaue Beisetzungsstelle darf von der Friedhofsverwaltung nicht mitgeteilt werden. Um den naturbelassenen Eindruck der anonymen Grabstätten zu bewahren und die Pflege der Grabstätten praktikabel zu halten, wird die Einhaltung der Verbote ständig kontrolliert und die Dekoration der Angehörigen abgeräumt, was bisweilen zu Konflikten führt.
Abb. 2: Von Angehörigen gekennzeichnetes Grab im FriedWald Hagen. Quelle: Hannah Rumble.
Ähnliche Handlungsweisen zeigen sich im Bestattungswald: Auch hier ist es verboten, das individuelle Urnengrab zu markieren, um den natürlichen Eindruck
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des Waldes – der eben nicht an Tod erinnert – nicht zu stören. Trotz dieses Verbots markieren manche Hinterbliebene die Stelle des Grabes mit Blumen, kleinen Steinen und anderer, möglichst natürlich anmutender Dekoration, wie am Beispiel des Ruheforsts Hagen ersichtlich ist (Abb. 2). Wie auf den Friedhöfen räumt auch hier die Forstverwaltung den Grabschmuck wieder ab, was die Hinterbliebenen dazu veranlasst, die Markierungen möglichst unauffällig zu platzieren oder zu verstecken. Zu ähnlichen Befunden kommt die Ethnologin Hannah Rumble (2010), die in einer Fallstudie das Phänomen der Naturbestattung in Großbritannien erforscht hat. Auf dem von Rumble untersuchten Naturbestattungsplatz soll das ›natürliche Aussehen‹ und damit die Attraktivität der Natur erhalten bleiben, weshalb Grabschmuck nur in biologisch abbaubarer Form gestattet ist. In ihrem empirischen Material zeigt sich aber, dass sich die Hinterbliebenen über diese Regeln hinwegsetzen und die Gräber mit persönlichem Schmuck dekorieren, den sie allerdings vor den Mitarbeitern des Naturbestattungsplatzes zu verbergen versuchen. So entstehen Konflikte zwischen den Betreibern, deren Ziel eine naturbelassene, kollektive Erinnerungslandschaft ist und den Angehörigen, die in ihrem Trauerprozess die Individualität des Verstorbenen am Grab markieren wollen (Rumble 2010: 126). Solche Konflikte um die Individualisierung der Gräber zeigen sich in derselben Weise in der Studie der Geografin Mirjam Klaassens (2011) über den Naturbestattungsplatz Bergerbos in den Niederlanden, auf dem ebenfalls Grabsteine verboten und nur unauffällige Markierungen wie Steine und Sträucher gestattet sind. Nachdem es auch hier öfter zu Konflikten zwischen Angehörigen und den Betreibern des Naturbestattungsplatzes kam, werden derartige Regelverstöße in einem Aufruf auf der Internetseite von Bergerbos explizit gerügt: »Stets aufs Neue müssen wir uneinsichtige Verwandte, Familienangehörige, Bekannte oder Freunde der Verstorbenen auf ihr Friedhofsgehabe hinweisen! Es geht gar nicht darum, dass wir den Besuchern verbieten wollen, ein Blümchen auf das Grab zu legen, aber doch nicht so ausufernd! Wie war das noch einmal mit dem Wunsch des Verstorbenen?«4
Dieses Beispiel verdeutlicht auch, dass die Konflikte nicht nur zwischen Angehörigen und Betreibern verlaufen, sondern indirekt auch zwischen Verstorbenen und Angehörigen, die die anonyme Naturbelassenheit des Grabes nach eigenen
4
Das verwendete Zitat stammt von der deutschen Version der Internetseite Bergerbos: http://www.natuurbegraafplaats.nl/bergerbos/index.php?51; Zugriff am 10. Dezember 2012. Mittlerweile wurde der Inhalt von der Website entfernt.
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Vorstellungen verändern wollen. Bergerbos weist auf seiner Internetseite auch auf diesen Widerspruch in aller Deutlichkeit hin: »Ihre Wahl, in der Natur und nicht auf einem normalen Friedhof oder Kirchhof begraben zu sein, macht den Wunsch deutlich, keinen Grabstein, keine Pflegearbeiten und ganz sicher auch keinen Überfluss auf dem Grab haben zu wollen. In der Natur herrschen andere Verhaltensweisen! Das Allerwichtigste ist, Dinge bewusst wegzulassen und die Natur in Ruhe zu lassen.«
Z USAMMENFASSUNG Generell sehen die Befragten die anonyme Bestattung – auf dem Friedhof sowie in der Natur – als eine individuelle Bestattungsmöglichkeit an, mittels der sie die zentrale Handlungsmaxime Selbstbestimmung verwirklichen können. Ausgehend davon, dass die anonyme Bestattung auch praktisch realisiert wird, sehen die Interviewten Selbstbestimmung über verschiedene Aspekte für sich gesichert: Neben der eigenen Entscheidung über Bestattungsform und -ort an sich können sie darüber hinaus über das spätere Aussehen des Grabes bestimmen. Da individuelle Grabpflege bei der anonymen Bestattung nicht notwendig oder sogar verboten ist, machen sich die Interviewten unabhängig von ihren Angehörigen und können diese zudem entlasten. Zum anderen entlasten die Interviewten sich mit dieser Entscheidung selbst, da sie damit ein für sie angemessen gepflegtes Grab unabhängig von ihren Angehörigen als garantiert ansehen und so eine Form postmortaler Selbstbestimmung in Bezug auf die Grabstätte ermöglichen. Diese Einsparung individueller Grabgestaltung und -pflege ist eine Zäsur in der traditionellen Erinnerungskultur, in der der Verstorbenen an ihren Grabstätten gedacht und dieses Gedenken im Schmücken und Pflegen des Grabes sichtbar wurde. Die Interviewten sehen aber ein Grab, das etwa aufgrund der räumlichen Mobilität ihrer Angehörigen zunehmend kaum noch besucht und gepflegt werden kann, als nicht mehr sinnvoll an und verzichten daher mit der anonymen Bestattung auf einen solchen öffentlichen Erinnerungsort. Durch sozialstrukturelle Veränderungen wie gewachsene räumliche Mobilität werten die Befragten Grabpflege und Grabbesuche der Angehörigen als belastende Aufgaben und demzufolge als nicht mehr garantiert. Diese Tradition wird von den Interviewten in Frage gestellt, da ein Grab, das nicht mehr gepflegt und besucht wird, seine Funktion als würdiger Erinnerungsplatz des Verstorbenen verliert. Daher sehen die Interviewten es aus pragmatischer Perspektive als vorteilhaft an, keinen solchen verpflichtenden Erinnerungsort zu schaffen und
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stellen demgegenüber etwa das Gedenken im privaten Raum in den Vordergrund. Auch als persönlicher Erinnerungsort hat das Grab an Bedeutung verloren. Wie dargelegt wurde, werden die Friedhofsgräber als standardisiert und unpersönlich wahrgenommen. Private Gegenstände, Fotos und geteilte Erlebnisse können hingegen individuelles Erinnern an den Verstorbenen unterstützen. Die Befragten setzen die anonyme Bestattung nicht mit Auflösung von Individualität nach dem Tod gleich, sondern fassen sie gegenüber der – als standardisiert und damit als unpersönlich wahrgenommenen – traditionellen Bestattung vielmehr als eine individuell bestimmte Beisetzungsvariante im Rahmen deutscher Bestattungsgesetze auf, die sie als stark reglementiert ansehen. Die Interviewten wollen mit ihrer Bestattungsentscheidung also nicht einfach die Unauffindbarkeit ihrer individuellen Grabstätte sicherstellen, sondern streben nach Kontrolle und Selbstbestimmung über den Tod hinaus. Die anonyme Bestattung steht dabei in einem Spannungsverhältnis zwischen Individualisierung und Entindividualisierung. Auf der einen Seite ist sie gegenüber der als normiert wahrgenommenen traditionellen Bestattung eine individuelle Beisetzungsform. Aus Sicht der Interviewten kann so auch das Erinnern für die Angehörigen erleichtert werden, da es von einem konkreten Ort gelöst beziehungsweise nicht an diesen gebunden wird. Ein Vergessen der verstorbenen Person bedeutet das anonyme Grab für sie keineswegs. Vielmehr können die Befragten mittels des anonymen Grabes Selbstbestimmung als ihre Werthaltung auch über den Tod hinaus repräsentieren. Auf der anderen Seite wird mit der anonymen Bestattung aber die individuelle Darstellung der Person im öffentlichen Raum Friedhof post mortem getilgt. Dies kann für trauernde Angehörige zu einem Problem werden, die dann versuchen – auch entgegen des Gestaltungsverbots von Seiten der Friedhofs- und Bestattungswaldverwaltungen sowie in gewisser Weise auch entgegen der Verfügung des Verstorbenen – das Grab wieder aus der Anonymität zu holen und doch wieder zu individualisieren.
L ITERATUR Aeternitas (2014): Zahl der Baumbestattungen mehr als verdoppelt. Pressemitteilung vom 22. Mai 2014. Unter: http://www.aeternitas.de/inhalt/marktfor schung/meldungen/2014_aeternitas_umfrage_baumbestattungen; Zugriff am 2. Februar 2016. Benkel, Thorsten (2012): Die Verwaltung des Todes. Annäherungen an eine Soziologie des Friedhofs, Berlin.
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Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck (2012): Friedhöfe in kirchlicher Trägerschaft: Probleme und Chancen. Ausarbeitung der Theologischen Kammer der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck. Unter: http://www.e kkw.de/media_ekkw/downloads/ekkw_texte_121105_friedhoefe.pdf; Zugriff am 2. Februar 2016. Happe, Barbara (2012): Der Tod gehört mir. Die Vielfalt der heutigen Bestattungskultur und ihre Ursprünge, Berlin. Helmers, Traute (2005): Anonym unter grünem Rasen. Eine kulturwissenschaftliche Studie zu neuen Formen von Begräbnis- und Erinnerungspraxis auf Friedhöfen, Diss. Univ. Oldenburg. Rugg, Julie (2000): Defining the Place of Burial: What makes a Cemetery a Cemetery? In: Mortality 5, Heft 3, S. 259-275. Sachmerda-Schulz, Nicole (2010): Der Trend zur ›grünen Wiese‹. Zur Entwicklung der anonymen Bestattung in Deutschland aus religionssoziologischer Perspektive. In: Religion – Staat – Gesellschaft 11, Heft 1, S. 53-70. — (2016): Selbstbestimmt bis nach dem Tod. Zur Ausbreitung und Normalisierung der anonymen Bestattung, Wiesbaden. Sörries, Reiner (2009): Ruhe sanft. Kulturgeschichte des Friedhofs, Kevelaer. Strauss, Anselm/Corbin, Juliet (1996): Grounded Theory. Grundlagen qualitativer Sozialforschung, Weinheim.
Frühe Tode Verräumlichungen der Trauer um Ungeborene J ULIA B ÖCKER
E INLEITUNG Im Mai 2013 wurde auf Initiative eines betroffenen Elternpaares eine Gesetzesänderung bewirkt: Fehlgeborene, also pränatal verstorbene »Leibesfrüchte« mit einem Gewicht von unter 500 Gramm, können seitdem auf Wunsch der Eltern bestattet und namentlich ins Familienbuch eingetragen werden. Dadurch erhalten die im Gegensatz zu Totgeburten (über 500 Gramm) nicht bestattungspflichtigen Leibesfrüchte nicht den Status einer Rechtsperson, durch die rechtliche Dokumentation aber symbolisch den eines Familienmitgliedes. Vorher wurden Fehlgeborene außerdem für gewöhnlich mit dem Müll der behandelnden Klinik entsorgt. Eltern können jetzt um die Herausgabe ihres Kindes bitten und eigenständig eine Bestattung veranlassen. Diese Änderung des Personenstands- und des Bestattungsrechts ist eines von mehreren Phänomenen des Wandels, der im Hinblick auf das Sterben am Lebensbeginn zu beobachten ist. Gemeint sind neue Bestattungs- und Trauerformen und -intensitäten auf Friedhöfen, in Internetforen und Vereinen. In den letzten Jahren sind zahlreiche Initiativen entstanden, die Austausch unter betroffenen Eltern ermöglichen, welche sich um öffentliche Aufmerksamkeit und Aufklärung bemühen oder sich für separate Grabfelder und Denkmale für die sogenannten ›Sternenkinder‹ oder ›Schmetterlingskinder‹ einsetzen. In funktional differenzierten Gesellschaften besteht ein Problem der Todesbewältigung darin, dass keine verbindlichen Bearbeitungsroutinen, Rituale oder Deutungsmöglichkeiten mehr zur Verfügung stehen (Hahn 2002). Eltern, die um ihre fehl- oder totgeborenen Kinder trauern, begegnen zusätzlich der Schwierigkeit, dass ihr Verlustereignis nicht uneingeschränkt als Todesfall behandelt und
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daher als weniger schlimm und betrauernswert erachtet wird: Das Kind sei ja noch nicht (richtig) da gewesen. Allein das Gewicht des toten Körpers des Un-Geborenen, das Ausschlag für die offizielle Namensgebung und Möglichkeiten der Bestattung gibt, deutet an, welche diskursive Bedeutung dem Materiellen für die kollektive Wahrnehmung und Anerkennung pränatalen Verlusts zukommt. Als sicht-, befühl-, fassbar und damit erfahrbar ermöglichen stoffliche Dinge und konkrete Orte die Repräsentation des Verlorenen, Fehlenden und Abwesenden. Dinge und Orte helfen, die entstandene Lücke zu schließen. Gleichzeitig repräsentieren sie den Verlust Ungeborener und sprechen ihnen dadurch, so die Annahme, überhaupt erst einen Platz in der sozialen Welt zu. Diese symbolische Repräsentation wirkt wiederum trauerlegitimierend, da ein ›geliebtes Kind verloren‹ wurde (und nicht etwa ›der ursprüngliche Zustand‹ wieder hergestellt). Dieser Beitrag wirft aus kultursoziologischer Perspektive einen Blick auf gegenwärtige Verräumlichungen der Trauer nach prä- und perinatalem Tod. Ihm liegt die Annahme zugrunde, dass der Tod stets auch Ergebnis kultureller Deutung ist und demnach historischen Veränderungen unterliegt. Seit der Moderne sind weder Lebensbeginn und -ende unhinterfragbare Gewissheiten (man denke an die Debatten um künstliche Befruchtung oder das Hirntod-Kriterium) noch steht eine verbindliche Antwort auf die Sinnfrage nach der menschlichen Sterblichkeit zur Verfügung. Der Blick auf Verräumlichungen des Todes am Lebensbeginn macht die heterogenen Deutungen und Aushandlungsprozesse um eine symbolische Ordnung von Lebensbeginn und -ende deutlich. Handlungstheoretischer Ausgangspunkt und thematischer Fokus sind dabei die trauernden Eltern bzw. Personen. Gezeigt wird, wie sie den Platz mitbestimmen und verändern (wollen), den prä- und perinatale Sterbefälle in der Gesellschaft einnehmen. Besonderes Augenmerk wird auf Verräumlichungen auf Friedhöfen gelegt. Der theoretische Teil generiert ein kultursoziologisches Verständnis von Tod, Trauer und Verräumlichung und soll die Deutungsambivalenzen im Kontext von Fehl- und Totgeburt verstehbar machen. Es wird argumentiert, dass der Zeitpunkt des menschlichen Lebensbeginns und somit ›der Tod‹ in dieser Lebensphase abhängig von – sozialen, medizinischen, rechtlichen – Deutungen ist. Gleichsam ist Trauer an die Interpretation des Verlusts gekoppelt, welcher nach einer Fehl- oder Totgeburt nicht immer als solcher anerkannt wird. Dieser Beitrag analysiert Prozesse des Sichtbarmachens dieses spezifischen Verlusts durch Akteurinnen und Akteure mit Hilfe eines Konzeptes von Verräumlichung, das anschließend vorgestellt wird. Die kultursoziologische Perspektive wird gebündelt, indem Räume des Todes und der Trauer, insbesondere der Friedhof als Ort legitimer Trauer, thematisiert werden.
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Konkrete Verräumlichungen von Trauer um Fehl- und Totgeborene stehen im Zentrum des Beitrags. Dabei erfährt zunächst der mögliche Fall, dass keine Bestattungssubjekte vorhanden sind, besondere Berücksichtigung. Es wird ein Überblick über Entstehung und Formen von Räumen der Trauer gegeben, bevor Platznahmen auf dem Friedhof diskutiert werden. Kontrastiv werden abschließend Trauerorte abseits der Friedhöfe vorgestellt, um zu verdeutlichen, dass es sich bei den vorher beschriebenen Verräumlichungen um spezifische Formen des Trauerns bzw. der Etablierung von Trauer handelt. Der Beitrag schließt mit einem zusammenfassenden Fazit.1
T OD , T RAUER P ERSPEKTIVE
UND
R AUM
AUS KULTURSOZIOLOGISCHER
Die Kulturbedingtheit von Tod und Trauer Es gibt keine anthropologisch konstante Form von Sterben, Tod oder Trauer. Die Grenze des menschlichen Lebens ist Ergebnis kultureller2 Aushandlung (Nie-
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Christine Neubert, Maria Jakob und – einmal mehr – Alexander Leistner gilt mein Dank für hilfreiche Hinweise zu frühen, späten und letzten Fassungen dieses Beitrages. Gold!
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Für die historische und kulturelle Variabilität des sozialen Lebensbeginns muss der Hinweis auf ausgewählte Studien genügen. Barbara Duden schreibt mit Verweis auf eine italienische Studie: »Sizilianische Bäuerinnen wollten noch in den 1930er Jahren nicht wahrhaben, dass ihre Versuche, gestocktes Monatsblut [...] wieder in Gang zu bringen, als Abtreibung eines ›Fötus‹ definiert werden könne« (Duden 2002: 15). Umgekehrt zeigt Michael Prosser (2005) eindrücklich, dass bereits im Spätmittelalter das elterliche Bedürfnis bestand, Tot- und Fehlgeborene adäquat zu bestatten. Sie versuchten, die Leichname durch Anrufung der Fürbitte o.ä. kurzzeitig (scheinbar) zum Leben zur erwecken, dann Not zu taufen, um sie in geweihter Erde bestatten zu können. – Durch die Medizintechnik existieren heute konkrete Vorstellungen vom Stadium des werdenden Kindes im Mutterleib: Die pränatale »Konstitution eines inwändigen Anderen« (Hirschauer et al. 2014: 94ff.) durch z.B. Ultraschall ist vielfach beschrieben worden. In westlichen Gesellschaften beginnt die soziale Integration mitunter mit dem positiven Schwangerschaftstest, ab dem das Kind als neues Familienmitglied adressiert wird. Dass dies kein Phänomen von ›heute‹ ist, zeigt ScheperHughs (1992) Studie über Mütter in brasilianischen Favelas. Sie beschreiben den Tod
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der/Schneider 2007). Genauso ist uns gesellschaftlich vermittelt, wen oder was zu betrauern legitim bzw. obligatorisch ist (Butler 2010: 9ff.), und auf welche Weise. Trauer um Verstorbene in Form von (Gefühls-)Deutungen, Praktiken und Normen ist also gleichsam in einen kulturellen Kontext eingebettet. Auf die Kulturabhängigkeit von Lebensgrenzen und Trauerformen, die aufgrund ihrer leiblichen Dimension oft als natürliche Tatsachen verdinglicht werden, gehe ich im Folgenden kurz näher ein. Werner Schneider schreibt: »Jede Gesellschaft hat die Aufgabe zu bewältigen, (Handlungs-)Sicherheit und (Deutungs-)Gewissheit darüber herzustellen, wann menschliches Leben beginnt, wann es endet und wie (mit welchen institutionellen Praktiken) mit dem Lebensbeginn und Lebensende umzugehen ist« (Schneider 2011: 159).
