Die Zukunft des Jugendschutzes [Reprint 2021 ed.] 9783112461402, 9783112461396


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Die Zukunft des Jugendschutzes [Reprint 2021 ed.]
 9783112461402, 9783112461396

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Das neue Deutschland in Erziehung und Unterricht Lerausgegeben

von

Prof. Dr. Bastian Schmid

und

Privatdoz. Dr. Max Brahn in Leipzig-Gohlis

in München

Arft 3

Die Zukunft des ZWiiWulfts In Gemeinschaft mit G. Kerschensteiner, F. Rihinger, CH. I. Klumker, H. von Müller, A. Münch, L. Opfinger, F. Schönhuber, H. Sumprr von

Professor Dr. Alois Fischer-München

Leipzig :: Verlag von Veit & Comp. :: 1918

GDettag von GDeit § (Somp. in £?eipjig, Qtlarienjtrage 18

rSllT (Eittfiibriincr ' '

Sammlung ist bestrebt, die großen und brennenden Fragen des Unterrichts und der Erziehung wie sie zweifellos Deutschlands gegenwärtiges Geschlecht in hohem Maße beschäftigen, in einzelnen Monographien zu behandeln. Vieles ist auf dem Gebiete der Schule alt und morsch geworden und wird voraussichtlich den Krieg nicht lange überdauern, aber auch das Neue will mit Vorbehalt geprüft und erwogen und manche Frage in ihrem Für und Wider gründlich durchdacht werden. Das künftige Schicksal unseres großen Volkes erfordert Führer auf allen Ge­ bieten, und es ist durchaus nicht gleichgiltig, wie sein Schul- und Erziehungswesen bestimmt und gelenkt wird. Vor allem hat das neue Geschlecht, dem wir den unglück­ seligsten und schreckhaftesten aller Kriege mit seinen schweren Folgen Liberliefern, ein Anrecht, von uns ernste Beweise und aufrichtigstes Bestreben einer Wiederherstellung vernichteter Werte und Güter zu fordern. Tausend Lücken klaffen, es fehlen Väter und Arbeitskräfte. Alle Gebiete des öffentlichen Lebens in der Landwirtschaft und Industrie, des Wandels und Gewerbes verlangen gut geschulte Kräfte. Deutschlands geistiges Leben sehnt sich nach Vertiefung und Verinnerlichung, und die nackte Existenz­ frage erfordert eine materielle Basis. Daher ist ein Doppeltes anzustreben, auf den inneren wie den intellektuellen Menschen, auf Charakterbildung wie Aneignung von fruchtbringenden Kenntnissen hinzuarbeiten. Diese Ziele mit anzustreben, soll Aufgabe unserer Sammlung sein. Hier sollen Männer wie Frauen verschiedener Berufsrichtung zu Worte kommen, nicht etwa ausschließlich der im Fache stehende Schulmann, und es sollen alle größeren Gebiete der körperlichen wie geistigen Erziehung und des Anterrichts bis hinauf zu den Hochschulen zur Sprache gebracht werden. Auf diese Weise wird nach und nach eine Art Enzyklopädie der Erziehung und des Unterrichts ent­ stehen, die von den bereits vorhandenen sich dadurch unterscheidet, daß sie zwar keine Stichworte enthält, wohl aber eine möglichst umfassende monographische Behandlung der einzelnen Gegenstände bieten wird. Die Herausgeber.

Aus den bereits unter der Presse bezw. in Vorbereitung sich befindenden Arbeiten seien nachstehende angeführt. Es sind erschienen:

l)efi l

Sur und wider die allgemeine Volksschule

............ ■ von Schulrat Dr. Richard Seyfert und Prof. Dr. $. TD» Zoerster Umfang 4t/4 Bogen Preis geheftet HL 2.40 Die Frage der allgemeinen Volksschule hat durch den Krieg an Bedeutung und Wucht ge­ wonnen. Es geht nicht länger mehr an, daß man mit vorgeblichen pädagogischen Gründen die Standes­ unterschiede schon in der Beschulung der kleinsten Kinder geltend macht. Der einheitliche Gedanke, der mit unwiderstehlicher Kraft alle Verhältnisse durchdringen wird, muß überall, wo Trennungen überflüssig sind, damit aufräumen und die innere Einheitlichkeit unseres Volkes durchsetzen. Bon gewaltsamer Gleichmacherei ist hier keine Rede. Es wird nicht mehr verlangt, als daß die Grundstufe aller Bildungsgänge gemeinsam sein soll, weil sie es sein kann, ohne daß irgendein erziehlicher Zweck beeinträchtigt wird, weil sie es sein muß, wenn man einen planmäßigen Aufbau des gesamten Bildungs­ wesens erstrebt. Die vorliegende Schrift versucht es, die Kreise, die der Schule fernstehen, für die allgemeine Volksschule zu erwärmen und zu gewinnen. Die Frage der Einheitsschule wird in der Schrift zwar gestreift, aber nicht ausführlich behandelt. Ehe die Einheitsschule kommen kann, muß die allgemeine Volksschule für die Kinder vom 6. bis 10. Lebensjahr da sein. Lediglich um diese handelt es sich und um eine einheitliche Volksschule, neben der die höheren Schulen zu Recht bestehen. R. Seyfert.

Gesamtteuerungszuschlag bis auf weitere- 25°/0 (Fortsetzung auf Seite 3 des Umschlages.)

Das neue Deutschland in Erziehung und Llnterricht Lerausgegeben

von

Prof. Dr. Bastian Schmid und Privatdoz. Dr. Max Brahn in Leipzig-Gohlis

in München

Heft 5 Die Zukunft des Zugendschutzes von

Professor Dr. Aloys Fischer

Leipzig Verlag von Veit & Comp. 1918

Die

Zukunft des Zugendschuhes In Gemeinschaft mit G. Kerschensteiner, F. Kitzinger, CH. I. Klumker, L- von Müller, A. Münch, L. Opfinger, F. Schönhuber, Ä. Sumper von

Dr. Aloys Fischer a. o. Professor der Philosophie an der Aniversilät zu München

Leipzig Versag von Veit & Comp

1918

Alle Rechte, einschließlich des Übersetzungsrechts, Vorbehalten.

Vorwort Den äußeren Anstoß zu der folgenden Sammelschrift gab eine vierzehn­ tägige Konferenz, die auf meine Veranlassung in den Tagen vom 14. Mai bis 2. Juni 1917 im Pädagogisch-psychologischen Institut München abgehalten wurde und die Fragen des Jugendschutzes in Krieg und Frieden zu ihrem Gegenstand hatte. Im Rahmen, ihrer Verhandlungen entstanden die Aus­ führungen eines großen Teils der folgenden Vorträge. Das Programm ver­ zeichnet folgende Themen:

„Jugendschutz und Belagerungszustand" (Ref.: Prof. Dr.A. Fischer). „DieAufgaben der Gesetzgebung und Rechtspflege auf dem Gebiet des Jugend­ schutzes" (Res.: Prof. Dr. F. Kitzinger). „Die allgemeinen Grundlagen und Ziele des geistig-sittlichen Jugend­ schutzes" (Ref.: Hauptlehrer K. Gutmann). „Das Kinoproblem in der Jugendschutzbewegung" (Ref.: Lehrer F. L. Schön­ huber). „Der Schutz der Jugendlichen gegen die Schundliteratur" (Ref.: Lehrer L. Opfinger). „Der Schutz und die Pflege der weiblichen Jugend (Ref.: Hauptlehrerin Hel. Sump er). Die Teilnahme an den Verhandlungen war eine sehr rege, die in der Presse anschließende Erörterung lebhaft. In einer öffentlichen Besprechung nahmen auch weitere Kreise aus ihren Erfahrungen heraus zu den belegten Fragen Stellung; allgemein trat uns der Wunsch entgegen, den sinnvollen, möglichen und berechtigten Kern der Jugendschutzgesetzgebung aus dem vielgestaltigen Kriegsgesetzgebungswerk herauszustellen und die Frage ihres Ausbaus vom Standpunkt der Erziehung aus zu überlegen. Dieser Widerhall der Verhandlungen in Öffentlichkeit und Presse sowie der Wunsch der Teilnehmer regten den Plan an, die Zukunft des Jugend­ schutzes in einer Sammelschrift noch vollständiger, als es in den Vorträgen der Konferenz geschehen konnte, zu beleuchten. Es handelte sich vor allem um

