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German Pages 16 [32] Year 1924
Veits k l e i n e Sehachbüeherei Herausgegeben von Dr. F. P a l i t z a c h In Auasicht genommen sind u. a. folgende Bändchen:
A. Allgemeines Die Bedeutung des Schachs. — Schach-Dichtung. — SchachHumor. — Die Geschichte des alten Schachs. — Die Geschichte des .modernen Schachs.
B. Partieschach Schachschule für Anfänger. — Die Strategie der Spieleröfinung. — Die Spanische Partie und verwandte Eröffnungen. — Das Mittelgamhit und verwandte Eröffnungen. — Das russische und das französische Springerspiel. — Die Wiener Partie. — Das Königsgambit. — Die unregelmäßigen Verteidigungen der Königsbauereröffnung. — Das Damengambit und Damenbauernspiel. — Die unregelmäßigen Verteidigungen der Damenbauereröfinung. — Die Behandlung des Mittelspiels. — Die wichtigsten Kapitel der Endspielpraxis. — Ausgewählte Studien aus Mittel- und Endspiel. — Ausgewählte MusterPartien.
C. Problemwesen Problemschule für Anfänger. — Die Stilarten in der Problemkunst. — Die logische Kombination. — Die direkte Kombination. — Die indirekte Kombination. — Ausgewählte Musterprobleme, Preis jedes Bändchens im Umfang von ca. 4 Bogen e t w a Gold-M. 1.50
W A L T E E
DE
ö ß U Y T E E
& CO.
vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung - J . Guttentag,Verlagsbuchhandlung - Georg Reimer - Karl J. Trübner Veit & Comp. - Berlin W. 10 und Leipzig
VEITS KLEINE
SCHACHBÜCHEREI
HERAUSGEGEBEN
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VON
BAND
Dr. F. P A L I T Z S C H
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DIE
BEDEUTUNG DES SCHACHS VON
Dr. H. V. KLEIN UND Dr F. PALITZSCH
B E R L I N UND L E I P Z I G 1924 W A L T E R D B G R U Y T B R & C O . VORMALS G.J. GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG - J. GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG - GEORG REIMER - KARL J. TRÜBNER - VEIT & COMP.
Alle Rechte yon der Verlagsbuchhandlung vorbehalten.
Druck voll Metzger & Wittig in Leipzig.
Vorwort des Herausgebers. Mit der Herausgabe von "Veits kleiner Schachbücherei wird ein Werk begonnen, das für die Schachliteratur als neuartig und bedeutungsvoll zu gelten hat. Wird es doch damit zum ersten Male unternommen, das ganze, mächtig angewachsene Gebiet des Schachwissens in lauter kleinen Einzeldarstellungen zu behandeln, die dann in ihrer Gesamtheit sich zu einem einheitlichen Ganzen abrunden und einen systematischen Bau bilden sollen. Ähnlich den auf anderen Gebieten bestehenden Taschen-Büchereien (z. B. Sammlung Göschen, Aus Natur und Geisteswelt, usw.) soll V e i t s kleine S c h a c h b ü c h e r e i ein zuverlässiger Führer durch alle Zweige des Schachspiels sein. Die Zerteilung des Stoffes in lauter Einzelthemen ermöglicht es, jedes einzelne Thema gründlich abzuhandeln, ohne damit den Leser zu sehr zu belasten Und abzuschrecken. Als weiterer Vorteil ergibt sich die Möglichkeit, sich von den ohnehin wohlfeilen Bändchen nur das gerade Interessierende auswählen und nach und nach anschaffen zu können, womit eine finanzielle Belastung des Lesers fast ganz ausgeschaltet ist. Es ist Sorge getragen, daß die einzelnen Bändchen nach dem modernsten Wissensstande und in moderner, fesselnder Form abgefaßt werden, so daß der Stoff dem Leser in denkbar bequemster und übersichtlichster Form dargeboten wird. Die Bändchen der „Kleinen Schachbücherei" werden in der Hauptsache drei Gebiete umfassen: A. Allgemein-Schachliches, B. Partieschach, C. Problemschach. Das vorliegende, der ersten Gruppe angehörende Bändchen Nr. 1, betitelt: Die B e d e u t u n g des S c h a c h s , erschien am meisten geeignet, die ganze Reihe zu eröffnen. Abgesehen von dem Allgemeininteresse, den der vieles in neuer Be1*
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Vorwort.
leuchtung zeigende Inhalt für jeden Schachspieler bietet, dürfte das Bändchen besonders auch als Propagandaschrift und als Schachpreis geeignet sein. Ich habe die zuversichtliche Hoffnung, daß der Gedanke der „Kleinen Schachbücherei" in der Schachwelt auf günstigen Boden fallen und daß die Herausgabe weiterer Bändchen in rascher Folge vonstatten gehen wird. D r e s d e n , im November 1923.
Dr. Friedrieh Palitzsch.
Sehachkunst und Kulturproblem Eine A p o l o g i e von
DP. Heinrich Viktor Klein Wien
Einleitung. Die vorliegende Abhandlung wurde mit unwesentlichen Abweichungen während der Tagung des Internationalen Schachkongresses in Wien im November 1922 als Vortrag im Messepalast und in der „Urania" gehalten. Um meine darin entwickelten Anschauungen über Kunst im allgemeinen und über Schachkunst im besonderen auch weiteren Kreisen zugänglich zu machen, habe ich mich zu dieser Veröffentlichung entschlossen, womit in erster Linie einer kräftigen Förderung unserer Kunst, in letzter Linie aber der idealen Forderung des Amateurgedankens gedient werden soll. Im Titel dieser Abhandlung ist mit Vorbedacht und Absicht das Wörtchen „Spiel" vermieden. Man mißverstehe das nicht. Nicht, als ob ich die Tatsache verkennen wollte, daß das Schach a u c h ein Spiel sei; das hieße ja das Blaue vom Himmel herunterleugnen. Aber in der Wendung „auch ein Spiel" liegt der Ton auf dem letzten Worte, und darin zugleich ist das ganze Programm meiner Rede enthalten, in deren Verlaufe ich ausführen möchte, wieso das Schach zwar auch ein S p i e l , aber vielmehr, wieso es etwas anderes, Höheres geworden ist, und was es eigentlich der Gegenwart bedeutet. Dieses geschieht nicht so sehr, um die Liebe zum Schach gegen die zeitweise immer wiederkehrenden Angriffe Unberufener, Unverständiger zu schützen; sondern nicht minder zu dem höheren Zwecke, daß auch innerhalb der esoterischen Gemeinde der Schachfreunde Irrtümer beseitigt werden, die nur auf unklaren Vorstellungen beruhen und die gute Sache schädigen müssen. Meine Rede ist also eine Apologie, die Verteidigung eines innerhalb und außerhalb des Lagers angegriffenen Schutzbedürftigen. Meinen Ausführungen setze ich ein Motto voran, das ich in den L e b e n s e r i n n e r u n g e n B e n j a m i n F r a n k l i n s , des großen Staatsmannes und Erfinders, gefunden habe, der ja auch ethisch einer der höchststehenden Menschen war, die auf dieser Erde gewandelt sind; sein Wort fällt darum als schweres Gewicht in die Wagschale. W i e n , im November 1923.
Dr. H. Y. Klein.
„Das Schachspiel ist nicht bloß eine müßige Unterhaltung. Verschiedene schätzbare und im Laufe des menschlichen Lebens nützliche Klgenschaften deB Geistes können dadurch erworben oder gekräftigt werden , so daß sie zu Gewohnheiton werden, die uns nie Im Stiche lassen." Beujamln Franklin.