Im Falle einer Fehlgeburt oder Totgeburt überschneiden sich Lebensbeginn und Lebensende, es bestehen Handlungsunsicherheit und Deutungsambivalenzen. Während vor allem werdende Mütter weit vor der Geburt in Interaktion mit dem ungeborenen Kind treten und seine familiäre Rolle antizipieren, adressieren Andere erst das Neugeborene als interaktives Gegenüber und neues Gruppenmitglied. Für sie ist das vorzeitige Ende der Schwangerschaft nicht zwangsläufig der Tod eines individuellen Menschen. Denn wer noch nicht gelebt habt, wer noch nicht da war, kann nicht sterben.3 Trauer ist nicht mit Traurigkeit gleichbedeutend. Das Gefühl oder körperliche Empfinden von Traurigkeit ist nur eine, die leibliche, Dimension von Trauer, welche als Emotion im Sinne eines kulturell kontextualisierten Gefühls gefasst werden kann. Unter einer Emotion lässt sich eine subjektive Empfindung verstehen, die aufgrund ihres sozialen Ursprungs und der prinzipiell anschlussfähigen Interpretation durch das fühlende Subjekt Sinn ergibt. Trauer, die als subjektives Gefühl Folge eines unersetzlichen Verlusts ist (vgl. Hahn 1968: 7), wird so zur kulturellen Praxis. Trauer ist abhängig von der Deutung des Verlustobjekts. In dieser Konzeption findet sich Trauer in Form von Praktiken, Deutungen und Artefakten wie Fußabdrücken, Grabfeldern oder der privaten ›Gedenkecke‹ im Wohnzimmer – Traurigkeit wird externalisiert und als Handlung an Orten verwirklicht, sie wird beobachtbare Trauer. Auf welche Art und wie intensiv ge-
ihrer vernachlässigten Säuglinge(!) als Folge ihrer Armut und nehmen diesen mit wenig bis keinen Schuld-/Trauergefühlen hin. 3
Man denke an Debatten um Abtreibung und Pränataldiagnostik. Ein lebensweltliches Beispiel sind ›Geburts-‹ bzw. ›Trauerkarten‹ früher Fehlgeburten, die, besonders wenn Fotos, Fußabdrücke o.ä. beigelegt werden, auf Irritation stoßen.
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trauert werden darf oder soll, welches passende und unpassende Orte und Situationen sind, um zu trauern, ist sozial normiert. Solche Trauernormen variieren kontextbedingt (vgl. Jakoby et al. 2013). Verräumlichung Im Folgenden soll verstehbar werden, dass Räume sozial hergestellt werden, ihnen also spezifische Funktionen und Bedeutungen zukommen, die sich in ihre Materialität einschreiben. Räume lassen sich, in Anlehnung an Martina Löw, vereinfacht als sinnhafte und materielle soziale Ordnungen4 verstehen. Löw zufolge werden Räume durch zwei Prozesse hergestellt. Zum einen entsteht ein Raum durch am Material orientierte Handlungen (etwa ein Denkmal aufstellen, vor einem Grab Knien). Löw nennt dies »Platzierungen« oder »Spacing«. Zum anderen verknüpfen Akteurinnen und Akteure die vorhandenen materiellen Elemente »über Vorstellungs-, Wahrnehmungs- und Erinnerungsprozesse« zu einem Raum, sie vollziehen »Syntheseleistungen« (Löw 2001: 225). Beide Prozesse seien im praktischen Handlungsvollzug verbunden. Versteht man Raum als ein Produkt dieser verschiedenen Wahrnehmungen, Nutzungen und Aneignungen, können verschiedene Personen »am gleichen Ort unterschiedliche Räume« konstituieren (Löw 2001: 201). Dadurch bringen sie den Ort in seiner Heterogenität »selbst noch einmal neu hervor« (ebd.). In der Bezeichnung eines Ortes stecken stets zugeschriebene Eigenschaften, sie ist »die definitorische Begrenztheit des Ortes, die in der Regel nicht physisch, sondern sozial bestimmt ist« (vgl. Ipsen 2006: 103). Räume lassen sich aufgrund translokaler Verknüpfungen abstrakt fassen (urbaner Raum, Trauerräume), sie brauchen dennoch konkrete Orte, um gelebte Wirklichkeit zu werden. Leibliches Erleben, subjektive Vorstellungen, Erinnerungen und Wahrnehmungen werden mitteilbar, sobald sie versprachlicht und dadurch Anderen zugänglich gemacht werden. Ein Raum spezifisch geteilter Erfahrungen oder Deutungen kann entstehen. Was hier mit dem Begriff der Verräumlichung bezeichnet werden soll, sind materiell vermittelte und lokalisierbare Konstitutions- und Etablierungsprozesse geteilter Sinnzusammenhänge. Anders ausgedrückt, es geht um die sichtbare Platzierung – in diesem Fall – der Trauer um Ungeborene in der Öffentlichkeit. Diese findet sich dann beispielsweise online auf Gedenk-
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Löw (2001) spricht von »(An)Ordnungen«, um zu betonen, dass Raum zwar immer erst durch den sozialen Prozess der Hervorbringung entsteht (dem Anordnen), ihm aber zugleich bereits eine Ordnung innewohnt, die uns handelnden Akteurinnen materiell gegenüber steht.
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seiten und in Foren oder auf dem Friedhof in Form von Grabanordnungen und -dekorationen. Der Friedhof als Ort legitimer Trauer Ein Friedhof ist nicht nur durch seine materielle Grenze (Friedhofsmauer) ein definierter Ort, sondern auch durch seine gesellschaftlichen Funktionen. Eine davon ist, den sterblichen Überresten von Menschen einen endgültigen Platz zu geben, ihnen die letzte Ruhestätte zu sein. Bei der Bestattung wird der Übergang der Verstorbenen aus der Welt der Lebenden rituell vollzogen sowie deren sich in diesem Moment veränderndes Verhältnis zu Hinterbliebenen dargestellt. Da Jenseitsvorstellungen weniger wichtig werden, mag die Bestattung vor allem als rituelle Abschiednahme an Bedeutung gewinnen. Nichtsdestotrotz ist der Ort, an dem der tote Körper beigesetzt wurde, für viele Hinterbliebene nach wie vor der Ort, an dem sie den Verstorbenen nah sein können und mit ihnen in Kontakt treten (können). Der Friedhof übernimmt somit als ›Totenherberge‹ und ›Kontaktstation‹ eine spezifische Funktion für Trauerarbeit. Er bietet die Möglichkeit, der eigenen Traurigkeit Ausdruck zu verleihen und (dadurch) den Schmerz ob des Verlusts zu bewältigen. Zugleich verweist die Möglichkeit, ein Ort der Trauer zu sein, auf den normierenden Rahmen des Friedhofs: Hier kann man traurig sein. Man hat hier aber auch traurig oder zumindest bedächtig zu sein. Etwas anderes kommt in den Blick, spricht man von ›Trauerräumen‹ oder der ›Verräumlichung von Traurigkeit‹. Der Ausdruck subjektiver Verlustgefühle und der Austausch über die Nicht-(mehr-)Existenz und Leerstelle lassen Räume geteilter Trauer entstehen, deren Formen und Inhalte im Folgenden beschrieben werden.
V ERRÄUMLICHUNGEN
EINES FRÜHEN
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In diesem Abschnitt wird dargestellt, wie Trauer um Fehl- und Totgeborene auf und abseits von Friedhöfen verräumlicht wird. Im Fokus der heterogenen Verräumlichungen steht die Besonderheit nicht vorhandener oder streitbarer Bestattungssubjekte, für deren Abschied und zu deren Erinnerung sowohl höchst individuelle Orte gefunden werden, als auch politische Mahnmale eingefordert werden.5
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Datengrundlage sind eigene Erhebungen in der Logik der Grounded Theory-Methodologie. Im Sinne des Theoretical Sampling wurden (und werden) nach ersten Analysen
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Der (nicht vorhandene) Körper des Ungeborenen »›Trauer braucht Zeit, braucht Raum, braucht einen Ort‹ – Ungeweinte Tränen, nichtgelebte Gefühle, das kann krank machen, uns die Lebensfreude nehmen. Denn die Trauer erfasst den ganzen Menschen, mit Leib und Seele! Fehlende Rituale (z.B. eine Beerdigung) machen es oft schwer, einen Abschied als endgültig zu begreifen. Auf dem Hamburger Friedhof Ohlsdorf gibt es diesen Ort, für Menschen, die ihr Kind in der Schwangerschaft verloren haben und es danach nicht beerdigen konnten bzw. wollten.« (Quelle: www.kindergedenkplatz.de)
Dieser Text ist auf der Website des 1999 eingeweihten Kindergedenkplatzes auf dem Friedhof Ohlsdorf in Hamburg zu finden. Im Zitat verdichtet zeigen sich das Bedürfnis, Traurigkeit auszudrücken und zu teilen, die Schwierigkeit eines fehlendes Bestattungsrituals und -ortes für die Abschiednahme, die zu Grunde gelegte Trauertheorie, wonach diese gelingen kann, wenn Raum und Ort für Trauer vorhanden sind, sowie die implizite Anklage bestehender Verhältnisse, in denen diese fehlen und Gefühle unterdrückt werden. Nach einer Fehlgeburt kann es sein, dass kaum oder kein menschlicher Körper vorhanden ist. Mitunter fehlt den Betroffenen das ›leibliche Material‹, um den Verlust sinnlich-existenziell zu be-greifen, zum Beispiel wenn der Embryo unbemerkt mit einer Blutung abgegangen ist. In diesen Fällen fehlt auch das Ritual der Bestattung, das heilsame Abschiednahme bedeuten kann. Für die individuelle Verlustbewältigung wiegt für Einige zudem schwer, dass sie keinen konkreten Ort haben, an der sie ihrem Kind nah sein und mit ihm in Kontakt treten können. Die fehlende Bestattung und das nicht vorhandene Grab entsprechen gleichzeitig dem Status des Ungeborenen als noch nicht bestätigte soziale Person. Für sie ist, da sie nicht geboren wurden, keine symbolische Ausgliederung vorgese-
systematisch neue Daten erhoben (bis die Ergebnisse theoretisch gesättigt sind). Bislang wurden narrative Interviews mit betroffenen Frauen, Paaren und einem Mann, Expertinneninterviews mit Kinderbestatterinnen und einer Administratorin eines Online-Trauerforums geführt; ferner Beobachtungen (Trauerfeiern, ›Sternenbasteln‹, Lesung etc.) gemacht und Online-Trauerforen, Einweihungsreden (eines Kindergrabfeldes) sowie diverses, im Internet verfügbares Material (wie youtube-Videos) mit Hilfe einer Kopplung aus Verfahrensweisen der Objektiven Hermeneutik und der Grounded Theory ausgewertet. Dieser Beitrag stellt – als empirical work in progress – einen ersten Überblick des heterogenen Feldes dar, in den die bisherigen Auswertungen Eingang gefunden haben.
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hen. Der für die Eltern als unersetzbar erfahrene Verlust bleibt auch deshalb privat, weil kein Ritual symbolisiert, dass hier ein Mensch verloren gegangen ist. Räume geteilter Trauer Werden subjektive Verlusterlebnisse und -gefühle nach Fehl- und Totgeburt ausgedrückt, wird Traurigkeit zur geteilten Erfahrung: zu Trauer. Im Folgenden werden drei Räume beschrieben, in denen so Kulturen der Trauer um Ungeborene entstehen: Online-Foren, Selbsthilfe-Gruppen und Betroffenen-Initiativen. In Online-Foren existiert eine suböffentliche Verräumlichung des Umgangs mit prä- und perinatalem Verlust. Wie bei anderen Todesfällen können sich Trauernde austauschen, ihre Geschichte erzählen, Gefühle teilen und die Erinnerung an die Verstorbenen aufrechterhalten. Mitunter finden Meta-Thematisierungen darüber statt, dass es schwierig bis unmöglich ist, die bisweilen als körperliche Schmerzen empfundenen Verlustgefühle auszudrücken und (mit) zu teilen. Spezifisch für Foren im Kontext von Fehl- und Totgeburt ist, dass den verstorbenen Ungeborenen eine individuelle Existenz bestätigt wird, z.B. durch Namensgebung oder das Erzählen der Schwangerschaftsgeschichte als Kindesbiografie. Innerhalb dieser Räume, die temporär zu »Sinnprovinzen« (Berger/ Luckmann 2004) avancieren können, werden die Kinder als unersetzliche Verluste und individuelle Personen behandelt. Ihnen wird ein Status zuerkannt, der außerhalb der Betroffenengemeinschaft nach wie vor umstritten ist. Gleichzeitig bestätigen sich die Teilnehmenden der Foren mithin wechselseitig, Eltern (gewesen) zu sein. Ähnliche Funktionen erfüllen Selbsthilfegruppen (SHG), die sich in ihrer thematischen Spezifität6 und Arbeitsweise erheblich unterscheiden, sowie Betroffenen- bzw. Selbsthilfe-Initiativen. Letztere setzen sich neben dem Betroffenen-Austausch zudem für öffentliche Aufklärung und Enttabuisierung ein. Im Unterschied zu Selbsthilfegruppen sind mit Initiativen solche Gruppierungen gemeint, die sich nicht ausschließlich den Anliegen ihrer Mitglieder widmen, sondern auch außenorientiert agieren, also Anderen helfen wollen.7 Es handelt sich
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Neben allgemeinen Trauergruppen gab es beispielsweise 2015 allein in Berlin je mehrere Gruppen für »trauernde Eltern«, für »um Un- und Neugeborene Trauernde« und eine für »Eltern nach einem Schwangerschaftsabbruch aufgrund medizinischer Indikation«.
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Es gibt keine trennscharfe Abgrenzung. Für eine umfassende Überschau verschiedener Selbsthilfeform-Typologien siehe Barth (2005). Professionelle Institutionen und gemeinnützige Vereine ohne eigene Betroffenheit (z.B. kirchliche Seelsorge, psycho-
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um meist kleinere Zusammenschlüsse und Vereine von selbst mit prä- und perinatalem Tod konfrontierten Personen, deren persönliche Verlusterfahrung Ausgangspunkt ihres gesellschaftlichen Engagements ist. Das eigene Engagement wiederum kann nicht nur Sinn stiften, sondern helfen, den Verlust zu bewältigen. Als eine der ersten wurden 1983 die »Initiative Regenbogen« von zwei betroffenen Frauen gegründet, um »Eltern, die ein Kind vor, während oder nach der Geburt verloren haben, Beistand zu gewähren, das heißt Gespräche – einzeln oder in Gruppen – anzubieten, Kontaktadressen zu vermitteln und Informationen weiterzugeben« (Lutz/Künzer-Riebel 1989: 96). Die Initiative schloss sich 1987 mit der SHG »Glücklose Schwangerschaft« zusammen und agiert seitdem überregional unter dem Namen »Initiative REGENBOGEN – Glücklose Schwangerschaft e.V.«. Ein Anliegen war und ist, im Sinne der klassischen Selbsthilfeidee, lokale Gesprächskreise zu etablieren, die betroffene Eltern nach einer Fehl- oder Totgeburt aufsuchen können, um mit »Gleichbetroffenen« (ebd.) über das Erlebte zu sprechen. Gleichzeitig setzte sich die Initiative für die »Verbesserung der Situation im Krankenhaus« (ebd.) sowie bereits 1988 für eine Änderung der Personenstandsverordnung und für ein generelles Bestattungsrecht ein, das inzwischen besteht. Einige der damals formulierten ›Wünsche‹ haben sich mittlerweile also erfüllt. Es ist inzwischen z.B. gängige Praxis in Kliniken, »den Eltern anzubieten, das Baby sehen und halten zu dürfen, auch noch zu einem späteren Zeitpunkt« (ebd.). Viele Forderungen wie: »Anerkennen des Babys als Individuum und es nicht mit Worten wie ›Das ist ja nicht so schlimm, sie werden noch andere Kinder haben können‹ abzuwerten« (1989) bestehen heute allerdings noch genauso: »Sagt bitte nicht Sätze wie [...] – ›Es war doch noch kein richtiges Kind‹ [...] – ›Du wirst bestimmt schnell wieder schwanger‹«8 (2016). Wenige Projekte professionalisieren sich derart, wie die »Initiative Regenbogen«. Die meisten, so die Vermutung, existieren nur solange sich deren Initiatorinnen und Mitglieder mit dem eigenen Verlust auseinandersetzen wollen. Die Seltenheit (der Totgeburten) und die kommunikative Privatheit (vor allem früher Fehlgeburten) tragen dazu bei, dass das Ereignis zunächst als Einzelschicksal erfahren wird. Letztlich bedarf es ›immer noch‹ des Engagements für Aufklärung und Unterstützung, weil Einzelne aufgrund der unerwarteten Betroffenheit ›immer neu‹ auf Unverständnis treffen und in eine Gemeinschaft von Betroffenen hineinsozialisiert werden.
logische Dienste) werden hier nicht berücksichtigt. Auch die Abgrenzung zwischen SHG und Online-Forum ist unscharf, da beide vergleichbare Funktionen erfüllen. 8
Vgl. Sternenkinder: www.sternenkinder.info/trauer/hile-fuer-angehoerige; Zugriff am 5. März 2016.