6

Vorwort

Ergänzungen nach den auf der Konferenz nebensächlicher behandelten Seiten des hygienischen, ökonomischen und fürsorgerischen Jugendschutzes, sowie um die Prüfung der Wege, auf denen eine Jugendschutzgesetzgebung zu fruchtbarer Wirkung im Leben zu bringen sei. Aus diesen Erwägungen heraus wurden die Beiträge von Prof. Dr. I. Klumker und Dr.H. v. Müller ausgenommen. Im Zusammenhang mit Forderungen des Tages schien es unerläßlich, die Bestrebungen für einen gesetzlichen Jugendschutz auch in ihren Beziehungen zu der Frage eines umfassenden deutschen Jugendgesetzes zu prüfen und für den Fall, daß ein solches nicht ersteht, doch noch einen gangbaren Weg zum sinnvollen Ausbau der Kriegsgesetze im künftigen Frieden namhaft zu machen. Diesen Absichten dienen die Ausführungen von Oberstudienrat Dr. G. Kerschensteiner und Dr. Münch. Aus einer Arbeitsgemeinschaft'von Juristen und Pädagogen, Vertretern der Wissenschaft und Männern der Praxis entstanden glaubt die Schrift der weiteren Behandlung der Fragen schon durch dies Moment nützen zu können. Ohne Zweifel wird man die Arbeitsgemeinschaft noch erweitern müssen; für die Fragen des Schutzes der Arbeiterjugend wird auch die Stimme der Ver­ waltungen und Betriebsleitungen, der Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu hören sein. Und für ganz besonders wichtig halte ich es, auch die Stimme der Jugend selbst nicht zu überhören. Sowohl die bürgerliche Jugendbewegung wie Teile der Arbeiterjugend haben sich wenigstens zu der Kriegsschutzgesetzgebung wieder­ holt geäußert, leider mehr unter dem Einfluß augenblicklicher Erbitterung über angebliche oder wirkliche Sonderstellung in Recht und Gesellschaft als aus ruhig-sachlicher Prüfung heraus. Gern hätte ich auch die Stimme der Jugend in der folgenden Sammlung zu Gehör gebracht, aber die Einheitlichkeit des pädagogischen Standpunktes ließ mich schließlich davon absehen. Viel­ leicht hat die Schrift unter anderen auch die nützliche Folge, der Jugend zu erneuter, besinnlicher Überlegung Anregung zu geben; dann besteht m. E. begründete Hoffnung, sich bald mit ihrer Auffassung der Dinge und ihren Wünschen zusammenzufinden. Als einen zweiten sachdienlichen Umstand glaubt die Schrift den gemeinsamen Standpunkt der Mtarbeiter ansprechen zu dürfen: alle sind darin einig, daß die positive aufbauende Erziehung in Haus, Schule und Jugendpflege wichtiger und erfolgreicher ist als der raffinierteste Zwang je sein könnte, alle aber zugleich auch darin einig, daß die Erziehung, soweit sie Bewahrung ist, unter den heutigen Verhältnissen des Lebens und der Wirt­ schaft auf zwangsmäßig vorbeugende Schutzmaßnahmen nicht gut verzichten darf. So hoffen wir den schmalen Weg zwischen der Charybdis einer bloßen Polizeierziehung und der Scylla einer fahrlässigen Gleichgültigkeit gegen ver­ meidliche Schädigungen der Jugend und ihrer Erziehung gefunden zu haben. Umstände, die mit den allgemein bekannten Schwierigkeiten der Druck­ legung wissenschaftlicher Arbeiten Zusammenhängen, haben das Erscheinen der seit Herbst 1917 im wesentlichen fertiggestellten Schrift aufgehalten. Dadurch möge erklärt und entschuldigt werden, daß auf zwei für die Förderung der Frage wichtige Verhandlungen nicht Rücksicht genommen ist, nämlich auf jene des Fürsorgeerziehertages am 19. und 20. September 1917 zu Frankfurt a. M.

Vorwort

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und der Sonderkommission für Jugendpflege der Zentralstelle für Volkswohl­ fahrt im November 1917 in Berlin. Aus den Berichten über beide ist ersicht­ lich, daß die Tendenz auch dieser Beratungen sich mit unseren Absichten eng berührt. Wenn die Schrift jetzt der Öffentlichkeit vorgelegt werden kann, so danken wir dies vor allem der freundlichen ünd opferwilligen Verlagsbuchhandlung Veit & Comp. Ich möchte deshalb nicht verfehlen, ihr ebenso meinen herz­ lichen Dank auszusprechen wie meinen Mitarbeitern und den Herausgebern der Sammlung. Möge die Schrift zum Wohl der Jugend und Jugenderziehung wirken, in deren Dienst sie sich stellt! München, im März 1918.

Aloys Fischer.

Inhalt Seite

Einleitung. Über das Verhältnis des Jugendschutzes zu den Bestrebungen für Jugend­

bildung, Jugendpflege und Jugendwohlfahrt. Von Dr. Aloys Fischer, a. o. Pro­ fessor der Philosophie a. d. Universität München.........................................................

Jugendschutz und Belagerungszustand.

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Bon Dr. Aloys Fischer, a. o. Professor der

Philosophie a. d. Universität München....................................................................................... 17 Das deutsche Jugendgesetz. Bon Oberstudienrat Stadtschulrat Dr. Georg Kerschensteiner, M. d. R., in München.................................................................................................. 37 Die Aufgaben der Gesetzgebung und Rechtspflege auf dem Gebiet des Jugend­ schutzes. Bon Dr. Friedrich Kitzinger, a. o. Professor der Rechte a. d. Universität

München..........................................................................................................................................45 I« welcher Weise können die von den Militärbehörden zum Schutz der Jugend

erlassenen Bestimmungen am zweckmäßigsten in die Friedenszeit übergeführt

werden? Bon Amtsrichter Dr. Alex Münch, z. Z. am stellvertretenden General­ kommando »des I. Bayr. Armeekorps München......................................................................85 Die nächsten Friedensaufgaben der Jugendfürsorge.

Von Dr. CH. I. Klumker,

Professor a. d. Universität Frankfurt a. M..................................................................................90

Der hygienische Jugendschutz.

Der ökonomische Jugendschutz.

Von Dr. Hermann von Müller, München Bon Professor Dr. Aloys Fischer, München

Das Kinoproblem in der Jugendschutzbewegung.

.

.

100

.

.

147

Bon Lehrer F. X. Schönhuber,

München........................................................................................................................................156 Der Schutz der Jugendlichen gegen die Schundliteratur. Don Hauptlehrer L. Opfinger, München....................................... Der Schutz und die Pflege der weiblichen Jugend.

170 Von Hauptlehrerin Helene

Sumper, 2. Vorsteherin der Ortsstelle München für weibliche Jugendpflege .

.

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(Einleitung über Has Verhältnis des Jngendschutzes z« den Bestrebungen für Jugend­ bildung, Jugendpflege und Jugendwohlfahrt Von Aloys Fischer

Zahlreiche Umstände haben zusammengewirkt, um die öffentliche Auf­ merksamkeit auf die eigenartige Stellung der Jugendlichen in der Gesellschaft zu lenken. Das Problem ihrer Erziehung vor allem beschäftigte seit mindestens zwei Jahrzehnten Regierungen und Verwaltungen, Erzieher und Parteien, schließlich die Jugend selbst, und während des Krieges wurde es der Mittelpunkt der sozialpädagogischen Diskussion. Auf zwei Wegen glaubte man den unleugbaren Schwierigkeiten begegnen und das öffentliche Erziehungs­ wesen sinnvoll ausbauen zu können: durch die Forderung der Pflichtfort­ bildungsschule bis zum 18. Lebensjahr und die Förderung eines Systems indirekter Erziehung vornehmlich der breiten Massen volksschulentlassener Jugend, das unter dem Namen Jugendpflege sich einzuleben begonnen hatte. Die künftige Geschichtsschreibung unseres pädagogischen Denkens und unserer Erziehungszustände wird über die einzelnen Abschnitte, in denen sich diese beiden Grundgedanken zu innerer Klarheit durchgerungen und schrittweise in die Wirklichkeit eingelebt haben, genauere Aufschlüsse geben können als wir selbst, in der Bewegung lebend und strebend, besitzen, aber sie wird über die Tatsache selbst kaum zu einem anderen Urteil kommen, als unser eigenes Be­ wußtsein. Es ist die Grundfrage der Erziehungsbewegung unserer Zeit, wie die Bildung und Erziehung des Nachwuchses nach Vollendung der Schul­ pflicht fortgeführt werden kann und soll. Diese Frage ist wichtiger als alle anderen Probleme der sogenannten Schul- und Erziehungsreform, wichtiger als die Verbesserung der Lehrpläne und Methodik, der höheren Lehranstalten und der Lehrerbildung; denn bei ihrer Lösung handelt es sich — trotz vieler Ansätze und Notbehelfe, die teilweise ein mehr als hundertjähriges Alter haben — um eine Neuschöpfung, während alle anderen Reformbewegungen an große und bewährte Institutionen anknüpfen können und auch im Fall des Mißlingens die Fürsorge für den von ihnen erfaßten Teil des Nachwuchses höchstens be­ einträchtigen, nicht aufheben.