Keine Art menschlicher Geistestätigkeit bietet innerhalb ihres Entwicklungsganges dem Untersucher so seltsame Erscheinungen dar wie das Schach: Ursprünglich ein Spiel, vom Spiel in die breiten Regionen des Sports, des höheren Wettbewerbs, sich erhebend, vom Sport in die reinsten Höhen edler Kunst ansteigend, hat das Schach schließlich — auf diesem Gipfel angelangt — eine große Wissenschaft aus sich entstehen lassen, die die Gesetze seiner Kunst zur Darstellung bringt;. Und damit ist das Schach zum Kulturträger geworden. Spiel, Sport, Kunst, Wissenschaft — oft wurde darum gestritten, wo das Schach einzureihen sei. In Wahrheit umfaßt es alle vier Begriffe. Aber ihr Gebrauch innerhalb der Sprache ist aus Mangel an sorgfältigem Denken schwankend geworden und hat zu unrichtiger Anwendung geführt. Vielleicht am treffendsten hat es v. d. L a s a , der große Theoretiker des vorigen Jahrhunderts bezeichnet: „Dem Wesen nach ein Spiel, der Form nach eine Kunst, der Darstellung nach eine Wissenschaft." Die Art nämlich, wie wir eine Tätigkeit des Geistes betreiben, bestimmt ihr Verhältnis zu uns, ihre Beziehung zum Leben und daraus ihren Wert. Beschäftigt sie das Denken nur oberflächlich und genügt es, unser Gemüt an dem anmutigen Wechsel ihrer Möglichkeiten zu erfreuen, die Seele von den Sorgen des Alltags zu lösen und auf eine Spanne Zeit in ein idealeres Traumland zu entführen —- so ist sie bloß eine Unterhaltung, ein Spiel, wo Glück und Zufall herrschen, und menschliche Laune die Puppen am Drahte zieht. Spiel bleibt es, solange der Mensch es als harmlosen Zeitvertreib übt, sorglosen Gemütes, wie etwa das Kind mit den Zinnsoldaten hantiert. Tritt aber das Motiv des Wettbewerbes hinzu, so wird aus dem Spiel ein Sport, gleichviel, ob es des Leibes oder des Geistes Übung betrifft. An die andere, mißverständliche Auffassung des Wortes „Sport" als Betätigung und Ausnützung einer Leidenschaft bis zum Lächerlichen ist hier natürlich nicht zu denken. Denn diesen Begriff hat die Satire geschaffen.
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Doch auch der Sport, der im Schach enthalten ist, enthüllt nicht seines Wesens innersten Kern. 1 ) Der Sport liebt das Glänzende. „Was glänzt, ist für den Augenblick geboren." Der Sport ist etwas Wechselvolles, sein Ergebnis hat darum keine bleibende Wirkung. Auch ist manche Gefahr an ihn gebunden, die seinen Wert vermindern kann. Der Wettbewerb weckt zwar die schlummernden Kräfte und spornt sie an, ihr Bestes zu geben, aber die Mittel zu seinem Zwecke sind nicht immer ideal; zudem beschwört er Gefahren herauf, die Unheil stiften: die Gefahren der Kraftüberschätzung, der Urteilstrübung, der Eitelkeit. Man denke an AI bin s, des unvergessenen Meisters, trefflichen Ausspruch: „Die Turniertabelle — ein wichtiges Dokument für Erfolganbeter — ist für wahre Kenner einer geistvollen Partie eine gleichgültige Wetterkarte." Aber das Schach ist ja mehr als ein Spiel, es ist mehr als ein Sport! Suchen wir den eigentümlichen Reizen des Schachs nachzuspüren, so machen wir bald die Entdeckung; daß das Spielerische daraus unversehens verschwindet; und eine große, hehre Kunst reckt sich mit einemmal auf, die ernsten Antlitzes im Kothurn einherschreifcet, eine Kunst, deren Schöpfungen den Vergleich mit keiner anderen zu scheuen haben. Und wieso ist denn das Schach als „Kunst" zu bezeichnen? Ist das etwa nur eine lässige Redensart, und verwechselt der begeisterte Anhänger hier am Ende nicht die bloße „Kunstfertigkeit", die Virtuosität, mit der Kunst selber? Diese Frage muß der Gewissenhafte sich vorlegen und beantworten. Nun ist fieilich nicht zu leugnen, daß man heute vieles ganz unverdient mit „Kunst" bezeichnet, um ein an sich geringes Ding gewaltsam auf eine höhere Grundlage zu stellen. Hier kommt eben alles auf das Begriffliche an, und die gute Definition muß die Entscheidung bringen. Die bloße Kunstfertigkeit, das Virtuosentum, bleibt immer am Äußerlichen haften. Das Kennzeichen dafür heißt: Beherrschung des rein Formalen, Arbeit sozusagen aus dem Handgelenke, mechanisierter Betrieb; kurz, talentierte Technik ohne schöpferischen Geist oder: die Kunst, zum bloßen Handwerk herabgedrückt. Virtuosität gibt es natürlich im Bereiche jeder Kunst, aber sie gibt nur einen Schein und vermag nicht in die Tiefe zu dringen. Das Wesen der e c h t e n Kunst aber möchte ich doch anders abgrenzen: Sie ist eine geistige Tätigkeit, deren Ausübung und deren Werke, gleichviel, ob ihre Gegenstände geistig oder körperlich sind, die Macht haben, irgendwelche Beziehung zum Leben zu schaffen und zugleich den ') Ygl. Dr. H. V. K l e i n , „Erziehung zum geistigen Sport", Neue Wiener * Schachzeitung 1923, Nr. 6, herausgegeben von K. W a h l e und A. L e w i t .
Schachkunst und Kulturproblem.
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Forderungen der Schönheit gerecht zu werden. Nicht der oft gehörte Einwand kann hier maßgebend sein, daß jede Kunst in der Natur selbst ihre Voraussetzungen finden müsse und daß das Schach dieser Forderung nicht ganz entspreche, weil es sich selbst erst seine Prämissen gegeben hat. N i c h t ihre V o r a u s s e t z u n g e n m u ß die K u n s t in der N a t u r s c h o n h a b e n , s o n d e r n i h r e B e z i e h u n g zum L e b e n m u ß sie h e r s t e l l e n k ö n n e n , wenn sie g r o ß e r W i r k u n g e n s i c h e r sein will. J e d e Kunst hat gewisse Grundgesetze, ohne die sie einfach nicht auskommen kann. Auch die Tonkunst, die Malerei, die dramatische Dichtung haben sich so wie das Schach erst die Prämissen selbst geschaffen; nur liegt das Feld ihrer Wirkung in weiteren Grenzen als beim Schach. Das ist aber auch der einzige Unterschied. Das Wesentliche bleibt, d a ß eine Bez i e h u n g zum L e b e n v o r h a n d e n sei. Und diese ist beim Schach der „ K a m p f " ; der Kampf mit dem ganzen Gefolge geistiger und seelischer Eigenschaften stempelt das Schach in seinen Ausdrucksformen zur Kunst. Darauf kommt es an. Und daher kommt es, daß dem Schachkünstler die zwiefache Fähigkeit aller echten Kunst gegeben ist: die Gabe des unbeirrbaren Instinktes, des zielsicheren inneren Blicks — J u n k nennt sie „Intuition" 1 ) — und hernach die Gabe, dauernde ästhetische Werte zu schaffen, die den Genießenden glücklich machen. Den zielsicheren inneren Blick, von dem hier eben gesprochen wurde, hat nun allerdings auch das „Wunderkind". Wunderkinder gibt es in jeder Kunst. Auch im Schach geben sie Höchstleistungen, die ohne Anstrengung, ohne Entwicklungszeit, förmlich sprungweise zum Vorschein kommen, und eben deshalb als Wunder bestaunt werden. Es ist gleichsam eine innere Vollendung da, vom Anfang an, ohne äußere Zutat. Aber es ist doch meist eine abnorme Lebenserscheinung, unerfreulich, weil abnorm im Sinne des Krankhaften. Die echte Kunst zeigt ihr Wesen in harmonischer äußerer und innerer Vollendung. Doch der geigende Wunderknabe, der die schwierigsten Beethoven-Probleme spielend und spielerisch bewältigt, der geniale Elementarschüler als Rechner, der endlose Zahlenreihen im Kopfe behält, und das Kind, das im Alter von 6 Jahren ganze Heldengesänge auswendig leiert, sie alle sind eigentlich Stiefkinder der Natur, denn, sie alle verbindet ein Zug des Krankhaften: Die gesamte Intelligenz verdichtet sich gleichsam auf das eine und einzige Können, und die andere Geistesentwicklung bleibt auf niederer Stufe stehen; nicht selten auf der Stufe des Schwachsinns. Es ist, als ob die Natur als Ersatz für den Mangel vieler Durchschnittsfähigkeiten eine ') W. J u n k , „Philosophie des Schachs", Leipzig 1918.
