Schleiermacher - Denker für die Zukunft des Christentums? 9783110240474, 9783110240467

This book explores the importance of Schleiermacher and his place in the history of the church, religion and Christianit

207 131 2MB

German Pages 140 [144] Year 2011

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Table of contents :
Inhalt
„Denker für die Zukunft des Christentums?“ – Vorrede
Bericht über das Symposion
Gottesverhältnis und Freiheitsgefühl. Schleiermachers Theologie zwischen Neuzeit und Moderne
Zur christentumsgeschichtlichen Einordnung Schleiermachers. Vordenker, Väter und Kirchenfürsten, oder: „Kann auch aus Nazareth etwas Gutes kommen“ (Evangelium nach Johannes, Kapitel 1, Vers 46)
Protestantisches Christentum in der nachkonfessionellen bürgerlichen Gesellschaft: Erwägungen zu Schleiermachers kirchengeschichtlichem Rang
Fortschritt und Zukunft in Schleiermachers Philosophie
Schleiermacher als politischer Denker
Neander und Schleiermacher
Anhang I
Anhang II
Anhang III
Siglen
Personenregister
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Schleiermacher - Denker für die Zukunft des Christentums?
 9783110240474, 9783110240467

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Schleiermacher − Denker für die Zukunft des Christentums?

Schleiermacher − Denker für die Zukunft des Christentums? Herausgegeben von Andreas Arndt und Kurt-Victor Selge

De Gruyter

Dieser Band wurde im Rahmen der gemeinsamen Forschungsförderung von Bund und Ländern im Akademienprogramm mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und der Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung des Landes Berlin erarbeitet. Gedruckt mit Unterstützung der Schleiermacherschen Stiftung.

ISBN 978-3-11-024046-7 e-ISBN 978-3-11-024047-4 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Schleiermacher : Denker für die Zukunft des Christentums? / [herausgegeben von] Andreas Arndt, Kurt-Victor Selge. p. cm. Includes bibliographical references and index. ISBN 978-3-11-024046-7 (pbk. 23 ⫻ 15,5 : alk. paper) 1. Schleiermacher, Friedrich, 1768−1834 − Congresses. I. Arndt, Andreas. II. Selge, Kurt-Victor. BX4827.S3S324 2011 2301.044092−dc22 2011005338

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Satz: Process Media Consult, GmbH Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Wilhelm Vosskamp „Denker fr die Zukunft des Christentums?“ – Vorrede . . . . . .

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Simon Gerber Bericht ber das Symposion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Hans-Peter Grosshans Gottesverhltnis und Freiheitsgefhl. Schleiermachers Theologie zwischen Neuzeit und Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kurt-Victor Selge Zur christentumsgeschichtlichen Einordnung Schleiermachers. Vordenker, Vter und Kirchenfrsten, oder: „Kann auch aus Nazareth etwas Gutes kommen“ (Evangelium nach Johannes, Kapitel 1, Vers 46) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Martin Ohst Protestantisches Christentum in der nachkonfessionellen brgerlichen Gesellschaft: Erwgungen zu Schleiermachers kirchengeschichtlichem Rang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Andreas Arndt Fortschritt und Zukunft in Schleiermachers Philosophie . . . . . .

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Arnulf von Scheliha Schleiermacher als politischer Denker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kurt-Victor Selge Neander und Schleiermacher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Anhang I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Anhang II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Anhang III . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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„Denker fr die Zukunft des Christentums?“ – Vorrede Wilhelm Vosskamp Der Titel dieses Symposions lsst aufhorchen. Nach der zentralen Wirkungsgeschichte Schleiermachers als Begrnder der modernen protestantischen Theologie, seiner intensiven Rezeption im „Kulturprotestantismus“ und nach der dezidierten Kritik Schleiermachers in der „Dialektischen Theologie“ lsst sich sptestens seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts eine Renaissance von Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher beobachten. Dazu haben nicht zum Geringsten die Bnde der „Kritischen Gesamtausgabe“ und ein internationaler Schleiermacher-Kongress 1984 in Berlin beigetragen, dessen Akten 1985 von Kurt-Victor Selge herausgegeben wurden. K.-V. Selge war seit der Grndung der Berliner Schleiermacher-Forschungsstelle 1979 Arbeitsstellen- und Projektleiter und seitdem – bis 2009 – auch Mitherausgeber der Schleiermacher-Gesamtausgabe. Auch nachdem der Berliner Anteil der „Kritischen Gesamtausgabe“ 1994 als Langzeitvorhaben in die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften berfhrt wurde, hat sich K.-V. Selge mit großem, wenn nçtig auch streitbarem Engagement fr Schleiermacher und die Schleiermacher-Edition eingesetzt. Deshalb gibt es mehr als einen Grund, zu Ehren seiner ,Verabschiedung‘ von der Leitung der Arbeitsstelle ber die Aktualitt von Schleiermacher als „Denker fr die Zukunft des Christentums?“ nachzudenken. Das Fragezeichen bleibt gerade angesichts dieses Kolloquiums zu bedenken. Kann Schleiermacher eine Art Leitfunktion im neuzeitlich-modernen Protestantismus bernehmen? Gegenwrtig lsst sich von einer (neuen) Aktualitt des Theologen, Philosophen, Schriftstellers und Mitbegrnders der Berliner Universitt sprechen. Das unterstreicht nicht zuletzt auch die große publizistische Resonanz, etwa auf dem von Ulrich Barth in Halle/ Saale organisierten internationalen Schleiermacher-Kongress ber Christentum und Judentum. Insgesamt mag das gegenwrtige Interesse mit Schleiermachers spannungsreichen und den vielfltigen fcherbergreifenden Anknpfungspunkten in seinen Arbeiten zu tun haben. Dabei stehen Fragen einer theologischen und philosophischen Bestimmung menschlicher Subjekti-

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Wilhelm Vosskamp

vitt zwischen Neuzeit und Moderne im Horizont von Aufklrung und Romantik im Zentrum. Nicht minder gewinnt der ,Kulturtheoretiker‘ Schleiermacher, der sich um eine Balance zwischen den Ansprchen des Individuums und der Notwendigkeit von menschlichen Gemeinschaften bemht, neue Aktualitt. Wie weit ist dies auch unter normativen Gesichtspunkten in Kulturbildungsprozessen fr die Politik konstitutiv? Die unterschiedlichen Zuschreibungen als liberal, konservativ oder demokratisch zeigen, wie schwer Schleiermacher politisch einzuordnen ist, gerade in jener Umbruchszeit, in der Schleiermacher wichtige amtliche Funktionen in der Universitt und Akademie bernimmt. Entschieden ist indes Schleiermacher einer der wichtigsten Vordenker der Theologie im Horizont idealistischer und nachidealistischer Philosophie. Welche Rolle spielt Schleiermachers ,anthropologisches Religionskonzept‘ angesichts seiner wissenschaftlichen Theologie? Kirchliches Leben und Theologie befinden sich in einem produktiven Wechselverhltnis zueinander. Die besondere Aufmerksamkeit, die die Reden „ber die Religion“ gegenwrtig genießen, kçnnte dafr ein Indiz sein. Das Symposion beschftigt sich unter verschiedenen Aspekten mit dem „Denker fr die Zukunft des Christentums“. Schleiermacher schrieb hierzu: „Das Christentum ist immer nur ein relativer Begriff. Wie muss man ihn also gegen die verschiedenen Parteien modifizieren? Was verteidigt werden soll, muss ganz aus sich selbst verteidigt werden, so auch die Religion, nicht als Mittel“.1 Beides sollte beherzigt werden: das Christentum bleibt ein „relativer Begriff“, worber ein Dialog zu fhren ist – und Religion sollte nicht als (politisches, ideologisches) Mittel eingesetzt, sondern aus sich selbst verteidigt werden. Die Vortrge dieses Nachmittags stellen aus unterschiedlichen Fchern und Perspektiven Fragen an den ,Reformator‘ (oder ,Kirchenvater‘ oder ,Kirchenfrsten‘?) Schleiermacher. Deshalb bin ich allen Referenten dankbar fr ihre Beitrge; vor allem Kurt-Viktor Selge, der zum Schluss die ,Gretchenfrage‘ stellt: „Was kann aus Nazareth Gutes kommen?“ Danken mçchte ich schließlich den Kolleginnen und Kollegen in der Schleiermacher-Arbeitsstelle unserer Akademie fr die Vorbereitung des Symposions und der Schleiermacherschen Stiftung und dem Verlag de Gruyter fr ihre Untersttzung.

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Friedrich Schleiermacher: Schriften, hg. v. A. Arndt, Frankfurt/M 1996, S. 43.

Bericht ber das Symposion Simon Gerber Die Berliner Schleiermacherforschungsstelle bearbeitet seit 1979 die Edition der Briefe Friedrich Schleiermachers (1768–1834); seit 1994 gehçrt die Forschungsstelle zur Berlin-Brandenburgeischen Akademie der Wissenschaften. Bis 2008 hat Kurt-Victor Selge diese Arbeit geleitet. Ihm zu Ehren anlsslich seines Abschiedes hat die Berliner Schleiermacherforschungsstelle ein Symposion veranstaltet: Welche Relevanz hat Schleiermachers Denken noch fr das 21. Jahrhundert? Taugt er als Wegweiser fr die Zukunft des Christentums? Das Symposion fand am Freitag, den 8. Mai 2009 im Akademiegebude der Berlin-Brandenburgeischen Akademie der Wissenschaften am Gendarmenmarkt in Berlin statt. ber 80 Personen hatten sich zusammengefunden, um den Vortrgen und Diskussionen zu folgen. Wilhelm Voßkamp (Kçln und Berlin, Projektleiter der Schleiermacher-Briefausgabe), der die Gesprchsleitung innehatte, wies in seiner Begrßung auf das seit den 1950er Jahren in vielen Disziplinen gestiegene Interesse an Schleiermacher hin, so in der Hermeneutik und der Pdagogik; auch die Berliner Humboldt-Universitt hat Schleiermacher anlsslich ihres bevorstehenden 200jhrigen Jubilums als den wichtigsten Vater ihres Konzeptes und Bildungsideals wiederentdeckt. Am meisten aber wird Schleiermacher in der Theologie und Religionsphilosophie rezipiert; sein Ansatz war es, die Religion aus sich selbst und nicht aus ihr fremden Maßstben und Zwecken zu erklren. Der Vortrag von Ulrich Barth (Halle) hatte den Titel „Fragen an Schleiermachers Religionstheorie“. Barth nannte drei bedeutende Errungenschaften des Schleiermacherschen Religionsverstndnisses: 1) Schleiermacher habe alles Religiçse auf die menschliche Subjektivitt bezogen und aus dieser heraus erklrt (bei Luther gebe es hingegen das Korrelieren zwischen dem gegenstndlich gedachten Gott und dem Wort einerseits, dem menschlichen Gewissen und Glauben andererseits); die Glaubenslehre beschreibe nach Schleiermacher also die Inhalte der menschlichen Frçmmigkeit, die als die Einheit von Gottesbewusstsein und Selbstbewusstsein gefasst werde. 2) Schleiermacher verorte seine Religionstheorie in einer allgemeinen Kulturtheorie; in dieser gehçrten Religion und Kunst

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Simon Gerber

zusammen als ußerung des Gefhls, der Individualitt und Subjektivitt. 3) Die Kirche als Gemeinschaft der Religion sei dann die dem religiçsen Bewusstsein zuzuordnende Kommunikationsgemeinschaft (dahin habe schon Artikel VII der Confessio Augustana gefhrt, demzufolge das wesentliche Kennzeichen der Kirche die Mitteilung des Evangeliums in Wort und Sakrament sei). Als solche gehçre die Kirche mit der Religion unmittelbar zusammen, denn es sei eben das Wesen jedweden religiçsen Gefhls, nicht bei sich zu bleiben, sondern eine Gemeinschaft zu bilden und sich mitzuteilen. Diesen drei theoretischen Hauptleistungen von Schleiermachers Religionstheorie stellte Barth nun drei kritische Anfragen zur Seite: 1) Das (religiçse) Gefhl als Bewusstsein der schlechthinnigen Abhngigkeit sei nicht so unmittelbar im Erleben gegeben, wie Schleiermacher meine, sondern enthalte immer auch schon Reflexion und Deutung des Erlebten, und insofern sei die Religion nicht nur eine Erlebnis-, sondern auch immer eine Deutungskultur. 2) Wenn in Schleiermachers Kulturtheorie Religion und Kunst als Symbolisieren (Erkennen und Bezeichnen) unter dem Vorwalten der Individualitt gefasst werde, so sei sein (anhand der Hallenser Schulphilosophie entwickelter) Symbolbegriff zu einfach. Nach Kant und Hegel sei ein Symbol ein sinnlicher, endlicher Ausdruck fr etwas Unsinnliches und Unendliches; ein Symbol stelle dar, was eigentlich nicht darstellbar sei. Der Symbolbegriff der modernen Metapherntheorie sei ihnen und nicht Schleiermacher gefolgt. 3) Die Einleitungsparagraphen in Schleiermachers Glaubenslehre (2. Aufl., 1830/31) htten keine Lehre von der Heiligen Schrift, sondern bestimmten das Wesen des Christentums zunchst ganz unabhngig von ihr (§ 11); die Schrift sei in der Glaubenslehre bloß Kriterium, um die Christlichkeit eines religiçsen Erlebnisses zu prfen (§ 27), und spter einer der Grundzge der Kirche (§ 128–132). Das Phnomen einer heiligen Schrift lasse sich aber nicht so an den Rand schieben. Fr Schriftreligionen wie das Christentum sei das Vorhandensein eben der Schrift als eines kollektiven symbolischen Gedchtnisses vielmehr konstitutiv; eine solche Religion habe darin ihr Leben, dass man sich an den vorgegebenen Symbolbestnden abarbeite. Die Schrift prfe nicht erst im Nachhinein den Inhalt der religiçsen Erfahrung, sondern prge und bestimme die Erfahrung immer schon. Andreas Arndt (FU Berlin, Leiter der Berliner Schleiermacherforschungsstelle) hielt einen Vortrag unter dem Titel „Die Zukunft der Schleiermacherschen Philosophie“; in ihm ging es um das Bild, das Schleiermacher von der Zukunft entwirft. Tatschlich spiele die Zukunft in Schleiermachers Philosophie eine große Rolle; und whrend bei Kant

Bericht ber das Symposion

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die Vorstellungen von der Zukunft ein bloß regulatives und heuristisches Prinzip seien, um in der Welt die Zwecke des sittlichen Handelns zu erkennen, halte Schleiermacher das von ihm entworfene Zukunftsszenario fr wirklich erreichbar. Schon in den romantisch-subjektiven Frhwerken, den Reden „ber die Religion“ (1799) und den „Monologen“ (1800), stelle Schleiermacher ein goldenes Zukunftsbild vor Augen: die Befreiung des Menschen von aller stumpfsinnigen, bloß mechanischen Arbeit durch den wissenschaftlich-technischen Fortschritt, das allgemeine Priestertum der Glubigen in der religiçsen Unmittelbarkeit, die keiner Belehrung von außen mehr bedarf, und in summa die Humanisierung der Welt, die Verwirklichung des Menschseins in einer Gemeinschaft freier, einander anerkennender Individuen; nicht zuletzt Kunst und Religion sollten dazu beitragen. Die Vorlesungen und Vortrge ber die philosophische Ethik zeigten als das hçchste Gut und letzte Ziel alles menschlichen Handelns die knftige organisierende und erkennende Durchdringung der Natur durch die menschliche Vernunft. In den Vorlesungen ber die Dialektik (die Meta-Wissenschaft vom Wissen) sei die Zukunft das Ende und Ziel des Wissensprozesses in der Welt- und Gottesidee. Da beide Wissenschaften nach Schleiermachers Verstndnis eher deskriptiv als normativ seien, mssten die ethischen Gesetze des menschlichen Handelns und das Fortschreiten hin zum Zukunftsideal in der Welt- und Wissensentwicklung wirklich aufweisbar sein (wie Schleiermacher die Geschichte denn auch das „Bilderbuch“ der Ethik und die Ethik das „Formelbuch“ der Geschichte genannt habe). Tatschlich beruhe Schleiermachers Zukunftsbild aber nicht auf empirischen Beobachtungen, sondern auf spekulativen Prmissen, nmlich 1) darauf, einen identischen Grund jenseits aller Entzweiung zwischen Natur und Geist, Induktion und Deduktion zu postulieren, und 2) darauf, diesen Grund als erreichbares Ziel des Handelns und Erkennens in die Zukunft zu projizieren. Einstweilen und bis zum Ziel des Welt- und Wissensprozesses seien nach Schleiermacher die Idee Gottes und ihr Korrelat, die Idee der Welt als der Totalitt des Bedingten, zwar noch nicht im Wissen, aber im unmittelbaren Gefhl prsent. Dieses unmittelbare Gefhl entspreche letztlich dem christlich-religiçsen Gefhl schlechthinniger Abhngigkeit, und insofern stnden fr Schleiermacher Wissenschaft und Religion, Philosophie und Theologie friedlich und widerspruchsfrei nebeneinander. Whrend fr Schleiermacher idealer Gehalt und Ziel der Geschichte selbst außerhalb der Geschichte stnden, sei es die Leistung der Hegelschen Philosophie gewesen, nicht die Historie zu idealisieren, sondern umgekehrt die Idee zu historisieren. Wilhelm Dilthey habe Schleiermachers Philo-

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sophie unter Absehung von der Metaphysik als Theorie der Geisteswissenschaften und Hermeneutik rezipiert. Die Schleiermacherforschung der Gegenwart und wohl auch der Zukunft trenne zwischen Schleiermachers Impulsen fr die Philosophie und denen fr die Theologie; sie be sich jenseits der Alternative zwischen unbedingter Affirmation und Ablehnung in der nachholenden Reflexion der Schleiermacherschen Gedanken. Arnulf von Scheliha (Osnabrck) wrdigte in seinem Vortrag „Schleiermacher als politischen Denker“. Zu Beginn wies er darauf hin, dass Schleiermacher selbst – darin durchaus auch nach eigener Einschtzung ein Ausnahmefall – auf allen Feldern ttig gewesen sei, in die sich fr ihn die Gesellschaft ausdifferenziere: in Wissenschaft und Kirche, in der freien Geselligkeit und eben auch in der Politik. Dies Letzte habe er in seinen Vorlesungen (seit 1808/09) und Akademievortrgen ber die Politik reflektiert. Die Politik oder Staatslehre als Wissenschaft leite sich fr Schleiermacher als kritische Disziplin aus der philosophisch-ethischen Kulturtheorie ab und gewinne von ihr her ihre Prinzipien und Normen. Dabei seien alle drei Teile der Ethik, die Gterlehre, die Tugendlehre und die Pflichtenlehre, fr das politische Handeln relevant. Die Gterlehre bestimme das Politische als eine der Grundformen der menschlichen Vernunftttigkeit. Schleiermachers Pflichtenformel, wonach der Einzelne das mçglichst Grçßte zur Wahrnehmung der gemeinsamen sittlichen Aufgabe beitragen mçge, andererseits aber stets gemß seiner Eigentmlichkeit handeln solle, mache die Balance zwischen dem Individuum und der Gemeinschaft zur allgemeinen sittlichen Norm, auch fr die Politik. Die Rechtsethik ziele auf die gegenseitige Anerkennung und den Ausgleich zwischen beiden Seiten; demgemß seien Dinge wie Tyrannei, Sklaverei und Egoismus ausgeschlossen. Fr die politische Willens- und Entscheidungsfindung pldiere Schleiermacher fr ein Zirkularverfahren zwischen Regierung und Untertanen. Die Tugendlehre schließlich beschreibe die sittliche Vernunft und Kraft der Einzelnen als Voraussetzung der Pflichterfllung. Die Vaterlandsliebe sei die gemeinsame, das gemeinsame Interesse wahrende Tugend der Regenten ebenso wie der Brger und damit die hçchste politische Tugend. Auch in seinen Predigten komme Schleiermacher gelegentlich auf die politischen Tugenden zu sprechen: Er schrfe ein, das gemeinsame gesellschaftliche Ziel im Auge zu behalten, dabei aber auch abweichende Meinungen zu tolerieren, und warne vor Lastern wie Weichlichkeit, dem Schlendrian und der reinen Selbstbezogenheit. Dabei gewhre fr ihn gerade die christliche Religion der guten Gesinnung eine gewisse Stabilitt,

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wohingegen eine Tugendhaftigkeit ohne religiçses Fundament immer stçranfllig bleibe. Unbeschadet ihrer Zeitgebundenheit, resmierte Scheliha, bleibe Schleiermachers politische Ethik auch fr die Gegenwart relevant: Sie beschreibe, wie Menschen am çffentlichen Leben teilhtten, sei es als Aktivist (Maximum) oder als Zeitungsleser (Minimum) oder irgendwo dazwischen, sie bleibe streng sachorientiert und biete eine brauchbare, realistische Orientierung ohne sittliche berforderung oder bermoralisierung. Hans-Peter Großhans (Mnster) sprach ber „Gottesverhltnis und Freiheitsgefhl – Schleiermachers Theologie zwischen Neuzeit und Moderne“. Seine Leitfrage war, ob Schleiermachers Verstndnis Gottes als des Woher des schlechthinnigen Abhngigkeitsgefhls dem Freiheitsgefhl der Moderne genug Raum gebe, oder ob sein allesbedingender Gott letztlich freiheitsfeindlich sei. Schleiermacher stehe zwischen Neuzeit und Moderne: Die Neuzeit habe noch den Einheitspunkt der vielfçrmigen Welt gesucht, whrend die Moderne auch die Vernunft historisiert habe und somit die verschiedenen Sichtweisen auf die Welt ohne bergeordneten Einheit als autonom und gleichberechtigt nebeneinander habe stehen lassen. In Schleiermachers Denken stifte einerseits die Gottesidee die transzendente Einheit der Welt; andererseits aber habe er auch die Pluralitt und Positivitt des geschichtlich Gewordenen anerkannt und ernstgenommen. Die Einheit zwinge Schleiermacher der Welt nicht von außen auf, sondern finde sie in der menschlichen Subjektivitt, im unmittelbaren Selbstbewusstsein. In ihm und durch es sei die gçttliche Allurschlichkeit gegeben und in allen Ttigkeiten des menschlichen Geistes immer schon mitgesetzt; freilich sei Gott als implizite Voraussetzung alles Denken selbst kein Gegenstand der Erkenntnis. Die gçttliche Urschlichkeit sei nichts neben dem Selbstbewusstsein, sondern sei das Selbstbewusstsein selbst, die Eigenschaften Gottes seien keine Aussagen ber einen Gegenstand, sondern Explikationen des Selbst- und Weltbewusstseins. Großhans’ kritische Anfrage an Schleiermacher ging nun dahin, ob Schleiermacher, indem er Gott als Allesverursacher aufgefasst habe, nicht in die Falle der Postmoderne getappt sei, nmlich mangels anerkannter Maßstbe und Kriterien bloß alles regressiv so hinzunehmen, wie es eben gegeben sei. Htte Schleiermacher sich unter den Wegen des PseudoDionysius Areopagita, zu Aussagen ber Gott zu kommen, weniger auf die via causalitatis als auf die via negationis verlegt, dann wre er – als Negation der menschlichen Abhngigkeit – auf eine All-Freiheit als wichtigstes

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Gottesprdikat gekommen und auf ein Reich der Freiheit als darin mitgesetzte eschatologische Hoffnung. Martin Ohst (Wuppertal) stellte „berlegungen zu Schleiermachers kirchengeschichtlichem Rang“ an. Was unterscheide, so fragte er zu Beginn, Leute von unbestrittenem kirchengeschichtlichem Rang wie Augustin, Thomas von Aquino oder Luther etwa von dem mit seinen kirchlichen Oberen chronisch malkontenten katholischen deutschen Kirchenvolk der Gegenwart, von dem nie bedeutende Vernderungen ausgingen, und er kam zur Antwort: Personen und auch Bewegungen von kirchengeschichtlichem Rang seien eben nicht bloß Kritiker gewesen, die sich bei aller Unzufriedenheit doch nur das Bestehende in etwas verbesserter Gestalt gewnscht htten; vielmehr htten sie epochemachende neue Konzepte gehabt fr das, was das Christentum sei und was die Kirche ausmache, und htten diese Konzepte dann auch konstruktiv und praktisch zur Geltung gebracht. Typisch fr Individuen von epochalem Rang sei es schließlich, dass sie in ihrer Person Divergenzen und Widersprche zusammengehalten htten, die ihre Nachwelt so nicht mehr habe in bereinstimmung bringen kçnnen; und so bestehe die Nachwirkung eines Augustin oder Luther nicht unwesentlich in Kontroversen ber ihre Deutung. Nun unterscheide sich Schleiermacher von den bisher Genannten dadurch, dass er ein kleineres Wirkungsfeld gehabt habe – vor allem das gebildete protestantische Deutschland. Das gehçre aber generell zu den Gegebenheiten des nachreformatorischen Christentums: Im Mittelalter habe das Wichtigste praktisch alle Gelehrten erreicht; danach differenziere sich die christliche Welt in viele sprachlich, kulturell und sozial unterschiedliche Milieus aus. So habe seit der Reformation das Meiste auf einem kleineren Feld gewirkt; dafr gebe es aber insgesamt mehr Beteiligte an den Diskursen als nur die eben doch kleine, wenn auch internationale, lateinisch sprechende gelehrte Welt des Mittelalters; und so gingen die Impulse in der Neuzeit auf ihrem kleinen Feld mehr in die Breite und die Tiefe. Schleiermachers großes Thema sei die Gestaltung des protestantischchristlichen Lebens in der nachkonfessionellen Brgerwelt gewesen. Christ, Kulturmensch und Brger zu sein falle bei Schleiermacher nicht mehr automatisch zusammen, aber auch nicht vçllig auseinander: Einerseits habe Schleiermacher christliche und allgemeine Sittlichkeit nicht mehr einfach miteinander identifiziert, andererseits habe er sich aber auch geweigert, das Christentum als Subkultur und Totalopposition gegen eine vermeintlich gottlose politisch-kulturelle Moderne in Stellung zu bringen. Als wissenschaftlicher Theologe beschreibe er das Christentum sowohl aus

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der Binnenperspektive, als Reflexion des Glaubens ber sich selbst, als auch – da es eben auch ein Gegenstand von allgemeinem geisteswissenschaftlichen Interesse sei – aus der Perspektive einer menschlichen Kulturtheorie (letzteres z.B. in den Einleitungsparagraphen der Glaubenslehre). Reflexionsbedarf habe Schleiermacher besonders fr die Kirchentheorie gesehen; bei ihr zeichne er das positiv Christliche in die Koordinaten einer geselligen Theorie der Religion berhaupt ein. Sein Konzept habe sich insgesamt als recht realittstauglich erwiesen; ihm entspreche z.B. der deutsche Weg einer nicht vollstndig vollzogenen Trennung zwischen Kirche und Staat. Das in spannungsreicher Harmonie sich vollziehende Miteinander von brgerlicher, wissenschaftlicher und christlicher Existenz sei so fr die Spteren nicht mehr mçglich gewesen; hnlich wie bei Augustin strebten die verschiedenen Fden wieder auseinander, die seine Person zusammengehalten habe. Wer sich aber die Mhe mache, Schleiermachers Fragen und Probleme zu bearbeiten und in seine Schule zu gehen, der staune, wie viel sich bei ihm noch immer lernen lasse. Als letzter sprach der Gefeierte. Unter dem Titel „Vordenker, Vter und Kirchenfrsten, oder: ,Was kann aus Nazareth Gutes kommen?‘“ trug Kurt-Victor Selge Anfragen und Reflexionen ber Schleiermacher und seine Verehrer vor, erwachsen aus Jahrzehnten Ttigkeit in der Leitung der Berliner Forschungsstelle und im Herausgeberkreis der Kritischen Gesamtausgabe der Werke Schleiermachers. Selge fragte, ob Schleiermacher wirklich der Wegweiser in eine christlich verantwortete Zukunft sei oder gar in ein neues christliches Zeitalter, wozu ihn seit 30 Jahren etliche, sogar Katholiken, machten, oder ob er vielleicht auch einer der Klassiker der jngst entdeckten und so benannten Berliner Klassik um 1800 sei? HansJoachim Birkner, der wesentlichen Anteil an der Schleiermacher-Renaissance gehabt habe, habe geurteilt, Schleiermacher auszugraben und wirklich zu begreifen sei nicht das Werk einer Generation, sondern dauere noch Jahrhunderte. Schleiermachers Ethik und Dialektik seien durchaus zukunftsfroh, beschrnkten die Eschatologie freilich auf eine humane Immanenz. In ihr habe dann auch eine allgemein verbreitete christliche Religion ihren Ort, nicht als aufoktroyierte Einheit, sondern in der versçhnten individuellen Mannigfaltigkeit des religiçsen Gefhls; gegenber Proselytenmacherei und gezielter ußerer Mission habe Schleiermacher das freie Einwirken und Darstellen als Mittel der Verbreitung bevorzugt. Das 20. Jahrhundert freilich sei weniger zukunftsoptimistisch gewesen. An seinem Beginn habe Johannes Weiß den eschatologisch-apokalyptischen Charakter der Verkndigung Jesu nachgewiesen, und nach mancherlei

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katastrophalen Erfahrungen sei man eher zur Erwartung eines dem Urknall entsprechenden Endknalls gekommen als zur Erwartung einer allgemeinen Humanisierung. In der „Kurzen Darstellung des theologischen Studiums“ (2. Aufl., 1830) habe Schleiermacher das Ideal des Kirchenfrsten vorgestellt, in dem sich wissenschaftlich-theologischer und religiçs-kirchlicher Geist zu einer ideellen Verbindung von theoretischer und praktischer Ttigkeit vereinigten (§ 9. 258. 328 f.). Ob Schleiermacher selbst so ein Kirchenfrst gewesen sei? Die Kirche der altpreußischen Union verehre ihn, allerdings sei Schleiermacher nicht ihr eigentlicher Kirchenvater; er sei ein Vordenker der Theologie in der Epoche der großen idealistischen Systeme. Sein frommer Schler August Neander habe Schleiermacher – zugleich bewundernd und kritisch – den neuen Origenes fr die Zeit nach der Aufklrung genannt. Politisch sei der preußische Patriot Schleiermacher im eigenen Vaterland seit 1812 und dann seit 1817 immer missliebiger geworden; er be einen unguten Einfluss auf die Studenten, habe man auf hçherer Stelle befunden. Selbst habe Schleiermacher die nicht zuletzt von seinen Reden „ber die Religion“ angeregte Erweckungsbewegung zunehmend kritisch gesehen. ber allen Misshelligkeiten habe der Schriftsteller, akademische Lehrer und Prediger aber nie seine ruhige, berlegene Souvernitt verloren, auch nicht seinen Humor und seine Ironie. Nach dem Ende der Vortrge lud die Akademie noch zu einem Empfang auf die Dachterrasse des Akademiegebudes.

Gottesverhltnis und Freiheitsgefhl. Schleiermachers Theologie zwischen Neuzeit und Moderne Hans-Peter Grosshans Mit der im Untertitel genannten Einordnung von Schleiermachers Theologie zwischen den beiden Epochen der Neuzeit und der sptestens Mitte des 19. Jahrhunderts beginnenden und bis heute andauernden Moderne1 wird der Versuch gewagt, die epochale und immer noch aktuelle Bedeutung des theologischen und philosophischen Werkes von Friedrich Schleiermacher an einem zentralen Thema seiner Theologie zu przisieren. Die Formulierung des Haupttitels ist motiviert durch Beobachtungen und Erfahrungen, die ich in jngster Vergangenheit2 in der weltweiten Christenheit, insbesondere im weltweiten Protestantismus, machen konnte – und die um die Frage kreisen, ob und inwiefern in dem im evangelischen Christentum konzipierten Gottesverhltnis dem Freiheitsgefhl der Menschen Raum gegeben und die Zustndigkeit, Verantwortung und

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Wenn man der zur Zeit im Erscheinen begriffenen „Enzyklopdie der Neuzeit“ folgt, kann man das Ende der mit dem 16. Jahrhundert beginnenden Neuzeit auf die Mitte des 19. Jahrhunderts datieren. Fr die Datierung eines Beginns der bis heute andauernden Moderne ist die Auskunft Reinhart Kosellecks einschlgig, der fr den „Umwandlungsprozeß zur Moderne“ die „Schwelle von etwa 1770“ geltend macht. Grund dafr ist, dass es ab dieser Zeit zur „Verzeitlichung der kategorialen Bedeutungsinhalte“ komme, die fr die Moderne charakteristisch sei; vgl. R. Koselleck: Einleitung zu: O. Brunner, W. Conze und R. Koselleck: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, 1972, S. XIII–XXVII. Etwas spter setzt den Beginn der Moderne beispielsweise Walter Benjamin an, der ihn auf Mitte des 19. Jahrhunderts datiert; vgl. W. Benjamin: Gesammelte Schriften, Bd. 1, 2, Frankfurt/M 1974, S. 570 – 604. Dafr spricht u. a., dass das Substantiv „Neuzeit“ nicht vor 1838 nachzuweisen ist (vgl. Art.: Neuzeit – Mittelalter – Altertum, in: Historisches Wçrterbuch der Philosophie, hg. von J. Ritter u. a., Bd. 6, Darmstadt 1984, Sp. 793). Hier beziehe ich mich auf meine Erfahrungen als Studiensekretr fr Theologie und Kirche beim Lutherischen Weltbund in Genf.

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Freiheit der Menschen fr das je eigene Leben und fr ihren Lebensraum gestrkt wird.3 Interessanterweise findet sich in Emanuel Hirschs Darstellung von „Schleiermachers Philosophie und Theologie in ihrer Reifezeit“ in der „Geschichte der neuern evangelischen Theologie“ eine Referenz auf den „Welt-Protestantismus“, dessen „religiçse[s] und theologische[s] Denken […] in den Folgerungen, die Schleiermacher aus Kant, Fichte und dem Atheismusstreit entwickelt hat, langsam die Schicksalsfrage erkennen“ musste.4 Dass „das christliche Denken“ dadurch „vor einer Revolution“ stehe, wie Hirsch prognostizierte (obgleich sie zu Hirschs Zeiten wohl noch nicht stattgefunden hatte), ergebe sich im Kern aus einem vernderten Begreifen Gottes. Nach Hirsch hat dies seine Pointe darin, dass Schleiermacher „in letzter Betrachtung den Gedanken des allbedingenden, das gesamte natrliche und geistige Dasein tragenden Urgrundes allen naiven Verbegrifflichungen und Vermenschlichungen“ entnimmt. So stellte er „die gesamte Gotteslehre auf neue Grundstze“.5 In der Tat geht Schleiermacher gerade auch mit seiner Konzeption der Gotteslehre den Weg in die bis heute andauernde Moderne und berschreitet die Neuzeit. Schleiermacher enthebt dabei den Gottesbegriff nicht nur aller naiven Vermenschlichungen und Verbegrifflichungen, sondern entleert zugleich den Gottesbegriff als einheitsstiftendes Integral der plural erfahrenen Wirklichkeit. In gewisser Weise rehabilitiert er dadurch eine Form der negativen Theologie und çffnet so sowohl die evangelische Theologie als auch die Mçglichkeiten des Gottesbezugs von Menschen fr plurale Ausdrucks- und Reflexionsweisen des Gottesverhltnisses, die ihre Begrndungen in unterschiedlichen Traditionen und Kontexten finden. Schleiermacher prsentiert dabei ein Gottes-Denken, das durch und durch antitotalitr und liberal ist. Im Blick auf das Freiheitsgefhl bleibt jedoch die Frage, ob der in der Gottesrede zum Ausdruck kommende „Gedanke des allbedingenden, das gesamte natrliche und geistige Dasein tragenden Urgrundes“6 nicht am Ende dennoch freiheitshemmend ist, weil mit einem 3

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Es versteht sich von selbst, dass diese Frage auch an die anderen christlichen Konfessionen, ja, berhaupt an die Religionen zu richten ist. Die hier entwickelten berlegungen formulieren insofern Bedingungen, die auch auf das in den nicht evangelischen christlichen Konfessionen und in den nicht christlichen Religionen jeweils konzipierte Gottesverhltnis des Menschen kritisch zu beziehen sind. E. Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie, Bd. 5, Waltrop 2000, S. 299. Ebd., S. 298. Ebd.

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so verstandenen Gottesverhltnis die Verantwortung fr das eigene Leben und die Mitwelt letztlich nicht selbst bernommen, sondern von jenem allbedingenden und tragenden Urgrund erwartet wird.

1. Das Problem der Denkbarkeit Gottes Vor etwas mehr als zehn Jahren hat Ingolf Dalferth den instruktiven Interpretationsvorschlag gemacht, in Schleiermachers Theologie werde Gott nicht als Inbegriff, sondern als Index verstanden. Als Inbegriff von Prdikaten ist der Ausdruck „Gott“ die Bezeichnung fr eine Menge von Prdikaten, die einem Wesen zu- oder abgesprochen werden kçnnen. Wenn wir sagen, „etwas Existierendes ist Gott“, so heißt dies Immanuel Kant zufolge, „einem existierenden Dinge kommen diejenigen Prdikate zu, die wir zusammen genommen durch den Ausdruck ,Gott‘ bezeichnen“.7 Die andauernde Aktualitt dieses Verfahrens zeigt sich beispielsweise bei Richard Swinburne, der den theistischen Gottesbegriff definiert als „a ‘person without a body (i. e. a spirit) who is eternal, free, able to do anything, knows everything, is perfectly good, is the proper object of human worship and obedience, the creator and sustainer of the universe’.“8 Auch bei Schleiermacher finden wir zuerst einmal dieses Verstndnis des Gottesbegriffs als Inbegriff. 1801 schreibt er an F.S.G. Sack: „Der jetzt gewçhnliche Begriff von Gott ist zusammengesetzt aus dem Merkmale der Außerweltlichkeit, der Persçnlichkeit und der Unendlichkeit, und er wird zerstçrt, sobald eins von diesen fehlt“.9 Neben dem Problem der definitiven Menge der Prdikate des Gottesbegriffs hat sich insbesondere der Nachweis der Kohrenz des jeweiligen Inbegriffs von Prdikaten als kaum lçsbares Problem eines solchen Gottesbegriffs herausgestellt. Zudem fhrt dieser „Denkweg […] zu einer Menge nicht konsistenter Gottesbegriffe“.10 Bei Georg Friedrich Wilhelm Hegel finden wir nun einen semantisch orientierten Gottesbegriff, der als absoluter „Inbegriff von allem Denken und 7 I. Kant: Der einzig mçgliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes (1763), A 12, in: ders.: Werke in sechs Bnden, hg. von W. Weischedel, Bd. 1, Darmstadt 1960, S. 634. 8 R. Swinburne: The Coherence of Theism, Oxford 21993, S. 1. 9 KGA V/5, S. 131. 10 I.U. Dalferth: Inbegriff oder Index? Zur philosophischen Hermeneutik von ,Gott‘, in: Gott der Philosophen – Gott der Theologen. Zum Gesprchsstand nach der analytischen Wende, hg. von Chr. Gestrich (Berliner Theologische Zeitschrift, Beiheft 1999), Berlin 1999, S. 89 – 140, hier 98.

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Gedachten konzipiert“11 ist. Friedrich Schleiermacher dagegen will im Gottesgedanken die Differenz zwischen Gott und unserem Denken Gottes wahren und denkt Gott deshalb als „Index eines Implikats jedes Denk- und Lebensvollzugs“.12 Beide Konzeptionen resultieren aus dem Theismus der Neuzeit und dessen Problemen. Und beide Konzeptionen berschreiten dessen Beschrnktheiten, wobei insbesondere Schleiermachers Gotteskonzeption Aspekte der Moderne vorwegnimmt. Das Zentrum „religionsphilosophischer“ Reflexion in der Neuzeit war der Gottesbegriff. Er diente in der Reflexion der Vernunft der Integration einer im geschichtlichen Verlauf der Neuzeit zunehmend als plural erfahrenen Wirklichkeit. Dies zeigen einige bekannte Beispiele. So umfasst und vereint der monistische Gottesbegriff Ren Descartes’ den Dualismus von res cogitans und res extensa und wahrt auf diese Weise das Bewusstsein von der Einheit der Wirklichkeit. Dies zeigt sich dann beispielsweise in der naturwissenschaftlichen Forschung, insofern die Unvernderlichkeit der Naturgesetze als Ausdruck der Unvernderlichkeit Gottes verstanden wird. Im Gottesgedanken findet eine metaphysische Seins- und Sittenordnung ihren Grund und ihre Zusammenfassung. Bei Gottfried Wilhelm Leibniz finden wir eine Erneuerung des ontologischen Gottesbeweises, bei dem eine Analogie des gçttlichen Geistes zur menschlichen Vernunft, insbesondere zur mathematischen, vorausgesetzt wird. Baruch Spinoza hat in seiner Ethica Gott als die Substanz begriffen, die in allem Seienden prsent ist. Aus Gott als der natura naturans folgt Unendliches auf unendlich verschiedene Weise als natura naturata. Zwischen Gott und dem Kosmos gibt es eine substanzhafte Identitt. In der philosophischen Theologie der Aufklrung ist der Gottesbegriff der sogenannten Physikotheologie der Versuch, die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse in einer theologisch konzipierten Einheit zu integrieren, ohne die vielen Details der Naturerkenntnis zu ignorieren. Insbesondere die ontologischen und kosmologischen Gottesbeweise dienen in dieser Phase der Neuzeit dem Bewusstsein von der Einheit der Wirklichkeit. Allerdings steigern sie Gott so ins Unendliche und Vollkommene, dass sich als „Gott“ nichts Bestimmtes mehr denken lsst und dem Gottesgedanken weder eine Erfahrung in der Welt noch eine Wirk11 Ebd., S. 108. 12 Ebd.

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lichkeit berhaupt korrespondiert.13 Die absolute Steigerung der Prdikate Gottes auf diesem Wege der Erkenntnis Gottes zerstçrt jede Proportionalitt zur erfahrbaren Wirklichkeit. Der Gottesbegriff verliert so seine Relevanz fr das Weltverhltnis der Menschen. Gott ist zwar prdikativ bestimmbar (ber die ins Vollkommene und Unendliche gesteigerten Prdikate), aber nicht mehr identifizierbar im Lebensvollzug und im Weltverhltnis der Menschen. Der rationale theistische Gottesgedanke gert deshalb im Laufe des 18. Jahrhunderts in eine fundamentale Krise. Die Unvereinbarkeit der in den jeweils hçchsten Grad gesteigerten gçttlichen Eigenschaften untereinander sowie mit der Lebens- und Welterfahrung des Menschen verschrft nicht nur die Theodizeefrage, sondern stellt den Gottesbegriff berhaupt in Frage. Gott verliert seine integrierende Kraft im Blick auf die von den Menschen als plural erfahrene Wirklichkeit.14 Georg Wilhelm Friedrich Hegel reagierte auf diese Krise, indem er die Differenz zwischen unseren Gottesbegriffen und Gott dialektisch prozessualisierte: Gott wird erst gedacht, wenn alles Wahre als Vollzug der Wahrheit gedacht wird. Der Gottesbegriff ist erst adquat bestimmt, wenn er als „Integral des Gesamtprozesses des Gott-Denkens“ gedacht wird.15 Im Prozess des Denkens Gottes muss Denken und Gedachtes, Vollzug und Inhalt ineinander fallen. Hegel versucht also „die Pragmatik des GottDenkens in die Semantik des Gottesgedankens zu integrieren“.16 Zumindest aus semiotischer Sicht ist dieser Versuch zum Scheitern verurteilt. In keinem Inbegriff Gottes lsst sich die Differenz zwischen pragmatischem Vollzug und semantischem Inhalt semantisch aufheben.17 13 Vgl. W. Jaeschke: Zur Genealogie der Religionsphilosophie, in: Archivio di Filosofia 75 (2007): Filosofia della Religione oggi?, hg. von St. Semplici u. a., Pisa u. a. 2008, S. 33 – 54. 14 Ein Zeichen dafr ist die Ende des 18. Jahrhunderts entstehende explizite Religionsphilosophie, die sich auf das Thema „Religion“ konzentriert, fr das der Gottesgedanke von untergeordneter Bedeutung ist. Moral, Selbstbewusstsein oder Geist sind die Schlagworte, denen Religion zugeordnet wird und von denen her Religion fr die menschliche Vernunft erschließbar und verstehbar wird. Vgl. dazu: H.-P. Großhans: Art. Religionsphilosophie 1. westliche, in: Enzyklopdie der Neuzeit, hg. von F. Jaeger, Bd. 10, Stuttgart 2009, S. 1121–1126. 15 I.U. Dalferth: Inbegriff oder Index?, a.a.O. (Anm. 10), S. 110. 16 Ebd. 17 Das Denken Gottes ist in der Folge der entsprechenden Versuchung çfters erlegen und hat die erkenntniskritische Differenz zwischen Gott und Gottesgedanken eingeebnet und den gedachten Gott mit Gott identifiziert.

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Friedrich Schleiermacher hat versucht, grundstzlich anders zu verfahren und „Gott“ nicht als Begriff zu verstehen – im brigen auch nicht als Eigenname, weil sich dabei dasselbe Problem der dann nicht mçglichen Identifizierbarkeit Gottes stellt. Man kann dies nicht nur in Schleiermachers Glaubenslehre, sondern auch an Schleiermachers Bemerkungen zur „Idee der Gottheit“ in den Vorlesungen zur Dialektik beobachten. Als „Idee der Gottheit“ bezeichnet Schleiermacher in dieser Theorie der Kommunikation die selbst nicht denkbare Voraussetzung des Denkens, in welcher das menschliche Denken und das menschliche Streben nach Wissen als einem gemeinsamen Horizont von Denken und Sein grndet. Nach Schleiermachers Vorlesungen zur Dialektik bewegt sich das Denken als Begriff und Urteil18 immer zwischen dem Chaos der unzhligen, nicht begrifflich erfassbaren Einzelheiten der Welt und dem Allgemeinsten, dem Sein, und bedient sich dabei der Sinne als seinem sensuellen Pol und der Vernunft als seinem intellektuellen Pol. Beide Grenzpunkte des Denkens kçnnen wir „als Gedanken nicht vollziehen“, weil es nicht zu „einem Zusammensein beider Funktionen des Denken“19 kommt, also die organische, sensuelle Funktion und die intellektuelle Funktion des Denkens an diesen Grenzen nicht im Denken vereint sind. Im Blick auf das Besondere kann die intellektuelle Funktion des Denkens und im Blick auf das Allgemeine die organische, sensuelle Funktion des Denkens nicht greifen. Es stellt sich die Frage, ob sich dann noch im Denken die in unserer Kommunikation in Anspruch genommene Einheit der gemeinsamen Welt denken lsst. Nun lsst sich jedoch nach Schleiermachers Auffassung die Realitt des Allgemeinen aus seinen Wirkungen – nur aus seinen Wirkungen – entnehmen. „Dem Allgemeinen entspricht das Sein als Kraft gesetzt.“20 Die 18 Vgl. dazu H.-P. Großhans: Denken und Wirklichkeit. Zu den ontologischen Bedingungen von Begriff und Urteil in theologischer Perspektive, in: Schleiermachers Dialektik. Die Liebe zum Wissen in Philosophie und Theologie, hg. von Chr. Helmer, Chr. Kranich und B. Rehme-Iffert, Tbingen 2003, S. 162 – 178. 19 KGA II/10, 2, S. 530. 20 Ebd. Die Realitt der Allgemeinbegriffe ist nicht von vornherein einsichtig. Erkenntnistheoretisch kçnnten Realitt auch nur die Einzeldinge haben – also dasjenige, das als Einzelnes zwar benennbar ist und worber wir auch Urteile bilden kçnnen (X ist grn), das sich aber begrifflich nicht erfassen lsst. Jeder Begriff berschreitet bereits das Einzelne und Individuelle auf ein Allgemeines hin. Die Begriffe kçnnten deshalb auch nur reine Verstandesprodukte sein, mit denen wir die Wirklichkeit ordnen, indem wir mit den Begriffen verschiedene Einzelne als gleichartige zusammenfassen. Es wrde den Begriffen selbst dann jedoch keine Realitt zukommen.

