Die Bedeutung des Todes Christi: Ein Vortrag 9783111512037, 9783111144306


208 61 1MB

German Pages 24 Year 1892

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Die Bedeutung des Todes Christi
Recommend Papers

Die Bedeutung des Todes Christi: Ein Vortrag
 9783111512037, 9783111144306

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Bedeutung des Todes Christi

Ein Vortrag von

Heinrich Ziegler, Pastor prim, in Liegnitz.

Berlin. Druck und Verlag von Georg Reimer.

Wenn ein Soldat sein Eintreten für seines Heeres Pflicht mit dem Tode besiegelt, so stirbt er den Heldentod. Ebenso aber auch ein Arzt, der in der Pflichterfüllung bei einer Epidemie oder im gewöhnlichen Dienste an den Kranken sich selber nicht schont und der Ansteckung oder der Ueberanstrengung erliegt. Ja, ebenso Jeder, der in der Erfüllung irgend­ welchen Pflichtenkreises

und Berufes

der

ihm persönlich

drohenden Gefahr die Stirne bietet und, um getreu zu blei­ ben, sein Leben opfert.

Dieses. Todessiegel auf die Treue

gegen die erkannte Pflicht wird umso schärfer ausgeprägt und umso wirksamer sein, je mehr es die Züge klaren Bewußtseins und freier Hingebung trägt, so daß jeder Gedanke an eine, blose äußere Zwangslage des Sterbenden, in die das Herz sich nicht gefügt hat, ebenso fern bleiben muß, wie der Ge­ danke an die leichtfertige Gesinnung,

die

eigenen Lebens nicht zu schätzen und

die Pflichten gegen

das Gut des

den anvertrauten Beruf nicht zu würdigen weiß. Soldaten, die in den Kampf getrieben werden müssen, erregen selbst im Tode höchstens Mitleid, und der Tod eines keck und ohne Not an unrichtiger Stelle sich in den feindlichen Kugelregen vorstürzenden Kriegers wird kaum zur Glut nacheifernder Bewunderung bei denen werden, die es erleben.

Wo es

dagegen klar ist, daß Jemand alle Kräfte Leibes und der Seele aufgewandt, alle Mittel eifrig benutzt hat, um das

4 Seine zum Siege der guten Sache zu tun, für die er sich verantwortlich weiß, daß er in der Stunde der Entscheidung aber auch sein Letztes, sein Leben drangibt, da steht das Urteil fest: ein Held ist in der Treue seines Berufes gestor­ ben und sein Tod kommt denen zugute, für die er sich hin­ gegeben hat, sei es direct im Siege der guten Sache, sei es zunächst nur zur Rettung der Ehre, zur Stärkung der See­ len, zum leuchtenden Vorbilde. Die Art des Berufes, in dessen Erfüllung Jemand also stirbt, ist für die Würdigung solchen Heldentodes ganz gleichgültig.

Die Mutter, die am Bette ihres Kindes, die

Krankenpflegerin, die, während sie fremde Qualen erleichtert, den Keim des Todes in sich aufnimmt, der Arbeiter, der im Trachten darnach, seine Familie nicht verlumpen zu laffen, der übermäßigen täglichen Leistung und Entbehrung unter­ liegt, die Arbeiterin, die mir durch Aufopferung ihrer Leibes­ und Gesundheitskräfte sich selbst und ihre Familie vor der Schande bewahren kann, sie sind alle getreu bis in den Tod, sie sind Helden in den Augen aller Frommen, so gut wie der fallende Kriegsheld. Besseres als sich selbst kann Niemand hingeben, mit edlerem Gute als mit seinem eigenen Herzen, mit seinem innersten Wollen und Streben kann Niemand für seinen Beruf eintreten.

Doch darum eben handelt es sich, welches

denn im einzelnen Falle dieses innerste Trachten und damit das wahre Wesen eines Menschen ist? Der mutigste Kriegs­ held kann im Frieden ein roher und leichsinniger Genuß­ mensch, der fleißigste Arbeiter für Haus und Familie kann zugleich ein schändlicher Jntriguant und ein rücksichtsloser Streber nach persönlichem Vorteil und eigener Ehre sein. Mit anderen Worten: zwar nicht die Lebensstellung und die äußeren Verhältnisse, in denen ein Mensch treu erfunden wird bis in den Tod, wol aber die Persönlichkeit selbst und ihr Wert, gemessen an dem höchsten Maßstabe des Willens

5 Gottes, kann einen gewaltigen Unterschied, sogar einen Ge­ gensatz auch in der Wertbeurteilung des Todes bedingen, dem sich ein Mensch weiht, um seine Pflicht zu erfüllen. Der Wert der Frucht, die für die Menschen aus solchem Tode der treuen Hingabe erwächst, hängt vom inneren Werte des sich Hingebenden ab. Sowol die Ausdehnung als die Natur des durch solchen Tod gewonnenen Gutes, ob es ein nur Einem, einem Volke oder dem ganzen Menschen­ geschlecht zugute kommender Gewinn ist, ob es vergänglicher oder bleibender Natur ist, das entscheidet sich nicht nach irgendwelchen äußeren Verhältniffen, etwa nach dem Ruhm des in die Augen fallenden, auch dem Rohen verständlichen Heldenkampfes, sondern lediglich nach dem inneren Leben, der sittlichen Höhe und Reinheit, dem Reichtum des Em­ pfindens und der geistigen Größe des in den Tod Ge­ henden. Wie verschieden sind in dieser Beziehung z. B. der bei Thermopylae fallende Held Leonidas und Sokrates, der den Giftbecher trinken muß! Dort ein Heldenkampf für das geliebte Vaterland gegen eine weit überlegene Weltund Heeresmacht; ein Heldentod, gefeiert von der begeisterten Liebe und Dankbarkeit, von dem stolzen Schmerz des gan­ zen Volkes. Hier ein Heldentod für das Recht und die Gewissensfreiheit gegenüber einer tiefen staatlichen und sitt­ lichen Corruption, von Wenigen verstanden, den Haß der Regierenden und den Hohn der großen Menge erntend. Für den Helden Leonidas können wir uns ohne Schwierig­ keit auch einen anderen aus seinen Dreihundert denken und wir wiffen kaum Näheres über seine Persönlichkeit.