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einzige große spenden wollte. Zudem versäumt das Wunderkind infolge der vorzeitigen Reife auch in s e i n e r Kunst die notwendige äußere Vollendung, sinkt meist zum Gegenstande schrankenloser Ausbeutung herab und wird so aus der Bahn des Lebens geschleudert. Einem Mozart allein war unter Tausenden das hohe Glück beschieden, auch hier eine Ausnahme zu sein, da aus dem Wunderkinde der Wundermann ward. Auch im Schach hat es zwei Wunderkinder gegeben, die diese Prüfung frühester Jugend gut überstanden haben. Das waren Morphy, der größte Schachgenius der Vergangenheit und C a p a b l a n c a , der größte der Gegenwart, vor dessen hellseherischem Blick kein Geheimnis seiner Kunst verborgen bleibt. Jener setzte im 12., dieser schon im 6. Lebensjahre die Welt durch seine Leistungen in Erstaunen. Alle großen Meister des Schachs haben die Fähigkeit des zielsicheren inneren Blicks und die Gabe, ästhetische Werte zü schaffen. Darum ist das Schach vor allem eine Kunst, eine große und edle Kunst. Und es ist ein schwerer Irrtum, wenn J u n k die Meinung ausspricht, daß das Ich-Gefühl während des Spieles ausgeschaltet sei, und ein Verkennen der Tatsachen, wenn er deshalb die Zugehörigkeit des Schachs zur Kunst bestreitet, ihm nur eine ,Ähnlichkeit mit den Künsten" zuerkennt. Weder ist hier das Ich-Gefühl ausgeschaltet, noch auch die tiefere Beziehung der Außenwelt zum Ich. Wie wäre es möglich, daß diese wundervolle Macht, deren Zauber noch jeder, der ihr nur nahe gekommen, erlegen ist, ein so vollkommenes Abbild des Lebens böte? Wie wäre es möglich, darin die tiefe Symbolik menschlichen Wesens zu erkennen, wenn das „Ich" hier keine Beziehungen hätte ? — Und wie wäre es schließlich möglich, daß die führenden Geister auch hier ihren Werken den unverkennbaren Stempel ihrer Eigenart aufdrücken können, den wir eben mit gutem Recht als den „Schachstil", als die „persönliche Note" bezeichnen! Der Schachstil ist es ja, der allein der gestaltenden Phantasie des Künstlers den fruchtbaren Boden bereitet. Der Schachstil ist das seltsame magnetische Eluidum, ist jenes undefinierbare Etwas, worin die Seele des Künstlers lebt, und wer dieses Eluidum zu fühlen, zu erkennen und zu erfassen vermag, der, nur der hat seines „Geistes einen Hauch verspürt". Und sind nicht auch die großen Meister des Schachs durchwegs echte Künstlernaturen mitsamt ihren Vorzügen und Fehlern? Menschen aus Fleisch und Blut, mit Leid und Freud', voll urwüchsigen Humors und genialer Laune, sprühend von witzigen Einfällen, wie alle Genies reinen und kindlichen Gemütes, dabei durchaus schwankend in ihrer Psyche, bald himmelhoch jauchzend, bald zum Tode betrübt; zu Zeiten
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i h r e Kunst für die höchste, die einzige haltend, zu Zeiten angewidert von ihr bis zum Ekel! — Die ästhetische Wirkung des Kunstwerkes im Schach kann heute ebensowenig bestritten sein, wie in der Dichtung, in der Musik, in der Malerei; und ebenso ewig ist ihr Wert. Denn auch ein anderes Merkmal echter Kunst tritt hier zutage. Sie bedarf keines zweiten, sie muß keinen Mittler haben, sie wirkt aus sich selbst heraus und ist in der Einsamkeit der trauteste Freund. Allein vermag sich der Adept aus leblosem Holzklotze oder aus Pappe ein Wesen, die Schachfigur zu formen, das gleich dem Besengeiste des Zauberlehrlings oder dem Golem der Ghettosage den Wünschen seines Schöpfers gehorcht und Wundertaten vollbringt. Und endlich vermag das Schach die ideale Forderung der antiken Klassik zu erfüllen: Schönes in e i n f a c h e r F o r m m i t geringen M i t t e l n zu s c h a f f e n . In diesem Sinne sind die „Immergrüne" oder die „Unsterbliche" eines A n d e r s s e n , die Prachtstücke eines Morphy, die wunderbar klaren Stellungsbilder eines L a s k e r und C a p a b l a n c a , eines T a r r a s c h und S c h l e c h t e r Kunstschöpfungen; sie erstehen im Nachgenießen immer wieder aufs neue und spenden dem Kenner die reine Freude am Schönen. In diesem Sinne auch sind die gedankenreichen Probleme eines L l o y d , die schlackenlosen Werke eines Cheney, die geistfunkelnden Studien der K l i n g u n d H o r w i t z , H e n r y R i n c k und der Brüder P l a t o f f , um nur diese wenigen zu nennen, herrliche Edelsteine ihrer Kunst. Und darum wird kein noch so eifervolles und feindseliges Banausentum mit dem geringschätzigen „Nur ein Spiel" den wahren Jünger des Schachs seiner Liebe entfremden können. Gewiß, der Kreis der Verständigen ist hier enger gezogen als anderswo. Mindert das den Wert dieser Kunst oder erhöht es ihn ? Auch das Verständnis einer Symphonie, eines großen Gemäldes ist nicht jedermann zugänglich. Eine spröde Kunst will umworben sein. Wer sie aber einmal durch Liebe bezwungen hat, dem öffnet sie ein wahrhaft himmliches Reich. Wo also ist die Rechtfertigung dafür, eine solche Geistigkeit feinster und erlesenster Art zum bloßen Spiel zu entwürdigen! Ist nicht hier auch eine Wissenschaft am Werke, die die Gesetze dieser Kunst geprüft, gebunden und verkündet hat seit Jahrhunderten? Widmet man dem Würfelspiele, dem Puppenkasten, dem Tarock ganze Kongresse, sind ihnen zuliebe Bibliotheken gelehrter Schriften mit zahllosen scharfsinnigen Abhandlungen entstanden wie über das Schach? Sicherlich ist es kein Zufall, daß große Dramatiker in die Werke geschichtlichen Hintergrundes die Schachkunst verwoben und gleichsam die Fäden entwickelt haben, die diese Kunst mit dem Leben verbinden. Nicht zufällig wird im „ G ö t z " am bischöflichen Hofe zu Bamberg eine Schachpartie vorgeführt und dort vom
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Schach, diesem „Probiersteine des Gehirns" gesprochen. Nicht ohne Absicht auch hat Lessing im Sultanspalaste Saladins1) beziehungsvoll den seltsamen Reiz des Schachkampfes geschildert; und selbst der realistische I b s e n läßt uns in seinem großzügigen Stildrama „Die Kronprätendenten" den Kampf um die Königswürde mit all seinen Listen und Hinterlisten durch den Spiegel des Schachs als ein ewiges Abbild des Lebens schauen. „Ihr habt zuletzt den König nicht gut geschützt", spricht dort der Bischof Nikolas zum Jarl Skule, und er trifft mit diesen tiefsinnig symbolischen Worten den Reichssiegelbewahrer, der das Vertrauen des Herrschers mißbraucht, ihn den Angriffen des Volkes preisgibt und damit Unheil über sein Land heraufbeschwört. Kraft und Widerstand, Macht und Schwäche, Liebe und Haß, plumpe Vorlautheit und adelige Zurückhaltung, krankhafte Habgier und selbstlose Opferbereitschaffc, monumentale Größe des Gedankens und schwankende Kleinmut des Handelns —• alle diese Lebens- und Charakterformen finden sich auf den Wegen und Abwegen des Schachs. Welch' ein königlicher Reichtum! Aber wie klar diese Kunst in ihren Ausstrahlungen allenthalben ein Sinnbild des Lebens bildet, so deutlich und grausam gibt sie auch ein Abbild des Verfalls. Hier offenbart sich wie kaum anderswo die Vergänglichkeit des Irdischen, und dieses „Stirb und Werde" ist der ewige Auf- und Niedergang des Ruhmes. Das macht: diese Kunst zehrt zu sehr an des Leibes Kräften und zuviel von des Geistes Mark. Es war ein tragisches Erlebnis für den alternden S t e i n i t z , als ihm, dem nahezu Sechzigjährigen, der 26jährige Feuergeist L a s k e r den Lorbeer von der Stirne riß. Ihm, der sich für unverwundbar gehalten hatte, und der in Wahrheit ein Vierteljahrhundert unbesiegt blieb! Doch eine geheimnisvolle Gerechtigkeit, die ihre Wurzel in den ewigen Gesetzen des Daseins findet, hat dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Auch des gewaltigen Lasker Stunde mußte kommen, und sie kam. Unerbittlich ereilte auch ihn das Geschick. Unumschränkt hatte er 27 Jahre in seinem Reiche geherrscht, und nun mußte auch er seines Thrones Rechte an einen anderen abtreten, an einen Jüngeren. Und auch C a p a b l a n c a s Uhr wird dereinst ablaufen müssen, es treibt sie das rollende Rad der Zeit. Denn hier steht nicht bloß der Mensch dem Menschen gegenüber, sondern System rebelliert gegen System! Das „Gestern" ringt auf Tod und Leben erbittert mit dem „Heute"! Und hier s t r e i t e t l e t z t e n E n d e s n i c h t m e h r der Geist wider den Geist, hier s i e g t über das A l t e r die J u g e n d ! — So betrachtet, erweitert sich der Gesichtskreis des Schachs zu ') „Nathan der Weise".