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den Allgemeinbegriffen entsprechenden Realitten sind nicht als solche erkennbar, sondern nur in ihrer Kraft, mit der sie die unter ihren jeweiligen Begriff fallenden Einzelflle bewirken.21 Im Blick auf die Grenze des Denkens in Richtung auf das Allgemeine msste dem Allgemeinsten dann die „hçchste Kraft“ entsprechen, „die nicht zugleich als Erscheinung gegeben oder angesehen werden kann, und die keiner hçheren untergeordnet ist“.22 Das Allgemeinste, durch das alles vereint wird, was ist, ist das „Sein“ – von Schleiermacher als Kraft verstanden, die bewirkt, dass das, was ist, existiert. Dieses Sein ist dann als die Bedingung von allem, was ist und was gedacht werden kann, zu begreifen. Selbst aber muss dieses Sein als unbedingt gedacht werden: es ist nicht wiederum durch eine Kraft bewirkt. Von ihm lsst sich dann nur aussagen, dass es „das Unbedingte“ ist. Es ist eben „die oberste Kraft […], die alles bedingt, und die zugleich nicht wieder Erscheinung sein kann“:23 das schlechthin Vorausgesetzte zu allem Gegebenen. Doch das Denken bleibt auch bei dieser Konzeption in einem Gegensatz und in einem Bedingungsverhltnis. Auch „die Kraft ist durch die Totalitt der Erscheinungen bedingt“.24 Gibt es also keine umgreifende Voraussetzung des Denkens, die nicht von ihm selbst bedingt ist – und also

21 Wenn wir mehrere Einzelflle in einem Begriff zusammenfassen kçnnen, dann wirft dies die Frage auf, wodurch diese Gemeinsamkeit bewirkt wird. Dies lsst sich dadurch beantworten, dass das begrifflich erfasste Allgemeine als Kraft verstanden wird. 22 KGA II/10, 2, S. 230. 23 Ebd., S. 531. Es stellt sich freilich die Frage, ob in diesem Rckschlussverfahren von den Erscheinungen auf die sie bewirkende Kraft das dem Denken vorausgesetzte Unbedingte nicht doch irgendwie gedacht wird. Schleiermacher spielt dieses Verfahren durch und kommt von dem einzelnen Existierenden auf die Erde als „Einheit des allgemeinen und besonderen Lebens“ bzw. auf die „Einheit des Weltkçrpers […] als die Kraft, wozu sich alles Untergeordnete als Erscheinung verhlt“ (ebd., 533). Doch auch eine Mannigfaltigkeit von Weltkçrpern lsst sich denken, so dass dann das Hçchste „die Einheit der weltbildenden Kraft“ wre, „wozu sich die einzelnen Weltkçrper verhalten wie Erscheinungen“ (ebd.). Dies wre dann das Unbedingte. Schleiermacher identifiziert sie mit dem spinozistischen Ausdruck der natura naturans, der „die Gesamtheit der Erscheinung als gebildete Welt oder die natura naturata gegenbersteht. In dem Gegensatz von Kraft und Erscheinung ist dies offenbar das Hçchste, und innerhalb desselben kçnnen wir nicht weitergehen“ (F.D.E. Schleiermacher: Vorlesungen ber die Dialektik, hg. von R. Odebrecht, Darmstadt 1988, S. 245). 24 KGA, II/10, S. 533 f.

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das Denken und das Seiende (d. h. nicht nur als Gedachtes) umfasst?25 Wenn nun das auf Wissen zielende Denken, das sich nicht nur mit der Kommunikation von Meinungen zufrieden geben will, seinen Anfang und Grund nicht im Sein finden kann, dann stellt sich die Frage, ob die Idee der Gottheit das gesuchte Unbedingte sein kçnnte. Und es stellt sich die Frage, wie Gott dann dem Denken in den Blick kommen muss?26 Die Einsicht Schleiermachers lautet: Gott wird nicht als die unbedingte Voraussetzung des Denkens verstanden, wenn Gott begrifflich gedacht wird. Dann kann Gott in allem Denken und in jedem Gedachten nur als immer mitgegebene Voraussetzung mitgedacht werden, ja, Gott muss in allem Denken, das auf Wissen zielt, als dessen Voraussetzung mitgedacht werden. „Gott ist eine – unthematische, aber thematisierbare – Implikation und Voraussetzung dessen, was man denkt und daß man denkt. Inhalt und Vollzug des Denkens setzen Gott voraus: Gott ist in allem Denken und Gedachten unthematisch mitgedacht, auch und gerade wenn Gott nicht ausdrcklich gedacht wird.“27 Allerdings kann dieses berall unthematisch Mitgedachte im Denken ausdrcklich thematisiert werden. Als immer mitgedachte Voraussetzung des Denkens ist „Gott“ jedoch entbegrifflicht und entgegenstndlicht. Als Voraussetzung des Denkens kann Gott nicht begrifflich-kategorial bestimmt werden. Deshalb bietet es sich an, bei Schleiermacher den Ausdruck „Gott“ als Index zu verstehen. Indizes zeigen „den konkreten Situationsbezug von ußerungen“ an, „ohne den Propositionen kein bestimmter Wahrheitswert zugeschrieben werden kçnnte: Ihre Funktion ist pragmatisch, nicht semantisch.“28 25 Erkenntnistheoretisch gewendet heißt dies, dass auch das Sein, das im Verhltnis und im Gegensatz zur Totalitt des Seienden gedacht wird, vom Denken bedingt ist, insofern alles Seiende immer nur als Gedachtes im Denken ist. 26 Schleiermacher kommt auf diese Frage zu sprechen bei der Betrachtung der Sache strikt von der intellektuellen Funktion des Denkens her. Er kommt dabei zu demselben Urteil wie bei der Betrachtung von der organischen, sensuellen Funktion des Denkens her. „Die Gottheit, welche aus der Materie die Welt schafft, ist nicht das unbedingte Sein; ebenso ist es aber auch nicht die Gottheit, welche die Welt aus nichts schafft, weil auch hierin eine Duplizitt liegt. Sagen wir: Das Unbedingte ist das, was die Welt hervorbringt […], dann ist Gott und die weltbildende Kraft einerlei und die Welt die Totalitt ihrer Erscheinung, und wir haben wieder die wechselseitige Bedingtheit“ (Schleiermacher: Dialektik, hg. von R. Odebrecht, a.a.O. – Anm. 23 –, S. 248). 27 I.U. Dalferth: Inbegriff oder Index?, a.a.O. (Anm. 10), S. 118. 28 Ebd.

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Wie alle Indizes, deren Bedeutung darin besteht, pragmatisch-situativ – sei es raum-zeitlich, sei es kommunikativ-personal – zu orientieren, beschreibt auch der Index „Gott“ keine Struktur unserer Welt, sondern ist eine unverzichtbare Voraussetzung fr die konkrete Kommunikation und damit auch fr das Denken. Der Index „Gott“ zeigt an, dass das sich in Begriff und Urteil vollziehende Denken, das in immer wieder neuer Differenzsetzung sich vom Gedachten unterscheidet und das in konkreten raumzeitlichen und personalen Zusammenhngen geschieht, nur unter einer Voraussetzung mçglich ist, die berhaupt die Bedingung der Mçglichkeit von Orientierung und damit von pragmatisch geleitetem wahrheitsfhigem Urteilen und Begreifen ist.29 Indem Religion mit der indexikalischen Verwendung von „Gott“ den Letzt- und Gesamthorizont allen Erlebens und Handelns und auch aller Kommunikation thematisiert, bestimmt sie den Horizont aller sozialen und psychischen Systeme, der eigentlich unbestimmbar ist und stellt somit die Voraussetzung bereit, unter der es erst zu System-Umwelt-Verhltnissen kommen kann, indem das Unbestimmte mit dem Weltbegriff bestimmbar gemacht wird. Insofern stellt die indexikalische Verwendung von „Gott“ auch die Voraussetzung dar, unter der Erkennen berhaupt erst mçglich und das Streben nach Wissen, das auf die Einheit von Denken und Sein aus ist, berhaupt nur sinnvoll ist. Der Index „Gott“ markiert den Gesamtzusammenhang, in dem das Denken zwischen mçglichen Begriffen und Wissen, zwischen mçglichen Welten und der wirklichen Welt unterscheiden und insofern Wirkliches identifizieren kann. Das Denken will Wissen und zielt deshalb auf die Totalitt der Erscheinungen in dieser Welt: Wissen ist realdefinitorisch zu realisieren. Oder in Schleiermachers Worten formuliert: Das Streben nach Wissen zielt auf die Idee der Welt als „der Totalitt alles partiellen Seins“ und das ist „die Idee der Einheit […], wo alle Gegenstze eingeschlossen sind.“30 Dagegen ist die Idee der Gottheit kein Ziel des Denkens und also nichts, an das sich das Denken diskursiv annhern kçnnte. Als terminus a

29 „Der Indikator ,Gott‘ […] markiert die Bedingung der Mçglichkeit dafr, daß es – angesichts der Mçglichkeit des Gegenteils – berhaupt etwas Wirkliches gibt, das identifizierbar ist, und etwas Wirkliches, fr das und von dem es identifiziert werden kann: Mit „Gott“ wird die Kontingenz des Gesamtzusammenhangs angezeigt, in dem wir leben und uns orientieren“ (ebd., S. 123). 30 KGA II/10, 2, S. 587.

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quo begleitet sie als Voraussetzung alles Denken und alles Wirkliche „auf eine zeitlose Weise“.31 Das auf Wissen zielende Denken hat es mit einer in vielfltige raumzeitliche und personale Zusammenhnge strukturierten Welt zu tun, die wir mit den verschiedenen Indizes sprachlich markieren. Mit dem Index „Gott“ wird angezeigt, dass die Welt jedoch nicht in diese raum-zeitlich und personal differenzierten Zusammenhnge zerfllt, sondern diese in einem Gesamtzusammenhang stehen und eine Einheit bilden, die zwar anders htte sein kçnnen und also kontingent ist, aber eben die wirkliche und nicht nur eine mçgliche Welt ist. Wir sehen nun an diesem Resultat, dass Schleiermacher noch dem Anliegen der philosophischen Gotteslehre der Neuzeit verpflichtet ist: mit der „Idee der Gottheit“ bzw. dem Ausdruck „Gott“ die als plural erfahrene Wirklichkeit zu einer Einheit zusammen zu fgen, so dass wir in all unseren Kommunikationen mit anderen unterstellen kçnnen, dass wir eine gemeinsame Welt teilen und ber eine gemeinsame Welt reden, auch wenn diese in viele Kulturen, Traditionen und Kontexte, oder in mehrere hçchst verschieden strukturierte Lebensbereiche zu zerfallen scheint. Wenn nun die Idee der Gottheit als transzendente Voraussetzung des Denkens nicht gedacht werden kann, dann muss man sich fragen, wie diese Idee dem Denken berhaupt prsent sein kann. Wenn sie nicht Teil des diskursiv sich vollziehenden Bewusstseins ist, dann kann sie nur im unmittelbaren Bewusstsein des Menschen prsent sein. „Es gibt […] keine andere Reprsentation dieser Idee als im unmittelbaren Selbstbewußtsein“32 – formuliert Schleiermacher konsequent in seiner Dialektik.

31 Ebd., S. 582. Die Idee der Gottheit ist „immer die transzendentale Begleitung und der Grund“ sowohl des Denkens als auch des wirklichen Seins, bleibt aber „außerhalb des Denkens und wirklichen Seins“ (ebd.). Die raum-zeitlichen Indizes markieren in unserem Sprachgebrauch einen raumzeitlichen Orientierungszusammenhang, in dem etwas als etwas identifiziert und definiert werden kann. Kommunikative Indizes markieren einen personalen Orientierungszusammenhang, in dem etwas als etwas fr jemand identifiziert und definiert wird. Der Index „Gott“ markiert nun nicht einen weiteren Orientierungszusammenhang neben anderen, sondern den durchaus kontingenten Gesamtzusammenhang, in dem berhaupt erst indexikalische Orientierung mçglich ist. 32 Ebd.

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2. Das Selbstbewusstsein und Aussagen von Gott Bekanntlich hat Schleiermacher in seiner Glaubenslehre die Gotteslehre als Eigenschaftslehre konzipiert. Wie vertrgt sich dies mit dem eben anhand der Dialektik festgestellten Verstndnis des Ausdrucks „Gott“ als Index? Nach § 4 der Glaubenslehre ist das Bewusstsein, in Beziehung mit Gott zu sein, identisch mit dem Gefhl absoluter Abhngigkeit.33 Obwohl im Gefhl selbst Subjektives und Objektives nicht unterschieden werden kçnnen, lsst sich das Gefhl durchaus auch zum Gegenstand des Erkennens und der Reflexion machen.34 Dabei tritt dann auseinander, was im Gefhl beisammen ist. Dann lsst sich das im unmittelbaren Selbstbewusstsein, dem religiçsen Gefhl, „mitgesetzte Woher unseres empfnglichen und selbstttigen Daseins“35 eigens in den Blick fassen. Es ist genau dieses Woher, von dem sich ein Mensch absolut abhngig fhlt, das Schleiermacher mit dem Ausdruck Gott bezeichnet. „Insofern kann man […] sagen, Gott sei uns gegeben im Gefhl auf eine ursprngliche Weise“.36 Mit dem Ausdruck „Gott“ findet das Selbstgefhl des Menschen die Sprache dafr, dass das eigene Dasein mitsamt der es umgebenden Welt in einem grundstzlichen Sinn kontingent gegeben ist.37

33 Vgl. KGA I/13, 1, S. 32: „Das Gemeinsame aller noch so verschiedenen ußerungen der Frçmmigkeit, wodurch diese sich zugleich von allen anderen Gefhlen unterscheiden, also das sich selbst gleiche Wesen der Frçmmigkeit ist dieses, dass wir uns unserer selbst als schlechthin abhngig oder, was dasselbe sagen will, als in Beziehung mit Gott bewusst sind“ (ebd.). 34 In jedem Gefhl ist ein das Gefhl Bewirkendes und Erregendes immer mit gesetzt und prsent; so auch im Gefhl schlechthinniger Abhngigkeit. 35 KGA I/13, 1, S. 39, § 4.4. 36 Ebd., S. 40, § 4.4. 37 Es folgt wiederum aus der Eigenart des Gefhls, dass die Vorstellung, Gott sei dem Menschen ußerlich gegeben, von Schleiermacher abgelehnt wird. Da es im Gefhl die Differenz von außen und innen, von subjektiv und objektiv nicht gibt, lsst sich ein ußerliches Dasein Gottes aus dem Gefhl auch nicht ableiten. Johann Wolfgang von Goethe hat dieses das Gefhl kennzeichnende ununterscheidbare Zusammensein auf seine Weise formuliert: „Nichts ist drinnen, nichts ist draußen: / Denn was innen, das ist außen. / So ergreifet ohne Sumnis / Heilig çffentlich Geheimnis“ (J.W. Goethe: Epirrhema, in: ders.: Smtliche Werke, Briefe, Tagebcher und Gesprche, hg. von A. Apel u. a., Bd. 2, Gedichte 1800 – 1832, hg. v. K. Eibel, Frankfurt/M 41988, S. 498).

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In dem jedem Menschen eigenen Gefhl, seinem Selbstgefhl38, welches fr sein Personsein konstitutiv ist, ist das Bewusstsein, in Beziehung mit Gott zu sein, mitgegeben. Dies ist kein fr sich bestehendes Bewusstsein, sondern nur die Kehrseite des Gefhls schlechthinniger Abhngigkeit.39 Schleiermacher beansprucht nun, die „Eigenschaften“ Gottes strikt von den religiçsen Gemtszustnden abzuleiten.40 Er versucht also, von dem unmittelbaren Selbstgefhl des Menschen ausgehend,41 von Gott Aussagen zu formulieren, indem er die in dem schlechthinnigen Abhngigkeitsgefhl enthaltene Referenz przisiert42 – eine Referenz auf einen 38 Zur sachlichen Nhe dieses Ausdrucks zu Schleiermachers Rede vom Gefhl schlechthinniger Abhngigkeit vgl. M. Frank: Selbstgefhl, Frankfurt/M 2002, S. 190 ff. 39 Deshalb kann sich Schleiermacher auch eine Darstellung der Religion bzw. des christlichen Glaubens vorstellen, in der von Gott gar nicht die Rede ist; eine Darstellung, die sich nur auf das „Gebiet der innern Erfahrung“ beziehen und die frommen, religiçsen Gemtszustnde des Menschen beschreiben wrde (vgl. KGA I/13, 1, S. 194, § 30.2). 40 Schleiermacher hat dies als Grundsatz am Anfang seiner Ausfhrungen zur Gotteslehre so formuliert: „Alle Eigenschaften, welche wir Gott beilegen, sollen nicht etwas Besonderes in Gott bezeichnen, sondern nur etwas Besonderes in der Art, das schlechthinnige Abhngigkeitsgefhl auf ihn zu beziehen“ (ebd., S. 300, § 50). Die transzendente Voraussetzung menschlichen Lebens und menschlicher Freiheit kann nach Schleiermacher nur so zur Erkenntnis und zur Sprache kommen, wie das menschliche Selbstbewusstsein sich auf sie zu beziehen vermag. Deshalb kann es fr ihn nur darum gehen, die Implikationen der eigenen Zustndlichkeit zu formulieren, also des Gefhls schlechthinniger Abhngigkeit. Ein Abhngigkeitsgefhl schließt zwar ein „Wovon“ des Abhngigseins ein, gleichwohl muss dieses „Wovon“ des Abhngigseins unbestimmt bleiben, da es nicht in den Horizont dessen fllt, was das menschliche Bewusstsein gegenstndlich erfassen und erkennen und damit auch aussagen kann. In der Dialektik behauptet Schleiermacher deshalb, dass in der Glaubenslehre „der transcendentale Grund […] nicht anders betrachtet werden“ kann „als in der Vermischung mit dem Menschlichen Bewußtsein“ (KGA II/10, 2, S. 573). Der „Anthropomorphism ist hier nicht zu vermeiden“ (ebd.). 41 Der Ausgangspunkt fr die Gewinnung aller Eigenschaften Gottes ist fr Schleiermacher eine schlechthinnige Urschlichkeit, auf die das Gefhl schlechthinniger Abhngigkeit zurckweist (KGA I/13, 1, S. 308, § 51), indem es ein Woher des eigenen Daseins impliziert; vgl. dazu H.-P. Großhans: Selbsterkenntnis als Gotteserkenntnis? Zum Verhltnis von schlechthinnigem Abhngigkeitsgefhl und schlechthinniger Urschlichkeit bei Friedrich Schleiermacher, in: Denkwrdiges Geheimnis. Beitrge zur Gotteslehre, hg. von I.U. Dalferth, J. Fischer und H.-P. Großhans, Tbingen 2004, S. 127 – 144. 42 Was dabei geschieht, ist nun selbst kein Vollzug von Religion, sondern Theologie oder Religionsphilosophie; vollzieht sich also nicht mehr auf dem Gebiet des

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umfassenden Orientierungshorizont des Menschen in seiner Welt, der sprachlich als Index zum Ausdruck kommt. Neben vier „abgeleiteten“ Eigenschaften Gottes, die von dem durch Jesus Christus vermittelten Bewusstsein der Snde und Gnade her gewonnen werden – nmlich Heiligkeit, Gerechtigkeit, Weisheit und Liebe – gewinnt Schleiermacher die vier „ursprnglichen“ Eigenschaften Gottes Allmacht, Allwissenheit, Ewigkeit und Allgegenwart, die sich ganz ohne Vermittlung durch das Gottesbewusstsein Jesu Christi auf das fromme Selbstbewusstsein beziehen, „sofern es das allgemeine Verhltniß zwischen Gott und der Welt ausdrkkt“.43 Nach Schleiermachers Auffassung kann das im menschlichen Selbstverstndnis mit gesetzte Woher des Daseins also nicht nur mit einem die Referenz fixierenden sprachlichen Ausdruck – „Gott“ – indexikalisch benannt, sondern scheinbar auch prdikativ nher bestimmt und ausgesagt werden. Der Weg zu dieser Erkenntnis Gottes fhrt bei Schleiermacher von einer durch Selbstbeobachtung zugnglichen Verfasstheit des menschlichen Selbst zum Bewusstsein einer absoluten bzw. gçttlichen Urschlichkeit, die unter den sthetischen und kategorialen Bedingungen menschlichen Erkennens prdikativ nher bestimmt wird (durch die Eigenschaften Allmacht, Allwissenheit, Ewigkeit, Allgegenwart), um dann jedoch die dadurch erfolgte Vergegenstndlichung der gçttlichen Urschlichkeit wieder zu entgrenzen (Gott als schlechthinnige Innerlichkeit und schlechthinnige Lebendigkeit44). Auf diese Weise holt sich das in der Reflexion der eigenen Bedingtheit sich selbst entußernde – und dabei vergegenstndlichende – Selbstbewusstsein des Menschen wieder in seinen eigenen Vollzug ein. Anders formuliert: Die gçttliche Urschlichkeit wird nicht als ein Anderes vom menschlichen Selbstbewusstsein erkannt, sondern als ein Gleiches. Der Mensch versteht sich in seinem unmittelbaren Selbstbewusstsein als ein Lebendiges, das vom Leben selbst her und im Gesamthorizont des Lebens existiert. Wie das menschliche Selbstbewusstsein sich als ein Innerliches und Lebendiges entfaltet, so auch die gçttliche Urschlichkeit, nur eben absolut innerlich und lebendig. Es ist eine prdikativ przisierte Vorstellung Gottes, die ihrem Ausgangspunkt im menschlichen Selbstbewusstsein und dessen Vollzug entspricht. Insofern ist sie nicht fern dem Anliegen Hegels Gefhls, sondern der Erkenntnis und also des theoretischen Vernunftvermçgens. Die Frage ist dann, was sich ber Gott aussagen lsst, auf den das religiçse Gefhl bzw. das Selbstgefhl von Menschen als sein Woher verweist. 43 KGA I/13, 1, S. 300. 44 Vgl. KGA I/13, 1, S. 308 – 312, § 51.

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in dessen Gott-Denken. Allerdings steht die Eigenschaftslehre bei Schleiermacher unter dem Vorzeichen, dass „Gott“ als Index zu verstehen ist und insofern den in allem Denken mit gesetzten, aber nicht ins Denken einholbaren Horizont menschlichen Lebens bezeichnet. Insofern kann nach Schleiermacher Gott auch nicht als Inbegriff des gesamten menschlichen Gott-Denkens begriffen werden. Schleiermachers Gotteslehre und Theologie bekommt damit einen grundstzlich realistischen Charakter, weil eine Identifikation von Gott und Gottesgedanken nicht mçglich ist, sondern diese Differenz gerade offen bleiben muss.

3. Gott als universaler Horizont menschlichen Lebens und die Pluralitt moderner Lebenswelten Deutlich wird unter anderem an diesem Punkt die Stellung Schleiermachers zwischen Neuzeit und Moderne. Zum einen hlt er an einer diskursiven Auseinandersetzung auch auf dem Gebiet der Religion fest. Durch die Eigenschaftslehre wird das jedem Menschen eigene Gefhl, dass es so etwas wie Gott gebe, so in Form von Aussagen kommunizierbar, dass es diskutierbar und kritisierbar wird. Zum andern wird in Schleiermachers Gotteslehre jedoch die Differenz zwischen Gott als dem unbedingten Horizont menschlicher Existenz und dem menschlichen Denken, Reden und Darstellen Gottes konstitutiv. Dadurch kann er die den Religionen eigenen, kulturell und geschichtlich bedingten symbolischen Darstellungsweisen, die in ihrer Eigenart expressiv und nicht diskursiv sind, als berechtigt und in sich stimmig so anerkennen, dass sie nicht wiederum von einer universal zustndigen Vernunft als geschichtliche bergangsphnomene deklariert werden mssen. An diesem Punkt weist Schleiermachers Theologie voraus auf die Moderne, die, wenn man Reinhart Koselleck folgt, schon seit etwa 1770 im Entstehen begriffen ist, oder auch, wenn man beispielsweise Walter Benjamin folgt, erst Mitte des 19. Jahrhunderts beginnt.45 Wie auch immer man hier die Epochen genau abgrenzt, so sind es charakteristische Merkmale, die Schleiermachers Theologie mit der bis heute andauernden Moderne verbinden.

45 Vgl. oben Anm. 1.

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In der Moderne gert der Gedanke der Einheit und der Vermittlung jeglicher Differenzen durch die Vernunft in den Hintergrund. Die Vernunft wird selbst geschichtlich und kulturell kontextualisiert, u. a. mit der Folge, dass sich partikulare Kulturen, Religionen oder Weltanschauungen universal durchsetzen wollen. Whrend neuzeitlich in einem multiperspektivischen Universum die Vermittlung der vielen Perspektiven durch die Konstruktion einer Zentralperspektive gesucht wurde, werden in der Moderne die einzelnen Perspektiven in ihrer historischen Kontingenz als autonom und vollstndig verstanden. Die Moderne ist sich wie die Neuzeit der Vielfalt der Kulturen, Sprachen, Religionen etc. bewusst und pflegt insofern ebenfalls ein universales und globalisiertes Bewusstsein. Allerdings vermag kein vereinheitlichender Standpunkt mehr so zu berzeugen, dass er die Vielfalt vernnftig integrieren kçnnte. Deshalb geht es um die Positionierung der einzelnen Standpunkte und gelegentlich auch um deren imperial oder zumindest hegemonial durchgesetzte Dominanz. Wir sehen nun bei Schleiermacher zum einen das Interesse, alle Phnomene des menschlichen Lebens – also auch die Religionen – im Zusammenhang des Gesamten des menschlichen Geistes zu verstehen und „Gott“ als den universalen Horizont menschlichen Lebens zu verstehen. Zum anderen finden wir bei Schleiermacher eine moderne Anerkennung sowohl der Pluralitt der Lebenswelt als auch der Positivitt des kontingent geschichtlich Gewordenen.46 Sodann spiegelt sich in Schleiermachers Anerkennung der Positivitt des kontingent geschichtlich Gewordenen auch das fr die Moderne charakteristische Zeitverstndnis.47 Zwar gilt in der Moderne das Gegenwrtige (das Moderne) als dem Vergangenen berlegen. Doch andererseits begrndet sich das Gegenwrtige nur aus der Vergangenheit und dem 46 So verfasste er seine Darstellung des christlichen Glaubens „nach den Grundstzen der evangelischen Kirche“ und schickt dieser Lehnstze aus der Ethik voraus, mit denen er die evangelische Glaubenslehre ins Gesamte des menschlichen Bewusstseins einbindet. Die Anerkennung einer nicht weiter vermittelbaren Pluralisierung der Lebenswelt findet sich in Schleiermachers Gesellschaftstheorie, die er in der Ethik entfaltete, in der er auf eine das Leben und Zusammenleben der Menschen vereinheitlichende Organisationsform verzichtete und statt dessen ganz liberal auf eine Pluralitt sozialer Formen setzte: In Staat, Wissenschaft, Kirche und konomie entfaltet sich das menschliche Leben und Zusammenleben nach Gesichtspunkten und Regeln, die diesen vier Bereichen des gemeinschaftlichen Lebens je eigen sind. 47 Vgl. dazu G. Figal: Art. Moderne, in: RGG4, Bd. 5, Tbingen 2002, S. 1376 – 1378.

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geschichtlichen Prozess, indem das jeweils Gegenwrtige das gerade eben erst gegenwrtig Gewesene als Vergangenes (als Frucht des Vergangenen) berbietet. Das Gegenwrtige hat keine andere Begrndung als den geschichtlichen Prozess. Insofern ist das jeweils Neue zwar nur bedingt verbindlich. Allerdings gilt dies auch fr die Vernunft, die sich als innovatives Moment im Prozess der Geschichte zwar selbst behauptet, zugleich aber auch ihre geschichtliche Bedingtheit im eigenen Arbeiten erkennen muss. Wenn das von der geschichtlich bedingten Vernunft hervorgebrachte Neue nun jedoch nicht allgemein verbindlich zu sein vermag, so kann man sich fragen, warum man nicht gleich das Gegebene akzeptieren solle. Die regressive Hinnahme des Gegebenen in Gesellschaft, Kultur und Religion gehçrt ebenso zur Moderne wie das immer wieder neue Setzen von Neuem. In dieser Hinsicht ist Schleiermachers Theologie modern, insofern er die Pluralitt auf dem Gebiet des Christentums und der Religionen als geschichtlich gegeben nimmt und nicht den Versuch macht, diese Pluralitt auf eine im Leben zu realisierende Einheit hin zu berschreiten – sei es durch die bessere Einsicht der Vernunft oder durch imperiale bzw. hegemoniale politische Durchsetzung. Methodisch steht in Schleiermachers Theologie deshalb die Darstellung im Vordergrund48 und nicht die Erklrung oder die Deduktion.49 Damit nimmt Schleiermacher der Tendenz nach vorweg, was dann durch Ludwig Wittgenstein im 20. Jahrhundert philosophisches Programm wurde und auch religionsphilosophisch rezipiert wurde: nmlich der Vorrang der Beschreibung vor der Erklrung.50

48 Dies wird schon im Titel der Glaubenslehre deutlich: „Der christliche Glaube […] im Zusammenhang dargestellt“ (kursiv HPG). 49 Im Blick auf die Ethik hat Emmanuel Hirsch diese methodische Eigenart Schleiermachers eigens festgestellt: „So entsteht Schleiermacher eine Ethik, die rein beschreibend oder ‘erzhlend’ die Gesamtttigkeit der Vernunft auf die Natur in einer Art Organismus von Gesetzen […] zu erfassen sucht“ (E. Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie, Bd. 4, Waltrop 2000, S. 550). 50 Vgl. z. B. L. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, Frankfurt/M 1984, S. 66, § 109: „Alle Erklrung muß fort, und nur Beschreibung an ihre Stelle treten.“

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4. Kritische Rckfragen Im Blick auf meine einleitenden Fragen nach dem Zusammenhang von Gottesverhltnis und Freiheit bleibt die eine oder andere Frage, die an Schleiermacher zu richten wre. Die epochale und immer noch aktuelle Bedeutung des philosophischen und theologischen Werkes Schleiermachers wird gerade durch systematische Rckfragen unterstrichen, die auch durch die gegenwrtigen Problemlagen des Christentums motiviert sind. (1) Schleiermacher hat in seiner Theologie eine Form christlichen Glaubens prsentiert und reflektiert, in der die den Religionen blicherweise zugeschriebene – und nicht nur zugeschriebene, sondern faktisch verbreitete – Heteronomie des Menschen auf ein Minimum reduziert wurde. Allerdings bleibt die Frage, ob er inmitten all seiner Liberalitt nicht gerade in seinem Gottesverstndnis den Gesichtspunkt der Freiheit vernachlssigt und so auch das christliche Leben zu sehr an gegebene Traditionen rckgebunden als nach vorne hin auf eine selbstverantwortliche Gestaltung der Zukunft hin orientiert hat. Im Blick auf die Gotteslehre kçnnte man sich einmal experimentell fragen, ob denn die von Schleiermacher verwendete Methode zur Gewinnung von vier ursprnglichen Eigenschaften Gottes nicht auch anders htte verwendet werden kçnnen. Im Grunde folgt Schleiermacher dabei der via triplex des Dionysios Areopagita. Schleiermacher verwendet vorrangig die via causalitatis, weil diese keine vorausgehende Bildung von Begriffen voraussetze, denn der Begriff der Urschlichkeit stehe mit dem der schlechthinnigen Abhngigkeit „im genauesten Zusammenhange“, so dass „alle in der christlichen Glaubenslehre abzuhandelnden gçttlichen Eigenschaften, da sie nur das schlechthinnige Abhngigkeitsgefhl erklren sollen, auf die gçttliche Urschlichkeit irgendwie zurckgehen mssen“.51 Die beiden anderen Wege des Areopagiten werden von Schleiermacher allerdings nicht fr vçllig unbrauchbar erklrt, sondern der via causalitatis als Ergnzung untergeordnet. Die Eigenschaften Gottes lassen sich nur dann als Modifikationen der gçttlichen Urschlichkeit verstehen, sofern zuvor „das Endliche in der Urschlichkeit verneint“ (via negationis), die „Produktivitt“ der Urschlichkeit aber unbeschrnkt (via emminentiae) gesetzt wird.52 Mit dieser Verwendung der via triplex kommt es zu einer entscheidenden Weichenstellung im Blick auf die Bestimmtheit Gottes und damit 51 KGA I/13, 1, S. 305, § 50.3. 52 Ebd.

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auch des Grundes der sich im Wechselspiel von endlicher Freiheit und endlicher Abhngigkeit vollziehenden menschlichen Existenz. Dies wird besonders deutlich, wenn man einmal probehalber fragt, wohin die via negationis vom Ausgangspunkt beim Gefhl schlechthinniger Abhngigkeit aus fhren wrde in der Frage nach dem Woher des Daseins. Kçnnte das Gefhl schlechthinniger Abhngigkeit – insofern es als solches bewusst ist – nicht genau so gut negativ entschrnkt werden, wie es auf seine mitgesetzte Ursache hin berschritten werden kann? Aus der Entschrnkung des – als solches bewussten – schlechthinnigen Abhngigkeitsgefhls via negationis wrde ein Bewusstsein schlechthinniger Freiheit folgen. Folgte man diesem Weg – der nicht Schleiermachers Weg ist –, dann wre von Gott primr schlechthinnige Freiheit auszusagen. Konsequenterweise wre dann das dem Menschen eigene Bewusstsein endlicher Freiheit in einem Bewusstsein absoluter Freiheit begrndet, das der Mensch nicht im Blick auf sich selbst, sondern allein in Bezug auf Gott htte. Des Menschen begrenzte Freiheit wrde sich dann im Bewusstsein eines Horizontes entschrnkter Freiheit verstehen. Mit der indexikalisch zu verstehenden Rede von Gott wrden sich Menschen dann im Horizont der Freiheit Gottes lozieren und insofern sich ihrer eigenen Freiheit vergewissern.53 In der Rede von Gott wrde dann – im Unterschied zu Schleiermachers eigener Durchfhrung – nicht nur das Woher im Sinne des Ursprungs der Daseinsbedingungen des Menschen und damit seiner endlichen Freiheit zur Sprache gebracht, sondern auch das Woraufhin menschlichen Lebens als dem Gesamthorizont der (endlichen) Freiheit des Menschen. Das religiçse Bewusstsein wre dann – insofern es ein Gottesbewusstsein enthlt – von vornherein auch ein eschatologisches, das auf das Reich der Freiheit ausgerichtet ist. Schleiermacher ist gegenber einem solchen Versuch, vom Gefhl schlechthinniger Abhngigkeit ausgehend das menschliche Leben in den Horizont der Freiheit Gottes gestellt zu sehen, deutlich zurckhaltender. Er enthlt sich weiterer Spekulationen ber den Grund menschlicher Freiheit und menschlichen Lebens. Er versucht nur, den im Gefhl schlechthinniger Abhngigkeit enthaltenen Verweis auf eine schlechthinnige Ursch53 Zu Recht behauptet Jçrg Dierken, dass „die Freiheit des menschlichen Subjekts […] keine substantiell andere sein“ kann „als die des gçttlichen Subjekts. Allenfalls modale Differenzen kçnnen die Freiheit des Absoluten und des Relativen unterscheiden“ (J. Dierken: Zwischen Innen und Außen, Relativem und Absolutem. Dimensionen des Religionsbegriffs, in: Kerygma und Dogma 49, 2003, S. 180 – 209, 205).

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lichkeit sprachlich zu przisieren. Der transzendente Grund des Lebens und der Freiheit des Menschen selbst bleibt dem Menschen jedoch verborgen. Auch fr Schleiermacher gilt, was Walter Schulz im Blick auf Fichtes Sptphilosophie und auf Heidegger formulierte: Das eigene Selbstsein, die Subjektivitt verstanden als ein „sich auf sich stellen“, weist „ber sich hinaus auf ein Sein, das als solches die Subjektivitt grndet, aber in sich selbst unerhellt bleibt.“54 Wir haben es bei Schleiermacher mit einem herausragenden Vertreter negativer Theologie zu tun. (2) Ebenfalls unter dem Gesichtspunkt der Freiheit mçchte ich eine zweite Anfrage an Schleiermachers Theologie stellen. So sehr einerseits der durch und durch antitotalitre Zug in Schleiermachers Theologie und Gotteslehre und also die ffnung der christlichen bzw. evangelischen Theologie fr plurale Ausdrucks- und Reflexionsweisen des Gottesverhltnisses von Menschen zu preisen ist, so ist andererseits zu fragen, ob bei Schleiermacher nicht schon zumindest angelegt ist, was dann ein Grundzug postmodernen Denkens geworden ist: die regressive Hinnahme gegebener Traditionen, Kulturen oder Kontexte, insofern aus dem inhaltlich entleerten Bezug auf Gott als dem Gesamthorizont der eigenen Lebenswirklichkeit keine Wahrheitsansprche abgeleitet werden kçnnen, die das Gegebene in Frage stellen kçnnten.55 Denn das Gegebene – die Traditionen und Kulturen – findet seine Begrndung nur im historischen Prozess. Wenn wir heute auf das „Welt-Christentum“ schauen, dann kçnnen wir beispielsweise sehen, wie in diesem Sinne theologische Allgemeinbegriffe als abendlndische Normierungsversuche des christlichen Glaubens dekonstruiert werden zugunsten kontextuell geprgter Theologien, die ihren Anspruch nicht aus dem Gottesbezug, sondern allein aus der kontingenten Geschichtlichkeit des jeweiligen Kontextes und der diversen Traditionen beziehen. Im Blick auf die Freiheitsgeschichte der Individuen ist dies eine ambivalente Entwicklung. Denn damit rcken zumeist verschiedene Kollektive – seien es Ethnien, Geschlechter, soziale Schichten oder auch kulturelle und religiçse bzw. konfessionelle Traditionen – in den Mittelpunkt, die ihrerseits als neue essentialistische Identittsmuster den einzelnen Menschen ihre Individualitt, ihr Selbst- und Anderssein zu be-

54 W. Schulz: Ich und Welt. Philosophie der Subjektivitt, Pfullingen 1979, S. 245 u. 255. 55 Darin kçnnte Schleiermacher anschlussfhig sein an die Mehrheit der çkumenischen und interkulturellen Theologien der Gegenwart.

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rauben drohen. Theologisch ist damit in der Regel ein Rckfall in den Konfessionalismus und in standardisierte Religionstypen verbunden. Da zugleich die Vernunft als universaler Kommunikationsvollzug – darauf war in der Neuzeit insistiert worden – ignoriert wird, kommt es zu vielfltigen Formen der sthetisierenden (Re)Inszenierung des Heiligen, zum Vorrang des vom splendor veritatis (im besten Falle) erzeugten Eindrucks gegenber sachlichen Argumenten, sowie zu einer Vernachlssigung der berzeugungen von Angehçrigen einer Religionsgemeinschaft zugunsten ihrer religiçsen Authentizitt. Von dieser postmodernen Verstrkung der Moderne her ist zumindest die Frage an Schleiermachers Theologie zu stellen, ob die Tendenz dazu nicht auch in seiner Theologie angelegt ist. Gerade diese kritische Anfrage besttigt nun jedoch nochmals die epochale Bedeutung und Stellung Schleiermachers zwischen Neuzeit und Moderne. Seine Theologie fhrt mitten hinein in die gegenwrtigen Problemlagen des weltweiten Christentums.

Zur christentumsgeschichtlichen Einordnung Schleiermachers Vordenker, Vter und Kirchenfrsten,1 oder: „Kann auch aus Nazareth etwas Gutes kommen“ (Evangelium nach Johannes, Kapitel 1, Vers 46)

Kurt-Victor Selge Die Frage des als Vierter berufenen Jngers Nathanael ist die eines „rechtschaffenen Israeliten“, der sich den Messias-Christus als neuen King David vielleicht aus Jerusalem oder aus Davids Stadt Bethlehem vorstellen kann, aber doch nicht aus Nazareth oben in Galila (woher er selbst und die ersten drei stammten), dazu als Sohn eines Zimmermanns namens Joseph. Und der als Messias nun in Vorschlag gebrachte Nazarener empfindet das eigentlich hnlich, wenn er Nathanael einen rechten Juden ohne Fehl und Tadel nennt, auf den er schon ein Auge geworfen habe. Aber der Nazarener hat nun eben doch – allem historisch begrndeten Zweifel zum Trotz – 1

Von den drei vorgeschlagenen Titeln hat Schleiermacher den ersten nach Krften erfllt. Den dritten, am fremdartigsten anmutenden, den eines „Kirchenfrsten“, hat er am programmatischen Beginn seiner zweiten Berliner Laufbahn als Dreifaltigkeitspfarrer, Theologieprofessor und Akademiemitglied (und als solcher Universittslehrer auch in der philosophischen Fakultt) als Leitbegriff aufgestellt: Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen entworfen von F. Schleiermacher, Berlin 1811, Vorwort datiert „im December 1810), also im ersten Semester. Der Autor stellt sich zugleich formell umfassend vor als „der Gottesgelahrtheit Doctor und çffentl. Ord. Lehrer an der Universitt zu Berlin, evang. ref[ormirter] Prediger an der Dreifaltigkeitskirche daselbst, ordentl. Mitglied der Kçnigl. Preuß. Und corresp. der Kçnigl. Bairischen Akademie der Wissenschaften“. KGA I/6 (1998), S. 44,48, § 9: „Beides, religiçses Interesse und wissenschaftlicher Geist, im hçchsten Grade und im mçglichsten Gleichgewicht zur Theorie und Ausbung vereint, ist die Idee eines Kirchenfrsten.“ In der 2. Auflage 1830 tritt die Erluterung hinzu: „Diese Benennung fr das theologische Ideal ist freilich nur angemessen, wenn die Ungleichheit unter den Mitgliedern der Kirche groß ist, und zugleich ein Einfluß auf eine große Region der Kirche mçglich. Sie scheint aber passender als der schon fr einen besonderen Kreis gestempelte Ausdrukk Kirchenvater, und schließt brigens nicht im mindesten die Erinnerung an ein amtliches Verhltniß in sich.“ KGA I/6, S. 329 f.

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Unerhçrtes zu bieten. „Von nun an werdet ihr den Himmel offen sehen“ (v. 51). Die johanneische Berufungsszene ist mir eingefallen, weil ich meinen Zweifel ber die rechte Verortung „unseres Schleiermacher“2 etwas verfremden wollte. Der Zweifel lautet: Kann denn ein reformiert-unierter Schlesier bzw. Preuße und gelernter Berliner mit den drei so bezeichnenden Vornamen Friedrich – nach dem alten Fritz, der der oberste Dienstherr und unglubige Summepiskopus seines Vaters, des reformierten und lange Zeit unglubigen Feld- und Hofpredigers Gottlieb Adolf Schleyermacher, gewesen war –, Daniel (nach dem Vater dieses Vaters, einem notorischen unglckseligen Elberfelder pietistischen Sektenprediger) – und schließlich Ernst (nach dem ehrenwerteren Patenonkel und Bruder der Mutter, dem theologisch und philologisch beschlagenen reformierten Gymnasiallehrer und Professor Stubenrauch in Halle, zuletzt Prediger in Landsberg an der Warthe), – kann also dieser 1786 etwas unglcklich aus Herrnhut entwichene, weil in dem dortigen Bildungsmilieu nicht glcklich gewordene Fritz Schleiermacher, der die bekannte große Berliner Karriere machte und seinen nicht unumstrittenen Ruf erwarb und dabei sehr viel an Texten zum Druck brachte, viel mehr aber noch ungedruckt mit dem Gesamteindruck

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„Unser Luther“, sagt der reformiert strukturierte doch protestantisch-uniert gesinnte Schleiermacher gelegentlich und bezeichnet damit eine gemeinsame vom rçmischen Katholizismus unterschiedene Auffassung des Christentums, hinter die es zumal nach den Fortschritten der Aufklrung kein Zurck mehr geben kçnne, nur ein Vorwrts zur immer tieferen Ausbildung und Ausmittlung der eigenen Wesenszge der Konfessionen, wobei er der griechischen und russischen Orthodoxie gar keine Zukunftsfhigkeit zuzutrauen scheint. Dies kann nunmehr im einzelnen genauer studiert werden an der Bestandserhebung, die Schleiermacher fr seine Vorlesungen zur Kirchlichen Geographie und Statistik vorgenommen hat, siehe Anm. 24 in meinem Beitrag „Neander und Schleiermacher“ (unten S. 109). Vgl. Schleiermacher: Der christliche Glaube 1821 – 1822 (KGA I/7, 1, 1980), § 27: „Der Protestantismus ist in seinem Gegensaz zum Katholizismus nicht nur als eine Reinigung […], sondern auch als eine eigenthmliche Gestaltung des Christenthums anzusehen“, S. 97, Z. 29 ff.). Der protestantisch-aufgeklrt-unierte Klang der Rede Schleiermachers von „unserem Luther“ unterscheidet sich wesentlich von der Berufung auf Luther in der das 20. Jahrhundert beherrschenden großen Bewegung der sogenannten „Luther-Renaissance“, die mit dem Namen des Berliner Kirchenhistorikers Karl Holl (1866 – 1926) und seiner engeren „Schule“ verbunden ist, diese aber weit berschreitet und auch durch die „Schleiermacherrenaissance“ keineswegs verdrngt wird, gleichwohl aber ebenso wie auch diese und alle Renaissancen einer Relativierung und Eingrenzung bedarf.