Sokra­

tes stand allein und fast unverstanden in seinem Tode da, aber trotzdem hat gerade seine Persönlichkeit zunächst auf Einzelne, im Laufe der Zeiten auf immer weitere Kreise einen so überwältigenden Eindruck gemacht, daß das klare, scharf gezeichnete Bild seiner Persönlichkeit sich dem sittlichen

6 Bewußtsein der Menschen mit unverlöschlichen Zügen einge­ prägt hat und heute dem Strebenden und Empfänglichen immer wieder ebenso lebendig erscheint wie einst. Nicht was ein Mensch besitzt, auch nicht das, was er tut, ist das Entscheidende für seinen Wert, sondern das, was er ist d. h. was er in sich trägt, was er in seiner Person verkörpert und erkennbar darstellt. Ehre dem, der in sich die Liebe zum eigenen Volk und Vaterland kräftig erkennen läßt, so daß wir die Fähigkeit und Kraft der Selbsthingebung im Kampfe mit den Waffen in ihm ver­ körpert sehen! Aber höhere Ehre dem, der seine Volks- und Vaterlandsliebe im Eintreten für ein unsichtbares und un­ vergängliches Gut von allgemein menschlichem Werte wie Recht und Gerechtigkeit, Wahrheit, Gewissensfreiheit per­ sönlich ganz hingebend bekundet! Für jenes Gut werden, wo ein Volkskörper noch Gesundheit und Kraft in sich trägt, im entscheidenden Augenblicke viele Tausende zu finden sein, die mit gleicher Wahrheit und Liebe für das süße Vaterland eintreten. Für himmlische Güter mit ganzer Hingabe und getreu bis in den Tod einzutreten, das wird überall da nur selten bei Einzelnen zu finden fein, wo ein solches Gut dem allgemeinen Bewußtsein noch fremd ist, vor allem dann, wenn die energische Geltendmachung solchen Gutes die gegenwärtig vorhandenen Zustände und mit ihnen die Inter­ essen der Besitzenden und Herrschenden bedroht. Es ist dies etwas weit Schwereres, es setzt eine viel höhere Stufe, eine viel intensivere Kraft des Selbstbewußtseins voraus, als für noch so wertvolle Güter einzutreten, deren Gewinnung oder Bewahrung zwar die Einsetzung sittlicher Kräfte und oft auch die größesten persönlichen Opfer fordert, aber dafür auch des Lohnes in den Herzen aller redlich denkenden Zeit­ genossen gewiß ist, Güter und Kräfte nämlich, die in der allgemeinen sittlichen Schätzung feststehen. Wahres mensch­ liches Glück erscheint schon im sittlichen Durchschnittsbewußt-

7 sein aller aus dem blasen Naturdasein zum Pflichtbewußtsein erwachten

Völker

unvereinbar

mit

der

Preisgebung

der

Güter, auf die sich dieses Glück gründet, im entscheidenden Falle.

Der

Feigling im Kampf für

das

Vaterland ist

überall da, wo nur ein gesundes Vaterlandsgefühl waltet, ebenso sicher geächtet, wie der Dieb, der Wechselfälscher, der ehrabschneidende Denunciant.

Wer dagegen Kraft, Glück

und keben im großen Entscheidungs-Kampfe für das höchste, rein himmlische

®uh einsetzt,

wird sicherlich zunächst ganz

verschieden beurteilt, meist verurteilt oder bedauert und im besten Falle erst nach seinem Tode erkannt.

Ehe, Familie,

eigener Hausstand, Vaterland, Ehre, Kunst und Wissenschaft — es sind alles Güter, die zwar über das Leben und Lebens­ glück des Einzelnen hinausreichen, teilweise unendlich weit hinausreichen, die aber doch so eng mit diesem Glücke ver­ knüpft sind, daß das Eintreten dafür bald verständlich wird. Doch es gibt Ein höchstes Gut, welches dem Bewußtsein, auch

allgemeinen

dem aufrichtigen und wolmeinenden sitt­

lichen Durchschnittsbewußtsein sehr

leicht

in seinem Werte

entgeht und welches doch die Wurzel alles wahren und un­ vergänglichen Glückes

ist: nennt

es

die Gerechtigkeit vor

Gott , nennt es den lebendigen Glauben, die vollkommene' Liebe, nennt es Seligkeit, Friede und Freude in Gott, es iß in allen diesen verschiedenen Bezeichnungen und nach allen verschiedenen Seiten,

nach

denen

es wirksam wird, immer

dasselbe, es ist das, was unser Heiland als das Himmelreich den Menschen zu bringen sich bewußt war. Ich habe bisjetzt

den

eigentlichen Gegenstand meiner

Rede, die Bedeutung des Todes Christi, mit keinem Worte erwähnt.

Und jetzt, wo ich soweit bin, den beson­

deren Wert dieses Todes im Unterschiede vom Tode der vie­ len Anderen, die ihr Leben heldenmütig hingegeben haben, zu bezeichnen, drängt mich das Trachten darnach, den rechten Punkt dabei

nicht zu

verfehlen

und mich

verständlich zu

8 machen, wieder an den Aiifang zurück. Denn ich habe Eine Macht im Menschenleben bisher nicht ausdrücklich berücksich­ tigt, die in alle menschlichen Verhältnisse und Bestrebungen derartig eindringt und sich derartig von innen her im Leben geltend macht, daß wir sicher irregehen würden in der Wer­ tung des Todes Christi, wenn wir sie dabei außer Acht lie­ ßen.