Schachknnot und Kulturproblem.
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einem großen Gefilde menschlichen Geistes, und eine ungeheure Kluft spannt sich von einer alltäglichen Schachpartie, gespielt am häuslichen Herde, bis zum Kampf um die Meisterschaft, ausgefochten im Angesichte der Welt. Daß das Schach im Laufe der Zeiten unendlich viel Wandlungen durchmachen mußte, soll nicht bestritten werden; das hat zwar seine Kunstformen verändert und verfeinert, seinen Ideengehalt vertieft, seinen Wert erhöht, aber seines Wesens Kern niemals getroffen. Die hohen Eigenschaften, die seine Wesenheit bilden, haben darum das Schach zum Kulturträger emporgehoben, und zum Bindeglied aller Nationen gemacht, die in zivilisierter Welt sich finden. Man spricht heute von einer P o e s i e des Schachs — am schönsten offenbart sie sich im Problem — man bewundert die Ä s t h e t i k seiner zauberhaft wirkenden Schöpfungen, J u n k hat ein ganzes Lehrgebäude seiner Weisheit aufgestellt und es mit vollem Rechte die „Philosophie des Schachs" genannt, und B e n j a m i n F r a n k l i n hat dieses Spieles Wirkung auf die Charkterbildung treffend in ethischen Leitsätzen beleuchtet und folgerichtig daraus eine Moral des Schachspiels verkündet. Daß die planmäßige Durchforschung seiner Geheimnisse, die systematische Ableitung seiner Grundgesetze schließlich zum Gebäude seiner imponierenden Wissenschaft werden mußte, ist weiter nicht zu verwundern. Zu verwundern ist nur, daß man trotz des ehrwürdigen Alters in der wahren Erkenntnis seines Wesens nicht weitergekommen ist als vor tausend Jahren! Noch immer wissen wir nicht: Was eigentlich i s t das Schach? Die seltsame Eigenart dieser „Raumwissenschaft" — so nannte sie einst D u f r e s n e — die an innerer Geschlossenheit ihres Baues, an unerbittlicher Strenge der Logik ihresgleichen nicht findet, ist in ihrem Gefüge bis heute noch nicht bloßgelegt worden. Vielleicht liegt gerade darin der ewige Reiz ihrer Schönheit. Eine unbestimmte Ähnlichkeit mit den Regeln der Mathematik, ein gewisser Abglanz mancher physikalischen Erscheinung — das System des Rösselsprungs gleicht dargestellt von ferne den Bildern der Kristallographie — hat oft dazu verleitet, sie dieser oder jener Disziplin zu vergleichen. Und doch, bei eingehender Betrachtung ist es damit wieder nichts. Das Problem dieser Kunst, so ähnlich der Natur, zerrinnt einem beim Anfassen gleichsam wie Quecksilber unter den Händen, es entwindet sich immer wieder dem Griffe des Fürwitzigen, der seine Schleier zu lüften sucht. „Geheimnisvoll am lichten Tag!" — hat Goethe das genannt. Eine klare Lösung des großen Rätsels, das die gesamte Schachkunst umschließt, ist noch keinem Menschen gelungen. — Doch so dunkel auch seine Entstehung und seine Wesenheit ist, die Entwicklung und Verbreitung des Schachs können seine kulturelle Bedeutung am besten erweisen. Ob seine Anfänge bis in mythische
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Zeiten, hinabreichen oder ob es im sechsten Jahrhundert wirklich in Indien erfunden wurde, ist ziemlich belanglos. Die Brettspiele der Ägypter und Chinesen weisen sicherlich alle eine gewisse Ähnlichkeit mit denen der Araber, Perser und Indier auf, und es ist hier nicht der Ort, zu entscheiden, welchem Reiche der Vorrang gebührt. In seiner gegenwärtigen Form steht es jedenfalls dem indischen Brettspiele am nächsten. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts wurde die Grundlage der neueren Spielweise ausgebaut, und seit dem 16. und 17. Jahrhundert ist in Spanien, England, Frankreich, Deutschland und Österreich die gesellschaftliche Pflege des Schachs langsam zur Geltung gekommen. Insbesondere von Wien wissen wir es sicher. Das von Selenus uns überlieferte „ S c h a c h - C a r t e l am k a i s e r l i c h e n H o f e zu W i e n " vom Jahre 1577 ist ein Zeugnis dafür, daß sich damals bereits hier die Anfänge zu einer geselligen Pflege des Schachs gebildet haben. Doch erst seit dem ersten großen Meisterkampfe, dem berühmten Turniere in London 1851, in dem der Deutsche Anderssen die Palme errang, setzte eine mächtige Bewegung ein, die durch einen von Jahr zu Jahr zunehmenden Aufstieg zu einer nie geahnten Blüte der Schachkultur in aller Herren Länder und zur höchsten in Deutschland führte. Seitdem ist die Zahl der großen und kleinen Turniere Legion geworden, und kaum ein Jahr vergeht, ohne daß aus diesen geistigen Ringkämpfen nicht der Ruhm neuer Meister verkündet wird. Die Zusammenfassung der zahllosen Schachvereinigungen in allen Städten Deutschlands zu einem organischen Ganzen, dem D e u t s c h e n S c h a c h b u n d e , hat der gesamten Schachbewegung erst ein sicheres Ziel und eine feste Grundlage gegeben. Der Deutsche Schachbund ist auch das Vorbild für die Gründung ähnlicher Verbände geworden, und nach seinem Muster ist vor drei Jahren der ö s t e r r e i c h i s c h e S c h a c h v e r b a n d entstanden. Der Ausbruch des Weltkrieges mußte naturgemäß die Pflege unserer Kunst in den Städten stark in den Hintergrund drängen, ja er wirkte sogar lähmend auf den ganzen planmäßigen Schachbetrieb. Im übrigen aber hat der Krieg im Felde draußen die Verbreitung des Schachs in allen Volksschichten in ungeahnter Weise gefördert. Nicht, wie man meinen könnte, die entfernte und etwas gekünstelte Ähnlichkeit des Schachs mit der Krieg- und Schlachtenführung hat diesen ungeheueren Aufschwung verursacht, sondern eher die alles gleichmachende Wirkung des Krieges. Wie die Not der Zeit den Völkern im Felde gemeinsame Leiden schuf, so gab sie ihnen auch die gleichen Freuden. Und eine solche beglückende Göttin der Freude ist damals die Schachkunst geworden. Die Frontkämpfer und Etappensoldaten aus jener Zeit wissen noch heute ein Loblied davon zu singen, wie diese ihre Liebe heimlich entstanden,
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und wie der Trost des Schachspiels in einsamen Stunden sie ihren ganzen Jammer vergessen ließ. Wer es einmal gesehen hat, wie derrauhe Pionier in der russischen Steppe in der Qual seiner grenzenlosen Verlassenheit sich auf selbstverfertigtem Brette eine eigene Welt erbaute, wie er entzückt und traumverloren auf die Wunder seines Schutzgeistes starrte, wer es miterleben konnte, mit welch' rastlosem Eifer sich die Schützen selbst aus rohem, ungefügen Stoffe die Steine formten, die ihrer Gottheit dienten, der mußte in tiefer Ergriffenheit den Wert dieser edlen Kunst erkennen und ihre kulturelle Sendung segnen. Ich habe Kameraden im Felde gekannt, die mir das Geständnis gemacht haben, daß in den Tagen der furchtbaren Frontstürme und in den Zeiten der endlos gähnenden Öde, die Kenntnis des Schachs sie vor Wahnsinn, Verzweiflung und Selbstmord gerettet habe! Wahrlich, eine Kunst, deren Betätigung solch eine gemüterhebende, seelenstärkende Macht bekundet, muß zu den höchsten Gütern gerechnet werden, die Menschengeist zu vergeben hat! Ein mächtiger und wertvoller Briefwechsel mit reichem Austausch der Gedanken hat damals über weite Kampfgebiete hin die Schachliebhaber verbunden: Von Lemberg nach Belgrad, von der wolhynischen Front bis in die entferntesten Karstgebiete, von den französischen Festungswällen bis in die türkischen Schützengräben wurden mit Feldpost Wettkämpfe geliefert, die ein Zeugnis ablegen konnten von der unverwüstlichen Lebenskraft des Schachs. Und überdies hat der leidige Zwang, sich improvisiertes Material zu beschaffen, viele reizvolle Gegenstände der Schnitzkunst geschaffen. Der Verbreitung des Schachs in weiteren Volksschichten stand seit jeher ein Umstand im Wege, der offenbar wie ein circulus vitiosus im Wesen diese schwierigsten aller Kunstspiele begründet lag: Einerseits war die Zahl der Mäzene im Schach immer dünn gesäet, weil unter den mit Glücksgütern Gesegneten sich nicht allzuviel Verständnis fand; andererseits war aber die Anbahnung des Verständnisses erschwert, wenn nicht alle jungen Talente, auch die ärmsten, in möglichst großherziger Weise gefördert wurden. Und während auf anderen Sportgebieten, für Pferderennen und Rasenspiele, jährlich viele Tausende geopfert wurden, mußte manche Blüte edler Geisteskultur einsam verdorren. Man kann hier die wahrhaft großen Mäzene an den Fingern einer Hand aufzählen und ist bald damit fertig: In Frankreich war es N a r d u s , der die großen Turniere und die Wettkämpfe zwischen J a n o w s k i und L a s k e r ermöglicht hat, in Amerika widmete Rice für die Aufsuchung neuer Eröffnungswege große Summen. Hervorragende Verdienste um die Förderung des Schachs haben Collijn in Stockholm, die Bankdynastie R o t h s c h i l d , vor allem in England und Deutschland, doch nicht zuletzt
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Heinrich Viktor Klein, Sehachkunst und Kulturproblem.