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seiner Gestalt der Erinnerung hinterließ,3 tatschlich eine Rolle als gemeinprotestantischer und darber hinaus auch çkumenischer Wegweiser 3

Fr all diese biographischen Bezge finden sich die Belege vom Jahr 1774, in dem Schleiermacher am 21. November sein sechstes Lebensjahr vollendete, bis zum Jahr 1806, an dessen Ende Schleiermacher nach der preußischen Niederlage gegen den „Volks-“Empereur“ Napoleon Bonaparte in der Schlacht bei Jena und Auerstedt mit der Aufhebung der Universitt Halle durch denselben seine gerade erst 1804 begonnene Existenzgrundlage als akademischer Lehrer der Theologie verlor, in den von 1985 bis 2008 unter meiner Leitung in Berlin in ruhiger Abfolge von je drei Jahren erschienenen acht Briefbnden mit ihren gut 2000 Briefen an und von Schleiermacher. Vollenden wird sich dieser erste Briefzyklus mit dem 2011 in den Druck gehenden neunten Band, der den Briefwechsel bis zu Schleiermachers endgltigem bergang nach Berlin im Jahr 2008 enthalten wird, aber immer noch nicht den Anschluss an die endgltige Anstellung als Professor an der im Winterhalbjahr 1810/11 ins Leben tretenden Berliner Universitt erreicht. Auf diese Universitts- und Fakulttsgrndung mit ihren Forschungsaufgaben zielte mein eigenes Interesse ber die mehr als 25 Jahre meiner Leitung der Berliner Schleiermacherforschungsstelle hin, zunchst bis 1994 bei der Kirchlichen Hochschule Berlin in Zehlendorf, ab 1994 als Langzeitvorhaben an der neugegrndeten BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften am Gendarmenmarkt in Berlin-Mitte. Es war der Wille der Senatsverwaltung fr Bildung, Wissenschaft und Forschung, dass die Schleiermacheredition erst von der in Westberlin 1987 gegrndeten „Akademie der Wissenschaften zu Berlin“ als Langzeitvorhaben bernommen werden sollte, dann nach deren rascher Wiederauflçsung und dem bald darauf eintretenden Fall der Mauer von der 1993 neugegrndeten „vormals Preußischen“, nunmehr „Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften“. Ebenso war es der Wille und Beschluss der kurzlebigen Westberliner Akademie von 1987, dass an dieser Schleiermacherforschungsstelle außer dem seit 1979 dort edierten Briefwechsel auch eine neue Abteilung – nmlich die der „Vorlesungen“ – erçffnet und bearbeitet werden sollte, fr die mit Prof. Walter Jaeschke ein dritter Editor angestellt wurde. Da diese Stelle mit der Wegberufung Jaeschkes 1998 aus verschiedenen Grnden wegfiel, musste und konnte ich eine nochmalige Fçrderung der Edition zweier „empirischer“ Kollegs durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft erreichen und damit zugleich eine qualifizierte Nachfolge fr den die Altersgrenze erreichenden germanistischen Editor sichern; außerdem ist es ein Erbe und Vermchtnis der Westberliner Akademie der Wissenschaften, dass der philosophische Editor Prof. Andreas Arndt durch mich in den Stand gesetzt wurde, seinem Forschungsinteresse entsprechend, die hochbedeutsamen Vorlesungen Schleiermachers zur Dialektik praktisch unter dem Titel einer „Nebenarbeit“ ber viele Jahre hin fertigzustellen. Gunst und Verstndnis habe ich im zustndigen Ausschuss der Akademien fr die Langzeitvorhaben bedauerlicherweise nicht gefunden; aber die im Druck erschienenen Ergebnisse sprechen fr sich selbst. Der Wissenschaft wurde auf bleibende Weise gedient. Vgl. auch die in meinem dem vorliegenden Band beigegebenen Aufsatz „Neander und Schleiermacher“ angefhrten ußerungen der Kollegen Schleiermachers, De Wette und Neander, ber die Bedeutung der philosophischen Disziplin der Dialektik, ber die

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fr eine kirchlich und christlich verantwortete Zukunft der Welt spielen, eine Rolle, die die historischen Rume Preußens, im weiteren Verlauf auch den Raum Deutschlands oder gar des deutschen „Reiches“ mit ihren geistigen Ablegern bersteigt? Eine solche Rolle wird ihm seit nun schon ber dreißig Jahren von ein bis zwei Handvoll evangelischen Dogmatikern und Praktischen Theologen zugetraut. Sie sind meist an deutschsprachigen und damit staatsgetragenen Evangelisch-Theologischen Fakultten beheimatet und sind international umgeben von einem Kranz ausgewhlter Skandinavier, Niederlnder und liberaler US-Amerikaner; hinzu kommen einige wenige Theologen-Philosophen aus romanischen Lndern Europas, die als Außenseiter im katholischen und mehr oder weniger antiklerikalen Milieu ihrer Lnder sich mit lobenswertem Eifer der Aufgabe hingeben, den protestantischen Fremdling unter ihren eigenen katholisch-çkumenischen und reformgesinnten Konfessions- und Sprachgenossen als Gesprchspartner einzufhren.4 Trauen sie ihm eine solche Rolle mit Recht

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Schleiermacher als vorlesungsberechtigtes Mitglied der 1809 neugestalteten Kçniglich-Preußischen Akademie der Wissenschaften seine Vorlesungen in der Philosophischen Fakultt hielt, fr Schleiermachers Vereinigung der Rolle eines philosophischen Wissenschaftstheoretikers mit der eines Reformers der „positiven“ Wissenschaft der Theologie, in der er ohne Zweifel epochemachend wirkte. Einige italienische Philosophen/Theologen wie Giovanni Moretto in Genua, Sergio Sorrentino in Neapel und Roberto Osculati (Cagliari, jetzt Catania) haben schon zum 150. Todestag Schleiermachers zum Internationalen SchleiermacherKongress Berlin 1984 beigetragen, dessen Akten in zwei Bnden 1985 im Druck erschienen sind; im gleichen Gedenkjahr widmete das von Marco M. Olivetti herausgegebene Archivio di Filosofia seinen ganzen Jahrgang LII dem Thema Schleiermacher. Unter den franzçsischen Forschern kam spter u. a. Denis Thouard mit bemerkenswerten Beitrgen hinzu. In der deutschen katholischen Theologie kann der Impuls nicht bersehen werden, der schon um 1820 von Berlin und Schleiermacher aus auf die modern-alternative Bearbeitung der kirchlichen „Symbolik“ durch Johann Adam Mçhler ausging und in der „Tbinger Schule“ weiterwirkte; dass die Vorstellung einer „Dogmenentwicklung“ in der neueren katholischen deutschen Theologie vor allem im Umkreis Karl Rahners unter dem Einfluss schleiermacherischer Gedanken weiterentwickelt wurde, hngt mit dem katholisch-theologischen Reformaufbruch unter dem Pontifikat Pius’ XII. und seiner Nachfolger zusammen, der trotz aller Reformwiderstnde und Rckschlge die theologische Gesprchslage doch bleibend so verndert hat, dass die Vermeidung eines „Fundamentalismus“ auch unter Benedikt XVI., dem einstigen Konzilsberater Josef Ratzinger, zu den Leitlinien seines auf Sicherung und Bewahrung der erhaltenswerten Tradition gerichteten Pontifikats gehçrt. Freilich kann von einer Auflçsung der verschiedenen Konfessionstypen keineswegs die Rede sein, wie die Geschichte der letzten 30 Jahre – etwa seit dem Confessio-Augustana-Jubilum 1980 – sattsam lehrt. Eine solche htte auch Schleiermacher nicht erwartet, son-

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zu? Die Erwartung an ihn hat aber noch andere Facetten. Kann und sollte sich Berlin mit Schleiermacher und seinen Gesprchspartnern und „FreundInnen“ – ich verwende hier aus polemischem Grund ausnahmsweise einmal das an sich perhorreszierte „inklusive“ Monster neudeutscher Schriftsprache – als einer bedeutenden Grçße aus Preußens großer Zeit von Erniedrigung und Aufstieg brsten, als einem „Klassiker“ im Rahmen einer neuerfundenen „Berliner Klassik“,5 wie ein hiesiges Arbeitsgruppen- und Forschungsprojekt heißt? Kurz und brsk lautet die Frage so: Kann denn aus Preußen und nherhin aus Preußen-Deutschlands vielfltig belasteter Hauptstadt auch in jenen Jahren der hier gesuchten „Berliner Klassik“ (1786 – 1815) ein Kirchenvater des „langen“ 19. Jahrhunderts (bis 1914) und erneut fr ein drittes christlich-nachchristliches Millennium (beginnend etwa mit dem Abklingen der Episode des Barthianismus, der dem vom Berliner Generalsuperintendenten Otto Dibelius 1926 ausgerufenen „Jahrhundert der Kirche“ fr einige Jahrzehnte gelehrtes Ansehen zu geben schien), symbolisiert etwa mit dem 1968 erfolgten Ableben des großen Baselers, erwartet werden? Msste man Schleiermacher dieser Erwartung zufolge etwa – oder etwa nicht? – als eine maßgebliche Gestalt nicht fr mitteleuropischen Protestanten allein ansehen, sondern fr ein neues

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dern eher eine Art „asymptotischer Konvergenz“ in der Unendlichkeit der Zukunft. Darin unterschied er sich deutlich von seinem Fakultts- und spter auch Pfarramtskollegen Philipp Marheineke, der in seiner Symbolik – einem frhen Werk – noch spekulierte, im Verlauf von 100 Jahren – also etwa um die Zeit des ersten Weltkrieges herum – wrden sich die christlichen Konfessionstypen des europischen Raums (die russische Orthodoxie nicht eingerechnet) aufeinander zu bewegt haben. Ich halte also das Berliner Akademieprojekt „Berliner Klassik“, dem Namen, nicht dem vorhandenen Material nach, fr eine forschungsstrategische „Erfindung“, die sich als „Klassik“ aber nicht durchsetzen wird. Dass es zwischen dem Tod Friedrichs II., den man m. E. ruhig weiter als „großen Kçnig“ anerkennen kann, und dem Sieg ber Napoleon bei Waterloo in Berlin eine vielfltige „Szene“ in Bewegung gab, die nicht auf die berschtzte „Salonkultur“ wohlsituierter jdischer Damen und Hausfrauen beschrnkt ist, ist keine neue Erkenntnis. Es hngt mit der Krise des Machtstaates Preußen in diesen Jahren von Stagnation, sich vorbereitender Niederlage, danach Lavierens und Erholung bis zur plçtzlichen militrischen und quasi religiçs-nationalen „Erhebung“ zusammen. Schleiermachers sich ab 1819/20 immer mehr verdsternde Berliner Existenz zeugt wahrlich nicht von einer Raum gewinnenden Brgerkultur. Die beiden vermçgenden Humboldts wurden zu „Klassikern“, indem sie sich Ende des 18. Jahrhunderts als junge Leute an Goethe in Weimar anschlossen und seinen Beifall erhielten. Sie gehçren als solche also zu den Ausstrahlungen der „Weimarer Klassik“ (die freilich zu ihrer eigentlichen Zeit so „klassisch“ auch nicht war und nicht als solche gerhmt wurde).

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Zeitalter der christlichen Religion berhaupt, was am Ende doch hieße, fr Russen, Georgier, Armenier, Serben, Griechen und Kopten genau so wie fr die weltweiten Heerscharen der Una sancta catholica et apostolica mit ihren polnischen, deutschen und weiter zu erwartenden andersfarbigen Ppsten, zu schweigen von dem weiten Missionsfeld der afrikanischen und asiatischen Jungen Kirchen?6 Von dem unvergessenen Begrnder der Kritischen Gesamtausgabe Schleiermachers, Hans Joachim Birkner (1931 – 1991), habe ich das beilufige Wort im Ohr, diese sei ein Vorhaben fr Jahrhunderte. Er meinte nicht, dass die Kritische Gesamtausgabe editorisch nicht fertig werden solle, sondern dass Schleiermachers Gedanken so lange Zeit brauchen wrden, um ihr reformerisches Potential in einer Umformung der christlichen Denk- und Sprachwelt zu entfalten, um also zum Beispiel alle Aussagen von Bibel und Tradition ber Gott und die Welt in die ihnen sachlich eigentlich im Kern zugrundeliegende elementare Form von Aussagen ber den Menschen umzugestalten und so zu einer grundlegend erneuerten Sprache der christlichen Religionsgemeinschaft zu werden.7 Man kçnnte hier von dem Projekt einer berwindung des christlichen Fundamentalismus sprechen, der ja die Form eines konservativen Dogmatismus oder eines massiven Wort-Gottes-Positivismus oder auch einer pfingstlichen Erweckungsbewegung annehmen kann. Mit Schleiermacher selbst gesprochen, msste man realistisch hinzufgen: dies sei die Aufgabe einerseits der aus der evangelischen Kirchenreformation „unseres Luther“ hervorgegangenen „neuen Ausformung bzw. „eigenthmlichen Gestaltung des Christenthums“,8 ganz unberhrt von dem eigenen Lebensgesetz des rçmischen Katholizismus und ganz zu schweigen 6

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Schleiermacher spricht diese Problematik in der Einleitung seiner Glaubenslehre kurz an, in der er den „abendlndischen“ gemeinsamen Charakter des Gegensatzes von Katholizismus und Protestantismus und das Recht des letzteren als sozusagen innerabendlndischer notwendiger Alternative zur bleibend auch anzuerkennenden prinzipiellen rçmisch-katholischen Ausformung der Idee des Christentums aufstellt. Schleiermacher: Der christliche Glaube, KGA I/7, 1 (1980), § 34, S. 120, Z. 2: Die „Grundform“ dogmatischer Stze beschreibt „menschliche Zustnde“; Stze ber gçttliche Eigenschaften und Beschaffenheiten der Welt sind nur von dieser Grundform abgeleitet richtig zu verstehen und lassen sich nur deswegen „aus einem christlichen Lehrgebude nicht ausschließen“, weil es damit „seine geschichtliche Haltung und also seinen kirchlichen Charakter verlçre“. Das gilt freilich nur analytisch, nicht in der praktischen christlichen Rede und Gottesdienstgestaltung, in der es allerdings darauf ankommt, den Zusammenhang aller Stze ber Gott und Welt mit der „Grundform“ nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Siehe oben Anm. 2.

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von dem Ritualismus des griechischen Christentums. Luther und der ganze Protestantismus stnden demgemß und der Wahrheit nach an der Spitze des neuzeitlichen und auf die Menschheit als ganze zielenden Verwandlungsprozesses und Progresses. Die Erwartung ist hier offenbar, dass die Entwicklungslinien der verwandt-verschiedenen Konfessionen sich gleich Parallelen asymptotisch in der Unendlichkeit berhren werden. Mir fllt dabei aus meiner Berliner Lehrttigkeit auch der so andere Zeithorizont des dann bald nach Hegels Ankunft in Berlin (1819) in dessen Denksystem verhedderten Kollegen Schleiermachers ein, Philipp Konrad Marheineke (1780 – 1846), den die Studenten seines gravittischen Vortrags und Auftretens wegen auch den „Kardinal“ nannten. Marheineke, der 1816 und zum Reformationsjubilum auch eine Geschichte der „teutschen Kirchenreformation“ geschrieben hat, machte sich vorher mit einer „Symbolik“, also historischen katholischen Konfessionsdarstellung,9 einen Namen, in der er eine knftige Konvergenz von Protestantismus und Katholizismus etwa in einem Jahrhundert prognostizierte. Also im Ersten Weltkrieg. Es liegt vielleicht eine gewisse Wahrheit (zwischen „Unendlichkeit“ und Jahrhundertfrist) in der Mitte der „çkumenischen“ Positionen dieser beiden Berliner Professoren- und Pfarramtskollegen, die einander gegenberliegend ihre Grabsttte auf dem Berliner Dreifaltigkeitsfriedhof an der Bergmannstraße gefunden haben: denn hat nicht im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts der Gedanke der Dogmenentwicklung und der Verfassungsentwicklung insgesamt in der katholischen Theologie (nicht nur bei Karl Rahner S.J., 1904 – 1984) seine katholische Aneignung und Ausformung gefunden?10 Sind nicht die Ausleger beider Testamente auf der philologisch-historischen Ebene seit Jahrzehnten ber den konfessionellen Gegensatz hinausgewachsen? Freilich bedeutet Einigkeit im „Text“ nicht Einigkeit in „Wort und Glauben“, und gemeinsame 9 Ph. K. Marheinecke: Das System des Katholizismus in seiner symbolischen Entwicklung, Bd. 1 – 3, Heidelberg 1810 – 1813. Das Symbolikprojekt des Gçttinger Schlers von Planck und Studlin war allumfassend, wie der Obertitel zeigt. ber den meist unterschtzten Marheineke ist lehrreich noch der Artikel von Gustav Frank in: Protestantische Realencyclopdie, Bd. 12, 31903, S. 304 – 309; zur Beurteilung weiterfhrend Volker Drehsen in: Theologische Realenzyklopdie, Bd. 22, 1992, S. 112 – 115. – G. Frank gibt an, die Namensform Marheineke gelte erst ab 1823. Eine eingehende biographisch-theologische Darstellung im Rahmen der Fakulttsgeschichte bis zum Todesjahr 1846 (oder bis zum Todesjahr Neanders, 1850, oder dem Todesjahr Hengstenbergs, 1869) wre meines Erachtens aufschlussreich und hçchst aktuell. 10 Siehe Winfried Schulz: Dogmenentwicklung als Problem der Geschichtlichkeit der Wahrheitserkenntnis, Rom (Universit Pontificia Gregoriana) 1969.

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biblische Philologie ist lngst nicht gemeinsame biblische Theologie. Die katholische Frage lautet nach wie vor: Wie halten es die Protestanten mit dem „Sakrament der Einheit“, dem „Petrusamt“? Eine partielle Konvergenz in der biblischen Theologie ist nicht zu leugnen, ein entsprechender gesamthermeneutischer Mauerfall aber liegt in unbekannter Ferne. Und doch muss man mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962 – 1965) doch eine Zsur symbolisiert denken, die meine verflossene Lebenszeit vom zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts bis zum in Deutschland jngst durch eine protestantische „Luther“-Gedenkdekade (2008 bis 2017) markierten, zuvor schon als Millenniumszsur gefeierten neuen Jahrhundert zu einer çkumenischen Wende- oder Inkubationszeit von etwas çkumenisch Neuem auch in Schleiermachers und Marheinekes Sinn zu machen scheint. Ich meine, im rçmisch-katholischen Heiligen Jahr 1950 konnte Papst Pius XII. noch ex cathedra unfehlbar ein neues Mariendogma verknden und bei Protestanten die Befrchtung eines drohenden weiteren solchen (von Maria als der „Miterlçserin“ der Menschheit) erwecken. Vierzig Jahre nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil scheinen solche ngste gegenstandslos geworden zu sein, und ein als konservativ geltender deutscher Papst wie Benedikt XVI. kann 2008 auf einer Besuchsreise in Frankreich, die ihn zur Begegnung mit Massen von Jugendlichen in Paris, mit Vertretern der Kultur in kleinerem Kreis und danach im 150. Gedenkjahr der dort geglaubten Erscheinungen an den Marienwallfahrtsort Lourdes fhrt, das populr gewordene Stichwort vom „Fundamentalismus“ in den Munde nehmen, vor dem es sich also offenbar auch im rçmischen Katholizismus zu hten gelte.11 Auf der anderen Seite hat bekanntlich Schleiermacher als (wie er sagte: „dilettierender“) Philosoph in seiner Dialektik (der universalen Verfertigung des Wissens) wie in seiner philosophischen Ethik (der Bildung der Menschheit zur Vernunft) die Lehre vom Ende der Welt und den letzten Dingen ganz auf die humane Binnenperspektive beschrnkt und vier nahezu unerreichbare, aber regulativ wirkende Zielperspektiven formuliert, zu denen neben dem „ewigen Frieden in der wohlverteilten Herrschaft der Vçlker ber die Erde“ auch eine Annherung an die vollkommene Idee des Himmelreiches Gottes in einer versçhnt vielfltigen freien Gemeinschaft des frommen Glaubens aller zu ihrer Vollkommenheit gelangten Kirchen 11 Pariser Ansprache vom 12. September 2008: Die eigentmliche Struktur der Bibel „schließt von ihrem Wesen her all das aus, was man heute Fundamentalismus nennt. Denn das Wort Gottes selber ist nie einfach schon in der reinen Wçrtlichkeit des Textes da.“ Alles im Internet zugnglich.

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und Religionen gehçrt. Freilich stellt Schleiermacher es sich so vor, dass eine der echten Religionen, „die auf einem krftigen Bewusstsein ruht, den Preis davontrgt sich allgemein zu verbreiten.“12 Das ist wieder eine sehr neuzeitlich-protestantische Zukunftsvision, die sich auf ihre Weise gut zu dem gleichzeitigen europisch-nordamerikanischen Frhling der Weltmission fgt.13 Schleiermacher steht mit ihr als ein theoretisch berlegener Partner der gemeinwestlichen Erweckungsbewegungen und des Aufgehens des modern sich bildenden „westlichen“ Ju12 Schleiermacher: ber den Begriff des hçchsten Gutes, Zwei Akademieabhandlungen 1827 und 1830. KGA I/11, S. 539 – 553, auf S. 552, Z.12ff: „wird doch die Wirksamkeit der Vernunft erst ihre Selbstoffenbarung, wenn der Geist seine berirdische Heimath darin kund giebt, vermçge deren er das ewige und einfache, das schlechthin seiende, auf eine geheimnißvolle Weise in sich trgt. Alles dieses ist Eins, und keines ohne das andere; aber je nachdem wir den einen Standpunkt nehmen oder den andern, erscheint das hçchste Gut bald als das goldene Zeitalter in der ungetrbten und allgengenden Mittheilung des eigenthmlichen Lebens, bald als der ewige Friede in der wohlvertheilten Herrschaft der Vçlker ber die Erde, oder als die Vollstndigkeit und Unvernderlichkeit des Wissens in der Gemeinschaft der Sprachen, und als das Himmelreich in der freien Gemeinschaft des frommen Glaubens, jedes von diesen in seiner Besonderheit dann die anderen in sich schließend und das Ganze darstellend“ (Erste Abhandlung 1827); „Daher, wenn wir das Verbundensein verschiedener Vçlker in Einen Staat nur als einen Durchgangszustand ansehen kçnnen, jedes Bestreben aber, einen Universalstaat aufzurichten, fr Unsinn erklren; wenn wir ebenso auch den Gedanken, ein einiges System des Wissens trotz der Diversitt der Sprache geltend zu machen, als eine falsche Tendenz bald wieder aufgeben: so finden wir es dennoch natrlich, dass jede Religion, die auf einem krftigen Bewusstsein ruht, auch darauf ausgeht sich allgemein zu verbreiten. Ja wir sehen hier die Vollendung nur darin, dass wirklich eine derselben in der Weltgeschichte diesen Preis erreiche, wenn sie sich dann auch, was ihre Darstellungsmittel betrifft, wieder auf mancherlei Weise theilen muß […] Denn das Himmelreich ist nur als Eine, alle Einzelnen gleichsam in einander auflçsende Gemeinschaft des tiefsten Selbstbewusstseins mittels geistiger Selbstdarstellung in ernsten Kunstwerken gesetzt; aber die Vollstndigkeit und bezugsweise dann auch Unvernderlichkeit des Wissens getrauten wir uns nicht eben so als Einheit, sondern nur in der Wechselwirkung einer neben einander fortbestehenden Mehrheit, zu denken“ (Zweite Abhandlung 1830, S. 676, Z. 31; S. 677, Z. 12 und weiter bis zum Ende) 13 Ich nenne hier als einen aus dem Baptismus stammenden Missions- und Kirchenhistoriker des 19. und 20.Jahrhunderts den Nordamerikaner Kenneth Scott Latourette (1868 – 1964) mit seinem Monumentalwerk A History of the Expansion of Christianity, vol. 1 – 7, 1937 – 1945, das dieses Sendungsbewusstsein des europisch-nordamerikanischen 19. und der ersten Hlfte des 20. Jahrhunderts gewissermaßen auf seinem Kulminationspunkt kurz vor dem Absturz, den man etwa mit der Aufgabe des englischen Dominions Indien im Jahre 1947 symbolisieren mag, noch einmal verkçrpert.

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dentums in einer Religion der deutschen Klassik da, die man in dem ungebrochen protestantischen, Luther, Bach, Goethe und Beethoven verschmelzenden musikalisch-oratorischen Schaffen Felix MendelssohnBartholdys gerade im laufenden 150. Jahr seit seiner Geburt (1809) vergegenwrtigen kann. Es gehçren dazu ja ein Paulusoratorium und eine im Lutherchoral „Ein feste Burg ist unser Gott“ pompçs endende „Reformationssinfonie“.14 Dabei ist zu beachten, dass hier auch Differenzen bestehen. Schleiermachers zukunftweisende und theoretisch klare Trennung von Staat und religiçser Gemeinschaft umfasst zwar als unabdingbaren Teil religiçser Erfahrung die çffentliche Selbstdarstellung und das Finden von gleichgestimmten Seelen; sie lsst aber keinen drngenden Proselytismus außer eben der freien Selbstdarstellung der religiçsen Gestimmtheit eines jeden religiçs nicht „unmusikalisch“ auf die Welt gekommenen Geistes zu.15 Aber auf Mitteilung drngt in seiner Auffassung doch alles, und wie kann man sich einen Universitts- und Schullehrer, einen Vater eigener und Konfirmator fremder Kinder, einen unablssigen Prediger ohne die stndig 14 Bezeichnend ist, dass diese Sinfonie in den protestantischen Stammlanden im 20. Jahrhundert kaum Auffhrungen gefunden hat, dagegen eine Aufnahme des Italieners Arturo Toscanini auf dem Markt erhltlich ist. Mir selbst ist es erst 2009 gelungen, meine Neugier durch eine in Berlin erfolgte Auffhrung zu befriedigen, die gewiss die Fhigkeiten des Komponisten besttigte, die sthetischen Bedenken dagegen nicht ausrumen konnte, zu schweigen von einem theologisch-religiçsen Vorbehalt. Es ist eben ein Zeugnis des vermeintlichen und erhofften Angekommenseins des hochbegabten Familienerben in der Kulturwelt protestantischdeutscher „Weimarer Klassik“. hnliche Vorbehalte kann man auch gegenber dem Mitte der 1830er Jahre entstandenen Oratorium Paulus hegen, whrend das zehn Jahre spter gewissermaßen als ein Vermchtnis entstandene Elias-Oratorium authentischer im Sinne aufgeklrten und berkonfessionellen jdisch-protestantischen Empfindens anmutet. Felix Mendelssohn-Bartholdy (1809 – 1847) ist jedenfalls gewiss kein Zeuge mehr fr eine so zu benennende „Berliner Klassik“, sondern vielmehr an ihre Zeit anschließende Mlange von protestantischer Erweckung und „Weimarer“ Fortschrittshoffnung auf einen „gereinigten“ Glauben – wofr man seine neuerdings çfter aufgefhrte 2. Sinfonie mit dem Titel „Lobgesang“ oder auch seine Kantate auf Goethes Ballade „Die erste Walpurgisnacht“ als Belege heranziehen kçnnte. 15 Der Ausdruck ist von Jrgen Habermas in seiner Rede zum Dank fr die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2001 in der Frankfurter Paulskirche auf sich selbst angewendet worden und hat seither bis zum Gesprch mit Josef Ratzinger 2004 verschiedene Erçrterungen erfahren, ber die das Internet bequem unterrichtet. Die Verwandtschaft der schleiermacherschen sozusagen „lebensbegleitenden“ Religionsauffassung mit dem musikalischen Empfinden schon in den Reden ber die Religion 1799 ist bekannt genug.

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anwesende Frage der rechten Einwirkung auf andere vorstellen! Die Rekrutierung und Heranbildung Gleichgesinnter muss sich aber dabei wie unabsichtlich ergeben. Der junge Kirchenhistoriker Mendel/Neander, der von 1813 bis 1850 in Berlin neben und nach Schleiermacher zum „Vater der modernen Kirchengeschichtsschreibung“ (F.C. Baur) mit internationaler Ausstrahlung (in der westlich-christlichen Welt der Erweckungsbewegung) heranwuchs, hat an der Missionsbewegung – anders als Schleiermacher – den intensivsten Anteil genommen. Von der vom Hof gefçrderten neuen Judenmissionsgesellschaft dagegen hat er sich – ebenso wie Schleiermacher – ferngehalten; denn es fehle den Juden nicht an der Mçglichkeit, das Christentum kennenzulernen.16 Soviel zum „Einerseits“, der christlich-kirchlichen Zukunftsperspektive in Schleiermachers Sinn. Dieser innerweltliche theoretische wie praktische Zukunftsoptimismus ist dem 20. Jahrhundert bekanntlich abhanden gekommen; in der Wissenschaft vom Neuen Testament bildet den Markstein die Studie des Schwiegersohnes von Albrecht Ritschl (1822 – 1889), Johannes Weiß (1863 – 1914), ber „Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes“ (1892)17 mit dem Nachweis des eschatologisch-endgeschichtlichen, aus der jdischen Apokalyptik abzuleitenden Charakters der Reich-Gottes-Erwartung Jesu. In der Epoche der beiden Weltkriege und fr mindestens 20 Jahre nach ihnen hatte die christliche Verkndigung der evangelischen Theologie den eschatologischen Charakter der Predigt der Kirche wie der christlichen Existenz immer zu beachten,18 und man muss sich doch fragen, auch ohne sich als Untergangspropheten sehen zu wollen, wie man in der Nussschale einer kaum mehr als sechstausend Jahre alten erinnerten Menschheitsgeschichte den Gedanken einer kontinuierlichen Evolution als Universalgeschichte naturgeschichtlichen Ausmaßes ohne Anfang und Ende auch nur denken soll. Schon das so oft gebrauchte suggestive Bild eines „Ur16 Siehe Selge: August Neander (zit. in diesem Bande in Selge: Neander und Schleiermacher, S. 101 Anm. 1), S. 241. Zur Drftigkeit der von England her angeregten preußischen Judenmission in den Jahrzehnten von Neanders Wirksamkeit in Berlin siehe Viola Schrenk: „Seelen Christo zufhren“. Die Anfnge der preußischen Judenmission, Berlin 2007 (Studien zu Kirche und Israel 24). 17 2. Aufl. 1900; 3. Aufl. 1960. 18 Ich halte diese Wendung brigens fr prinzipiell unhintergehbar, nur vom Siegerpathos zu reinigen, das die neue Bekenntniskirchlichkeit der zweiten Nachkriegszeit zu ihrem Nachteil geprgt hat – auch eine negative Folge der in der Hitlerzeit und in ihrer Folge eingetretenen Verzerrung der geistigen Lage im deutschen Protestantismus.

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knalls“ fordert ja als komplementre Vorstellung am anderen Ende so etwas wie einen Endkatastrophe in Gestalt etwa einer Ex- oder Implosion heraus, und wenn die Verkndigung eines Gottesreiches als Zielvorstellung der Vollendung einen Sinn haben soll, die auf der anderen Seite schon „anfngt“ oder „mitten unter uns“ ist,19 so wird sie doch den Charakter von etwas berraschendem in der Zeit, das keinesfalls einfach auf der Linie ungetrbter und unwiderruflicher natrlicher und auch vernnftiger Evolution liegt, niemals vergessen kçnnen. „Religion war der mtterliche Leib in dessen heiligem Dunkel mein junges Leben genhrt […] wurde, in ihr atmete mein Geist […], sie half mir als ich anfing den vterlichen Glauben zu sichten und das Herz zu reinigen von dem Schutte der Vorwelt, sie blieb mir, als Gott und Unsterblichkeit dem zweifelnden Auge verschwanden“.20 Anderseits ist Religion „so selten, dass wer von ihr etwas ausspricht, muß es notwendig gehabt haben, denn er hat es nirgends gehçrt. Von allem was ich als ihr Werk preise und fhle steht wohl wenig in heiligen Bchern, und wem der es nicht selbst erfuhr, wre es nicht ein rgernis oder eine Torheit?“21 Logisch ist das nicht, Religion als Mutterschoß, aber ußerst selten. War es das Herrnhutertum der dritten Generation, das dem Heranwachsenden diesen Mutterschoß bot, die Zuflucht der Eltern aus ihrem rationalistischen Unglauben, die ihn im Zweifel am Schutt der Vorwelt bei der Sache hielt und zu einem „Herrnhuter hçherer Ordnung“ werden ließ, der als Prediger und Professor dem von ihm selbst aufgestellten, vçllig „unamtlich“ gedachten Leitbild eines „Kirchenfrsten“ – nicht etwa eines „Kirchenvaters“ – nahekommen ließ? Die Idee eines Kirchenfrsten vereint a) religiçses Interesse (d. h. Nhe zur Religion) und b) wissenschaftlichen Geist „im hçchsten Grade und im mçglichsten Gleichgewicht“ fr a) Theorie, d. h. Auffassung der Religion und b) praktische Ausbung.22 Der Kirchenfrst ist in diesem Ideal der Kirchenvater, bevor er zu einer solchen normativen Gestalt fr die Nachwelt wird, also etwa ein Augustin oder Luther oder Calvin in ihrer eigenen Lebenszeit. Nimmt man die knappen Erluterungen ber die Idee des Kirchenfrsten wçrtlich, so kann Schleiermacher mit seinem als ein neues Modell gedachten Entwurf und seiner Praxis des theologischen Studiums und 19 20 21 22

Lukas 17, 20 f. KGA I/2, S. 195, Zeile 5 ff. Ebd., Z. 20 ff. Kurze Darstellung des theologischen Studiums, 2. Aufl. 1831, § 8 (siehe oben Anm.1).

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seiner Ttigkeit als Berliner Pfarrer und Synodaler ihr schon nahekommen; aber fr wen wird er damit rckblickend auch zu einem „Kirchenvater“? Gewiss nicht einmal fr die von ihm mitbegrndete Evangelische Kirche der altpreußischen Union und die protestantischen Unionskirchen in Deutschland insgesamt, die ihn als Unionsbegrnder verehren, ohne sich deshalb doch verpflichtend oder mehrheitlich auf seine theologischen Aufstellungen festzulegen. Das lsst sich also nicht von ferne mit der epocheprgenden Bedeutung des Theologen Augustin fr das ganze lateinische Mittelalter und die beiden Jahrhunderte von Reformation und konfessionellem Zeitalter vergleichen, und ebenso wenig mit der Prgekraft, die die großen Reformatoren im Anschluss an Luther und Calvin mindestens bis ins 18. Jahrhundert hinein ausgebt haben. Darber hinaus kann man Schleiermacher allerdings als einen Vordenker der anschließenden protestantischen Theologie vornehmlich des deutschen Sprachbereichs in der wissenschaftlichen Religionsauffassung in und nach der Krise des transzendentalen Idealismus wrdigen. Die Geschichte der protestantischen Theologie des 19. Jahrhunderts nach Schleiermacher wurde im 19. und 20. Jahrhundert als ein eigenes Thema im Kolleg behandelt. In diesem Sinne hat bereits August Neander Schleiermacher 1849 schriftlich gewrdigt und als einen neuen Origenes fr die Zeit nach der Aufklrung bezeichnet – kein Kirchenvater, aber ein Vordenker, der die erforderlichen neuen Begriffe bereitstellt fr eine neue Problemlage oder wenigstens auf die Notwendigkeit neuer Begriffsbildungen hinweist, dabei aber selbst in zwei wichtigen Punkten danebengriff, einmal in der Verhltnisbestimmung von christlichem Bewusstsein und dies Bewusstsein bestimmendem Wort der Schrift, zweitens in der Betrachtung des Bçsen als etwas im Entwicklungsprozess der Menschheit Notwendigen.23 In jedem Fall liegt die fortwirkende Bedeutung Schleiermachers im wesentlichen in seinen wissenschaftlichen Beitrgen zur evangelischen Theologie, vielleicht teilweise auch der westlichen Theologie berhaupt, nach der transzendentalen Vernunftkritik und gleichzeitig mit den großen Systembildungen des deutschen Idealismus. Die sein theologisch-philosophisches Denken auszeichnende wechselseitige Bedingung und Schwebehaltung von theoretischer Begriffsbildung und induktiv-empirischer Anschauung bewahrte ihn vor einem in der Luft schwebenden Logizismus des denkenden Geistes, wie er ihn bei Fichte zu erkennen meinte und wie er mit der Wirkung Hegels in Berlin im dritten und vierten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts seine breite 23 Siehe meinen in diesem Band wiederaufgenommenen Beitrag ber Neander und Schleiermacher.

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Spur auch in den Theologischen Fakultten Berlins und Tbingens hinterließ. Insofern muss Schleiermacher als Vertreter einer notwendigen Gegenposition wesentlich zu den drei oder vier Großen des deutschen Idealismus hinzugerechnet werden. Kritischer sollte man seine ohnehin nur sekundre Rolle in der preußisch-deutschen Politik und Geschichte seines Zeitalters sehen. Gewiss hat Schleiermacher ab 2007/08 fr ein gutes halbes Jahrzehnt an der preußischen Staats- und Bildungsreform auch stichwortgebend mitgewirkt und ist seinerseits vom Kçnigshaus und leitenden Staatsmnnern gefçrdert worden; anderseits mehren sich sptestens seit 1812 die Anzeichen, dass er als zu selbstndiger und eigenwilliger Geist angesehen wurde, der sich in Felder einmische, die der Regierung vorbehalten seien,24 und mit dem Reformationsjubilumsjahr 1817, in dem Schleiermacher gewiss als alter Unionsbefrworter sehr gut dastand, begann sich doch zugleich der Argwohn von oben gegen Professoren, die in der studierenden Jugend Unruhe stifteten, zu verstrken, und Schleiermacher, der in diesem Jahr gleich zweimal nacheinander ein Kolleg ber die Politik (als Untersparte der philosophischen Ethik) hielt, fiel sehr unliebsam auf, obwohl es schwer fllt, in den erhaltenen Nachschriften einen Grund dafr auszumachen.25 Im Jahr des Anschlags auf Kotzebue, 1819, und mit der Lektre allzu freimtiger Bemerkungen in einem vertraulichen Brief an den nach Bonn versetzten Schwager Ernst Moritz Arndt, der von der Zensur abgefangen wurde, war Schleiermacher allerhçchsten Ortes fr ein knappes Jahrzehnt zur persona non grata geworden, und die polizeilichen Verhçrsprotokolle aus dem Jahr 1822, unter die er seine Unterschrift setzen musste, sprechen fr sich.26 Sein Wirken musste sich vorerst auf Katheder und Kanzel be24 Vgl. nur Schleiermachers Beitrge zu dem von ihm 1813 fr vier Monate sogar redaktionell betreuten aktuellen Nachrichtenblatt Der Preußische Correspondent (KGA I/14, S. 395 – 500, mit der dem Band beigegebenen vollstndigeren Wiedergabe auf einer CD ber die Monate vom Juni bis zum September 1813, in denen Schleiermacher das Blatt redigierte). Dazu vgl. die Erluterungen ber die 1813 erfolgten „Untersuchungen gegen Schleiermacher“ in der Einleitung S. CLX – CLXXVIII. 25 Vgl. hierzu die von Walter Jaeschke herausgegebenen Vorlesungen ber die Lehre vom Staat (KGA II/8), 1998, S. XXIX–XXXIV; dazu auch Dankfried Reetz: Staatslehre mit „politischer“ Tendenz? In: Zeitschrift fr Neuere Theologiegeschichte 7 (2000), S. 205 – 250. 26 Noch am 18. 7. 1823 schreibt Schleiermacher an Ernst Moritz Arndt in Bonn von einer von ihm geplanten, aber ministeriell noch nicht genehmigten Urlaubsreise nach Eger, Regensburg und Tirol – eine Reise, die ihm „auch deshalb besonders am Herzen“ liege, „um mir ein Stck Deutschland wieder drauf anzusehen, ob man da

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schrnken; immerhin wahrte Schleiermacher sich die Freiheit eines offenen Wortes (wenigstens pseudonym und im hannoverschen „Ausland“) gegen ungebhrliche Eingriffe des Frsten in kirchlicher Selbstbestimmung unterliegende Fragen wie die Gestaltung der Liturgie27. Ebenso wenig konnte ihn das Ansteigen der Erweckungsbewegung im zweiten und dritten Jahrzehnt des Jahrhunderts erfreuen. Mußte er nicht 1821 in der Vorrede zur dritten Ausgabe seines „Lebensbuches“ der Reden ber die Religion feststellen, dass die Religionsverchter, denen er dies Manifest einer christlichen Wiedergeburt 1799 zugeschrieben hatte (wenn auch nur den „Gebildeten“ unter ihnen), nirgends mehr zu finden seien?28 Das Wort aus dem Jahr 1829 von den „dsteren Larven eng geschlossener religiçser Kreise“, die unter unseren Fßen bereits aus dem Boden krçchen und das Christentum von aller freien Natur- und Geschichtswissenschaft abzuschotten sich anschickten, spricht in diesem Sinne29 ; in der Fakultt wirkten als Nachfolger des frei- und allzu leichtsinnig gewesenen De Wette erst August Tholuck30, dann seit 1826 Ernst Wilhelm Hengstenberg (1802 – 1869), beide brigens nicht nur orientalistisch gelehrt, doch eher

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wohl leben kçnnte fr den Fall, dass es schief ginge.“ Der abgesetzte Arndt kçnne ja an ein englisches Exil denken; Schleiermacher „hingegen wre außer Deutschland gar nichts ntz; und da wrde mir immer ein konstitutionelles Land, worin die protestantischen Konfessionen vereinigt sind, am liebsten sein, also auch Baiern und Baden lieber als Wirtemberg.“ Aus Schleiermacher’ Leben. In Briefen, Bd. 2, Berlin 1860, S. 381 f. Beginnend mit der formal unter Pseudonym und auf „neutralem“ britisch-hannoverschem Boden erschienenen Schrift Ueber das liturgische Recht evangelischer Landesfrsten. Ein theologisches Bedenken, von Pacificus Sincerus, Gçttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 1824 (KGA I/9, S. 211 – 269). KGA I/12 (1995), S. 10, Z. 11 – 18: „Wenn man sich bei uns wenigstens“ (d. h. in Berlin und Preußen), „und von hier sind doch ursprnglich diese Reden ausgegangen, umsieht unter den Gebildeten, so mçchte man eher nçthig finden, Reden zu schreiben an Frçmmelnde und an Buchstabenknechte, an unwissend und lieblos verdammende Aber- und Ueberglubige.“ Sendschreiben an Dr. Luecke, KGA I/10 (1990), S. 347 Z. 8 – 15: „Soll der Knoten der Geschichte so auseinandergehen? Das Christenthum mit der Barbarei; und die Wissenschaft mit dem Unglauben?“ Weiter spricht Schleiermacher hier von enggeschlossenen religiçsen Kreisen, „welche alle Forschung außerhalb jener Umschanzungen eines alten Buchstabens“ (Schrift als „Wort Gottes“) „fr satanisch erklren. Aber diese kçnnen wohl nicht ausersehen seyn zu Htern des heiligen Grabes“. 1799 – 1877, ab 1826 zur „Erweckung“ der rationalistischen Hallener Theologen an die dortige Fakultt versetzt), ber ihn siehe hier nur den Brief an Neander in diesem Band, S. 125 – 129, Anhang III meines Aufsatzes ber Neander und Schleiermacher.

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zu den „Buchstabenknechten“, wenn auch nicht unbedingt „Frçmmelnden“ und Geistlosen zu rechnen. Aber ihr „Geist“ war schon ein anderer als der Schleiermachers. Allerdings spricht gegen eine allzu dstere Auffassung der Stellung des spten Schleiermacher in seiner politischen und religiçsen Umwelt der eine beherrschende Zug seines gesamten literarischen Wirkens bis in die letzten Jahre hinein – die berlegene und ruhige Sicherheit, mit der er seine Gedanken schriftlich und im Kolleg entwickelt. Ich bin versucht zu sagen: Ihn rettete seine Fhigkeit zur kompetenten Arbeit, philologische Genauigkeit einerseits und Trennschrfe begrifflichen Denkens anderseits. Wenn man unter diese beiden mehr technischen Begriffe noch heruntergehen will in die Welt des elementaren Gefhls, oder der „Haltung“, so kommt man auf eine zugrundeliegende Gewissheit, etwas richtig „gesehen“ oder angeschaut zu haben. Aber er konnte sich auch auf seinen technischen Denkapparat verlassen, sein Intelligenzquotient – den der Enkel eines gebhrenbefreiten armen jdischen Kolleghçrers namens Sigismund Stern, der Kinderpsychologe William Stern, entwickeln sollte,31 htte sicher zwischen 140 und 160 gelegen. Mit seiner Dialektik, bekannte sein alttestamentlich-orientalistischer Kollege und ferngerckter Baseler Freund Wilhelm Leberecht De Wette, selbst ein scharfer Denker und Exeget, komme er nicht zurecht: mit diesem Schweben, Kombinieren zwischen verschiedenen Aussageebenen von Natur und Geist, Glauben und Unglauben, Wahrheit und Wahrheit je nachdem, wie man’s gemeint und bezogen haben will. Dabei findet sich nicht selten ein Beiklang leiser Ironie, die jedoch niemals die Absicht verrt, irgendjemanden wissentlich zu 31 Sigismund Stern, Kaufmannssohn aus der Provinz Posen (1802 – 1867), nach Privat- und Talmudunterricht 1824 ins evangelische Gymnasium in Großglogau, 1827 bis zum Abitur ins Joachimthalsche Gymnasium in Berlin aufgenommen, 1831 wegen Armut gebhrenbefreiter stud. phil. in Berlin und Hçrer bei August Boeckh, Hegel, Schleiermacher, Steffens, Bopp, C. Ritter, Lachmann. Er hçrte bei Schleiermacher Philosophische Moral, Aesthetik, Politik und die wegen seines Todes von Ludwig Jonas zu Ende gefhrte Vorlesung ber Psychologie.. Stern war Vertreter des reformjdischen Flgels als Pdagoge erst in Berlin, 1855 Lehrer und spter Direktor am Frankfurter „Philanthropinum“, der Schule der israelitischen Gemeinde. Sein Enkel William (Wilhelm Louis) Stern (1871 – 1938, 1893 Dr. phil. Berlin, Professor in Breslau und Hamburg, 1933 erst in die Niederlande, dann in die USA emigriert), Verfasser von Standardwerken der Kinderpsychologie, erbte den Nachlass des Großvaters von seinem Vater Joseph Stern und nahm ihn mit in die USA, von wo ein Teil 1996 bei einem Antiquar in Providence (Rhodes Island) auftauchte, wo ich ihn besichtigen und zur Erwerbung an die Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz in Berlin vermitteln konnte.