Es ist die Macht des Widerstrebens des menschlichen

Herzens gegen das Gute, die Gesinnung, welche sich rück­ sichtslos dem auf die irdischen Ziele gerichteten Eigenwillen hingibt und keinen höchsten himmlischen Willen über sich an­ erkennen will, gleichviel ob ein Mensch diesen höchsten Willen gradezu leugnet oder sich ihm tatsächlich entzieht; es ist die fleischliche Gesinnung, die das irdische Glück als das höchste Gut ansteht und den Menschen unter dem Schein des höch­ sten Glückes doch tatsächlich in den Knechtsdienst geschaffener Mächte stellt. Denn vom einfachen Zusammenleben und Einssein mit der Natur löst sich der Mensch im Lause seiner Entwickelung mit Notwendigkeit ab. Was in der Geschichte der Entwicke­ lung des ganzen menschlichen Geschlechtes unleugbar hervor­ tritt, das vollzieht sich in den verschiedensten Gestaltungen auch bei den einzelnen Völkern und Individuen: die naive Einheit mit dem göttlichen Willen, in welcher der Einzelne beim Erwachen seines äußeren und inneren Lebens sich vorfindet, indeyl er die Verhältniffe, in die er hineingepflanzt ist, als gut, selbstverständlich, notwendig ansieht und sich dem darin ihm entgegenkommenden Willen Gottes ergibt — diese naive Einheit des Menschen mit Gott, dieses kindlich fromme Verhältnis zu Gott bleibt nicht unangetastet, sondern es ver­ ändert sich von gründ aus, sowie ein Mensch, der zum vollen Selbstbewußtsein seines eigenen Willens erwacht ist, mit dem Bewußtsein des Widerspruches, in den er dadurch gerät, sich für diesen natürlichen Eigenwillen als seine Norm entscheidet. Je weiter er fortschreitet in klarer Bestimmung

9 und Verfolgung seiner Lebensziele, desto fester fühlt er sich verwickelt in den unglückseligen, qualvollen Gegensatz zwischen dem heiligen: „du sollst vollkommen sein, wie dein Vater im Himmel vollkommen ist", und dem sich dagegen auflehnenden: „ich will, was mir mein Lebensglück, meinen Genuß und Besitz und meine Ehre erhöht".

Bei unzählig Vielen wird

dieser innere Gegensatz bald zu gunsten des unheiligen „ich will" derartig entschieden, daß sie den Willen Gottes in den Hintergrund ihrer Seele zurückverweisen, sodaß er auf ihre Entscheidungen im einzelnen Falle überhaupt keinen selbstän­ digen Einfluß

mehr übt.

Abgesehen von

den Rücksichten

der Lebensklugheit ist es hier nur ein sehr leicht zerreißbares Band der sittlichen Gewöhnung und Ueberlieferung sowie der natürlichen Gutmütigkeit, das eine Art von Verbindung der Seele mit dem Guten noch bestehen läßt. Ein kleinerer Teil der Menschen aber geht seufzend ein­ her, sie nehmen den Kampf gegen den ungerechten Zustand wie gegen den ihn hervorrufenden ungöttlichen Willen im eigenen Herzen

ernstlich

auf sich und müssen es zu ihrem tiefsten

Schmerz immer wieder selbstbewußt erleben, was nirgends gewaltiger als in den Briefen des Paulus gekennzeichnet ist: jene innere Selbstentfremdung

des

Menschen von seinem

eigenen tiefsten Beruf und Verlangen, jene Gefangenschaft unter

die ihn

seinem Gotte und seinem Heile entziehende

Gewalt der verkehrten Willensrichtung. ein

selbsterlebtes,

allgemein

Sie fühlen es als

menschliches

Erlebnis, was

Römer 7,15—25 geschrieben steht: „Ich weiß ja selbst nicht, was ich tue; denn nicht was ich will, tue ich, sondern das was ich hasse, tue ich.

Wenn ich es aber wider Willen tue,

so erkenne ich die Güte des Gesetzes (des mir in's Gewissen geschriebenen Gotteswillens) an; aber was ich vollbringe, das tue nicht ich, sondern die Sünde,

die in mir wohnt.

Ich

das ist in meinem

bin mir ja bewußt,

daß in mir,

Fleisch, nichts Gutes wohnt.

Denn ich tue nicht das Gute,

10

das ich will, sondern das Böse tue ich, das ich nicht will. Wenn ich aber das tue, was ich nicht will, so bin ich es nicht mehr, der es vollbringt, sondern die Sünde ist es, die in mir wohnt. So finde ich denn das Gesetz für mich, daß während ich das Gute tun will, mir das Böse zur Hand ist. Denn ich freue mich an dem Gesetze Gottes nach dem inneren Menschen, ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern (in meinem natürlichen Menschen), welches gegen das Gesetz meines Herzens ankämpft und mich ge­ fangen setzt in dem Gesetz der Sünde (das in meinen Gliedern ist)." So lautet der clasfische, weil in jedem Menschenherzen, das sich auf sich selbst besinnen will, widerhallende Ausdruck für jenen entsetzlichen inneren Gegensatz, für das Sünden­ bewußtsein des Einzelnen wie der menschlichen Gemeinschaft. Geknechtet unter eine Macht im eigenen Herzen, deren es nicht Herr werden kann, schreit das gequälte Herz: „Ich un­ glückseliger Mensch, wer wird mich erlösen von diesem Leibe des Todes", von der Knechtschaft unter die Gotte wider­ strebende Gesinnung meines äußeren Menschen! Freilich sträubt sich die Seele mit allen Kräften dagegen, diesen trost­ losen Zustand ernstlich anzuerkennen. Aber selbst die große Maste derer, die darüber zur Tagesordnung übergehen wol­ len, geben notgedrungen Zeugnis von dem, was in ihnen ist. Im entscheidenden Augenblick, wo der Uebel größestes, die Schuld ihnen erbarmungslos gegenübertritt, da wollen sie alle sich vor sich selber und vor der Welt rechtfertigen und mitten unter den furchtbaren Verheerungen, die die sün­ dige Gesinnung in den Herzen, in den Sitten, in den Ein­ zelnen, in den Völkern anrichtet, kommt überall das drin­ gende Begehren zum Vorschein, das eigene Gewissen zu beruhigen. Irgendwelche Versicherung der Vergebung der Sünden, der Erlösung von der Schuld wollen sie alle haben, die selbstgerechten, die sie sich im eigenen Verdienst zurecht-