in Österreich, wo der hochsinnige A l b e r t R o t h s c h i l d , selbst ein Schachkünstler ersten Ranges, unendlich viel für die Verbreitung des Schachgedankens getan hat. Nennen wir in Wien noch L. Treb i t s c h , bekannt durch seine Turnierstiftungen und zuletzt, doch nicht als letzten R i c h a r d K o l a , dem der letzte Wiener Schachkongreß zu danken ist, so ist der Kreis der großen Schachgönner geschlossen. Und gerade jetzt, in unserer verelendeten, entgötterten Zeit, in der die Materie über alles herrscht, ist es gewiß eine mutvolle Tat, der Pflege des Geistes mit Hilfe des Schachs wieder den Boden zu schaffen, und solches ist kein geringes Verdienst um die Kultur. Denn ein Irrtum wäre es, zu glauben, es gelte bei solchem Wettkampfe bloß, ein Ritterspiel zu geben, der uralten Sitte gemäß, für die große Menge ein Spiel ihrer Schaulust. Gewiß, ein Turnier ist immer nur ein Kampfspiel, ein Erproben der Kräfte, und so wäre ein Schachturnier, meint man, nichts anderes als ein Tummelplatz der Gehirnathletik, wo die höchste Spannkraft der geistigen Muskulatur die größte Bewunderung findet. Aber in unserer verarmten Zeit, in den Tagen der tiefsten Erniedrigung, da wir das Zerstörte wieder aufbauen sollen, da geht es doch um Größeres. Da gilt es zu zeigen, daß dem Schach viel höhere Kräfte innewohnen als einem tändelnden Spiele und Sport. Die Menschheit beginnt langsam sich wieder auf sich selbst zu besinnen. Sie muß ja so viele verlorene Kulturgüter wieder erringen und bewahren. Sie muß aus dem Schutt und den Trümmern einer entseelten Epoche das Gute, das Lebenskräftige suchen, sie muß eine Brücke schlagen über die Kluft von Haß und Entfremdung zwischen den Nationen, um wieder in Ehren vor sich selbst zu bestehen. Und kaum etwas anderes im geistigen Leben gibt es, was dazu so geeignet wäre wie das Schach. Die Liebe zum Schönen und Edlen, die Freude am Geistigen ist auch der jungen Generation nicht ganz abhanden gekommen; das sehen wir an dem mächtigen Aufschwung, den die Pflege des Schachs in den Nachkriegsjahren genommen hat. Das Schach ist ja ein guter, ein verläßlicher Mittler. Es hat eine versöhnende, einigende, völkerverbindende Kraft. Es beruhigt Gemüter, es besänftigt den Groll. Es vermag Bedenken hinwegzuräumen und die Wege des Verstehens zu ebnen. Es führt den Menschen zum Menschen. Das Schach ist ein lindernder Balsam für Wunden der Seele, es ist ein Rausch, ein Traum, ein Vergessen. Es trägt uns hinweg über Raum und Zeit und entführt uns in den klaren Äther des Gedankens. Und alle diese Wunder kann es nur wirken, weil seine Schönheit auch zum Herzen spricht und sein niemals welkender unergründlicher Zauber aus den ewigen Quellen des Lebens stammt.
Das Schach als Kunst Eine
Studie von
Dr. Friedrich. Palitzsch Dresden
Kloine Schachbllcberei. Kr. 1.
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Es kann kein Zweifel darüber herrschen, daß das Schach als ein Spiel erfunden wurde. Als Spiel wurde es denn auch gehandhabt von Beginn an bis in unsere Tage. Das ganze mittelalterliche Schach ist nichts weiter als ein Spiel unter anderen Spielen, im orientalischen Mittelalter wohl als die Krone aller Spiele sogar dichterisch gepriesen, im europäischen Mittelalter dafür zum Geld- und Hazardspiel entwürdigt und oft kirchlich verboten. Auch in der Neuzeit blieb das Schach, wenn auch von den mittelalterlichen Schlacken befreit und in neuer Eeinheit wiedergeboren, in der allgemeinen Auffassung durchaus nur ein Spiel. Beanspruchten auch die hervorragendsten Schachspieler mitunter für sich die Bezeichnung „Künstler", so würde sie ihnen doch höchstens im Sinne von „Artist" zuteil. Der großen Masse der Schachspieler vollends lag jedes andere Ziel fern außer dem einen, durch das Spiel eine angenehme Unterhaltung und fesselnde Ablenkung zu erfahren. Der Durchschnitts-Schachspieler von früher wie von heute läßt sich durchaus von den Verwicklungen des Spieles tragen, schöne Kombinationen wie häßliche Fehler als mehr oder weniger zufällig hinnehmend, zu bequem und unfähig, durch Einsatz der ganzen Persönlichkeit das Spiel schöpferisch zu meistern. Für alle diese Spieler ist das Schach bis auf den heutigen Tag, hinsichtlich -der Art wenigstens, wie sie es ausüben, ein Spiel im ursprünglichen Sinne geblieben. Im Gegensatz hierzu ist in den letzten Jahrzehnten mit dem allgemeinen Aufschwung des Sports auch in das Schach eine sportliche Auffassung und Bewertung eingedrungen. In Parallele zu dem eigentlichen Sport, dem Körpersport, hat man das Schach als Geistessport bezeichnet. Diese Auffassung führte zu einer Betonung des Kampfcharakters im Schach. Die Schachturniere, als die ausgesprochenste Form des schachlichen Kampfes, sind demnach von vereinzelten Anfängen an immer mehr in Aufnahme gekommen, so daß heute beinahe ein Turnier das andere ablöst. Ganz wie bei den sportlichen Veranstaltungen hat dabei die Schachwelt ihre Favoriten und verfolgt den Verlauf und Ausgang des Kampfes mit gespanntester Aufmerksamkeit. Die natürliche Folge ist, daß mehr und mehr lediglich die nackten Kampfergebnisse gewertet werden, die Qualität der einzelnen Leistungen aber unberücksichtigt bleibt. Für eine 2*
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höhere Auffassung des Schachs ist dies zweifellos bedauernswert, für eine volkstümliche Ausbreitung dagegen hat die Bewertung des Schachs als Sport einen Nutzen und ist deshalb als Hilfsmittel zur Propaganda nicht von der Hand zu weisen. Eine höhere Auffassung des Schachspiels, die das Schach nicht als Spiel oder Sport, sondern als Kunst bewertet wissen will, hat sich nur schüchtern Bahn gebrochen. Die Berechtigung einer solchen Auffassung ist selbst in den Kreisen der Schachspieler bis zum heutigen Tage lebhaft bestritten worden. Diese Auffassung des Schachs als Kunst hat vor allem vom Schachproblem ihren Ursprung genommen. Mit dem ungeahnten Aufschwung des Problemschachs in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts entstand ein ganz neues, selbständiges Gebiet schachlicher Betätigung, das der Anwendung künstlerischer Grundsätze in weitem Maße fähig war. So entstand für das Problemwesen der Name Kunstschach, es wurden Kunstgesetze für das Komponieren von Schachproblemen aufgestellt, usw. In neuerer Zeit haben dann auch die Meister des Partieschachs für die Ausübung ihrer Tätigkeit die Bezeichnung „Kunst" in Anspruch zu nehmen gewagt und namentlich die modernen Meister mit ihrer starken individualen Veranlagung fühlen sich mehr und mehr als schaffende Künstler. Die Untersuchung der Berechtigung einer solchen anspruchsvolleren Auffassung des Schachs als Kunst soll uns im folgenden näher beschäftigen.