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Aloys Fischer

Die Kriegszeit hat das soziale und pädagogische Problem be.r Jugend­ lichen so unterstrichen, daß die beiden vorher schon angebahnten Wege seiner Lösung, der Gedanke der Pflichtfortbildungsschule und der Ausbau der Jugend­ pflege, zu allgemeiner Anerkennung und Aufnahme kamen. Aber während wir noch im Kampf gegen die mannigfachen Hindernisse dieser Bestrebungen stehen und über ihre gegenseitige. Abgrenzung und den Weg ihrer Zusammen­ arbeit einstweilen nicht ins reine zu kommen scheinen, tauchen andere Mög­ lichkeiten auf, die Erziehung der Jugendlichen zu fördern, die Bestrebungen für Jugendwohlfahrt, Jugendfürsorge, Jugendschutz. Da die folgenden Ab­ handlungen zu einem dieser Gebiete Stellung nehmen, scheint es nicht über­ flüssig, kurz die Aufgabe dieser verschiedenen Bestrebungen aus dem Sinn der Erziehung abzuleiten — unter Berücksichtigung der seelischen, gesellschaftlichen, körperlichen, wirtschaftlichen Eigenart der höheren Jugendstufen — und zugleich das Arbeitsgebiet derselben so eindeutig als möglich zu umschreiben. Zugleich wird es notwendig und wünschenswert sein, die Wirksamkeit des Staates auf diesen verschiedenen Teilgebieten der Jugenführung un5 ihre ungleichen Grenzen wenigstens anzudeuten. Manchen in der Praxis der Jugendarbeit verdienten Kreisen erscheint solche begriffliche GrenzabsteÄmg überflüssig, aber ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß gerade die Unklarheit über den Sinn der einzelnen Zweige der Jugendarbeit, die daraus entspringenden Eifersüchteleien der Gruppen und das unleugbar vorhandene heimliche Mißtrauen der beteiligten Kreise den raschen und gesunden Fortschritt hemmen. ’ Je innerlich reibungsloser die Arbeit gestaltet ist, um so weniger lenkt sie Kräfte von dem letzten gemeinsamen Ziel: dem Wohl und der Hebung der Jugend auf Nebensachen und Mittel, wie z. B. die Zuständigkeits- und Organisationsfragen ab. Daß die Erziehung des Menschen mit 13 Jahren nicht aufhört, steht für uns fest; die Formen der Erziehung mögen wechseln, die Erziehung selbst ist lebenslänglich. Es fehlt auch keineswegs an Faktoren und Maßnahmen der Erziehung auch nach dem Ende der gesetzlichen Schulpflicht; das Elternhaus, die Lehrzeit, die höhere Schule sind von jeher Träger einer weiterreichenden Erziehung gewesen. Aber offensichtlich kommt ihre Wirksamkeit nur be­ stimmten Gruppen von Jugendlichen zugute. T>i^ Gesellschaft hat Interesse und Pflicht, durch Einrichtungen für die Erziehung des gesamten Nachwuchses — nicht nur bestimmter Gruppen — Sorge und Verantwortung zu tragen. Im Gefolge dieses Gedankens, einer umfassenden Erziehungsarbeit an der Gesamtjugend der Nation sind die beiden schon gekennzeichneten Ideen der allgemeinen Pflichtfortbildungsschule und der Jugenpflege entstanden. Um ihren genauen Sinn anzugeben und zugleich entscheiden zu können, ob sie die einzigen und zureichenden Wege der Erziehung hinter den Grenzen des Schul­ alters sind, werfen wir die Frage auf: Welche Aufgaben hat denn eigentlich die Gesamterziehung zu lösen? Für welche dieser Aufgaben ist das Jugend­ alter erst der richtige Zeitpunkt? Selbstverständlich kann hier aus den erforder­ lichen pädagogischen und psychologischen Überlegungen nur der leitende Ge­

dankengang entwickelt werden.

Als Zucht und Erziehung im engeren

Einleitung

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Sinn arbeitet sie an der Erzeugung und Festigung wertvoller Mllens- und Gesühlsdispositionen, am Aufbau des persönlichen Charakters, als Unterricht, Lehre, Unterweisung vermittelt sie die Erkenntnisse und Wissenschaften des Zeitalters, bildet Vorstellungen und Begriffe und schult'die Geisteskräfte, die in.der Schöpfung der Wissenschaften gipfeln, als Fürsorge stellt sie Leben, Lebensfreude, Gesundheit, Recht, Wachstum, .damit auch Bildung. des Nach­ wuchses sicher gegen Zerstörung, Krankheit, Not, Verführung, Vernachlässigung und gibt der folgenden Generation Gewähr und Möglichkeit, höher zu reifen als die frühere stand, als Führung endlich leitet sie die Jugend hinein in eine ihr ganzes Sein und' Leben tragende, rechtfertigende und bestimmende Welt­ anschauung, eine wirksame Überzeugung vom Sinn des Lebens und der Be­ stimmung des Menschen, die auch nach dem Aufhören jeder Fremderziehung als Grundlage der Selbsterziehung dasselbe Verhalten normiert und sicher­ stellt, auf das die Fremderziehung hinarbeitete, solange sie — gewissermaßen stellvertretend für die noch fehlende eigene Reife — den Gang der Formung zur Persönlichkeit zu regeln hatte. Aus dieser Überlegung folgt, daß zur Ge­ samterziehung als Teilaufgaben und Unterziele einmal — um mit dem untersten zu beginnen — der Unterricht gehört, sowohl jener, der Wissenschaft Bildung werden läßt, also die geistigen Kräfte selbst weckt, nährt und.in der Richtung auf ihr eigenes Ziel in Bewegung setzt, als auch jener Unterricht, der Wissen­ schaft Anwendung finden läßt, also auf technisch-praktische Fertigkeiten und Herrschaft.über alles hinausläuft, was für den Menschen Mittel sein darf. Uber dem Unterricht steht die Erziehung im engeren Sinn, die un­ mittelbar als Zucht die Ausbildung wertvoller Dispositionen des Gefühls­ und Willenslebens erstrebt, gewissermaßen ein formales Ideal richtiger Funktion auch des Liebens und Hassens, Vorziehens, Strebens und Wollens, mittelbar auf die Erarbeitung eines richtigen Wertsystems, auf inhaltliche Willensziele und ihre Einsenkung in das Gewebe der werdenden Persönlichkeit ausgeht. Über Unterricht und Erziehung, die beide im Einzelnen und Nebeneinander der Lebens- und Kulturgebiete beharren, trotz der seelischen Einheit des Zöglings und unbeschadet der verbindenden- Fäden zwischen den Kulturgebieten, erhebt sich die Weltanschauungsbildung, die den in seinen Kräften geschulten, mit den möglichen Zielsetzungen des Menschen vertrauten, aber gerade durch die Fülle der geistigen Inhalte verwirrten, ja ihnen gegenüber ratlosen Nach­ wuchs so orientiert, daß er zu selbständiger einheitlicher Sinngebung dem Lebensganzen gegenüber reif wird. Man kann diesen Stufenbau im Erziehungs­ werk — der nicht als zeitliches Nacheinander mißverstanden werden darf — auch drastischer verdeutlichen. Die Menschenbildung — kann man sagen — umschließt und erfordert: die Bildung der Kräfte, aber nicht in reiner formaler Selbstzwecklichkeit, sondern: zu menschlich und gesellschaftlich notwendigen, über­ persönlichen Zielen und Werten, aber nicht zu einem Nebeneinander, das not­ wendig den Widerspruch einschließt, sondern zur Einheit der Auswirkung der Gesamtpersönlichkeit unter einer einheitlichen Weltanschauung für ein Endziel. Ob der Mensch als Handwerker oder Gelehrter, Künstler oder Statasmann, Armer oder Reicher, Christ oder Heide lebt — erzogen und gebildet

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Aloys Fischer

ist er, insofern er nicht bloß die Kräfte besitzt, die ihn befähigen Stiefel zu machen oder Menschen zu regieren, nicht bloß die Einzelwerte umgreift, denen seine Kräfte unmittelbar dienen, sondern weiß und gerechtfertigt erlebt, warum das Ganze und er selbst, mit Anschluß seiner Kräfte und Zwecke ist, ob es Sinn hat, überhaupt Kräfte zu pflegen und Zwecke zu verfolgen oder nicht. Ge­ wissermaßen abseits von diesem inneren Stufen der Menschenbildung steht die Fürsorge im umfassenden Sinn, d. h. diejenige Seite der Erziehung, durch welche das Leben des Zöglings, damit das Objekt der Erziehung selbst und die Erziehungsarbeit erst sichergestellt wird. Wie erst Kinder da sein müssen, ehe mmn sie erziehen und über ihre Erziehung nachdenken kann, so müssen erst Maß­ nahmen getroffen sein, um die Kinder , zu erhalten, gesund zu halten, zu er­ nähren, wachsen zu machen usw., ehe man sie mit Sinn und Aussicht auf Er­ folg unterrichten, ziehen, weltanschaulich bilden kann. Kehren wir von dieser Grundlegung zu unserer Frage der Erziehung der Jugendlichen zurück, so scheint klar, in welcher Weise sich die hierfür in Gang ge­ ratenen Bestrebungen sowohl abgrenzen als zusammenfinden. Dem Unterricht der Jugendlichen entspringt und entspricht die Idee der Pflichtfortbildungsschule; der besonderen Lage der Altersstufe ist die neuzeitliche Organisation angepaßt und anzupassen. Dem Unterricht dient auch die Meisterlehre, die Berufsaus­ bildung, dem Unterricht und seinen Grundsätzen unterstehen auch noch zahl­ reiche, heute nicht einheitliche Veranstaltungen zur staatsbürgerlichen Be­ lehrung, geistigen Anregung und Vertiefung wie Jugendbüchereien, das Vor­ tragswesen für Jugendliche usw. Wie die Schule ist auch die Fortbildungs­ schule grundsätzlich Sache des Staates, der allein einen gesetzlichen Zwang zu üben vermag, ihn auch zu üben berechtigt ist, soweit die bürgerlichen, beruf­ lichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Gegenwart eine andere und ver­ tiefte Auslegung des Begriffs der Mindestbildung nahelegen. Aiüh sachlich steht der Wirksamkeit- des Staates auf dem Gebiet des Jugendunterrichts nichts im Weg, denn aller Unterricht läßt seiner Idee nach die Wissenschaft zum Bildungs- und Erziehungsmittel werden, die Wissenschaft ist aber eine, dieselbe für alle Parteien, Stände und Weltanschauungen. Der neuzeitliche, religiös neutrale, auf dem Boden der Kämpfe um die Gewissensfreiheit erstandene Staat hat durchaus Recht und Möglichkeit, seine Bildungsanstalten einzurichten und zu unterhalten, in denen die Wissenschaft leisten soll, was sie zur Bildung und Formung der werdenden Persönlichkeit leisten kann. Dem Jugendunterricht ist in gewissen Hinsichten die Jugendführung, die Weltanschauungsbildung der Jugendlichen entgegengesetzt. M. E. entspricht und entspringt ihrer Idee nach die Jugendpflege dieser Teilaufgabe und Teilabsicht der Erziehung: Jugendpflege ist und erstrebt letzten Endes Pflege des persönlichen Lebens der Jugendlichen und Einwirkung auf den Werdegang ihrer Welt- und Lebensanschauung. Es ist bekannt, daß die Jugendpflege­ arbeit in ihrer augenblicklichen Organisation und Gestalt noch keineswegs all­ gemein zu dieser Idee als Richtlinie sich bekennt, sondern ein buntes Vielerlei von Veranstaltungen und Mitteln darstellt, um nur überhaupt noch Einfluß auf die Jugendlichen zu gewinnen. Auf der anderen Seite wird in den be-