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Exemplarisch für jüngere Initiativen sei das 2014 ins Leben gerufene Projekt »Regenbogenbrücke – Regsamkeit für die Sinne & Trauerarbeit für verwaiste Eltern« genannt. Im Rahmen des ganzjährigen Programms für 2015 wurden, so lassen sich unterscheiden, drei Arten aktiver Trauerarbeit angeboten: Austausch unter Betroffenen, individuelle Körpererfahrungen und -therapien (wie Shiatsu oder Yoga) sowie kreative Ausdrucksformen und Erinnerungsarbeit. Letzteres meint beispielsweise das gemeinsame Basteln einer ›Schatzkiste‹, in der Erinnerungsstücke wie Ultraschallbild, Fußabdrücke oder Kuscheltiere aufbewahrt werden können.9 Da der Wunsch der Initiatorinnen, die Verantwortung der Programmplanung des Folgejahres an Engagierte zu übergeben, nicht erfüllt werden konnte, lief das Projekt im Laufe meiner Arbeit an diesem Beitrag aus. Einige Initiativen beanspruchen öffentliche Aufmerksamkeit oder zumindest Verständnis für Betroffene. Als Teil einer sozialen Bewegung streben sie eine Veränderung des gesellschaftlichen Bewusstseins an. Die Reichweite der Initiativen beläuft sich allerdings meist vor allem auf den Kreis der Betroffenen.10 Eine größere öffentliche Sichtbarkeit erlangt der Tod von Ungeborenen hingegen durch die Platznahme11 auf Friedhöfen. Platznahmen auf dem Friedhof An dem Ort zu trauern, an dem sich die Verstorbenen bzw. deren Körper befinden, erscheint naheliegend und selbstverständlich. Aufgrund der symbolischen Repräsentation auf dem Friedhof und einer über den Tod hinaus vorgestellten Nähe von Körper und ›Seele‹, kann man dem Ungeborenen nahe sein. Unabhängig von einer transzendenten Bezug- oder Kontaktaufnahme stellt der Besuch am Grab zudem einen symbolischen Rahmen legitimer Trauer zur Verfügung: Hier werden Todesfälle betrauert. Margaret Godel argumentiert »that images, arte-
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Es geht um ein gemeinsames, kreatives Handeln, das auch von den befragten Bestatterinnen als heilsam erachtet wird. Diese ermuntern deshalb u.a. das Gestalten und Schmücken des Kindersarges mit Familie, Freunden und Freundinnen.
10 Betroffenen nehmen einen Zwischenstatus wie alle Trauernden im Kapitalismus ein: Sie sind temporär dysfunktionale Akteurinnen, aufgehoben an »Orte[n], an denen man Menschen unterbringt, deren Verhalten vom Durchschnitt oder von der geforderten Norm abweicht« (Foucault 2006: 322). 11 »Platznahme« meint nicht, dass öffentliche Präsenz intendiert sein muss, geschweige denn, dass ein solcher, räumlicher Anspruch ggf. illegitim ist, sondern lediglich, dass elterliche Verräumlichungen zunehmend Platz einnehmen und materiell eine spezifische Trauer vermitteln.
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facts and narratives represent stillborn babies as members of both family and society, allowing them to be remembered, mourned and memorialized as early deaths rather than unproductive pregnancies« (Godel 2007: 266). Die Beisetzung eines Ungeborenen auf dem Friedhof bedingt die kollektive Erinnerung an einen frühen und damit tragischen Todesfall.
Abb. 1: Gemeinschaftsgrab für Fehlgeborene, Berlin-Wedding (Sammelurnenbestattungen von mehreren Kliniken, mehrmals jährlich). Quelle: Julia Böcker.
Es gibt keine genauen Angaben über die Anzahl separater Grabfelder für Kinder bzw. Ungeborene auf den ca. 32.000 Friedhöfen in Deutschland. Im Internet listen zwei Initiativen12 je etwa 370 »Grabfelder und Gedenkstätten für fehl- und totgeborene Kinder« bzw. »Grabstellen für Kleinstkinder« ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder Überprüfung. (Besucherinnen der ersten Seite können Ergänzungen für die Datenbank einsenden.) Es werden allgemeine Informationen zur Situation der Kindergrabfelder gegeben, die auf einer Umfrage der Verbraucherinitiative Bestattungskultur AETERNITAS e.V. beruhen, die 203 Antworten von 700 angeschriebenen Friedhöfen erhielt.
12 Die Muschel: www.die-muschel.de/grabfelder-und-gedenkstaetten.html. Sternenkinder-Eltern: www.sternenkinder-eltern.de/index.php?id=353. (Zugriffe jeweils am 5. März 2016.)
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Abb. 2: Grabschmuck auf einer ›Sammelgrabstelle‹ für ›Sternenkinder‹. Quelle: Julia Böcker.
Abb. 3: Denkmal der Künstlerin Susanne Wehland, Berlin-Reinickendorf. Quelle: Julia Böcker.
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Etwa die Hälfte dieser Friedhöfe gaben an, ein »eigenes Grabfeld für größere, tot-, fehlgeborene oder abgetriebene Kinder, oder für alle Kinder zusammen« zu haben. Die Diskrepanz zwischen dieser Angabe und den 370 (absolut) gelisteten Feldern zeigt, dass Art und Funktion der Felder variieren und diese demnach schwer zu zählen sind. Während beispielsweise online für Berlin bisher nur vier bzw. fünf Kindergrabfelder gelistet sind, nennt das Bestattungsunternehmen Charon allein für Berlin 15 Friedhöfe mit Bestattungsorten für Kinder nebst »Sternschnuppenbäumen« in nahe gelegenen Friedwäldern.13 Dass nur 35 Friedhöfe einen »besonderen Namen« für das »Grabfeld für tot-, fehlgeborene oder abgetriebene Kinder« nannten, verdeutlicht die Problematik der Umfrage, nach einem bestimmten Phänomen zu fragen, das weder über Funktionalität noch über seine Gestalt klar abgrenzbar ist, sodass auch dessen (Nicht-)Nennung in einer Umfrage Interpretationssache ist. Die Platznahme auf Friedhöfen durch eigens für verstorbene Kinder angelegte und ausgerichtete Einzelgräber, Grabfelder, Denkmäler, Mahnmale und Trauerfeiern transformiert den umstrittenen Status der Ungeborenen. Sie werden auf den Gräbern als »geliebt« bzw. »gewollt«, als »zu früh verstorben« und damit als »bereits vorhanden« adressiert. Bestattungsfeiern und andere Veranstaltungen mit Ritualcharakter fungieren so auch als eine Übergangspassage der Verstorbenen und der nie auf der Welt Gewesenen in das soziale Leben. So fanden zum ›Weltgedenktag der Sternenkinder‹ 2014 am Alten St. Matthäus Kirchhof in Berlin ein ›Sternenbasteln‹ und eine Gedenkfeier statt, in der die Namen auf allen gebastelten Sternen vorgelesen wurden. Jeder Stern repräsentierte ein ungeboren oder neugeboren verstorbenes Kind. Anschließend fand ein »Lichterlauf zum Garten der Sternenkinder« statt und ein neues Grabfeld wurde eingeweiht. Auf dem Weg dorthin sagte eine Frau zu ihrem vielleicht dreijährigen Sohn »komm, wir gehen zu R.«, woraufhin dieser zum Grab seines ungeborenen Bruders R. ging und mit den dort geparkten Spielzeugautos spielte.14 Die Grabfelder und individuellen Gräber unterscheiden sich hinsichtlich der Zentralität und der Sichtbarkeit auf dem Friedhof sowie in Größe und Gestaltung. Dennoch lassen sich einige typische Merkmale der als solche gekennzeich-
13 www.charon.de/wordpress/wp-content/uploads/2014/09/Kindergrabfelder-2014.pdf; Zugriff am 5. März 2016. Dass viele Beispiele aus Berlin stammen, ist kein Zufall: Dort ist ein überdurchschnittliches Engagement für die Veränderung des öffentlichen Bewusstseins bzgl. Fehl- und Totgeburten zu verzeichnen. 14 Zur fortgesetzten Interaktion mit verstorbenen Kindern nennt Sørensen einen Fall, bei dem Eltern zu Ostern Ostereier auf dem Friedhof versteckten (vgl. Sørensen 2011: 165).
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neten Kindergräber benennen. Augenfällig ist ihre farbenfrohe und detailreiche Gestaltung. Zu Kindergräbern in Dänemark schreibt Sørensen: »Hence they are directly juxtaposed, materially and spatially within the cemetery, creating a bifurcated experience of the visitor where children’s boisterous graves are encountered amidst lines of more modestly designed burial plots« (Sørensen 2011: 163). Auf vielen Gräbern drehen sich bunte Windräder. Spielzeug sowie selbst gebastelte Erinnerungsstücke – wie getöpferte Namensschilder oder laminierte, handgeschriebene Briefe an das Kind – sind sorgsam platziert (für weitere Gestaltungsbeispiele vgl. Benkel/Meitzler 2013: 134-145). Dabei scheint sich an anderen Gräbern orientiert zu werden: Bei einem Besuch eines Berliner Grabfeldes für gemeinschaftliche Bestattungen von nicht bestattungspflichtigen, totgeborenen Kindern fanden sich etwa ein Dutzend einzelne Einweckgläser, in denen sich Objekte wie Kuscheltiere oder Gummibärchen befanden (s. Abb. 2). Der Verlust wird hier durch fragile, kleine und weiche Objekte (im Gegensatz zur steinernen Grabplatte) repräsentiert, die im – dennoch zerbrechlichen – Glas gleichsam geschützt wie sichtbar und erhalten bleiben sollen. Nur durch das regelmäßige Dekorieren, Erneuern und Ersetzen kann die Trauer, die abhängig von der – hier liebevollen, sorgenden – Beziehung zum Verstorbenen gedacht werden muss, anhaltend repräsentiert werden. Bei der Bestattung in Gemeinschaftsanlagen (s. Abb. 1) werden die Verstorbenen in Bezug zur Peer-Group Kinder gesetzt, somit als Kinder gedacht. Die Verstorbenen werden so über ihr Alter und die Tatsache, zu früh verstorben zu sein, vergemeinschaftet. (Damit bleiben sie im Verlauf des weiteren Lebens immerzu Kind und machen keinen Statuswechsel mehr durch.) Gleichzeitig kann der Friedhof zu einem Bezugspunkt einer Gemeinschaft von Betroffenen werden, die sich in einer bestimmten Lebensphase und -lage befinden.15 »Manche Friedhöfe haben Grabfelder nur für Kinder, die auch ein Ausdruck der Schicksalsgemeinschaft der toten Kinder und der betroffenen Eltern sind.«16 Während
15 Aus einem Interview mit einem betroffenen Paar: »Jetzt ist es so, dass wir ausgewählte Menschen haben, mit denen wir drüber sprechen. Das sind ahm ein befreundetes Paar, die die gleiche Erfahrung gemacht haben wie wir, die haben wir auf dem Friedhof kennengelernt. [...] also das hab’ ich nicht geglaubt, dass das so (.) dass man irgendwie aufʼm Friedhof so ʼne Bekanntschaft macht und dass es dann auch nochʼn nettes, junges Paar ist und man sich super versteht und so. Und wir besuchen uns gegenseitig und es ist echt schön und mit denen können wir richtig, also da können wir richtig drüber reden und unseren Gefühlen dann auch freien Lauf lassen und auch irgendwie über (.) keine Ahnung, auch über die unangenehmen Dinge sprechen.« 16 www.charon.de/unzeit/kindergrabfelder; Zugriff am 5. März 2016.
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für Totgeburten und kurz nach der Geburt verstorbene Kinder auch Einzelgräber üblich sind, werden Fehlgeborene fast ausschließlich in Sammelbestattungen durch die Kliniken beigesetzt, obwohl prinzipiell jedes Fehlgeborene bestattet werden darf. Wie (leicht) eine individuelle Beisetzung durchgesetzt werden kann, hängt allerdings von der behandelnden Klinik, dem Bestattungsrecht des jeweiligen Bundeslandes sowie der lokalen Friedhofsordnung ab. Eltern müssen in der meist unerwarteten Extremsituation genau wissen, was sie wollen, z.B. eine Einzelbestattung für ihr Fehlgeborenes veranlassen. Dafür braucht es Durchsetzungsvermögen gegen klinische und bestattungsbezogene Routinen. Dementsprechend schlägt sich die rechtliche Grenze zwischen Tot- und Fehlgeburt (über/unter 500 Gramm) in den realen Bestattungspraktiken nieder. Totgeborene verbleiben manchmal mehrere Monate in der Pathologie, bis Eltern deren Beisetzung, zu der sie verpflichtet sind, veranlassen.17 Manche brauchen so lange, bis sie sich nach dem Erlebnis überhaupt dazu in der Lage fühlen. Andere würden, gäbe es die Möglichkeit, das Totgeborene gänzlich der Klinik überlassen. Den befragten Bestatterinnen wurde in solchen Fällen im Anschluss an die Einbettung und Beisetzung häufig große Dankbarkeit für die Gestaltung der Abschiednahme kommuniziert, die für von Fehlgeburten Betroffene dann nicht mehr möglich ist. Wenn kein Körper bestattet worden ist, können, wie auf dem Kindergedenkplatz in Ohlsdorf, Denkmale die Funktionen eines Grabes ersetzen. Denkmale stellen einen Ort der Begegnung unter Gleichbetroffenen sowie eine Anlaufstelle dar, die routinehafte Erinnerung und Verlustbewältigung ermöglicht. Denkmale für Fehlgeborene und Abgetriebene18 repräsentieren eine dreifache Abwesenheit: die des ›noch-nicht‹-Mensch, die des ›nicht-mehr‹-Lebens und – im Unterschied zu den Gräbern – die des fehlenden toten Körpers. Das Abwesende, das Fehlende, wird materiell manifestiert und damit kollektiv sichtbar gemacht und ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Auf dem Gemeinschaftsurnengrab im Berliner Stadtteil Wedding (Abb. 1) gibt es einen von der »Initiative Regenbogen« finanzierten Gedenkstein mit der Inschrift: »Obwohl man sagt Ihr [sic!] habt noch nicht gelebt, sind Eure Spuren in unseren Herzen.« Wenngleich
17 Information stammt aus Gesprächen mit Bestatterinnen, die sich u.a. deswegen für Schulungen des Klinikpersonals einsetzen: Unzureichende Versorgung oder Säuberung des toten Kindes unmittelbar nach der Geburt können gerade bei langer Liegezeit eine ansehnliche Einbettung erschweren. 18 Denkmale für Abgetriebene oder nie gezeugtes Leben stellen natürlich auch ein Politikum (›pro life‹) dar, das hier im Kontext elterlicher Trauer nicht berücksichtigt werden soll.
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eine andere Deutungsmöglichkeit – eine gefühlte Wahrheit – als die des Common Sense (»man sagt ... nicht gelebt«) impliziert wird, nämlich die, dass sie gelebt haben, wird dieser letztlich bestätigt. »Spuren« werden von kritischen Lebensereignissen hinterlassen; Spuren »in unseren Herzen« können von Anderen nicht gesehen werden und bleiben subjektive Gewissheit.19 Die Denkmale ermöglichen nun nachträglich etwas, das Janneke Peelen als »double rite of passage« bezeichnet: Die Ungeborenen werden in die Welt der Toten integriert und durch die Anerkennung ihres Todes bestätige sich ihre Existenz als Menschen und als Mitglieder der Gemeinschaft (vgl. Peelen 2009: 182). Peelen nennt sogar einen niederländischen Fall, in dem die Einweihung des Monuments durch Elemente der christlichen Taufe ergänzt worden sei (vgl. ebd.: 183). Zudem, und das ist interessant an dem Phänomen der niederländischen Denkmale, macht hier eine Bewegung explizit auf »former wrongdoing« (ebd.: 184) aufmerksam, denn bis in die 1960er Jahre wurden in den Niederlanden ungetaufte Kinder nicht in ›geweihter Erde‹ beigesetzt. »[M]onuments for stillborn children are a basis for the discussion of former and present ideas concerning stillbirth« (ebd.: 173). Viele der über 150 Denkmale, die seit 2000 in den Niederlanden aufgestellt worden seien, befänden sich deshalb an einem zentralen und gut sichtbaren Ort. Sie sollten die frühere Praxis, diese Kinder hinter oder unter der Hecke zu beerdigen, ›rückgängig machen‹. (»Reversing the past«, vgl. ebd.: 182.) Zusammengefasst erfüllen Denkmale drei Funktionen. Deren Einweihung ermöglicht erstens ein die Beisetzung ersetzendes Abschiedsritual, das die Ungeborenen kulturell integriert, den Verlust kommunizierbar macht und (dadurch) bei der Trauerarbeit helfen kann (Verlustbewältigung). Es wird zweitens ein dauerhafter, geteilter Ort der Trauer geschaffen, der zugleich zurückwirkt auf die Legitimität der Trauer selbst (Verräumlichung und Legitimation von Trauer). Schließlich wird mitunter auf ein gesellschaftliches Problem aufmerksam gemacht, ein struktureller Wandel gefordert oder mahnend erinnert (Anstoß gesellschaftlichen Wandels). Zentrale und sichtbare Denkmale werden zu unübersehbaren Diskursobjekten und zu Orten, an denen über schützens-, wünschens- und beklagenswertes menschliches Leben verhandelt wird.
19 Zu beobachten ist eine neospirituelle Tendenz, anzunehmen, es brauche weder Körper noch definierten Ort, um mit dem verlorenen Menschen verbunden zu bleiben. Kinder werden ›im Herzen‹ getragen und als Engel, Schmetterling oder Stern imaginiert.