11 machen, wie die in den Tag hineinlebenden, die sich mit einer hergebrachten Phrase, einem Priesterworte, einer mensch­ lichen Versicherung trösten, bis herab zu den offenbaren Götzendienern, die in der Pilgerfahrt zu einem kirchlichen Götzenbilde die Kraft der Freisprechung von ihrer gesamten Sündenschuld suchen, die offenbaren wie die geheimen Sün­ der, die groben wie die feinen Verbrecher. Und es bleibt bei der alten Wahrheit, daß die alleinige Ursache jeglichen inneren Unfriedens und Unglückes die Schuld, der Stachel des bösen Gewissens, die Ungerechtigkeit, die Sünde ist d. h. unser eigenes Widerstreben gegen Gottes heiligen und guten Willen. Wir seufzen alle unter diesem Widerstreben, wir sehen es fortschreiten, das Gute zerstören, im Einzelnen wie in der Gemeinschaft den geistigen Tod herbeiführen, wo nicht die stärkere Gewalt des guten und heilsamen Willens Gottes selber umwandelnd und neu schaffend dazwischentritt. „Einen Unterschied gibt es nicht:

der Sünde sind sie alle verfallen

und ermangeln des Ruhmes von Gott" Römer 3, 23. In dem Erscheinen dieser alleinigen stärkeren Gewalt aus Gott aber, da liegt die feste geschichtliche Grundlage und der lebendige geistige Mittelpunkt unsres Glaubens, in dem Offenbarwerden des heiligen Gotteswillens nicht zum Gericht, sondern zur Lösung des unseligen Widerspruches der Herzen gegen ihn, zur vollen Vereinigung der Seelen mit Gott durch die Besiegung der ihm widerstrebenden Richtung der Gesinnung. Nachdem Gott, soweit wir die Entwickelung des menschlichen Geschlechtes im klaren Lichte der Völker­ geschichte verfolgen können, von jeher den Kampf gegen diese zum geistigen Tode führende Gewalt durch Menschen, die aus seiner Kraft und in seinem Namen aufgetreten sind, in immer neuer Gestalt aufgenommen, vorbereitet und weiter­ geführt hat, hat er, als die Entwickelung der Menschen so­ weit fortgeschritten, die Zeit erfüllt war, den großen Ent­ scheidungskampf auf offenem Plan zu unserm Heil an den

12 Tag gebracht. An der einzigen Stelle hat er es getan, an welcher der Aufgang des neuen Lichtes verstanden und auf­ genommen werden konnte, nämlich mitten in dem Volke und vor den Augen des Volkes, das als Volksgemeinschaft den heiligen Beruf zu solchem Kampfe in sich trug. Er hat es getan durch unsern Bruder, den Menschensohn Jesus von Nazareth, der eben dadurch sich als das Kind des lebendigen Gottes erwies. Gotteskindschaft, Ueberwindung der wider­ strebenden Menschenherzen, Versöhnung unter dem Eindruck nicht von Menschenweisheit, nicht von Zeichen vom Himmel und Erfolgen, sondern allein durch die entgegenkommende, sich selbst darbietende, uns suchende Güte und Gnade Got­ tes, das alles zur Wahrheit gemacht in der ganzen Persön­ lichkeit und Geschichte Jesu — das ist die Heilstatsache, auf welcher der christliche Glaube ruht. „Gott war es, der in Christus die Welt (b. h. die ihm widerstrebenden Menschen) mit sich selbst versöhnte, indem er ihnen ihre Sünden nicht zurechnete und unter uns das Wort von der Versöhnung (d. h. die Verkündigung der Versöhnung aus seinem Geist und aus seiner Kraft) aufrichtete" 2 Cor. 5,19. So lautet einer der vielen herrlichen Aussprüche, die den Kern der Glaubensbotschast des neuen Bundes, des neuen Lebensverhältnisies der Menschen mit Gott, das uns und allen Menschen im Evangelium dargeboten wird, einfach und tref­ fend zusammenfasien. Gott wirkte die Versöhnung und brachte ihre Kraft an den Tag nicht auf dem Wege, den das Volk der ursprünglichen Berufung, die Juden damals begehrten, nicht durch Zeichen und Machtwunder vom Him­ mel, die den Menschen sinnlich und handgreiflich überwälti­ gen, ihn aber tatsächlich und innerlich im alten Zustande lasten. Auch nicht auf dem Wege, den die herrschenden Schichten der gebildeten Welt, insbesondere des geistig hoch stehenden Griechenvolkes im römischen Reiche als den ihrer Höhe allein würdigen erachteten: durch philosophische Er-

13 kenntnis, die keine Kraft der inneren Umwandlung des Menschenherzens in sich trägt und den Menschen aufbläht, wo er sich in ihr das Heil und den Vorzug vor Anderen geschaffen zu haben meint. Nein, Gott betrieb die Offen­ barung seiner entgegenkommenden,

helfenden

Versöhnung

durch den Beweis des Geistes und der Kraft, d. h. auf dem schlichten Wege der Selbstdarstellung seines Willens in der Person des Menschenkindes, das sich als das Kind des lebendigen Gottes selber fühlen und erkennen durfte.