Einleitung

18

teiligten Kreisen immer klarer erkannt und immer williger eingeräumt, daß die Jugendpflege letzten Endes nicht Unterricht, Allgemeinbildung, Fach- und Berufsbildung erstrebt, sondern die Richtung der jugendlichen Geister auf eine letzteinheitliche, grundsatzgemäße Lebensführung und Weltbetrachtung. *) Das ist der Kern der Weltanschauungsbildung. Mit diesem Sinn von Jugendpflege hängt es zusammen, daß ihre Wiederbelebung zu Beginn unseres 20. Jahr­ hunderts von den Kulturverbänden und Weltanschauungsgemeinden ausging, von den Kirchen der verschiedenen Konfessionen, von den politischen Parteien, so­ weit auch sie umfassende Kulturprogramme vertreten. Es ist freilich bei dieser ursprünglichen Bedeutung von Jugendpflege und dieser privaten Organisation nicht geblieben. Im Verlauf der Entwicklung trat ein Moment, die körperliche Erziehung der schulentlassenen Jugend und die Wehrerziehung besonders ihres männlichen Teiles, übermäßig in den Vordergrund und fand stellenweise allein die Anerkennung und Förderung der öffentlichen Körperschaften. Da natur­ gemäß die körperliche und staatsbürgerliche Erziehung der Jugendlichen ganz diesseits der Unterschiede der Weltanschauung liegt, war die Überbetonung dieser Seite jugendpflegerischer Arbeit geeignet, ihren tieferen Sinn zu ver­ dunkeln. Dazu kommt noch eine andere Verschiebung. Die Weltanschauungs­ bildung ist eine Aufgabe für die gesamte Erziehung; Jugendpflege erstreckt sich demgemäß ihrer Idee nach nicht nur auf die Massen der Lehrlinge, Fort­ bildungsschüler, jugendlichen Arbeiter, soweit sie der Volksschulpflicht ent­ wachsen sind, sondern auch auf die Zöglinge-und Schüler höherer Lehranstalten. Oder sollte bei ihnen das Problem der Weltanschauungsbildung und die Pflege des persönlichen Lebens etwa durch die Schule schon gelöst sein? Es ist ein offenes Geheimnis — durch die sogenannte freideutsche Jugendbewegung noch jüngst neu belegt —, daß dies nicht der Fall ist; auch die Jugend auf höheren Schulen hungert nach einer die Tiefen der Lebensfragen ihr erschließen­ den Führung und Anregung, braucht Pflege, sucht sie, nimmt sie an, wenn sie ihr in gemäßer Weise von reinen Führern geboten wird, schafft sie sich selbst. Jugendpflege als Maßnahme der weltanschaulichen Erziehung wird ihrer Idee nach nicht berührt von den Unterschieden der Bildung, Schichten, Ge­ schlechter. Auch diese Seite ist verdunkelt; begreiflicherweise. Denn die Not­ wendigkeit einer solchen Erziehung fällt vor allem bei den Teilen der Jugend ins Auge, die überhaupt keine geschlossene, feste Erziehung mehr genießen, also bei der Jugend außerhalb der höheren Schule So ist es gekommen, daß die Jugendpflege ihrem Sinn und Umkreis nach verengert wurde als Erziehung der volksschulentlassenen Jugend der breiten Massen, als „Unterstützung, ,Er­ gänzung und Fortführung der Erziehungstätigkeit der Eltern, der Schule und Kirche, der Dienst-und Lehrherrn" (nach dem Jugendpflegeerlaß des preußischen Kultusministers vom 18. Januar 1911). Es darf nicht verkannt werden, daß die x) Genauer habe ich Lage und Sinn der Jugendpflege dargelegt in den Abhandlungen: „Was ist Jugendpflege?" (Jugendpflege, München 1918, Heft 1 und 2), „Die Zukunft der Jugendpflege" (Europäische Staats- und Wirtschaftszeitung, Berlin 1917, Nr. 8). Zur Ab­ grenzung von der Fortbildungsschule bitte ich meine Darlegungen über die Vorbildung für das Lehramt an Fortbildungsschulen zu vergleichen (Pädagogische Blätter, Berlin 1918, Heft 1).

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Aloys Fischer

Masse der Jugend in erster Linie Anspruch auf Erziehung, Pflege uUd Unter­ richt überhaupt hat; die Propaganda für den Gedanken der allgemeinen Pflicht­ fortbildungsschule nicht nur aus wirtschaftlichen, sondem aus gesellschaftlichen und politischen Gründen geht von dieser Einsicht aus. Damit ist zugleich aber entschieden, daß Jugendpflege nicht mehr das Ganze der Jugendbildung sein kann, sondern etwas Eigenes und Selbständiges neben der Schul- und Berufs­ bildung der Jugendlichen, eben die Pflege ihrer Gesinnung, ihres Charakters, ihrer Weltanschauung Auch wenn unsere ganze Jugend bis zum 18. Jahr im Schutzs und Rahmen von Schulen bleibt, von höheren Lehranstalten der kleinere Teil, von Fortbildungsschulen ihre Masse, auch dann ist Jugendpflege nicht entbehrlich geworden Das hängt, noch einmal sei es betont, mit der seelischen Eigenart der Altersstufe, mit der gesellschaftlichen Stellung der Jung­ mannen und Jungfrauen in Familie und Wirtschaftsleben und mit der Eigen­ art der Weltanschauungserziehung notwendig zusammen. Faßt man Jugend­ pflege in dem entwickelten Sinn auf, so ist damit zugleich gesagt, daß der Staat sie außerhalb der Grenzen seiner Wirksamkeit lassen muß. Der neuzeitliche Staat ist der Weltanschauung gegenüber streng neutral, er ist, wie man es verengernd immer ausdrückt — religiös paritätisch, er ist, wie ich lieber sage, nur möglich unter Voraussetzung der Unantastbarkeit der Gewissensfreiheit jedes seiner Bürger. Die Träger der Jugendpflege werden deshalb immer die Weltanschauungsgemeinden und Kulturverbände bleiben müssen, so gewiß Träger des Jugendunterrichts der Staat und seine Fortbildungsschule sind. Natürlich schließt dieser Sachverhalt nicht aus, daß der Staat ein Interesse an den Jugendpflegebestrebungen hat, daß er sich eine Aufsicht über sie Vor­ behalten und Gewähr fordern muß, daß die Arbeit der Jugendpflege nicht gegen ihn selbst und die Grundlagen seines Bestandes gekehrt weide. Aber jeden Eingriff in die innere Arbeit än der Jugend haben die Vertreter der­ selben das Recht abzulehnen als eine Beschränkung der verfassungsmäßigen Gewissensfreiheit des Bürgers, die im Prinzip auch dem Jungbürger zusteht. In gewissem Sinn außerhalb der planmäßigen Erziehungsarbeit in ihren beiden Hauptformen, der staatlichen Schule, einerlei ob höherer oder Fort­ bildungsschule, und der von den Weltanschauungsgemeinden getragenenJugendpflege steht ein dritter Kreis, mehr mittelbar wirksamer Erziehungsmaßnahmen: die Jugendfürsorge, dies Wort in einem umfassenden, von dem gesetzlichen verschiedenen Sinn genommen. Als Fürsorge will die Erziehung die dinglichen und institutionellen Grundlagen einer gesunden Entwicklung der Jugend schaffen und damit das Erziehungswerk selbst erst ermöglichen. Was nützt uns die beste Schule und die schönste Jugendpflege, wenn Armut, Not, Wohnungselend, Mangel an Bildungsmitteln, Bosheit und andere dunkle Mächte im Leben der Gesellschaft die Wirksamkeit der Erziehung in Schule und Jugendpflege immer wieder durch­ kreuzen und in Frage stellen? Die Sozialreform ist die gründlichste Erziehungs­ reform; noch immer ist das Wort I. G. Fichtes eine beherzigenswerte Mahnung, daß „die Jugend... durch die herabziehende Wirkung der Umgebung am freien Aufflug in die Welt der Gedanken gehindert wird". • Die Jugendfürsorge gabelt sich in zwei Zweige: in die Pflege der Jugendwohlfahrt und den Jugend-