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krnken. An dieses Sacrosanctum seiner Gedankenbildung in Balance zwischen theoretischem Entwurf und geschichtlich-empirisch-textlichem Stoff, auf den der Entwurf immer dialektisch bezogen bleibt, kommt die schlechte Außenwelt, die Ungunst der Umstnde gar nicht heran (so sehr der Unmut auch einmal brieflichen Ausdruck findet). Jene erwhnten dsteren Larven enger buchstabengebundener Kreise, unter denen sich schon der Boden hebt, „kçnnen“, wie er sagt, „wohl nicht ausersehen sein zu Htern des heiligen Grabes.“ Es ist ein Ton christlicher und wissenschaftliche Gewissheit und Zuversicht, in dem dieser spte Schleiermacher erklrt, „wir anderen“, das heißt die mit Einsicht begabten Theologen, mssten uns eben der Geschichte aussetzen, wie sie eben ist, mssten uns also auch mit dem christlicher Tradition zuwiderlaufenden wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt „behelfen, wie er sich eben entwickeln wird.“ Darwin (1859), der Urknall, Relativitts- und Quantentheorie samt aller kritischen Evangelien- und Leben-Jesu-Forschung sind in Schleiermachers Entwurf des christlichen Glaubensverstndnisses sozusagen als mçglicher knftiger Weg der Wissenschaft bereits vorausgeahnt. Freilich hat Schleiermacher die sich ergebenden Folgerungen nicht im einzelnen entfalten kçnnen, und so verluft die weitere dogmatische Entfaltung in der protestantischen Theologie des 19. und 20. Jahrhunderts auch ganz unterschiedlich, was Akkommodation und Apologetik betrifft. Jedenfalls zeigen die bedeutenderen Glaubenslehren reformierter, lutherischer und ebenso unierter Universittstheologie nach Schleiermacher in der Regel einen moderneren systematischen Zugriff auf die Bekenntnisstze und Glaubensaussagen der orthodoxen Tradition; erst jetzt entsteht so etwas wie „systematische Theologie“, eine in neuen Zusammenhang gebrachte und durchdachte Glaubenslehre. Die berlieferung wird kritischer gesichtet, die Einzelstze werden strker durch Ortsbestimmung in einem Ganzen „denkbar gemacht“.32 Manchen orthodoxen, vor allem nord32 Ich habe als Beispiel insbesondere die neulutherische „Erlanger Theologie“ von Johann Christian Konrad (von) Hofmann (1810 – 1977) bis zu Franz Hermann Reinhold (von) Frank (1827 – 1894) vor Augen. Hofmanns aus dem Nachlass 1879 von H.J. Bestmann herausgegebene Vorlesung ber Encyclopdie der Theologie ist ein Schleiermacher in vielem korrigierendes und berholendes bedeutendes Werk (Nçrdlingen 1879), whrend Franks nach seinem Tode 1894 aus dem Manuskript herausgegebene Geschichte und Kritik der neueren Theologie, insbesondere der systematischen, seit Schleiermacher Schleiermachers Leistung eindringend kritisch darstellt und verstehen lsst, weshalb Franks eigene Neuvorlage einer modernisierten lutherisch-orthodoxen Theologie als ein „System“ neuartiger „christlicher Gewissheit“ (nicht mit Luthers Heils- und Glaubensgewissheit zu

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deutsch-lutherischen Theologen sind deswegen neuere systematische Theologien anderer Lutheraner, die von Schleiermacher – oder auch von Hegel, oder von beiden – gelernt haben, als zu subjektiv gestaltet erschienen.33 Das Wesentliche war nun nicht die Wahrheit von Stzen an und fr sich, sondern ihre Sinnhaftigkeit im nachvollziehbaren Gesamtzusammenhang der Glaubensentfaltung. Die Methode war das Wesentliche, der Weg wurde das Ziel. Selbstverstndlich als Weg des Christentums, christlichen Denkens. Das Christentum wurde aber als ein aus sich selbst heraus begrndet Existierendes dabei vorausgesetzt. Hat sich diese Lage seither etwa verndert?

verwechseln) von norddeutsch-lutherischer Seite als „subjektivistisch“ kritisiert werden konnte. 33 Vgl. den Artikel ber den Rostocker Theologen August Wilhelm Dieckhoff (1823 – 1894), in der Protestantischen Realencyclopdie, Bd. 4, 31898, S. 641 – 44, besonders S. 642, Z. 48 bis 643, Z. 10. Mit dem hervorragenden Lutherkenner Dieckhoff kndigt sich schon die vor allem an den jungen Luther anknpfende Lutherrenaissance des 20. Jahrhunderts an, deren hermeneutische Kurzschlssigkeit ich oben schon angedeutet habe, hier aber nicht weiter erçrtern will. Im Felde der historischen Lutherauslegung hat Dieckhoff jedenfalls Bedeutendes geleistet, woran auch heute noch anzuknpfen ist.

Protestantisches Christentum in der nachkonfessionellen brgerlichen Gesellschaft: Erwgungen zu Schleiermachers kirchengeschichtlichem Rang Martin Ohst Die Frage nach Schleiermachers kirchengeschichtlichem Rang, zu der ich im folgenden einige Gedankensplitter zur Diskussion stellen mçchte, muss deutlich unterschieden werden von der nach seiner bloß theologiegeschichtlichen Bedeutung, denn die ist derart offenkundig, dass sie wirklich keiner besonderen Begrndung bedarf. Dass Schleiermacher in der Geschichte der evangelischen Theologie einen unleugbaren Einschnitt markiert, hat selbst einer seiner schrfsten Kritiker umstandslos eingerumt: „An die Spitze einer Geschichte der Theologie der neuesten Zeit gehçrt und wird fr alle Zeit gehçren der Name Schleiermachers und keiner neben ihm“1. Aber nicht jeder Theologe, dessen Werk fr lngere oder krzere Zeit Beachtung gefunden und Wirkungen ausgebt hat, kann spezifisch kirchengeschichtlichen Rang behaupten – man denke etwa an Albrecht Ritschl: Seine spezifisch theologiegeschichtliche Bedeutung ist schwerlich zu berschtzen; in einer konsequent kirchengeschichtlichen Darstellung des 19. Jahrhunderts msste man ihm wohl bloß eine kurze Bemerkung widmen. Und man kçnnte unschwer große mittelalterliche Theologen nennen, mit denen es sich in vergleichbarer Weise verhlt, erinnert sei an Duns Scotus. Anders steht es bei Schleiermacher. An ihm kommt auch keine kirchengeschichtliche Darstellung vorbei: Seine „Reden“ als Fanal des romantischen Einspruchs gegen eine als volkspdagogisch-moralistisch verfremdete, verbogene Art von Kirche, sein Protest gegen die lhmende Perpetuierung lngst innerlich berwundener innerprotestantischer Konfessionsgegenstze, sein Kampf gegen eine als autokratisch wahrgenommene kçnigliche Kirchenpolitik haben zweifelsohne markant zu ge1

Karl Barth: Die Protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, Zollikon und Zrich 1947, S. 379.

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schichtlichen Vernderungen beigetragen, die den Bereich der akademischtheologischen Binnendebatten erheblich berschritten. Schleiermachers Agieren auf diesen Konfliktfeldern steht nun mitnichten beziehungslos neben seinen theoretischen Arbeiten und Einsichten, im Gegenteil: Schleiermachers kirchliche Gestaltungsbemhungen stehen im offenkundigen Verweisungs- und Begrndungszusammenhang mit seinen wissenschaftlichen Erkenntnissen und Thesen, die sich in der Konfrontation mit der gegebenen Wirklichkeit offenbar mit innerer Notwendigkeit zu kritischen Impulsen formten. Nun ist die Geschichte der christlichen Kirche(n) unbersehbar reich an kritischen Individuen und Bewegungen, aber wirklich geschichtlichen Rang kçnnen doch wohl die wenigsten von ihnen fr sich beanspruchen; ich nenne ein Negativbeispiel: Die Kirchenvolksbewegungen etc., welche den deutschsprachigen Katholizismus seit etwa zwanzig Jahren lautstark begleiten. Ein vergleichender Seitenblick von Schleiermacher her auf sie bietet sich insofern an, als dort vielfach akademische Theologen den Ton angeben. Anlass zu der Vermutung, dass diese Bewegungen und ihre Wortfhrer spter einmal lediglich in entsprechend engmaschigen Geschichtsdarstellungen mit ein paar Fußnoten gewrdigt werden, bietet die Beobachtung, dass sie zwar alle im gegebenen Einzelfall genau wissen, was sie nicht wollen. Aber sie wissen nicht, was sie eigentlich wollen. Sie verfgen nicht einmal in Anstzen ber konstruktive Vorstellungen, welche sie dem offiziell-katholischen Lebensideal und dem offiziell-katholischen Selbstverstndnis der Kirche entgegensetzen kçnnten. Besonders deutlich konnte man das im Frhjahr 2009 an den Aufgeregtheiten um die Aufhebung der Exkommunikation gegen die Geistlichen der Pius-Bruderschaft erleben: Da waren den liberalen Katholiken mit einmal der Papst und die Kurie zu schlaff und zu konziliant, gemeinsam mit den skularen Htern der political correctness pochten sie auf die Anwendung des kirchlichen Zwangsrechts in seiner ganzen Schrfe und Strenge. Scheinbar ein Stck verkehrte Welt, aber doch nur scheinbar: Es zeigte sich, in welch hohem Maße diese Kritiker gehorsame Sçhne und Tçchter der Papstkirche sind, an der sie zwar im einzelnen manches molestiert, die sie aber doch auf gar keinen Fall missen mçgen, weil sie schlechterdings keine tragfhige Alternative zu ihr zu konzipieren vermçgen.2 2

Es fllt bisweilen schwer, in diesen Zusammenhngen nicht an Harnacks Charakteristik der katholischen Modernisten seiner Zeit zu denken: „Schmetterlinge sind sie, fr die Sonne bestimmt, die es nicht lassen kçnnen, eine blakende Flamme zu umschwrmen, um zuletzt in ihr zu sterben. Von der Entwicklung, die mit der

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Hieraus ergibt sich die fr das folgende leitende These: Bedeutende Theologen, denen nicht nur theologie-, sondern auch kirchengeschichtlicher Rang zukommt, haben konstruktive Modifikationen am christlichen Lebensideal sowie am Selbstverstndnis und der Organisationsgestalt der Kirche ihrer Zeit zur Geltung gebracht. Die Kritik, die sie auch bten, war lediglich die negative Kehrseite ihrer konstruktiven Anliegen. Wenn ein Theologe kirchengeschichtlichen Rang hat, dann immer auch deshalb, weil er derart fr die Verwirklichung bestimmter theoretischer Optionen und praktischer Maximen gewirkt hat, dass er bei Lebzeiten und hernach zu deren Symbolfigur wurde. Ich verifiziere das an einigen Theologen, deren herausragenden kirchengeschichtlichen Rang niemand in Frage stellen wird.

I. Als das Ende des westrçmischen Reiches anbrach, da vertrat Augustin, auf der Bildungshçhe seiner Zeit stehend, einen Normbegriff des spezifisch katholischen Christentums, der die Kirche als ganze wie den einzelnen Christen zugleich zur Weltdistanz und zur Weltbeherrschung befhigen konnte, denn dieses Christentumsverstndnis bot in engster wechselseitiger Verbundenheit moralische Orientierung und religiçs-jenseitige Hoffnung. Kritisch wandte Augustin sich gegen den nordafrikanischen Donatismus und gegen die Kritiker seiner Gnadenlehre. Diese beiden Gruppen von Gegnern, an denen er seine Christentumsauffassung und sein Normbild der Kirche profilierte und vertiefte, waren ja mitnichten „Neuerer“, sondern sie vertraten gegen Augustin durchaus lang eingewurzelte christliche und kirchliche Selbstverstndlichkeiten.3 Augustins Einzelargumente ge-

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Reformation begonnen hat, wollen sie nichts wissen; sie sehen daher nur die beiden Mçglichkeiten, in der katholischen Kirche zu bleiben oder als isolirte Freidenker jeden concreten Zusammenhang mit den Hervorbringungen der Kirchengeschichte zu verlieren. Als christliche Forscher und Denker gehçren sie zu uns; denn sie wren gar nicht, htte es nicht im 16. Jahrhundert eine Reformation gegeben; aber in ihrer Devotion vor der Kirche sind sie doch Katholiken“ (Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd. 3, Tbingen 41910 [Nachdruck Darmstadt 1983], S. 764, Anm. 1). Zu der Frage, ob und inwiefern Augustins Gnadenlehre eine Neuerung darstellte, bleibt grundlegend Hermann Reuter: Augustinische Studien, Gotha 1887, S. 4 – 46. Zum neueren Forschungsstand jetzt Volker Henning Drecoll in: Augustin Handbuch, hg. von V.H. Drecoll, Tbingen 2007, S. 488 – 497. – In welchem Maße im Donatistenstreit der Kampf um die beiderseits anerkannte und bean-

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gen sie trugen vielfach sicherlich ihre Kohrenz und Stringenz nicht einfach in sich, sondern sie zogen ihre Kraft aus dem Gesamtbild des christlichen Glaubens und Lebens, das ihnen zugrunde lag. Thomas von Aquin stritt vehement gegen die Verfechter eines herkçmmlichen Kirchenbildes, gemß welchem Theologie, Predigt und Seelsorge Sache des eng mit der weltlichen Gewalt verbundenen Weltklerus seien, whrend die Mçnche sich hinter Klostermauern dem Gebet widmen sollten.4 Positiv verfocht er in diesem Kampf ein scharf profiliertes normatives Kirchenbild. Es ist also vollkommen zutreffend, ihn als „Hauptvertreter“ derjenigen Richtung scholastischer Theologie zu bezeichnen, „welche die Prtensionen der Hierarchie und des Papsttums auf Souvernitt am krftigsten vertritt“5 – wenn man dabei mitbedenkt, dass dieses Konzept zu seiner Zeit einen schwerlich berschtzbaren Reform- und Modernisierungsschritt bedeutete: Das kirchliche Handeln hat sich nicht primr an hergebrachten strukturellen Vorgaben, sondern an den sich stellenden Aufgaben zu orientieren. Es obliegt der Hierarchie, d. h. zuerst und zuletzt dem Papst, den geeigneten, kompetenten Personen bzw. Gruppen die richtigen Auftrge zu stellen. Der Papst als Inhaber der universal zu interpretierenden und anzuwendenden plenitudo potestatis darf also durch herkçmmliche Prrogativen nicht daran gehindert werden, die kompetenten Mitglieder der Bettelorden allenthalben mit der Lehre, der Predigt und der Seelsorge zu betrauen. Und dieses konsequent vom Papsttum und seiner geistlichen Elitetruppe, den Bettelorden, her gestaltete Bild der universalen Kirche gehçrt wiederum hinein in den von Thomas in der zweiten Abteilung des zweiten Hauptteils seiner Summa Theologica entfalteten Entwurf einer rational organisierten, mit christlichem Ewigkeitssinn erfllten Gesellschaft. Martin Luthers Polemik gegen die Papstkirche endlich bleibt so lange vçllig unverstanden, als nicht ihre unlçsliche Verwurzelung in einem zu-

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spruchte Autoritt Cyprians ging und wie schwach und mit postulierten Hilfshypothesen belastet gerade hier Augustins Argumente waren, das lsst sich jetzt detailliert verfolgen in der zweisprachigen Ausgabe von Augustinus: De baptismo, eingeleitet, kommentiert und hg. von Hermann-Josef Sieben (Opera. Werke, Bd. 28), Paderborn u. a. 2006. Die polemische Wucht, die in einem Text wie Summa theologiae II/2,185,1 („Utrum Religiosis liceat docere, praedicare et alia huiusmodi facere“) unterschwellig wirksam ist, tritt deutlich hervor in Contra impugnantes Dei cultum et religionem II,3. Johannes Gottschick: Hus’, Luther’s und Zwingli’s Lehre von der Kirche (I), in: Zeitschrift fr Kirchengeschichte 8 (1886), S. 345 – 394, hier: 347.

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gleich von Grund auf erneuerten und ganz realittsnahen christlichen Lebensideal mitbedacht ist. Seine Schrift von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche6, welche mit ihrem kritischen Radikalismus Erasmus von Rotterdam an der reformatorischen Bewegung irre machte7, will gelesen sein im Gesamtkontext einer Schriftstellerei, die ja auch den Sermon von den Guten Werken8 und den gewaltigen Traktat vom ehelichen Leben9 hervorgetrieben hat. Luthers gesamte Abrechnung mit dem kirchlichen Getriebe der sakramentalen Gnadenangebote und der religiçsen Leistungsforderungen war nie doktrinr-selbstzweckhaft, sondern immer angetrieben und gesteuert durch die konstruktiven Impulse eines von Grund auf neu gefassten christlichen Lebensideals und Kirchenbildes. Ein weiteres Merkmal fr kirchengeschichtlichen Rang ist mit diesem ersten eng verbunden: Das Lebenswerk solcher Personen wirkt fort, weil und sofern sich an ihm und durch es Kontroversen entznden, und zwar Deutungskontroversen wie Sachkontroversen. Auch das liegt zutage: Um Augustin ist es erst ruhiger geworden,10 nachdem die ja nie wirklich kirchlich rezipierten11 „Kernpunkte der augustinischen Gnadenlehre verworfen“12 worden sind; seitdem vertieft sich moderne katholische Theologie gern liebevoll in die Leitgedanken des antidonatistischen Kirchenmannes und hlt sich von den Abgrnden der Erwhlungslehre fern.13 Wichtiger sind im gegenwrtigen Katholizismus sicher die Deutungskontroversen um das Werk des Aquinaten, das ja auch kirchenrechtlich 6 Martin Luther: Werke. Weimarer Ausgabe (im folgenden WA), Bd. 6, S. 497 ff. 7 Vgl. Reinhard Schwarz: Luther, Gçttingen 1986 (Die Kirche in ihrer Geschichte 3, I), S. 89 f. 8 WA 6, S. 202 ff. 9 WA 10/2, S. 265 ff. 10 Im dritten Band seines Lehrbuchs der Dogmengeschichte (wie oben Anm. 2) bndigt Harnack den immensen, disparaten Stoff, indem er, anhebend mit einer knappen Bilanz der abendlndischen Theologiegeschichte vor Augustin, zunchst diesen selbst darstellt und dann die Entwicklungen bis in den dreifachen Ausgang der Dogmengeschichte als Wirkungsgeschichte Augustins darstellt. – Schlaglichter auf die verwirrende Vielfalt und Gegenlufigkeit der Wirkungen Augustins wirft Reuter: Augustinische Studien (wie Anm. 3), S. 479 – 516. 11 Vgl. die Canones der Synode von Orange i.J. 529, bes. die Conclusio des Caesarius von Arles, Enchiridion symbolorum, ed. Denzinger et Schçnmetzer Nr. 397. 12 So Reinhold Seeberg: Lehrbuch der Dogmengeschichte IV/2, Leipzig 2.31920, S. 866 zur Konstitution „Unigenitus“ von Papst Clemens XI. (1713, Enchiridion symbolorum, ed. Denzinger et Schçnmetzer Nr. 2400 – 2502). 13 Bezeichnend dafr ist Joseph Ratzinger: Volk und Haus Gottes in Augustins Lehre von der Kirche, 1954 (Nachdruck als Mnchener Theologische Studien II/7, St. Ottilien 1992), vgl. z. B. S. 145 – 149.

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einen sehr viel hçheren Stellenwert hat:14 Sachkontroversen werden als Debatten um das richtige Thomas-Verstndnis ausgetragen, wobei unter den Schlagworten „thomasisch“ und „thomistisch“ der echte Thomas gegen seine angeblichen oder tatschlichen sptmittelalterlichen und neuscholastischen Zerrbilder auch und gerade als „çkumenischer“ Wahrheitszeuge ins Feld gefhrt wird.15 Auf der anderen Seite der Grenze zwischen den Konfessionen sind vergleichbare Vorgnge in grçßerem Maßstab zu beobachten: Seit dem frhen Pietismus werden fortlaufend Versuche zur „Befreiung Luthers aus seiner Wirkungsgeschichte“16 unternommen, wobei mehr oder minder explizit die Erwartung leitend ist, der nun endlich von der bermalung durch missverstehende und verflschende Aneignungsversuche befreite Luther werde zu den Problemen und Nçten der Gegenwart das lçsende Wort sagen: Der wahrhaft gegenwartsfhige Luther ist auch der historisch authentische! – Eine Geschichte nicht nur der evangelischen Theologie ließe sich ohne große Mhe auch am Leitfaden der Luther-Rezeptionen und der diese begleitenden Kontroversen schreiben. Diese Deutungs- und Rezeptionskontroversen bezeugen auf ihre eigene Weise zum einen, dass sich die Genannten alle drei als symbolische Trgerfiguren normativer Vorstellungsgehalte der Erinnerung ber viele Generationen hinweg unauslçschlich eingeprgt haben. Zum andern weisen sie auf Komplexitt und Mehrdeutigkeit hin: Im Leben und Wirken der großen Protagonisten sind jeweils divergente, ja bisweilen gegenlufige Motive miteinander wirksam gewesen. Im Wirken und Denken der großen Gestalten selbst waren sie miteinander vermittelt, bisweilen wohl auch nur gewaltsam in ihrer Widersprchlichkeit gebndigt. Von der ersten Generation der Epigonen an verselbstndigten sich diese Motive, und sie gerieten miteinander in Konflikt. Der Wirkmchtigkeit der Theologen von kirchengeschichtlichem Rang tat und tut das keinen Abbruch, ganz im Gegenteil: Die Kontroversen, die sie ber lange Zeitrume hin entfachen, sind miteinander zugleich die Bedingungen und die Folgen ihres kirchengeschichtlichen Ranges!

14 Vgl. Corpus Iuris Canonici 1983 Can. 252 § 2. 15 Am beharrlichsten und eloquentesten verfolgt seine Ziele auf diesem Gebiet wohl Otto Hermann Pesch, vgl. z. B. ders.: Thomas von Aquin. Grçße und Grenze mittelalterlicher Theologie. Eine Einfhrung, Mainz 1988. 16 So der Titel eines Aufsatzes von Gerhard Ebeling aus dem Luther-Jahr 1983, jetzt in: Ders.: Lutherstudien, Bd. 3, Tbingen 1985, S. 395 – 404.

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II. Gegen die Annahme, dass Friedrich Schleiermacher zu denjenigen Theologen gehçrt, denen im eben umrissenen Sinne kirchengeschichtlicher Rang zuzusprechen ist, gibt es einen naheliegenden Einwand: Sein Wirkungsfeld und Resonanzraum nehmen sich im Vergleich mit den zuvor genannten kirchengeschichtlichen Gestalten gering aus. Sitzt man deshalb einer Vorspiegelung deutscher, ja, borussischer Borniertheit auf, wenn man ihn als Figur von kirchengeschichtlichem Rang einstuft? Der Verweis auf die bersetzungen von Werken Schleiermachers in Fremdsprachen oder auf seine (bei Lichte betrachtet doch eher geringfgigen) Wirkungen im Rçmischen Katholizismus kçnnte hier nur scheinbar weiterhelfen. Stattdessen sei eine andere berlegung zur Diskussion gestellt: Seit den reformatorischen Anfngen verluft die Geschichte des Protestantismus in vielen Handlungsfden in vergleichsweise engen Rumen. Es liegt angesichts dieser Tatsache manchem nahe, ber Verlust an Universalitt oder ber Provinzialisierung zu klagen. Diese Klage beruht auf der stillschweigenden Voraussetzung, dass Universalisierung dasselbe sei wie Uniformierung. Ein unbefangener Blick auf die nachreformatorische Kirchengeschichte hingegen regt dazu an, Universalisierung als Differenzierung zu verstehen: Die aus der Reformation hervorgegangenen Kirchentmer haben direkt und auch indirekt, nmlich durch die stimulierende Rckwirkung auf den sich neu formierenden Katholizismus, einen Quantensprung in der Fortsetzung der inneren Christianisierung Europas herbeigefhrt, weil sie Christentum und Kirche in zuvor undenkbarer Weise national und kulturell individualisierten. Schleiermacher selbst hat das, Impulse der hallischen Aufklrungstheologie aufnehmend, deutlich gesehen: Eine Besonderheit der christlichen Religion liegt nach ihm in ihrer Fhigkeit, sich in einer unendlichen Reihe von kulturellen Formationen zur Geltung zu bringen; ihre Universalitt realisiert sich in freien, schçpferischen Individuationen und nicht in der Rechts- und Verfassungsuniformitt eines verfassten Welteinheitskirchentums.17 Im Gegenzug bedeutet das natrlich, dass die Entfaltungs- und Wirkungsrume großer Persçnlichkeiten kleiner wurden. 17 Vgl. Martin Ohst: Schleiermacher und die Bekenntnisschriften, Tbingen 1989 (Beitrge zur historischen Theologie 77), S. 36 – 45.

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Vor der Reformation wirkten Theologen und kirchliche Gestalter in riesige Weiten – allerdings allein auf die hauchdnne Schicht der Lese- und Lateinkundigen. Seit der Reformation dagegen ist die Breitenwirkung kirchlicher und theologischer Innovationen konfessionell, kulturell und national begrenzt – primr im Protestantismus, aber letztlich doch auch im Katholizismus. Dafr gehen die Wirkungen weiter in die Tiefe und in die Breite, was sich gerade an Schleiermachers Prsenz in protestantischen Bildungsschichten zeigen ließe.18 Der Einwand, Schleiermachers Ausstrahlung reiche „nur“ so weit wie der deutschsprachige Protestantismus, ist also insofern trivial, als er sich, mutatis paucissimis mutandis, auf jeden evangelischen Theologen und Kirchenmann seit der Reformation anwenden lsst. Mehr noch: Man darf sich durch das ja erst in den letzten knapp 150 Jahren seinen alten An18 Zwei exemplarische Belege hierzu mssen an dieser Stelle gengen. Wilhelm Dilthey merkt zu den Monologen an: „Daher wirkt unter allen moralischen Schriften moderner Denker diese allein bis auf den heutigen Tag in weiten Kreisen. Sie bt gerade in den entscheidenden Jahren der Entwicklung, wo sie tiefere Naturen berhrt, beinahe unfehlbar einen bestimmenden Einfluß. Eine nicht kleine Zahl von Menschen begegnet jedem Achtsamen, die den Anlaß zu einem bewußten hçheren sittlichen Leben den Monologen danken“ (Dilthey: Leben Schleiermachers, 2. Aufl., hg. von H. Mulert, Berlin und Leipzig 1922, S. 493 f.). An diese 1870 erstmals gedruckten Stze wird man erinnert, wenn man die folgende Episode aus dem Leben des Offiziers und Widerstandskmpfers Henning v. Tresckow (Oktober 1940) liest; Grundlage sind Aufzeichnungen von Luise v. Benda, Sekretrin im Oberkommando des Heeres und spter Ehefrau des Generaloberst Jodl: „Am Grabmal des unbekannten Soldaten [in Paris; M.O.], blickte er zum zweiten mal nach sechzehn Jahren versunken auf die flackernde, blaue Flamme. Schließlich fragte er – totenblaß – seine Begleiterin, ob sie Schleiermachers Worte auf dessen Berliner Denkmal kenne. Und dann – vor der Abfahrt mit dem Wagen – zitierte er ohne Pathos die Worte: ,Dies sei mein Ruhm, den ich suche, zu wissen, daß eine Stelle kommt auf meinem Wege, die mich verschlingt, und doch an mir und um mich nichts zu ndern, wenn ich sie sehe und doch nicht zu zçgern den Schritt‘“ (Bodo Scheurig: Henning von Tresckow. Eine Biographie, Oldenburg und Hamburg 31973, S. 90). Es handelt sich hier in charakteristischer nderung um ein Zitat aus den Monologen, Erstauflage S. 144 f.: „Unendlich ist was ich erkennen und besizen will, und nur in einer unendlichen Reihe des Handelns kann ich mich selbst ganz bestimmen. Von mir soll nie weichen der Geist, der den Menschen vorwrts treibt, und das Verlangen, das nie gesttigt von dem, was gewesen ist, immer Neuem entgegen geht. Das ist des Menschen Ruhm, zu wißen, daß unendlich sein Ziel ist, und doch nie still zu stehn im Lauf; zu wißen, daß eine Stelle kommt auf seinem Wege die ihn verschlingt, und doch an sich und um sich nichts zu ndern, wenn er sie sieht, und doch nicht zu verzçgern den Schritt“ (KGA I/3, S. 57 f.).

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spruch19 auf Geltung als religiçses Universalsymbol irgendwo zwischen gçttlicher und menschlicher Sphre realisierende Papsttum20 nicht den Blick dafr verstellen lassen, dass es sich im Rçmischen Katholizismus so viel anders denn auch nicht verhlt.

III. Welches ist nun sachlich-inhaltlich die von Schleiermacher vertretene und symbolisierte Auslegung des christlichen Lebensideals und des Kirchenbegriffs, um derer willen es sich nahe legt, ihm kirchengeschichtlichen Rang zuzuschreiben? Ich mçchte sie schlagwortartig in die folgende Formel fassen: Protestantisch-christliches Leben und Denken in der nachkonfessionellen brgerlichen Gesellschaft, wobei die Betonung auf die unscheinbare Prposition „in“ zu legen ist. Die Prposition signalisiert zunchst einmal eine Distanzierung. Gesellschaft und Kirche, Christsein und Menschsein fallen fr Schleiermacher auch der Idee nach nie einfach ineins. Wohl kaum ein deutscher evangelischer Theologe vor und neben ihm hat derart deutlich wie er gesehen, dass die alteuropische Symbiose von gesellschaftlich-staatlicher Ordnung, allgemeiner Kultur und christlicher Religion und Kirche auch in ihrer nachreformatorisch-konfessionellen Gestalt der Vergangenheit angehçrte. Klar hat er erkannt, dass die Kirche ein distinktes Segment der Gesellschaft ist, das sich selbst seiner Eigenart gemß organisieren und sich in die Gesellschaft insgesamt einpassen muss. Er hat dieses Syndrom von Gegebenheiten und Aufgaben unbefangener wahrgenommen als seine konservativen Zeitgenossen, die von Restauration und vom christlichen Staat sprachen. Aber er hat es auch 19 Vgl. Innocenz’ III. zweiten Sermo anlßlich seiner Inthronisation: „Jam ergo videtis quis iste servus, qui super familiam constituitur, profecto vicarius Jesu Christi, successor Petri, Christus Domini, Deus Pharaonis: inter Deum et hominem medius constitutus, citra Deum, sed ultra hominem: minor Deo, sed maior homine: qui de omnibus judicat, et a nemine judicatur“ (Migne Patrologia Latina 217, Sp. 658 A); s. dazu Bernd Moeller: Papst Innocenz III. und die Wende des Mittelalters (1973), in: Ders.: Die Reformation und das Mittelalter. Kirchenhistorische Aufstze, hg. von J. Schilling, Gçttingen 1991, S. 21 – 34, hier: 27 f. 20 Die massive und ehrliche Empçrung vieler Katholiken darber, dass die Deutsche Bundeskanzlerin es gewagt hat, im Zuge der Aufgeregtheiten ber die Aufhebung der Exkommunikation gegen die Geistlichen der Piusbruderschaft den Papst zu kritisieren, msste einmal auf ihre religionsgeschichtliche Bedeutung hin bedacht werden.

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deutlicher ins Auge gefasst als diejenigen Philosophen, Theologen und Kirchenmnner seiner Zeit, die mit ganz unterschiedlichen gedanklichen Mitteln und auf ganz unterschiedlichen geistigen Hçhenlagen unverdrossen den Versuch unternahmen nachzuweisen, dass, recht verstanden, allgemeinverbindliche humane Weltdeutung und Sittlichkeit sowie christlicher Glaube eigentlich identisch seien, und dass, ebenfalls recht verstanden, die Kirche nichts weiter sei als die Gesamtgesellschaft unter einem bestimmten Aspekt ihrer Selbstdeutung und ihrer Selbstreflexion. Es waren diese Identifikationen, in welchen Schleiermacher, wie das 1. Sendschreiben an Lcke bezeugt, eine tiefe, dem oberflchlichen Blick verborgene Gemeinsamkeit zwischen den Vertretern des sptaufklrerischen Rationalismus einerseits und den spekulativen Theologen wie seinem Kollegen Marheineke anderseits diagnostizierte.21 Im Gegensatz zu den Erweckten in der Generation der Schler hat Schleiermacher jene von Differenzen durchzogene Konstellation allerdings innerlich akzeptiert. Er hat sich entschieden gegen alle Versuche gewendet, bewusstes, reflektiertes Christentum in eine sei es aggressive, sei es defensive Kampflinie gegen eine „entchristlichte“ Moderne zu stellen.22 Die Prposition „in“ in der Formel „Protestantisch-christliches Leben und Denken in der nachkonfessionellen brgerlichen Gesellschaft“ signalisiert also neben der Distanz zugleich den intensiven, positiven und konstruktiven Rckbezug auf sich verndernde Lebens- und Denkbedingungen. Schleiermacher sah seine Gegenwart bestimmt von Gestaltungen humaner Selbst- und Weltdeutung, fr deren geschichtliches Werden die christliche Religion zusammen mit der Geistigkeit der klassischen Antike zwar konstitutiv war. Aber sie hatten sich ihren christlichen Wurzeln gegenber derart verselbstndigt, dass sie ihr keine formale Normierungsfunktion mehr einrumten. Der christliche Glaube, so Schleiermacher, habe das zu akzeptieren. Aber er zog daraus nicht den Schluss, dass der christliche Glaube sich ins Abseits einer Subkultur zurckziehen drfe oder gar msse. Vielmehr entwickelte er auf ganz unterschiedlichen Ebenen Verstndigungsmodelle, in welchen Unterscheidung und Zuordnung von Christentum und allgemeiner Kultur, Kirche und Gesellschaft einander in immer wieder neu auszutarierenden Feinabstimmungen die Waage halten sollten. 21 Vgl. Zweites Sendschreiben an Lcke, Originalpaginierung S. 491 – 493; KGA I/10, S. 347 – 349. 22 Vgl. ebd., Originalpaginierung S. 489 – 491; KGA I/10, S. 345 – 347.

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IV. Ein solcher prominenter Realisationsfall des Modells von Unterscheidung und Zuordnung ist Schleiermachers Konzept einer wissenschaftlichen Theologie, welche sich selbst als eine Wissenschaft im Raum der Wissenschaften versteht und dabei dezidiert auf jeden Versuch verzichtet, sich den anderen Wissenschaften als normative Instanz vor- oder berzuordnen. Die Einleitung in die Glaubenslehre, in der Schleiermacher die von ihm ganz neu konzipierte Philosophische Theologie23 als Wesensbestimmung des Christentums in den Grundzgen entfaltet hat, konnte er in diesem Sinne als „Ortsbestimmung“24 bezeichnen: Sie bestimmt anhand theoretischer Koordinatensysteme, welche ohne jeden Rckgriff auf spezifisch theologische Voraussetzungen konstruiert sind, den Ort von Religion und Christentum innerhalb der menschlichen Subjektivitt und in der geschichtlichen Welt – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Dass religiçses Sichdeuten und Sichverstehen zu den Grundakten menschlichen Bewusstseins zhlen, dass dieser Grundvollzug bewusst gelebten Menschseins mit innerer Notwendigkeit ihm eigene Formen von Sozialitt hervorbringt, dass das faktische religiçse Leben sich in geschichtlich-individuellen Großformationen vollzieht und dass die christliche Religion ihren begrifflich und empirisch zu bestimmenden Ort in der Welt der Religionen hat: Das sind wissenschaftliche Feststellungen oder Thesen, die von kompetenten Personen unbeschadet ihrer je eigenen religiçsen Optionen akzeptiert oder doch konstruktiv diskutiert werden kçnnen. Die Theologie verwaltet kein esoterisches Sonderwissen ber ihren Gegenstandsbereich, sondern sie traktiert ihn mit allgemein akzeptierten wissenschaftlichen Kategorien und Methoden. Aber die so erarbeitete Wesensbestimmung des Christentums will nicht nur einen religions- und geschichtswissenschaftlich brauchbaren Deutebegriff fr eine Großformation in der Welt der Religionen bereitstellen. Zugleich soll der Wesensbegriff eine wenn auch hoch abstrakte Ausdrucksform der christlichen Religion sein, in welcher sich lebendiges christlich-religiçses Bewusstsein durchaus wiedererkennen und zum Ausdruck bringen kann. 23 Vgl. Martin Rçssler: Schleiermachers Programm der Philosophischen Theologie, Berlin und New York 1994 (Schleiermacher-Archiv 14). 24 Zweites Sendschreiben an Lcke, Originalpaginierung S. 514; KGA I/10, S. 371.

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Das wiederum soll nicht heißen, dass die christliche Religion zu einer zwingenden Vernunftnotwendigkeit transformiert werden kann, an der alle ontologischen und ethischen Begriffe ihre Normen und Wurzeln htten. Aber dennoch – oder gerade deshalb! – bleibt die Aufgabe, die spezifischen Gehalte der christlichen Religion in vernnftig einsichtiger Form zu reflektieren – zuerst und zuletzt deshalb, weil ja das religiçse Subjekt selbst ein vernnftig denkender und sich orientierender Mensch ist. Die Reflexion des christlichen Glaubens im Medium freier, humaner Vernnftigkeit ist also keineswegs primr oder gar allein apologetischen Notwendigkeiten geschuldet, sondern sie entspringt vielmehr dem genuinen Selbstklrungsund Selbstverstndigungsinteresse der christlichen Religion in der nachkonfessionellen brgerlichen Gesellschaft. Eine Theologie, die derart ihre geschichtliche Situation und ihre spezifischen Aufgaben in dieser Situation erkennt, kann sich schlechterdings nicht in ihren esoterischen Fachdiskursen verkapseln. Sie muss vielmehr selbst genau dort mitarbeiten, wo das allgemeine Wahrheitsbewusstsein sich seine Reflexionsgestalten erarbeitet, d. h. in Schleiermachers wissenschaftstheoretischer Terminologie in der Philosophie. Diese Forderung hat Schleiermacher bekanntlich selbst im wohl hçchstmçglichen Maße erfllt25 und damit seine Fassung der Aufgaben akademischer Theologie unter spezifisch neuzeitlichen Bedingungen eindrcklich bewhrt, und zwar gerade weil und sofern er in seinen philosophischen Entwrfen von theologischen Erwgungen so gut wie vollstndig Abstand nimmt: Beide Bereiche mssen gerade um ihrer wechselseitigen Gesprchs- und Anschlussfhigkeit willen ihre Grenzen wahren und ihre Zustndigkeitsbereiche achten. Die unterschiedlichen Disziplinen der Philosophie wrden die universale Weite ihres Horizonts beschrnken, wenn sie sich von außen durch spezifisch christliche Leitgesichtspunkte dominieren ließen. Und die Theologie bedarf genau einer solchen von theologischen Kontaminationen freien Philosophie, wenn sie ihrer spezifisch wissenschaftlichen Verstehens- und Verstndigungsaufgabe nachkommen will, welche ihr der gelebte christliche Glaube in seiner bestimmten geschichtlichen Situation stellt.

25 Schleiermachers akademisch-philosophische Lehrttigkeit ist umfassend dokumentiert von Hans-Joachim Birkner: Schleiermacher als philosophischer Lehrer (1983), in: Ders.: Schleiermacher-Studien, hg. von H. Fischer, Berlin und New York 1996 (Schleiermacher-Archiv 16), S. 237 – 250.

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V. Diese dauerhaft gestellte Aufgabe der Verstndigung zwischen unterschiedlichen Betrachtungsweisen und Leitgesichtspunkten stellt sich nun nicht allein im Verhltnis zwischen der Theologie als ganzer und außertheologischen Wissensgebieten, sondern sie wiederholt sich in immer neuen Konstellationen in den theologischen Disziplinen selbst. Alle wirklich wichtigen Themen der Theologie sind, um es in der Sprache des Staatskirchenrechts zu sagen, res mixtae: An ihnen hat die christliche Frçmmigkeit ein genuines und legitimes Eigeninteresse, weil und sofern sie an ihnen ihrer Herkunft ansichtig wird, oder weil sie sich an und in ihnen symbolisiert bzw. realisiert. Und zugleich sind diese Themen selbstverstndlich auch Gegenstnde der nicht von irgendwelchen externen religiçsen oder kirchlichen Vorgaben geleiteten Wissenschaft, sei es der Philosophie i. e.S., sei es der Geschichtswissenschaft. Auf zwei Zentralthemen von Schleiermachers theologischer Arbeit will ich beispielhaft kurz hinweisen, nmlich, in dogmatischer Terminologie gesprochen, die Christologie und die Ekklesiologie. An beiden lsst sich ablesen, wie Schleiermacher die unterschiedlichen Fragestellungen miteinander verschrnkt – ohne sie miteinander zu vermischen oder ineinander zu verwandeln, aber auch ohne sie trennend und sondernd widereinander zu isolieren. Der christologische Komplex von Denkaufgaben hat Schleiermacher in allen seinen Facetten beschftigt, solange er produktiv geistig ttig war. In allen ihm zugnglichen gedanklichen Kontexten hat Schleiermacher die Frage durchdacht, warum und mit welchen rechenschaftsfhigen Grnden es christlicher Frçmmigkeit wesentlich ist, sich auf einen bestimmten geschichtlichen Menschen als ihren bleibend konstitutiven Anfangspunkt zurckzubeziehen. Die religions- und subjektivittstheoretischen Implikationen dieser Frage hat er ebenso bedacht wie die sozial- und geschichtsphilosophischen. Auch in die historische Rckfrage nach dem historischen Individuum, in welchem der christliche Glaube seinen Anfnger und Vollender bekennt, hat er ein erhebliches Maß an Mhe investiert: Seine Rekonstruktion des Lebens Jesu, die er seit 1819 mehrfach in Vorlesungen dargeboten hat,26 will und soll ein historischer Beitrag sein, und wenn man sie sich in ihrem ursprnglichen forschungsgeschichtlichen Kontext ansieht, ohne, gesttzt auf David Friedrich Strauß oder gar Albert 26 Friedrich Schleiermacher: Smmtliche Werke, Abt. I, Bd. 6, Berlin 1864.

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Schweitzer, schon immer alles besser zu wissen, dann wird man dagegen kaum etwas einwenden kçnnen.27 In engem Konnex mit der dogmatischen Reflexionsgestalt der Christologie hat diese historische Untersuchung die Aufgabe, darzulegen, warum und inwiefern der sich auf Christus als seinen bleibend unberholbaren Ursprungs- und Bezugspunkt beziehende Glaube es mit einer geschichtlichen Grçße zu tun hat und nicht bloß mit einem chimrischen Produkt der frommen Phantasie oder der Spekulation. Die Resultate dieser weit und unbefangen ausgreifenden Erkenntnisund Denkprozesse sind eingeflossen in die Christologie der Glaubenslehre, wo sie einerseits vor dem Forum der historisch und philosophisch kritischen Vernunft dargelegt werden und anderseits ihre Bewhrung im geduldigen Gesprch mit den klassischen dogmatischen berlieferungen und gegenwrtigen Positionen suchen. Die selbstverantwortete Theoriebildung versteht sich, ohne ihren geschichtlichen Standort und ihre individuelle Besonderheit zu verleugnen, als Beitrag in einem großen, die Zeitalter und die unterschiedlichen Positionen umfassenden Gesprchszusammenhang. Htte Schleiermacher lediglich thetisch-monologisch sein eigenes System entfaltet, dann wre nur ein schmales Bndchen entstanden. Sein Wille zur selbstndigen und selbstbewussten Einordnung in den großen Gesprchszusammenhang28 hat Schleiermachers Glaubenslehre zu einem umfangreichen Werk anschwellen lassen; die Subsumption unter die Historische Theologie29 hat Schleiermachers Hauptwerk zugleich im neuzeitlich-kritischen Sinne zur kirchlichen Dogmatik gemacht.

27 Vgl. Dietz Lange: Historischer Jesus oder mythischer Christus. Untersuchungen zu dem Gegensatz zwischen Friedrich Schleiermacher und David Friedrich Strauß, Gtersloh 1975. Markus Schrçder: Die kritische Identitt des neuzeitlichen Christentums. Schleiermachers Wesensbestimmung der christlichen Religion, Tbingen 1996 (Beitrge zur historischen Theologie 96). 28 Vgl. dazu die schçne Beschreibung von Emanuel Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie, Bd. 5, Gtersloh 1954, S. 316 – 318. Werner Elerts beilufig geußerter Beobachtung, Schleiermachers dogmatische Methode weise deutliche hnlichkeiten mit der Arbeit der Historischen Rechtsschule auf (Der Kampf um das Christentum, Mnchen 1921, S. 71 ff.) ist, wenn ich recht sehe, noch niemand ernstlich nachgegangen. – Das Verhltnis Savigny-Schleiermacher wird jetzt erçrtert von Stefan Meder: Mißverstehen und Verstehen. Savignys Grundlegung der juristischen Hermeneutik, Tbingen 2004, S. 28 – 34. 29 Zu deren Vorgeschichte s. Otto Ritschl: Dogmengeschichte des Protestantismus, Bd. 1, Leipzig 1912, S. 26 – 28.

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VI. Und damit sind wir beim zweiten theologischen Lebensthema Schleiermachers angelangt, auf das kurz hingewiesen sein soll. Deutlich wie kein zweiter hat Schleiermacher erkannt, dass beim Thema „Kirche“ ein dramatisch erhçhter Reflexionsbedarf eintrat, als die zumal protestantisch hergebrachte Symbiose von weltlicher Obrigkeit und Kirchenwesen fraglich und brchig wurde. Und er hat sich in dieser Situation nicht auf die Rezitation biblischer bzw. reformatorischer Formeln oder gar auf die notae ecclesiae im Glaubensbekenntnis von Nica und Konstantinopel zurckgezogen, sondern er hat auch hier von den Anfngen seiner Schriftstellerei an die geschichts- und sozialphilosophischen Perspektiven des allgemeinen Wahrheitsbewusstseins und die religiçse Binnenperspektive zugleich reinlich voneinander gesondert und produktiv aufeinander bezogen. Er hat den Versuch unternommen, auf der Basis humaner Plausibilitt darzulegen, dass und warum Religion und religiçse Vergemeinschaftung gleichursprnglich sind und dass eben deshalb die religiçse Vergemeinschaftung zu den irreduziblen Grundmustern gesellschaftlichen Lebens gehçrt. In diese Koordinaten hat er dann das protestantisch ausgeformte religiçse und theologische Selbstverstndnis der christlichen Kirche eingezeichnet und damit wiederum der geschichtlichen Wahrnehmung dieses Phnomens in seiner ganzen Breite und Tiefe ein unbertroffen sensibles Instrumentarium an Leitfragen und Deutebegriffen an die Hand gegeben.30 Darber hinaus hat sich Schleiermachers Kirchenbegriff als ußerst realittstauglich bei der Selbsteinordnung der evangelischen Kirchentmer in die sich modernisierende Gesellschaft erwiesen. Der einsame Rang von Schleiermachers Stellungnahmen in den unterschiedlichen Streitigkeiten um die Einfhrung der kçniglichen Agende in Preußen und die Neugestaltung der Kirchenverfassung wird dem heutigen Leser, der weiß, wie die Geschichte weiterging, wohl deutlicher vor Augen treten als den Zeitgenossen. Der spezifisch deutsche staatskirchenrechtliche Weg der „hinkenden Trennung“ von Staat und Kirche weist rein phnotypisch beachtliche hnlichkeiten mit Schleiermachers einschlgigen Gedanken auf; ob und wieweit hier auch genotypische Verbindungslinien nachzuweisen sind, msste eine Untersuchung zu seinen Wirkungen in der staatskirchenrechtlichen Theoriebildung des 19. und 20. Jahrhunderts klren. 30 Hergeleitet und entfaltet wird es in der Christlichen Sitte (Schleiermacher: Smmtliche Werke, Abt. I, Bd. 12, Berlin 1843).