Jesus

wirkte das allen Anderen Unmögliche, indem er mitten im Kampfe des eigenen Herzens mit der Versuchung zum Bösen, mitten unter seinem dem Verderben rasch zueilenden Volke allein aus der Kraft Gottes, göttlicher Gerechtigkeit, Wahr­ heit und Liebe den Heldenkampf aufnahm gegen das Böse und in dem Heldentode für das höchste Gut sich selbst voll­ endend den Willen Gottes zum Heile der Menschen an den Tag brachte. • „Juden fordern Zeichen, Griechen gehen auf Weisheit aus; wir dagegen verkündigen Christus am Kreuz, für Juden ein Aergernis, für Heiden eine Torheit, für die Berufenen aber, Juden und Griechen: Christus, Gottes Kraft und Gottes Weisheit" (1 Cor. 1, 22—24). Auf diesem schlichten^ ja auf diesem von den Menschen verabscheuten Wege, durch einen als Verbrecher unter der Zustimmung und unter der Wut des ganzen Volkes hingerichteten, von Allen verlaffenen Mann hat Gott die Kraft an welche die Macht des

den Tag gebracht,

durch

Widerstrebens des Menschen gegen

Gott und damit der innere Zwiespalt, der ihn ins Verder­ ben reißt, aufgehoben und ein neues Verhältnis zu Gott, eine Neugeburt zu einem unvergänglichen Leben, das be­ wußte Kindesverhältnis zum Vater hervorgebracht wird. Dadurch aber hat Gott nicht etwa seine ewige Gerech­ tigkeit verleugnet, sondern gerade dadurch hat er seine wahre Gerechtigkeit an den Tag gebracht. Denn diese göttliche Ge-

14 rechtigkeit weiß nicht blos zürnend zu verdammen, sondern Sünde von gründ aus zu überwinden. Sie will die Sünde nicht blos also vergeben, daß der Mensch dabei bleibt, wie er ist, daß die Herrschaft der Ungerechtigkeit dennoch unüberwunden in ihm fortbesteht, sondern sie will wahre Gerechtigkeit im Menschen schaffen, sie will ihn aus der Kraft des ihm offen­ bar werdenden Entgegenkommens Gottes zum unbedingten Vertrauen, zum Glauben führen. Sie will den Reiz und Stachel des Widerstrebens gegen Gott aus dem menschlichen Herzen herausreißen, seine Herrschaft von gründ aus zerstö­ ren. Und darum spricht, wo diese Botschaft von der erschie­ nenen, nunmehr an den Tag gekommenen Versöhnung durch Gottes von Ewigkeit vorhandene, den Menschen suchende Gnade im Glauben aufgenommen wird, der Mensch mit Paulus: „Ich schäme mich des Evangeliums nicht; ist es doch Gottes Kraft zum Heil für jeden Glaubenden, sowie dem Juden zuerst, so auch dem Griechen. Denn Gottes Gerechtigkeit wird darin geoffenbart aus Glauben zum Glau­ ben" Römer 1,16.17. Die Gerechtigkeit, die Gott von sich aus auf diesem Wege in den Menschen hervorbringt, hat in der Person Jesu den

festen Wohnsitz auf Erden. genommen, dessen sie be­

durfte. Sie wirkt weiter dadurch, daß Jesus in die Herzen der Glaubenden aufgenommen wird, daß er Gestalt gewinnt in ihrem inneren Leben und Streben. Seine im Tode vol­ lendete und in der Auferstehung auch in den Herzen der Sei­ nen zum Siege durchgedrungene Persönlichkeit wirkt nunmehr als heiliger Gottesgeist aus Buße und Glauben den Anfang und das Fortschreiten des neuen Lebens in den Einzelnen und in dem Gemeinschaftsleben 2 Cor. 3,17.

Das Feuer,

das Gott durch ihn angezündet hat, brennt aus der Kraft der durch ihn gewonnenen Verbindung der Seinen mit Gott und mit der unsichtbaren Welt nunmehr weiter Luc. 12, 49. Und seine Wirkung an den Menschenherzen besteht zwar nicht

15

in sofort eintretendem Erlaß aller irdischen Folgen und Stra­ fen der Sünde, wol aber in dem viel Größeren, nämlich in der Gewißheit, daß sie dem in das neue Lebensverhältnis Eingetretenen nicht mehr an dem Seelenheile, an dem ge­ wonnenen höchsten Glück schaden können, weil ja durch Gott selber nunmehr die Wurzel der Sünde in ihm abgetötet ist. Die Frucht ist zwar nicht vollkommener irdischer Friede, wol aber ein innerer Ort des Friedens in der Gemeinschaft der Seele mit Gott mitten im Wechsel und im Kampfe. Sie ist nicht sofortige Vollendung, wol aber ein mutiges und freudiges Trachten nach der Vollendung in der Zuversicht des Sieges; nicht vollkommenes, von Anfechtungen, Versuchungen und Trübungen freies Glück, vollendete Seligkeit, wol aber Erkenntnis des göttlichen Willens grade in dem dem Men­ schen aufgelegten Kreuz, williges starkes Aufstch-Nehmen des Kreuzes und mitten in aller Betrübnis der freie Zugang zu Gott, die immer neue beseligende Erfahrung der inneren Ge­ meinschaft mit ihm, der Bezeugung seines Geistes in unserm Geiste. Mit Einem Worte: es ist das Kindesrecht und der freudige Gebrauch dieses Rechtes, es ist das inwendige Him­ melreich, welches auf dem bezeichneten Wege in den Seelen und in der Gemeinschaft der dafür offenen Menschen ge­ wirkt wird. Und nun sind wir an dem Punkte angelangt, von dem aus wir die besondere Bedeutung des Todes Jesu für diese Wirkung, seinen einzigartigen Wert für diese heilsame Frucht würdigen können. Zunächst und vor allem erkennen wir in diesem Tode einen durch nichts getrübten Heldentod für das höchste Gut der Menschheit und obgleich der Kampf, der diesen Tod notwendig machte, in Israel ausgefochten wurde, dennoch eine über alle sonstigen Trennungen und Unterschiede der Menschen aller Zeiten und aller Orte hinaus­ greifende, allgemein menschliche Bedeutung dieses Todes, eben weil es das höchste, das himmlische Gut ist, dem er diente.