Einleitung

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schütz. Der Jugend Wohlfahrt dienen alle die Maßnahmen (hochgesinnter Stif­ ter, von Jnduftriewerken, der Gemeinden und des Staates), durch welche der gesamten Jugend ein ihrer Entwicklung und . Bildung günstiger Lebensrahmen geschaffen wird, den die.Jugend der begüterten Schichten normalerweise im Elternhaus zu besitzen Pflegen. Spiel- und Turnplätze,. Wanderungen und Reisen, Bücher und Lesehallen, Speiseanstalten und Heime, Sparkassen und Beratungsstellen und was sonst noch vorhanden oder vorgesehen ist zum Besten aller Jugend—wenn auch vorzugsweise von der Jugend unbemittelter Schichten benützt — sind Einzelheiten, auf die zur Verdeutlichung des Sinnes von Jugend­ wohlfahrt hingewiesen, werden darf. Und wenn die jetzt befürworteten und ge­ planten Jugendämter einmal erstehen, wird auch für die Jugendwohlfahrts­ bestrebungen Planmäßigkeit und Einheit erreicht werden, können. Wer ist nun der natürliche Träger dieser Bestrebungen? Der Sache nach — sie dienen örtlichen und örtlich verschieden gelagerten Bedürfnissen — der Geschichte nach kommt als Träger nicht der Staat und nicht die Weltanschauungsgemeinde, sondern — die Gemeinde in Betracht. .Die Jugendwohlfahrt ist eine kom­ munale Sache Als zweites Gebiet der Jugendfürsorge hebt sich neben den positiven Wohl­ fahrtsmaßnahmen die negative Jugendpflege und Jugendwohlfahrtspflege, der Jugendschutz immer deutlicher ab, als notwendig unter den Verhältnissen des neuzeitlichenLebens, als möglich, bei entsprechender Gestaltung des Gesetz­ gebungswerkes, der Verwaltung und Rechtspflege. Der Jugendschutz ist seiner Idee nach die .gesetzliche Fernhaltung von Verführung und Versuchung, die Unterbindung schädigender Lebenseinflüsse und damit , erst die rechtliche Sicher­ stellung der Jugendinteressen und der Erziehung selbst. In der Entwicklung der Jugendschutzbewegung bedeutet der Krieg, einen Markstein; einmal hat er die Notwendigkeit des gesetzlichen Schutzes der Jugend allgemein bewiesen, zum andern hat er in der gesetzgebenden Tätigkeit der militärischen Befehls­ stellen, teilweise auch der Polizei dem Jugendschutz neue Möglichkeiten, Ziele und Wege gewiesen. Es ist bekannt, daß sich gerade an diese Tätigkeit der Behörden ausgedehnte Erörterungen und viel Kritik geschlossen hat; es erscheint mir nutzlos, über fhren Wert für den Krieg zu streiten; wir waren und sind in einer Notlage; die verantwortlichen Männer mußten handeln und mitunter schnell handeln. Wie man sich auch zum bestehenden Jugendschutzwerk stellen mag, die grundsätzliche Überlegung darf dadurch nicht unterbunden werden. Für die Übergangszeit und die Vorbereitung auf den Frieden ist nur die Frage wichtig: Was soll nach dem Krieg aus dem Jügendschutz werden? Soll mit

der Aufhebung des Belagerungszustandes die Wirksamkeit der heute gelten­ den Bestimmungen einfach erlöschen und wir wieder zu den Verhältnissen vor dem August 1914 zurückkehren? Oder sollen die Kriegsschutzgesetzgebung un­ besehen in den Frieden hineindauern? Oder haben wir den Krieg wesentlich als eine Gelegenheit zu betrachten, Erfahrungen über die Möglichkeit eines wirksamen und zugleich erzieherischen Jugendschutzes zu sammeln? Der Stimmen, die sich zu solchen und damit zusammenhängenden Fragen

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Aloys Fischer: Einleitung

bisher geäußert haben, sind immer mehr geworden; zugleich hat sich auch die Zahl der vertretenen Meinungen und Standpunkte gewandelt. Die Jugend­ pflegekonferenz der Berliner Zentralstelle für Volkswohlfahrt hat sich im November 1916 mit einem Teil der Fragen beschäftigt, der Fürsorge-Erziehungs­ tag 1917 hat bestimmte Beschlüsse dazu gefaßt und den maßgebenden Stellen unterbreitet; in einzelnen Parlamenten haben eingehende Verhandlungen statt­ gefunden, zuletzt im Februar 1918 im Finanzausschuß der bayrischen Ab­ geordnetenkammer. In zahlreichen Flugschriften und im Zusammenhang mit ihnen in der Presse aller Schattierungen wurde für und gegen die Übernahme der Kriegsschutzgesetze in den Friedenszustand gestritten. Es fehlt auch nicht an Stimmen, die im Krieg den entscheidenden Zeitpunkt sehen, eine ganz um­ fassende Regelung der rechtlichen Stellung der Jugendlichen innerhalb der Gesellschaft, die sie vorher schon für möglich und nötig gehalten haben, durch ein allgemeines Jugendgesetz zu befürworten. So ist das Problem vielseitig und verwickelt worden und fordert alle Kreise zu neuer Stellungnahme geradezu heraus. Ich möchte als den leitenden Gesichtspunkt meines eigenen und der meisten hier vereinigten Darlegungen den der Erziehung festhalten. Mag ein um­ fassendes Jugendgesetz kommen oder nicht, den Gesichtspunkt, daß der Mensch im Alter von 14—20 Jahren noch in weitem Ausmaß der Erziehung bedarf und der Erziehung fähig ist, dürfte dieses Gesetz ebensowenig außer acht lassen, wie ein in seinen Ausmaßen kleineres Jugendschutzgesetz oder ein in seiner

Bedeutung noch mehr eingeschränktes bloßes Reichsjugend wehrgesetz Auch wo die Ausführungen von einem umfassenden Jugendgesetz absehen, dürfen sie nicht so ausgelegt werden, als ob sie einer ablehnenden Haltung gegen diesen Gedanken entspringen. Zu dem ganzen Umkreis der dafür einschlägigen Materien Stellung zu nehmen ist weder Absicht noch Sache der hier ver­ einigten Stimmen. Im Anschluß an die Kriegserfahrungen und die militärische Schutzerlässe wird vielmehr nur ein kleiner Ausschnitt aus dem Aufgabengebiet eines Jugend­ gesetzes behandelt, nämlich die Möglichkeit und die Arten eines gesetzlichen Schutzes der Jugend, und auch dieser kleine Ausschnitt wird nicht in erster Linie als juristische, sondern als pädagogische Frage behandelt Das ist der Boden, auf dem sich die folgenden Meinungen zusammenfinden, auf dem die allge­ meine Diskussion möglich und fruchtbar wird

Jugendschutz und Belagerungszustand Von Aloys Fischer Je genauer wir die Wirkungen des Kriegszustandes auf das jugendliche Seelenleben kennen lernen, desto allgemeiner bestätigt sich eine Erfahrung, welche in den Kreisen der Erzieher und Jugendpfleger auch vorher schon be­ kannt war: Die durchschnittlich geringere Widerstandskraft der Jugendlichen gegen schlechte und schädigende Umweltseinflüsse. Unstreitig finden auch die erhebenden Züge der großen Zeit in den Herzen der Jugend Mderhall, un­ streitig ist im allgemeinen der Schwung unserer Jugend ein Symptom der Volksgesundheit und ein Unterpfand unserer künftigen Entwicklung; in manchen Fällen haben Jugendliche auch allen Versuchungen und Gefahren, allen Ge­ legenheiten und Verführungen bewundernswert, ja rührend Widerpart gehalten. Mir sind Beispiele von Selbstverleugnung, Pflichtsinn und Arbeitskraft junger Arbeiter bekannt, die ich nicht anstehe, in der Reihe der auch an stillen Helden­ taten so reichen Zeit an die erste Stelle zu stellen. Allein diese Ausnahmen und diese Haltung der Masse der gesunden, geraden, relativ behütet gewesenen Jungen lassen die Haltung der anderen, schwächeren, erst verständlich erscheinen, jener Jugendlichen, die in Friedenszeiten, unter der strengeren Obhut der Väter vielleicht gestrauchelt, aber nicht gefallen wären, die gewiß nicht ohne Schwan­ kungen und kleine Entgleisungen, aber schließlich doch siegreich zu gesunden, brauchbaren Charakteren gereift wären, während sie unter den Einflüssen der Kriegszeit haltlos wurden und mehr oder minder tiefgehende Charakterschäden erlitten. Gewiß haben ja auch wir Erwachsenen nicht allen Versuchungen stand­ gehalten, welche eine so außerordentliche Zeit mit ihren gegen die Friedens­ norm vielfach und erheblich geänderten Maßstäben und Anforderungen mit sich bringt. Der Klassenegoismus, anfänglich herrlich überwachsen von dem Bewußtsein der Volkseinheit, in das uns der Angriff von allen Seiten zu­ sammenschloß, ist nach und nach wieder erwacht und entzweit das Volk in seinen Friedenswünschen, das er in seinem Kampfwillen nicht veruneinigen konnte. Der Kriegswucher hat es sich nicht nehmen lassen, die „Konjunktur" auch gegen Mtbürger, gegen das eigene Volk auszunützen und den Krieg, diese Opferzeit für alle, in eine Gelegenheit zur Förderung wirtschaftlicher Privatinteressen zu verkehren. Der Kriegsgewinn hat die Quellen des Genußlebens weiter Das neue Deutschland in Erziehung und Unterricht.