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VII. Schleiermacher war in alledem kein einsamer Rufer in der Wste, er hatte Zeit- und Arbeitsgenossen, die ganz hnlichen Zielvorstellungen folgten wie er selbst – man denke etwa an seinen Kollegen und Freund de Wette31. Und Schleiermacher hat nirgends aus dem Nichts heraus Neues geschaffen. Er hatte Vorarbeiter und Vordenker: Er hat die herrnhutische Christusfrçmmigkeit seiner Jugend nie vollstndig abgelegt, er hat den kantischen Kritizismus in sich aufgenommen wie die Bibel- und Dogmenkritik der hallischen Aufklrungstheologie. Den Erwerb aus den Jahren des Frhromantiker-Kreises hat er ebenso weiter durch sein Leben und seine Arbeiten getragen wie die Impulse Spinozas oder aus der Gefhlstheorie Jacobis. Aber dennoch: So klar sich alle diese Einflsse in seinem Denken identifizieren und gegeneinander abgrenzen lassen – er hat sie in ein ganz eigengeprgtes, in sich reich differenziertes und keinesfalls spannungsloses Ganzes hinein integriert. Sinnt man darber nach, dann fhlt man sich an bekannte Stze Harnacks ber Augustin erinnert: „Wenn man […] die verschiedenen Linien verfolgt und convergiren lsst, auf denen sich das abendlndische Christenthum im 4. und 5. Jahrhundert entwickelt hat, so kann man ein Gebilde construiren, welches dem ,Augustinismus‘ nahe kommt; ja man kann ihn auch als ein Product der Noth ableiten aus den inneren und usseren Zustnden, in denen sich die Kirche und die Theologie damals befanden“32. Aber, so Harnack weiter, das Entscheidende wrde man doch verfehlen, weil „man […] nimmermehr den Mann zu erreichen [vermag], der hinter diesem Gebilde steht und ihm Kraft und Leben verliehen hat“33. In vergleichbarer Weise verhlt es sich mit Schleiermacher. Er hat aus und mit alledem, was er von Frheren und Gleichzeitigen bernommen hat, in der akademischen Sphre einen ganz eigenen Typus theologischer Theoriebildung entwickelt, und er hat auf seine Weise dem kirchlichen Leben bleibende Spuren seines praktischen Handelns aufgedrckt. Als akademischer Theologe, als Prediger, als Wissenschafts- und Kirchenpolitiker hat er in seiner persçnlichen Lebens- und Arbeitsweise zugleich ein wirksames Symbol des von ihm gelebten und durchdachten protestanti31 Vgl. Martin Ohst: De Wette als theologischer Ethiker neben Schleiermacher, in: Theologische Zeitschrift (Basel) 51 (1995), S. 151 – 173. 32 Harnack: Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd. 3 (wie oben Anm. 2), S. 62. 33 Ebd.

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schen Christentums in der nachkonfessionellen brgerlichen Gesellschaft geschaffen: ganz Christ, Theologe und Prediger, und ebenso ganz seiner Verantwortung fr das Gemeinwohl bewusster, in die politische Verantwortung drngender Brger, ganz maßgeblich mitgestaltender Teilnehmer des brgerlich-kulturellen Lebens und als Philosoph und Philologe ganz Wissenschaftspolitiker und -organisator mit einem weit ber die Theologische Fakultt hinausreichenden Einfluss- und Interessenkreis. Zeugen fr dieses auch den Zeitgenossen erstaunliche personifizierte Miteinander von brgerlich-postkonfessioneller Kultur und kirchlich engagiertem protestantischem Christentum sind die Stimmen der Freunde und Verehrer.

VIII. Aber noch aussagekrftiger drften die Noten der Kritiker sein, die, aus ganz unterschiedlichen Perspektiven argumentierend, diesem gelebten Syntheseversuch die Anerkennung versagten: Der junge Richard Rothe sah in Schleiermacher einen intellektuellen Virtuosen ohne eigentlich theologische Substanz,34 August Tholuck konnte befriedigt vermelden, Schleiermacher habe sich als Pantheist decouvriert,35 Heinrich Heine schilderte ihn seinen franzçsischen Lesern als politischen Frondeur, der nur noch den Talar abwerfen msse, um ganz er selbst zu werden,36 und David Friedrich Strauß endlich zieh ihn gar des Doppelverrats an der Theologie wie an der modernen Philosophie und Weltanschauung.37 Man kann diesen Kritikern im Einzelnen Ungerechtigkeit und mangelndes Verstndnis vorwerfen – grundstzlich waren sie im Recht mit ihrem Hinweis auf unleugbare Spannungen und Brche in Schleiermachers Systemkonzeption, welche sich insbesondere in den Themenfeldern „Glaube und Geschichte“ bzw. „Christentum und Kultur“ finden. Exemplarisch sei eine Reihe von einschlgigen Thesen Schleiermachers genannt: 34 Vgl. Friedrich Nippold: Richard Rothe. Ein christliches Lebensbild, Bd. 1, Wittenberg 1873, S. 156. 35 Vgl. Leopold Witte: Das Leben D. Friedrich August Gotttreu Tholucks, Bd. 1, Bielefeld und Leipzig 1884, S. 102 sowie Adolf Hausrath: Richard Rothe und seine Freunde, Bd. 1, Berlin 1902, S. 111. 36 Vgl. Heinrich Heine: Briefe aus Berlin (1822), in: Ders.: Smtliche Schriften, hg. von K. Briegleb, Bd. 2, Mnchen und Wien 1976, S. 36 f. 37 Vgl. David Friedrich Strauß: Die christliche Glaubenslehre in ihrer geschichtlichen Entwicklung und im Kampfe mit der modernen Wissenschaft, Bd. 2, Tbingen und Stuttgart 1841, S. 176 f.

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Die Einleitung in die Glaubenslehre reiht die christliche Religion ein in die brigen großen Religionen und konzediert ihr allein das, was Ernst Troeltsch spter als „die Anerkennung des Christentums als der uns geltenden hçchsten religiçsen Wahrheit“38 bezeichnet hat. Dennoch vertritt die Glaubenslehre, allen erkenntniskritischen Vorbehalten und Kautelen zum Trotz39, als Inhalt des christlich-frommen Bewusstseins die Erwartung, dass sich zum Ende der Geschichte die christliche Religion als die allein- und allgemeingltige durchgesetzt haben wird40. In der 1. Abhandlung Ueber den Begriff des hçchsten Gutes sucht man in einem durchaus vergleichbaren Zusammenhang solche Anklnge an traditionelle eschatologische Erwartungen vergeblich; hier spricht Schleiermacher lediglich vom „Himmelreich in der freien Gemeinschaft des frommen Glaubens“,41 wobei der Zusammenhang eine Deutung im Sinne der friedlichen Koexistenz unterschiedlicher religiçser Bezugssysteme nahelegt. Die IV. Augustana-Predigt beschwçrt in geradezu dramatischen Worten die bleibende konstitutive Bedeutung der christlichen Religion fr den Fortbestand und die Weiterentwicklung moderner Kultur und Humanitt.42 Ist damit das Ja zu einer von kirchlicher Bevormundung freien brgerlichen Kultur widerrufen? Sicher, in Schleiermachers eigenem Systemkonzept sind diese Widersprche immer schon abgefedert, weil sie durch die Zuweisung zu unterschiedlichen Aussageebenen entschrft werden kçnnen. Aber handelt es sich nicht eben doch letztlich um Widersprche in der Sache, die sich auch durch die feinsten wissenschaftssystematischen Distinktionen nicht wirklich bereinigen lassen? Schleiermachers Wirkung und damit sein kirchengeschichtlicher Rang sind durch solche Spannungen wohl eher befçrdert als gemindert worden. Seine Wirkung hçrte ja dort nicht auf, wo man einigen seiner positionellen 38 Ernst Troeltsch: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (21911), zit. nach der Ausgabe von Trutz Rendtorff, Gtersloh 1969, S. 84. 39 Vgl. den „Zusatz“ im Anschluß an Der christliche Glaube 2 § 163; KGA I/13, 2, S. 429 f. 40 Ebd. §157, 1; KGA I/13, 2, S. 456 f. 41 KGA I/11, S. 552; Friedrich Schleiermacher: Smmtliche Werke, Abt. II, Bd. 3, Berlin 1835, S. 66. 42 Vgl. Friedrich Schleiermacher: Smmtliche Werke, Abt. II, Bd. 2, Berlin 1834, S. 661 – 664; Friedrich Schleiermacher: Dogmatische Predigten der Reifezeit hg. von E. Hirsch, Berlin 1969 (Kleine Schriften und Predigten, Bd. 3), S. 59 – 64.

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Optionen dezidiert widersprach. Epigonen, die in infantiler Manier seinen Spuren folgten, hat er nicht hinterlassen. Diejenigen, die sich als seine Schler bezeichneten und so bezeichnet wurden, waren immer auch seine Kritiker, die von ihm fr den eigenen Weg lernten – schon bei Lebzeiten. Der von Schleiermacher ausgearbeitete und beispielhaft vertretene Grundtypus theologischer Arbeit und ihrer Einspeisung in die kirchlichen Prozesse der Kommunikation und der Willensbildung ist von solchen Theologen weiter ausgeprgt und fortgebildet worden, welche die Zustimmung zu den Grundlinien des Schleiermacherschen Theologieprogramms mit dem Anspruch verbanden, dieses Programm besser zu formulieren und folgerichtiger umzusetzen, als sein Urheber es selbst getan hatte. Ich komme, um ein Beispiel zu geben, noch einmal auf Schleiermachers Christologie zurck. Er hat die in ihr versammelten wissenschaftlichen Einzelfragen, teilnehmend an den Debatten seiner Zeit und teilhabend an deren Wahrnehmungsbedingungen und -schranken, bearbeitet. Er hat die Ergebnisse zum Gesamtbild ineinandergefgt, in welchem der historische Befund und das religiçse Interesse produktiv aufeinander bezogen sind. Auf dieser Grundlage hat er gepredigt, wobei er an seine Hçrer fr heutige Maßstbe exorbitante intellektuelle Anforderungen stellte und dennoch – oder deshalb? – eine fr Predigten heute unvorstellbare Resonanz erzielte. Seiner Christologie als einem positionell-dogmatischen Gedankenkonstrukt sind bald schon nach seinem Tode die Fundamente weggerutscht, zumal die historischen. Nichtsdestotrotz: Lebendig und wirksam geblieben ist seine kritisch-historisches, geschichtsphilosophisches und religiçses Interesse beieinander festhaltende Fassung der christologischen Denk- und Erkenntnisaufgaben. Daran haben auf Dauer alle die Einsprche andersartiger Konstruktionen nichts gendert, welche seiner differenzierten Fassung der Aufgabe den Abschied gaben und sich in letztlich dezisionistischer Weise auf vereinfachte Autorittsfundamente zurckzogen, hießen diese nun Bibel oder Kirche, Kerygma oder Dogma. So besteht Schleiermachers kirchengeschichtlicher Rang letztlich darin, dass sich die von ihm formulierten Fragen, Probleme und Aufgaben immer wieder ihre neuen Bearbeiter suchen, welche sptestens dann, wenn sie sich auf ihren eigenen geschichtlichen Standort besinnen, wiederum auf ihn selbst stoßen und dann staunend die Erfahrung machen, wieviel sich immer von neuem bei ihm lernen lsst.

Fortschritt und Zukunft in Schleiermachers Philosophie Andreas Arndt Der Titel meiner Ausfhrungen ist nicht so zu verstehen, als wolle ich mich der mantike techne befleißigen, der Wahrsagekunst also, wobei Schleiermacher den Ausdruck in seiner bersetzung des Phaidros auch schon einmal als „Wahnsagekunst“ verdeutschte.1 Eher schon neige ich zu jener Art von Weissagung, die Friedrich Schlegel meinte, als er schrieb, der Historiker sei ein rckwrts gekehrter Prophet.2 Worum also geht es? In Schleiermachers Philosophie spielt die Dimension der Zukunft eine bedeutende, wenngleich in der Rezeption weithin unterschtzte Rolle. Gemeint also ist zunchst die Anwesenheit dieser Dimension in Schleiermachers Philosophie und nicht ihre Zukunft als Philosophie, obgleich beides letztlich auch miteinander zu tun haben mag, worauf ich schließlich auch noch – aber nur in bezug auf ihren Zukunftsbegriff und nicht auf die Schleiermachersche Philosophie im Ganzen – eingehen werde. Das Ungengen an der Gegenwart wird bereits in den zu Lebzeiten unverçffentlichten Jugendschriften, wie etwa der Abhandlung ber den Werth des Lebens (1792/93), zum Thema, womit dann im Gegenzug die Hoffnung auf einen umfassenden Fortschritt schon in den anonym publizierten Erstlingswerken, den Reden ber die Religion (1799) und den Monologen (1800), bestimmend wird. Schleiermacher ist – fast mçchte man sagen: beinharter – Fortschrittstheoretiker (wie alle Frhromantiker), dessen Philosophie die Mçglichkeit und Notwendigkeit einer durchgreifenden Humanisierung der Welt zu begrnden versucht. In der Ethik ist es das hçchste Gut, welches eine fortschreitende Beseelung der Natur (auch der menschlichen) durch Vernunft verheißt, in der Dialektik der Prozess des werdenden Wissens, welcher den Horizont eines streitfreien Denkens erçffnet, und der Parallelismus von Philosophie, Wissenschaft und Religion schließlich soll sichern, dass die religiçse Dimension des Menschen im

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Phaidros 244 b–d; Plato: Werke, Bd. 1, 1, Berlin 1804, S. 111 f. Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe, Paderborn u. a. 1958 ff. (im folgenden KFSA). Bd. 2, S. 176 (Athenaeum-Fragment 80). – Schleiermacher zitiert den Aphorismus in „Gedanken V“, KGA I/3, S. 298 (Nr. 64).

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Fortschritt nicht auf der Strecke bleibt. Von all diesem handelt der erste Teil meiner Ausfhrungen. Zu fragen ist aber auch, ob sich dies alles als haltbar erwiesen hat. Hierauf werde ich im zweiten Teil eingehen. Dabei geht es mir nicht um modische Kritik am Fortschrittsbegriff, wie sie postmodern als interesseloses Wohlgefallen an der Katastrophe zelebriert wird. Ich mçchte vielmehr danach fragen, ob Schleiermachers Philosophie im prophetischen Rckblick des Historikers jene Zukunftsdimension hat retten und fr unser knftiges Selbst- und Weltverhltnis so bewahren kçnnen, wie sie es wollte.

1 In der vierten der Reden ber die Religion entwickelt Schleiermacher den Gedanken eines allgemeinen Priestertums, das keiner anderen Organisation mehr bedarf als der „frommen Huslichkeit“, welche das „treueste Bild des Universums“ sein kçnne: „Dies Priesterthum war das erste in der heiligen und kindlichen Vorwelt, und es wird das lezte sein wenn kein anderes mehr nçthig ist.“3 Voraussetzung hierfr jedoch sei eine vom „Druk mechanischer und unwrdiger Arbeiten“ befreite Menschheit, die dadurch erst den „freien und ofnen Blik“ gewinnen kçnne, „mit dem allein man das Universum findet“. Die technische Utopie einer Befreiung von Arbeit4 wird zur Voraussetzung einer im allgemeinen Priestertum grndenden neuen Religiositt: „Es gibt kein grçßeres Hinderniß der Religion als dieses, daß wir unsere eignen Sklaven sein mßen, denn ein Sklave ist Jeder, der etwas verrichten muß, was durch todte Krfte sollte bewirkt werden kçnnen. Das hoffen wir von der Vollendung der Wißenschaften und Knste daß sie uns diese todten Krfte werden dienstbar machen, daß sie die kçrperliche Welt, und alles von der geistigen was sich regieren lßt in einen Feenpallast verwandeln werde, wo der Gott der Erde nur ein Zauberwort auszusprechen nur eine Feder zu drken braucht, wenn geschehen soll was er gebeut. Dann erst wird jeder Mensch ein Freigeborner sein, dann ist jedes Leben praktisch und beschaulich zugleich, ber keinem hebt sich der Stekken des Treibers und Jeder hat Ruhe und Muße in sich die Welt zu betrachten.“ Die Perspektive dieser Utopie, welche Religiositt freisetzen 3 4

KGA I/2, S. 289 f. (auch das folgende). Vgl. Andreas Arndt: Die Arbeit der Philosophie, Berlin 2003, S. 71 – 92 (Kap. IV: „Romantik der Arbeit“. Perspektiven des frhromantischen Arbeitsbegriffs; zu Schleiermacher S. 83 – 85).

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wrde, ist fr Schleiermacher aber auch erst mit der Religion zu gewinnen, ohne die ein gelingendes Leben – fr das hier das Gleichgewicht von Praxis und Theorie (Beschaulichkeit) steht – nicht gedacht werden kçnne. An anderer Stelle der Reden heißt es hierzu: „Spekulazion und Praxis haben zu wollen ohne Religion, ist verwegener bermuth, es ist freche Feindschaft gegen die Gçtter, es ist der unheilige Sinn des Prometheus, der feigherzig stahl, was er in ruhiger Sicherheit htte fordern und erwarten kçnnen.“5 Philosophie als Reflexion in theoretischer und praktischer Absicht bezieht sich demzufolge auf einen Fortschritt der Wissenschaften und Knste, der – um die Mçglichkeit einer vernnftigen, humanen Allgemeinheit zu realisieren – begleitet werden muss von Religion. Dies kçnnte so verstanden werden, als sei die Religion der Philosophie bergeordnet, und tatschlich gibt es hier wohl auch eine Ambivalenz in der Argumentation der Reden, trotz der in der zweiten Rede proklamierten strikten Trennung von Metaphysik (Theorie) und Moral (Praxis) einerseits und Religion andererseits.6 Man kann dies aber auch so verstehen, als trfen sich in der Perspektive vernnftiger Allgemeinheit Religion und Philosophie: „um die Welt anzuschauen und um Religion zu haben, muß der Mensch erst die Menschheit gefunden haben“, sie ist „Stoff fr die Religion“.7 Hierin berhren sich in der Tat die Reden mit Schleiermachers erster selbstndig erschienenen philosophischen Schrift, den Monologen (1800). In deren Mittelpunkt steht die Menschheit als die Gemeinschaft freier Geister, eine Gemeinschaft, in der die Antinomie von Freiheit und Notwendigkeit beseitigt sein soll. Die Perspektive ist gerichtet auf eine nichtentfremdete menschliche Wirklichkeit, in der die Individuen sich als freie wechselseitig anerkennen. Hierfr steht wieder, wie in den Reden, eine „innige und nothwendige […] Verbindung zwischen Thun und Schauen. Ein wahrhaft menschlich Handeln erzeugt das klare Bewußtsein der Menschheit in mir, und dies Bewußtsein lßt kein anderes als der Menschheit wrdiges Handeln zu.“8 Die „hçchste Anschauung“, welche die Philosophie vermitteln kann, ist die der Menschheit: „So ist mir aufgegangen, was jezt meine hçchste Anschauung ist, es ist mir klar geworden, daß jeder Mensch auf eigne Art die Menschheit darstellen soll, in einer eignen Mischung ihrer Elemente, damit auf jede Weise sich offenbare, und wirklich werde in der Flle der Unendlichkeit Alles was aus ihrem Schooße 5 6 7 8

KGA I/2, S. 212. Ebd., S. 211 ff. Ebd., S. 228. KGA I/3, S. 16.

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hervorgehen kann.“9 Diese hçchste Anschauung der Philosophie ist zugleich das, was in den Reden zur Religion fhig macht; vernnftige Allgemeinheit im Sittlichen und, wie Schleiermacher es nennt, „religiçser Genuß“10 konvergieren. Wie das allgemeine Priestertum, so bezeichnet auch die hçchste Anschauung einen knftigen Zustand, der als angestrebtes, aber wohl kaum jemals voll zu realisierendes Ideal den Fortschritt motiviert. Dieser Fortschritt ist Auszug aus einer entfremdeten Welt der Knechtschaft, Not und geistigen Befangenheit, wie sie Schleiermacher schon in seinem Entwurf ber den Werth des Lebens (1792/93) charakterisiert hatte. Das sich reflektierende „Ich“ der Monologen – gleichsam ein ins Leben versetztes Transzendentalsubjekt11 – sieht sich daher auch als Brger einer erst heraufzufhrenden Welt: „Wer mit der Gegenwart zufrieden lebt und Anders nichts begehrt, der ist ein Zeitgenosse jener frhen Halbbarbaren, welche zu dieser Welt den ersten Grund gelegt […]. So bin ich der Denkart und dem Leben des jetzigen Geschlechts ein Fremdling, ein prophetischer Brger einer sptern Welt, zu ihr durch lebendige Fantasie und starken Glauben hingezogen, ihr angehçrig jede Tat und jeglicher Gedanke. Gleichgltig lßt mich, was die Welt, die jetzige, tut oder leidet […]. Doch wo ich einen Funken des verborgenen Feuers sehe, das frh oder spt das Alte verzehren und die Welt erneuern wird, da fhl ich mich in Lieb und Hoffnung hingezogen zu dem sßen Zeichen der fernen Heimat.“12 Modell und Mittel des Auszugs aus der entfremdeten Welt ist die berwindung der Fremdheit der Sprache, das mçglichst vollkommene Verstehen: „Wie lange hindert sie den Geist zuerst, daß er nicht kann zum Anschaun seiner selbst gelangen! […] Lange sucht er im vollen Ueberfluß ein unverdchtiges Zeichen zu finden, um unter seinem Schuz die innersten Gedanken abzusenden: es fangen gleich die Feinde ihn auf, fremde Deutung legen sie hinein […] Daß doch die Sprache gemeines Gut ist fr 9 Ebd., S. 18. 10 KGA I/2, S. 228. 11 Vgl. Schleiermachers implizit gegen Fichte polemisierende Selbstanzeige der Monologen. „Dieses Bchlein enthlt die Aeußerungen eines Idealisten ber die wichtigsten Verhltnisse des Menschen, und macht mit der eigenthmlichen Denkungsart bekannt, welche diese Philosophie, in dem Verfasser wenigstens, begrndet hat.“ Das ermçgliche es, „Gegenstnde mit denen Jeder zu thun hat, aus dem Gesichtspunkt des Verfassers zu betrachten, und die Lehre zu welcher er sich bekennt von einer andern als der gewçhnlichen Seite in ihrem Einfluß auf den Charakter und das Leben kennen zu lernen.“(KGA V/3, S. XXXVIf.). 12 KGA I/3, S. 35 f.

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die Sçhne des Geistes und fr die Kinder der Welt! daß doch so lehrbegierig diese sich stellen nach der hohen Weisheit! […] Dies ist der große Kampf um die geheiligten Paniere der Menschheit, welche wir der beßern Zukunft den folgenden Geschlechtern erhalten mßen“.13 In Schleiermachers Hermeneutik werden wir spter belehrt werden, dass das Verstehen eine unendliche Aufgabe ist. Die Zukunft, die Schleiermachers Philosophie als telos des Wissens und Handelns setzt – den Zustand vernnftiger Allgemeinheit, in dem zugleich die Religion allgemein freigesetzt wird –, diese Zukunft bleibt ein Ideal, das nur nherungsweise erreicht werden kann. Welt und Menschheit bleiben entfremdet, d. h. sie sind prinzipiell in sich gegenstzlich verfasst, und nur eine relative Identitt der Entgegengesetzten ist erreichbar. Wie kommt es zu dieser Konsequenz und weshalb beharrt Schleiermacher auf dem telos als Ideal? Ein Seitenblick auf Kant kann deutlich machen, worum es hier geht. In seinen geschichtsphilosophischen Texten, welche die Mçglichkeit eines moralischen und rechtlichen Fortschritts der Menschheit ausloten, hat Kant das telos als regulatives Prinzip in praktischer Absicht bestimmt. In seiner Schrift Zum ewigen Frieden (1795) etwa vertraut er die Gewhrleistung des Friedens der „großen Knstlerin Natur“14 an, die dem Streben der Menschen zu Hilfe komme, weil sie denselben Zweck verfolge. Es handelt sich hierbei um eine Idee, die „in theoretischer Absicht berschwenglich“15 ist, d. h. um ein bloß regulatives Prinzip, nach dem wir die Natur so ansehen, als ob sie Zwecke verfolge. Diese Ansicht der Natur begrndet aber einen praktischen Zweck fr uns, weil sie es uns, wie Kant sagt, zur Pflicht macht, „zu diesem (nicht bloß schimrischen) Zwecke hinzuarbeiten.“16. Die Setzung des telos dient dazu, eine der angenommenen Naturteleologie entsprechende Praxis zu initiieren. Streng genommen handelt es sich also um eine sich selbst erfllende Prophezeiung. Hiervon kann bei Schleiermacher, der Kants Unterscheidung konstitutiver und regulativer Prinzipien generell ablehnt, nicht die Rede sein. Das telos ist ihm zufolge keine Setzung in praktischer Absicht, sondern immanentes Ziel der Geschichte, die eben darum Fortschrittsgeschichte ist. Die Ethik als „Wissenschaft der Geschichte“ – wie Schleiermacher sie in seinem ersten berlieferten Gesamtentwurf zur Philosophischen Ethik, dem 13 14 15 16

Ebd., S. 37. Immanuel Kant: Werke, Akademie-Ausgabe, Bd. 8, S. 360 f. Ebd., S. 362. Ebd., S. 368.

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Hallenser Brouillon von 1805/06 definiert – ist daher auch nicht Aufzeigen eines Ideals, Setzen eines Seinsollenden, sondern „Beschreibung der Geseze des menschlichen Handelns“, wobei diese Gesetze „als Naturgeseze“ aufzufassen seien.17 Diese Gesetze mssen, so Schleiermacher weiter, in der wissenschaftlichen Anschauung mit der Erscheinung zur Einheit gebracht oder sogar „dasselbe“, d. h. empirisch aufweisbar sein; die ursprngliche Anschauung, die demnach als ein empirisches Faktum zu nehmen ist, ist die „Beseelung der menschlichen Natur durch die Vernunft“.18 Hieraus ergibt sich dann die Bestimmung des hçchsten Gutes, welches, wie Schleiermacher betont, „als Totalitt“ zu nehmen ist, d. h. als das Ganze des ethischen Prozesses; es sei „nur die Affirmation dessen, was in der Idee [also der ursprnglichen Anschauung] liegt. Also die vollstndige Beseelung.“19 Nun ist leicht einzusehen, dass die vollstndige Beseelung der Natur durch die Vernunft in keinem Falle empirisch aufweisbar ist, sondern als virtuelles Ideal des ethischen Prozesses fungiert. Die weitere Beschreibung der Gesetze des menschlichen Handelns, auf die nher einzugehen ich mir hier versagen muss, zeigt dann auch, dass fr diese Gesetze relative Entgegensetzungen konstitutiv sind, darunter grundlegend auch die Entgegensetzung von Natur und Vernunft. Empirisch aufzuzeigen wre deshalb auch gar nicht das Ideal selbst, sondern allenfalls der Prozess der Vervollkommnung, wobei dann, sofern die vollstndige Beseelung der Natur durch die Vernunft Ideal bleibt, auch dessen immanente Grenzen aufgezeigt werden mssten. Da sich das menschliche Handeln bei Schleiermacher immer in Gegenstzen bewegt, ist aus ihm allein die Vollkommenheit des hçchsten Gutes als immanentes telos gar nicht abzuleiten und einsichtig zu machen. Hierzu bedarf es vielmehr ergnzender Annahmen ber den Grund dieses Handelns, die freilich nicht mehr empirisch, sondern nur im Rckgang auf die spekulativen Grundlagen des Konzepts aufweisbar sind. In seiner ersten Vorlesung zur philosophischen Ethik an der Berliner Universitt 1812/13 hat Schleiermacher daher auch eine „Deduction der Ethik aus der Dialektik“, also der obersten Wissenschaft, vorangestellt, in der alles Wissen auf ein absolutes Wissen als „Ausdruck gar keines Gegensazes, sondern des mit ihm selbst identischen absoluten Seins“ bezogen wird.20 Fr die Ethik bedeutet dies, dass sie „durch die Form des Ge17 Friedrich Schleiermacher: Werke, Bd. 2: Entwrfe zu einem System der Sittenlehre, hg. von Otto Braun, Leipzig 1913, S. 80. 18 Ebd., S. 87. 19 Ebd. 20 Ebd., S. 247.

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gensazes berhaupt“ mit dem Absoluten vermittelt ist, indem die beiden Seiten eines Gegensatzes in der ethischen Realitt notwendig aufeinander bezogen sind, also eine relative Identitt bilden, die zugleich aber auch „das Absolute reprsentirt“.21 Anders gesagt: die relative Identitt der Entgegengesetzten verweist auf einen Grund, der die Identitt selbst ist – eine reine, relationslose Identitt, die wir begrifflich nicht vollziehen kçnnen. Bereits in den Reden ber die Religion wird eine unaussprechliche ursprngliche Einheit von Anschauung und Gefhl der trennenden Reflexion als Grund vorgeordnet,22 und so ist es auch hier. Dieser Grund erst trgt das Ideal einer zuknftigen Welt, das Schleiermacher als telos setzt und durch das er seine Philosophie in den Raum der Geschichte stellt. Das telos ist die Projektion eines postulierten Ursprungs in die Zukunft und fr uns ebenso unerreichbar wie jener. Diese Struktur prgt den Prozess des werdenden Wissens in Schleiermachers Dialektik und soll in ihr begrndet werden, whrend die Ethik sich ja nur mit Hilfsstzen auf das Resultat dieser Begrndung bezieht. Der transzendentale Grund alles Wissens und Handelns ist hier die philosophische Gottesidee; sie bezeichnet das Unbedingte, von dem alles Bedingte abhngt und seinen Ausgang nimmt. Sie ist der terminus a quo alles Wissens und Handelns und die Idee der Gewissheit im Wissen und des Gewissens im Handeln.23 Wir „haben“ sie im Gefhl als der „relativen Identitt des Denkens und Wollens“.24 Diese Idee lsst sich aber nicht als ein Wissen vollziehen, weil der Begriff Gottes an sich leer bleibt, da ihm keine organische Affektion entspricht, d. h. weil er – Kantisch gesprochen – kein mçglicher Gegenstand von Erfahrung ist. Gleichwohl ist die Idee der Gottheit „das charakteristische Element des menschlichen Bewußtseins berhaupt“, welches in jedem seiner Akte auf gleiche Weise – nmlich unmittelbar – prsent ist.25 Korrelat der Gottesidee als der Idee des Unbedingten ist die Idee der Welt als Idee der Totalitt des Bedingten, in der alles „unter der Form des Gegensazes“ steht.26 Schon aufgrund der Endlichkeit unseres Erfah21 22 23 24 25 26

Ebd., S. 253. KGA I/2, S. 220 f. Vgl. KGA II/10, 1, S. 141 f. (§ 214) und S. 143 f. (§ 216). Ebd., S. 142, § 215. Ebd., S. 148, § 221. Ebd., S. 49 (Aufzeichnungen zum Kolleg 1811, 28. Stunde). – Zu den Wandlungen in der Bestimmung des Verhltnisses von Gott und Welt vgl. Heinz Kimmerle: Schleiermachers Dialektik als Grundlegung philosophisch-theologischer Systematik und als Ausgangspunkt offener Wechselseitigkeit, in: Interna-

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rungsbereichs aber liegt die „Idee (der problematische Gedanke) der Welt d. h. der Totalitt des Seins als Vielheit gesezt, […] ebenfalls außerhalb unseres realen Wissens.“27 Daher ist die Idee der Welt auch „transcendental auf eigene Weise“;28 sie markiert die Grenze einer Totalitt des Wissens, die nie erreicht wird, die aber dem Wissenwollen zugrunde liegt und vom werdenden Wissen angestrebt wird. Sie ist somit der „transcendentale terminus ad quem und das Princip der Wirklichkeit des Wissens in seinem Werden.“29 Die Idee Gottes ist Einheit ohne Gegensatz, die Idee der Welt Einheit der Gegenstze. Die Idee der Welt ist somit nicht Rckkehr in den Grund, sondern Realisierung der den Wissensprozess begrndenden Identitt unter den Bedingungen der Entgegensetzung. Insofern ist auch sie die Projektion der ursprnglichen Identitt in ein telos des Prozesses. Wodurch aber ist fr uns der transzendentale Grund, also die philosophische Gottesidee begrndet? Fr Schleiermacher ist dieser Grund, weil er selbst als relationslos gedacht wird, nicht ableitbar und vermittelbar aus den Entgegensetzungen unseres Wissens und Handelns. Er wird vielmehr zugnglich in einer Erfahrung sui generis, die Schleiermacher als ,Gefhl‘ bzw. in der Dialektik-Vorlesung 1822 auch als „unmittelbares Selbstbewußtsein“ anspricht.30 Dieses Gefhl ist Analogon des transzendentalen Grundes, der sich uns damit gleichsam jenseits unseres begrifflichen Denkens mitteilt. Schleiermacher setzt hier auf die Evidenz einer Erfahrung, die keine sinnliche ist; die Schwierigkeiten dieser Begrndung oder auch Nichtbegrndung, die Gegenstand zahlreicher Erçrterungen in der Forschungsliteratur ist, sind offenkundig, kçnnen hier aber nicht weiter verfolgt werden. Entscheidend ist zunchst, dass das Gefhl, in welchem der philosophische Gottesbegriff zugnglich wird, strukturell demjenigen Gefhl entspricht, in dem das christlich-religiçse Selbstbewusstsein grndet, dem Gefhl schlechthinniger Abhngigkeit, wie es im § 4 der zweiten Auflage der Glaubenslehre bestimmt wird: beides ist unmittelbares Selbstbewusstsein.31 In dieser strukturellen Entsprechung grndet Schleiermachers berzeugung, Philosophie und Theologie kçnnten zusammengehen.

27 28 29 30 31

tionaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984, hg. von Kurt-Victor Selge, Berlin und New York 1985, S. 39 – 59. KGA II/10, 1, S. 147, § 218. Ebd., S. 148, § 221. Ebd., 149, § 222. Ebd., S. 266. Vgl. KGA 13/1, 1, S. 32 ff.; vgl. KGA I/7, 1, S. 31 ff. (§ 9).

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In seinem Brief an Friedrich Heinrich Jacobi vom 30. Mrz 1818 schrieb Schleiermacher, er sei „mit dem Verstande ein Philosoph, denn das ist die unabhngige und ursprngliche Thtigkeit des Verstandes und mit dem Gefhl […] ein Christ“, denn die Religiositt sei Sache des Gefhls, welches der Verstand gleichsam bersetzt („verdolmetscht“).32 Daraus folge vor allem, dass Philosophie und Religion bzw. Theologie sich nicht widersprchen: „Meine Philosophie also und meine Dogmatik sind fest entschlossen sich nicht zu widersprechen“.33 Dies bedeutet nun aber auch, dass Philosophie und Theologie in keinem Begrndungsverhltnis zueinander stehen; sie konvergieren, aber jede entwickelt und rechtfertigt sich auf ihrer eigenen Grundlage. Im Zweiten Sendschreiben an Lcke (1829) betont Schleiermacher daher auch, dass die Philosophie nicht mehr ancilla theologiae sei, d. h. Theologie und Philosophie seien voneinander „frei geworden“.34 Dass beide gleichwohl einander nicht feindlich sind, setzt jedoch nicht nur voraus, dass die Theologie ihrer Ansprche an die Philosophie entsagt, sondern es setzt ebenso voraus, dass die Philosophie – mit Kant zu reden – das Wissen aufhebt, um zum Glauben Platz zu bekommen,35 wie Schleiermacher es mit der Unterscheidung von Gefhl und Reflexion macht. Nur dann, mit einer bestimmten Philosophie, ist fr die Zukunft des Christentums gesichert, dass nicht eintritt, was Schleiermacher im Zweiten Sendschreiben an Lcke als Menetekel hinstellt: „Soll der Knoten der Geschichte so auseinandergehn? das Christenthum mit der Barbarei, und die Wissenschaft mit dem Unglauben?“36

2. In seinem Versuch ber den Begriff des Republikanismus, veranlaßt durch die Kantische Schrift zum ewigen Frieden (1796) hat Schleiermachers Weggefhrte Friedrich Schlegel Kant vorgehalten, der Fortschritt in weltbrgerlicher Absicht msse empirisch konstatierbar sein und ein bloß regu-

32 Schleiermacher an Jacobi, 30. Mrz 1818, hg. von Andreas Arndt und Wolfgang Virmond, in: Religionsphilosophie und spekulative Theologie. Quellenband, hg. von Walter Jaeschke, Hamburg 1994, S. 395. 33 Ebd., S. 396. 34 Vgl. KGA I/10, S. 390. 35 KrV B XXX 36 KGA I/10, S. 347.

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latives Prinzip tue nichts zur Sache.37 Kant hat diesen Einwand ernstgenommen und in seinem Streit der Fakultten (1798) als Antwort auf die enthusiastische Teilnahme der Beobachter an der Franzçsischen Revolution verwiesen, die ein „Geschichtszeichen“ (signum rememorativum, demonstrativum, prognosticon) darstelle, denn dieser Enthusiasmus gehe ganz „aufs Idealische und zwar rein moralische“.38 Schlegel htte seine Anfrage auch an Schleiermacher richten kçnnen, obwohl dessen Ethik ja den Anspruch erhebt, die Gesetze des menschlichen Handelns und damit das Fortschreiten hin auf das hçchste Gut empirisch aufzeigen zu kçnnen. Vom tatschlichen Geschichtsverlauf, geschichtlichen Epochen und dergleichen ist bei Schleiermacher freilich nicht die Rede, und er htte das wohl auch in die ,Geschichtskunde‘ verwiesen, die das Bilderbuch zum Formelbuch der Ethik darstelle.39 Es drfte aber schwer fallen, im Bilderbuch der letzten gut 200 Jahre etwas zu finden, was zu Schleiermachers Formeln passt, und auch Geschichtszeichen sind schwer auszumachen, die Schleiermachers These vom Gleichklang wissenschaftlichen, sittlichen und religiçsen Fortschritts plausibel machen kçnnten. Auf welchen historischen Erfahrungsgehalt also kçnnte Schleiermacher sich sttzen? Kein Zweifel, Schleiermacher denkt geschichtlich, und nur deshalb çffnet sich sein Denken, wie ich es im ersten Teil meiner Ausfhrungen zu zeigen versucht habe, auf die Zukunft hin und bestimmt die Aufgaben der Gegenwart von dieser Zukunft her. Das aber bedeutet nicht zugleich auch, dass Geschichte eine konstitutive Bedeutung fr die Begrndung von Schleiermachers Philosophie htte. Ein kurzer Blick auf Friedrich Schlegel kann deutlich machen, was hier auf dem Spiel steht. Dieser schrieb 1797, in der Philosophie msse „das Transcendentale […] historisirt“ werden.40 Das meint, dass die Philosophie nicht nur historische Voraussetzungen, unter denen sie auf spezifische Weise erscheint und damit auch eine Geschichte hat, sondern dass die Philosophie in ihrem innersten Wesen historisch verfasst und geschichtlich konstituiert ist. Hegel hat dann einen ver37 Vgl. Friedrich Schlegel: Schriften zur Kritischen Philosophie, hg. von Andreas Arndt und Jure Zovko, Hamburg 2007, S. 12 – 29. – Andreas Arndt: „Geschichtszeichen“. Perspektiven einer Kontroverse zwischen Kant und F. Schlegel, in: HegelJahrbuch 1995, Berlin 1996, S. 152 – 159. 38 Immanuel Kant: Werke, Akademie-Ausgabe, Bd. 7, S. 86. 39 Schleiermacher: Werke, Bd. 2, a.a.O. (Anm. 17), S. 549. 40 KFSA (wie Anm. 2), Bd. 18, S. 92, Nr. 756; vgl. Schlegels 8. Habilitationsthese von 1801: „Non critice, sed historice est philosophandum“ (Friedrich Schlegel: Neue philosophische Schriften, hg. von J. Kçrner, Frankfurt/M 1935 [recte 1934], S. 38.

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gleichbar radikalen Gedanken 10 Jahre spter in seiner Phnomenologie des Geistes systematisch entwickelt. Von einer solchen Historisierung des Transzendentalen kann bei Schleiermacher nicht die Rede sein; eher ließe sich umgekehrt sagen: bei ihm wird die Geschichte zum Transzendental. Der Raum der Geschichte, so zeigt die Dialektik, çffnet sich in der Spannung zweier transzendenter bzw. transzendentaler (Schleiermacher unterscheidet beides nicht) Ideen, der Idee Gottes als terminus a quo alles Wissens und Handelns einerseits und der Idee der Welt als terminus ad quem des Wissens und Handelns andererseits. Weil beide Ideen nicht zusammenfallen und als Korrelate auf je eigene Weise transzendent sind, findet weder eine Rckkehr des Prozesses in sich statt noch kann die Idee der Welt vollstndig realisiert werden; Ursprung und telos sind unerreichbar, eben transzendent im strikten Sinne. Der geschichtliche Prozess des Wissens und Handelns, der zwischen diese Pole gespannt ist, ist unter diesen Voraussetzungen unendlich progressiv. Unendlich, weil er nicht ans Ziel kommt, progressiv, weil er fortschreitende Annherung an dieses Ziel ist. Der Fortschritt ist verbrgt durch prinzipientheoretische Annahmen, nmlich dadurch, dass Ursprung und Ziel als Einheit aufgefasst werden – als relationslose Identitt hier, als Einheit Unterschiedener dort –, womit die fortschreitende Identitt der Entgegengesetzten den Prozess bestimmt. Im Lichte dieser spekulativ begrndeten Auffassung des Geschichtlichen werden dann in der philosophischen Realwissenschaft der Geschichte, der Ethik, Gegenstze in ihrer relativen Einheit und im fortschreitenden Prozess ihrer Einigung aufgezeigt. ,Unendliche Progressivitt‘ ist fr die Frhromantik die Bewegungsform der Moderne. Der Sache nach bernimmt Schleiermacher diese Figur, gibt ihr aber einen ganz anderen Sinn. Von Moderne spricht er so gut wie gar nicht; ich kenne nur eine Stelle im Manuskript der Vorlesungen zur sthetik 1819, wo er von der „modernen Kunstwelt“ redet und ihr (und mit ihr wohl der Moderne insgesamt) nachsagt, in ihr dominiere „die Beziehung auf die Idee der Gottheit“, und dieses Verhltnis sei „ein schlechthin unmittelbares“ und kçnne „von jedem einzelnen Punkt ausgehn“.41 Diese unmittelbare Beziehung sei Errungenschaft des Christentums, und letztlich setzt Schleiermacher auch das Christentum mit der Moderne gleich, so z. B. in seiner Einteilung der Philosophiegeschichte in antike und christ-

41 Schleiermacher: sthetik. ber den Begriff der Kunst, hg. von Thomas Lehnerer, Hamburg 1984, S. 49.

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liche Philosophie.42 Vor diesem Hintergrund ist, so meine These, auch der historische Erfahrungsgehalt zu bestimmen, auf den Schleiermacher sich sttzen will. Es ist die unmittelbare Beziehung auf das Absolute bzw. die Idee Gottes, d. h. diejenige Erfahrung, die er mit ,Gefhl‘ und ,unmittelbares Selbstbewusstsein‘ zu beschreiben versucht. Diese Erfahrung kann, zumindest in der christlich geprgten Moderne, jeder an jedem Punkt machen, an dem er sich befindet. Diese Erfahrung ist, gleich ob sie nun in den Grund des Wissens und Handelns oder in den Grund des Glaubens fhren soll, religiçs konnotiert, aber doch nur auf eine bestimmte Form der Religiositt bezogen, nmlich diejenige, welche durch die protestantische Auffassung von Subjektivitt begrndet wird. Die geschichtliche Bedingtheit derjenigen Erfahrung, die fr Schleiermacher seine Ansicht der Geschichte als unendliche Progressivitt verbrgen soll, wird von ihm schlicht ausgeblendet, was allererst die berhistorische Verallgemeinerung der Erfahrung und ihres behaupteten Grundes ermçglicht. Diese Erfahrung und mit ihr die Schleiermachersche Sicht auf spekulative Prinzipien und die in ihnen begrndete Geschichte nachzuvollziehen, drfte schwer fallen. Wie soll ber den Inhalt eines zunchst bloß Subjektiven, des Gefhls, mit Anspruch auf objektive Gltigkeit Auskunft zu geben sein? Und wie sollte es gelingen, eine nichtrelationale Identitt als Grund alles Identifizierens geltend zu machen? Mit welchem Recht kçnnen wir im Transzendenten Ideen bestimmen, unterscheiden und diese dann als konstitutiv fr unser Selbst- und Weltverstndnis annehmen? Weshalb soll nicht die Totalitt der Welt das Bedingende des Denkens und Handelns und damit der terminus a quo sein, auf den der Prozess des Wissens und Handelns sich immer wieder zurckbezieht? Ich will diese Fragen hier nicht weiter diskutieren, aber soviel steht fest: man msste sie alle berzeugend im Schleiermacherschen Sinne beantworten kçnnen, wollte man die Zukunftsdimension der Schleiermacherschen Philosophie retten. Und selbst wenn dies gelnge, so wre noch immer zu fragen, ob Schleiermachers spekulative Ansicht der Geschichte sich, wie er es selbst forderte, mit der Empirie zu einer Anschauung vereinigen ließe. Ich halte es fr unmçglich, Schleiermachers Philosophie auf diesem Weg retten zu wollen. Was aber bleibt dann von ihr, was ist dann ihre 42 Vgl. Schleiermacher: Geschichte der Philosophie, hg. von Heinrich Ritter, Berlin 1839, S. 154; in Schleiermachers Ankndigungen durchgngig so. Vgl. Andreas Arndt und Wolfgang Virmond: Schleiermachers Briefwechsel nebst einer Liste seiner Vorlesungen, Berlin und New York 1992, S. 305, 307; die Vorlesung 1820 wurde nicht angekndigt (S. 316).