Wollen wir untersuchen, ob das Schach als Kunst bezeichnet werden darf, so müssen wir uns zuvor drüber klar sein, was wir unter Kunst verstehen. Damit schneiden wir eine vielumstrittene Trage an, deren Erörterung allein Bände füllen könnte, der wir aber doch nicht ausweichen können, wenn wir nicht ins Leere reden wollen. Wir müssen also die Frage nach dem Wesen der Kunst zu beantworten suchen, so gut es uns im knappen Rahmen unserer Darlegung möglich ist. Bein sprachlich betrachtet kommt Kunst von Können, bedeutet also die Fähigkeit zur Ausübung und Beherrschung einer bestimmten Tätigkeit. In früheren Zeiten bezeichnete man in diesem Sinne jedwede Ausübung einer Tätigkeit, die über das Übliche hinausging, als Kunst, so z. B. das Schreiben, das Lesen usw., also auch Fertigkeiten, die man heute zu anderen Gebieten, z. B. zur Wissenschaft rechnen würde. Zur Zeit Karls des Großen z. B. unterschied man noch nicht in unserem Sinne zwischen Künsten und Wissenschaften, sondern kannte nur ganz allgemein Fertigkeiten, die an Achtung
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und Geltung über allen anderen standen; sieben solcher gelehrten Tätigkeiten zählt das aus Karls des Großen Zeit stammende Hexameter-Paar auf: Gram loquitur, Dia verba docet, Rhe verba ministrat, Mus canit, Ar numerat, Ge ponderat, As colit astra. (Gram = Grammatik, Dia = Dialektik, Ehe = Rhetorik, Mus = Musik, Ar = Arithmetik, Ge = Geometrie, As = Astronomie.) Wir finden also hier die Musik, die für uns lediglich Kunst ist, samt der allenfalls auch der Kunst beizurechnenden Rhetorik, im Gemisch mit den übrigen, rein wissenschaftlichen Disziplinen. Hätte Karl der Große das Schach gekannt — das Schachspiel am Hofe Karls des Großen ist nach wissenschaftlicher Forschung bekanntlich eine Fabel —, wer weiß, ob es nicht unter die gelehrten Disziplinen aufgenommen und als Kunst angesehen worden wäre ? Unter die sieben Fertigkeiten der Ritter, die später den sieben Künsten der Gelehrten gegenübergestellt wurden, wurde denn auch das Schach aufgenommen: Equitare, natare, sagittare, cestibus certare, ancupare, s c a c i s l u d e r e , versificari (Reiten, Schwimmen, Bogenschießen, Kämpfen, Vogelfang, S c h a c h s p i e l e n , Versemachen). Doch damit, daß das Schach eine Kunst in des Wortes ursprünglicher, mittelalterlicher Bedeutung ist, haben wir für unseren Zweck nicht viel gewonnen. Denn der Begriff „Kunst" hat seither eine starke Einengung erfahren und wird heutigen Tages nicht mehr in seiner ursprünglichen sprachlichen Bedeutung, sondern in beschränktem Sinne gebraucht, entsprechend der fortgeschrittenen Differenzierung der einzelnen Gebiete geistiger Tätigkeit. Nur ein ganz bestimmtes Gebiet geistiger Betätigung wird heute noch als Kunst bezeichnet und wir müssen uns fragen, ob für diese heutige Auffassung des Begriffes Kunst das Schach als solche gelten kann. Was ist Kunst, nach heutiger Auffassung? So sehr wir alle glauben, dies genau zu wissen, so wenig ist jemand imstande, ein Antwort darauf zu geben, die allgemeine Billigung fände. Die Beantworter der Frage haben im großen und ganzen zwei verschiedene Wege der Beantwortung eingeschlagen, indem sie entweder das besondere Wesen des Kunstschaffens oder die besondere Art des Kunstempfindens betonten und zum Kriterium nahmen. Auf dem ersten Wege gelangten sie dahin, den Künstler als mit besonderer Intuition sprunghaft aus sich selbst heraus schaffend neben den systematisch im Verband mit seinen Kollegen arbeitenden Gelehrten zu stellen und hierauf den Unterschied von Kunst und Wissenschaft zu begründen. Auf dem zweiten Wege stellten sie verschiedene Theorien der Ästhetik auf, vom „interesselosen Wohlgefallen" K a n t s bis
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zur „Einfühlung" der Modernen, um über die Klärung des Wesens der Ästhetik zur Erkenntnis des Wesens der Kunst zu gelangen. Den ersten Weg muß man entschieden als einen Irrweg bezeichnen, denn bei genauerer Analyse zeigt sich die Psychologie des Kunstschaffens prinzipiell durchaus nicht verschieden von der des Schaffens auf jedem anderen Gebiet. Es bedeutet eine starke Verkennung der Tatsachen, wollte man leugnen, daß gerade die größten Künstler fest in dem Boden theoretischer und praktischer Wissenschaften wurzeln und daß andererseits die Entdecker, Forscher und Gelehrten sich weitgehend von ihrer Intuition führen lassen. Nicht die Art des Schaffens unterscheidet den Künstler, sondern die Art des Geschaffenen. Die Eigenart der Kunst besteht darin, Werke hervorzubringen, die der nachempfindenden Menschheit als ästhetische Erlebnisse dienen können. Wir kommen also zu einer Definition der Kunst unter Stützung auf das Kunstempfinden und Berücksichtigung ihres Wertes für das menschliche Leben. Das Leben des Menschen, wie bereits das Leben der kleinsten Lebenseinheit, der Zelle, setzt sich zusammen aus verschiedenartigen Funktionen. Jeder Lebensorganismus ist verwoben mit der großen Gesamtwelt und steht mit ihr in fortgesetztem Nehmen und Geben in dauernder Wechselbeziehung. Aufgenommen werden vom Lebewesen allerlei von der Umwelt ausgehende Reize als Wahrnehmungen und Empfindungen, werden in einer Zentralstelle, dem Gehirn, verarbeitet und kombiniert, um sodann in Lebensäußerungen umgesetzt und an die Umwelt wieder abgegeben zu werden. Diese drei Arten von Lebensfunktionen, die aufnehmende (rezeptorische) Funktion, die verknüpfende (kombinatorische) Funktion und die ausgebende (editorische) Funktion sind bereits beim elementarsten Organismus, der Zelle, vorhanden. Sie sind unbedingt lebenswichtig und bilden überhaupt das Leben. Jeder Mensch läßt diese Funktionen dauernd bei sich ablaufen und ist mit besonderen Organen für alle drei Funktionen ausgestattet. Der Kulturmensch begnügt sich jedoch nicht mit dem Ablauf der Lebensfunktionen, wie ihn Zufall und Gelegenheit in der Natur bieten, sondern steigert die Ablaufmöglichkeiten künstlich, indem er durch systematische Bearbeitung sich die Natur unterwirft und sie seinen Zwecken dienstbar macht. So hat er sich ein System von Arbeitsgebieten geschaffen, deren jedes durch eine geistig-wissenschaftliche Disziplin an der Spitze nebst verschiedenen Hilfsberufen im Gefolge ausgefüllt wird. Was die editorischen Betätigungsfunktionen anbelangt, so begnügt sich der Kulturmensch beispielsweise nicht mit der natürlichen Bewegungsmöglichkeit seines Körpers, sondern schafft sich mit Hilfe der technischen Disziplinen Einrichtungen zu intensiver Fortbewegung. Ähnlich intensiviert er