Heft 5.

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Aloys Fischer

sprudeln lassen. Mangel an Selbstzucht und vertrauender Opferkraft haben gerade in der höchsten Not sich nicht gescheut, selbst das Vertrauen zur Leitung des Reiches zu erschüttern. Wenn wir Erwachsenen den Versuchungen nicht entgangen sind, wie viel verständlicher, entschuldbarer, ich möchte beinahe sagen: natürlicher ist es, daß Teile der Jugendlichen unter den Einflüssen der Zeit auf Bahnen gerieten, die gefährlich sind jetzt und es in steigendem Maß würden, wenn sie in die Friedensentwicklung hinein sich fortsetzten. Was der einzelne als eine solche Gefahr ansieht, ist noch einigermaßen ver­ schieden nach seinen Anschauungen vom Seinsollenden, nach seiner Weltan­ schauung und religiösen Überzeugung. Man wird auch zugeben dürfen, daß die Klagen über Verwahrlosung und Verwilderung der Jugend nicht ein­ schränkungslos zu verallgemeinern sind, daß manche Ausschreitungen, wie wir sie im Krieg beklagen müssen, sozusagen automatisch wieder entfallen, wenn Anreiz und Gelegenheit zu ihnen entfallen, die jetzt eben auch außerordentliche sind. Aber in manchen Hinsichten hat der Krieg doch nur Verhältnisse ge­ steigert, die auch vorher schon bestanden und nachher nicht aufhören werden, und deshalb ist die Kriegserfahrung sowohl für die Erziehung als auch für die rechtliche Stellung der Jugendlichen doch von größter Bedeutung. Wir wissen jetzt sozusagen durch ein natürliches Massenexperiment, daß die Jugendlichen, namentlich die soziologisch schwächer gestellten, in sich selbst nicht fest genug sind, um den Gefahren ihrer freieren Stellung rein aus sich, aus eigenen Kräften entgehen oder Widerpart bieten zu können. Das legt den Gedanken eines weitergehenden Jugendschutzes nahe, als wir ihn vor dem Krieg besaßen, ja für notwendig hielten Wir hatten in Deutschland bisher eine größere Reihe vdn gesetzlichen Be­ stimmungen zum Kinderschutz. Sie wenden sich vor allem gegen den Miß­ brauch der Arbeitskraft von Kindern in Fabrik- und Gewerbebetrieben und haben in dem großen Arbeiterschutzgesetz vom 1. Juni 1891, im Kinderarbeits­ gesetz vom 30. März 1903, in der Novelle zur Gewerbeordnung vom 28. Dezember 1908 und im Hausarbeitsgesetz vom 20. Dezember 1911 ihren vorläufigen Abschluß gefunden. Danach dürfen in Betrieben, die regelmäßig mindestens 10 Arbeiter beschäftigen, Kinder unter 13 Jahren überhaupt nicht, Kinder­ über 13 Jahren nur dann beschäftigt werden, wenn sie nicht mehr zum Besuch der Volksschule verpflichtet sind. Die Beschäftigung von Kindern unter 14 Jahren darf die Dauer von 6 Stunden täglich nicht überschreiten. Für die Beschäftigung von Kindern und Jugendlichen in der Heimindustrie gelten Bestimmungen, die zwischen eigenen und fremden Kindern unterscheiden; für die Beschäftigung solcher in der Landwirtschaft, Gärtnerei, Fischerei, Forst­ arbeit, im Gesindedienst, im Hilfsdienst in gewissen Kanzleieü und eine Anzahl weiterer Kinderarbeiten fehlen meines Wissens Bestimmungen im Kinderarbeitsgesetz wie überhaupt. Neben diesen Schutzgesetzen, welche die Ausbeutung der kindlichen Arbeits­ kraft hintanhalten wollen, besitzen wir noch einen gesetzlichen Schutz gegen Vernachlässigung und Verwahrlosung in den Bestimmungen des B.G.B. über

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Beschränkung und Entziehung der elterlichen Erziehungsbefugnisse durch das Vormundschaftsgericht, die Bestimmungen über Fürsorgeerziehung und die Landesgesetze über den Schulbesuch. Endlich ist der Schutz gegen Mißhand­ lungen und unsittliche Angriffe, mit Einschluß der Verführung bzw. Gefähr­ dung durch Schmutzliteratur und unsittliche Schaustellungen in einer Reihe von Paragraphen des Reichsstrafgefetzbuches angebahnt. Der bestehende Jugendschutz ist vorzugsweise Kinderschutz, d. h. er be­ schränkt sich auf das volksschulpflichtige Alter; die reifende und reifere Jugend wird nicht oder ungenügend erfaßt; er wird außerdem allgemein als unge­ nügend empfunden. Insbesondere entstammt die Mehrzahl ferner Bestim­ mungen einer Zeit, in welcher der Gedanke der Pflichtfortbildungsschule lange nicht so allgemeine Anerkennung gefunden hatte, wie dies heute der Fall ist. Während des Kriegszustandes hat die erwiesene Schutzbedürftigkeit auch der reiferen Jugend die militärischen Gewalten veranlaßt, auf Grund der Ge­ setze über den Belagerungszustand den Jugendschutz selbst in die Hand zu nehmen. Ich will hier nicht auf Einzelheiten eingehen, sondern die päda­ gogische Täügkeit und die Schutzmaßregeln der stellvertretenden General­ kommandos nur im Umriß kennzeichnen; die Dinge liegen selbstverständlich örtlich verschieden. Wir werden später genauer untersuchen, wie sie sich ihre Aufgabe stellten, durch welche Maßnahmen sie die Jugend schützen zu können glaubten, ohne allzu scharf in die Freiheit der Gewerbe einzugreisen und ohne die Jugend selbst mehr als nötig ist zu reglementieren. Für den Erzieher ist die wichtigste Frage: Hat sich der gesetzliche Jugendschutz im Krieg als ein brauchbares Hilfsmittel der Jugendbildung und Jugendpflege bewährt oder nicht? Ist überhaupt eine Ergänzung der positiven, aufbauenden Erziehungs­ arbeit durch einen gesetzlichen Schutz der Jugend notwendig und wünschens­ wert? Soll mit der Aufhebung des Belagerungszustandes eine einfache Rück­ kehr zu den Verhältnissen vor dem August 1914 eintreten oder haben die Er­ zieher und die Jugend selbst ein Interesse daran, daß die nun einmal ins Rollen gekommene Frage sachlich weiterverhandelt wird, und daß schließlich neue, andere, bessere Schutzbestimmungen für die Jugend gesetzliche Wirklichkeit werden, auch wenn die Kriegsgesetzgebung trotz besten Willens im ganzen sich nicht bewährt haben sollte? Für den Erzieher ist der Krieg wesentlich eine Gelegenheit geworden, neue Erfahrungen über die Jugend zu sammeln, ihre Vorzüge und Schwächen in einer höchstgesteigerten Ausnahmezeit kennen zu lernen, daraus Gesichtspunkte für den Ausbau seiner Arbeit abzuleiten und zu klären und sich so auf eine Verbesserung seines Werkes in der kommenden Zeit vorzubereiten. Zu den wichtigsten Lehren, welche die Erziehung aus dem' Krieg ziehen kann, gehört die Überzeugung, daß sie nicht gründlich und lang genug bauern kann, und daß sie, trotz aller Verbesserung in Organisation und Methode und trotz des besten Willens und Geistes aller Erzieher doch gefährdet bleibt, wenn das Leben und alle anderen Erwachsenen — die nicht durch Er­ ziehungspflichten und Erziehungsrücksichten sich gebunden fühlen —, der Jugend durch Beispiel, Wort und andere Mittel der Beeinflussung eine den Erziehungs­ absichten zuwiderlaufende Richtung geben dürfen. Unter diesen Gesichts-