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Zukunft als Philosophie? In der noch weitgehend schlecht erforschten, im Ausgang von der klassischen deutschen Philosophie im 19. Jahrhundert aber kaum zu berschtzenden Wirkungsgeschichte der Schleiermacherschen Philosophie tritt – von Twesten ber Trendelenburg bis Dilthey – deutlich hervor, dass Schleiermachers Philosophie unter zunehmendem Verzicht auf ihre spekulativ-metaphysischen Gehalte in eine „erkenntnistheoretische Logik“ transformiert wurde.43 Dieses bloße Absehen von der Metaphysik hat jedoch, bis hin zu Gadamer und ber ihn hinaus, zu einer verzerrten Wahrnehmung der Schleiermacherschen Philosophie auch hinsichtlich einzelner Disziplinen gefhrt; die Stilisierung der Hermeneutik von einer technischen zu einer Fundamentaldisziplin ist ein prominentes Beispiel.44 Die Zukunft der Schleiermacherschen Philosophie liegt, so scheint mir, weder in ihrer kritiklosen Affirmation noch im Durchstreichen ihrer metaphysischen Gehalte. Ihre Zukunft ist nur in einer nachholenden Reflexion zu bestimmen, die das macht, was Schleiermacher versumte, was aber nach seiner Auffassung von Hermeneutik zu jedem Verstehen gehçrt, nur fr das Selbstverstndnis so schwer zu leisten ist und erst aus dem Abstand gelingen mag: die Historisierung seiner Philosophie. Im Verhltnis zur Religion wird das wohl dazu fhren mssen, dass beide einander ganz frei geben, wie schon in den Reden gefordert und in der Dialektik-Vorlesung 1818/19 bekrftigt: „Der Philosoph braucht also die Religion nicht fr sein Geschft, aber als Mensch, und der Religiçse braucht die Philosophie an und fr sich nicht, sondern nur in der Mittheilung“.45 In diesem Sinne ist der Knoten der Geschichte schon lngst auseinandergegangen und der methodische Atheismus der Philosophie und Wissenschaft ist unwiderruflich. Im Verhltnis zum Fortschrittsgedanken wird dies dazu fhren mssen, diesen im Blick auf bestimmte Kriterien des 43 W. Dilthey: Leben Schleiermachers, Bd. 2, Schleiermachers System der Philosophie und Theologie, hg. von M. Redeker, 1. Halbband, Berlin 1966 (Gesammelte Schriften 14, 1), S. 157; vgl. Gunter Scholtz: Schleiermachers Dialektik und Diltheys erkenntnistheoretische Logik, in: Dilthey-Jahrbuch 2 (1984), S. 171 – 189. – Zur Wirkungsgeschichte vgl. Klaus Christian Kçhnke: Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die deutsche Universittsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus, Frankfurt/M 1986, Teil 1. 44 Vgl. Andreas Arndt: Das Verhltnis von Hermeneutik und Dialektik im Denken Schleiermachers, in: Christentum – Staat – Kultur, hg. von Andreas Arndt u. a., Berlin und New York 2008, S. 637 – 649. Ders.: Schleiermachers Hermeneutik im Horizont Gadamers, in: Gadamer verstehen. Understanding Gadamer, hg. von Mirko Wischke und Michael Hofer, Darmstadt 2003, S. 157 – 168. 45 KGA II/10, 2, S. 242.

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Fortschritts, die empirisch vermittelbar sind, neu zu bestimmen.46 Und im Blick auf die metaphysischen Implikate der Schleiermacherschen Philosophie wird daran zu erinnern sein, dass Schleiermacher, wie seine heute prominenteren philosophischen Zeitgenossen, Kant auf dem Boden seiner Vernunft- und Metaphysikkritik weiterdenkt und nicht vorweggenommener Kritiker der klassischen deutschen Philosophie, sondern in gewissen Hinsichten Protagonist und in jedem Falle integraler Bestandteil der nachkantischen Philosophie ist.47 Dies auszufhren ist hier nicht der Ort. Wohl aber mçchte ich zum Schluss betonen, dass solche Historisierung in bezug auf diejenigen Kontexte, in denen Schleiermacher seine Denkwerkzeuge entwickelte und in denen sie von ihm und Anderen benutzt wurden, erst deren theoretische Potentiale zu bestimmen vermag. Wenn die Philosophie, anders als Schleiermacher selbst es meinte, in ihrem innersten Wesen historisch verfasst und konstituiert ist, dann gehçrt die Historisierung einer Philosophie zur Erschließung ihres systematischen Gehalts. Hierin reprsentierte Schleiermachers Philosophie keine vergangene Zukunft, sondern sie wre notwendiges Moment philosophischer Selbstvergewisserung und aufgehobenes Moment im historischen Konstitutionsprozess der Philosophie, auch der zuknftigen.

46 Vgl. Johannes Rohbeck: Technik – Kultur – Geschichte. Eine Rehabilitierung der Geschichtsphilosophie, Frankfurt/M 2000. 47 Vgl. Andreas Arndt: Schleiermacher: Dialectic and Transcendental Philosophy, Relationship to Hegel, in: Schleiermacher, the Study of Religion, and the Future of Theology. A Transatlantic Dialogue, ed. by Brent Sockness and Wilhelm Grb, Berlin and New York 2010, p. 349 – 360.

Schleiermacher als politischer Denker Arnulf von Scheliha „Wissenschaft und Kirche, Staat und Hauswesen, – weiter giebt es nichts fr den Menschen auf der Welt, und ich gehçrte unter die wenigen Glcklichen, die alles genossen htten. Freilich ist es nur diese neueste Zeit, wo die Menschen alles trennen und scheiden, daß eine solche Vereinigung selten ist; sonst war jeder tchtige Mensch wakker in allem, und so muß es auch werden“.1 Dieses briefliche Zitat Schleiermachers von 1808 macht Dreierlei deutlich. Erstens gibt es einen Hinweis auf die wesentlichen sittlichen Sphren, die Schleiermacher in seiner Philosophischen Ethik abgeleitet hat und die ihr ihre Konkretionsdisposition vermitteln. Sodann deutet sich eine Modernittsdiagnose an, denn die gesellschaftliche Ausdifferenzierung macht es nahezu unmçglich, dass ein Mensch gleichermaßen in allen wichtigen Handlungsfeldern ttig sein kann. Vor diesem Hintergrund reflektiert Schleiermacher schließlich darauf, dass er selbst eine Ausnahme bilden kann, denn zu dem Zeitpunkt, als er den Brief niederschrieb, war er im Begriff, sich selbst in den Dienst des Staates zu stellen. Kurz zuvor notiert er in dem Brief: „Komme ich noch irgend, wenn auch nur vorbergehend, in eine Thtigkeit fr den Staat hinein, dann weiß ich mir wirklich nichts mehr zu wnschen.“2 Tatschlich wurde Schleiermacher mit der Eroberung Halles durch napoleonische Truppen im Oktober 1806 und durch den dadurch verursachten Umzug nach Berlin politisch mobilisiert. Hier stellte er sich in den Dienst der preußischen Reformbewegung und es begann sein knapp sechs Jahre whrendes politisches Engagement, mit dem er im Staatsdienst auf die Selbststndigkeit, Modernisierung und Demokratisierung Preußens hinwirkte. Umfang und konzeptioneller Hintergrund von Schleiermachers politischem Wirken sind jngst durch Matthias Wolfes umfassend dargestellt worden3, so dass 1 2 3

Friedrich Schleiermacher: An Henriette von Willich, 25. 12. 1808, in: Friedrich Schleiermacher: Briefwechsel mit seiner Braut, hg. von Heinrich Meisner, Gotha 2 1920, S. 272. Ebd. Matthias Wolfes: ffentlichkeit und Brgergesellschaft. Friedrich Schleiermachers politische Wirksamkeit, 2 Bde., Berlin und New York 2005.

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hier darauf verwiesen werden kann. Schleiermacher hat sein politisches Engagement in den verschiedenen Fassungen seiner Vorlesungen ber die Lehre vom Staat, die er in seiner Eigenschaft als Mitglied der Kçniglichen Akademie der Wissenschaften an der Philosophischen Fakultt der Berliner Universitt gehalten hat, reflektiert und konzeptualisiert. Dieser Stoff ist in KGA II/8 von Walter Jaeschke hier in der Berliner Forschungsstelle ediert worden.4 Eine auf dieser Edition basierende umfassende Auswertung von Schleiermachers politischer Philosophie steht zwar noch aus, erste und in die Zukunft weisende Anstze aber wurden auf dem Berliner Schleiermacher-Kongress 2006 vorgetragen.5 Diese umfassende Auswertung muss auch die Prfung von aktuellen Gesichtspunkten einschließen. Im Blick auf das reflexionstheoretisch angelegte Politikverstndnis, die Demokratietheorie, die Zivilgesellschaft und das Vçlkerrecht wurde von dem Verfasser dieses Beitrages an anderer Stelle angedeutet, wo man gegenwrtig an Schleiermacher anknpfen kçnnte.6 Hier soll nach der normativen Grundierung von Schleiermachers Politikverstndnis gefragt werden. Inwiefern ist Schleiermachers politische Theorie als eine politische Ethik anzusehen? Eine Antwort auf diese Frage kçnnte auch erhellen, warum es Schleiermacher fr sich selbst als geboten angesehen hat, als politischer Akteur aufzutreten. Die hier aufgeworfene Frage fhrt ber die dominant kulturtheoretische Interpretation der Gterlehre seiner Sittenlehre hinaus und lsst fr die politische Theorie diejenige sittliche Substanz erkennbar werden, die nicht nur den Staat als notwendige Hervorbringung der Vernunft betrifft, sondern auch die Partizipation der Einzelnen thematisch macht, die in der Pflichten- und Tugendlehre beschrieben wird. Aus diesem Zugriff ergeben sich zwanglos Aktualittsgesichtspunkte.

4 5 6

Friedrich Schleiermacher: Vorlesungen ber die Lehre vom Staat, hg. von W. Jaeschke, Berlin und New York 1998 (KGA II/8). Vgl. Christentum – Staat – Kultur. Akten des Kongresses der Internationalen Schleiermacher-Gesellschaft in Berlin, Mrz 2006, hg. von A. Arndt, U. Barth und W. Grb, Berlin und New York 2008. Vgl. Arnulf von Scheliha: Die Beziehungen der Vçlker nach Schleiermachers Staatslehre, in: Zeitschrift fr Neuere Theologiegeschichte/Journal for the History of modern Theology 12 (2005), S. 1 – 15; Ders.: Religion und Gemeinschaft und Politik bei Schleiermacher, in: Christentum – Staat – Kultur, a.a.O. (Anm. 5), S. 317 – 336.

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1. Der gterethische Ort von Schleiermachers Staatslehre Der gterethische Ort von Schleiermachers politischer Theorie gehçrt zu den gesicherten Erkenntnissen der Schleiermacher-Forschung. Schleiermacher versteht bekanntlich unter dem Hçchsten Gut den Inbegriff aller sittlichen Produkte des menschlichen Geschlechts oder das Ziel der humanen Kulturgeschichte.7 Es umfasst „jedes sittlich Gewordene“8 und gibt jeder einzelnen Handlung ihr sittliches Ziel vor. Aufgabe der Gterlehre ist die differenzierte Darstellung dieser Hervorbringungen der Vernunft, von denen hier nur Familie und freie Geselligkeit, Wissen und Schule, Religion und Kirche sowie Nation und Staat genannt seien. Dementsprechend wird in wissenschaftssystematischer Hinsicht die Staatslehre direkt aus der Sittenlehre abgeleitet.9 Von den „specielle[n] Disciplinen“,10 die sich an die Ethik anschließen, behandelt „die Staatslehre doch den dauerndsten Gegenstand“,11 so erçffnet Schleiermacher seine Politik-Vorlesung im Sommersemester 1817. Diese speziellen Disziplinen hat Schleiermacher bekanntlich in ,kritische‘ und ,technische‘ Wissenschaften eingeteilt, die er zwischen der spekulativen „Darstellung des Zusammenseins der Vernunft mit der Natur“12 als „Wissenschaft der Geschichte“13 einerseits und dem „empirischen Auffassen“14 andererseits ansiedelt. Sie stillen „das Bedrfniß einer nhern Verbindung des Empirischen mit der speculativen Darstellung, nemlich zu beurtheilen, wie sich die einzelnen Erscheinungen als Darstellungen der Idee sowol dem Grade als der eigenthmlichen Be7 „[…] vollstndig geschaut kann das hçchste Gut nur werden in der Gesammtheit des menschlichen Geschlechts“ (Friedrich Schleiermacher: ber den Begriff des hçchsten Gutes. Zweite Abhandlung, KGA I/11, S. 660, 25 f.). 8 Friedrich Schleiermacher: Ethik (1812/13), mit spterer Fassung der Einleitung, Gterlehre und Pflichtenlehre, auf der Grundlage der Ausgabe von Otto Braun hg. von H.-J. Birkner, Hamburg 1981, S. 16, § 83. 9 Diese Ableitung stand Schleiermacher schon frhzeitig vor Augen: „Ferner trennt man von der Ethik allerley Wissenschaft Politik, Asketik, Pdagogik, Oekonomik pp. Diß ist aber alles der Wurzel nach in der Ethik enthalten, und die wissenschaftliche Behandlung davon ist nur weitere Ausfhrung“ (Friedrich Schleiermacher: Collegienheft der Ethik, ausgearbeitet von A. Bçckh, Transkription von K. Grotsch, o.O. 1995, S. 11), so heißt es schon in der Nachschrift Boeckhs der Hallenser Ethik-Vorlesung von 1805/06. 10 KGA II/8, S. 208, 4 f. (Kolleg 1817, Nachschrift Varnhagen). 11 Ebd. 12 Schleiermacher: Ethik (1812/13), a.a.O. (Anm. 8), Einleitung, S. 11, § 50. 13 Ebd. 14 Ebd., S. 12, § 57.

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schrnktheit nach verhalten“.15 ,Kritische‘ und ,technische‘ Disziplinen dienen der Evaluation und planmßigen Fortentwicklung der gesellschaftlichen Handlungsfelder und werden zu den von Schleiermacher so genannten ,positiven Wissenschaften‘ vereinigt, in denen diese Vorhaben nur durch Verbindung von Methodenkenntnissen aus unterschiedlichen Wissensbereichen mçglich sind. Die Staatslehre reprsentiert im Aufbau von Schleiermachers System der Wissenschaft eine (auf Erkennen angelegte) ,kritische Disziplin‘.16 Den Hinweis, dass es die politische Theorie auch als ,technische Disziplin‘ geben kann, hat Schleiermacher mehrfach selbst gegeben. In einem frhen Aphorismus will er der Staatslehre einen „Anhang ber die sogenannte Staatsklugheit“17 beigeben, die „im sittlichen Sinne das allgemeine PflichtSchema ist“.18 In der Ethik-Vorlesung 1812/13 nennt er ,Staatsklugheit‘ als Beispiel fr eine ,technische Disciplin‘.19 Auch in der Politikvorlesung von 1817 verweist er auf die ,Staatskunstlehre‘, die „ein besonnenes und besonderes Verfahren im Staate lehren [muss] und […] sich in alle Feinheiten der Diplomagie verzweigen“20 wird. Auch wenn sich Albrecht Gecks These, nach der Schleiermacher seine Politik-Vorlesungen 1817 und 1817/18 insgesamt im Sinne jener technischen Disziplinen verstanden hat, wohl nicht halten lsst,21 ist aber deutlich, dass Schleiermacher das politische Geschehen als ein von Normen geleitetes und operationalisierbares Handeln verstanden hat, dessen ,Principien‘ benannt werden kçnnen. Diese ,Staatskunstlehre‘ gelangt nur ansatzweise zur Ausfhrung und schreibt „gewisse Cautelen“22 vor. Diese Cautelen verweisen auf die sittlichen Normen, die bei der Analyse der Aufgaben des Staates zu bercksichtigen und an dem politischen Handeln auszurichten sind. So wird denn die Sittlichkeit des vernnftigen Staates an die Maßstbe von individueller Bildung (ein15 16 17 18 19 20 21

Ebd. Vgl ebd., S. 12, § 61. KGA II/8, S. 6 f., Zeile 28 – 3. Ebd. Vgl. Schleiermacher: Ethik (1812/13), a.a.O. (Anm. 8), S. 12, Einleitung § 61. KGA II/8, S. 209, Zeile 23 – 25. Vgl. dazu von Scheliha: Die Beziehungen der Vçlker, a.a.O. (Anm. 6), S. 2 f., FN 9. 22 Vorlesungen ber Politik von Schleiermacher Sommer 1817 (Anonyme Nachschrift aus der Hauptbibliothek der Gelehrtenschule des Johanneums in Hamburg), in: Dankfried Reetz: Schleiermacher im Horizont preussischer Politik. Studien und Dokumente zu Schleiermachers Berufung nach Halle, zu seiner Vorlesung ber Politik 1817 und zu den Hintergrnden der Demagogenverfolgung, Waltrop 2002, S. 131 – 222; S. 152.

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schließlich des Eigentums) und brgerlicher Freiheit einerseits und Gesetzlichkeit und die Differenz von Obrigkeit und Untertanen andererseits gebunden, wodurch Privatinteresse, freiwillige Isolierung, Sklaverei, Despotismus und Anarchie als unsittliche Zustnde ausgeschlossen werden.23 Die den Staat spezifisch auszeichnende ,Gemeinschaftlichkeit‘ ist die ,Nationalitt‘,24 die den „bewußten Zustand“25 eines Volkes reprsentiert. Das Nationalgefhl ist ein Zusammengehçrigkeitsbewusstsein, das die Privatinteressen der Einzelnen reguliert und auf ein gemeinsames Interesse ausrichtet, das in dem Schleiermacher vorschwebenden Zirkularverfahren konkret ausgemittelt, von der Obrigkeit festgestellt und von Obrigkeit und Untertanen gemeinsam ausgefhrt wird. Die damit angedeutete Grenzwertbestimmung zeigt, dass gerade die Staatslehre in besonderer Weise die Sphre des Individuellen bercksichtigen muss. Denn der Staat als rechtliche Rahmenordnung menschlichen Handelns muss freiheitliche Akte jenseits des Staatszweckes in Wissenschaft, Freiheit und Privatsphre ebenso ermçglichen wie die freien Beitrge des Einzelnen innerhalb des Staates mit dem Ziel seiner „Selbsterhaltung“,26 die in „lebendiger Wechselwirkung mit der Obrigkeit“27 eingebracht werden. Das heißt aber auch, dass die Analyse der ethischen Fundierung des Staatsverstndnisses nicht allein auf die Gterlehre zu beschrnken ist, sondern pflichtenethische und tugendethische Aspekte zu bercksichtigen hat. Faktisch finden sich im politischen Denken Schleiermachers solche Aspekte in allerdings eher verstreuten Zusammenhngen, die im Folgenden zusammengestellt und prsentiert seien.

2. Pflichtenethische Imperative In der Pflichten- und Tugendlehre seiner Philosophischen Ethik nimmt Schleiermacher die Beitrge der Individuen zur Realisierung jenes Gesamtziels in den Blick. In der Pflichtenlehre wird fr jede einzelne Handlung die moralische Substanz identifiziert, denn jene „sondert, was als 23 Vgl. Schleiermacher: Collegienheft 1805/06, a.a.O. (Anm. 9), S. 56 f. 24 Oder auch der spezifische „NationalCaracter“ (ebd., S. 55), der die Staaten individuiert und voneinander unterscheidet. 25 KGA II/8, S. 246, Zeile 19 (Nachschrift Varnhagen). 26 Schleiermacher: Ethik (1812/13), a.a.O. (Anm. 8), Gterlehre, S. 99, Marginalie 1816. 27 Ebd.

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ethisch real, und was als ethisch leer zu bezeichnen ist.“28 Die normative Orientierung der Einzelhandlungen ist gebunden an das Gefge der gegebenen Gemeinschaft, die ihrerseits ein sittliches Gut ist und fr den Einzelnen das Ziel seines Tuns reprsentiert. Weil aber dieses Ziel nicht in gleichsam mechanischer Notwendigkeit erreicht wird, sondern die Gemeinschaft auf die Beitrge der Einzelnen angewiesen ist,29 ist das Ziel fr den Einzelnen gesollt und dementsprechend werden die Pflichten imperativisch formuliert. Daher lautet die allgemeine Pflichtformel: „Jeder Einzelne bewirke jedesmal mit seiner ganzen sittlichen Kraft das mçglich grçßte zur Lçsung der sittlichen Gesammtaufgabe in der Gemeinschaft mit Allen“.30 Mit der grundlegenden Pflicht zur Gemeinschaftsbezogenheit des individuellen Handelns ist die politische Dimension direkt thematisiert, sofern der Staat zu den grundlegenden Sozialbezgen des menschlichen Lebens gehçrt. Die Bercksichtigung politischer Belange gehçrt damit zu den basalen Pflichten menschlichen Existenzvollzuges. Dass damit aber nicht das Aufgehen des Einzelnen in diesen Bezgen verbunden ist, wird aus den beiden Spezifizierungen dieser Pflichtformel kenntlich, in denen die Eigentmlichkeit des Einzelnen bercksichtigt und bewahrt wird. „Handle jedesmal gemß deiner Identitt mit Andern nur so, daß du zugleich auf die dir angemessene eigenthmliche Weise handelst.“31 In dieser Formel wird die Bercksichtigung der Individualitt zur sittlichen Pflicht erhoben. Das setzt die Mçglichkeit zu ihrer Bildung voraus und damit gesellschaftliche Verhltnisse, die das ermçglichen. Umgekehrt darf die Pflege der individuellen Eigentmlichkeit den grundlegenden Gemeinschaftsbezug nicht sprengen wollen, so dass die andere Spezifizierung der allgemeinen Pflichtformel lautet: „Handle nie als ein von den Andern unterschiedener, ohne daß deine Uebereinstimmung mit ihnen in demselben Handeln mitgesetzt sei“.32 Die Balance von Gemeinschaftsbezug und Individualitt gilt also als sittliche Norm. Sie kann auch als Pflicht zur wechselseitigen Anerkennung beschrieben werden. Jeder Beitritt in eine Gemeinschaft fordert die Zustimmung zu den gemeinschaftlichen Zielen, wie umgekehrt jede Gemeinschaft dem Einzelnen sittliche Selbststndig-

28 Ebd., Einleitung, S. 17, § 95. 29 Vgl. KGA I/11, S. 426 (Versuch ber die wissenschaftliche Behandlung des Pflichtbegriffs). 30 Ebd., S. 425, Zeile 35 – 38. 31 Ebd., S. 426 f., Zeile 41 – 1. 32 Ebd., S. 427, Zeile 12 – 15.

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keit, d. h. Freiheit ermçglichen muss. Die Balance zwischen Individualitt und Gemeinschaftsbezug gilt als allgemeine ethische Norm.33 Dementsprechend greift Schleiermacher diese Balance in denjenigen Imperativen auf, die die Mitwirkung des Einzelnen im çffentlichen Leben als Rechtspflichten konkretisieren. Jeder Beitritt zu einer Gemeinschaft erfordert die Zustimmung zu deren Zwecken. „Tritt immer in Gemeinschaft, indem du dir auch aneignest.“34 Umgekehrt fordert die Zustimmung zu diesen Zwecken auch den Beitritt in die Gemeinschaft. „Eigne nie anders an, als indem du zugleich in Gemeinschaft trittst.“35 Gemß dieser Einsichten ist die Rechtsgemeinschaft, Ort der Aneignung, so zu ordnen, dass darin das individuelle Gewissen unangetastet bleibt und produktiven Beitrgen des Einzelnen Raum gegeben wird. Das ist die sittliche Sphre des Berufslebens. Die vollstndige Rechtspflicht wird daher in folgendem Imperativ zusammengefasst: „Begieb dich unter kein Recht ohne dir einen Beruf sicher zu stellen und ohne dir das Gebiet des Gewissens vorzubehalten.“36 Darber hinaus hat die Rechtsgemeinschaft auch andere Formen der Gemeinschaftsbildung zu respektieren und bergnge zwischen den Gemeinschaftsformen zu ermçglichen. Damit wird die normative Absicht der Rechtsethik kenntlich. Sie zielt auf die wechselseitige Anerkennung von Gemeinschaft und individueller Freiheit. Das Zusammen-Bestehen-Kçnnen von Freiheit wird von Schleiermacher im Verhltnis von Institution und Einzelnen und im Verhltnis der Einzelnen zueinander durchgespielt. Die hier als sittliche Pflicht ausgewiesene Normativitt menschlichen Handelns ist derjenigen Kants insofern hnlich, weil sie rein formal ist und aus der Natur der menschlichen Vernunft abgeleitet ist. Sie hat allerdings den Horizont der rein deontologischen Ethik Kants berschritten, weil sie einerseits orientiert ist an den berindividuellen, mit institutionellen Eigenlogiken verknpften Bedingungen des sittlichen Lebens, die zusammengenommen das Hçchste Gut realisieren und die gesellschaftliche Ausdifferenzierung mçglich machen. Andererseits setzt die Pflicht eine ihr entsprechende Gesinnung voraus, deren Umfang, Genese und Stabilisierung in der Tugendlehre entfaltet wird. Schleiermachers individualittstheoretische 33 Vgl. Claus Mller: Ist theologische Ethik philosophisch mçglich? Zum Verhltnis von philosophischer Ethik und christlicher Sittenlehre im philosophisch-theologischen System Fr. Schleiermachers, Frankfurt/M 2002, S. 19 – 21. 34 KGA I/11, S. 427, Zeile 35 f. (Versuch ber die wissenschaftliche Behandlung des Pflichtbegriffs). 35 Ebd., S. 427, Zeile 28 – 29. 36 Ebd., S. 428, Zeile 24 – 27.

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Deutung der sittlichen Pflichten verweist auf die Tugendlehre, weil in ihr die Gesinnung, die den Pflichten voraus liegen, thematisch wird. „Die Pflichtenlehre ist keine Anweisung zur Pflicht. […] Die Pflichtenlehre hat keinen andern Nutzen, als den alles Wissens. Sie bewahrt vor Irrthum; sie zeigt im System der Ethik insbesondere, wie die Sittlichkeit auch in der That seye. […] Das Handeln ist hier ganz Kunst, und ist nichts ohne […] Gesinnung.“37 Auf die Tugendlehre wird im nchsten Abschnitt einzugehen sein. Fr die Beantwortung der Frage des Beitrages der Pflichtenlehre zur politischen Ethik kann gesagt werden, dass Schleiermacher den politischen Kçrper von vorn herein als in sich ausdifferenziert denkt und an individueller Freiheit bemisst, die darin ermçglicht wird und von deren verantwortlicher Wahrnehmung er selbst lebt und hervorgebracht wird. Die Pflichtenethik zielt auf die freiheitliche Reproduktion und Weiterentwicklung dessen, was gterethisch immer schon vorausgesetzt ist: Das Recht als Institution zur Ordnung des Freiheitslebens, das von den Einzelnen hervorgebracht wird. Bezeichnender Weise konkretisiert Schleiermacher die Rechtspflichten nicht politisch in dem Sinne, dass aktive Beitrge zur politischen Steuerung als Pflicht vorgeschrieben wrden. Die dafr notwendige Gesinnung verdankt sich sozialen Bedingungen, die nicht einfach vorausgesetzt werden kçnnen, sondern durch Bildungsprozesse herbeigefhrt werden mssen. Sie sind erst gegeben, wenn der starre Gegensatz von Obrigkeit und Untertanen zur Funktion im politischen Prozess des Staates wird und die Tugend der ,gebundenen gleichen Liebe‘ allgemein ausgeprgt worden ist.

3. Tugendethische Konkretionen und das politische Ethos des Christen Schleiermachers Interesse an der Tugendethik lsst sich in seine frhen Skizzen und Aufzeichnungen zurckverfolgen.38 In seinem reifen System thematisiert die Tugendlehre das Sittliche als „Kraft, welche in dem ein-

37 Schleiermacher: Collegienheft 1805/06, a.a.O. (Anm. 9), S. 126. 38 Vgl. Brent Sockness: Was Schleiermacher a Virtue Ethicist? Tugend and Bildung in the Early Ethical Writing, in: Zeitschrift fr neuere Theologiegeschichte/Journal for the History of Modern Theology 8 (2001), S. 1 – 33.

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zelnen Leben ihren Sitz hat“,39 beschreibt also die Gegenwart der sittlichen Substanz im Einzelnen40 und damit die innere Voraussetzung fr die pflichtgemße Erfllung der sittlichen Normen. Diese Gegenwart des Sittlichen entfaltet Schleiermacher in doppelter Weise. Auf der einen Seite wird sie unter dem Aspekt ihrer Seins als Gesinnung analysiert. Schleiermacher nennt dies auch ,belebende Tugend‘. Auf der anderen Seite muss sich die Tugend gegen die Widerstnde des sinnlichen Selbstbewusstseins durchsetzen. In dieser Perspektive handelt es sich um eine ,bekmpfende Tugend‘ oder eine Fertigkeit.41 Diese Unterscheidung wird auf die Differenz von Erkennen (Symbolisieren) und Bilden (Organisieren) bezogen, so dass sich ein Schema von vier Grundtugenden ergibt, nmlich Weisheit (Beleben und Erkennen), Liebe (Beleben und Bilden), Besonnenheit (Bekmpfen und Erkennen) sowie Beharrlichkeit (Bekmpfen und Bilden). Da die Sphre des Politischen unter das organisierende Handeln fllt, sind die politischen Tugenden als Unterbestimmungen der Liebe zu identifizieren. Liebe bezeichnet Schleiermacher ganz allgemein als „Seelewerdenwollen der Vernunft, das Hineingehen [der Welt] in den organischen Prozeß“.42 Sie lenkt und normiert den menschlichen Gemeinschaftstrieb. „Eine allgemeinere Bezeichnung aber haben wir nicht fr das Bestreben Gemeinschaft hervorzubringen“.43 Sie steht noch oberhalb des Staates und des Rechtes44 und realisiert sich im Nebeneinander einer Vielzahl von differenzierten Gemeinschaften. Zur Spezifikation der politischen Tugenden wird der Begriff der Liebe doppelt geteilt. In diesem Falle verwendet Schleiermacher die Begriffe Gleichheit/Ungleichheit und Freiheit bzw. Gebundenheit. Fr die sittliche Evaluation des politischen Handelns ist die ,gebundene‘ Liebe 39 KGA I/11 S. 321, Zeile 15 (ber die wissenschaftliche Behandlung des Tugendbegriffs). 40 „[…] denn Tugend ist die besondere Modification des hçchsten Gutes in den Qualitten der menschlichen Natur, das Erkennen der Vernunft in derselben; so wie die Dynamik die Darstellung der Nothwendigkeit der Natur in den besonderen Krften einzelner Naturen.“ (Schleiermacher: Collegienheft 1805/06, a.a.O. – Anm. 9 – S. 10). 41 Vgl. Schleiermacher: Ethik (1812/13), a.a.O. (Anm. 8), Tugendlehre, S. 138 f., § 17 – 20. 42 Ebd., Tugendlehre, S. 146, § 1. 43 KGA I/11, S. 333, Zeile 11 f. (ber die wissenschaftliche Behandlung des Tugendbegriffs). 44 „[…] wir werden sagen mssen, daß berall die Liebe das Recht hervorbringt, so wie berall, wo die Liebe aufhçrt, auch das Recht verloren geht“ (ebd., S. 332 f., Zeile 38 – 1).

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der Ausgangspunkt, weil der Bereich des Politischen bzw. des Staates dem Handeln des Einzelnen immer schon vorgegeben ist. Genauer: das Handeln ist geknpft an die „Identitt des Volkes und der Bildung“.45 Im Blick auf die andere Begriffsteilung oszilliert das politische Handeln in sittlicher Hinsicht. Dort, wo innerhalb des Staates gesellschaftliche Ungleichheiten vorherrschen, dominiert die ,ungleiche Liebe‘, sofern der Herrscher (als Monarch, Despot oder willkrlicher Staatsgrnder) auf seine Untertanen einwirkt, hnlich wie Eltern auf ihre Kinder. Das Ziel politischen Handelns besteht aber in der ,gleichen Liebe‘, in der das gesellschaftliche Band durch politisches Handeln auf die Freisetzung von freier Gleichheit zielt. Insofern ist die gebundene (also im Rahmen eines bestehenden politischen Gemeinwesens anzuwendende) und gleiche (auf egalitre Gemeinschaft zielende) Liebe die politische Haupttugend. Gestalt nimmt diese gebundene Liebe als Vaterlandsliebe an. Sie ist in gewisser Weise die Voraussetzung fr die politische Gesinnung, weil sie das Privatinteresse in der Weise versittlicht, indem es auf das gemeinsame Interesse ausgerichtet wird bzw. das Privatinteresse vom gemeinsamen Interesse aus reflektiert wird. Politische Tugend weiß sich hier an die Nation gebunden und lsst auch das individuelle Wollen davon bestimmen. Zugleich aber ist diese ,Vaterlandsliebe‘ von der ,National-Eitelkeit‘ unterschieden, die andere Nationen nicht gelten lsst. Vielmehr gilt: „Die ethische […] Vaterlandsliebe ist nicht comparativ: sie erkennt auch andere Individualitten an, und achtet sie“.46 Das Nationalgefhl reprsentiert die Sphre eines mittleren Allgemeinen, das im Staat institutionalisiert ist. Der ethische Sinn des Kosmopolitismus besteht darin, die Grenzen des Nationalen zu berschreiten und auf die politische Wirksamkeit der globalen Verbindung aller Menschen hinzuwirken. Die politische Tugend der ,Vaterlandsliebe‘ konkretisiert Schleiermacher in zwei Richtungen, nmlich einerseits als „Tugend des Regenten und Gesetzgebers“47 und andererseits als Brgertugenden. Auf beide Aspekte sei kurz eingegangen. Zunchst zu den politischen Tugenden des Regenten. Im Vorlesungsmanuskript der Philosophischen Ethik notiert Schleiermacher lediglich „Ge45 Schleiermacher: Ethik (1812/13), a.a.O. (Anm. 8), Tugendlehre, S. 147, Randschrift 1827. 46 Alle Zitate in diesem Absatz Schleiermacher: Collegienheft 1805/06, a.a.O. (Anm. 9), S. 56. 47 Schleiermacher: Ethik (1812/13), a.a.O. (Anm. 8), Tugendlehre, S. 148, Randschrift 1827.

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meingeist und Unpartheilichkeit“48 oder „Weisheit und Gnade […], weil nemlich hier kein Streit sein kann zwischen gemeinsamen Interesse und Privatinteresse“.49 Der Herrscher verkçrpert den politischen Willen, weil er keine privaten Interessen verfolgt. Er behandelt alle Brger gleich, weil er streng unparteilich ist. Ausfhrlicher hat Schleiermacher die dafr erforderlichen innerpsychischen Voraussetzungen in der Akademieabhandlung Rede am Geburtstage Friedrich des Großen (1817) ausfhrlich dargelegt. Dort heißt es: „Er muß ausgezeichnet sein in seinem persçnlichen Wesen, damit man fhlt, htte er auch keinen Thron geziert, er werde doch mchtig gewrkt und gewaltet, vieles bewegt und beseelt und wrdige Denkmler seines Daseins zurckgelassen haben. Er muß aber auch ausgezeichnet sein durch kçniglichen Geist und Sinn: er muß das Leben seines Volkes in sich tragen, von dessen Bedrfnissen durchdrungen sein, dessen Bestrebungen und Neigungen in ihren Verhltnissen und Entwikklungen fhlen und theilen, dessen unentwikkelte Krfte ahnden und zu befreien suchen, kurz nicht sowol der Schuzgeist seines Volkes muß er sein als vielmehr dessen lebendige Seele, in welcher von allem, was in der Erscheinung streitend sich zu beschrnken und aufzuheben sucht, die verborgenste Einheit als gemeinsame Kraft sich bewegt.“50 Wenn der Staat den bewussten Zustand eines Volkes reprsentiert, dann ist der Herrscher dessen Seele Triebkraft und dessen Reprsentant,51 und zwar als Person ebenso wie in seiner Amtsfhrung. Daher kann sich Schleiermacher auch nur einen Monarchen an der Staatsspitze vorstellen. Schon in einem frhen Aphorismus heißt es: „Die Idee des wahren Kçniges. Er muß alles haben und nichts. Nichts in der Form des Eigenthums, aber den idealen Besiz von allen. […] Darum ist der Wahlkçnig nicht der rechte, sondern nur der Erbkçnig.“52 Der Kçnig verkçrpert die „Einheit und Allheit der Einwohnung der Idee des Staates“,53 hat also alle politisch organisierten gemeinsamen Interessen nicht nur internalisiert, sondern reprsentiert sie und handelt ihnen entsprechend. Weil er kein persçnliches Eigentum hat und nicht zur Wiederwahl ansteht, braucht er im Amt keine Privatinteressen zu verfolgen. Der dy48 49 50 51

Ebd. Ebd. KGA I/11, S. 245, Zeile 4 – 15. „Insofern das Volk sich als Product des Kçnigs ansehen lßt mssen auch die Mittelglieder vom Kçnig ausgehen[;] insofern der Kçnig als Product des Volks mssen die Mittelglieder vom Volk ausgehn.“ (KGA II/8, S. 15, Zeile 16 – 19). 52 Ebd., S. 6, Zeile 20 – 23. 53 Ebd., S. 14, Zeile 1 f.

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nastische Erbgang ist die beste Voraussetzung fr die unparteiische Wahrnehmung der gemeinsamen Interessen des gesamten Volkes. „Die hçchste Autoritt in einer Mehrheit der Personen wrde das nicht leisten, sie wrde entweder eine schwankende Gesezgebung hervorbringen der demokratischen hnlich die fr diese Form schon ihrer Grçße wegen nicht paßt weil das Gesez grçßtentheils vernichtet sein wrde ehe es ganz durchgedrungen wre, oder es wrde sich unter der Mehrheit eine demagogische Autoritt bilden, fr die es aber keinen Wechsel mehr geben kçnnte wegen der festen Organisation aller Theile der gesezgebenden Gewalt; wer diese einmal in Hnden hat wird sie sich nicht mehr entreißen lassen und so entstnde auch aus der Mehrheit von selbst das Kçnigthum.“54 Der Monarch verkçrpert fr Schleiermacher also das Ideal des politisch Handelnden und in der Verbindung von Person und Amt zugleich die sittliche Idealitt des politischen Handelns selbst. Damit hlt Schleiermacher den empirischen Vertretern der Erbmonarchie einen durchaus kritischen Spiegel vor. Man kann die tugendethische Argumentation Schleiermachers also sowohl in legitimatorischer als auch in herrschaftskritischer Weise interpretieren. Hier, wie so oft, schillern Schleiermachers Ausfhrungen, und sein dialektisches Bemhen um Ausbalancierung der Gegenstze verdeckt die Radikalitt, mit der seine Konstruktion kritisch gegen die Wirklichkeit im damaligen preußischen Staat gewendet werden kann. Auf die politischen Brgertugenden ist Schleiermacher in einigen Predigten eingegangen. In einer Predigt von 1799 spricht er anlsslich eines allgemeinen Bettages ber Die Gerechtigkeit als die unentbehrliche Grundlage des allgemeinen Wohlergehens. Die politische Dimension der Gerechtigkeit wird auf drei Ebenen entfaltet, zunchst im Verhltnis der Brger zur Obrigkeit. Hier wird sie als „Gehorsam gegen die Gesetze“55 und als „Zutrauen zu der Weisheit der Obern“56 und zu den von der Obrigkeit unterhaltenen Einrichtungen interpretiert, die auf die çffentliche Wohlfahrt gerichtet sind. Diese Tugenden schließen das „Recht ber die Handlungen der Obrigkeit zu sprechen“57 nicht aus. Vielmehr ist das „ein 54 Ebd., S. 37, Zeile 7 – 17. 55 Friedrich Schleiermacher: Die Gerechtigkeit ist die unentbehrliche Grundlage des allgemeinen Wohlergehens, gehalten am 20. 04. 1796, in: Predigten von protestantischen Gottesgelehrten der Aufklrungszeit, hg. von W. von Meding, Darmstadt 1989, S. 231 – 256, hier 235. 56 Ebd., S. 240. 57 Ebd., S. 242.

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herrlicher Vorzug“,58 der aber „einem bescheidenen und vernnftigen Gebrauch“59 empfohlen bleibt. Zweitens, im Blick auf den brgerlichen Verkehr untereinander, konkretisiert sich die Tugend der Gerechtigkeit als „strengste Gewissenheit“,60 die darauf verzichtet, den Anderen zu bervorteilen. Fr die Inhaber obrigkeitlicher Gewalt schließlich wird die Tugend der Gerechtigkeit ausgelegt als die Haltung „strengster Billigkeit“61 bei der Anwendung der Gesetze, als Unparteilichkeit, als Milde (= „Lindigkeit“62) und insbesondere als Anerkennung der wesentlichen Gleichheit aller Menschen, die deren Individualitt als zufllig ansieht, und ihr Handeln stets vom wahren „Gefhl fr Menschenwerth“63 begleitet sein lsst. Im Zuge der Durcharbeitung der Tugendlehre hat Schleiermacher spter die Bedeutung der Tugend der Gerechtigkeit zurckgestuft und der Liebe subordiniert, weil „berall die Liebe das Recht hervorbringt, so wie berall, wo die Liebe aufhçrt, auch das Recht verloren geht“.64 Die Gerechtigkeit ist lediglich die fr die Rechtsgemeinschaft ,zustndige‘ Tugend, whrend die Liebe die Tugend fr Gemeinschaftlichkeit schlechthin ist, also auch die politische Gemeinschaft transzendiert und kritisch auf sie bezogen werden kann. Weitere Aspekte thematisiert Schleiermacher in der Predigt Ueber das rechte Verhltnis des Christen zu seiner Obrigkeit von 1809. Hier legt er die „Gottseligkeit“ als denjenigen „Boden“ aus, „auf welchem chte Treue wahrer Gehorsam und jede allgemeine Brgertugend vorzglich oder wol gar allein mit Sicherheit empor wachsen kann“.65 Aus dem Geist der Frçmmigkeit werden die Tugenden „Selbststndigkeit und fester Muth“66 und die „innigste[] Theilnahme an den allgemeinen Angelegenheiten“67 abgeleitet. Die Verwirklichung von Freiheit ist Grund und Ziel aller Beitrge aus christlicher Gesinnung. Fr den Fall, dass diese Freiheit nicht 58 59 60 61 62 63 64

Ebd. Ebd. Ebd., S. 244. Ebd., S. 250. Ebd., S. 253. Ebd., S. 254. KGA I/11, S. 332 f., Zeile 38 – 1 (ber die wissenschaftliche Behandlung des Tugendbegriffs). 65 Friedrich Schleiermacher: Ueber das rechte Verhltnis des Christen zu seiner Obrigkeit, in: Predigten von Friedrich Schleiermacher, Berlin 1835 (Smmtliche Werke II/4), S. 1 – 13, hier 2. 66 Ebd., S. 4. 67 Ebd., S. 5.

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verwirklicht werden kann, fasst Schleiermacher die Notwendigkeit von Migration ins Auge. Der zweite Teil der Predigt behandelt die Brgertugenden von der Seite des Gewissens aus, das die anthropologische Instanz der Einwilligung in die Maßnahmen der Obrigkeit darstellt. In dem Regelfall, in dem die Regierung den gemeinsamen Willen vollzieht, ist die loyale Haltung kein Problem und der Christ begleitet diese Maßnahmen in der „innern und stillen Tthigkeit des Nachdenkens und der Betrachtung.“68 Eine Variante dieser Zustimmung in die obrigkeitlichen Maßnahmen besteht ist das politische Engagement, das „vermittels seines Einflusses auf andere wirksam […] fr die gemeine Sache“69 wird. Dazu gehçrt die „çffentliche Stimme“,70 die die politische Auffassung nçtigenfalls auch gegen die Obrigkeit erhebt. Denn: „Das Gewissen lßt ihn nicht wehren, als die Stimme Gottes verachtet es alle menschliche Rcksichten. Es spendet auch unwillkhrlich nach einem richtigen geluterten Gefhl die Beweise der Achtung wie des Abscheues und schweiget nicht.“71 Aber das Ziel des çffentlichen Widerspruchs besteht darin, politisches Einvernehmen zwischen Obrigkeit und Brgern herzustellen, bei dem die Einzelinteressen gegenber dem politisch ausgemittelten Gesamtinteresse zurckstehen. Insofern dient das an Tugenden geleitete politische Handeln sowohl auf Seiten der Obrigkeit wie auf Seiten der Brger der Konstitution eines politischen Willens, der idealerweise im Monarchen vertreten ist. Gleichwohl gibt Schleiermacher zu erkennen, dass es trotz dieser Intention einen bleibenden Dissens geben kann, der politisch toleriert werden muss. „Was aber dann noch brigbleibt von abweichenden Meinungen und Einsichten, kann so gelutert unmçglich anders als zum Wohl des ganzen beitragen. Denn wer es so redlich meint und so strenge sich selbst und die Sache prft und so berall Vertrauen und Liebe zum Grunde legt, dem entwikkelt sich dann wol aus seinem stillen Nachdenken wieder die edelste Kraft, mit der er dem ganzen dienen und zur Hlfe kommen kann, fruchtbare Wahrheiten nmlich, heilsame Winke, wohldargelegte Einsichten. Ein solcher nmlich […] kann wol bisweilen dahin gelangen, wiewol zu keiner von den Verzweigungen der Obrigkeit gehçrig, im einzelnen richtiger zu urtheilen, als sie. Was kçnnte aber ein gutgesinnter Brger der Obrigkeit lieber darbringen als solche Einsichten!“72 Viel 68 69 70 71 72

Ebd., S. 9. Ebd., S. 10. Ebd. Ebd., S. 10 f. Ebd., S. 13.

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weitergehender als in der Staatslehre wird von Schleiermacher in den Predigten der Tugend der Toleranz im Blick auf das Aushalten von abweichenden Meinungen und der Hervorbringung eines politischen Pluralismus Raum eingerumt. Sittlich entscheidend ist dabei die ideelle Ausrichtung auf das Gemeinsame, die aber im politischen Geschft faktisch nicht mehr eingeholt zu werden braucht. Die Entfaltung der politischen Tugenden steht unter der Voraussetzung, dass sich die Bildung der sittlichen Gesinnung nicht von selbst versteht, sondern sich Bildungsprozessen verdankt, aus deren Beschreibung auch die besondere Bedeutung der christlichen Religion hervorgeht. Denn den Tugenden entgegengesetzt sind die ,Untugenden‘ oder ,Laster‘, die auf die Nicht-Selbstverstndlichkeit des Vorliegens einer tugendhaften Gesinnung verweisen. Ausfhrlicher hat sich Schleiermacher in den Akademieabhandlungen ber den Begriff des Erlaubten und ber Platons Ansicht von der Ausbung der Heilkunst mit den Lastern beschftigt, die die Erfllung der sittlichen Pflichten gefhrden. Die Zerstreuung,73 der Schlaf 74 und Krankheiten75 werden hier als Anreize angefhrt, die sittliche Gesinnung – und sei es auch nur vorbergehend – zu unterminieren, sich der Muße hinzugeben und sich nicht mehr geistig, sondern sinnlich zu orientieren. In seinen Vorlesungen zur Philosophischen Ethik nennt er als Beispiele „Irrtum“, „Selbstliebe“,76 „Lieblosigkeit“, „bermtige Gewissenlosigkeit“,77 „Stumpfheit“, „krnkliche Weichlichkeit“,78 „Trgheit“,79 „sinnliche Lust oder Unlust“80 und „Schlendrian“.81 Darin deutet sich eine grundlegende Ambivalenz an, unter der die vernnftige Sittlichkeit steht, weil sie den Anreizen des niederen Begehrungsvermçgens erliegen. Die Stabilisierung der Sittlichkeit steht jedoch nicht dem Einzelnen zu Gebote, sondern kann nur im Rahmen einer vorgegebenen allgemeinen Sphre des Geistes erfolgen, die die dafr notwendigen Voraussetzungen schafft. Dafr steht, wie hier am Beispiel der Predigten deutlich wurde, die christliche Religion ein, die als geistige Entfaltung des hçheren Selbstbe73 74 75 76 77 78 79 80 81

Vgl. KGA I/11, S. 497 – 504 (ber den Begriff des Erlaubten). Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 469 – 473 (ber Platons Ansicht von der Ausbung der Heilkunst). Schleiermacher: Ethik (1812/13), a.a.O. (Anm. 8), Tugendlehre, S. 147, Randschrift. Ebd., S. 149, Randschrift. Ebd., S. 158, Randschrift. Ebd., S. 164, § 62. Ebd. Ebd., S. 164, § 64.