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Orte der Trauer abseits des Friedhofs Es gibt eine zunehmende Tendenz, beizeiten Erinnerungen zu schaffen. Gemeint sind Erinnerungsstücke, die im Falle einer Fehl- und Totgeburt nur einige Tage, meist in den ersten Stunden nach der Trennung vom Mutterleib gesammelt werden können. Soweit möglich und gewollt, werden Fotos, Fuß- und Handabdrücke angefertigt, Haarlocken abgeschnitten oder die Decke, in die das Kind eingewickelt war, sowie dessen Kleidung mit nach Hause genommen. Diese Artefakte fungieren mitunter als ›Existenzbeweise‹. »Thus, in the case of dead children, photographs and other artefacts provide ›social props‹ or ›objects of discourse‹ which parents use to sustain those children’s social presence« (Hockey/Draper 2005: 45). Linda Layne untersucht in ihrer Studie, welchen Stellenwert Materielles im Umgang mit dem Schwangerschaftsverlust unter US-Amerikanerinnen einnimmt. Es stellte sich heraus, dass die verschiedenen Dinge dazu beitrugen, die »babies-to-be and would-have-been babies as ›real babies‹« und die ehemaligen Schwangeren als ›echte Mütter‹ zu konstruieren (vgl. Layne 2000). In ihrer Echtheit (»realness«) boten sie eine Handhabe, die vormalige Existenz ihrer Babys sicht- und teilbar zu machen. Darüber hinaus zeigt Layne, dass die physischen Eigenschaften der Artefakte denen von Babys ähneln (vgl. Layne 2000: 324). Sie sind klein und weich und können – wie Babys – behandelt werden, d.h. liebevoll angeschaut, Anderen gezeigt, gesäubert und neu ›platziert‹ werden. In der Ratgeberliteratur werden entsprechende Hinweise zur Erinnerungsarbeit gegeben. Die ersten Unterkapitel zur »Erinnerung« im Ratgeber »Mein Sternenkind« tragen beispielsweise folgende Überschriften: »Ein Kindergrab pflegen«, »eine Erinnerungsfeier gestalten«, »Eine Gedenkecke einrichten«, »Tattoo/Schmuck auswählen«, »Ein Fotoalbum füllen«, »Einen Film produzieren«, »Eine eigene Homepage einrichten« [...], »Weitere Rituale finden« (vgl. Wolter 2012). Kontrastiv sei abschließend ein Fall dargestellt, in dem die eigene Trauer nach einer Fehlgeburt antimaterialistisch ausgedrückt wird – wenngleich sie verräumlicht wird. Rhea20 hat ein Jahr vor dem Interview ein Kind mit einem Gewicht von gut 400 Gramm geboren. In der einstündigen Stehgreiferzählung wird der Verbleib des Kindes nach der gemeinsamen Zeit im Kreißsaal nicht mehr erwähnt. Erst im exmanenten Nachfrageteil fragt die Interviewerin, ob es beigesetzt worden sei. Rhea antwortet:
20 Die Namen aller Forschungssubjekte wurden durch Pseudonyme ersetzt.
334 | J ULIA B ÖCKER »Ja, die [von der Klinik; J.B.] haben so ein ›Sternchengrab‹ nennen sie das und beerdigen dann halt mehrere Kinder in einem gleichzeitig, die so im letzten Monat sich quasi angesammelt haben. Und da waren wir aber auch nicht, weil wir irgendwie nicht das Gefühl hatten, dass das das Ritual ist, was wir suchen, so. Es gibt dann halt den Gottesdienst dazu und so und das war irgendwie (.) Ja wir warn da bis jetzt auch nicht, also das ist irgendwie (1) Eigentlich wollten wir das immer mal machen, aber irgendwie war das nicht dringend und nicht wichtig, so. (1) Weiß nicht.«
Rhea grenzt sich von der Bezeichnung »Sternchengrab« ab, die eigentlich den Ort aufwerten soll, der die hygienisch und sittlich einwandfreie Entsorgung durch die Klinik gewährleistet. Der Besuch der Klinikwiese wird nicht als hilfreiches Ritual gesehen und gar nicht erst in Betracht gezogen. Gleichzeitig lehnt sie damit suböffentlich (teil-)etablierte Trauerformen ab, deren zugrunde liegende Deutung sie nicht teilt. Es wird deutlich, dass eine Repräsentation des Verlusts als der eines geliebten, gewollten und bereits lebendigen Kindes – in Form von Karten, Gräbern, Webseiten oder Kuscheltieren in Einweckgläsern – eine spezifische, hier nicht gewählte Form des Trauerausdrucks ist. Rhea und ihr Partner hingegen suchen und finden ihr Abschiedsritual paarintern, während einer Reise durch Neuseeland, etwa ein halbes Jahr nach der Fehlgeburt: »[...] und dann sind wir noch so nen paar Meter zu so nem großen See gegangen {weint}. Und ahm, da war’s dann plötzlich total klar. Also das war so nen total magischer Augenblick und es hat halt aufgehört zu regnen und war halt ganz nebelig {weint}. Und da war halt nen riesiger See der halt so hinten im Nebel verschwunden ist, so, und ahm (.) Ja und dann ham wir da total so ne Metapher drin gefunden und dachten: ›Ja das ahm (.) das andere Ufer können wir halt nicht sehen, so. Wir werden, wir werden nie erleben, ahm wie das ist mit diesem Kind, so. Wir werden das nicht kennen lernen, wir ahm (.) hatten da, also waren schon irgendwo mitten auf dem See und das andere Ufer werden wir aber einfach nicht erreichen, so. (2) Und es ist eigentlich der Augenblick gekommen (.) ja zu zwei/ zusammen weiter zu gehen und (.) ahm nicht nur auf diesem Horizont zu starren und zu warten, ob sich nicht doch noch irgendwie der Nebel lichtet oder so. Weil das wird er einfach nicht machen, so, das wird einfach nicht passieren {weint}. Ja, aber auch vollkommen klar, dass es auch total viele andere (.) tolle Flecken auf dieser Erde gibt und (.) da nen Haufen anderer Wege, die wir zusammen gehen können, aber den eben nicht, so, also nicht, nicht mit diesem Kind, so.‹ {Weint} Und das war echt (2) total schön [...] Ja und dann sind wir halt einfach da irgendwo wieder runter gelaufen und waren halt irgendwie total leichtfüßig und erleichtert, auch so und (.) Irgendwie war’s echt (1) {weint} war’s echt schön. Ja. (4)«
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Der sichtbare, riesige See und die wahrgenommene Distanz zu den unsichtbaren Ufern repräsentieren die Verlusterfahrung – einer ganz bestimmten Zukunft »mit diesem Kind«. Rhea definiert sich nicht als trauernde Mutter und lehnt entsprechende Ausdrucksformen ab. Das steinerne Denkmal ist für sie nicht das richtige. Stattdessen repräsentiert die Weite des Sees die Erfahrung des Verlusts, die nicht an ein Erinnerungsobjekt gehaftet ist. Das Paar trauert dennoch an einem konkreten Ort, dessen materielle und zugeschriebene Qualitäten – der bleibende Nebel – bedeutsam für die Repräsentation des Erlebten und zum Abschiednehmen sind. Dieser individuelle Umgang ist ein Kontrastbeispiel zum skizzierten Möglichkeitsraum kollektiver Trauerformen. Er wird nur realisierbar, weil Rhea eine Fehlgeburt erlitten hat: Mit einem Gewicht unter 500 Gramm war ihr Sohn weder bestattungs- noch namenspflichtig. Das Paar hat zu keinem Zeitpunkt eine individuelle Beisetzung und Benennung in Betracht gezogen, die es ›keine 100 Gramm später‹ hätte veranlassen müssen. Hier wird deutlich, welchen Einfluss die rechtliche Bestimmung einer Totgeburt auf die individuelle Trauer nimmt. Umgekehrt wird ebenso offenkundig, welche diskursive Bedeutung den Initiativen zukommt, die aus eigener Betroffenheit heraus gesetzliche Änderungen bewirken. Rhea hätte das Erleben (nach) einer Totgeburt biografisch anders einbetten müssen. Aber auch können.
F AZIT In diesem Beitrag werden Verräumlichungen von Trauer um Ungeborene, das heißt materiell vermittelte und lokalisierbare Konstitutions- und Etablierungsprozesse geteilter Sinnzusammenhänge des Trauerns fokussiert. Neben intimen Formen und Orten des Trauerausdrucks steht die öffentlich sichtbare Platzierung des frühen Todes und der Trauer im Vordergrund. Das Sichtbarmachen und die materielle Manifestation erfüllen im Kontext von Fehlgeburt und Totgeburt auch die Funktionen, Anerkennung und Legitimation – Verständnis – für Trauer zu erlangen. Da der vorliegende Band die gesellschaftliche Relevanz thanatologischer Phänomene im Blick hat, wurde Gewicht auf die normierenden Funktionen von (fehlenden) Verräumlichungen gelegt (z.B. eine bestimmte Trauerintensität als inadäquat oder fehl am Platze zu sanktionieren) und die funktionale Bedeutung von Verräumlichungen für die individuelle Verlustbearbeitung, d.h. das sinnlich-haptische Be-Greifen und Platzieren, vernachlässigt. Deutlich werden die Vielzahl und die Varietät von Betroffenen-Initiativen, Netzwerken, Veranstaltungen und einzelnen Akteurinnen und Akteuren, die be-
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griffen werden können als in sich heterogene soziale Bewegung, die eine Kultur des Trauerns um Ungeborene etabliert (hat). In Auseinandersetzung mit bestehenden Trauernormen der Gesellschaft setzen sie sich für eine legitime Trauerordnung sowie für die Etablierung von Trauerroutinen und -orten ein. Welche »tatsächlich verwirklichte Utopie« (Foucault 2006: 320) findet sich für um Ungeborene Trauernde auf dem Friedhof? Es ist die Vorstellung einer gelingenden Abschiednahme von einem geliebten Menschen, dem ein Platz im sozialen Gefüge zugesprochen wird. Für die sichtbare Anerkennung eines betrauernswerten Todesfalls gibt es keinen Ort, der mehr Trauerlegitimität bietet, als der Friedhof. Engagierte fordern hier nicht unbedingt eine Erneuerung gesellschaftlicher Sterbe- und Bestattungsstrukturen, sondern kämpfen für die Anerkennung ihrer Trauer als legitim, normal und ›am richtigen Platz‹. Die beschriebenen Phänomene stellen spezifische Formen des Trauerausdrucks dar. Kontrastiv wird im letzten Abschnitt ein Umgang mit einer Fehlgeburt dargestellt, der sich explizit von den gemeinschaftlichen, teiletablierten Formen einer Trauerkul-tur abgrenzen lässt, der dennoch nicht privat, also ungeteilt, bleibt. Betroffene bilden mitunter eine (Schicksals-)Gemeinschaft, in die sie über die schmerzhafte Erfahrung und das Teilen dieser Erfahrung erst hineinsozialisiert werden. Sie nutzen die separaten Grabfelder als auch gemeinschaftsbildende Begegnungsorte, die zugleich das Selbstbild, Eltern (gewesen) zu sein, stabilisieren können. Mit neuen Nutzungsformen, wie der Ermutigung der Geschwisterkinder, an dem Grab zu spielen und mit dem verstorbenen Geschwisterkind in Kontakt zu treten, wird der Friedhof alltäglich. Deutlich wird hier die heterogene Raumkonstitution am selben Ort: Der Friedhof lässt sich synthetisieren als ein Ort, der das menschliche Ende repräsentiert oder eben als – einziger – Ort, an dem die Familie vollständig ist oder Gleichgesinnte kennen gelernt und getroffen werden. Die auffällige Gestaltung der bunten, mit Spielzeug und Windrädern dekorierten Grabfelder grenzt diese sichtbar von traditionellen Gräbern ab. Diese Verräumlichungen markieren u.a. den eigenen Schmerz sowie die liebevolle, aufrecht erhaltende Beziehung zum ungeborenen Kind. Die Leerstelle, die es zurücklässt, wird hier mit Artefakten repräsentiert, die zu platzieren zum einen eigene Trauerarbeit sein mag. Zum anderen symbolisieren sie, dass hier (gefühlte) Gewissheit ob des Verlusts eines signifikanten Anderen besteht.
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Begraben im Cyberspace Virtuelle Friedhöfe als Räume mediatisierter Trauer und Erinnerung A NKE O FFERHAUS
T RAUER UND E RINNERUNG
IM I NTERNET
Mit den technischen Möglichkeiten und der zunehmenden Verbreitung des Internets ist seit Mitte der 1990er Jahre jenseits traditioneller Räume wie beispielsweise Friedhöfen eine Vielzahl neuer Räume der Trauer und des Gedenkens entstanden: »Aspetos – wir sichern Erinnerung«, »Stayalive – Portal für digitale Unsterblichkeit«, »Cemeon – virtuelle Ewigkeit«, so nennen sich einige der mittlerweile zahlreichen Angebote von Trauer- und Gedenkseiten im Internet. »Lasst uns unsere Lieben nicht in Vergessenheit geraten. Lasst uns ihnen ein Denkmal setzen, denn auch wenn sie nicht mehr unter uns sind, so werden sie doch für immer in unseren Herzen bleiben«, »Teilen Sie mit Familie und Freunden gemeinsame Erinnerungen auf ihrer interaktiven Gedenkseite« und »Hinterlegen Sie Fotos und Dokumente für die Ewigkeit. Bleiben Sie mit Verstorbenen in Verbindung. Setzen Sie Ihr eigenes Denkmal. Bestimmen Sie selbst, Wer Was Wann sehen kann« – so lauten einige beispielhafte Aufrufe und Vorzüge des Online-Gedenkens, mit denen Anbieter solcher Plattformen werben.1 Und in der Tat: Ob mit Texten, Fotos, Musik oder Videos, mit Pixelblumen, virtuellen Trauerkerzen oder mittels digitaler Kondolenzbücher, ob auf Gedenk-
1
Zitate entstammen den jeweiligen Startseiten von (in zitierter Reihenfolge): www.aspetos.de, www.stayalive.com/de, www.cemeon.de, www.strassederbesten.de, www.gedenkseiten.de, www.stayalive.com/de; Zugriffe jeweils am 1. März 2016.
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seiten oder virtuellen Friedhöfen, speziellen Trauerforen oder in sozialen Netzwerken – auf Tausenden von Internetseiten wird um verstorbene Angehörige wie auch um nahe- und fernstehende Bekannte online getrauert und an sie erinnert. Was früher anlässlich des Todes eines nahestehenden Menschen die Beerdigung war, die Beisetzung des Toten in einem Grab samt sorgsam ausgewähltem Grabstein und verbunden mit einem Trauerkaffee, wird im Internet gegenwärtig an der Gestaltung virtueller Erinnerungsräume und in Form von mediatisierten Ritualen sichtbar. Gepostete Aussagen wie »werde dich immer in meinen Herzen tragen, Papa«, »R.I.P.«, »Wir wünschen der Familie und vorallem der Mama des kleinen Jungen, so viel kraft, um diesen schmerzlichen verlust verkraften zu können! In aufrichtiger Anteilnahme« oder »Hallo Willi, viel Glück auf deiner letzten Reise, wir vermissen dich sehr« verdeutlichen, dass der Trauerprozess2 der Angehörigen im World Wide Web offensichtlich Ausdrucksmöglichkeiten findet, die jenseits individuell-privater und traditioneller Trauerarbeit, wie sie sich z.B. innerhalb von Familien oder im Rahmen religiöser Institutionen als professionellen Trauerbegleitern finden lassen, angesiedelt sind. Dabei spielt es keine Rolle, in welcher Beziehung der oder die Trauernde zur verstorbenen Person stand und um welche Art des Todesfalls es sich handelt. Im Internet scheinen alle Beziehungs- und Verlustvarianten öffentliche Sichtbarkeit und legitime Ausdruckmöglichkeiten zu finden, also unabhängig davon, ob es sich bei den Verstorbenen um eigene Kinder, Eltern, Partner/innen, Freund/innen oder (Medien-)Prominente handelt, und gleich, ob sie aufgrund von Krankheit, Unfall, Suizid oder als Kriegsgefallene starben. Selbst Tierfriedhöfe findet man mittlerweile online.3 Was manchen Menschen auf den ersten Blick befremdlich vorkommt und wie ein Nischenphänomen anmutet, wurde schon früh als Indikator einer sich
2
Kondolenzeinträge auf privaten Gedenkseiten der Internetseite www.cemeon.de; Zugriff am 1. März 2016.
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Ob der öffentliche Ausdruck von Trauer als legitim oder illegitim empfunden wird, ist eng mit gesellschaftlichen Trauernormen verbunden. Diese geben vor, wer, wann, wo, wie, für wie lange und für wen trauern darf. ›Entrechtete‹ Trauernde (vgl. Doka 1989) dürfen ihre Trauer nicht öffentlich ausdrücken, erhalten keine Anerkennung für den Verlust und somit keine soziale Unterstützung. Doka (2007: 290ff.) nennt fünf Gründe, die zum Entzug einer legitimen Trauerrolle führen: Wenn die Beziehung zum Verstorbenen nicht anerkannt ist, wie z.B. eine homosexuelle Partnerschaft; wenn der Verlust nicht anerkannt ist, wie z.B. der Tod des Haustieres; wenn die Trauernden selbst nicht anerkannt sind, wie z.B. psychisch behinderte Menschen; wenn die Art und Weise, die zum Tod geführt hat, nicht anerkannt ist, wie z.B. Tod durch Suizid.
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wandelnden Bestattungs-, Trauer- und Erinnerungskultur interpretiert (vgl. z.B. Geser 1998: 126, 1999: 233ff; Schwibbe/Spieker 1999: 241). Auch knapp zwei Jahrzehnte später scheint es nach wie vor, oder vielleicht sogar mehr denn je lohnenswert, Internetfriedhöfe als Teil einer mediatisierten Bestattungs-, Trauerund Erinnerungskultur zu begreifen und sich mit den digitalen Formen des Trauerns und Erinnerns auseinanderzusetzen. Als soziokulturell angeeignete Praktiken und Rituale können diese Phänomene der Trauerkommunikation und des Trauerprozesses ebenso wie die damit verbundenen Bestattungs-, Trauer- und Erinnerungsorte vor dem Hintergrund medialer und gesellschaftlicher Veränderungen betrachtet werden (vgl. dazu genauer Offerhaus et al. 2013: 277ff.). Konzeptionell fassbar werden diese Veränderungen mit dem in der Kommunikations- und Medienwissenschaft gegenwärtig prominent verhandelten sozialkonstruktivistischen Ansatz der Mediatisierung. Mediatisierung bezeichnet als sogenannter Metaprozess »den Prozess sozialen und kulturellen Wandels, der dadurch zustande kommt, dass immer mehr Menschen immer häufiger und differenzierter ihr soziales und kommunikatives Handeln auf immer mehr ausdifferenzierte Medien beziehen« (Krotz 2008: 53). Ausgangspunkt des Mediatisierungsansatzes sind Wechselverhältnisse zwischen dem Wandel von Medien und Kommunikation einerseits und dem Wandel von Kultur und Gesellschaft andererseits. Aus einer prozessorientierten Perspektive geht der Ansatz von einer Vervielfältigung der medialen Kommunikationsmöglichkeiten sowie von einer zunehmenden medialen Durchdringung von Alltag und Kultur aus (quantitativer Aspekt) und verbindet dies mit der These eines langfristigen, auf der Mikroebene beginnenden sozialen Wandels (qualitativer Aspekt) (vgl. Hepp 2013: 48f.). Medien wie beispielsweise das Internet wandeln Gesellschaften in dem Moment, in dem sie von Menschen angeeignet und mit spezifischen Sinnkonstruktionen belegt werden. Dabei ist, so die Annahme, von dynamischen und zirkulären Prozessen zwischen technischen Strukturen und sozialen Aneignungsweisen auszugehen. Medien werden in diesem Ansatz als technisch basierte soziale Institutionen betrachtet, über die Menschen kommunizieren und mittels derer sie handeln. Im Untersuchungsfokus des Mediatisierungsansatzes stehen neben traditionellen Massenmedien daher insbesondere Medien der interpersonalen Kommunikation und ihre Einbettung in das kommunikative Handeln im Alltag. Fokussiert man den Prozess der Mediatisierung auf die mittlerweile erreichte Omnipräsenz des Hybridmediums Internet,4 stellt sich die Frage nach der Cha-
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Der von Joachim R. Höflich (1997) eingeführte Begriff ›Hybridmedium‹ verweist auf die diversen Mischformen von Massen- und Individualkommunikation innerhalb dieses Mediums sowie auf die Möglichkeit der Nutzer/innen, unmittelbar zwischen den
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rakterisierung des Internets als mediatisierten Kommunikationsraum ebenso wie die Frage nach den Eigenarten der Online-Kommunikation als dem mediatisierten kommunikativen Handeln von Menschen. Beides lässt sich in Beziehung zu einer sich wandelnden Trauer- und Erinnerungskultur setzen, insofern hier Menschen offensichtlich neue, nämlich Räume der mediatisierten Trauer und des mediatisierten Gedenkens, schaffen und gestalten. Im Unterschied zum physisch-erfahrbaren und geographisch-lokalisierbaren Ort soll entsprechend der Argumentation Michel de Certeaus Raum als der Ort beschrieben werden, »mit dem man etwas macht« (Certeau 1988: 218). Dieser Anspruch beinhaltet die handlungstheoretische Erkenntnis, dass erst die Tätigkeit, also das Handeln des Menschen, Raum erzeugt. Hieran lassen sich eine Reihe von Fragen anschließen, die darauf zielen, virtuelle Friedhöfe als Räume mediatisierter Trauer und Erinnerung näher zu charakterisieren. So kann man fragen, was virtuelle Friedhöfe kennzeichnet sowie auf welche Weise und mit welchen Motiven Menschen diese nutzen. Darüber hinaus stellen sich die Fragen, wie sich ihre soziale Bedeutung vor dem Hintergrund von Raum und Zeit interpretieren lässt und in welchem Verhältnis virtuelle Friedhöfe zu gesellschaftlichen Wandlungsprozessen stehen. Ziel dieses Beitrags ist es nachzuzeichnen, wie sich auf virtuellen Friedhöfen bzw. Online-Friedhöfen technische Infrastrukturen und soziale Aneignungsweisen wechselseitig bedingen, und auf welche Art und Weise und mit welchen Motiven Menschen ihre Trauer und Erinnerung online gestalten. Dabei sollen im folgenden Abschnitt zunächst Aspekte der technischen Infrastruktur fokussiert werden, während im dritten Abschnitt die Konstitution des sozialen Raums in den Blick genommen wird. Im abschließenden Abschnitt werden beide Dimensionen unter der Perspektive des virtuellen Friedhofs als Raum mediatisierter Trauer und Erinnerung zusammengeführt, hinsichtlich der Bedeutung von Raum und Zeit diskutiert und ins Verhältnis zu gesellschaftlichen Veränderungen gesetzt.