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den Ablauf der kombinatorischen Funktionen durch Schaffung philosophisch-ethischer Systembildungen. Und was schließlich die rezeptorischen Funktionen betrifft, so begnügt er sich nicht mit der Aufnahme von Empfindungen, wie sie zufällig durch natürliche Reize der Umwelt ausgelöst werden, sondern bedient sich des Arbeitsgebietes der Kunst zur Schaffung von Werken, die ausdrücklich und lediglich dazu bestimmt sind, ästhetisches Erleben zu gestatten und somit einen reinen und intensiven Ablauf der rezeptorischen Funktionen zu gewährleisten. Um es nochmals zusammenfassend auszusprechen: Kunst, betrachtet vom Gesichtspunkte ihres Zweckes für das menschliche Leben, ist diejenige Disziplin, die bestimmt ist, die rezeptorischen Funktionen des Menschen zu befriedigen. Die Werke, die die Kunst hervorbringt, können ihrem Zwecke, der genießenden Menschheit intensiven Ablauf rezeptorischer Funktionen zu verschaffen, nur dann in vollem Maße dienen, wenn sie einen möglichst unvergänglichen Wert besitzen. Unvergänglich nicht nur hinsichtlich seines ästhetischen Gehaltes, sondern auch rein physisch unvergänglich und beständig muß ein Kunstwerk sein, damit es von Generation zu Generation überliefert werden und somit fortwährend neuen Menschen zugute kommen kann. Aus demselben Grunde einer großen Verbreitungs- und Ausnutzungsmöglichkeit muß es ferner möglichst veivielfältigungsfähig sein. Nehmen wir z. B. an, ein Komponist improvisiert und phantasiert am Klavier, so mögen die Auslassungen seiner schöpferischen Phantasie noch so herrlich sein, ein Kunstwerk im wahrsten Sinne des Wortes wird doch nicht entstehen. Der Genuß seiner Schöpfungen wird sich bestenfalls auf einige zufällige Zuhörer erstrecken, mit dem Verklingen des letzten Tones ist alles für immer dahin. Es fehlt die Wiederholbarkeit und Beständigkeit und damit auch die Vervielfältigungsmöglichkeit des Geschaffenen, um es zum echten Kunstwerk zu stempeln. Ähnliches gilt vom Auftreten einer Tänzerin, eines Vers-Improvisators usw., obwohl mit Hilfe der fortschreitenden Technik, z. B . des Films, auch hier auf manchen Gebieten neuerdings Dauerwirkungen erzielt werden können. Die großen Gebiete der alten, anerkannten Kunstgattungen jedenfalls, der Tonkunst, der bildenden Kunst und der Dichtkunst, verschaffen ihren Kunstwerken dauernde Wirksamkeit. Die Tonkunst legt ihre Schöpfungen in Noten fest, durch die sie mit Hilfe vermittelnder Künstler jederzeit allerorts lebendig gemacht werden können. Die bildende Kunst bringt ihre Werke an sich in einem Dauermaterial hervor; hier haben die vermittelnden Hilfsdisziplinen vor allem für gute Vervielfältigungsmöglichkeiten zu sorgen. Die Dichtkunst endlich bringt ihre Schöpfungen ähnlich der Tonkunst zu Papier; eine Lebendigmachung und Vervielfältigung durch Ver-
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mittelung des Rezitators oder des Schauspielers samt sonstigem Theaterapparat ist hier in beliebiger Weise möglich. Wir sehen also, wie zur Vollkunst die Dauerwirkung ihrer Schöpfungen unbedingt dazu gehört und welchen riesigen Apparat von vermittelnden Hilfskünsten es sich die Kulturmenschheit kosten läßt, um die als wertvoll erkannten Kunstwerke in ausgiebiger Weise zur Befriedigung ihrer rezeptorischen Funktionen zu verwenden. Genügt nun das Schach den Bedingungen, die wir eben als Voraussetzung für eine Vollkunst entwickelten, oder ist es vielleicht nur als eine untergeordnete, nicht vollwertige Kunst zu betrachten, oder ist ea gar überhaupt aus dem Reiche der Kunst hinauszuweisen % Zur Klärung dieser Frage muß unsere Untersuchung vor allem den Kernpunkt der Sache beleuchten: Ist das Schach imstande und geeignet, dem Ablauf rezeptorischer Funktionen des Menschen zu dienen? Wir legen also, entsprechend unserer Definition der Kunst weniger Gewicht auf die geistigen Vorgänge, die bei der a k t i v e n Ausübung des Schachspiels ablaufen — sie werden in der ersten Abhandlung dieses Büchleins als dem künstlerischen Schaffen ebenbürtig nachgewiesen —, als vielmehr auf diejenigen Geistesprozesse, die beim p a s s i v e n Genießen schachlicher Schöpfungen in Erscheinung treten. Als schachliche Schöpfungen gibt es Schachpartien und Schachprobleme; natürlich dürfen wir für unsere Betrachtung nur Meisterwerke beider Sorten annehmen. Jede derartige Schachpartie und jedes derartige Schachproblem ist eine in sich abgeschlossene, in zweckmäßigster Weise zusammengesetzte Kette von Schachhandlungen. In ihrer Wirkung auf den Genießenden sind diese Schachschöpfungen am ehesten vergleichbar den Werken der Dichtkunst, denn in beiden Fällen handelt es sich — zum Unterschied von den Wirkungen der Tonkunst und bildenden Kunst auf die äußeren Sinne — um Wirkungen auf den inneren Sinn des Menschen. Die im Schachbrett und den Schachsteinen verkörperten Symbole von Raum, Zeit und Kraft führen in einer Schachschöpfung dem Genießenden eine Kette von Bewegungen vor, ähnlich der Handlung eines Dramas, gefügt zum alleinigen Zweck der Erzeugung eines Höchstmaßes von Aufnahmelust. Im Menschen sammeln sich ständig Spannungen verschiedener Art, die durch Ablauf entsprechender Funktionen gelöst werden. Wie die in Betätigungsdrang bestehende Spannung sich unter Erzeugung von Betätigungslust zu ausgeführten Taten löst, so gleicht sich andererseits die in Aufnahmedrang bestehende Spannung unter Erzeugung von Aufnahmelust durch den Ablauf rezeptorischer Funktionen aus. Dieser Funktionsablauf, der spannungslösend wirkt wie die Entladung eines reinigenden
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Gewitters, ist gleichbedeutend mit der vielumstrittenen Katarrhsis des Aristoteles, ja sogar deren wörtliche Ubersetzung (kata = hinab, regnymi = fließen; also Katarrhsis = Hinabfluß, Ablauf). Einen derartigen Funktionsablauf, eine derartige Katarrhsis beim Beschauer unter Entstehung von Aufnahmelust zu gewährleisten, sind nun das ideale Schachproblem und die ideale Schachpartie zweifellos imstande. Ohne Frage ist zunächst einmal das Schachproblem eine Schöpfung, die der schaffende Künstler gestaltet wie ein jedes andere Kunstwerk lediglich zur Erzeugung eines Höchstmaßes von Aufnahmelust. Jeder Teil der Schöpfung wird diesem Ziel des Ganzen dienstbar gemacht, was dadurch möglich ist, daß der Problemschöpfer volle freie Verfügung über sein Material hat. Wenn auch diese Voraussetzungen bei der Schachpartie fehlen, so kommt doch bei einer idealen Schachpartie ihr merkwürdiger, in der Verschränkung zweier widerstreitender Schöpfer willen bestehender Werdeprozeß dem eines Kunstwerkes immerhin nahe, so daß einheitliche, in keiner Weise abschweifende Gedankenführung auch in diesem Falle dem Beschauer ungetrübte Aufnahmelust entwickelt und reibungslosen Ablauf rezeptorischer Funktionen gewährleistet. Damit haben wir die Eignung des Schachs, dem Ablauf rezeptorischer Funktionen des Menschen in ihm eigentümlicher Weise zu dienen, nachgewiesen und insofern seine Eigenschaft als Kunst klargelegt. Einem Einwand müssen wir an dieser Stelle noch begegnen. „Zugestanden", könnte man einwerfen, „daß das Schach dem Ablauf rezeptorischer Funktionen dient, werden aber nicht beim Genüsse einer Schachschöpfung darüber hinaus auch noch andere Funktionen, kombinatorischer und editorischer Art, in Anspruch genommen?" Das ist gewiß nicht unrichtig. Wenn wir eine Schachschöpfung genießend aufnehmen, so bleiben wir häufig nicht beim Aufnehmen stehen, sondern fangen an, selbst nachzudenken oder weiterhin gar selbst schachlich zu produzieren. Doch mit dieser Tatsache wird an der Kunstnatur des Schachs nichts geändert. Wir müssen bedenken, daß auch bei den anderen Künsten die Dinge genau so liegen. Letzten Endes kann niemand verhindert werden, vom Genuß eines Musikstücks, eines Gemäldes oder eines Dramas ins Denken und weiterhin ins Handeln zu geraten. Es kommt nur darauf an, daß das Schwergewicht auf den Fühlen liegt, daß der Künstler seine Schöpfung im allgemeinen überwiegend auf diesen Punkt eingestellt hat. Auch der Schachkünstler hat seiner Kunst Genüge getan, wenn er seine Schöpfung ästhetisch, auf die menschliche Aufnahmefunktion, eingestellt hat, und kann nicht für unästhetische Auslegung seitens unkünstlerischer Naturen verantwortlich gemacht werden. Dagegen ergibt sich als selbstverständlich, daß alle schachlichen Arbeiten, die