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wusstseins die Macht des sinnlichen Selbstbewusstseins bestimmt und damit dem hçheren Bewusstsein des Einzelnen eine seinen Willen prgende Kraft verleiht. Die christliche Tugendgesinnung berwindet sittliche Ambivalenz der vernnftigen Sittlichkeit und ist nach Schleiermacher ein vorzgliches Mittel zur politischen Realisierung der gleichen Freiheit im Staat, auch weil sie durch ihre Forderung zur Loyalitt der Obrigkeit gegenber zum politischen Engagement im Staat auffordert.

4. Abschlusserwgungen Die pflichten- und tugendethische Durchfhrung der Sittenlehre fçrdert fr eine Ethik des Politischen wesentliche Aspekte zu Tage, weil sie den Beitrag der Einzelnen im politischen Geschehen zu erfassen und auszurichten vermag. Dabei ist es insbesondere die Tugendlehre, die die Nichtselbstverstndlichkeit der individuellen Disposition zum politischen Engagement erkennen lsst. Daher fllt auf das Verhltnis von vernnftiger und christlicher Ethik am Beispiel der Tugendethik ein besonderes Licht, insofern der christliche Glaube die von Haus aus unsteten und stçranflligen politischen Tugenden stabilisiert und den Christen zu einer aktiven Partizipation am politischen Gemeinwesen motiviert, das freilich verschiedene Stufen und unterschiedliches Ausmaß einschließen kann. In jedem Falle gehçrt dazu die Anerkennung derjenigen politischen Rahmenbedingungen, die die Bildung zur Individualitt und die Ausbung einer politischen Ttigkeit ermçglichen, whrend die aktive Partizipation an den politischen Prozessen eines Staates auf einer Skala zwischen ,innerlichem Nachdenken‘ einerseits und ,çffentlichem Einspruch gegenber politischen Maßnahmen der Obrigkeit‘ andererseits verortet werden kann. In diesem Sinne drfte Schleiermacher sein eigenes politisches Engagement als Ausdruck einer Tugendgesinnung verstanden haben, die unmittelbar mit dem christlichen Glauben verknpft ist und im preußischen Reformstaat ein adquates Bettigungsfeld fand. Die konkreten Beschreibungen der politischen Prozesse, die Schleiermacher in den verschiedenen Fassungen seiner Staatslehre gibt, haben vordemokratischen Anspruch und kennen etwa ein allgemeines und gleiches Wahlrecht nicht. Schleiermacher denkt hier noch in vormodernen Partizipationsformaten, obwohl der Begriff der brgerlichen Freiheit und der auf Partizipation angelegten politischen Tugenden emphatisch ausgeprgt ist.

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Ausgeblendet bleiben in dem hier behandelten Zusammenhang diejenigen Beitrge zur ,Staatsverbesserung‘, die Schleiermacher im Zuge seiner Vorlesungen zur Christlichen Sitte entfaltet hat.82 Auch hier ist es am Ende die tugendhafte Gesinnung der einzelnen Akteure, die die sittliche Substanz der christlichen Religion auch im staatlichen Gefge zur Geltung bringen. Aber in der Christlichen Sitte bringt sie Schleiermacher als institutionell veranlasstes Handeln zur Geltung und folgt nicht der Einteilung der Sittenlehre in Gter-, Pflichten- und Tugendethik, weil er hier komplexere gesellschaftliche Bedingungen vor Augen hat, die den politischen Beitrag des Einzelnen ethisch verundeutlichen, so dass allein die Rckbindung an die Grundprinzipien christlicher Sitte die Identifizierung von moralischer Substanz erlaubt. Schließlich kann gesagt werden, dass die Aktualitt von Schleiermachers Ethik des Politischen darin besteht, dass ihre gter-, pflichten- und tugendethische Entfaltung die sittliche Substanz des Politischen in den werthaltigen institutionellen und anthropologischen Rahmenbedingungen des Politischen verortet. Das individualittstheoretisch und sozial eingebundene bestimmte Freiheitsverstndnis gibt dem politischen Handeln sein grundstzliches Ziel ethisch vor, das pflichten- und tugendethisch in das Selbstverstndnis der politischen Akteure einfließt, sowohl in dasjenige der handelnden Funktionseliten als auch in dasjenige der partizipierenden Brger. Dadurch werden die hufig berkomplexen Sachfragen moralisch entlastet. Schleiermacher vermeidet so die gegenwrtig hufig zu beobachtende bernormierung des politischen Handelns. Die Formulierung gemeinsamer Interessen und des politischen Willens wird dem geordneten politischen Prozess anheim gestellt und die getroffenen Lçsungen kçnnen von der strittigen Sache her verstanden und beurteilt werden. Man kann darin eine radikale und differenzierte Fortschreibung der reformatorischen Lehre von den zwei Regierweisen Gottes erkennen, an deren Umformung und Modernisierung Schleiermacher in einer solchen Weise mitgewirkt hat, dass man noch heute davon profitieren kann.

82 Vgl. Hans-Joachim Birkner: Schleiermachers christliche Sittenlehre im Zusammenhang seines philosophisch-theologischen Systems, Berlin 1964 und neuerdings James M. Brandt: All Things New. Reform of Church and Society in Schleiermacher’s Christian Ethics, Louisville, 2001.

Neander und Schleiermacher1 Kurt-Victor Selge Das erste Wort sei eine Verbeugung vor dem im Jahre 1888/89 38 Jahre alten und soeben konfliktreich und verdienstvoll – der neue und junge Kaiser „wollte keine Mucker“ – nach Berlin berufenen Adolf Harnack. Er beweist seine Fhigkeit, weitrumige Perspektiven zu erçffnen, mit den folgenden Worten: „In der Theologie waren es drei Richtungen, welche den Rationalismus“ (der Aufklrungstheologie) „abgelçst haben, die Schleiermacher-Neander’sche, die Hegel’sche und die confessionelle. Die beiden erstgenannten schieden sich […] bald in eine Rechte und eine Linke, sofern sie von ihrem Ursprung her conservative und kritische Interessen einschlossen. Die conservativen Elemente haben dann zum Aufbau des modernen Confessionalismus gedient […] Allen diesen Richtungen gemeinsam ist das Bestreben, die Geschichte wirklich zu verstehen (sei es als Entwickelung, sei es als That der Individuen) und aus ihr ehrfrchtig zu lernen.“ „Das unvergngliche Verdienst des großen Schlers Hegel’s, F. 1

Dieser Beitrag zur Festschrift zum 60. Geburtstag (1991) des damals bereits schwer erkrankten Hans-Joachim Birkner ergnzt meinen anlsslich des 200. Geburtstages Neanders (16. 1. 1789) verfassten Aufsatz ber meinen großen ersten Vorgnger auf dem Berliner Lehrstuhl fr Kirchengeschichte: Kurt-Victor Selge: August Neander – ein getaufter Hamburger Jude der Emanzipations- und Restaurationszeit als erster Berliner Kirchenhistoriker (1813 – 1850), in: 450 Jahre Evangelische Theologie in Berlin, hg. von Gerhard Besier und Christof Gestrich, Gçttingen 1989, S. 233 – 276. Er weist auf das einerseits anknpfende, anderseits kritisch korrigierende Verhltnis des einstigen Schlers (Neander studierte 1806 in Halle) zu dem großen „Grndungsvater“ der Berliner Universittstheologie und Anfnger einer neuen Stufe kritisch-protestantischer Theologie in der Neuzeit hin. Dieser kann nicht als alleiniger „Kirchenvater“ einer erneuerten Kirchlichkeit des 19. und 20. Jahrhunderts angesehen werden. Er hat nur in Verbindung mit dem am eindrucksvollsten von Neander verkçrperten Geist der „Erweckung“ in der westlichen evangelischen Welt Epoche gemacht. Zuerst erschienen in: Schleiermacher und die wissenschaftliche Kultur des Christentums, hg. von Gnter Meckenstock in Verbindung mit Joachim Ringleben (Theologische Bibliothek Tçpelmann, 51), Berlin und New York 1991 (Festschrift fr Hans-Joachim Birkner zum 9. Mai 1991), S. 33 – 50. Ich begrße die Gelegenheit, die damals ohne Sorgfalt durchgefhrten Korrekturen jetzt vorzunehmen, um hiermit „in 2. Auflage“ eine bereinigte und berarbeitete Fassung vorzulegen.

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Chr. Baur’s“, ist es, „daß er zuerst eine einheitliche Gesammtauffassung der Dogmengeschichte zu geben und den ganzen Process in sich nachzuerleben versucht hat, ohne die kritischen Errungenschaften des 18. Jahrhunderts preiszugeben.“ „In mancher Hinsicht eine lebendigere und darum zutreffendere Auffassung von der christlichen Religion besaß Neander, dessen Christliche Dogmengeschichte […] sich durch Vielseitigkeit der Gesichtspunkte und feines Verstndniss individueller Bildungen auszeichnet.“2 So urteilt Harnack; auch fgt er Kritik an beiden, den „Rivalen“3 Baur und Neander hinzu. Einhundert Jahre spter wird man etwas weitergehende Feststellungen machen drfen. Dazu gehçrt einmal eine Verschiebung der Gewichte. Des Tbingers, Ferdinand Christian Baurs, wenigstens theologiegeschichtlicher Ruhm hat sich – unter Kritik an seinen „rechtshegelianischen“ Begriffszwngen, aber wachsender Anerkennung seiner Bedeutung fr den Fortschritt in der Evangelienkritik – immerhin erhalten; dagegen ist der Ruhm des als Daniel Mendel geborenen Hamburger Neophyten von 1806, der seine drei neuen Namen (Johann August Wilhelm) von seinen Taufpaten in St. Katharinen zugleich mit dem programmatischen neuen Familiennamen Neander erhielt, auch in geschichtlicher Sicht verblaßt. Etwas schnçde urteilt der Artikel Kirchengeschichtsschreibung der neuen Theologischen Realenzyklopdie 1989: „Die romantische Reaktion (Friedrich Leopold Graf zu Stolberg[…]), die Erweckungsbewegung ([…]Neander[…]) und der Ultramontanismus waren der Selbsteinschtzung des Historikers als eines an historisch-kritische Verfahrensweisen gebundenen Wissenschaftlers eher ungnstig.“4 Dies scheint mir aber ein wenig subtiles Urteil aus dem Geist einer „Zweiten Aufklrung“ zu sein, wie sie im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts – seit der immer mehr als Episode5 erscheinenden neuen

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Adolf Harnack: Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd. 1 (1885), 2. Aufl., Freiburg im Breisgau 1888, S. 31 ff. Adolf Harnack: Rede auf August Neander, 1889 (Sonderausgabe aus den Preußischen Jahrbchern, Februar 1889), S. 3 (Wiederabdruck in: Ders.: Reden und Aufstze, Bd. 1, Gießen 1904, S. 195) Ekkehard Stçve, in: TRE 15, 1989, S. 545. Die „Episode“ der neuen Kirchlichkeit und Bekenntniskirchlichkeit scheint mir zweigeteilt zwischen einem langen Aufbruchsjahrzehnt der Zwanziger Jahre (1919 – 1932) und einer Verengungs- und Verhrtungsgeneration, die durch die neue Frontbildung gegenber der nationalsozialistischen Versuchung und deren

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Kirchlichkeit und erstrebten Neuorthodoxie eines „Jahrhunderts der Kirche“ zwischen 1919 und 19686 – Platz greift. Man kann an Neander gewiss allerlei Kritik ben, auch an Art und Maß seiner historischen Kritik7 – in seiner Darstellung der neutestamentlichen Urgeschichte8 und besonders im „Leben Jesu“ (1837) bleibe er in der Mitte stehen –, aber dass er in der Kirchengeschichte sowohl kritisch als auch darstellerisch Epoche gemacht und dabei das Erbe der Aufklrung keineswegs preisgegeben hat, sollte dem „Vater der neueren Kirchengeschichtsschreibung“9 nicht bestritten werden. Seine akademischen Fhrer auf dem Wege zur Kirchengeschichte waren zwei bedeutende Vernunfttheologen – der Direktor des Hamburgischen Johanneums und akademischen Gymnasiums, Johannes Gurlitt, der auch einer seiner Taufpaten wurde (1754 – 1824),10 und der Gçttinger Kirchenhistoriker Gottlieb Jakob Planck (1751 – 1833),11 sowie auch Schleiermacher, dessen erste (mehr theoretische) Kirchengeschichtsvorlesung er im Sommer 1806 in Halle hçrte. Des Helmstedters Heinrich Philipp Konrad Henke (1752 – 1809) Allgemeine Geschichte der christlichen

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trgerische Legitimierung durch das Ende des NS-Staates zur vorbergehenden Dominanz gelangt. Otto Dibelius (Das Jahrhundert der Kirche, 1926) starb 1967, Karl Barth (Kirchliche Dogmatik, 1932 ff.) 1968. Die Jahreszahl 1919 steht fr das Ende des alten „landesherrlichen Kirchenregiments“ und die „hinkende“ (Ulrich Stutz) Trennung von Staat und Kirche in Deutschland in der Weimarer Reichsverfassung. Selge: August Neander (wie Anm.1), S. 242 f. mit Anm. 31. Geschichte der Pflanzung und Leitung der christlichen Kirche durch die Apostel, als selbstndiger Nachtrag zu der allgemeinen Geschichte der christlichen Religion und Kirche, Hamburg 1832/33, dazu Selge: August Neander (wie Anm.1), S. 249 mit Anm. 59. Fr dies Urteil des 19. Jahrhunderts und fr andere in diesem Aufsatz nicht erneut belegte Einzelheiten verweise ich generell auf meinen genannten Aufsatz (Anm.1). Eine krzere Wrdigung Neanders mit weiteren Belegen findet sich in meinem Vortrag „Die Berliner Kirchenhistoriker“ aus einer 1987 aus Anlass der 750Jahrfeier von Berlin gehaltenen Ringvorlesung der Freien Universitt Berlin ber „Geschichtswissenschaft in Berlin“ . In: Geschichtswissenschaft in Berlin im 19. und 20. Jahrhundert. Persçnlichkeiten und Institutionen, hg. von Reimer Hansen und Wolfgang Ribbe (Verçffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 82), Berlin und New York 1992, S. 409 – 447. Gurlitts fçrdernde und steuernde Hand erscheint in der gesamten Bildungsgeschichte des jungen David Mendel von dessen Eintritt in die Gelehrtenschule des Johanneum 1803 an bis zu seiner bersiedlung zwecks Habilitation nach Heidelberg 1810/11; Neander hat dieser Fçrderung stets dankbar gedacht. An Planck schloss Neander sich an, nachdem er im Oktober 1806 nach Auflçsung der Universitt Halle durch Napoleon in einem langen Fußmarsch in Gçttingen Zuflucht gefunden hatte.

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Kirche (1788 ff.) hat er durch seine eigene Allgemeine Geschichte der christlichen Religion und Kirche (1826 ff.) ersetzen wollen, der er nicht weniger als sechs Monographien zur Alten Kirche und zum Mittelalter vorausgehen ließ, in denen er seine kritische Sicht und seine Geschichtsanschauung entwickelte. F.Chr. Baur, der Rivale, widmet Neander nach seinem Tod 1850 eine eingehende kritische Wrdigung, in der Stze stehen wie diese: „Neander ist der Schçpfer der kirchengeschichtlichen Monographie.“ „Wir stehen mit Neander auf der Hçhe der modernen kirchlichen Geschichtsschreibung.“12 Harnack aber erkennt dem Standpunkt Neanders gegenber der von ihm weitgehend geteilten Baurschen Kritik an diesem Standpunkt auch ein sowohl wissenschaftliches als auch theologisches Recht zu.13 Man wird den weitgehend Vergessenen und unter den Antiquitates Abgehefteten also wohl in die Erinnerung zurckrufen drfen – als Charakter zumal, aber auch als Historiker und als Theologen. Neander hat nmlich, so mçchte ich es ausdrcken, Schleiermachers Wissenschaftsanschauung, wie er sie zuerst durch Lektre, danach 1806 als Hallenser Hçrer wahrgenommen hat, so mit dem Schleiermacher an sich fremdartigen, aber doch von ihm auch erstrebten Geist der Erweckung verbunden, dass seine Wissenschaft der Erweckung dienstbar, der Geist der Erweckung aber zugleich an die kritische Wissenschaft gebunden wurde. Damit wollte er der Freiheit in der Theologie dienen, deren Bedrohungen er wohl wahrnahm, und jeder konfessionellen, theologischen, kirchenamtlichen und gar staatlichen Bevormundung und Zensur entgegenwirken. Das ist die stetige Linie seines Wirkens von Beginn der staatlich-kirchlichen Restauration – zum erstenmal bezeugt anlsslich der Entlassung De Wettes 181914 – bis zu seinem Tode im Jahr 1850. Berhmt ist in diesem Sinne 12 F. Chr. Baur: Die Epochen der Kirchlichen Geschichtschreibung, Tbingen 1852. ber Neander S. 201 – 232, die Zitate auf S. 202 und 232. Der zweite Kirchenhistoriker, mit dem die durch erweiterte Quellenkenntnis und neuartige historische Quellenbenutzung ausgezeichnete neueste Epoche der kirchlichen Geschichtschreibung neben Neander beginnt, Gieseler, erhlt nur fnf Seiten (S. 232 – 236). 13 Indem das Christentum bei Hegel, Strauß und Baur „lediglich als Glied des geschichtlichen Processes betrachtet wurde, ging, um von Anderem zu schweigen, die Eigenart und specifische Bedeutung der Person Christi verloren. Unzweifelhaft vertheidigte also Neander als Christ und als Historiker gegen Hegel, Strauß und Baur ein hçchst werthvolles Gut.“ (Harnack: Rede auf August Neander [oben Anm. 3] S. 29) 14 Neander an den Direktor des 1817 gegrndeten Wittenberger Predigerseminars, Leonhard Heubner, Ende 1819 oder sptestens 1820: „De Wette’s Entfernung hat mir sehr Leid gethan, weil mich die Kirchengeschichte lehrt, daß alle Gewalt-

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sein çffentliches Eintreten fr die Hallenser Rationalisten Gesenius und Wegscheider 1831 und gegen eine Zensur des Leben Jesu von David Friedrich Strauß 1836. Wissenschaft und Theologie mssen frei sein, und nur in Freiheit kçnnen falsche Entwicklungen ihre Korrektur empfangen. Denn sie gehen aus geschichtlicher Notwendigkeit hervor. Die Aufklrung kann nicht aus der Theologiegeschichte getilgt werden. Man htte danach Schwierigkeiten, Neander der „Rechten“ oder „Linken“ zuzuordnen, in die sich nach Harnacks am Anfang angefhrtem Wort die Hegelsche wie die Schleiermacher-Neandersche Richtung schieden. Offenbar meint Harnack hiermit deren Schler und weder Schleiermacher noch Neander selbst. Bei ihnen mischten sich noch „conservative und kritische Interessen“. In seiner Rede auf August Neander zu dessen einhundertstem Geburtstag 1889 hat Harnack Neanders Wirkung auf die Bildung einer neuen kirchenamtlichen Orthodoxie kritisch beurteilt, aber die hierhin fhrenden Elemente in Neanders eigener Lehre verteidigt.15 Noch eine grundstzliche Bemerkung zum Vergleich der beiden Gestalten sei hier um der Proportion willen eingefgt. Schleiermacher war der schrfere Denker im Interesse des Christentums nach den ehrenwerten, aber auch ein wenig zopfigen Bemhungen der preußischen Aufklrungstheologen und -neologen. Er war der Denker sozusagen fr die besten streiche zur Unterdrckung einmal vorhandener Geistesrichtungen nur schaden kçnnen, wie Luther sagte, die Geister mssen aufeinander platzen und treffen, man kann auf diese Art nur von der einen Seite Mrtyrer fr eine schlechte Sache und von der anderen Heuchler bilden. Auch kann ich nicht umhin, De Wette als einen Mann von wahrhaft edlem Charakter und liebevollen Herzen zu achten, ich trenne das System von der Person, und glaube doch auch ihn selbst wrde sein warmes Herz, die Fesseln des Fries abwerfend, am Ende weiter gefhrt haben.“ De Wette schloss sich philosophisch an den aus der Erziehung in Herrnhut hervorgegangenen Kantianer Jakob Friedrich Fries (1773 – 1843) an, fr dessen Berufung nach Berlin als Nachfolger Fichtes es ihm freilich nicht gelang, Schleiermacher zu erwrmen (F.W. Kantzenbach: Baron H. E. von Kottwitz und die Erweckungsbewegung in Schlesien, Berlin und Pommern, Ulm 1963 [Quellenhefte zur ostdeutschen und osteuropischen Kirchengeschichte, Heft 11/12], S. 210.) Brief im Nachlass Wilhelm Halfmann (Nordelbisches Kirchenarchiv Kiel, NL Halfmann, B XXVII N.2). De Wettes Entlassung wurde ihm am 2. Oktober 1819 durch den Minister Altenstein bekanntgegeben. Die Fakultt (Schleiermacher, Marheineke und Neander) richtete am 25. 10. 1819 ein Abschiedschreiben an De Wette. 15 Vgl. Harnack: „Dem Aufkommen einer Richtung, welche die Probleme verschleierte und den Gegenstzen die Spitze abbrach, hat er wider seinen Willen Vorschub geleistet. Was bei ihm individuell berechtigt war, war es bei vielen seiner Schler nicht mehr.“ (a.a.O. [Anm. 2] S. 33)

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Geister der jngeren Generation. Die ganze erste Generation und Garnitur der neuen Theologischen Fakultt – Marheineke, De Wette und der Jngste, Neander – verschieden wie sie waren und sich dann entwickelten, hatten sie doch mindestens anfangs alle unter dem mchtigen geistigen Einfluss des „jungen“ Schleiermacher gestanden, des Autors der Reden ber die Religion und der Monologen. Der einzige hier wirklich „Junge“, der jdische Neophyt Neander, eine durch und durch ehrliche und aufrichtige Gestalt, war Schleiermacher gegenber sozusagen der „Einfltigere“. Eiserner Fleiß und innere Geradlinigkeit auch auf dem eingeschlagenen Weg der Gelehrsamkeit zeichnete ihn aus, gepaart mit ernster Frçmmigkeit. Er war fr den vierten Lehrstuhl der neuen Fakultt nicht Schleiermachers unmittelbare und erste Wahl gewesen. Der erste Gedanke in der Fakultt galt dem hochausgewiesenen gelehrten Gçttinger Schwaben Gottlieb Jakob Planck (1751 – 1833), der aber nicht zu gewinnen war. Dass der gerade 23jhrige Neander aufgrund seines Befhigungsbeweises mit einem großen Panorama-Essay ber den Kaiser Julian Apostata und sein Zeitalter16 nach kaum einem Jahr der Dozententtigkeit in Heidelberg nach Berlin berufen wurde, hngt sicherlich mit persçnlichen Hinweisen auf ihn zusammen, die Ludwig Nicolovius (1767 – 1839) als Leiter der Sektion Cultus und Unterricht im Preußischen Innenministerium unter Humboldt und dessen Nachfolger Schuckmann aufgrund seiner persçnlichen Beziehungen zu Freunden und Fçrderern Neanders aus Hamburg wie Matthias Claudius und dessen Schwiegersohn, dem Verleger Friedrich Christoph Perthes (1772 – 1843) erhielt. Es war eine Berufung auf Hoffnung in dem Augenblick, als kaum noch eine Handvoll Studenten die vom Aufbruch in den Freiheitskrieg entvçlkerten Hçrsle besetzten.17 Man kann Schleiermacher und Neander, von Neander aus gesehen, nicht auseinanderreißen; aber man muss die Richtung, in die Neander Schleiermachers Gedanken entwickelte, feststellen. Es ist dies verhltnismßig einfach, weil Neander selbst 1850 geradezu vermchtnisartig eine Wrdigung Schleiermachers niedergeschrieben hat, in der er auch die 16 ber den Kayser Julianus und sein Zeitalter. Ein historisches Gemlde, Leipzig: Friedrich Perthes 1812. 17 Am 8. September 1813 schreibt Neander das Vorwort zu seinem zweiten Buch: Der heilige Bernhard und sein Zeitalter, Berlin: Realschulbuchhandlung (Georg Reimer) 1813. „Diese historische Monographie ist im Allgemeinen nach demselben Plan und derselben Methode wie meine Schrift ber den Kaiser Julian gearbeitet, wie diese Methode mir die natrlichste, meinem Geist und Gemth die angemessenste war.“ (Vorwort, S. V).

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Punkte seiner Kritik nennt.18 Schleiermacher habe – so sagt er hier – der Bewegung zur Neuschçpfung des kirchlichen Lebens, die mit Spener begann, nach der Zeit des aufklrerischen Rationalismus die wissenschaftlichen Begriffe gegeben, die eine theologische Neugestaltung ermçglichten. Er stehe darum am Beginn der neueren Theologiegeschichte, so wie Origenes am Beginn der christlichen Theologiegeschichte berhaupt gestanden habe, und seine Einsichten drften nicht in Vergessenheit geraten, wenn die Kirche in der Zukunft nicht Schaden leiden solle. Schleiermachers Bedeutung gilt Neander also als wahrhaft epochal. Ich weiß nicht, wer den Vergleich mit Origenes vielleicht schon vor Neander gezogen haben kçnnte; er sagt jedenfalls sehr viel aus auch gegenber den blichen protestantischen Siebenmeilenschritten von Paulus ber Augustin zu Luther, wie sie auch heute noch im Schwange sind. Die Meinung ist, dass es auch heute fr das Christentum, vorab das protestantische, einen Schritt in Richtung des Denkens auf einer neuen, hçheren Ebene zu tun gelte, – einen Schritt, wie ihn einst Alexandrien geleistet habe und heute vielleicht Berlin mit seinem Schleiermacher tun kçnne. Gegenber diesem prinzipiellen Bekenntnis zu Schleiermacher wiegt die Differenz zwar nicht gering, gewinnt aber doch ihr rechtes Maß. Sie hat sich alsbald herausgebildet, als Neander Halle nach der Ausweisung der Studenten durch Napoleon im Oktober 1806 verließ und sein Studium von 1806 bis 1809 in Gçttingen fortfhrte, 1809/10 in Hamburg den Kandidatendienst leistete und 1810 – 1812 in Heidelberg seine akademische Lehrttigkeit aufnahm. Als er 1813 in Berlin zu lehren begann19 – er war 24 Jahre alt –, war er bereits selbstndig geprgt, so dass Schleiermachers erster und liebster Schler, August Twesten (20 Jahre darauf Schleiermachers Nachfolger in Berlin), 1814 schreiben konnte: „Neander hat mich davor bewahrt, zu frh in einer Richtung“ (nmlich der Schleiermachers) „abzuschließen, da ich mir fast vollendet schien.“ Und Schleiermacher schrieb 1817 dem inzwischen in Kiel lebenden Twesten: „Unser Neander will Sie in den Ferien besuchen, hçre ich. Wenn es Ihnen doch gelnge, einige Rinden von ihm abzulçsen und ihm etwas von seiner 18 August Neander: Das verflossene halbe Jahrhundert in seinem Verhltniß zur Gegenwart, in: Wissenschaftliche Abhandlungen von Dr. August Neander, hg. von J.L. Jacobi, Berlin 1851, S. 214 – 268 (aus der Deutschen Zeitschrift fr christliche Wissenschaft und christliches Leben, 1850). ber Schleiermacher S. 224 – 229 und 237 – 248. 19 Die Verhandlungen ber Neanders Berufung nach Berlin laufen zwischen November 1812 und Januar 1813. Vgl. Anhang II.

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immer schroffer werdenden Einseitigkeit zu befreien. Aber ich frchte, er reist mit ganz entgegengesetzten Assimilationsprojecten zu Ihnen.“20 ber den Sinn dieser Worte kann man rtseln; sie mçgen manche Facette haben. Neander war in mancher Hinsicht einseitig; vor allem opferte er – aus eigener Neigung – das Leben dem Studium. Er „saß immerfort bei seinen Bchern, indem weder Natur noch Geselligkeit den geringsten Reiz fr ihn hatten“, heißt es schon fr 1806.21 Dies ist aber nicht ganz richtig; denn eine Dominante des Lebens dieses Junggesellen war die Freundschaft als Gesinnungsgemeinschaft in der „auferstandenen Kirche“ als einem freien Verein der Geister, und hier entwickelte Neander, unbeschadet seiner Konzentration auf die Bcher, im Hçrsaal wie in den allwçchentlichen Abenden mit Studenten durchaus kmpferische und proselytenmacherische Zge. Und wen hat er nicht alles in den Vorworten zu seinen zahlreichen Bchern, auch aufgrund rein literarischer Kenntnis, als seinen Freund bezeichnet! Mit einem Wort – Neander trat alsbald mit seiner Berufung nach Berlin 1813 auch in die Verbindung zu dem Kreis von Personen ein, aus dem sich die Berliner Erweckungsbewegung entwickelte, und diese Verbindung war schon durch seine frheren Hallenser, Gçttinger und vor allem Hamburger und Heidelberger Bekanntschaften vorbereitet. In Berlin gehçrte er der 1813 gegrndeten Hauptbibelgesellschaft an, fr deren Jahresversammlungen er viele Jahre lang biblische und geschichtliche Betrachtungen schrieb; er gehçrte seit 1816 als Konsistorialrat zur Prfungsbehçrde, und er war aufs engste als der „Professor“ mit dem Baron von Kottwitz (1757 – 1843) und dem Direktor des 1817 gegrndeten Wittenberger Predigerseminars, Heinrich Leonhard Heubner (1780 – 1853), verbunden;22 man schickte Theologiestudenten zu ihm und nahm seine Vermittlung fr die Anstellung von Kandidaten in Anspruch. Seine „Einseitigkeit“ mag fr Schleiermacher also auch in der Verbindung zu dem hier vor allem ab 1817 sich bildenden Konventikelwesen der jungen „Erweckten“ vom Schlage August Tholucks gelegen haben, fr 20 C.F.G. Heinrici: D. August Twesten nach Tagebchern und Briefen, Berlin 1889, S. 245 und 293. Vgl. hierzu und zum folgenden meinen oben Anm. 1 genannten Aufsatz, S. 260. 21 Die Bemerkung ist von Neanders wenig lterem Taufpaten und Freund, dem Dsseldorfer Arztsohn Karl August Varnhagen von Ense, der es 1806 in Halle nicht in einer gemeinsamen „Bude“ mit Neander aushielt. 22 Gengende Belege, die sich vermehren lassen, bei Kantzenbach (s. o., Anm. 14); Peter Maser: „Berathung zur Armuth“. Das soziale Wirken des Barons Hans Ernst von Kottwitz zwischen Aufklrung und Erweckungsbewegung in Berlin und Schlesien, Frankfurt/M 1991.

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die ich ein sehr eigenartiges Zeugnis in einem Brief Tholucks an Neander von Ende 1824 gefunden habe. Ich teile diesen Brief im Anhang23 mit, weil er zugleich schlagend belegt, dass Neander dieser Form der Erweckung gegenber schon in diesen frhen Jahren ebenso kritisch eingestellt war, wie er sich spter vom neuen Konfessionalismus und von der Verketzerungssucht eines Hengstenberg distanzierte. Schleiermachers Wort von den „Rinden“ Neanders lsst also nicht nur eine einzige Interpretation zu; richtig mag auch die von mir zunchst gegebene Auslegung auf die „Einseitigkeit der frommen theologischen Betrachtung“, also auf Neanders Art der Lehre in der Kirchengeschichte sein, die ja freilich niemals auf die kritisch-vernnftige Quellenbehandlung verzichtete. Hierfr kçnnte es auch sprechen, dass Schleiermacher sich 1821/22 und 1825/26 zweimal entschloss, die Kirchengeschichte in seinem Sinne in einem einsemestrigen Kurs darzustellen, und zwar nicht nur als Einleitung im Sinne seiner Geschichtsanschauung, wie er es 1806 in Halle getan hatte, sondern durchaus in stofflicher Ganzheit nach den Auswahlgesichtspunkten, die Schleiermacher im Rahmen des Theologiestudiums fr richtig hielt.24 Vielleicht fand Schleiermacher, dass der Gesichtspunkt des christlichen Lebens in Neanders Kollegien zu einseitig berwog; das entsprche im brigen auch der Reserve Schleiermachers gegenber den Erweckungszirkeln, die Neander zu den ihren zhlen wollten. Aber Neander verschrieb sich ihnen, wie gesagt, keineswegs ohne ernsten Vorbehalt, und die Schleiermachersche Grundlage seines Denkens ging nie verloren. Kann man die ersten Berliner Jahre Neanders als die Zeit ansehen, in der er seine besondere Denkweise Schleiermacher gegenber entwickelte,25 so treten sptestens seit dem Beginn der Zwanziger Jahre 23 Anhang III. 24 Es ist mir in meiner letzten Zeit als Mitherausgeber der Schleiermacherausgabe (1979 – 2008) gelungen, zwei spte „empirische“ Kollegs Schleiermachers aus den zwanziger Jahren zur kritischen Bearbeitung zu bringen: die Vorlesungen ber die Kirchengeschichte (KGA II,6), 2006, und die bisher ganz ungedruckt gebliebenen Vorlesungen ber kirchliche Geographie und Statistik (KGA II,16), 2005, beide herausgegeben von Simon Gerber. Whrend die Kirchengeschichtsvorlesungen auf die protestantisch-„berkonfessionelle“ Grndung der Herrnhuter Brdergemeine zulaufen, der Schleiermacher also offenbar eine besondere Stelle im bergang zur Gegenwartsgeschichte zuweist, behandelt die „Statistik“ die universale kirchliche Gegenwartskunde, als eine eigenartige Dokumentation seines durchaus unabgeschlossenen zeitgeschichtlichen Horizonts 25 1818 und 1819 schreibt Neander ber den Plan eines theologischen Seminars als eines Vereins von Mnnern „von Einer entschiedenen Richtung (welches Ent-

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zwei andere Fronten hervor, an denen er sich – anders als jemals gegenber Schleiermacher – kmpferisch ausspricht. Das ist einmal der gefhlvolle und wortreiche „Methodismus“ eines Flgels der Erweckung, wozu zunehmend dessen Neigung zur Intoleranz und zum Herrschaftsanspruch, z. T. mit staatskirchlicher Tendenz tritt; zum anderen ist es die Hegelsche „philosophische“ Geschichtsbetrachtung und der seit etwa 1825, mit Marheineke beginnende Hegelianismus in der Theologie. Beide Richtungen hat Neander fr „ungesund“ und verhngnisvoll gehalten, und in der kirchenpolitisch-theologischen Polarisierung dieser Jahrzehnte hat er sich, ohne seine eigene Art zu ndern, wieder strker zu Schleiermachers grundlegenden Erkenntnissen und seiner „wissenschaftlichen Art“ bekannt. Das war der grundlegende Eindruck schon der Reden ber die Religion und der Monologen gewesen, die Neander vermutlich schon im Winter 1805/06 in seinem Freundeskreis, mit Sicherheit aber in seinem ersten Semester 1806 in Halle gelesen hat; er wurde als begeisterter Anhnger Platos zu Schleiermacher hingezogen und empfing in diesen drei Monaten im Hçrsaal von ihm die erste und bleibende Anregung fr seine Auffassung der Kirchengeschichte. Schleiermacher forderte in seiner Einleitung in das Studium der Kirchengeschichte 1806 eine organische – natrliche und ethische – Geschichtsbetrachtung auch in der Kirchengeschichte; diese stellt er der bloß chronistischen Betrachtung und der pragmatisch-psychologischen Betrachtung der Aufklrer entgegen.26 Die Spur dieses Einflusses findet sich in Neanders gesamtem spteren Werk; das erste Zeugnis fr diesen Einfluss sind drei Briefe aus Gçttingen, wohin Neander nach der Ausweisung aus Halle geflchtet war, vom Januar 1807. Hier erklrt Neander, er hoffe, die Reden ber die Religion wrden den (rationalistischen) „Kakodmon“ des Geistes des Helmstedter Kirchenhistorikers Heinrich Philipp Konrad Henke (1752 – 1809) aus dem ihm in Gçttingen befreundeten Repetenten Wilhelm Gesenius (1786 – 1842, 1810 Professor in Halle) austreiben. Aus demselben Schleiermacherschen Geist heraus gibt er sich zugleich auch schon unzufrieden mit der Dogmengeschichte seines Gçttinger Lehrers Gottlieb Jakob Planck (1751 – 1833), von dem er schiedene der vorgeblichen Universalitt unseres Zeitalters so sehr zuwider ist) zu dem was die Herzen erwrmt und belebt“ und von dem Wittenberger Predigerseminar, gegen welches anfangs der Geist der Vielseitigkeit und Universalitt so viele Vorurtheile zu erregen wußte.“ (Kantzenbach [oben Anm. 14] S. 210 und 214). Es ist schwer, dabei nicht zumindest auch an Schleiermacher zu denken. 26 KGA II,6, S. 9 – 18.

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freilich 1831 bekennt, von ihm habe er zum erstenmal gelernt, „dem suum cuique in der Auffassung der Geschichte nachzustreben“.27 Er weiß 1831 freilich auch, dass der Pragmatiker Planck „mit vielem“ in dem zugeeigneten Werk „nicht zufrieden“ ist und bittet nur um Nachsicht und Gerechtigkeit fr den eigenen, anderen Standpunkt. Planck hat aber in Johann Karl Ludwig Gieseler (1793 – 1854), der sein Nachfolger in Gçttingen wurde, den ihm mehr zusagenden Geist exakter kritischer Geschichtsbetrachtung gefunden. Im Januar 1807, kaum drei Monate in Gçttingen, schreibt Neander, die augustinische Erbsndentheorie und Trinittslehre sei „auf dem Boden des religiçsen Gefhls gewachsen und auf das Gebiet des Verstandes verpflanzt“. Man msse zum Verstndnis des pelagianischen Streites nicht bloß die „ußeren Grimassen“, sondern „die Streitenden selbst beschauen“. Harnack bemerkt dazu: „Das ist schon der ganze sptere Neander!“28 Es ist aber nichts anderes als die Schleiermachersche Auffassung vom Verhltnis von Gefhl und Lehre, zugespitzt auf das Ziel einer monographisch-psychologischen Personendarstellung zum Verstndnis der Lehre aus den Menschen, die sie produziert haben. Planck ist es brigens gewesen, der Neander auf die Aufgabe einer Darstellung Bernhards von Clairvaux hingewiesen hat, die 1813 sein zweites grçßeres Buch wurde.29 Auch das Individualisieren, dessen Kunst an Neander immer gerhmt, aber auch kritisiert worden ist, fgt sich ja zunchst ganz in den Umkreis des von Schleiermacher damals zu empfangenden Einflusses ein. Hieran muss man sich erinnern, wenn man nun Neanders – ungewollt – so etwas wie testamentarisch gewordene Wrdigung Schleiermachers aus dem Jahr 1850 liest. Neander spricht auch ber seinen eigenen Werdegang, wenn er schreibt: Es musste „die durch die großen Weltereignisse in unserm Vaterlande hervorgerufene Erweckung des religiçsen Lebens hinzukommen, um daß in diesem so fruchtbar gemachten Boden der von dem seligen Schleiermacher ausgestreute Saame der neuen Schçpfung in der Wissenschaft Wurzeln fassen und sich entwickeln konnte. Dem neuen christlichen Geiste sollte hier die ihm angemessene wissenschaftliche Form gegeben werden.“ Das Elementare ist bei Schleiermacher wie bei Augustin und den Scholastikern des 12. und 13. 27 In der „Zueignung“ der ersten Auflage des vierten Bandes seiner Allgemeinen Geschichte der christlichen Religion und Kirche zum 50. Jahrestag von dessen Eintritt ins Lehramt in Stuttgart 1781. Der Band behandelt die „Geschichte der Auffassung und Entwickelung des Christenthums als Lehre“. 28 Harnack: Rede auf August Neander (oben Anm. 3), S. 14. Die Gçttinger Briefe bei K. Th. Schneider: August Neander, Schleswig 1894, Anhang Nr. 9 – 11. 29 S. oben Anm. 17.

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Jahrhunderts der Glaube, „wie er im Leben wurzelt“, dem „die Wissenschaft nur die Form geben sollte“, ihn „darin auszuprgen und sich gestalten zu lassen.“ Dabei mssen Glaube wie Wissenschaft sich frei ihrem je eigentmlichen Gesetz gemß folgend sich entwickeln, ohne einander zu meistern, „um zu jenem Einklange zwischen Leben und Wissenschaft hinzufhren, ohne welchen es keine gesunde Theologie geben kann.“ „Schleiermacher selbst hat darin das grçßte Beispiel gegeben, das desto strker hervorleuchtet, wenn wir die wissenschaftliche Art in seinen Schriften mit dem verschrobenen, willkrlichen, wilden, maaßlosen Treiben, welches spter in der Theologie um sich griff, vergleichen.“

Ich verzichte darauf, die starken Worte, die Neander hier verwendet, nher auf bestimmte Personen oder Publikationen der gerade nur 15 Jahre zu beziehen, die seit Schleiermachers Tod verstrichen sind. Schwer ist es, nicht an die Spaltung des Hegelianismus auch in der Theologie in einen „linken“ (Bruno Bauer, Ludwig Feuerbach) und einen „rechten“ Flgel zu denken. Aber man msste hier sicher nher in die Schriften der Zeit Einblick nehmen, und die starken Epitheta (verschroben, willkrlich, wild, maßlos) scheinen zumindest auch auf „frçmmere“ Produktionen auf der Seite der Erweckungstheologie zu verweisen. Neander wrdigt Schleiermachers von ihm fr epochal angesehene theologiegeschichtliche Bedeutung in sechs Punkten. 1) Mit dem „christlichen Bewußtsein“ habe Schleiermacher „fr eine Idee, welche in den Geistern lngst vorhanden war, das rechte Wort gefunden.“ „Das christliche Bewußtsein eine in der Geschichte als real sich beweisende Macht, in der ursprnglich alle Bildung der christlichen Welt, auch wenn ein Theil derselben diesen Zusammenhang vergessen hat, wurzelt.“ Das Bewusstsein erzeugt keine eigenen Denkgesetze fr Christen, bestimmt aber den Inhalt des Denkens fr alles, was mit dem „hçheren Leben“ zusammenhngt. 2) Schleiermacher habe „alle Religion auf den Einen Grundton des Gefhls der absoluten Abhngigkeit“ zurckgefhrt und damit etwas Notwendiges gegen den „falschen, egoistischen Freiheitsgeist, den Hang zur Selbstvergçtterung in dieser Zeit“ ausgesprochen. „Die darin begrndeten Grundzge christlicher Tugend, Demuth, Armuth des Geistes und Piett sind ja das, worin es unsrer Zeit im Ganzen am meisten fehlt.“ „Allerdings kçnnen wir es nicht zugeben, daß das ganze religiçse Leben in diesen Einen Grundton aufgehe, und sich daraus ableiten lasse.“ 3) Schleiermacher habe „das Verhltniß der Theologie zur Weltweisheit der Theorie nach“ richtig bestimmt als Selbstndigkeit beider nach „ihrem eigenthmlichen Gebiet, ihrer Methode und ihren Erkenntnißquellen“, in der Ueberzeugung, daß in dem menschlichen Geist „kein in seinem ur-

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sprnglichen Wesen angelegter […] Zwiespalt sein“ und es „keine […] einander widerstreitende philosophische und theologische Wahrheit geben“ kçnne. Es ist besonders bedeutsam, daß Neander sich zur letztlich zu behauptenden Widerspruchslosigkeit der eigenstndigen Vernunft- und Glaubenserkenntnis bekennt und damit an einem grundlegenden Axiom auch der Dialektik Schleiermachers festhlt. Damit ist ein Postulat aufgestellt, das einerseits theologiekritisch, anderseits aber auch wissenschaftskritisch angewendet werden kann. 4) Schleiermachers „meisterhafte Hermeneutik“ habe eine bedeutende Anregung zur richtigeren Bestimmung des Begriffs der Schriftinspiration im Gegensatz zu Rationalismus und lterer Orthodoxie gegeben. Zwar habe sich die „geschichtliche Auffassung“ zentraler christlicher Gegenstnde ber Schleiermachers Position hinaus entwickeln mssen; aber der „gesunde historische Sinn“ dieses „Riesen der Dialektik“30 und die in seinem „Meisterwerke ber den Lukas“31 sichtbare „gesunde Methode der von Ehrfurcht vor dem Heiligen beseelten, von einem zarten, intuitiven Sinn begleiteten historischen Kritik“ seien achtenswert. 5) Epochemachend ist ferner, dass Schleiermacher „die Beziehung auf Jesus von Nazareth als den Weltheiland“ als Mittelpunkt des Christenthums und der christlichen Glaubens- und Sittenlehre bezeichnet hat. Er hat damit „den Strebepunkt der abendlndischen Kirche und den davon ausgegangenen Strebepunkt der Reformation“ getroffen und aufgrund dieser Auffassung als erster der Trinittslehre „ihren rechten Platz in der christlichen Dogmatik im Zusammenhang mit der Lehre von Christus angewiesen.“ Der Dogmatik wird dadurch ihr „eigenthmlich praktischer Standpunkt in Gegensatz gegen einen spter sich wieder immer mehr geltend machenden spekulativen Standpunkt“ (Hegel, Marheineke) gesichert. Dies ist wichtig fr eine differenzierende „Beurtheilung des Verhltnisses der Unitarier und ihrer verschiedenen Klassen zum Christenthum.“ 30 Es ist bezeichnend, dass Neander – anders und strker als z. B. De Wette – Schleiermachers Dialektik zu wrdigen weiß und dabei ihren empirisch wirklichkeitsverbundenen und nicht „idealistischen“ Charakter erfasst. Zur Dialektik vgl. De Wette an Schleiermacher 11. 6. 1823: „Aber diese Dialektik eben!“ (in der Glaubenslehre) lsst einen „gar keinen Ruhepunkt finden“. „Doch sie ist eins mit Deinem Wesen und es ist daher vermessen sie zu tadeln“ (Aus Schleiermacher’s Leben. In Briefen, Bd. 4, Berlin 1863, S. 313). 31 KGA I/8, Exegetische Schriften (2001), Ueber die Schriften des Lukas. Ein kritischer Versuch, Erster Theil, Berlin 1817, mit einer Zueignung An Herrn Dr. De Wette.