16 Wir erkennen auch das Andere, nämlich daß in der Persönlichkeit Jesu, in ihrem einzigartigen inneren Leben, in ihrer Kindesverbindung mit Gottes heiligem und gutem Willen die eigentümliche Wirkung dieses Todes begründet ist. Ohne diese Voraussetzung hätte der Tod Jesu immer noch ein Helden- und Märtyrertod im Dienste Gottes sein können, aber er hätte nicht die Wirkung haben können, das neue himmlische Leben in den Herzen zu wecken. Er wäre etwa wie der Tod des letzten und größesten Propheten, des Täufers Johannes oder anderer Propheten tief beklagt und auch wertvoll in den Augen der Frommen und in den Augen Gottes gewesen, hätte aber den allgemeinen sittlich-religiösen Zustand der Menschen auf dem alten Flecke gelassen. Israel wäre allerdings seinem Gericht nicht entgangen, aber der neue Bund wäre nicht an die Stelle des alten, die Welt­ religion der frohen Botschaft nicht an die Stelle der israe­ litischen nationalen Gesetzesreligion getreten. Wir dürfen es gar nicht ausdenken, was aus der Menschheit geworden wäre ohne Jesus, an seiner Person haftet auch unlöslich der Wert seines Todes am Kreuze. Hätte er nicht vollkom­ men in sich getragen, was er verkündigte und brachte und wofür er sich selbst ganz hingab, so hätte sein Tod auch nie als Siegel Gottes auf die Selbstentfaltung seines Wesens Kraft gewinnen und das neue Leben nicht in einer Weise wachrufen können, nach welcher der irdisch Lebende vergeblich trachtete. Auch das Dritte ist jetzt klar, nämlich daß Jesu Tod auch von ihm selbst als ein zur Hervorbringung dieser Wir­ kung unbedingt notwendiger erkannt und erlitten worden ist. Auf die Darstellung des Johannesevangeliums dürfen wir uns grade dafür allerdings nicht berufen, denn sie ist schon von dem Standpunkte aus gegeben, auf dem die spätere, schwer errungene christliche Erkenntnis von dem einzigartigen Werte dieses Todes in dem ganzen Plan des Evangeliums

17 von vornherein ganz klar und fertig ausgesprochen im Munde Jesu und im Munde des Täufers erscheint. Der hohe Wert und die Herrlichkeit des Johannes-Evangeliums liegt auf dem Gebiete des Denkens über Jesus, nicht aus dem Gebiete der geschichtlichen Darstellung. Wie schon im Prolog von dem fleischgewordenen Wort oder göttlichen Logos gesagt wird, daß die Welt ihn nicht erkannt, die Finsternis ihn nicht begriffen hat (Joh. 1,5.10), daß er in sein Eigentum kam, aber die Seinen ihn nicht aufnahmen (SS. 11), so bezeichnet ihn hier der Täufer gleich im ersten Capitel zweimal als das Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt (33. 29. 36), und schon im dritten Capitel macht Jesus den ganzen Heilsratschluß Gottes mit seiner Dahin­ gabe offenbar: Jesus muß erhöht werden am Kreuz, wie Moses in der Wüste die Schlange erhöht hat, denn Gott hat die Welt also geliebt, daß er seinen einzigen Sohn (in den Tod) dahingab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden sondern das ewige Leben haben. Das Gericht der Welt ist schon darin ausgesprochen, daß die Menschen die Finsternis mehr liebten als das Licht (3,14— 16. 19). Und so erscheint Jesus hier dauernd also, daß ihm von vornherein die Notwendigkeit seines Todes zweifellos und er in vollkommener innerer Einigkeit damit ist, imgrunde auch einen menschlich verständlichen inneren und äußeren Kampf und Schmerz deswegen nicht zu erdulden hat, son­ dern schon im Leben als der vollendete Hohepriester der Seinen (17,1—21) sich in dem Lichte darstellt, das nach der geschichtlichen Auffassung der drei ersten Evangelien und nach dem damit übereinstimmenden Zeugnis des Paulus grade erst sein Tod und seine Auferstehung den Gemeinden gegeben haben. In den drei ersten Evangelien ist die ge­ schichtlich allein denkbare und menschlich verständliche Auffaffung vertreten, nach der Jesus die Notwendigkeit seines Todes und den heilsamen Wert dieses Todes erst dann erZiegler, Bedeutung des Todes Christi.

2

18

kannte, als in seinem Lebenswerk, in seinem Riesenkampf gegen die herrschenden Brächte des gesetzlichen, hierarchischen und nach nationaler Unabhängigkeit strebenden Judentums alle seine früheren Hoffnungen auf Rettung seines Volkes vernichtet worden waren (Mtth. 16, 21 — 28. 17,22.23) — die Auffassung, nach der er nicht ohne den schwersten und schmerzlichsten Kampf im eigenen Herzen, nicht ohne die Ueberwindung der stärksten Versuchung, sich diesem Kampfe zu entziehen, den Tod auf sich genommen hat. Das Rin­ gen Jesu in Gethsemane, bei dem er immer wieder bittend vor seinem Vater im Himmel niederfällt, er möchte doch wenn irgend möglich diesen Kelch an ihm vorübergehen lassen, ist im Johannesevangelium nicht zu brauchen und daher hier weggelassen (Matth. 26, 36—46. Joh. 17,1—26. 18, 1.2). Aber nicht etwa verhält es sich also, daß Jesus und sein Kreuzestod an Wert für uns verliert durch die offene Mitteilung dieses Kampfes. Im Gegenteil: wir können Gott nicht genug danken dafür, daß er uns das ge­ schichtliche Bild des trauernden und ringenden, zitternd und zagend um Verschonung von diesem Allerschwersten flehenden Jesus nicht vorenthalten hat. Nur so können wir seinen Kreuzestod als den in vollkommen menschlicher Empfindung bewußt von ihm auf sich genommenen Heldentod, als den Tod des unbedingten Gehorsams und der vollkommenen göttlichen Liebe verstehen und mitempfinden und seiner Frucht, des neuen Gemeinschaftsverhältnisses zu Gott, teilhaftig werden. Die christliche Erfahrung bestätigt stets und überall, wo nicht von vornherein die Seele sich dagegen verschließen will, daß es in der ganzen Welt nichts die Seele tiefer Erschütterndes, nichts Furchtbareres und doch zugleich nichts heilsamer auf sie Wirkendes gibt als den Gebetskampf in Gethsemane mit dem Schluffe, der ebenso den Sieg in der Seele Jesu selber wie seine Betrübnis bis in den Tod, sein tiefes Seelenleid über diese Antwort der Menschen auf die