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Aloys Fischer

punkten hat die Erziehung Recht und Pflicht, die Kriegsschutzgesetzgebung zu studieren und aus ihr für das umfassend^ Problem ihrer eigenen Aufgabe zu lernen, was sich eben daraus lernen läßt. Mag der bestehende Jugendschutz auch nicht einwandfrei, richtig und erfolgreich sein, er darf nicht als Einwand gegen Notwendigkeit und Möglichkeit des Jugendschutzes selbst ins Feld ge­ führt werden. Es gilt rein sachlich zu prüfen, ob es in unserem Leben Um­ stände gibt, die einen gesetzlichen Jugendschutz wünschenswert machen, und immer wieder zu überlegen, welche Maßnahmen — vielleicht andere als die augenblicklich vorgesehenen, vielleicht Verbesserungen dieser — einen wirk­ samen Jugendschutz versprechen. Soweit wir auf die Bestimmungen der stell­ vertretenden Generalkommandos eingehen, sei es befürwortend, sei es ab­ lehnend, geschieht es wesentlich zur Illustration grundsätzlicher Gedanken. Nach diesen Vorbemerkungen wenden wir uns zur Darstellung des Jugend­ schutzes, zunächst seiner Motive und Anlässe, dann seines Inhaltes. Dabei wollen wir zunächst berichten, dann die erlassenen Bestimmungen in Gruppen zusammenfassen und die brauchbaren Gesichtspunkte hervorheben. Auf diesem Wege hoffen wir die Fingerzeige zu finden, welche für den Ausbau in der Zukunft maßgebend bleiben dürfen. Über die Beweggründe, welche diese militärischen Befehlsstellen ver­ anlaßt haben, Schutzbestimmungen bekanntzugeben, und ebenso über jene, die andere von solchen Bekanntmachungen abgehalten haben, sind wir zurzeit noch wenig unterrichtet. Den Anstoß zur ganzen militärischen Jugendschutz­ bewegung gab wohl eine Verfügung des stellvertretenden Generalkommandos des XI. Armeekorps in Kassel (vom 1. Oktober 1915). Nach dam Wortlaut ihrer Bekanntmachung will sie „der Verwahrlosung der Jugend steuern". Wenn es erlaubt ist, aus dieser Tendenz auf die Motive und Ziele der Verfügung zu schließen, scheinen Beobachtungen über die Zunahme der Aufsichtslosigkeit und Straffälligkeit der Jugendlichen den Anstoß zu ihr gegeben zu haben und war ihre Absicht durch Strafandrohungen auf die Jugendlichen selbst einzu­ wirken. Diesen Beweggründen nach würden sich die Erlässe — soweit sie den gleichen Motiven entsprungen sind — als eine öffentliche Erziehungsmaßregel darstellen. Denn Strafandrohung ist ein bekanntes, allgemeines Erziehungs­ mittel, um im Zögling Hemmungen gegen unsittliche Auswirkung seines Trieb­ lebens zu schaffen. Es ist verständlich, daß die militärische Autorität sich berechtigt glaubte, dieses Erziehungsmittel anzunehmen, weil die Väter, denen sonst die Schaffung von Hemmungen oblag, vielfach fehlten, die Mütter die ihnen hier" erwachsende Erziehungsaufgabe entweder verabsäumten oder nicht mit ge­ nügendem Nachdruck in Angriff nahmen. Aber diese erzieherisch gemeinten Schutzbestimmungen, die sich an die Jugend selbst wenden und durch die Furcht vor Strafe in den Jugendlichen sittliche Zügelung veranlassen wollen, sind weder der einzige noch der häufigste Typus. Aus anderen Erlässen geht mit aller Deutlichkeit hervor, daß sie nicht selbst unmittelbar erzieherisch wirken wollten, sondern nur die — als vorhanden vorausgesetzte — Erziehung des Hauses und der Schulte zu unterstützett und

gegen erziehungswidrige Bestrebungen Erwachsener sicherzustellen beabsichtigten.

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Die Strafandrohung sollte nicht auf und in den Jugendlichen wirken, sondern auf und in den Erwachsenen, sie davon abhalten, die Jugendlichen auszubeuten, aufzureizen und zu verführen. Mässe, soweit sie Handlungen der Erwachsenew gegen Jugendliche unter Strafandrohung stellen, sind im volleren Sinn des Wortes Jugendschutzerlässe. Über die Motive endlich, die einzelne Befehlsstellen veranlaßten, von Schutzbestimmungen für Jugendliche überhaupt abzusehen, liegen amtliche Äußerungen nicht vor. Vielleicht lag in einzelnen Gegenden kein Anlaß zur Klage über die Jugendlichen vor; die Wirkung des Krieges auf die Jugend ist ja in der Tat in den verschiedenen Teilen Deutschlands ungleich, in Groß­ städten, namentlich Industriestädten eine andere als auf, dem flachen Lande gewesen. Nach einer Mitteilung der Zentralstelle für Volkswohlfahrt in Berlin scheinen vereinzelt auch allgemeine Bedenken gegen gesetzliche Bestimmungen mit Straffolgen für die Jugendlichen die Zurückhaltung der Generalkommandos veranlaßt zu haben. So wird aus Breslau berichtet, daß man dort „in erster Linie die Jugendlichen, wenn irgend möglich, vor kriminellen Strafen habe schützen, aber nicht die Deliktsformen und damit die Strafmöglichkeiten selbst habe vermehren wollen". Ich möchte diese außerordentlich beherzigenswerte Überlegung sehr unterstreichen; sie zeugt von einem richtigen, erzieherischen Instinkt. Insofern mag also gerade die Zurückhaltung der Befehlsstellen auch pädagogisch begründet gewesen sein, einem Mißtrauen gegen die Verbots­ pädagogik entstammen. Wieder in anderen Fällen unterblieben ausdrückliche Verordnungen deshalb, weil man sich sagte, daß durch Verordnungen und Strafandrohungen höchstens die Erscheinungsformen der jugendlichen Schlech­ tigkeit unterdrückt und getroffen werden — vorausgesetzt, daß eine solche vor­ handen ist —, aber nicht die Gesiynung der Jugendlichen selbst gewandelt und gebessert werden kann. ' Ob auch die Befürchtung maßgebend war, daß alle Bestimmungen, statt zu bessern, auch dazu Anlaß werden können, sie mit List zu umgehen und zu brechen, daß sie also praktisch vielfach erfolglos bleiben müssen oder das Gegenteil ihrer Absicht erreichen, vermag ich nicht festzustellen. Im ganzen glaube ich, hat sowohl über die mögliche Wirkung der Verbote wie über die Bedingungen ihrer praktischen Durchführung nicht überall die er­ forderliche Klarheit geherrscht. Man sah Übelstände, wollte ihnen auf dem kürzesten Weg steuern, griff zur Strafandrohung und vertraute vielleicht im stillen darauf, daß schon diese Maßnahme erschreckend und aufrüttelnd auf die leichtsinnige, aber nicht eigentlich verdorbene Jugend einwirken werde, daß es zu einer wirklichen Anwendung der Paragraphen höchstens in sehr vereinzelten Fällen bösartiger Zuchtlosigkeit kommen würde. Die Kriegsjugendgesetz­ gebung teilt also gewisse Mängel mit allen Notmaßnahmen ) Fischer, Grundriß, S. 277f. 2) Fischer, Grundriß, S. 270s. 3) Kaup, Jugendlichenpflege, a. a. £)., S. 16. — Hanauer, a. a, O., S. 237. — Be­ merkt sei, daß die Zahl der Fortbildungsschüler in Preußen von 129000 im Jahre 1891 auf 352000 im Jahre 1910 gestiegen ist. — In Bayern betrug sie 1908/09: 58327, 1909/10: 60626, 1910/11: 63599. *) Vgl. zu diesem Abschnitt noch: K. Bittmann, Arbeitsverhältnisse der den §§ 135 bis 139 a der Gewerbeordnung unterstellten minderjährigen Arbeiter. Schriften der Gesell­ schaft f. Soziale Reform. Bd. IV, Heft 34. Jena 1910—1912. — I. Kaup, Schädigung von Leben und Gesundheit der Jugendlichen, namentlich im Zusammenhänge von Zeit und Art der beruslichen Beschäftigung. Schriften der Gesellschaft f. Soziale Reform. Bd. IV, Heft 37. Jena 1910—1012. — v. Gruber, Der Berufsschutz der Jugendlichen. Schriften d. Gesell­ schaft f. Soziale Reform. Bd. IV, Heft 38—39. Jena 1910^-1912. — Schriften der Zentral­ stelle f. Arbeiter-Wohlfahrtseinrichtungen. Nr. 19, 21. Berlin 1900—1901. — Die Herab­ setzung der Arbeitszeit für Frauen und die Erhöhung des Schutzalters für jugendliche Arbeiter in Fabriken. Referate v. A. Pieper und H. Simon. Schriften der Gesellschaft f. Soziale Reform. I, Heft 7—8. Jena 1902.

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versicherungspflicht ohne Rücksicht auf das Alter auf alle gegen Entgelt be­ schäftigten Arbeiter, Gehilfen, Gesellen, Lehrlinge, Dienstboten usw. Damit sind etwa 7 Millionen Personen mehr als bisher der Krankenversicherungs­ pflicht unterstellt. Die Leistungen der Krankenkassen sind erweitert worden; sie umfassen jetzt außer der Krankenhilfe, nämlich Krankenpflege und Kranken­ geld, als Regelleistung auch eine Wochenhilfe, d. h. eine Wöchnerinnenunterstützüng auf die Dauer von 8 Wochen; das ist die Frist, während derer nach § 137 der Gewerbeordnung gewerbliche Arbeiterinnen in der Zeit vor und nach ihrer Niederkunft nicht beschäftigt werden dürfen; außerdem sind gewisse freiwillige Mehrleistungen, Erhöhung des Krankengeldes, Schwangerenunter­ stützung, freie Hebammendienste, ärztliche Geburtshilfe, sowie Stillgeld für Wöchnerinnen usw. vorgesehen. **) Vom hygienischen Gesichtspunkte aus sind freilich die mit dem neuen Gesetz verbundenen Verbesserungen — so begrüßenswert gewiß- sowohl die Ausdehnung des Kreises der Versicherten, als auch die Erweiterung der Ver­ sicherungsleistungen ist — noch nicht völlig hinreichend. Verlangt wird einmal ein weiterer Ausbau der Wochenhilfe nach der Richtung, daß das Wochengeld die volle Höhe des Tagelohnes erreicht und auch Schwangerengeld und Heb­ ammendienst zu obligatorischen Kassenleistungen werden; ferner eine Aus­ gestaltung der sogenannten Familienhilfe; im übrigen sollte zugleich mit einer Verlängerung der obligatorischen Arbeitsenthaltung werdender und niedergekommener Mütter auch die Dauer der Versicherungsleistung sich über einen längeren Zeitraum erstrecke^. Den mit diesen Forderungen getroffenen Mängeln, die noch verschärft werden durch die Tatsache, daß der Kreis der Versicherten überhaupt zu eng ist, hat private Initiative durch die Gründung eigener Mutterschaftskassen abzuhelfen gesucht; damit hat die Idee einer selb­ ständigen, von der Krankenversicherung abgetrennten Mutterschaftsver­ sicherung, wie auch in anderen Ländern, praktische Gestalt gewonnen. ?) Es darf nicht übersehen werden, daß im Gesamtgebiet des hygienischen Jugendschutzes auch der Schutz jugendlicher, sei es ehelicher oder unehelicher Mütter Beachtung verlangt. In Berlin waren im Jahre 1906, von 43970 ehe­ lichen und 9402 unehelichen Geburten überhaupt, bei 1116 ehelichen und bei 2003 unehelichen die Mütter im Alter von unter 15 bis zu 20 Jahren, d. h. 21,3 v. H. der unehelichen Geburten trafen auf Mütter bis zu 20 Jahren. Nach dem Alter gruppieren sich diese jugendlichen Mütter folgendermaßen^): unt. 15 I. 15—16 I. 16—17 I. 17—18 I. 18—19 I. 19—203. i zusammen