verschiedenen Kommunikationsmodi zu wechseln. Als ›omnipräsent‹ kann man das Internet aufgrund seiner weitreichenden Verbreitung (80% der Bevölkerung haben Zugang) in Form unterschiedlicher stationärer (PC) und mobiler Endgeräte (Laptop, Smartphone, Tablet) sowie aufgrund seiner intensiven (d.h. bei 55% der Bevölkerung täglichen) Nutzung betrachten. Omnipräsenz bedeutet aber auch, WLAN oder ein Mobilfunknetz vorausgesetzt, durch mobile Endgeräte von jedem Standort zu jedem Zeitpunkt die allgegenwärtige Möglichkeit eines Internetzugangs zu haben, was sich in einer steigenden Unterwegsnutzung widerspiegelt (vgl. Frees/Koch 2015).
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D ER VIRTUELLE F RIEDHOF ALS TECHNISCHE I NFRASTRUKTUR : M ERKMALE UND F UNKTIONEN Wer in den Suchmaschinen des Internets (bzw. genauer, im World Wide Web als einem spezifischen Dienst des Hybridmediums Internet) nach den Begriffen ›virtueller Friedhof‹, ›Internetfriedhof‹, ›Onlinefriedhof‹ oder allgemeineren Begriffen wie ›Tod‹, ›Trauer‹ oder ›Erinnerung‹ sucht, trifft mittlerweile auf eine Vielzahl unterschiedlicher Typen von Trauer- und Gedenkseiten. So lassen sich (1.) virtuelle Friedhöfe und Gedenkplattformen, (2.) Trauer- und Erinnerungsportale, (3.) private Homepages als Gedenkseiten und (4.) Profilseiten von Verstorbenen auf Social Network-Sites (SNS)5 unterscheiden (vgl. hierzu genauer Offerhaus 2016). Charakteristika jenseits dieser Klassifizierung, wie z.B. im Hinblick auf technische Nutzungsmöglichkeiten, gehen auf die Fragen zurück, ob es sich bei den jeweiligen Websites um kollektiv oder individuell produzierte Seiten handelt und ob die Produzenten der Website private oder kommerzielle Interessen verfolgen. Aufgrund der Vielzahl von Erscheinungsformen soll an dieser Stelle zunächst abhängig von der Frage, ob es sich dabei um kollektiv oder individuell produzierte Seiten handelt, zwischen einer engeren und einer weiteren Definition von virtuellen Friedhöfen unterschieden werden. Als virtuelle Friedhöfe (virtual cemeteries oder online cemeteries) im engeren Sinne kann man Online-Plattformen bezeichnen, auf denen Grabmäler und Gedenkseiten für Verstorbene erstellt werden können. Ähnlich wie bei einem realen Friedhof als einem lokal abgegrenzten Feld von Gräbern bildet hier ein strukturiertes Netzwerk von angelegten Grab- und Gedenkseiten in seiner Gesamtheit einen virtuellen Friedhof. Die angelegten Grabmäler sind dabei zumeist in virtuellen Landschaften bzw. in einer an realen Friedhöfen angelehnten räumlichen Ikonographie platziert (Abb. 1). Die ersten virtuellen Friedhöfe entstanden Mitte der 1990er-Jahre vorwiegend auf US-amerikanischen und britischen Internetseiten (Schwibbe/Spieker 1999: 220ff.). Auch auf deutschsprachigen Seiten finden sich zahlreiche virtuelle Friedhöfe.6 Zudem ist ein Zuwachs an Gedenk-
5
In einem weiteren Sinne können hierunter auch soziale Online-Medien wie die VideoSharing-Plattform YouTube oder der Foto-Online-Dienst Instagram subsummiert werden.
6
Beispiele aktueller Online-Friedhöfe auf deutschen Seiten: www.strassederbesten.de; www.mymemorial24.de; www.burify.com. International: The World Wide Cemetery, unter: www.cemetery.org.
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und Erinnerungsplattformen (online memorials) zu beobachten.7 Sie stellen ebenfalls einen Verbund von Gedenkseiten dar, der in Struktur und Aufbau nahezu identisch mit virtuellen Friedhöfen ist, aber weitgehend auf eine Friedhofssymbolik verzichtet.8 Während die Zielgruppe von Online-Friedhöfen ausschließlich Angehörige sind, die hier für ihre Verstorbenen Gedenkseiten einrichten können, adressieren Anbieter solcher Portale darüber hinaus immer häufiger auch Menschen mit der Aufforderung, sich schon zu Lebzeiten ein digitales Vermächtnis zu schaffen, also eigene Erinnerungsseiten für ihre Angehörigen zu gestalten.9 Darüber hinaus kann man unter virtuelle Friedhöfe in einem weiteren Sinne auch private Homepages und Profilseiten auf SNS fassen, die beim Tod eines Angehörigen als Gedenkseite gestaltet werden. Da sie keinen thematischen Seitenverbund darstellen, gleichen sie eher individuell definierten Erinnerungsorten wie einem Hausaltar mit Bildern des/der Verstorbenen oder dem unveränderten Kinderzimmer eines gestorbenen Kindes. Die folgende Beschreibung typischer Merkmale und Funktionen von Onlinefriedhöfen orientiert sich an Beispielen von virtuellen Friedhöfen im engeren Sinne. Nichtsdestotrotz lassen sich zahlreiche der hier festgestellten interaktiven und kollaborativen Funktionen, die den technischen Raum konstituieren, auch auf individuell produzierten und organisierten Trauer- und Gedenkseiten finden. Aus der Sicht seiner Anwender ist für die technische Infrastruktur des Internets das sogenannte ›Interface‹ (Schnittstelle) zentral. Hierbei handelt es um den Teil eines technischen Systems, das aus Hard- und Software besteht und das der Kommunikation dient. Als ›Benutzerschnittstelle‹ (user interface) bzw. Benutzeroberfläche wird in der Informatik die Stelle oder Handlung bezeichnet, mit der ein Mensch mit einer Maschine in Kontakt tritt, es also zu einer MenschComputer-Interaktion kommt. In Bezug auf Onlineanwendungen im WWW gehören dazu alle interaktiven Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten, die ein Nutzer hat, wenn er auf Webseiten surft, dabei Seiten anschaut und Links an-
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Gemessen an der Art der Suchmaschinen-Ergebnisse zu ›Virtueller Friedhof‹ und der Sammlung dessen, was beispielsweise die Seite www.onlinefriedhof.net unter ›Online-Friedhöfen‹ bündelt, scheinen Gedenkplattformen die Zahl von OnlineFriedhöfen mittlerweile zu übersteigen.
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Beispiele aktueller Gedenkportale: www.memoriamportal.de; www.ewigesleben.de; www.cemeon.de; international: www.virtualmemorialgarden.net.
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www.stayalive.com/de ist ein kostenpflichtiges Angebot, das – wie schon aus dem Namen hervorgeht – an Lebenden adressiert ist und dessen Preise sich nach Laufzeit, Datenvolumen/Speicher und der Anzahl der Personen richtet, für die Gedenkseiten erstellt werden sollen.
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klickt (Elemente des statischen, Information präsentierenden Web 1.0), oder wenn er dabei Seiten kommentiert, selbst Inhalte erstellt und diese mit anderen teilt (Elemente des dynamischen, partizipativen Web 2.0). Wie die Benutzeroberfläche gestaltet ist und welche Handlungsmöglichkeiten die Besucher des virtuellen Friedhofs haben, hängt entscheidend von der Frage ab, wie die Plattform finanziert wird. Auf vielen Online-Friedhöfen ist die Anlage von Gräbern und Gedenkseiten kostenlos und finanziert sich über Werbeanzeigen. Eine Reihe von Angeboten offeriert eine kostenlose Basis-Nutzung, die gegen Entgelt um zusätzliche Funktionen und Handlungsmöglichkeiten erweitert werden kann. Andere kostenpflichtige Angebote finanzieren sich ausschließlich über Nutzungsgebühren. Hier richten sich die Kosten nach Umfang und Vielfalt der Gestaltungsmöglichkeiten sowie nach der Dauer der Speicherung der vom Nutzer hochgeladenen Daten. Eine Einstiegsseite enthält in der Regel folgende Elemente: die Möglichkeit zur Registrierung bzw. wiederholten Anmeldung im Computersystem (login), der Einstieg in die Nutzung der im Mittelpunkt stehenden Dienste wie das Anlegen von Grabstätten und Gedenkseiten oder der Eintritt in ein Trauerforum in der Menüleiste, sowie darüber hinaus die Nutzung verschiedener Suchoptionen an verschiedenen Stellen der Seite. Am abgebildeten Beispiel des virtuellen Friedhofs www.strassederbesten.de (SdB) wird zudem eine Verschränkung mit der Nutzungsoption anderer Social Media Dienste wie facebook, twitter und google+ deutlich. Die sich hinter der Benutzeroberfläche befindenden technischen Infrastrukturen lassen sich hinsichtlich interaktiver und kollaborativer Funktionen unterscheiden. Interaktive Funktionen ermöglichen ›virtualisierte Medienkommunikation‹10, also die Interaktion des Nutzers mit dem Computerprogramm zur Gestaltung seiner individuellen Trauer.11 Kollaborative Funktionen ermöglichen, so-
10 Hepp (2013: 59) unterscheidet vier Grundtypen der Kommunikation: 1. Direkte Kommunikation (z.B. Gespräch); 2. Wechselseitige Medienkommunikation (z.B. Telefonat); 3. Produzierte Medienkommunikation (z.B. Fernsehen) und 4. Virtualisierte Medienkommunikation (z.B. Computerspiel). 11 Dabei muss nicht zwangsläufig die persönliche Betroffenheit von einem Todesfall Motiv für den Besuch und die Nutzung der Seiten darstellen. Da auf virtuellen Friedhöfen prinzipiell jede/r Gräber für Verstorbene anlegen kann, gibt es auch Seiten, die von Verehrern verstorbener Prominenter angelegt wurden. Darüber hinaus kann man davon ausgehen, dass es einen beträchtlichen Anteil von Menschen gibt, die aus unterschiedlichen Gründen als stille ›lurker‹ die Aktivitäten und den Erfahrungsaustausch beobachten (vgl. DeGroot 2014).
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fern die Trauernden dies möchten, eine ›wechselseitige Medienkommunikation‹ mit anderen Plattformnutzer/innen und somit eine kollektive Trauer. Beide Funktionstypen umfassen jeweils auch automatisierte bzw. algorithmisierte Funktionen, die durch die Software erfolgen.
Abb. 1: Startseite des Online-Friedhofs ›Straße der Besten‹. Quelle: www.strassederbesten.de; Zugriff am 1. März 2016.
Auf virtuellen Friedhöfen steht die ›interaktive Funktion‹ der Anlage eines Grabes bzw. einer Gedenkseite im Mittelpunkt. Dabei kann das Grab entweder nach den vorgegebenen Grafik-Elementen und ästhetischen Schemata der Seite oder, wie bei manchen Angeboten, auch eigenbestimmt gestaltet werden. Entscheidend ist, dass die vom Ersteller vorgenommenen Einstellungen im Laufe der Zeit immer wieder verändert werden können. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, auf der für den Verstorbenen angelegten Seite Texte und Bilder sowie, je nach technischer Struktur der Seite, auch Musik und Videos zu veröffentlichen, welche die Nachwelt auch längerfristig an den Verstorbenen erinnern. Ist eine öffentliche Sichtbarkeit der Gedenkseite nicht erwünscht, kann sie bei manchen Friedhöfen kennwortgeschützt, also für andere unsichtbar gemacht oder nur für eine vom Ersteller der Seite definierte ›Trauergemeinde‹ zugelassen werden. Zu den automatisierten interaktiven Funktionen gehören Erinnerungsmails des Plattformbetreibers an den Todestag ebenso dazu wie Erinnerungen daran, den Friedhof wieder einmal aufzusuchen, wenn der Ersteller einer Gedenkseite diesen schon lange nicht mehr besucht hat.
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Aber nicht nur der Ersteller der Seite, sondern auch Familienangehörige und Freunde und ebenso fremde Besucher können virtuelle Gedenkkerzen anzünden und schriftliche Beileidsbekundungen (oder aktuell auf SdB gegen Entgelt auch symbolische Geschenke,12 die besonders auffällig positioniert werden können) auf der Seite hinterlassen, um so ihre Kondolenz, also ihre (Mit-)Trauer zu bezeugen. Diese stellen zentrale ›kollaborative Funktionen‹ von virtuellen Friedhöfen dar. Handelt es sich dabei nicht um Einträge von anonymen Gästen, kann der Nutzer auf solche Kommunikationsangebote ebenfalls angemeldeter Nutzer eingehen und ihnen antworten. Darüber hinaus ermöglichen manche Plattformen durch integrierte Foren den Austausch mit anderen Nutzern. Die dort stattfindende, textbasiert-asynchrone Kommunikation wird durch die jeweilige technische Anordnung der Beiträge strukturiert und ist hinsichtlich der Länge und ihres Zeithorizontes völlig offen. Auch die kollaborative Funktion virtueller Friedhöfe wird durch zahlreiche automatisierte bzw. algorithmisierte Kommunikationsangebote forciert. Auf der Startseite der Plattform sind sich fortlaufend aktualisierende Listen sichtbar, die einzelne Seiten nach unterschiedlichen Kriterien wie »neuste bzw. zuletzt angelegte Seiten (Gräber, Gedenkstätten etc.)«; »am häufigsten besuchte Seiten«; »zufällige Seiten«; »heute gedenken wir...« ordnen, um auf diese Weise die Aufmerksamkeit der Seitenbesucher zu gewinnen. Zudem erhalten angemeldete Nutzer/innen Änderungsmitteilungen, wenn jemand auf ihrer Seite aktiv war oder eine Nachricht hinterlassen hat. Handelt es sich dabei ebenfalls um angemeldete Nutzer/innen, kann die entsprechende Person direkt kontaktiert werden. Ein möglicherweise daraus erfolgter dialogischer Nachrichtenaustausch wird sodann in einer Nachrichtenhistorie gespeichert. Manche Plattformen erfassen die Aktivitäten auf den Gedenkseiten in Form von Besucherstatistiken. Neben diesen als Kommunikationsaufforderungen zu verstehenden Listen können Grabstätten auch gezielt gesucht werden. Dabei stehen verschiedene Suchfunktionen zur Verfügung, durch die nach anderen Mitgliedern, aber auch nach Verstorbenen mittels deren Namen, Sterbedatum sowie ihren Geburts- und Sterbeorten gesucht werden kann. Abbildung 2 zeigt die Ergebnisse einer Kartensuche nach dem Sterbeort ›Koblenz‹ inklusive eines räumlichen Umkreises von fünf Kilometern, einerseits visualisiert anhand einer google maps-Karte und der darin abgebildeten und einzeln aufrufbaren Gräber, und andererseits gelistet
12 Die dabei zur Auswahl stehenden Symbole variiert von unterschiedlichen Kerzen, Blumen, Rosen, Blättern, Herzen, Teddybären bis hin zu religiösen Symbolen wie keltischem und christlichem Kreuz, jüdischem Davidstern und der muslimischen Mondsichel Hilal.
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nach Namen der in Koblenz Verstorbenen. An anderer Stelle erlaubt die Software in ähnlicher Weise durch die Wahl eines Geburts- oder Sterbeorts einen neuen nutzerspezifischen Friedhof zu generieren, der lediglich die Gräber des jeweilig gesuchten Ortes in einer Friedhofslandschaft platziert.
Abb. 2: Kartensuche auf dem Online-Friedhof ›Straße der Besten‹. Quelle: www.strassederbesten.de; Zugriff am 1. März 2016.