19

Selbstoffenbarnng der göttlichen Liebe enthüllt, als Jesus von ferne Stimmen hört und Lichter durch die Bäume schei­ nen sieht und zu den Schlafenden spricht: Stehet auf, lasset uns gehen, siehe er ist da, der mich verrät! So erhaben der Standpunkt der ganzen Darstellung des vierten Evangeliums ist, an die schlichte und doch wahr­ haft himmlisch große Darstellung des Gethsemanekampfes mit seiner einfachen Verständlichkeit und seiner göttlichen Kraft reicht selbst die großartige Denkhöhe dieses Evangeliums nicht heran. Hier fühlen wir den größesten Kampf, der von jeher auf der Erde zwischen den Menschen gewütet, ja der geradezu den Mittelpunkt der Menschengeschichte gebildet hat, den Kampf zwischen Gut und Bös, zwischen Liebe und Leben aus Gott und Tod und Verderben ohne ihn; wir erleben ihn derartig mit in Jesu Seele, daß wir in seiner tiefsten Traurigkeit, in seinem Ringen und Zittern die ganze Gewalt des Bösen, die auf ihn, den ganz Verlassenen eindringt, und in seinem stillen Gehorsam die ganze Macht des Guten verkörpert und für jedes offene Herz gradezu überwältigend an den Tag gebracht und einander gegenübergestellt sehen. Hier wird dieser Kampf ganz klar und offen, rückhaltslos und mit Einsetzung der ganzen Kraft auf beiden Seiten durchge­ kämpft; hier begegnen sich Gottes heiliger Liebeswille und das menschliche Widerstreben dagegen auf dem Höhepunkte der Geschichte also, daß jedes irgend noch empfängliche Herz auch die letzte Stütze des Vertrauens auf die eigene Kraft ganz ohnmächtig dahinsinken sieht und nur noch das Eine fühlt: mein höchstes Gut, mein Heil in Zeit und Ewigkeit ist es, um das hier gekämpft und gerungen wird, und der also ringt, sich selber ganz an Gott hingebend, auch wo das Herz ihm bricht vor Schmerz, der trägt das höchste Gut in sich und macht es offenbar vor der Welt, der bringt es allen, die darnach verlangen, durch die Treue im höchsten himmlischen Beruf für seine Brüder. Hier verstehen wir es:

20 unter einem anderen Volke,

an einem anderen Flecke der

Erde hätte es gar nicht einmal bis zu diesem Kampfe kom­ men können. Ueberall hätte das Fehlen der notwendigen Grundvoraussetzung, der Anbetung des Einen heiligen Got­ tes es überhaupt nicht erst bis zur Klarstellung der ganzen Macht auf der einen wie auf der anderen Seite kommen lasten. Wahn, Roheit oder ausgebildete Frivolität würden die höchste Selbstoffenbarung Gottes unter den Menschen von vornherein verdunkelt, den vollen Gegensatz an seiner Entfaltung gehindert, Jesus so oder so hinweggeräumt, bei­ seite gestoßen haben;

mit Verachtung oder mit Heiterkeit

würde man über ihn zur Tagesordnung übergegangen sein. In Israel aber ist es geschehen, was dann Allen zu gute kommen konnte: mitten unter uns, durch unsern Bruder ist der Sieg ohnegleichen errungen, das Gut der Güter, die Kraft der Gerechtigkeit und Seligkeit gewonnen worden, es ist die Offenbarung des himmlischen Reiches, der unsichtbaren Gemeinschaft der Seelen mit Gott, das Leben, das keine Sündenmacht und keine Todesfurcht mehr hindern kann, an den Tag getreten.

Hier fiel es nach dem Kreuzestode zu­

nächst einer kleinen Schar wie Schuppen von den Augen, hier erwachte mit den Erscheinungen des Auferstandenen der Glaube und das Verständnis der tiefsten Wege der Liebe und Weisheit Gottes, von hier konnte die frohe Botschaft von dem einzigartigen Siege in alle Welt ergehen und mit der beschämendsten Buße weltüberwindenden Glauben und neues Leben wecken in allen nach Gott hungernden und dürstenden Seelen, Mut und Kraft der Nachfolge Jesu in allen demütigen und leidtragenden Herzen. Aus dem Wesen Gottes an sich die unbedingte Not­ wendigkeit des Todes Christi zu begründen, das dürste uns allen schwer, ja auf dem Wege philosophischer Speculation gradezu unmöglich sein. Aber nach dem Gesagten wird auch kaum noch Jemand das Bedürfnis nach solcher Ableitung der



21

Notwendigkeit dieses Todes aus dem Begriffe Gottes em­ pfinden. Der vollkommen ausreichende Grund liegt in der Menschennatur, in der Verflochtenheit der Einzelnen wie der Gemeinschaft mit der Sünde. Allein in der Durchfüh­ rung des Kampfes gegen die ungöttliche Gesinnung, in der Tat solches Helden-

und Opfertodes da,

wo die heilige

Gotteskraft der Liebe erschien, lag und liegt noch heute der Beweis des Geistes und der Kraft für das arme Menschen­ herz,

der allein imstande ist,

jegliches Vertrauen auf die

eigene Güte, auf das persönliche Verdienst, auf die nationale und religiöse Ueberlieferung zu brechen. Und wie wäre die Durchführung dieses Kampfes möglich gewesen, wenn Jesus vor der ihm sich aufdrängenden Notwendigkeit seines Todes stillegehalten hätte! Nicht zufällig ist es gewesen, daß eine besonders gottentfremdete Generation der Juden seinen Tod herbeigeführt hat, sondern es ist geschehen aus der inneren Notwendigkeit der Vollziehung des Zieles und Ratschlusses der heiligen göttlichen Liebe an dem gottverwandten und doch vom Dienste des geschaffenen und vergänglichen Wesens nicht loskönnenden menschlichen Geschlecht.