— 4

Eheliche Uneheliche

Zusammen ‘

1

4

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— 24

16 141

120 333

24

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|

304 638

676 863

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1539

1116 2003

|

3119

In Hessen kamen im Zeitraum 1900—1905 von 100 Niederkünften verheirateter Frauen eine auf die Altersklasse bis 20 Jahre, dagegen von 100 Niederkünften J) Fischer, Grundriß, S. 401 f. — Prausnitz, a. a. O., S. 685f. *) Fischer, Grundriß, S. 393 f.; dort weitere Literaturangaben. 3) Fischer, Grundriß, S. 31, Tabelle 5; S. 33, Tabelle 7.

Der hygienische Schutz der Jugendlichen

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unverheirateter Frauen 21,8 auf die Altersklasse bis 20 Jahre, 52,6 auf die Altersklasse bis 25 Jahre; fast ®/4 aller unehelichen Entbindungen fanden dem­ nach vor dem 25. Jahre der Niedergekommenen statt.1) Welches hygienische und soziale Elend, wieviel Jammer und Not sich hinter diesen Zahlen unehelicher, besonders jugendlicher Mütter verbirgt, wird einigermaßen Eingeweihten deutlich sein.®) Fischer vermutet wohl mit Recht, „daß wohl fast alle unehelichen Konzeptionen in jugendlichen Jahren ohne und zumeist sogar gegen den Willen der Geschwängerten erfolgen",' die oft genug „nicht gewußt haben, welche Folgen sich an ihren Leichtsinn anschließen können". Viele Mädchen seiner ärztlichen Praxis hielten es für unmöglich, daß sie schwanger sein könnten, weil sie nur „einmal" geschlechtlich verkehrt hätten. ( Er folgert daraus die Notwendigkeit einer sexuellen Aufklärung?) Damit eröffnet sich der Ausblick auf das ungemein ausgedehnte Problemgebiet des geschlechtlichen Jugendschutzes überhaupt, zu dem wir weiter unten von anderer Seite her noch eingehender werden zurückkehren müssen. Hier sei nur noch ergänzend bemerkt, daß der Hundertsatz unehelicher Geburten bett den Geburten überhaupt im Jahre 1909 im Deutschen Reich 9,0, in Bayern 12,3, in Sachsen 14,8 betrug; die Gesamtzahl unehelich Geborener belief sich im Reich auf 183700, in Bayern auf 28017?)

Aus der Reihe derjenigen Momente innerhalb der allgemeinen Lebens­ bedingungen der Jugendlichen in der Gegenwart, die dem hygienischen Schutz und der hygienischen Fürsorge ganz besonders schwerwiegende Aufgaben stellen, soll hier nur noch kurz eines herausgehoben werden, das in seiner ganzen Aus­ dehnung, weit hinausgreifend über den nur hygienischen Gesichtskreis und über die Grenzen einer bestimmten sozialen oder Altersklasse, zu einem der schwierig­ sten, verwickeltsten und bedrohlichsten Probleme unseres sozialen Lebens ge­ worden ist: die Wohnungsfrage. Es kann gegenüber der außerordentlichen Weitschichtigkeit dieses ganzen Problemkomplexes, der zu einem großen Teile der nationalökonomischen, wirtschaftstheoretischen und allgemein sozialpolitischen Fragestellung und Erörterung unterworfen ist, hier nur unser Ziel sein, durch einige Hinweise die tatsächlichen Beziehungen anzudeuten, die auch die Frage des Wohnungswesens zu einem Problem der Hygiene der Jugendlichen, des Jugendschutzes machen. Die gesundheitliche Gefährdung, die schlechtgehaltene, licht- und luftarme, enge und überfüllte Wohnräume, namentlich Schlafräume, für die Bewohner mit sich bringen, trifft natürlich die Jugendlichen an sich in gleicher Weise, wie die Erwachsenen; die Möglichkeit gesundheitlicher Beeinträchtigung oder sogar dauernder Schädigung durch solche ungünstigen Verhältnisse wird aber um so größer sein müssen, wenn es sich gerade um jugendliche Personen handelt, deren empfänglicherer, noch in der Entwicklung begriffener Organismus von 0 a) -) 4)

Fischer, Grundriß, S. 33, Tabelle 6. Marcuse, Uneheliche Mütter. Berlin 1906. Fischer, a. a. O., S. 34. Fischer, a. a. £)., S. 38—39, Tabelle 10.

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der Gunst oder Ungunst der äußeren Bedingungen besonders abhängig ist. Auch ohne es zahlenmäßig belegen zu können, darf man daher wohl behaupten, daß die ursächlichen Beziehungen, in denen die genannten Mißstände des Wohn­ wesens zu der Verbreitung von Krankheiten, wie der Tuberkulose, der akuten Infektionskrankheiten usw., stehen, zu besonders großen Gefahren für Jugend­ liche werden, weil derartige Lebensbedingungen, abgesehen von der erhöhten Wahrscheinlichkeit der Ansteckung, bei diesen besonders leicht eine Disposition zur Erkrankung schaffen können. Von Ärzten wird ferner auch darauf hin­

gewiesen, daß die Verbreitung von Bleichsucht, Blutarmut, namentlich bei jungen, erwerbstätigen Mädchen, in engem Zusammenhänge mit ungünstigen Wohnungsverhältnissen steht. Im allgemeinen wird zu sagen sein, daß die Gefährdung gerade der Jugendlichen durch Wohnungsmißstände wohl mehr in einer möglichen Schädigung der gesamten Konstitution besteht, als un­ mittelbar durch bestimmte akute Krankheiten gegeben ist; natürlich ist bei den minderbemittelten Schichten das Wohnungselend nur einer der zahlreichen Faktoren in der gesamten Lebenslage, die für eine derartige gesundheitliche Schädigung verantwortlich zu machen sind. Wer sich eine Vorstellung davon machen will, in welchem Umfange heute namentlich in den größeren Städten' eine Überfüllung der Kleinwohnungen besteht, und wie große Anteile der Gesamtbevölkerung der Großstädte in der­ artigen überfüllten Wohnungen leben, der sei hier eindringlich aufgefordert, die darüber vorhandene Statistik zu studierend) Noch immer haben sehr zahl­ reiche Menschen gar keinen Begriff von den auf dem Gebiete des Wohnwesens vorhandenen Zuständen, obwohl das Wohnungsproblem bereits seit vielem Jahren Gegenstand ausgedehnter Untersuchungen und Erörterungen ist. Wir können es uns nicht versagen, einige Zahlen hier anzuführen. Einer Berliner Statistik für das Jahr 1900 entnehmen wir folgende Angaben: 197394 Wohnungen bestanden aus nur einem heizbaren Zimmer mit oder ohne sonstige unheizbare Räume oder Küche; davon enthielten 27440 15015 7203 3063 1167

fünf Bewohner sechs „ sieben „ acht „ neun „



390 110 25 14 4

zehn Bewohner elf zwölf dreizehn „ vierzehn „

132144 Wohnungen bestanden aus zwei heizbaren Zimmern ohne andere Räume und enthielten 501434 Bewohner. Von den im ganzen 470977 Woh­ nungen bestanden 329538, d. h. etwas mehr als 2/3 aus nicht mehr als höchstens zwei heizbaren Zimmern und enthielten 1286903 Bewohner, also mehr als 2/s der Gesamteinwohnerzahl: 1827447. Bon der Gesamteinwohnerzahl Berlins im Jahre 1910 (1994206) wohnten in Wohnungen mit *) Vgl. Statist. Jahrb. Deutscher Städte. 21.Jahrg. Breslau 1916. — Eberstadt, Handbuch des Wohnungswesens und der Wohnungsfrage, Jena 1910. — Handwörterbuch der sozialen Hygiene, Leipzig 1912, Artikel: Wohnungswesen