Das Suchangebot und die Visualisierung von Geburts- und Sterbeorten sind insofern bemerkenswert, als sie in zweierlei Hinsicht die entgrenzte, translokalvernetzte technische Infrastruktur des Online-Friedhofs und den lokal fixierbaren, physischen Ort miteinander verschränken. Zum einen wird auf diese Weise die virtuelle Grabstätte des Verstorbenen mit dem tatsächlichen Sterbeort in Beziehung gesetzt. Auf der Plattform www.stayalive.com/de wird diese Verbindung noch weiter konkretisiert, insofern die Nutzer/innen hier virtuell angelegte Gedenkstätten mit realen Friedhöfen, die, ähnlich wie ein Branchenbucheintrag, mit Namen und Adresse angegeben sind, verknüpft werden können.13 Zum ande-
13 Ein ähnliches, vom realen Friedhof als Bestattungsort ausgehendes Phänomen stellen die seit einigen Jahren populärer werdenden, kunstvoll in Grabsteine eingravierten QR-Codes (engl. für Quick Response) dar. Die zunächst für den logistischen Bereich kreierten und vor allem aus der Werbung bekannten Binärcodes verlinken beim Abscannen auf persönliche Homepages. Diese leisten als digitale Gedenkseiten mit Nachrufen, Biografien und anderen digitalen Dokumenten von Verstorbenen einen er-
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ren eröffnet sich dadurch für die Hinterbliebenen die Möglichkeit zur virtuellen Kollaboration und somit zu einem Aufbau sozialer Beziehungen, um die Trauererfahrung kollektiv zu bewältigen. Nutzen Trauernde eine solche Suche, beruht der Erstkontakt zu Mittrauernden an entsprechenden Orten mit hoher Wahrscheinlichkeit auf einer lokalen Identifikation als gemeinschaftsstiftende Basis für die wechselseitige Medienkommunikation. Zudem ermöglicht ein Leben am gleichen Ort eine einfach zu realisierende direkte Kommunikation, die den virtuellen Erfahrungsaustausch ergänzen kann. Fasst man die Darstellung der Merkmale und Funktionen von virtuellen Friedhöfen zusammen, ist Folgendes festzuhalten: Der Online-Friedhof kann als technische Infrastruktur zur Bildung eines Kommunikationsraums betrachtet werden. Die darin stattfindende Kommunikation, unabhängig davon, ob es sich um wechselseitige Medienkommunikation zwischen den Nutzerinnen und Nutzern oder um virtualisierte Medienkommunikation eines Nutzers mit der Friedhofs-Software handelt, ist technisch geprägt. Somit strukturiert sich der Kommunikationsraum zum einen durch die vorhandenen und potentiell nutzbaren technischen Zugriffsmöglichkeiten sowie durch die teilweise damit verbundenen, programmierten Automatismen. Zum anderen generiert er sich als sozialer Raum im Moment der tatsächlichen Anwendung durch die Nutzer/innen. Als strukturiertes Netzwerk von Gedenkseiten ist der virtuelle Friedhof der Dimension des lokalen bzw. des physisch-geografischen Ortes entzogen. Charakteristisch für virtuelle Friedhöfe ist also eine ›Entörtlichung‹, da die technische Infrastruktur nicht mehr lokal fixierbar und zudem permanent veränderbar ist, bei einer jedoch gleichzeitig möglichen ›Verräumlichung‹ durch seine Nutzer/innen. Wie und warum virtuelle Friedhöfe genutzt werden und wie sich dabei technische Infrastrukturen und soziale Aneignungsweisen wechselseitig bedingen, soll im folgenden Abschnitt genauer gezeigt werden.
D ER VIRTUELLE F RIEDHOF ALS SOZIALER R AUM : M OTIVE UND ANEIGNUNGESWEISEN Unabhängig von dem, was auf virtuellen Friedhöfen technisch möglich ist, stellt sich die Frage, inwieweit dieser technische Raum sozial angeeignet wird – oder anders formuliert: auf welche Weise und mit welchen Motiven Trauende eine
gänzenden Beitrag dazu, lokale Gräber über die alleinige Angabe von Namen, Geburts- und Sterbedaten hinaus persönlicher und individualisierter zu gestalten (vgl. dazu z.B. Nord 2016).
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solche technisch-mediale Infrastruktur nutzen. Um diese Frage zu beantworten, kann an dieser Stelle auf die Ergebnisse einer Untersuchung der Autorin zu Praktiken und Motiven von Nutzerinnen und Nutzern des Online-Friedhofs ›Straße der Besten‹ zurückgegriffen werden.14 Diese basiert auf einer qualitativen Inhaltsanalyse des Forums ›Trauer und Trost‹15 und qualitativen Leitfadeninterviews mit Nutzer/innen der Seite. Die qualitative Inhaltsanalyse der Forenbeiträge erfolgte nach zwei unterschiedlichen Verfahren. Zur Beantwortung der Frage, worüber sich die Forenmitglieder austauschen, wurden in Anlehnung an Verfahren der Kategorienbildung nach Mayring (2010) Themen und Themenkontexte identifiziert und dabei besonders auf das Verhältnis von Trauerbewältigung on- und offline geachtet. Zur Beantwortung der Frage, wie die Forennutzer/innen miteinander über ihre Trauer reden, wurde eine Interaktionsanalyse durchgeführt, die sich auf Verfahren der Konversationsanalyse stützt (zur Interaktionsanalyse politischer Forenkommunikation vgl. Hepp et al. 2015: 121ff., 246f.). Der Interviewleitfaden bestand aus vier Themenblöcken. Um einen unkomplizierten Einstieg in das Gespräch zu finden, wurde zunächst ganz allgemein nach der Internetnutzung und ihrer Einbindung in den Alltag gefragt. Die Frage nach dem Anlass, den Online-Friedhof SdB aufzusuchen, schlug den Bogen zu Erzählungen zum Todesfall. Hier wurde darauf geachtet, die Breite und Tiefe der Schilderungen ausschließlich von dem bzw. der Interviewten bestimmen zu lassen. Der dritte Themenblock widmete sich dem konkreten Umgang mit und der Bedeutung des virtuellen Friedhofs. Hier wurde das Verhältnis zur Öffentlichkeit, zu anderen Nutzer/innen, zu den Themen des Forums sowie zu Kontakten im nicht-virtuellen sozialen Umfeld der Interviewpartner/innen angesprochen. Um die Bedeutung des virtuellen Friedhofs einschätzen zu können, wurde im letzten Block ganz allgemein nach den Phasen und Formen der Trauerbewältigung sowie dem Verhältnis von Trauer und Religion gefragt. Die Auswertung erfolgte in einem an die Grundsätze der Grounded Theory angelehnten Prozess des offenen Kodierens (Glaser/Strauss 1998; Krotz 2005). Die Ergebnisse der beiden Teilanalysen werden an dieser Stelle verdichtet und anhand von vier Thesen dargestellt, die die jeweiligen Merkmale des sozialen Raums akzentuieren.
14 Zu den methodischen Details und einer ausführlichen, mit Zitaten belegten Darstellung der Ergebnisse vgl. Offerhaus et al. (2013). 15 Zugriff unter: www.strassederbesten.de/onlinefriedhof/Trauer-Forum.html
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These 1: Virtuelle Grab- und Erinnerungsstätten tragen der ästhetischen und religiösen Individualisierung der Trauerarbeit Rechnung Hierbei geht es um den individuellen Ausdruck von Trauer. Trauer hat zwei Seiten, die im englischen Sprachgebrauch durch die Unterscheidung von ›grief‹ und ›mourning‹ deutlich werden. Bei ›grief‹ geht es um das individuelle Erleben von Trauer, um das Gefühl der Trauer und die damit verbundenen innerpsychischen und körperlichen Prozesse in Reaktion auf den Verlust. ›Mourning‹ bezeichnet die öffentliche, die soziale Seite von Trauer, also den nach außen sichtbaren, gesellschaftlich normierten Umgang mit dem Verlust (vgl. Sörries 2012: 11). Für Trauerarbeit von Menschen im Internet ist charakteristisch, dass hier individuellpsychische Bewältigungsstrategien (das sogenannte ›Coping‹) und soziale Prozesse der Trauer in enger Wechselbeziehung zueinander stehen und mitunter ›das Innere nach außen gekehrt wird‹. So ist es nicht ungewöhnlich, dass sowohl auf den individuellen Gedenkseiten als auch im Trauerforum sehr emotionale Äußerungen zu finden sind und dass Verstorbene häufig direkt adressiert werden: »Oma, ich danke Dir für alles und wünsche Dir alles alles liebe zu deinem Sterngeburtstag!!! Ich liebe und vermisse Dich unendlich.....« (thread 6, 201208-14 01:20:50). Auch im Forum ist das zentrale Thema der Mitglieder die Intensität der Trauer und die Möglichkeit der Trauerbewältigung. Die häufigste Frage, die Trauernde an andere richten, ist, wie lange das intensive Gefühl der Trauer andauert bzw. was im Zusammenhang des eigenen Trauerempfindens eigentlich ›normal‹ ist. Damit verbunden werden zunächst viele persönliche Aspekte angesprochen, die in Beziehung zum erlebten Schicksal stehen: Es wird dargestellt, wer der verstorbene Mensch war, wann und wie er gestorben ist und welche Trauergefühle dies ausgelöst hat. Die Aussagen zu den eigenen Trauererfahrungen geben nicht nur einen Ausdruck der Tiefe des Schmerzes wider, sondern verweisen auch auf das Problem, die Trauer im alltäglichen Leben aus unterschiedlichen Gründen im sozialen Umfeld nicht mitteilen zu können. Manche empfinden die allgemeine Tabuierung von Tod und Trauer durch die Gesellschaft und die Unsicherheit des eigenen sozialen Umfelds als belastend, sodass sie dort auf den Ausdruck ihrer Trauer verzichten. Die meisten aber fürchten, mit ihrer – zum Teil lang anhaltenden – Trauer ihren Partner/innen, Familien oder Freund/innen zur Last zu fallen: »[Trotzdem] möchte ich niemand traurig machen niemand mit runterziehen [...] Und glaube mir liebe Petra ich kenne meine familie sehr gut... wenn ich alles denen zählen würde
352 | A NKE OFFERHAUS was ich fühle würden sie daran zerbrechen dann brauchten sie hilfe und nicht ich« (thread 1, 2012-09-06 22:49:37).
Dieser Problemzusammenhang wird auch in Interviewaussagen wie dieser bekräftigt: »Ich habe die Erfahrung gemacht, dass dir Fremde immer zuhören. Die Familie hört nur eine Zeit zu und dann will es keiner mehr hören. Leider! Und Freunde sagen ›Komm, das Leben geht weiter!‹. Das ist ein Satz, den können wir Trauernden gar nicht mehr hören« (Daniela, 52).
Angesprochen wird in diesem typischen Zitat die subjektive Wahrnehmung, dass hier Fremde immer zuhören, im Unterschied zu Freunden und Familie, die nach einer gewissen Zeit nicht mehr auf den Schmerz der Trauerenden eingehen. Ein weiterer Aspekt des individuellen Ausdrucks von Trauer, der sowohl in den Interviews als Grund für die Nutzung einer virtuellen Gedenkseite betont, als auch anhand der im vorherigen Abschnitt abgebildeten Grabmäler sichtbar wird, ist die Freiheit der individuellen Gestaltung der Grabmäler. So berichtet eine Interviewte von jahreszeitlich abgestimmtem grafischem Grabschmuck und ein anderer Befragter davon, dass er mit seinen ebenfalls trauernden Freunden in einem passwortgeschützten Bereich private Videos und die Lieblingsmusik des Verstorbenen teilt. In den folgenden Abbildungen sind Varianten in der Gestaltung von Gräbern zu sehen. Die oberen beiden Bilder (Abb. 3 und 4) zeigen Beispiele für die Gestaltung von Sternenkinder-Gräbern.16 Über diese Beispiele hinaus kann festgehalten werden, dass das, was multimedial und ästhetisch möglich ist, nach individuellem Geschmack und technischem Know-how auch kreativ und vielfältig in beliebigen Kombinationen genutzt wird. Aus den Beiträgen im Forum und anhand der Gestaltungselemente lässt sich eine individualisierte Form von Spiritualität ablesen, die mit der Trauer verbunden ist. Diese rekurriert zwar auf religiöse Symboliken (z.B. Kerzen, Kreuze, Rosen, Engel, Tauben) und eine religiöse Terminologie (z.B. ›R.I.P.‹ als populär verwendete Kurzform von ›Ruhe in Frieden‹), bleibt aber ohne tiefergehende religiöse Bedeutung. Damit übereinstimmend fällt in den Gesprächen mit den Nutzer/innen des virtuellen Friedhofs auf, dass religiöse oder kirchliche Bezüge für ihre Trauer nahezu keine Rolle spielen. Wenn überhaupt, wird lediglich das kirchliche Bestattungsritual in den Zusammenhang von Trauer gestellt. Wesent-
16 Als so genannte ›Sternenkinder‹ werden Kinder bezeichnet, die – im engen Sinne – vor oder während der Geburt oder – im weiteren Sinne – als Kleinkinder verstarben.
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lich bedeutsamer für die Interviewten sind spirituelle Erlebnisse wie die gefühlte Anwesenheit des/der Verstorbenen oder von ihm/ihr gesendete Zeichen. Solche Erlebnisse werden allerdings ebenfalls lieber Forenmitgliedern als Menschen im unmittelbaren sozialen Umfeld mitgeteilt.
Abb. 3 bis 6: Gräber auf dem Online-Friedhof ›Straße der Besten‹. Quellen aller Bilder: www.strassederbesten.de (Zugriffe jeweils am 1. März 2016).
Insgesamt erscheint der Ausdruck von Trauer im virtuellen Raum somit wenig bis gar nicht sozial normiert, ein Merkmal, das Hans Geser (1998: 14) als ›idiosynkratische‹ Form der Trauer bezeichnet. Nichtsdestotrotz bleibt in diesem Zusammenhang festzuhalten, dass trotz eines erweiterten Repertoires an Symbolen und Gestaltungsweisen Vieles sehr eng an kulturell Bekanntes angelehnt bleibt.
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These 2: Virtuelle Grab- und Erinnerungsstätten stellen eine raum- und zeitunabhängige Anlaufstelle im Prozess der Trauerbewältigung dar Hier geht es um Trauerrituale und den Trauerprozess. Trauerritualen als dem (nach der Bestattung) ausführbaren Repertoire symbolischer und regelmäßig stattfindender Handlungspraktiken wird die Funktion zugeschrieben, den Verstorbenen zu ehren und den Hinterbliebenen den Abschied zu erleichtern (vgl. Schäfer 2011: 96ff.). Auch in der Aneignung des virtuellen Friedhofs und in der Kommunikation seiner Nutzer/innen lassen sich individuelle und kollektive Trauerrituale ausmachen. Aus den Trauerforumsbeiträgen geht hervor, dass die Gestaltung des virtuellen Grabs des Verstorbenen und das damit verbundene Ritual, am Grab virtuelle Kerzen aufzustellen, ein zentrales Thema für die Trauernden darstellt. Die Forenbeiträge lassen auf die gängige Praxis schließen, auf dem Friedhof nicht nur regelmäßig Kerzen am Grab des eigenen Angehörigen anzuzünden, sondern auch an den Gräbern anderer Personen. Daran wird deutlich, dass das Aufstellen von Kerzen nicht nur für die Trauernden selbst ein wichtiges Ritual der Erinnerung an den Verstorbenen darstellt, sondern auch ein Zeichen der Aufmerksamkeit, Verbundenheit und des wechselseitigen Trostspendens unter den Nutzerinnen und Nutzern, das offensichtlich einen hohen Grad an Verbindlichkeit genießt. Auch in den Interviews wird das Aufstellen von Kerzen angesprochen. Hier wird zunächst das Bedürfnis betont, sich ein persönliches Ritual zu schaffen. Sich noch regelmäßig an den Verstorbenen zu erinnern und ein Zeichen des Nicht-Vergessens zu setzen, ist für die Interviewten insbesondere dann von Bedeutung, wenn sie nicht in der Nähe des Friedhofs wohnen und wenn die Trauer der anderen im Alltagsleben wieder nachlässt oder womöglich gar nicht vorhanden ist. Dabei ist entscheidend, dass dieses Ritual in seinem Umfang und seiner Intensität für das Umfeld unsichtbar bleibt. Die Trauernden entziehen sich für diese privaten Momente dem alltäglichen Leben und der Erwartung, die Trauer nach einer gewissen Trauerzeit überwunden zu haben. Aus manchen Interviews geht hervor, dass es sich dabei nicht um die einzige ritualhafte Handlung handelt, sondern dass diese durch weitere Rituale in der Offline-Welt wie Kerzen im Fenster anzünden u.ä. ergänzt werden. Es handelt sich dabei allerdings vor allem um offenkundig legitimierbare Anlässe wie Geburts- und/oder Todestage der verstorbenen Person. Die Interviewpartner/innen schätzen also nicht nur die Möglichkeit, sich eine eigene Grab- und Gedenkstätte zu schaffen, wenn das reale Grab lokal weit entfernt liegt und/oder sie ihrer persönlichen Beziehung zum Verstorbenen eigenen Ausdruck verleihen wollen, sondern auch, dass sie es re-
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gelmäßig, zu prinzipiell jeder Tages- und Nachtzeit17 und in jeder Stimmungslage ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Etikette besuchen können. Nach dem psychologischen Konzept der ›normalen Trauer‹ soll am Ende eines von Schmerz und Verzweiflung charakterisierten und durchlebten Trauerprozesses die Bewältigung des Verlustes stehen (vgl. Znoj 2012: 17f.). Aktive und erfolgreiche Trauerarbeit bedeutet demzufolge das Loslassen des Verstorbenen und die Reintegration des Trauernden in das Leben, in dem die verstorbene Person keine Rolle mehr spielt. Auf virtuellen Friedhöfen zeigen die Nutzungsmotive und die Praktiken der Trauerarbeit jedoch ein anderes Bild. Trauerrituale wie das Aufsuchen und Gestalten der virtuellen Grabstätte und der Austausch mit anderen Trauernden im angegliederten Online-Forum sind vor allem für diejenigen von Bedeutung, die sich während ihres zum Teil lang andauernden Trauerprozesses in ihrem sozialen Umfeld mit ihrer Trauer nicht (mehr) anerkannt und aufgehoben fühlen. Dies gilt aber nicht ausschließlich: Die Gestaltung der Grabstätten und die Kommentare der Trauernden auf den Gedenkseiten zeigen darüber hinaus, dass hier auch langfristige Bindungen von Trauernden zu ihren verstorbenen Angehörigen aufgebaut und gepflegt werden, die offenbar nicht mehr schmerzhaft belastet sind. Eine Interviewpartnerin berichtet, dass sie private Videos und Lieblingsmusik des Verstorbenen für andere gemeinsame Freunde im passwortgeschützten Bereich zugänglich macht. So scheint im Internet der Übergang zwischen Trauer (als negativer Empfindung) und Gedenken (als bewältigter Trauer und nunmehr positiver Erinnerung an den Verstorbenen) fließend zu sein bzw. können die Hinterbliebenen ihren emotionalen Ausdruck an ihre aktuelle innere Gefühlslage anpassen. In Bezug auf Trauerrituale und Trauerprozess im Internet können also Handlungspraktiken und -motive festgestellt werden, die auf unterschiedliche Weise in einem Spannungsverhältnis zu gesellschaftlichen Entwicklungen und Erwartungen stehen. Zum einen schaffen sich Trauernde in einer im Zuge rückläufiger religiöser Bindungen entstandenen Situation der relativen Knappheit kollektiv verbindlicher Trauerrituale eigene, individuell bedeutsame Rituale. Zum anderen entziehen sich im Internet Trauernde der gesellschaftlichen Erwartung einer zügigen Überwindung der Trauer, indem sie sich einen zeitlich unbegrenzten Raum der Trauer schaffen und diesen zum Teil mit anderen Trauernden teilen.