Nur durch eine Tat

der Selbsthingabe der göttlichen Liebe mitten unter den Men­ schen, bei der für den Unbefangenen jede andere Deutung, ausgeschloffen war, bei der dieser Liebe, durch sie herausge­ fordert, der Gegensatz und Widerstand dagegen klar und zwei­ fellos gegenüberstand, war dieser Widerstand zu brechen. Ge­ wiß gehört zu

dieser Tat die ganze Selbstentfaltung der

Persönlichkeit Jesu im Leben, aber erkennbar, unzweifel­ haft konnte sie dem schwachen schwankenden Menschenherzen erst in diesem Tode werden. „Ist doch Christus", sagt deshalb Paulus, „zur Zeit unsrer Schwachheit, also damals für Gottlose, in den Tod gegangen", und folgert weiter: „kaum nimmt Jemand sonst den Tod auf sich um eines Gerechten willen; nicht leicht entschließt sich Jemand selbst für die gute Sache in den Tod zu gehen.

Gott aber be-

22 weist seine Liebe zu uns damit, daß Christus für uns starb, da wir noch Sünder waren" (Röm. 5, 6—8). Was liegt in diesem Argumente anderes, als das, was wir alle aus eigenster Erfahrung nur allzugut wissen, nämlich daß den Menschen, die doch sonst nicht loskönnen vom Wahn der Selbstgerechtigkeit wie vom Dienste vergänglicher Mächte, der Beweis der Liebe Gottes nur durch die vollste Selbstent­ äußerung überzeugend

und

überwindend

erbracht

werden

kann, bei der dem Gottes Liebe offenbarenden Menschen alles Schwerste und Schmerzlichste zufällt und auch ledig­ lich nichts als Dank oder als Stütze oder als sichtbarer Erfolg übrig bleibt, sondern er den schmachvollsten und schmerzlichsten Tod in der entsetzlichsten Gestalt, herbeigeführt ebenso durch Wut und Zorn auf der einen, wie durch Feig­ heit und Charakterlosigkeit auf der anderen Seite als Dank für seine himmlische Liebe erntet! Nur im Anblick, im eigenen Miterleben des höchsten Opfers der Liebe stirbt der alte, schlecht gesinnte Mensch und es erwächst im, Glauben der neue Mensch.

Darum ist sowol die Taufe nach ihrer ur­

sprünglichen Bedeutung der christliche Weihe- und Aufnahme­ act des zu solchem Glauben Gekommenen in die Gemein­ schaft des Todes Christi (Röm. 6,3.4), als auch das Abend­ mahl das Bundesmahl der Glieder dieser Gemeinschaft auf denselben Tod, in dem sie den Gekreuzigten als Speise ihrer Seelen in sich aufnehmen. Und Paulus spricht aus dieser Erfahrung triumphirend: „ich bin mit Christus gekreuzigt, ich lebe jetzt nicht als ich selbst, es lebt in mir Christus; insofern ich aber noch im Fleische lebe, lebe ich im Glauben des Sohnes Gottes, der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat" (Gal. 2,20). Wer wollte hiernach nicht tief ergriffen und freudig an­ erkennen, daß der Tod Christi in einer Bedeutung wie kein anderer Tod eines Frommen ein Opfer- und Sühnetod für die sündige Menschheit war und daß er diese Bedeutung auch

23 heute für uns hat!

Ist es denn nicht auch für uns wahr

und verständlich, was Paulus fagt: Gott hat den, der keine Sünde kannte, für uns zur Sünde gemacht, damit wir würden die Gerechtigkeit Gottes in ihm? (2. Cor. 5,21.) Aber was hat das mit der Versöhnungslehre des Anselmus oder des Thomas von Aquino zu tun? Es ist ein altes, schwer zu beseitigendes, verhängnisvolles Misverständnis, wenn man das Opfer, mit dem Gott selbst uns versöhnend entgegenkommt, als ein von ihm um einer seiner Liebe fremden

Heiligkeit

und

Gerechtigkeit

willen

Schuld- und Sühnopfer an ihn betrachtet. Liebe,

Gerechtigkeit und Barmherzigkeit

gefordertes

Heiligkeit und sind

im Wesen

Gottes gar nicht derartig von einander zu trennen, daß sie in letzter Beziehung etwas verschiedenes wollen könnten. Die Eigenschaften Gottes sind keine selbständigen Wesen, sondern nur menschliche schwache Ausdrucksversuche für das, was ein Mensch in den verschiedenen Lebenslagen und Be­ dürfnissen

als die Einwirkung des gemeinsamen Wesens

Gottes auf sich empfindet.

Es ist widersinnig, von Gott

auszusagen, daß er um der einen Eigenschaft willen etwas erlaffen könne, was er aufgrund einer anderen Eigenschaft feines Wesens fordern müffe.

Jndertat fordert auch Gott

nach dem Zeugnis der gesamten urchristlichen Literatur für sich und um seinetwillen kein Opfer, sondern er sucht und fordert lediglich das Herz des Menschen.

Das Opfer bringt

er selbst uns dar und darin besteht seine Selbstoffenbarung auf dem Wege der Geschichte und aus dem Wege des Her­ antretens an den Einzelnen durch den Geist der Gemein­ schaft des neuen Lebens, des neuen Bundes, daß er denen, die das Herz dafür auftun, seine suchende, rettende, neu schaffende Vaterliebe

in

der Geschichte und Persönlichkeit

Jesu, insbesondere in seinem Tode gewiß macht, so daß dieser Tod ebensowol die immer neue schmerzlichste Bußpre­ digt für die Gemeinschaft und für den Einzelnen wie die

24 seligste Glaubensbotschaft von der Ueberwindung des alten und der Geburt und dem Wachstum des neuen, nach Gott gestalteten Menschen wird, so daß wir ausrufen können: »Ist Gott für uns, wer ist wider uns? der seines eigenen Sohnes nicht verschont hat, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben, wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken!" (Röm. 8,31-33.)