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6) Schließlich habe Schleiermacher, hiermit zusammenhngend, „die christliche Sittenlehre zu ihrer Selbstndigkeit als einer christlichen erhoben“, bei ihrer weiteren Bearbeitung als einer „neuen, selbstndigen Disziplin“ msse noch weiter benutzt werden, „was von ihm in der Entwickelung der philosophischen Sittenlehre geleistet worden.“ „Es ist von dieser Seite noch zu ergnzen und fortzubilden, was die Reformation nach ihrem Prinzip htte leisten sollen, und durch die einseitig dogmatische Richtung zu leisten verhindert worden.“ Neander bezeichnet die durch Schleiermacher mit diesen sechs Erkenntnissen ermçglichte theologische Neuentwicklung als „ein gesundes, naturgemßes, reformatorisches Wirken“, mit dem die „Revolution“ der Aufklrung unter „Anerkennung dessen, was ihr Wahres und Gesundes zum Grunde liegt, insofern sie selbst durch das Krankhafte und Veraltete hervorgerufen worden“, „berwunden“ werden kçnne. Dem stellt er gegenber das „Bestreben willkrlicher Restauration, welche den Faden der Geschichte mit einem Male abschneiden will.“ Er zeigt auch fr diese Erscheinung ein gewisses geschichtliches Verstndnis, sieht sie aber doch im ganzen als kurzschlssig und letztlich zukunftslos an. Ebenso sieht er im „logischen Enthusiasmus“ der „auf den Charakter der Absolutheit Anspruch machenden Philosophie“ Hegels die Vollendung des theologischen Rationalismus der Aufklrung, indem nun „die kirchliche Orthodoxie auf solche Weise andemonstrirt werden“ sollte. Aber „die lgenhafte Versçhnung zwischen Glauben und Wissen“ bei Hegel und im theologischen Rechtshegelianismus „mußte in den schroffsten Gegensatz sich auflçsen“, wofr Strauß’ „Leben Jesu“ epochemachend war; die Linie zu Bruno Bauer und Ludwig Feuerbach (auf den zweifellos speziell das oft gebrauchte Wort von der „Menschheitsapotheose“ als dem Ziel der rationalistisch-revolutionren Entwicklungslinie gemnzt ist)32 wird hier nicht weiter ausgezogen. Unglckselig vermischt Neander diese Entwicklung mit der politischen der revolutionren „rationalistischen Volksbewegungen“.33 Die politische Lebensferne Neanders und sein engerer akademisch-kirchlichpolitischer Umgang in den Vierziger Jahren macht den geborenen liberalen Romantiker gegen das Ende seines Lebens, d. h. als Fnfziger, tatschlich 32 Zum Eindruck der Lektre von Feuerbachs Wesen des Christentums (1841) vgl. meinen Anm. 1 genannten Aufsatz: August Neander, ein getaufter Jude, S. 256: „Ein so alles hçhere Leben verhçhnendes Buch […] ist mir noch nicht vorgekommen.“ 33 Neander: Das verflossene halbe Jahrhundert (wie oben Anm.18), S. 262.

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zum politisch Konservativen und Reaktionr.34 Das hebt aber nicht auf, dass er religiçs-theologisch und kirchenpolitisch immer ein Liberalkonservativer blieb, und die Kategorie des „Konservativen“ passt auch hier fr ihn eigentlich nicht, weil das zu Konservierende des eigentlichen Wesens des Christentums fr ihn nur in Aufnahme der von Schleiermacher gegebenen epochalen Erkenntnisse auf die Dauer erhalten und zukunftweisend weiterentwickelt werden konnte. Dazu gehçrte brigens – wie das „gçttliche Werk der Union“ der protestantischen Kirchen, wie die „hçhere 34 F. Chr. Baur hat 1849, nach der 1848er Revolution und noch zu Lebzeiten Neanders, posthum verçffentlichte Stze ber Neanders antihegelianischen und antirevolutionren Parteigeist und seinen Anschluss an den „Galimathias“ der mythologischen Sptphilosophie Schellings geschrieben, die als Zeitzeugnis lesenswert sind. „Kein Theologe von hçherer Bedeutung hat sich in seiner Parteistellung so leidenschaftlich und intolerant, so schwach und beschrnkt und zugleich so inconsequent gezeigt, wie Neander.“ (Baur: Kirchengeschichte des 19. Jahrhunderts, hg. von Eduard Zeller, Tbingen 1862, S. 385) Baur bekrftigt dennoch seine „sonstige Achtung“ fr ihn. Der liberale Jugendfreund und einstige Taufpate Neanders, Karl August Varnhagen von Ense, der fr dessen theologische Entwicklung kein Verstndnis hatte, schrieb nach Neanders Tod einen (unverçffentlichten) Zettel mit Notizen verschiedener Art ber Neander nieder (Krakau, Biblioteka Jagiellonska, Sammlung Varnhagen, Neander): „Lcherlich war seine Feindschaft gegen die Philosophie; er verwarf Hegel’n und freute sich Schelling’s, beides ohne Sachkenntnis und Einsicht.“ Ich gebe diesen Zettel, der fr die distanzierte Beobachterposition des alternden und von den Zeitluften enttuschten ehemaligen Diplomaten in seiner Wohnung in der Berliner Kanonierstrasse (heute Glinkastrasse) bezeichnend ist, diesem Aufsatz als Faksimile bei. Schon die ziselierte Handschrift, verglichen mit Neanders impulsiver „Klaue“, macht sinnenfllig, wie fremd die beiden Jugendfreunde auf dem Hamburger Johanneum, beide auf andere Weise versprengte Nachkommen der Revolutionsgeneration, einander im Wesen und Lebensstil gewesen sind. Karl August Varnhagen berlebte seine große Liebe, Rahel Varnhagen geb. Lewin, um 25 Jahre. Er starb 1858. – Dennoch kann man keine spezifisch antijdische Spitze herauslesen; es ist das festgehaltene positive und kirchliche (protestantische und dazu noch erweckte) Christentum, das dem gebrtigen rheinischen Katholiken missfllt, wie es ihm schon bei Schleiermacher auf die Dauer missfallen hat, dass er Kirche und Glauben interpretierte anstatt sie aufzugeben oder wenigstens geistig zu berwinden. – Eine von Sympathie und Hochachtung gekennzeichnete „Professorensilhouette“ hat der 1832 geborene nationalliberal-freisinnige Reichstagsabgeordnete Alexander Meyer (gest. 1908) ber Neanders Erscheinungsbild in der Stadt in seiner Jugend der Vierziger Jahre gegeben. Es ist die Achtung des einer Ehe eines getauften Juden mit einer Nichtjdin entstammenden Autors – selbst ein goethisch berkonfessionell gestimmter Protestant – fr den berzeugungskonvertiten Mendel/Neander: Aus guter alter Zeit. Berliner Bilder und Erinnerungen, DVA Stuttgart und Leipzig 1909, neu herausgegeben von dem Urenkel Ulfilas Meyer im BeBra Wissenschaftsverlag Berlin 2006, S. 40 – 46.

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christliche Geisteseinheit“ ber dem Gegensatz von Katholizismus und Protestantismus – auch die Freiheit der Kirche vom Staat. Dem so weitgehenden Anschluss an Schleiermacher gegenber reduziert sich die Kritik auf zwei freilich bedeutsame Modifikationen aus dem Geist der Erweckung, der sich mit der weniger spekulativen, mehr aufs historisch Konkrete gerichteten Art Neanders verbindet. 1) Die Erkenntnisquelle der Theologie liegt zwar in dem christlichen Bewusstsein, aber „wie wir uns ausdrcken mssen: in dem gçttlichen Wort der heiligen Schrift, aus dem das christliche Bewußtsein seinen Inhalt ableitet, wie dieser Inhalt in demselben zu einem lebendigen wird.“ Damit ist zugleich fr die historisch-kritische Weiterbestimmung des Inhaltes der Schrift der Weg geçffnet und keineswegs erneut ein ungeschichtlicher Objektivismus aufgestellt. Freilich ist nicht allein an eine historisch-kritische Schriftexegese gedacht, die sich von der Frage des gltigen theologischen Inhalts dispensiert. Bei Schleiermacher herrschte „die Idee des christlichen Bewußtseins auf eine noch zu sehr subjective Weise vor, als daß das christliche und wissenschaftliche Bedrfniß zugleich Befriedigende in dieser Beziehung htte finden kçnnen.“ „Es bedurfte dazu einer fortschreitenden Entwicklung der geschichtlichen Auffassung der Theokratie, der Bibelauslegung, der Dogmatik und christlichen Psychologie.“ Im Grunde stellt Neander damit das Postulat einer an Schleiermacher anschließenden umfassenden geschichtlichen Weiterentwicklung des Kosmos der theologischen Disziplinen auf und zeichnet den Weg der Theologie des 19. und 20. Jahrhunderts vor. 2) Das Gefhl der absoluten Abhngigkeit ist zwar der „Grundton“, aber es geht nicht „das ganze religiçse Leben in diesen Einen Grundton auf“ und lsst sich daraus ableiten, und mit der einseitigen Hervorhebung dieses Moments hngt ein „Grundirrthum“ des großen Mannes zusammen, nmlich die in den Prinzipien angelegte Neigung zum Determinismus und die Betrachtung des Bçsen „als etwas in dem Entwickelungsproceß der Menschheit Nothwendiges“. Neander schreibt dies einem Systemzwang zu und erklrt, dem Menschen Schleiermacher habe es gewiss nicht „an der Energie des Freiheitsbewußtseins, wie an dem Snden- und Schuldbewußtsein in seinem tief religiçsen Gemth gefehlt; aber dem scharfen Dialektiker konnte es desto leichter werden, den Zwiespalt zwischen den Grundbegriffen seines Systems und den Thatsachen seines religiçs-sittlichen Bewußtseins sich zu einer scheinbaren Ausgleichung zu vermitteln“, wie man es auch z. B. bei Augustin und Thomas von Aquino bemerken kçnne.

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Wie es nun auch mit dem Wert dieses Schleiermacherverstndnisses stehen mçge – zum Vergleich Schleiermachers fallen Neander nur die grçßten Namen der Theologiegeschichte wie Origenes, Augustin und Thomas ein, immer im Blick auf zentrale Aspekte seines Denkens. Schleiermacher ist fr die neue Epoche der Theologie so bedeutend, wie Origenes es fr deren grundlegende Epoche war. „Dieser war dazu berufen, die vorhandenen hellenischen Bildungselemente mit dem Sauerteige“ des Christentums, „zu durchdringen und so eine fr Jahrhunderte fortwirkende wissenschaftliche Geistesform, in der der Inhalt des christlichen Glaubens sich ausprgen sollte, zu bereiten. Aber es gelang dem großen Manne nicht immer, die verschiedenen Principien und Bildungselemente mit Klarheit auseinanderzuhalten.“ Unter dem Streit der Parteien, der sich hieran anschloss, sind „manche von den großen eigenthmlichen Ideen des Origenes, welche sehr fruchtbar fr den wissenschaftlichen Entwickelungsproceß htten werden kçnnen, verloren gegangen. Sie konnten erst weit spter wieder auftauchen und einen empfnglicheren Geistesboden finden, wozu auch Schleiermacher insbesondere beigetragen hat. Mçge es, wenn der allgemeine Einfluß dieses großen Lehrers unter den verschiedenen Parteien unaufhaltsam fortwirkt, nicht mit manchen seiner eigenthmlichen großen Ideen, die besonders befruchtend fr den wissenschaftlichen Geist werden kçnnten, ebenso ergehen, wie mit jenen durch den Origenes ausgestreuten!“ Mit einem Wort: Schleiermacher ist fr Neander der Theologe, der der Neubildung des religiçsen Lebens im Protestantismus nach der Krise der Vernunft, die im Sptmittelalter begann, in der Aufklrung akut wurde und sich in der Gegenwart fortsetzt, die tragfhigen grundlegenden wissenschaftlichen Begriffe gegeben hat, die zum Teil zwar der Korrektur oder Modifikation, vor allem aber der Weiterentwicklung bedrfen. Schleiermacher und der in seinem Glauben theistische Vernunftphilosoph Jacobi „kçnnten auf einen verjngten Pascal, wie er dem neunzehnten Jahrhundert Noth tut, hinweisen.“ Neander erweist sich in diesem Aufsatz als ein theologischer Kirchenhistoriker mit gesundem Urteil und einem weiten berblick, der von der Anschauung sowohl der großen Gestalten wie des großen theologischen Entwicklungsprozesses zeugt. Er hat nachdenkend mitten in der theologisch-kirchlichen Entwicklung seiner Zeit gestanden. Seine einzelnen Beitrge bieten sich gewiss oft gebter Kritik dar; aber es drfte schwer sein, das Urteil aufrechtzuerhalten, er sei weltfremd gewesen, er habe der historischen Kritik ferner gestanden, er habe die Geschichte nicht als Entwicklung begriffen und die Kirchengeschichte in eine Abfolge immergleicher und seiner Subjektivitt hnelnder Individualitten aufgelçst.

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Man kann die Durchfhrung bemngeln, die er seinem Programm im einzelnen gibt; aber dass die Elemente einer modernen, zugleich wissenschaftlichen wie theologischen Kirchengeschichtsschreibung bei ihm wie bei kaum einem anderen wirksam waren, kann man, wie ich meine, nicht bestreiten. Harnack war unter Deutschlands Kirchenhistorikern auf lange Zeit der letzte, der diese Bedeutung Neanders noch einzuschtzen wusste.35 Allerdings kann man jetzt auf einen einfhlsamen biographischen Artikel ber ihn von Joachim Mehlhausen in der Theologischen Realenzyklopdie verweisen, und ein Blick ins Internet zeigt, dass sein Name in der angelschsischen protestantischen Welt heller leuchtet als in Stadt und Land Schleiermachers, Humboldts, Rankes36 – und Neanders selbst.

35 Hiervon ist auch nicht auszunehmen die ausgezeichnete und quellengegrndete Darstellung Neanders und seiner Wirkung bei Max Lenz: Geschichte der Kçniglichen Friedrich-Wilhelms-Universitt zu Berlin, Bd. 1 – 3 in 4, Halle 1910 – 1918, hier Bd. 1, S. 614ff und passim. 36 Ranke unterschrieb mit Raumer 1839 den Antrag auf Aufnahme Neanders in die Kçniglich-Preussische Akademie der Wissenschaften.

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Krakau, Biblioteka Jagiellonska, Sammlung Varnhagen, (bis 1945 Preussische Staatsbibliothek Berlin).

Anhang II Zu Neanders Berufung nach Berlin Theologische Fakultt an das Kultusdepartement 5.11. 1812 (Geheimes Staatsarchiv Rep. 76 Va Sekt. 2 Tit.IV Nr. 5 Vol. II, S. 48 – 51v) Die unterzeichnete Fakultt (gez. D. de Wette Dec., D. Marheinecke, D. Schleiermacher) fhlt schon seit langem, besonders aber jetzt, da das letzte Jahr des ersten Triennii beginnt, und sie sich fragen muß, ob sie den Cyclus ihrer Disziplinen zur gehçrigen Zeit vollenden, und ob es lange auf diese Weise gehen kçnne, ihre unvollstndige Besetzung sehr schmerzhaft. Dies gilt besonders von den wichtigen Fchern der Kirchengeschichte und Dogmatik, deren erstere allein Marheineke, letztere allein Schleiermacher lehrt, so dass es an aller Conkurrenz fehlt, und durch zu hufige Wiederhohlung derselben Vorlesungen der Eifer der Lehrer darinn abgestumpft werden muß… Man kann die jetzt lebenden protestantischen Theologen Deutschlands schicklich in vier Klassen ordnen. Es giebt einige wenige, die vermçge ihres wissenschaftlichen und religiçsen Geistes, und ihrer grndlichen und weitumfassenden Gelehrsamkeit die ersten Zierden der theologischen Litteratur sind, und deren Acquisition unserer Facultt, ja der ganzen Universitt zum Ruhm gereichen wrde. Wir rechnen dahin Plank den Vater in Gçttingen, Schmidt in Gießen, und Martini in Mnchen. Freilich steht zu zweifeln, ob die ersten beiden berhaupt, der letztere anders als unter schweren Bedingungen zu gewinnen sein wrden. In die zweite Klasse setzen wir diejenigen lteren Theologen, welche jenen an Ruf und Gelehrsamkeit nicht gleichkommen, und mancherlei Ausstellungen ausgesetzt sind. Fr unser Bedrfniß kçnnten nur folgende in Betracht kommen: Ammon in Erlangen, Gabler in Jena, Keil in Leipzig, Paulus in Heidelberg, Studlin in Gçttingen. Denn andere, wie Daub in Heidelberg, Pott in Gçttingen, Schleusner in Wittenberg, Vogel in Erlangen haben sich in den beiden Fchern, deren Besetzung wir suchen, wenigstens in beiden zusammen, nicht gezeigt. Jene ersteren aber wrden auch nicht ohne Schwierigkeit hierher zu ziehen sein. Zur dritten Classe rechnen wir diejenigen, welche gleichsam in der Mitte ihrer Laufbahn stehn, und schon bersehen lassen, was sie leisten

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werden. Auf folgende wrde vorzglich Rcksicht zu nehmen sein: Brettschneider in Annaberg, ein guter biblischer Theolog und Dogmatiker, von grndlichen Kenntnissen, der auch in der Kirchengeschichte mit Glck arbeiten wrde. Berthold in Erlangen, ein grndlicher Orientalist, und biblischer Theolog, der sich gewiß auch leicht in die Kirchengeschichte und Dogmatik werfen wrde, dem aber Mangel an Vortrag zur Last fllt. Schott in Jena, ein grndlicher Exeget des N. T. auch Dogmatiker, von dem es aber zweifelhaft wre, ob er auch die Kirchengeschichte bernehmen wrde, und dem derselbe Mangel zur Last fllt. Gesenius in Halle, ein trefflicher Orientalist, der auch Kirchengeschichte liest, aber fast ausschließlich die philologische Tendenz hat. Wegscheider in Halle hat sich als mittelmßigen Exegeten des neuen Testaments gezeigt, als Kirchenhistoriker und Dogmatiker in Schriften gar nicht, soll auch keinen Vortrag haben. Tzschirner in Leipzig, Kirchengeschichtslehrer und Dogmatiker, auch nicht ohne exegetische Kenntnisse. In der ersteren Beziehung hat er sich weder als bedeutender Forscher, noch geistreicher Darsteller gezeigt, und in der anderen ist er jener rationalistischen Methode zugethan, die, weder kalt noch warm, es weder mit der Vernunft, noch mit der Offenbahrung verderben will, und jetzt schon ziemlich antiquirt ist, brigens ist sein Vortrag breit und affectirt. Bengel in Tbingen, Kirchengeschichtslehrer, Dogmatiker und Exeget, von grndlicher Gelehrsamkeit, und frei von sein sollender Philosophie, scheint uns der einzige zu sein, der unserem Bedrfnis ganz entsprche. Diese jetztgenannten wrden wohl alle mehr oder weniger geneigt sein, einen Ruf anzunehmen, Brettschneider etwa ausgenommen. Tzschirner wrde, da er in seinem Vaterlande Aussichten hat, die grçßten Ansprche machen, und man wrde in ihm die Mittelmßigkeit zu theuer erkaufen. Berthold, Gesenius, Wegscheider, wrden am leichtesten zu gewinnen sein, besonders der letztere. Bengel kçnnte vielleicht durch politischen Zwang zurckgehalten werden, sonst wrde er gern seinen engen Wirkungskreis verlassen. Zur vierten Klasse rechnen wir die vielversprechenden Anfnger: Plank der Sohn in Gçttingen wird sich zu einem grndlichen und mehrseitigen Theologen bilden, jedoch ohne eminenten Geist. Gçttingen hlt ihn fest, und seine Krnklichkeit ist bedenklich. Winzer in Wittenberg wrde dringend zu empfehlen sein, wenn wir nicht eines Dogmatikers und Kirchenhistorikers bedrften; er scheint aber lediglich die exegetische Tendenz zu haben. Neander in Heidelberg hat sich ganz neuerlich als einen jungen Kirchenhistoriker gezeigt, der die grçßten Hoffnungen erregt; er verbindet Gelehrsamkeit mit religiçsem Sinn und hellem Verstand. Da er

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erst seit kurzem als Prof. extraord. Und zwar ohne Gehalt angestellt ist, so kçnnte er als solcher unter mßigen Bedingungen hierher gezogen werden. Ein anderer junger Kirchenhistoriker Kçthe in Jena hat sich schon viel weniger bedeutend gezeigt. Soll die Facultt es wagen, aus jeder Facultt einen vorzuschlagen, so wrden es Martini, Studlin, Bengel und Neander sein.

Anhang III August Tholuck an Neander, o.D. (1824)1 Ich wrde nicht im Stande seyn, mein vterlicher Freund, Ihnen mndlich mit Ruhe auszusprechen, was ich Ihnen zu sagen habe. Lassen Sie es mich daher schriftlich thun. Soll ich aber Olshausens2 Benehmen ganz erklren, so kann ich es nicht ohne zugleich von meinem Verhltniß gegen Sie zu sprechen. Leicht kçnnten Sie das jugendlichem Hochmuth zuschreiben, ich muß daher daran erinnern daß es nur durch Ihre Aufforderung hervorgerufen wird, sonst tief in meinem Innern verschlossen geblieben wre, da ich mir auch nicht Helle der Einsicht genug zutraue, um fr die Wahrheit meiner Bemerkungen vçllig zu stehen. O. sagte mir von sich selbst ber Ihren frheren Umgang mit ihm. Er wurde dadurch vom Rationalismus zum Glauben hingefhrt, aber einem todten Glauben. Als er nun Christum lebendiger kennen lernte und zuerst in einen Umgang mit Ihm getreten war, erschien es ihm, daß Sie frher viel zu sehr ihn auf gelehrte Gegenstnde hingewiesen htten und viel zu wenig auf das Eine Nothwendige gedrungen: daß Sie, zufrieden die erste Richtung zur Wahrheit ihm gegeben zu haben, ihn nicht genug auf das große Ziel des Lebens im Herrn hingewiesen htten: daß er im Umgange mit Ihnen – was wie er gewiß erkannte aus seiner Verderbtheit kam – seinen gelehrten Stolz immer geschmeichelt fhlte, die Bedeutung des practischen christl. Lebens ihm aber stets fremd blieb. Urtheilen Sie nun was er empfinden mußte, da er, erfllt von dem inneren Leben, mit Wrme – wie Sie selbst sagen – und ich weiß es – mit herzlichstem Vertrauen sich Ihnen naht. Ihnen sein Herz ausschttet und Sie ihm nur antworten: Eine ernste wissenschaftliche Richtung haben Sie ja schon immer gehabt. – Das fhlte er ja eben, daß dies nicht genug gewesen war, daß eine neue Wurzel des inneren Lebens fehlte. O! ich weiß es nicht wie Sie da so kalt vor ihm stehen 1 2

Krakau, Biblioteka Jagiellonska, Sammlung Varnhagen, Tholuck (Aus Neanders Nachlaß). Hermann Olshausen (1796 – 1839), 1814 stud. theol. in Kiel, 1816 – 1821 in Berlin, wo er 1817 den Preis der Theologischen Fakultt fr eine Arbeit ber Melanchthon erhielt, 1820 Privatdozent, 1821 a.o. Professor in Kçnigsberg.

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bleiben konnten. Und hielten Sie es nicht fr etwas Rechtes, war es nicht hier der Ort in der wichtigsten Stunde des Lebens Ihres Freundes ihn brderlich zu befragen ber die Art seines Umwandelns, ihn zu belehren, wenn er irrte. Und whrend Sie auf diese seine Herzensergießung ganz stumm blieben, verlangen Sie nun von ihm er htte sich Ihnen sollen aussprechen? Wer htte dazu Muth haben sollen! Ich theilte damals Olshausens Empfindungen, wir gingen tief verwundet nach Hause. Ich berufe mich aber hier auf den allgegenwrtigen Gott, der die Gesprche kennt, die an diesem Abende noch zwischen uns gewechselt wurden, ob sie nicht dennoch von kindlicher Verehrung zeugten. Und dennoch setze ich gleich dazu war es gerade da, als Ols’n Liebe zu Ihnen sehr abnahm, meine ebenfalls abnahm, nur nicht so sehr als bei O.3 – Wie kçnnen Sie aber meinen daß er nun heuchelte wenn er herzlich gegen Sie war. Daß Sie ein gelehrtes Christenthum gegen ein practisches zu sehr berschtzten, das bewog ihn zu geringerer Liebe, das war ihm „der unwichtige Weg“ – wie mag das aber alle Liebe ausschließen? Wie sollte das die Dankbarkeit vertilgen? O. hat es noch spterhin vor anderen u. vor mir bekannt, wie viel er Ihnen verdanke. – Man kann ja in Christo den gleichgltigsten Menschen mit der innigsten Herzlichkeit behandeln, weil man in dem Augenblicke vçllig durchdrungen ist von der Verbindung mit ihm durch Christum und dennoch sagen: er ist mir eigentlich gleichgltig, sollte man nicht mehr seinem Lehrer und Freund warm begegnen, wenngleich man nicht mehr dieselbe Liebe zu ihm hat. Denn daß O. gar keine Liebe zu Ihnen gehabt habe, werden Sie doch nicht urgiren wollen. – Doch lassen Sie mich nun fortfahren, da Sie zur Aussprache aufforderten. O. hatte von Natur kein sehr lebendiges Interesse am Wissen, es interessierte ihn mehr aus Ehrgeitz, sein Herz fand jetzt keine Befriedigung in Ihrem Umgang, er blieb also fast ganz fort. Ich aber fand selbst an den rein wissenschaftl. Gesprchen meinen hçchsten Genuß, oder – da Sie in Worten so genau sind – einen sehr hohen Genuß. Ich kam ferner. Da nun 3

Nach Tholucks Tagebuch vom 22. 6. 1820, das Olshausen zu den Theologen zhlt, „die doch wollen Christen sein und in ihrem Herzen so wenig empfunden haben“, fllt der geschilderte Vorgang wohl in die zweite Hlfte des Jahres 1820 (Leopold Witte:Das Leben D. Friedrich August Gottreu Tholuck’s, Bd. 1, Bielefeld und Leipzig 1884, S. 197). Schon 1818 unterscheidet Tholuck aber seine Liebe zu Neander von der zu anderen, die er mehr liebt. An Kottwitz nach dem Leichenbegngnis der am 7. 7. 1818 gestorbenen Mutter Neanders: „Ach daß ich vom Himmel erhalte, daß alle meine frommen Wnsche fr ihn und fr alle, die ich wie ihn und mehr noch wie ihn liebe, in Erfllung gehen!“ (Kantzenbach: a.a.O. [Anm. 14] S. 91). Tholuck war damals 19 Jahre alt.

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verfuhren Sie nicht so wie es unsere Schwche nçthig macht u. das Ev. verordnet, welches sagt: Hat dein Br. gesndigt, so rufe ihn beiseiten von der Gemeine. Sie sprachen nicht, wenn wir allein waren, als Freund mit mir und sagten mir, was mir fehle, so daß ich persçnlich ber meinen Fall urtheilen konnte, sondern im Beiseyn mehrer, sprachen Sie als Lehrer von verkehrten Richtungen – zuweilen bitter, immer aber indirect. So waren diese Ermahnungen ohne Frucht. Vielleicht meinten Sie vieles nicht auf mich und O. Allein es war mit dem andern so verschlungen, daß ich mich vor den Ohren mehrerer – die es zum Theil wohl merkten – Formalist, Methodist, Heuchler, Phariser, Phrasenkrmer nennen hçrte. Wie aber htten wir als Schler mit Ihnen als Lehrer uns freier aussprechen sollen, da Sie selbst es zu vermeiden schienen. Ich fhrte hufig welche zu Ihnen, damit diese durch christliche Gesprche gestrkt wrden. Statt dessen brach immer gegen mich selbst ein Krieg los. Bedenken Sie die menschliche Eitelkeit und Schwche, wie dieser das thun mußte. Ich sage aber die Wahrheit, wenn ich hinzusetze, daß noch mehr als meiner Eitelkeit, meiner kindlichen Liebe zu Ihnen wehe gethan wurde durch jene indirecten Bitterkeiten. – O. dessen natrliche Neigung ihn nicht so zu den Wissenschaften band, sagte sich immer mehr davon los, ich fing ebenfalls in der Theologie an dasselbe zu thun. Wo htten wir dabei hinkommen kçnnen? Nach Ihrer Rckkunft v. der letzten Reise erschienen Sie uns allen anders, weit wrmer, weit lebendiger fr die Eine Hauptsache.4 Sie ließen nachher auch ab von dem indirecten Bestreiten der falschen Richtungen – ich schrieb an O. Sie seien immer theurer und ehrwrdiger uns allen geworden und die schçnsten Stunden seit Ostern htte ich mit Ihnen gelebt, dies veranlaßte ihn zu seinem Schreiben. Sie nannten dies heuchlerisch. Es thut mir sehr wehe, daß Sie ber christliche Brder immer so sehr hart urtheilen, statt auch hier gegen d. Richtungen zu sprechen. Wenn Sie

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Die Datierung des Briefes auf die zweite Hlfte 1824 ergibt sich aus einem Brief Tholucks an Kottwitz vom 24. 5. 1824: „Noch bemerke ich Ihnen, daß Neander sich beraus gendert, er scheint in vielen Rcksichten von seinem Polemisieren, seinem barschen Wesen ganz abgelassen und sich immer mehr wie ein Kind unter das Kreuz des Heilandes zu setzen.“ (Kantzenbach [oben Anm. 14] S. 103) Im Tagebuch Tholucks steht am 1. 10. 1823 ein Wort von Kottwitz ber Neander, als Tholuck sich ber Neanders Angriff gegen die collegia pietatis beklagt hatte: „Man muß von dem armen Neander nichts verlangen, was er selbst nicht hat: er hat sein Herz noch nicht ganz bergeben, darum muß man ihn der Gnade berlassen.“ (Witte [Anm. 38] S. 149.)

128

Anhang III

Hugo (?)5 einen Phariser nannten und er nun entschuldigt wird durch Heubner, soll uns nicht so ein Urtheil ber einen christl. Br. gereuen? Man muß hier strenger seyn, sagen Sie, denn es ist gefhrlicher. Ja, gegen die Sache, aber nicht gegen die Person. Sollen wir allen wohlthun, zunchst aber den Brdern, so sollen wir bei allen das Gute nicht verkennen, am wenigsten aber bei christl. Brdern. Auch mssen wir dabei die Welt bedenken, die sich freut irgend etwas herauszufinden und aus jedem Ihrer Worte vergiftete Pfeile macht. So habe ich denn alles gesagt, was ich namentlich in Bezug auf Ihre Aufforderung zu sagen hatte, mçgen Sie es aber fr Phrasengeklingel halten, oder nicht, ich darf es nicht sagen, ohne zugleich hinzuzufgen daß, bei alle dem ich nur mit Beschmtheit diese Sachen Ihnen sage, in tiefem Gefhl dessen was Sie in Christo geworden sind, und was ich dagegen bin. Ueberhaupt, mein theurer Freund im Herrn, denken Sie doch auch hiebei, wie Sie es so gern thun, an die Verschiedenheiten der Menschen. Sie sind wenig in lebendiger Verbindung mit einfachen Christen gewesen, stets hinter den Bchern haben Sie nicht die Seeligkeit dieses Umgangs so sehr geschmeckt, Sie haben sich also auch nicht soviel ausgesprochen als wir es thun. Darum halten Sie einen Brief wie den von O. fr Phrase. Allein wren Sie in der Verbindung zum Glauben gekommen wie O. so wrden Sie gewiß sich eben so ausdrcken. Hat der kurze Umgang mit den Christen in Elberf. so auf Sie Eindruck gemacht, wie sehr wrden Sie die gelehrte Hlle und die Einsylbigkeiten ablegen, wenn Sie stets mit Boien6 umgingen. Wenn es aber noch niemandem eingefallen isst, wie ich dies bezeugen kann, dies an Ihnen unrecht zu finden, warum sprechen Sie so hart davon. Auch hier heißt es ja, Mißbrauch schließt den Gebrauch nicht aus. Wie Sie auch diese Worte aufnehmen, die Gesinnung, in welcher sie geschrieben werden, glaube ich vor Gott rechtfertigen zu kçnnen. Mein Wunsch aber ist der, daß es dem Feinde der Kirche Christi niemals gelungen mçge Zwietracht zwischen uns zu erregen, sondern daß jede scheinbare Mißhelligkeit das Band der Liebe desto enger kette. [O mein theurer (? getilgt)] Ich komme abermals zu einem Ausbruche des Gefhls. Wenn Sie wßten, wieviel mehr der Umgang seit Ostern mir und den Studierenden ntzlich gewesen ist, Sie wrden gewiß sich sehr freuen. Die Milde im Urtheil ber Andere, die richtige Schtzung der Wissenschaft, das Entfernen von Formalzwang es gelingt alles, wenn es auch hier das Band 5 6

Der von Kottwitz am 24. 10. 1824 erwhnte „Br. Hugo von Altçls“ (Kantzenbach: a.a.O. [Anm. 14] S. 43)? Der Feldmarschall Hermann von Boyen (1771 – 1848)?

Anhang III

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der Liebe ist, welches dazu leitet, alles aber gegrndet auf den einfachen Wandel im Herrn. Durch Aussprechen der Meinungen im Gegensatze wird Entfremdung erregt, aber durch warmes Umschließen um das Gute, Eine kommt eine Annherung zu Stande, welche unmerklich alle etwaigen Irrthmer entfernt und eine wahre Fçrderung der Gemther in der Heiligung bewirkt. In kindlicher Liebe Ihr A. Tholuck.

Siglen KGA

KGA I/1: KGA I/2: KGA I/3: KGA I/4: KGA I/5: KGA I/6: KGA I/7, 1.2: KGA I/7, 3: KGA I/8: KGA I/9: KGA I/10: KGA I/11: KGA I/12:

= Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Kritische Gesamtausgabe. In 5 Abteilungen. Hg. v. Hans-Joachim Birkner, Hermann Fischer u. a., Berlin und New York: de Gruyter 1980 ff.; bisher erschienen sind folgende Bnde: Jugendschriften 1787 – 1796, hg. v. Gnter Meckenstock, 1983 Schriften aus der Berliner Zeit 1796 – 1799, hg. v. Gnter Meckenstock, 1984 Schriften aus der Berliner Zeit 1800 – 1802, hg. v. Gnter Meckenstock, 1988. Schriften aus der Stolper Zeit 1802 – 1804, hg. v. Eilert Herms, Gnter Meckenstock und Michael Pietsch, 2002 Schriften aus der Hallenser Zeit 1804 – 1807, hg. v. Hermann Patsch, 1995 Universittsschriften. Herakleitos. Kurze Darstellung des theologischen Studiums, hg. v. Dirk Schmid, 1998 Der christliche Glaube nach den Grundstzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1821/ 22), hg. v. Hermann Peiter, 1980 Marginalien und Anhang, hg. v. Ulrich Barth unter Verwendung vorbereitender Arbeiten v. Hayo Gerdes u. Hermann Peiter, 1983 Exegetische Schriften, hg. v. Hermann Patsch und Dirk Schmid, 2001 Kirchenpolitische Schriften, hg. v. Gnter Meckenstock unter Mitwirkung v. Hans-Friedrich Traulsen, 2000 Theologisch-dogmatische Abhandlungen und Gelegenheitsschriften, hg. v. Hans-Friedrich Traulsen unter Mitwirkung v. Martin Ohst, 1990 Akademievortrge, hg. v. Martin Rçssler unter Mitwirkung v. Lars Emersleben, 2002 ber die Religion (2.–)4. Aufl.; Monologen (2.–)4. Aufl., hg. v. Gnter Meckenstock, 1995

132 KGA I/13:

Siglen

Der christliche Glaube nach den Grundstzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage (1830/31), hg. v. Rolf Schfer, 2003 KGA I/14: Kleine Schriften 1786 – 1833, hg. v. Matthias Wolfes und Michael Pietsch, 2003 KGA I/15: Register zur I. Abteilung, erstellt v. Lars Emersleben unter Mitwirkung von Elisabeth Blumrich, Matthias Hoffmann, Stefan Mann und Wilko Teifke; Addenda und Corrigenda zur I. Abteilung; Anhang: Gnter Meckenstock, Schleiermachers Bibliothek nach den Angaben des Rauchschen Auktionskatalogs und der Hauptbcher des Verlages G. Reimer (Zweite, erweiterte und verbesserte Auflage), 2005 KGA II/4: Vorlesungen ber die Kirchengeschichte, hg. v. Simon Gerber, 2006 KGA II/8: Vorlesungen ber die Lehre vom Staat, hg. v. Walter Jaeschke, 1998 KGA II/10, 1.2: Vorlesungen ber die Dialektik, hg. v. Andreas Arndt, 2002 KGA II/16: Vorlesungen ber die kirchliche Geographie und Statistik, hg. v. Simon Gerber, 2005 KGA V/1: Briefwechsel 1774 – 1796 (Briefe 1 – 326), hg. v. Andreas Arndt und Wolfgang Virmond, 1985 KGA V/2: Briefwechsel 1796 – 1798 (Briefe 327 – 552), hg. v. Andreas Arndt und Wolfgang Virmond, 1988 KGA V/3: Briefwechsel 1799 – 1800 (Briefe 553 – 849), hg. v. Andreas Arndt und Wolfgang Virmond, 1992 KGA V/4: Briefwechsel 1800 (Briefe 850 – 1004), hg. v. Andreas Arndt und Wolfgang Virmond, 1994 KGA V/5: Briefwechsel 1801 – 1802 (Briefe 1005 – 1245), hg. v. Andreas Arndt und Wolfgang Virmond, 1999 KGA V/6: Briefwechsel 1802 – 1803 (Briefe 1246 – 1540), hg. v. Andreas Arndt und Wolfgang Virmond, 2005 KGA V/7: Briefwechsel 1803 – 1804 (Briefe 1541 – 1830), hg. v. Andreas Arndt und Wolfgang Virmond, 2005. KGA V/8: Briefwechsel 1804 – 1806 (Briefe 1831 – 2172), hg. v. Andreas Arndt und Simon Gerber, 2008

Personenregister Aufgefhrt sind historische Personen, mit Ausnahme von biblischen Personen, in Titelangaben erwhnten Personen und Herausgebernamen. Altenstein, Karl Freiherr vom Stein zu 105 Ammon, Christoph Friedrich von 121 Arndt, Andreas 4 – 6, 33, 70, 78, 80–82 Arndt, Ernst Moritz 44f. Augustinus 8f., 42f., 51–53, 64, 107, 111, 116f. Bach, Johann Sebastian 40 Barth, Karl 35, 103 Barth, Ulrich 1, 3f., 49 Bauer, Bruno 112, 114 Baur, Ferdinand Christian 41, 102, 104, 115 Beethoven, Ludwig van 40 Benda, Luise von 56 Benedikt XVI. (!Ratzinger, Josef ) 34, 38 Bengel, Ernst Gottlieb 122f. Benjamin, Walter 11, 24 Bernhard von Clairvaux 111 Berthold, Leonhard 122 Birkner, Hans-Joachim 9, 36, 60, 99, 101 Boeckh, August 46 Bopp, Franz 46 Brandt, James M. 99 Bretschneider, Karl Gottlieb 122 Brunner, Otto 11 Caesarius von Arles 53 Calvin, Johannes 42f. Claudius, Matthias 106 Clemens XI. 53 Conze, Werner 11

Dalferth, Ingolf 13, 15, 18 Darwin, Charles 47 Daub, Karl 121 de Wette, Wilhelm Martin Leberecht 33, 45f., 64, 104–106, 113, 121 Dibelius, Otto 35, 103 Dieckhoff, August Wilhelm 48 Dierken, Jçrg 28 Dilthey, Wilhelm 5f., 56, 81 Dionysius Areopagita 7, 27 Drecoll, Volker Henning 51 Drehsen, Volker 37 Duns Scotus 49 Ebeling, Gerhard 54 Elert, Werner 62 Erasmus von Rotterdam

53

Feuerbach, Ludwig 112, 114 Fichte, Johann Gottlieb 12, 29, 43, 72, 105 Figal, Gnter 25 Frank, Franz Hermann Reinhold von 47 Frank, Gustav 37 Frank, Manfred 22 Friedrich II. von Preußen 32, 35 Fries, Jakob Friedrich 105 Gabler, Johann Philipp 121 Gadamer, Hans-Georg 81 Geck, Albrecht 86 Gerber, Simon 109 Gesenius, Wilhelm 105, 110, 122 Gieseler, Johann Karl Ludwig 104, 111

134

Personenregister

Goethe, Johann Wolfgang von 21, 35, 40 Gottschick, Johannes 52 Großhans, Hans-Peter 7f., 15f., 22 Gurlitt, Johannes 103 Habermas, Jrgen 40 Halfmann, Wilhelm 105 Harnack, Adolf von 50, 53, 64, 101f., 104f., 111, 118 Hausrath, Adolf 65 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 4f., 13, 15, 23, 37, 43, 46, 48, 78, 101, 104f., 110, 113–115 Heidegger, Martin 29 Heine, Heinrich 65 Heinrici, Georg 108 Hengstenberg, Ernst Wilhelm 37, 45, 109 Henke, Heinrich Philipp Konrad 103, 110 Heubner, Leonhard 104, 108, 128 Hirsch, Emanuel 12, 26, 62 Hofmann, Johann Christian Konrad von 47 Holl, Karl 32 Humboldt, Wilhelm von 35, 118 Innocenz III.

57

Kottwitz, Hans Ernst Baron von 108, 126–128 Kotzebue, August von 44 Lachmann, Karl 46 Lange, Dietz 62 Latourette, Kenneth Scott 39 Lenz, Max 118 Luther, Martin 3, 8, 32, 36–38, 40, 42f., 47f., 52–54, 105, 107 Marheineke, Philipp 35, 37, 58, 105f., 110, 113, 121 Martini, Christoph David Anton 121 Maser, Peter 108 Meder, Stefan 62 Mendelssohn-Bartholdy, Felix 40 Meyer, Alexander 115 Meyer, Ulfilas 115 Moeller, Bernd 57 Mçhler, Johann Adam 34 Moretto, Giovanni 34 Mller, Claus 89 Napoleon Bonaparte 33, 35, 103, 107 Neander, August 10, 33, 37, 41, 43, 45, 101–118, 120–123, 125–127 Nicolovius, Ludwig 106 Nippold, Friedrich 65

Jacobi, Friedrich Heinrich 64, 77, 117 Jaeschke, Walter 15, 33, 44, 84 Jodl, Alfred 56 Jonas, Ludwig 46 Julian Apostata 106

Ohst, Martin 8f., 55, 64 Olivetti, Marco M. 34 Olshausen, Hermann 125f. Origenes 10, 43, 107, 117 Osculati, Roberto 34

Kant, Immanuel 4., 12f., 73, 77f., 82, 89 Kantzenbach, Friedrich Wilhelm 105, 108, 110, 126–128 Keil, Karl August Gottlieb 121 Kimmerle, Heinz 75 Kçhnke, Klaus Christian 81 Koselleck, Reinhart 11, 24 Kçthe, Friedrich August 123

Pascal, Blaise 117 Paulus 121 Paulus, Heinrich Eberhard Gottlob 121 Perthes, Friedrich 106 Pesch, Otto Hermann 54 Pius XII 34, 38 Planck, Heinrich Ludwig 122 Planck, Gottlieb Jakob 37, 103, 106, 110f., 121

Personenregister

Platon 69 Pott, David Julius

121

Rahner, Karl 34, 37 Ranke, Leopold von 118 Ratzinger, Josef (!Benedikt XVI.) 34, 40, 53 Raumer, Friedrich von 118 Reetz, Dankfried 44, 86 Reuter, Hermann 51, 53 Ritschl, Albrecht 41, 49 Ritschl, Otto 62 Ritter, Karl 46 Rohbeck, Johannes 82 Rçssler, Martin 59 Rothe, Richard 65 Sack, Friedrich Samuel Gottfried 13 Savigny, Friedrich Karl von 62 Scheliha, Arnulf von 6f., 84, 86 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 115 Scheurig, Bodo 56 Schlegel, Friedrich 69, 77f. Schleusner, Johann Friedrich 121 Schleyermacher, Gottlieb Adolf 32 Schmidt, Johann Ernst Christian 121 Schneider, Karl Theodor 111 Scholtz, Gunter 81 Schott, Heinrich August 122 Schrenk, Viola 41 Schrçder, Markus 62 Schuckmann, Friedrich von 106 Schulz, Walter 29 Schulz, Winfried 37 Schwarz, Reinhard 53 Schweitzer, Albert 62 Seeberg, Reinhold 53 Selge, Kurt-Victor 1 – 3, 9f. Sockness, Brent 90 Sorrentino, Sergio 34 Spener, Philipp Jakob 107

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Spinoza, Baruch de 14, 64 Studlin, Karl Friedrich 37, 121, 123 Steffens, Henrich 46 Stern, Joseph 46 Stern, Sigismund 46 Stern, William 46 Stolberg, Friedrich Leopold Graf zu 102 Stçve, Ekkehard 102 Strauß, David Friedrich 61f., 65, 104f., 114 Stubenrauch, Samuel Ernst Timotheus 32 Stutz, Ulrich 103 Swinburne, Richard 13 Tholuck, August 45, 65, 108f., 125–127, 129 Thomas von Aquin 8, 52–54, 116 Thouard, Denis 34 Toscanini, Arturo 40 Trendelenburg, Friedrich Adolf 81 Tresckow, Henning von 56 Troeltsch, Ernst 66 Twesten, August 81, 107 Tzschirner, Heinrich Gottlieb 122 Varnhagen, Rahel 115 Varnhagen von Ense, Karl August 85, 87, 108, 115, 120, 125 Vater, Johann Severin 121 Virmond, Wolfgang 80 Vogel, Paul Joachim Sigmund 121 Wegscheider, Julius August Ludwig 105, 122 Weiß, Johannes 9, 41 Willich, Henriette von 83 Winzer, Julius Friedrich 122 Witte, Leopold 65, 126f. Wittgenstein, Ludwig 26 Wolfes, Matthias 83