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eich direkt an das Schachdenken und Schachhandeln wenden, wie Analysen aus Eröffnung, Mittelspiel und Endspiel, Problemabhandlungen usw., mit Kunstschöpfungen nichts mehr zu tun haben. Sie fallen unter den Begriff der theoretischen Hilfswissenschaft, wie sie eine jede Kunst kennt. Da diese theoretische Hilfswissenschaft beim Schach sehr umfangreich ist, hat man oft das Schach direkt als Wissenschaft auffassen zu müssen geglaubt —• ein zwar begreiflicher, aber ebenso handgreiflicher Irrtum, wie aus unseren bisherigen Ausführungen ohne weiteres ersichtlich ist. Nachdem wir im bisherigen Verlauf unserer Erörterungen nachzuweisen vermochten, daß das Schach in seinen idealen Partie- und Problemschöpfungen in vollkommener Weise dem Ablauf rezeptorischer Funktionen des Menschen dient, also insofern eine vollwertige Kunst ist, bleibt uns noch übrig, nach der Dauerwirkung der Schachschöpfungen, d. h. nach ihrer Überlieferungsfähigkeit und Verbreitungsmöglichkeit, zu fragen, denn diese Eigenschaft gehört, wie wir sahen, unbedingt zu den Merkmalen einer Vollkunst. Auch in dieser Frage hält das Schach ohne weiteres stand. Sowohl in der Diagrammaufzeichnung, als vor allem auch in der Typennotation besitzt das Schach genügend Hilfsmittel zur dauernden Festlegung und zur Verbreitung seiner Schöpfungen. Die Zweckmäßigkeit dieser Hilfsmittel ist auch eine Hauptursache, daß die vorhin erwähnte theoretische Hilfswissenschaft des Schachs sich in so außerordentlicher Weise entfalten und verbreiten konnte. Erfolgte doch teilweise ein Ausbau von Theorien bis zur Bildung von Schulrichtungen und Stilarten, ganz entsprechend den Verhältnissen bei den anderen Künsten. Die Berechtigung des Schachs, als vollwertige Kunst aufzutreten, ist demnach in jeder Hinsicht erwiesen. Sowohl die Qualität seiner Kunstschöpfungen als Vermittler rezeptorischen Funktionsablaufs als auch die Dauerwirkung dieser Schöpfungen sind einwandfrei und den anderen Künsten ebenbürtig. Es interessiert nun noch, die Stellung und Beziehung der Schachkunst zu den anderen Künsten zu untersuchen. Wir knüpfen hier am besten an das an, was wir im Verlaufe unserer Erörterung über die gemeinsamen Merkmale von Schachkunst und Dichtkunst gegenüber Tonkunst und Bildkunst bereits entwickelt haben. Schachkunst und Dichtkunst wenden sich an den inneren Sinn des Menschen, während Tonkunst und Bildkunst durch die äußeren Sinne des Ohres und des Auges zur Aufnahme gelangen. Diese unmittelbar sinnliche Wirkung der Tonkunst und Bildkunst erklärt sich daraus, daß beide Künste — einerseits in den Tönen, andererseits in den Farben und Formen —• Darstellungsmittel besitzen, die ohne weiteres verständlich sind, weil sie so, wie sie sind,
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in ihrer ursprünglichen Form, gemeint und zu verstehen sind. Demgegenüber sind die Darstellungsmittel der Schachkunst und der Dichtkunst von symbolischer Bedeutung und müssen gewissermaßen erst im Inneren des Menschen übersetzt werden. Wie sich die Dichtkunst der Laute der Sprache bedient, so die Schachkunst der Schachsteine und des Schachbretts, und wie im einen Falle die Sprachlaute Begriffe und Gegenstände versinnbildlichen, so sind im anderen Falle Schachbrett und Schachsteine Symbole von Kraft, Raum und Zeit. Abgesehen von dem Unterschiede, ob die Darstellungsmittel einer Kunst ursprüngliche oder übertragene Bedeutung haben, besteht noch ein weiterer Unterschied darin, daß diese Darstellungsmittel nun in ursprünglicher oder übertragener Bedeutung angewandt werden können. So haben in der Tonkunst die Töne ursprüngliche Bedeutung und auch die Anwendung, ihre Zusammensetzung zu Tonschöpfungen geschieht — in der reinen Musik wenigstens — in ursprünglicher Bedeutung. Anders in der bildenden Kunst. Hier haben zwar Form und Farbe lediglich die ursprüngliche Bedeutung von Form und Farbe, in ihrer Anwendung und Zusammensetzung zu Bildwerken jedoch bekommen Form und Farbe die Bedeutung von körperlichen, wirklichen Gegenständen, versinnbildlichen also etwas, was sie an sich nicht sind, werden mithin symbolisch angewandt. Die nächste Stufe auf dieser Stufenleiter bildet die Schachkunst. Ihre Darstellungsmittel, Schachbrett und Schachs keine, bedeuten nicht die Holzstücke, die sie sind, sondern haben die symbolische Bedeutung von Kräften usw. Die Anwendung dieser Kräfte, ihre Bewegungen im Rahmen einer Schachschöpfung, sind und bleiben jedoch Bewegungen, die keine neuen Symbole schaffen, sondern in ihrer ursprünglichen Bedeutung angewendet werden. In der Dichtkunst endlich treten nicht nur die Bausteine — die Lautgebilde der Sprache — in sinnbildlicher Weise für Begriffe und Gegenstände ein, sondern auch deren Zusammensetzung zu Dichtwerken ergibt an Stelle einer bloßen Aneinanderreihung und Summierung einen neuen Sinn, bedeutet das Lebendigwerden von Geschehnissen, erfolgt also in symbolischer, übertragener Bedeutung. Wir haben damit, kurz wiederholt, folgende Stufenleiter gewonnen: Tonkunst (Darstellungsmittel in ursprünglicher Bedeutung; deren Anwendung ebenso), Bildkunst (Darstellungsmittel in ursprünglicher Bedeutung; deren Anwendung in übertragener Bedeutung), Schachkunst (Darstellungsmittel in übertragener Bedeutung; deren Anwendung in ursprünglicher Bedeutung), Dichtkunst (Darstellungsmittel in übertragener Bedeutung; deren Anwendung ebenso). Man sieht, wie in diesem System der Künste die Schachkunst direkt eine Lücke avisfüllt, was a b eine Bestärkung unserer Darlegungen betrachtet werden mag. Ferner
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ersieht man daraus, daß die Tonkunst die voraussetzungsloseste Kunst ist, die ohne weiteres zu jedem beliebigen Ohr sprechen kann, während andererseits die Dichtkunst das Bewandertsein mit ihren symbolischen Darstellungsmitteln und deren symbolischer Anwendungsart — der Sprache und deren Gebrauch — voraussetzt. Dadurch, daß jeder Mensch seine Muttersprache ohne weiteres kennt, wird allerdings in Praxis die Schwierigkeit für die Verbreitung der Dichtkunst verringert. Damit hat die Dichtkunst einen Vorsprung vor der Schachkunst, deren Darstellungsmittel nicht ohne weiteres jedem Menschen mitgegeben werden. Ist in diesem Punkte die Gemeinde der Schachkunst ohne weiteres kleiner, so ist sie dafür nicht an die Grenze einer Sprache gebunden und holt durch ihre internationale Geltung und Verständlichkeit den Vorsprung der Dichtkunst teilweise wieder ein. Wir sehen also, wie die Aussichten und Wirkungsgebiete der einzelnen Künste sich einigermaßen ausgleichen und wie die Schachkunst innerhalb der anderen Künste ihren wohlangemessenen Platz einnimmt. •
Das Schach ist eine Kunst! Möchte sich diese Überzeugung mehr und mehr bei allen Schachfreunden durchsetzen, damit auch darüber hinaus in anderen Kreisen diese Tatsache Raum gewinnen und das Ansehen des Schachs stärken kann. Nicht als ob nun jeder Schachspieler ein Künstler sei oder zu sein trachten müsse. Beileibe nicht! Wie in allen Kunstgebieten die Mehrzahl der Ausübenden Dilettanten und selbst die Meister nicht alle begnadet und berufen sind, so auch in der Schachkunst. Darum braucht der Schachliebhaber nicht weniger Freude an seiner Kunst zu haben, als der eigentliche Künstler. Er ist auch keineswegs weniger wertvoll für die Schachkunst, sondern erfüllt seinen Zweck, wenn er die Schachgemeinde verstärken hilft. Denn nur auf dem Boden einer zahlreichen Interessentenschaft vermag das Genie eines Künstlers sich voll zu entfalten. Aus diesem Grunde muß jede Stärkung der Schachgemeinde begrüßt werden, auch wenn es durch solche Schachfreunde geschieht, die das Schach als Sport oder als Spiel pflegen. Seine höchste Stufe freilich wird das Schach nur dort erreichen, wo man es als Kunst erkennt und als Kunst betreibt. Möchte diese kurze Abhandlung dazu den Weg ebnen helfen!
Handbuch
des Schachspiels. Von P. R. v o n B i l g u e r