17 Auch wenn der Zugriff prinzipiell jeder Zeit möglich ist, weisen die Zeitmarkierungen der im Forum gesendeten Beiträge überwiegend Zugriffe zur späten Abend- und Nachtzeit auf.
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These 3: Virtuelle Grab- und Erinnerungsstätten lösen das Monopol von Familie und Kirche über die Gestaltung der Trauer und Erinnerung auf Bereits mehrfach wurde der nun zu vertiefende Aspekt der virtuellen Gemeinschaft als Trauergemeinschaft angesprochen. Während der Tod eines Menschen, der Mitglied einer sozialen Gemeinschaft wie der Familie oder einer Gemeinde war, früher vor allem eine organisatorische Lücke hinterließ, die es durch Solidarität der Hinterbliebenen als Trauergemeinschaft wieder zu schließen galt, stellt er heute vor allem eine emotionale Herausforderung dar (vgl. Sörries 2012: 17ff.). Demnach stürzt der Verlust eines Angehörigen die Hinterbliebenen aufgrund der verlorenen sozialen Bindung in eine seelische Krise, die als außeralltägliche Situation im Idealfall vom sozialen Netz der Mittrauernden aufgefangen wird. Wo üblicherweise die Familie als sozialer Ort der Trauerarbeit fungiert (und dies z.B. durch die Todesanzeige nach außen kommuniziert wird, vgl. Gronauer 1996: 205), erweist sich der virtuelle Friedhof als sozialer Raum für die Bildung einer Trauergemeinschaft als temporäre Schicksals- bzw. Erfahrungsgemeinschaft, die sich auch jenseits der Familie konstituieren kann. Die Erzählungen der Interviewten beinhalten, wie das Zitat gezeigt hat, viele ›Wir‹-Formulierungen, sie lassen also auf eine empfundene Gemeinschaft mit starkem Verbundenheitsgefühl unter den Forenmitgliedern schließen. Einige berichten zudem, dass sie hier Freundschaften geschlossen haben, die sie in der Folge nicht nur durch privaten E-Mail-Verkehr, sondern mitunter auch durch Telefonate oder private Treffen in der Offline-Welt pflegen. In den Konversationen des Trauerforums wird dies an den Themen ebenso deutlich wie an der Art und Weise, wie die Nutzer/innen miteinander kommunizieren: Nach dem Einstieg und Austausch über die Intensität des subjektiven Trauerempfindens folgen zumeist erfahrungsbasierte Ratschläge zu Möglichkeiten der Trauerbewältigung. Verbindend ist das schon thematisierte Problem der Trauernden, ihr intensives und lang anhaltendes Gefühl der Trauer trotz stabilem und intaktem sozialen Umfeld dorthin nicht (mehr) vermitteln zu können. Ein ähnlicher Grund, der sich darüber hinaus auf den Vorteil der Anonymität beim Erfahrungsaustausch bezieht, speist sich aus der Trauer um Beziehungen, die gesellschaftlich als nicht legitim oder in irgendeiner Weise als problematisch betrachtet werden. (Zur so genannten ›entrechteten Trauer‹ vgl. Doka 1989.) So war für einen Interviewpartner die Angst, von seinem sozialen Umfeld als ›Muttersöhnchen‹ belächelt zu werden, Anlass, den virtuellen Friedhof und das Forum aufzusuchen, um dort offen den Tod seiner Mutter zu betrauern, zu der er ein sehr enges Verhältnis hatte. Es ist auffällig, dass die Trauerkommunikation
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im Forum eine hohe Rückbezüglichkeit der Beiträge aufzeigt und in der Regel sehr konsensorientiert und unterstützend verläuft. Die Beiträge sind, wenn der Erfahrungsaustausch in Gang kommt, recht umfangreich und oft mit dem Klarnamen unterschrieben, obwohl die Verfasser/innen der Beiträge für nicht angemeldete Gäste des Forums technisch anonymisiert sind. Der gemeinschaftliche und unterstützende Charakter ist auch an der bereits genannten symbolischen Geste des wechselseitigen Kerzenanzündens erkennbar. Die anonyme Anteilnahme und die emotional-empathischen Reaktionen – auch in Form von trostspendenden Kommentaren auf der Gedenkseite – zeugen von subjektiv erfahrbarer emotionaler Unterstützung und sind für manche der Grund, ihre Gräber nicht mit einem Passwort zu versehen, sondern der virtuellen Öffentlichkeit preiszugeben. Für die virtuelle Trauerkommunikation und die sich dadurch konstituierende Trauergemeinschaft ist kennzeichnend, dass sich ihre Mitglieder ihr selbstbestimmt zurechnen. Werden unterstützende Kommunikation und Erfahrungsaustausch gesucht, ist die Trauergemeinschaft als Schicksalsgemeinschaft jederzeit präsent und ihre Mitglieder sind ständig ansprechbar. Die gemeinhin als aus der Gesellschaft verdrängt empfundene Trauer wird hier zwar öffentlich, zugleich aber sehr persönlich kommuniziert. Eine andere Art der Gemeinschaftsbildung wurde bereits im Zusammenhang mit der medialen Gestaltung der Gedenkseite angedeutet: Eine Interviewpartnerin hat für sich und gemeinsame Bekannte des Verstorbenen einen geschützten Bereich erstellt, der seitdem von dieser Clique regelmäßig besucht und weitergepflegt wird. Das Beispiel zeigt, dass Trauernde auch jenseits von Partner/innen und/oder Familie der Verstorbenen auf der Basis eigener sozialer Netzwerke eine Trauergemeinschaft definieren können, indem sie die persönlich gestaltete Gedenkstätte selektiv mit anderen, den Verstorbenen verbundenen Personen teilen. These 4: Virtuelle Grab- und Erinnerungsstätten erweitern das Spektrum an Handlungsmöglichkeiten innerhalb der Trauerkultur Wenngleich der Fokus der vorliegenden Untersuchung auf den Motiven und Praktiken der Online-Trauer liegt, kann diese nicht isoliert von anderen Phänomenen der Trauer- und Begräbniskultur bzw. Sepulkralkultur betrachtet werden. Fasst man die bisherigen Beschreibungen der Aktivitäten sowie die Motive, mit denen sich Akteure den Raum des virtuellen Friedhofs aneignen, noch einmal unter dem Gesichtspunkt zusammen, wie diese im Verhältnis zu anderen, nichtmediatisierten Phänomenen wie Bestattungs- und Gedenkorte, Gegenstände und
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Dokumente des Totengedenkens sowie in Relation zu Normen, Praktiken und Ritualen des Bestattens und Trauerns stehen, so fällt auf, dass es hier durchaus Verbindungen gibt: Anhand der Abb. 6 wird deutlich, dass hier die Fotografie eines existierenden Grabes auf dem virtuellen Friedhof weiter gestaltet und mit virtuellen Blumen gepflegt wird. Eine Interviewpartnerin erzählt, dass sie das Grab ihrer Freundin regelmäßig besucht, aber keinen Einfluss auf dessen Gestaltung hatte. Außerdem berichten die meisten Nutzer/innen, dass sie an der Trauerfeier und Bestattung ihrer jeweiligen Angehörigen teilgenommen haben, dies jedoch aus unterschiedlichen Gründen für ihre persönliche Trauer nicht von zentraler Bedeutung war. In ihrem Alltag sind ihnen neben dem Besuch des virtuellen Friedhofs auch Rituale wie das Anzünden (echter) Kerzen, das Betrachten von Bildern, wenn möglich, das Besuchen des Grabes oder die besondere Gestaltung von Jahrestagen wichtig. So sind also bei allen Interviewpartner/innen die Online-Trauerrituale eingebettet in bzw. werden ergänzend zu anderen Trauerritualen in der Offline-Welt ausgeführt. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass die Online-Trauerrituale für die Menschen im sozialen Umfeld vergleichsweise unsichtbar sind. Bei manchen scheint im Verlauf des dadurch zeitlich offenen Trauerprozesses das mit dem ›Online-Gehen‹ verbundene, temporäre Sich-Zurückziehen aus der Offline-Welt (als Aktivität mit individueller Privatsphäre, aber auch als Ersatzfunktion) sozial legitimiert, wie aus der Aussage einer Interviewpartnerin geschlossen werden kann: »Und die lassen mich dann auch da in Ruhe, wenn mein Mann das sieht, aha, sie ist jetzt bei Kerstin [der verstorbenen Freundin; A.O.] und dann lässt er mich auch in Ruhe, dann fragt er auch nicht weiter und das ist das für alle OK so.«, aber auch: »... die sind alle froh, dass ich sie in Ruhe lasse damit« (Kerstin, 51)
In der virtuellen Trauergemeinschaft findet die Trauer Resonanz. Aber auch hier sind virtuelle und reale Welt durchaus miteinander verknüpft, etwa wenn Forenmitglieder raten, sich professionelle Hilfe außerhalb des Forums zu suchen, oder Mitglieder erläutern, welche Arten der Trauerbewältigung in der Offline-Welt (nicht) funktionieren und warum. Schließlich weisen einige Interviewpartner/innen, wie bereits erwähnt, darauf hin, dass sie Bekanntschaften aus dem Forum oder nach dem Email-Austausch auch schon einmal real gesprochen oder getroffen haben. So kann der virtuelle Friedhof durchaus als Raum zur Erschließung von sozialen Kontakten betrachtet werden, die auch in die Offline-Welt mitgenommen werden.
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MEDIATISIERTER
In einer Gesellschaft, in der Wahrnehmung, Kommunikation und Handeln zunehmend von Medien geprägt sind, verwundert es nicht, dass auch Sterben, Tod und Trauer unweigerlich zu Medienangelegenheiten werden. Virtuelle Friedhöfe sind in diesem Zusammenhang ein gutes Beispiel für eine neue Verräumlichung von mediatisierter Trauer und Erinnerung in der Gegenwartsgesellschaft. Zugleich handelt es sich auch um mediatisierte Räume, insofern sich hier technische Infrastrukturen und soziale Aneignungsweisen wechselseitig bedingen. Die Untersuchung der Merkmale und der Nutzung virtueller Friedhöfe hat eine Reihe von Phänomenen zu Tage gefördert, die insgesamt als Ausdruck eines umfassenden Wechselverhältnisses von Medientechnologie, technologisch basierter Medienkommunikation und einer mit sozialen Wandlungen verbundenen Trauerund Erinnerungskultur gewertet werden können. So ist für den mediatisierten Raum des virtuellen Friedhofs ein freiwilliger und vergleichsweise niederschwelliger Zutritt, ein hohes Maß an individueller Gestaltungsfreiheit der Trauer- und Erinnerungsarbeit und, sofern gewünscht, ein positives Erleben von Gemeinschaft charakteristisch. Als Erfahrungsgemeinschaft konstituiert sie sich auf freiwilliger Basis, ist allerdings medienbedingt zugleich fluide und weniger sozial verbindlich. Für seine Nutzerinnen und Nutzer – egal, ob als aktiv Trauernde oder lediglich als passive Besucher – bedeutet der mediatisierte Raum einen Zuwachs an Kommunikations- und Handlungsmöglichkeiten und somit auch eine Erweiterung des Spektrums reziproker und gemeinschaftlicher Beziehungen. Dass diese nicht unabhängig von der Trauerkultur außerhalb des Internets betrachtet werden können, zeigen die engen Verschränkungen von Online- und Offline-Ritualen sowie die wechselseitigen Bezüge, die die Trauernden selbst in den Forumsbeiträgen sowie in ihren Schilderungen immer wieder herstellten. Zwei zentrale, vor allem technisch bedingte Charakteristika des virtuellen Friedhofs sind seine räumliche und potenzielle18 zeitliche Unbeschränktheit. Ha-
18 Das ›Potenzielle‹ im Unterschied zum ›Tatsächlichen‹ zu betonen, ist deshalb wichtig, da dem zeitlosen und archivarischen Charakter des Internets immer noch die technische Realität der Bereitstellung und Finanzierung umfangreicher digitaler Speicherkapazität entgegensteht, was Reiner Sörries an einem Beispiel ironisch kommentiert: »Die digitale Ewigkeit [des ersten kommerziellen Internetfriedhofs, der 1998 als ›Marko First Hall of Memory‹ ans Netz ging; A.O.] endete in einer sehr irdischen Insolvenz.« (2012: 177).
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ben die Hinterbliebenen eine virtuelle Grab- und Erinnerungsseite eingerichtet, so stellt diese einen wichtigen Gedenkort dar, der als mediatisierter Raum – einen Internetzugang vorausgesetzt – von jedem Ort, zu jeder Zeit und auf potenziell unbegrenzte Dauer aufgesucht werden kann. In der Gegenwartsgesellschaft, die von hoher Mobilität im Lebenslauf und daher von einer Vielzahl lokaler sozialer Netzwerke geprägt ist, kann Trauer somit entsprechend der subjektiv empfundenen Bindung an die Verstorbenen individuell gestaltet und von überall adressiert werden. Zudem ist das Gefühl der Trauer im allgegenwärtigen Internet ständig aktualisierbar und in seinem unbegrenzten digitalen Archiv zugleich auch konservierbar. Anders betrachtet, scheint im Internet ebenso ein fließender Übergang von Trauer (als negative Empfindung) zu Gedenken (als bewältigte Trauer und nunmehr positive Erinnerung an den Verstorbenen) möglich, bei dem Hinterbliebene ihren Ausdruck entsprechend ihrer aktuellen Gefühlslage immer wieder anpassen. Die im Internet zeitlich unbegrenzte Form von Trauer und Erinnerung wird somit zu einem Phänomen der ›continuing bonds‹ (Klass 1996). Dieses eher soziologisch inspirierte Konzept von Trauer und Erinnerung betont im Unterschied zum psychologischen Konzept der ›normalen Trauer‹, welches die Loslösung und das Vergessen zum Ziel hat, die Fortsetzung der Beziehungen zu den Verstorbenen und somit die deren dauerhafte Präsenz im Leben der Hinterbliebenen (vgl. hierzu auch Benkel/Meitzler 2013). Die für das Internet charakteristische translokale Vernetzung, die vielfach mit einer räumlichen Entgrenzung gleichgesetzt wird, evoziert insbesondere in den Anfängen der Diskussion um die Rolle des Internets die These vom damit verbundenen Bedeutungsverlust des physikalisch-geografischen Ortes (vgl. Stegbauer 2011: 589). Betrachtet man nun aber die Befunde zur technischen Infrastruktur wie auch zu den Aneignungsprozessen des virtuellen Friedhofs, wird deutlich, dass der virtuelle Raum selbst zwar der örtlichen Dimension entzogen ist, aber immer wieder zu geographischen Orten in Verbindung gesetzt wird, und umgekehrt. Des Weiteren handelt es sich nicht um einen sozial entgrenzten und von ›der Realität‹ abgekoppelten Raum, sondern um einen virtuellen Raum, der durch Bedeutungszuschreibungen, soziale Regeln sowie Einschluss- und Ausschlussprozesse strukturiert und neu begrenzt wird. Vielmehr geht es bei ›virtuellen Realitäten‹ um Realitäten, die in dem Maße wirklich sind, wie Menschen einen Bezug zu ihnen herstellen, mithin diese gestalten, sie in ihre Weltsicht einfließen lassen und somit als Wirklichkeitserfahrungen wahrnehmen. Als durch virtuelle Medienkommunikation und wechselseitige Medienkommunikation konstituiert, ist sie zwar von technischen Bedingungen geprägt, aber nicht unwirklicher als eine auf anderen Kommunikationsformen (wie face-to-face-Gesprächen oder Telefonaten) basierende Er-
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fahrung, und vor allem nicht von anderen Wirklichkeitserfahrungen losgelöst zu betrachten. Folgt man der These Norbert Fischers (2011: 125), lösen sich Trauer und Gedenken zunehmend vom traditionellen Friedhof ab, Ort der Bestattung und Ort der Trauer fallen heute also auseinander. Erklärbar wird diese Bedeutungsverschiebung vom lokalen Ort des Friedhofs hin zum translokalen mediatisierten Raum des virtuellen Friedhofs durch die hohe Mobilität im Lebenslauf vieler Menschen. Als ›mobilen Trauer- und Erinnerungsort‹ tragen sie den Online-Friedhof immer mit sich. Auf diese Weise rückt der Online-Friedhof samt seiner ›digitalen Materialität‹, in Form von Texten, Fotos, Videos, Musik etc. in die Nähe der Funktion von geerbten Dingen. Geerbte Dinge sind nach Ulrike Langbein (2002) nicht nur Vermächtnis, sondern drücken auch den Wunsch nach Dauer und nach sozialer Kontinuierung aus. Damit sind sie ebenso wie die virtuellen Gräber und Gedenkseiten eine Strategie gegen die Vergänglichkeit. »Als mobile Erinnerungsorte verewigen die geerbten Dinge identitätsprägende soziale Räume der Vergangenheit – auch und gerade in hochmobilen Zeiten« (ebd.: 236). Interpretiert man die Befunde vor dem Hintergrund gesellschaftlichen Wandels, geben sie Hinweise auf weitere Veränderungsprozesse, die eng mit dem Prozess der Mediatisierung verknüpft sind. So begünstigen auf der einen Seite die gesellschaftlichen Wandlungsprozesse der Individualisierung und Säkularisierung die Aneignung dieses mediatisierten Raums; auf der anderen Seite ermöglichen Prozesse der Ökonomisierung bzw. Kommerzialisierung den Auf- und Ausbau solcher Räume. ›Individualisierung‹ akzentuiert in Bezug auf Online-Trauer keine Vereinzelung und Isolation der Trauernden, sondern das im Zuge einer gesellschaftlichen Enttraditionalisierung und Multioptionalität (Beck/Beck-Gernsheim 2002) hohe Maß an Selbstbestimmung der Trauernden. Auch der vielfältige Prozesse bezeichnende Begriff der ›Säkularisierung‹ ist in Bezug auf Online-Trauer nicht als grundsätzlicher Religions- und Ritualverlust zu deuten,19 sondern in Verbindung mit der Zusammenstellung eines Patchworks religiös-spiritueller und populärer Elemente zu sehen. Vor dem Hintergrund klassischer Religionsdefinitionen weist die Trauer-
19 Vertreter der seit Mitte der 1960er Jahre diskutierten Säkularisierungsthese gehen davon aus, dass Religion aufgrund der mit der Modernisierung verbundenen Prozesse der Rationalisierung und funktionalen Differenzierung moderner Gesellschaften sowie wegen des Abbaus existenzieller sozialer Unsicherheiten und des Zugewinns an Wohlstand langfristig einen Bedeutungsverlust erlebt (vgl. Berger 1973). Als Indikatoren dafür gelten die in Deutschland und anderen europäischen Ländern rückläufigen Gottesdienstbesuche und Mitgliederzahlen der christlichen Kirchen sowie die Ablehnung der theologisch-dogmatischen Konzepte.
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arbeit auf virtuellen Friedhöfen insofern säkulare Züge auf, als dass sie trotz christlicher Symbolen und Phrasen nahezu frei von inhaltlichen religiös-kirchlichen Botschaften ist. Auch in den Aussagen der Interviewten zu ihrer Trauerarbeit spielen explizit religiöse oder kirchliche Bezüge trotz mitunter religiöser Sozialisation keine Rolle. Dennoch sind das mediatisierte Handeln der Nutzer/innen und ihre Erzählungen von zahlreichen, unterschiedlichen religiös-spirituellen Elementen durchsetzt, so dass innerhalb der mediatisierten Trauerkultur der Prozess der Säkularisierung als religiös-spirituelle Individualisierung erkennbar wird. Die technische Ausstattung virtueller Friedhöfe und die damit verbundenen Finanzierungsmodelle der dahinterstehenden Betreiber lassen auf eine ›Ökonomisierung‹ des Angebots schließen. Indem ›digitale Unsterblichkeit‹ und damit verbunden das, was von Menschen im Zuge einer sich wandelnden Trauerkultur zunehmend handlungsrelevant ist, zur Geschäftsidee gemacht wird, unterliegt dieses Feld ebenso Kommerzialisierungsprozessen wie andere Gesellschaftsbereiche. Von diesen gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen ausgehend, die sich bereits im Phänomen der virtuellen Friedhöfe widerspiegeln, lässt sich bei zunehmender Veralltäglichung der Internetkommunikation vermuten, dass auch die öffentliche Sichtbarkeit mediatisierter Trauer und Erinnerung weiter ansteigen wird. Ob gewollt oder nicht, über die sozialen Onlinenetzwerke werden Mitteilungen über Todesfälle, Kommunikation von Trauer und Praktiken der Erinnerung zunehmend Einzug in die Wahrnehmung und Alltagskommunikation von Menschen erhalten. Ferner lässt sich die Weiterentwicklung hin zu einer mediatisierten Trauerund Erinnerungskultur prognostizieren, die im Zuge der Enttraditionalisierung und der Flexibilisierung von Lebensläufen immer stärker persönliche Lebensleistungen und die für verstorbene Personen charakteristischen Sinnzusammenhänge ins Zentrum der im Internet archivierbaren Inszenierung rücken. Ob eine solche Erinnerungskonstruktion als digitales Vermächtnis allerdings bereits zu Lebzeiten von der Person selbst vorgenommen wird oder retrospektiv von den ihr verbundenen Personen, und inwieweit diese Erinnerungskonstruktionen identisch sind oder in ihren Perspektiven variieren, bleibt allerdings ebenso offen wie bei nicht-mediatisierten erinnerten Lebensgeschichten.
L ITERATUR Beck, Ulrich/Beck-Gernsheim, Elisabeth (2002): Individualisierung in modernen Gesellschaften. Perspektiven und Kontroversen einer subjektorientierten Soziologie. In: dies. (Hg.), Riskante Freiheiten. Perspektiven und Kontroversen einer subjektorientierten Soziologie, Frankfurt am Main, S. 10-39.
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Benkel, Thorsten/Meitzler, Matthias (2013): Sinnbilder und Abschiedsgesten. Soziale Elemente der Bestattungskultur, Hamburg. Berger, Peter L. (1973 [1967]): Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft. Elemente einer soziologischen Theorie, Frankfurt am Main. De Certeau, Michel (1988 [1980]): Kunst des Handelns, Berlin. DeGroot, Jocelyn M. (2014): »For Whom the Bell Tolls«: Emotional Rubbernecking in Facebook Memorial Groups. In: Death Studies 38, Heft 2, S. 7984. Doka, Kenneth J. (1989): Disenfranchised Grief. Recognizing Hidden Sorrow, Lanham. — (2007): Living with Grief. Before and after the Death, Washington. Fischer, Norbert (2011): Neue Inszenierungen des Todes. Über Bestattungs- und Erinnerungskultur im frühen 21. Jahrhundert. In: Dominik Groß/Brigitte Tag/Christoph Schweikardt (Hg.), Who wants to live forever. Postmoderne Formen des Weiterwirkens nach dem Tod, Frankfurt am Main/New York, S. 125-144. Frees, Beate/Koch, Wolfgang (2015): Internet: Zuwachs nur noch bei Älteren – Nutzungsfrequenz und -vielfalt nehmen in allen Altersgruppen zu. Ergebnisse der ARD/ZDF-Onlinestudie 2015. In: Media Perspektiven, Heft 9/2015, S. 366-377. Geser, Hans (1998): »Yours virtually Forever«. Elektronische Grabstätten im Internet. In: Kurt Imhof/Peter Schulz (Hg.), Die Veröffentlichung des Privaten – die Privatisierung des Öffentlichen, Opladen, S. 120-135. — (1999): Virtuelle Grabstätten im World Wide Web. In: Hans-Ulrich Glarner/ Sibylle Lichtensteiger (Hg.), Last Minute. Ein Buch zu Sterben und Tod, Baden, S. 228-239. Glaser, Barney G./Strauss, Anselm L. (1998): Grounded theory. Strategien qualitativer Forschung, Bern et al. Gronauer, Claudia (1996): Todesanzeigen in Tübingen 1872-1993. Kommunikative Funktion und religiöse Inhalte. In: Zeitschrift für Religionswissenschaft 4, Heft 2, S. 179-207. Hepp, Andreas (2013): Medienkultur. Die Kultur mediatisierter Welten, Wiesbaden. Hepp, Andreas et al. (2015): The Communicative Construction of Europe. Cultures of Political Discourse, Public Sphere, and the Euro Crisis, Basingstoke. Höflich, Joachim R. (1997): Zwischen massenmedialer und technisch vermittelter interpersonaler Kommunikation – der Computer als Hybridmedium und was die Menschen damit machen. In: Klaus Beck/Gerhard Vowe (Hg.),
364 | A NKE OFFERHAUS
Computernetze – ein Medium öffentlicher Kommunikation?, Berlin, S. 84104. Krotz, Friedrich (2005): Neue Theorien entwickeln. Eine Einführung in die Grounded Theory, die Heuristische Sozialforschung und die Ethnographie anhand von Beispielen aus der Kommunikationsforschung, Köln. — (2008): Kultureller und gesellschaftlicher Wandel im Kontext des Wandels von Medien und Kommunikation. In: Tanja Thomas (Hg.), Medienkultur und soziales Handeln, Wiesbaden, S. 43-62. Langbein, Ulrike (2002): Geerbte Dinge. Soziale Praxis und symbolische Bedeutung des Erbens, Köln. Mayring, Philipp (2010): Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken, Weinheim/Basel. Nord, Ilona (2016): Der QR-Code: Mixed Realities oder zur Korrespondenz von kulturellem und kommunikativem Gedächtnis in digitalisierten Bestattungskulturen. In: Thomas Klie/Ilona Nord (Hg.), Tod und Trauer im Netz. Mediale Kommunikationen in der Bestattungskultur, Stuttgart, S. 19-35. Offerhaus, Anke (2016): Klicken gegen das Vergessen – Die Mediatisierung von Trauer- und Erinnerungskultur am Beispiel von Online-Friedhöfen. In: Thomas Klie/Ilona Nord (Hg.), Tod und Trauer im Netz. Mediale Kommunikationen in der Bestattungskultur, Stuttgart, S. 37-62. Offerhaus, Anke/Keithan, Kerstin/Kimmer, Alina (2013): Trauerbewältigung online – Praktiken und Motive der Nutzung von Trauerforen. In: SWS-Rundschau 53, Heft 3, S. 275-297. Schäfer, Julia (2011): Tod und Trauerrituale in der modernen Gesellschaft. Perspektiven einer alternativen Trauer- und Bestattungskultur, Stuttgart. Schwibbe, Gudrun/Spieker, Ira (1999): Virtuelle Friedhöfe. In: Zeitschrift für Volkskunde 95, Heft 2, S. 220-245. Sörries, Reiner (2012): Herzliches Beileid. Eine Kulturgeschichte der Trauer, Darmstadt. Stegbauer, Christian (2011): Eine neue räumliche Ordnung? Wie das Internet mit Raum und Zeit verschmilzt. In: Informationen zur Raumentwicklung, Heft 10/11, S. 589-598. Znoj, Hansjörg (2012): Trauer und Trauerbewältigung. Psychologische Konzepte im Wandel, Stuttgart.
Autorinnen und Autoren
Thorsten Benkel, Dr., Akademischer Rat für Soziologie an der Universität Passau. Studium der Soziologie, Psychologie, Philosophie und Literaturwissenschaft. Promotion in Frankfurt am Main mit einer Arbeit zum Wirklichkeitsverständnis der Soziologie. Schwerpunkte: Wissenssoziologie, Mikrosoziologie, Soziologie der Sexualität. Empirische Projekte u.a. zur Rechtskommunikation und zur Ethnografie in Feldern abweichenden Verhaltens. Seit mehreren Jahren qualitative Forschungen zu Tod und Gesellschaft. Julia Böcker, M.A., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Kultursoziologie, Institut für Soziologie und Kulturorganisation, an der Leuphana Universität Lüneburg. Norbert Fischer, Dr. habil., Kultur- und Sozialhistoriker, apl. Professor an der Universität Hamburg. Forschungs- und Publikationsschwerpunkte: Geschichte und Gegenwart des Umgangs mit dem Tod; Trauer- und Gedächtniskultur; Landschaftsgeschichte und Landschaftstheorie; maritime Geschichte und Kultur; räumlicher Wandel und Verstädterungsprozesse im 20. Jahrhundert. Peter Fuchs, Prof. Dr., war Professor für Allgemeine Soziologie und Soziologie der Behinderung an der Hochschule Neubrandenburg. Barbara Happe, Dr., freiberufliche Kulturwissenschaftlerin und Volkskundlerin, lebt und arbeitet in Jena. Forschungsschwerpunkte: Friedhofs- und Bestattungskultur. Doris Lindner, Prof. Dr., Soziologin, Professorin an der privaten Pädagogischen Hochschule Wien/Krems, ehemalige wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts für Palliative Care und Organisationsethik, IFF Wien, Universität Klagen-
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furt. Arbeitsschwerpunkte: Bildungsungleichheit, kulturelle und religiöse Diversität, Sterben, Tod und Trauer in modernen Gesellschaften. Matthias Meitzler, M.A., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen im DFG-Projekt »Mediatisierung der deutschen Forensik«. Studium der Soziologie, Psychologie, Psychoanalyse und der Mittleren und Neueren Geschichte. Empirische Forschung zum Wandel der Bestattungskultur. Promotionsprojekt zur »Postmortalen Individualisierung« an der GoetheUniversität Frankfurt am Main. Weitere Schwerpunktthemen: Wissenssoziologie, Mensch-Tier-Verhältnisse, visuelle Soziologie. Anke Offerhaus, Dr., studierte Kulturwissenschaften, Kommunikations- und Medienwissenschaft an der Universität Leipzig und promovierte 2009 mit dem Thema »Die Professionalisierung des deutschen EU-Journalismus« an der FU Berlin. Derzeit Universitätslektorin für Journalismusforschung und Habilitandin am Zentrum für Medien-, Kommunikations- und Informationsforschung der Universität Bremen. Forschungsschwerpunkte: Journalismusforschung, Medienund Öffentlichkeitssoziologie mit dem Fokus europäische Öffentlichkeit sowie Medienrezeption/-aneignung mit dem Fokus Trauer und Religion. Birte Svea Philippi ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Neue Medien am Institut für Kunstpädagogik an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und beschäftigt sich mit Todesdarstellungen in der graphischen Literatur, Trauerarbeit im Bilderbuch und Graphic Novel sowie mit Erklärvideos auf youTube und vimeo. Dirk Preuß, Dr. rer. nat., Dr. phil., Dipl.-Biol., Dipl.-Theol., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Tierhygiene, Tierschutz und Nutztierethologie/AG Angewandte Ethik in der Tiermedizin an der Tierärztlichen Hochschule Hannover und Referent an der Katholischen Hochschulgemeinde Frankfurt am Main. Susanne Regener, Prof. Dr., ist Kultur- und Medienwissenschaftlerin, Professorin für Mediengeschichte/Visuelle Kultur an der Universität Siegen und Affiliate Professor für Cultural and Media Studies an der Universität Kopenhagen. Schwerpunkte: Kultur- und Visualisierungsgeschichte von gesellschaftlichen Outsidern, Populär- und Amateurkulturen, Mediengeschichte des dokumentarischen Bildes. Ferner Forschung zu Bildstrategien des Politischen: Über Selbstdarstellungen von homosexuellen Männern (Amateurfotografie) und Hate Pictures – Roma Images.
A UTORINNEN
UND
A UTOREN
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Birgit Richard, Prof. Dr., ist Professorin für Neue Medien in Theorie und Praxis am Institut für Kunstpädagogik an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Hauptarbeitsfelder: Bildkulturen (Jugend-Kunst-Gender), audiovisuelle Mediengestaltung, Ästhetik aktueller Jugendkulturen (Jugendkulturarchiv), Todesbilder. Forschungsprojekte zu medialen Bildkulturen und Jugendkulturen. Nicole Sachmerda-Schulz, Dr., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der HTWK Leipzig und hat ihre Dissertation an der Universität Leipzig zum Anstieg anonymer Bestattungen im Rahmen des DFG-Graduiertenkollegs »Religiöser Nonkonformismus und kulturelle Dynamik« verfasst. Werner Schneider, Prof. Dr., Professor für Soziologie (mit Berücksichtigung der Sozialkunde) an der Philosophisch-Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Augsburg. Arbeitsschwerpunkte: Wissens- und Kultursoziologie, Familiensoziologie und Soziologie der Lebensalter/Lebensphasen/privaten Lebensformen, Medizin-/Gesundheitssoziologie, Thanatosoziologie, Diskurs- und Dispositivforschung sowie qualitative Methoden der empirischen Sozialforschung. Mehrere Forschungsarbeiten und Veröffentlichungen zu Hirntod und Organtransplantation, Hospizarbeit und Palliativversorgung. Stephanie Stadelbacher, M.A., Studium der Soziologie, Psychologie und Geschichte an der Universität Augsburg. Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Philosophisch-Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Augsburg. Schwerpunkte: Thanatosoziologie, Körpersoziologie, Organisationssoziologie, soziologische Theorie (insbesondere Handlungstheorien), sozialwissenschaftliche Diskurs- und Dispositivforschung. Kathleen Warnhoff, M.A., studierte Wirtschaftskommunikation in Berlin und führt dort Lehrveranstaltungen an der Hochschule für Technik und Wirtschaft sowie an der Design Akademie durch. Wissenschaftlicher Schwerpunkt: Interdisziplinäre Erforschung von Kommunikationsverhältnissen in ökonomischen, technologischen, kulturellen und sozialen Kontexten. Norbert Wichard, Dr., Studium der Deutschen Philologie, Philosophie und Psychologie, ehemaliger wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität zu Köln. Promotion mit einer Arbeit zur literarischen Narrativierung des Wohnens. Referent im Fachbereich ›Kirche in der Gesellschaft‹ des Bischöflichen Generalvikariates Aachen.
Kulturen der Gesellschaft Janosch Schobin, Vincenz Leuschner, Sabine Flick, Erika Alleweldt, Eric Anton Heuser, Agnes Brandt Freundschaft heute Eine Einführung in die Freundschaftssoziologie September 2016, ca. 250 Seiten, kart., ca. 24,99 €, ISBN 978-3-8376-3550-8
Gabriel Duttler, Boris Haigis (Hg.) Ultras Eine Fankultur im Spannungsfeld unterschiedlicher Subkulturen März 2016, 320 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3060-2
Jens Kersten (Hg.) Inwastement – Abfall in Umwelt und Gesellschaft Februar 2016, 342 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3050-3
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Kulturen der Gesellschaft Andreas Braun Campus Shootings Amok an Universitäten als nicht-intendierte Nebenfolge der Hochschulreform 2015, 408 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3130-2
Julia Döring Peinlichkeit Formen und Funktionen eines kommunikativ konstruierten Phänomens 2015, 268 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3145-6
Franz Höllinger, Thomas Tripold Ganzheitliches Leben Das holistische Milieu zwischen neuer Spiritualität und postmoderner Wellness-Kultur 2012, 302 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1895-2
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Kulturen der Gesellschaft Felix Knappertsbusch Antiamerikanismus in Deutschland Über die Funktion von Amerikabildern in nationalistischer und ethnozentrischer Rhetorik März 2016, 422 Seiten, kart., 44,99 €, ISBN 978-3-8376-3388-7
Takemitsu Morikawa Liebessemantik und Sozialstruktur Transformationen in Japan von 1600 bis 1920 2015, 320 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2832-6
Robert Schäfer Tourismus und Authentizität Zur gesellschaftlichen Organisation von Außeralltäglichkeit 2015, 290 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2744-2
Joachim Fischer, Dierk Spreen Soziologie der Weltraumfahrt 2014, 208 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,99 €, ISBN 978-3-8376-2775-6
Michael Kauppert, Irene Leser (Hg.) Hillarys Hand Zur politischen Ikonographie der Gegenwart 2014, 278 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2749-7
Takemitsu Morikawa (Hg.) Die Welt der Liebe Liebessemantiken zwischen Globalität und Lokalität 2014, 386 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2052-8
Jonas Grauel Gesundheit, Genuss und gutes Gewissen Über Lebensmittelkonsum und Alltagsmoral 2013, 330 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2452-6
Sylka Scholz, Karl Lenz, Sabine Dreßler (Hg.) In Liebe verbunden Zweierbeziehungen und Elternschaft in populären Ratgebern von den 1950ern bis heute 2013, 378 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2319-2
Cornelia Schadler Vater, Mutter, Kind werden Eine posthumanistische Ethnographie der Schwangerschaft 2013, 342 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2275-1
Thomas Tripold Die Kontinuität romantischer Ideen Zu den Überzeugungen gegenkultureller Bewegungen. Eine Ideengeschichte 2012, 362 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1996-6
Thomas Lenz Konsum und Modernisierung Die Debatte um das Warenhaus als Diskurs um die Moderne 2011, 224 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN 978-3-8376-1382-7
Stefan Bauernschmidt Fahrzeuge auf Zelluloid Fernsehwerbung für Automobile in der Bundesrepublik des Wirtschaftswunders. Ein kultursoziologischer Versuch 2011, 270 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1706-1
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